Die Diktatur der Angepassten: Texte zur kritischen Theorie der Popkultur [1. Aufl.] 9783839401156

Hinter der bunten und fröhlichen Fassade der spätkapitalistischen Popkultur herrscht eine »Diktatur der Angepassten«. In

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Die Diktatur der Angepassten: Texte zur kritischen Theorie der Popkultur [1. Aufl.]
 9783839401156

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Willkommen zu Hause. Prolog zur Diktatur der Angepassten
Stichworte zur Diktatur der Angepassten
Elemente des Konformismus
Hieroglyphen im Hohlraum der Kulturindustrie. Erkenntnistheorie, dialektische Bilder
Pop Mythos Pop. Zur Konstruktion von Subversion
»Regt Euch jetzt bitte nicht künstlich auf!« Anmerkungen zur Poplinken – Maxiversion & Remixe
Die Rückkehr der Kulturindustriethese als Dancefloorversion. Episode I
Schwierigkeiten einer Philosophie der Popkultur
Shoppen und Tanzen. Gegen den Technoremix der Cultural Studies
»Alles geht kaputt … und ich lach, ha, ha, ha!« – Humor in der Kulturindustrie
Versuch einer kritischen Theorie des Glücks
»Jede ist Expertin!« – Identität und Verweigerung in der Diktatur der Angepassten; notwendiger und möglicher Umbau der Welt
Anmerkungen

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Roger Behrens Die Diktatur der Angepassten

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Roger Behrens, Jahrgang 1967, studierte in Hamburg, Kassel, Berkeley (USA) und Maastricht (NL) Philosophie, Soziologie, Medizin-Soziologie und Kunsttheorie und promoviert zurzeit an der Universität GH Kassel. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Bauhaus-Universität Weimar sowie Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg und an der Universität Lüneburg. Buchpublikationen u. a.: Die Ungleichzeitigkeit des realen Humanismus. Konsequenzen, Experimente und Montagen in kritischer Theorie (1996), Ton Klang Gewalt. Texte zu Musik, Gesellschaft und Subkultur (1998), Übersetzungen – Studien zu Herbert Marcuse. Konkrete Philosophie, Praxis und kritische Theorie (2000), Kritische Theorie (2002), Adorno-ABC (2003). Zusammen mit Ronnie M. Peplow und Kai Kresse (Hg.), Symbolisches Flanieren – Kulturphilosophische Streifzüge (2001). Mitherausgeber des Halbjahresmagazins ›testcard. beiträge zur popgeschichte‹ und Redakteur der ›Zeitschrift für kritische Theorie‹, arbeitet als freier Autor, Kulturjournalist, DJ und Musiker in Hamburg, Weimar und Belo Horizonte (Brasilien).

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ROGER BEHRENS

Die Diktatur der Angepassten Texte zur kritischen Theorie der Popkultur

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2003, transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus Umschlagabbildung: ›Chequebook Vandalism‹, Banksy Lektorat und Satz: Roger Behrens Druck: Majuskel Medienproduktion, Wetzlar ISBN 3-933127-115-9

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»Ne me quittes pas.« (Statt immer wieder aufzugeben.)

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INHALT

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Inhalt Vorwort .................................................................................... 9 Willkommen zu Hause. Prolog zur Diktatur der Angepassten ......................................... 15 Stichworte zur Diktatur der Angepassten ................................... 25 Elemente des Konformismus ..................................................... 43 Hieroglyphen im Hohlraum der Kulturindustrie. Erkenntnistheorie, dialektische Bilder ....................................... 69 Pop Mythos Pop. Zur Konstruktion von Subversion .................. 101 »Regt Euch jetzt bitte nicht künstlich auf!« Anmerkungen zur Poplinken – Maxiversion & Remixe .............. 133 Die Rückkehr der Kulturindustriethese als Dancefloorversion. Episode I .................................................. 165 Schwierigkeiten einer Philosophie der Popkultur ...................... 189 Shoppen und Tanzen. Gegen den Technoremix der Cultural Studies ........................... 199 »Alles geht kaputt … und ich lach, ha, ha, ha!« – Humor in der Kulturindustrie ................................................. 213 Versuch einer kritischen Theorie des Glücks ............................. 229 »Jede ist Expertin!« – Identität und Verweigerung in der Diktatur der Angepassten; notwendiger und möglicher Umbau der Welt ........................... 247 Anmerkungen ........................................................................ 264

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»Ich will ihnen in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben.« Jesaja 56.5

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Vorwort »Mas que nada.« Jorge Ben Jor »Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.« Theodor W. Adorno, ›Minima Moralia‹ (GS Bd. 4, S. 63)

So, wie es bisher gelaufen ist, kann es nicht weitergehen; aber es geht immer so weiter. Die gegenwärtige Krise beschreibt einen paradoxen Zustand, dessen Ende absehbar ist, der aber nicht aufhört, sich fortzusetzen. Dass es nicht so weitergeht, ist das nachdrückliche Versprechen der Popkultur, das zugleich die gegenwärtige Gesellschaft perennierend bestätigt: Die bestehende Ordnung wird aufrecht erhalten, nicht trotz der oder mit den Widersprüchen, sondern durch die Widersprüche. In der Popkultur und ihren Erscheinungsformen finden diese Widersprüche ihren Ausdruck: Sie sedimentieren sich in den ökonomischen, sozialen und psychischen Strukturen und Beziehungen der Menschen zueinander. Das betrifft auch die Möglichkeiten der Opposition. Sofern sie nicht in den regressiven Aktionismus blinder Gewalt und in blanken Terror umschlagen, verflüchtigen sie sich in depotenzierten, machtlosen Formen eines bloß noch symbolischen Widerstands. Die kritischen Kräfte haben sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur in das kulturelle Feld verschoben, sondern innerhalb des kulturellen Feldes schlägt die Kritik der Unzufriedenen ins Gegenteil um, und im Schatten eines popkulturellen Nonkonformismus vermeintlicher Individualität hat sich eine neue Form der Massenkonformität etabliert: Keiner will mitmachen, obwohl alle einverstanden sind. Auf der Platte ›Testament der Angst‹ haben Blumfeld diese Situation als ›Diktatur der Angepassten‹ bezeichnet – eine Formulierung, die leicht der kritischen Theorie eines Theodor W. Adornos, Max Horkheimers, Walter Benjamins, Siegfried Kracauers oder Herbert Marcuses zugeordnet werden könnte. Adorno und Horkheimer sprechen von einer verwalteten Welt, die Benjamin als Dialektik im Stillstand beschreibt. In ähnlicher Intention spricht Kracauer vom Ornament der Masse; und Marcuse diagnostiziert eine eindimensionale Gesellschaft. Diesen Befund aktualisierend, ist ausgehend von einer Typologie des Konformismus und einem dialektischen Subjektbegriff zu untersuchen, warum gerade die scheinbar progressiven Tendenzen und Manifestationen des Pop einen dem entgegengesetzten, durch Langweilige und Anpassung gekennzeichneten Zustand bestätigen. Dabei geht es nicht um die radikalen und subversiven Strategien, die im Laufe der Popgeschichte entwickelt wurden und für viele die Lebensumstände erträglicher machten (und machen), sondern im

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Gegenteil um die tendenziell permanente Verhinderung selbst noch der spärlichen Surrogate befriedigender Unterhaltung. Die Garantie des Rechts auf Amüsement, auf Zerstreuung und Spaß ist abgelaufen, und die freie Wahl der Produkte befördert nicht die Mündigkeit, sondern integriert die Subjekte nur noch stärker in die kapitalistische Verwertungslogik. Nicht der Spaß am Widerstand ist zu leugnen; wenn allerdings ›Resistance‹ mittlerweile ein eingetragenes Warenzeichen einer Bekleidungsfirma ist, die mit inszenierten militanten Demonstrationsszenen wirbt, vergeht dieser Spaß schnell. Die Forderung nach Widerstand wird indes um so dringlicher; wie jede Diktatur sollte auch die der Angepassten gestürzt werden. Wider die verbreitete Fröhlichkeit und den ansteckenden Optimismus der skeptischen Anwälte, gebildeten Anhänger und fanatischen Konsumenten der Popkultur, für die eben Pop in seiner ausufernden Vielfalt grundsätzlich einen provokativen und subversiven Gegenentwurf zur bestehenden Gesellschaft darstellt, soll hier gezeigt werden, dass Pop, und im Übrigen auch seine naive Verteidigung, die bestehende Ordnung lediglich affirmativ und ästhetisch verdoppeln. Pop ist Teil des Problems als dessen Lösung er sich anbietet; er ist die kitschige Oberfläche des Spätkapitalismus und geriert sich zugleich als das ebenfalls kitschige Unternehmen, diese Oberfläche beständig zu durchbrechen, als Ideologie des schönen Lebens. Zur Strategie der Popkultur gehört der Schein der Unmittelbarkeit des Realen, gleichwohl das Reale in den Strukturen verschwindet und nur noch vermittelt zu haben ist: Pop gerinnt einerseits zur Fundamentalontologie des modernen Subjekts, zur Lehre des Daseins im Verwertungszusammenhang, andererseits zum Positivismus der Befindlichkeit, wonach das Dasein je schon als gelungener Kompromiss mit den Verhältnissen erscheint. Im Namen der Popsubversion wird deklariert, dass diese Welt nicht die beste aller möglichen sei – soweit das kritische Motiv der Kultur –, um im selben Moment eben diese als Pop verpackte Welt als die beste aller möglichen zu präsentieren und zu reproduzieren: Das ist die Dialektik des Pop, in der die Dialektik der (bürgerlichen) Kultur und Gesellschaft schließlich kulminiert. Pop will die Gesellschaft selbst sein, dessen Fassade er jedoch nur ist. Und dahinter herrscht eine »Diktatur der Angepassten«. Eine kritische Theorie der Popkultur laboriert an dem Widerspruch dieser strukturellen Unmöglichkeit und permanenten Verhinderung von Chancen, das Versprechen auf ein besseres Leben oder wenigstens etwas Glück einzulösen: Der Widerspruch ist, so die These, nicht einer von Anspruch und Wirklichkeit, sondern die (popkulturellen) Ansprüche sind selbst Teil der Wirklichkeit, keine außerhalb des Realen existierenden virtuellen Nischen. Die Kulturproduktion stellt keine alternative und liberale Alternativwirtschaft dar, sondern vielmehr ein verschärftes, von ökonomischen Sicherheiten entkoppel-

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tes Konkurrenzverhältnis, dass sich in seiner Verwertungslogik durch nichts vom herkömmlichen Industriekapitalismus unterscheidet als durch die ideologische Verdoppelung des Fetischzusammenhangs. Poptheorie leidet gemeinhin darunter, dass sie gesellschaftliche Verhältnisse aus der Popkultur deduziert, die Popkultur verabsolutiert. Die geschichtlichen Veränderungen finden sich nur noch als Spuren in der vage konstruierten Popgeschichte wieder; die Ökonomie gibt es nur noch als Faktor und Konstante der Popgesellschaft. Man spricht von Disziplinarmächten, könnte aber auch einfach nur von Disziplin sprechen; man spricht von Kontrollgesellschaft, könnte aber auch einfach nur von Kontrolle sprechen; man spricht von Differenzkapitalismus, könnte aber auch einfach nur von Differenz sprechen. Kritische Theorie insistiert dagegen auf der Vermittlung von Kultur und Gesellschaft; sie versucht, Popkultur als Ausdruckszusammenhang zu fassen: durch immanente Kritik. Poptheorie darf keine Mimikry ans Material sein (wonach der Poptheoretiker nicht nur vom Pop handelt, sondern selber Pop sein will; weder in der Gesellschaftstheorie, noch in der Kulturtheorie, noch in der Politischen Ökonomie ist dieser affirmative Bezug zum Forschungsgegenstand bekannt). Insofern versucht eine kritische Theorie der Popkultur die rücksichtslose Kritik der Popkultur als Kritik am Bestehenden. Im Sinne der kritischen Theorie soll Popkultur hier verstanden werden a) als Moment der konkreten Totalität des gesellschaftlichen Seins, b) als widersprüchliches, das heißt als dynamisches und immanent dialektisches Strukturverhältnis, c) als Konstellation einer geschichtlichen Prozesslogik der Krise, d) als Ausdruckszusammenhang, in dem sich eine symbolische Ordnung und ihre materiellen Verhältnisse gleichermaßen kristallisieren, e) als Ideologie und demnach als Manifestation des individuellen wie gesellschaftlichen Bewusstseins und Unbewussten, f ) schließlich als Figuration des Sozialcharakters einer fragmentierten, unhaltbaren Realität der Verwertungsverhältnisse. Es geht weniger um die Diskussion, ob nun Bands wie Abba und U.S. Maple oder Musikerinnen und Musiker wie Kylie Minogue und Merzbow gleichermaßen Pop seien, ob Pop irgendwo zwischen zerfallender Hochkultur und Mainstreamtrash anzusiedeln ist, ob Gerhard Schröder und Claudia Roth genauso Pop sind wie Marius Müller-Westernhagen und Michelle, ob Gucci und Versage ebenso Pop sind wie C&A und WAL*MART™, ob der Kauf einer Schallplatte oder von modischer Kleidung Pop ist, ein Lebensmitteleinkauf aber nur, wenn es sich um Designerfood, Croissants aus dem portugiesischen Café zusammen mit einem Galão handelt, ob Bands wie Mia oder Wir Sind Helden wirklich politisch sind oder nur ein Retroabklatsch, ob sie also den politischen Pop retten etc. Allerdings hat sich in den letzten Jahren, wie ein Blick in einschlägige Publikationen – Bücher wie Magazine – zeigt, die Pop-

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theorie in ihrem journalistischen oder akademischen Fokus auf diese und ähnliche Fragen konzentriert, offenbar in der Annahme, durch die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen Entscheidendes über die Popkultur, ihren subversiven Status, oder über Gesellschaft überhaupt erfahren zu können. Es geht um Subversion, um Widerstand, um Emanzipation. Aber es geht nicht darum, zu beurteilen, ob die Band XY subversiv ist, ob Einkaufen Widerstand ist, ob die neue Mode die Befreiung verheißt, sondern wie manche darauf kommen, dass ausgerechnet manche Popmusik subversiv sei, was mit Widerstand überhaupt gemeint ist, wogegen sich der Widerstand richtet, und vor allem, welche Vorstellung von Befreiung es gibt. Jedenfalls scheint das zu entscheiden, nicht vorrangig die Aufgabe einer kritischen Theorie zu sein, sondern konkrete Aufgabe einer praktischen Kritik des realen Humanismus emanzipatorischer Politik. Wenn es möglich sein sollte, mit der Adaption einer bestimmten Mode tatsächlich das menschliche Dasein von seinem Leid und seinen Zwängen zu befreien und die emanzipierte Gesellschaft, also den Kommunismus einzurichten, bin ich sofort dabei. Ich fürchte aber, dass hier mit Befreiung eigentlich nur die Selbstlegitimation des beschaulichen Lebens unter weniger beschaulichen ökonomischen Bedingungen gemeint ist. Wenn eine Band subversiv ist, weil sie Unterdrückung freilegt, weil sie Kampfmusik ist, um Nazis aufs Maul zu hauen und damit von Neofaschisten bedrohte Menschen zu schützen, dann ist das als Praxis mehr als gerechtfertigt, reicht aber nicht für einen Begriff der Subversion. Auch tendiert die metaphorisierende Rede vom Widerstand in der Popkultur dazu, dass in ihrer Bedeutung sehr unterschiedliche Handlungen auf eine Stufe gestellt werden, was allerdings sehr zynisch und hämisch ist: Man sollte doch vermeiden, dass etwa der angebliche Widerstand des Konsumierens (»Ey, ich habe einfach ’mal keine Markenklamotten gekauft!«) mit dem Widerstand verwechselt wird, den manche zu leisten allein deshalb gezwungen sind, um irgendwie durchzukommen. Zur kritischen Theorie der Popkultur gehören auch die Kraftfelder machbarer Theorie-Praxis, also die Fragen nach möglichen Solidaritäten, Verknüpfungen, Frontlinien, Kontextualisierungen ebenso wie der Entwurf einer Praxis, die man zwar ruhig ›Pop‹ nennen kann, die sich aber gewiss nicht darauf beschränken wird, sondern soziale Fantasie gleichermaßen wie Utopie verlangt: und zwar weitaus mehr als mit dem lächerlichen und einfallslosen Traumkitsch der Popkultur geboten wird. Zur Praxis einer kritischen Theorie gehört die Auseinandersetzung unter Freunden; »gegen die Buchgläubigkeit« (Mao Tse-tung) empfiehlt sich die Diskussion, der richtige Ort, die gute Kneipe (der Proberaum des Theoretikers), Leute zum Essen einladen (WG-Küchen), Spazierengehen. Ich sitze am Schreibtisch;

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aber was dort geschrieben wird, entscheidet sich nur selten am Schreibtisch. Der Autor ist Produzent. Die Produktionsverhältnisse sind nicht nur bestimmt von Finanzierung, Verlag, Zuschüssen und der leidlichen Frage, ob man vom Schreiben leben kann (nein, kann ich nicht; ich lebe und kann mir deshalb gegebenenfalls leisten zu schreiben), sondern ebenso bestimmt vom Alltag und seinen Entfremdungen, bestimmt von netten Orten, sinnlosen und sinnvollen Beschäftigungen (tanzen, fernsehen, ins-Kino-gehen, jemanden besuchen …), von lieben und herzlichen Menschen. Das sind in meiner kleinen Welt insbesondere: Kerstin Stakemeier, Anders Kühne, Torsten Michaelsen, Alexander Diehl, Christiane Supthut, Christiane Müller-Lobeck, Margarita Tsomou, Anna Götz, Christian Smukal, Marion Schuller, Andre Rattay, Olaf Sanders, Sören Havemester, Marlies Behrens, Leonie Weber, Caroline Hake, Jan Distelmeyer, Bettina Distelmeyer, Ole Frahm, Michael Hüners, Alexander Rischer, Tim Gallwitz, Stefanie Lohaus, Vassilis Tsianos, Nine Budde, Maria Einhorn, Kristina Eschler, Rahel Ueding, Tobias Nagl, Nikola Duric, Dora Ramos, Eduardo Silva, Silke Kapp, Ecki Heinz, Regina Mühlhäuser. – Das Freie Sender Kombinat, die Mutter, das King Kameha. Und Jochen Distelmeyer beziehungsweise Blumfeld: wegen des Titels. Dem transcript-Verlag danke ich für die Unterstützung und Geduld. – Und: F. Schließlich gilt der Dank den Teilnehmerinnen und Teilnehmern in unseren Seminaren an der Bauhaus-Universität Weimar und der Universität Lüneburg; sie haben gewissermaßen an diesem Buch mitgearbeitet. Ich bedanke mich für die fruchtbaren Debatten in den Seminaren ›Einhundert Jahre Popmusik‹ (Universität Lüneburg, Sommersemester 2002), ›Cultural Studies zur Einführung‹ (Universität Lüneburg, Sommersemester 2002), ›Sprache in der Massenkultur‹ (Universität Lüneburg und Bauhaus-Universität Weimar, Wintersemester 2002/3), ›Kritische Theorie und materialistische Theorie der Kultur‹ (Universität Lüneburg, Wintersemester 2002/3) … Ansonsten gilt: Die Lage ist ernst, aber so ernst nun auch wieder nicht. Jedenfalls nicht, solange wir versuchen, uns weder von der Macht der anderen noch von unserer eigenen Ohnmacht dumm machen zu lassen. Roger Behrens – August 2003

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Willkommen zu Hause. Prolog zur Diktatur der Angepassten »Die Sachen nach Sinn, nicht nach Gewalt ordnen.« Kerstin Stakemeier

I. »Als Poptheoretiker auf der Gästeliste, als Gesellschaftstheoretiker unerwünscht. Meine Toleranz der Kunst gegenüber lebt nämlich von der Intoleranz den sozialen Verhältnissen gegenüber. Immerhin habe ich mir diesen Job ausgesucht, aber nicht diese Welt. Die guten Sachen hängen sowieso im Keller.« Gregor Katzenberg, ›Die guten Sachen hängen im Keller‹ (Hamburg 2001, S. 17)

Das hier ist nicht die Theorie der Generation Golf. Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten genug erfahren und sind, auch als bescheidener Rest, noch immer zu schlau, um uns von der Erlebnisserei dumm machen zu lassen, die es nicht weiterbringt, als aus Produktmarken und kleinkarierten Erinnerungsbruchstücken ein Modell für die Biografie eines Lebens zu liefern, das offenbar nicht gerade auf viel Erfahrung zurückblicken kann. Dies hier ist also nicht die Theorie der Zwanzig-, Dreißig-, Vierzig-Irgendwasser, die sich schlauer machen möchten als sie sind, die ihre Macht am Trostlosesten demonstrieren und an beliebigen Erzeugnissen der Popkultur ihrem Leben wenigstens noch nachträglich Sinn zu geben versuchen (»Sind wir nicht alle ein bisschen so wie Ally McBeal, wenigstens ein bisschen?« – »Haben wir im Osten Großgewordenen nicht alle denselben roten Faden in unserer Jugend?«). Wir tragen auch nicht alle die gleichen Klamotten, hören beileibe nicht dieselbe Musik. Unsere Parties sind mal langweilig, mal großartig. In unserer größten Schwäche erwischen wir uns dabei, vom Leben unter diesen Bedingungen doch etwas zu erwarten (guter Job, Gesundheit, gelingende Beziehungen …). Wir sind in den Neunzigern an unserer Ohnmacht gescheitert; wir konnten nur wenig von dem realisieren, was wir wollten (immerhin waren wir einmal politisch und sexuell anders denkend). Die Revolte haben wir probiert, die Revolution ist vertagt, auf unabsehbare Zeit – aber sie ist nicht vom Tisch. Geblieben ist die Gewissheit, dass diese Welt nicht die ist, die wir wollten; und doch werden wir beständig in diese Welt zurück geworfen, müssen uns krumm machen für sie und ihre Ideale. Wir sind bestenfalls diejenigen, die der Genration Golf die Rückspiegel abbrechen. Die Generation Golf hat freilich eine vorangegangene Generation, sonst wäre sie keine; es ist die im Faschismus gebo-

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rene Generation Käfer. Die kritische Theorie verzichtet auf beides: auf die Generation und aufs Auto; jedenfalls machen wir die Vorliebe für Sportwagen, Vans etc. nicht zum (pseudo-)politischen Programm. Dabei sind wir auch nicht gerade besser als die anderen; an der Diktatur der Angepassten sind wir genauso beteiligt wie diejenigen, über deren Elend wir uns manchmal beschämend lustig machen. Dennoch Haltung zu bewahren und nicht zu resignieren, weder zynisch noch larmoyant zu kapitulieren, ist nicht die leichteste Übung. Unserem Niveau ist nach unten hin keine Grenze gesetzt; irgendwann schlägt Lächerlichkeit in die Erkenntnis vom Ernst der Lage um. Versuchen wir bis dahin wieder etwas nüchtern zu sein (aber will man sich diesen Scheiß wirklich nüchtern reinziehen?). Von der Konformität trennt uns einzig das »Bewusstsein der Differenz« (Horkheimer); aber auch das ist oftmals bloß falsches Bewusstsein, Ideologie. Freilich ist das etwas großkotzig: Die Diktatur der Angepassten. Als Bild ist es ein überzeichnetes Extrem. Der Titel ist mit freundlicher Genehmigung von der Gruppe Blumfeld geliehen. Der Texte des gleichnamigen Songs von Jochen Distelmeyer lautet: »Ich seh die Leute in den Straßen / die Diktatur der Angepassten / In den Städten und den Dörfern / leben sie und ihre Lügen / Lügen, Lügen, Lügen Männer, Frauen, Junge, Alte / in den Büros und den Fabriken / an den Schulen und zu Hause / lassen sich für dumm verkaufen, / kaufen, kaufen, kaufen Ihr habt immer nur weggesehen / es wird immer so weitergehen / gebt endlich auf – es ist vorbei! / Ihr habt alles falsch gemacht / habt Ihr nie drüber nachgedacht? / gebt endlich auf – es ist vorbei! Im Norden, Süden, Osten, Westen / die Diktatur der Angepassten / das Geld vibriert und auf den Genchips / diktiert ein freier Markt das Leben / Leben, Leben, Leben Die Medien helfen ihnen beim Dummsein / ein starker Staat hilft ihnen beim Stummsein / die Leute wollen unter sich sein / und gehen dafür über Leichen / Leichen, Leichen, Leichen Ihr habt immer nur weggesehen / es wird immer so weitergehen / gebt endlich auf – es ist vorbei! / Ihr habt alles falsch gemacht / habt Ihr nie drüber nachgedacht? / gebt endlich auf – es ist vorbei! Ich seh die Leute in den Straßen / die Diktatur der Angepassten / Millionen sind durch sie gestorben / sie lassen hungern, foltern, morden / morden, morden, morden Sie vergiften alle Flüsse / die Luft, den Boden und die Meere / und tun so, als ob nichts wäre / ich hab genug von ihren Lügen / Lügen, Lügen, Lügen Ihr habt immer nur weggesehen / es wird immer so weitergehen / gebt endlich auf – es ist vorbei! / Ihr habt alles falsch gemacht / habt Ihr nie drüber nachgedacht? / gebt endlich auf – es ist vorbei!«1

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Die Diktatur der Angepassten ist eine ›harte‹ Formulierung; von einer Diktatur zu sprechen und damit die bestehenden Verhältnisse zu meinen, löst berechtigterweise den Verdacht aus, hier sollten Demokratie und ihre neoliberalen Spielarten mit Faschismus gleichgesetzt werden. Das ist mitnichten so gemeint und auch überhaupt nicht derart intendiert, weil das sachlich falsch wäre und eben auch den Faschismus, insbesondere den Terror Nazideutschlands nivellieren und dadurch leugnen würde. Gleichwohl, so die These, gibt es alarmierende Strukturähnlichkeiten zwischen der damaligen Bereitschaft der Menschen, am faschistischen Terror aktiv teilzunehmen, und der gegenwärtigen Formation des allgemeinen Bewusstseins, dessen demokratische Selbstlegitimation und liberale Regulation zunehmend brüchig zu werden scheint. Dass wir es heute, bei gleichzeitiger Ausweitung der sozialen und technischen Möglichkeiten am (pop-)kulturellen Wohlstand und Vergnügen der Moderne zu partizipieren, mit einer eindeutig im Verhalten und politischen Meinungsbild sich manifestierenden reaktionären und regressiven Tendenz der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft zu tun haben, muss im Sinne einer kritischen Theorie als Ausdruck eines immanent widersprüchlichen Gesamtzusammenhangs kapitalistischer Vergesellschaftung untersucht werden. Für eine kritische Theorie der Popkultur heißt das, die Phänomene – und zeigen sie auf dem ersten Blick auch Spuren möglicher Widerständigkeit und Subversion – nicht zu isolieren, nicht a priori als an sich bereits emanzipative oder dissidente Gegenkräfte zur herrschenden Ordnung zu interpretieren. Dem steht einerseits der Befund einer Dialektik der Kultur entgegen, der freilich erst recht für popkulturelle Verhältnisse entwickelt werden muss; andererseits sieht die kritische Theorie im sozialen Anpassungsdruck, dass die Individuen in ihrer Flexibilität und Fragmentierung noch immer von einer strukturellen Einheit eines Sozialcharakters bestimmt sind, der ihre – vermeintlichen – Kontingenzerlebnisse in ein nach wie vor stringentes und kontrolliertes Selbstbild einordnet. Die Krise ist keine des Bewusstseins, sondern eine der Individuen; und als solche ein Reflex der ökonomischen Krise des Kapitalismus (und das Individuum ist ja selbst sozusagen das spezifische Konstitutionsmodell bürgerlicher Subjektivität …). Im 20. Jahrhundert wurden alle Möglichkeiten einer emanzipatorischen Veränderung der Gesellschaft systematisch vernichtet. Es wurden nicht nur die politischen Bewegungen beseitigt, sondern auch die Utopien, die allgemeine und einfachste Vorstellung, dass eine andere Welt machbar ist. Die endgültige Durchsetzung des Kapitalismus erfolgte nicht nur subjektlos durch unmittelbare, äußere Gewalt, sondern ging mitten durch die Subjekte hindurch, realisierte sich in dem, was Menschen denken, fühlen, hoffen, glauben. Fortschrittlich und modern, sogar postmodern sind die wahnsinnig Vernünf-

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tigen, die sich vollends der Verwertungslogik überantwortet haben; wer jetzt noch ernsthaft an eine Gesellschaft ohne Tausch, Geld, Arbeit glaubt, ist verrückt. Die Abschaffung der Utopie formierte sich als Ideologie in dem, was zunächst als Massenkultur, dann Kulturindustrie, schließlich Popkultur beschrieben wurde. Im Pop ist das Glück als das private Wunschdenken aufbewahrt; die letzten Utopien sind zu Urlaubszielen geworden (Bahamas). Pop hat den affirmativen Charakter der Kultur noch einmal erfunden. Weil die Popkultur im krassen Widerspruch zur Alltagspraxis der Menschen steht, fallen die Widersprüche, die sich im individuellen wie kollektiven Bewusstsein ausdrücken, schon gar nicht mehr auf. Die nonkonformistische Geste, mit der der Popmensch seine Weltoffenheit und Liberalität vorführt, ist eingebunden in die autoritären Strukturen seiner ökonomischen Existenz. Die Welt wird durch den Filter der Pseudotoleranz der Popkulturindustrie geleitet: Am liebsten hört man schwarze Musik, findet türkischen HipHop interessant und mag die politischen Texte der Hamburger Schule; auch die BauwagenplatzBewohnerinnen sind eine kulturelle Bereicherung; das ist die ideologische Rückendeckung, um politisch den Sozialhilfeempfänger zu diskreditieren, die Drogenabhängigen der Polizei auszuliefern, um doch ohne Skrupel von Überfremdung und zu vielen Ausländern zu sprechen, oder um einfach ahnungslos im Smalltalk durch die Tagespolitik zu schwadronieren und den Zusammenbruch des Sozialsystems nach Sympathiepunkten für diesen oder jenen Politiker zu beurteilen. »Ey, hier sieht es ja ganz anders aus, als beim letzten Mal als ich hier war!« – »Ja, ich habe vor zwei Jahren mein Leben komplett umgekrempelt.« Je mehr die Menschen bereit sind, sich zu ändern, sich auf die neue Moden einzulassen, die neue Frisur ausprobieren, umso bedingungsloser lassen sie sich scheinbar auf die festen Strukturen der bestehenden Ordnung ein. Diejenigen, die sich für grundlegende gesellschaftliche Veränderungen einsetzten, gelten als lächerliche Spinner; diejenigen, die im kulturellen Bereich für Veränderungen sorgen, als geniale, engagierte Persönlichkeiten. Worum es geht, ist ja eben nicht die These, dass die Formen bürgerlicher Herrschaft und ihre Strukturverhältnisse allenthalben dieselben seien, sondern dass in der gegenwärtigen Krise Tendenzen auch in den Systemen, die noch Freiheiten garantieren, deutlich werden, die regressive und reaktionäre Muster menschlichen Verhaltens aktivieren. Und interessant sind nun die kulturellen Ausdrucksformen dieser Bewegung, die Art und Weise, wie sich ökonomische Krisen kulturell formieren, wie sich gesellschaftliche Krisen ideologisch niederschlagen. Wie passt es zusammen, dass eine große Mehrheit der bundesdeutschen Bevölkerung für eine härtere Bestrafung von Außenseitern ist, eine ebensogroße Mehrheit aber auch gegen den Krieg der Alliierten gegen den Irak? Wie

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passt es zusammen, dass in den unverfänglichen Umfragen Menschen angeben, mit ihrer Partnerschaft, Sexualleben, Lebensstandard etc. zufrieden zu sein, während dieselben zumindest rein statistisch bei anderen Umfragen mit der Forderung nach Rechtsverschärfung, Todesstrafe, Sicherheitskontrollen, Polizei hervortreten? Eine dafür wichtige Strukturveränderung des kulturellen Apparats hat Benjamin im ›Kunstwerk‹-Aufsatz beschrieben: Er spricht im zwölften Abschnitt davon, inwiefern sich »die Veränderung der Ausstellungsweise durch die Reproduktionstechnik … auch in der Politik bemerkbar« macht.2 Benjamin spricht von der technisch bedingten Gleichheit von Filmdarsteller und Politiker. »Das bedingt eine neue Auslese, eine Auslese vor der Apparatur, aus der der Champion, der Star und der Diktator als Sieger hervorgehen.«3

II. Ist die Popkultur eine Kultur der Entpolitisierung?4 Verwandelt sich eine politische Linke in eine Kulturlinke und verschwindet damit Politik? Antwortet die Kulturlinke politisch, indem sie ›Pop‹ ist, auf die vermeintlichen politischen Lähmungen spätkapitalistischer Gesellschaften? Ist die Popkultur einer der letzten Zufluchtsorte vor einer zunehmenden Ausbreitung politischer Gewalt seitens Staat und Gesellschaft? – 1998 erschien von Herbert Marcuse eine Textsammlung, die einige Arbeiten aus den vierziger Jahren beinhaltet: ›Feindanalysen. Über die Deutschen‹. Es geht um einen Deutungs- und Erklärungsversuch des Nationalsozialismus. Marcuse fertigte diese Arbeiten über die Funktionsweise des NS-Systems für das ›Office of Strategic Services‹ und ›Office of War Information‹ an. Behandelt wird eine Fragestellung, die der Problematisierung des Verhältnisses von Pop und Politik merkwürdig verwandt ist: Wieso handeln die Massen wider ihre wirklichen Interessen? »Wie kommt es denn überhaupt zustande, dass die unterdrückten Klassen – jedenfalls in breiten Schichten – die Ausbeutung (oder den Ausbeuter) in dieser und jener Form unterstützen? Warum halten Menschen bestimmte ökonomische Verhältnisse unter Opfern aufrecht, über die ihre Kräfte – und Bedürfnisse – längst hinausgewachsen sind, anstatt sie durch eine höhere und rationale Organisationsform zu ersetzen?« (Peter Brückner, nach Max Horkheimer und Wilhelm Reich). Nicht die Antwort (die in der einschlägigen Literatur nachgelesen werden kann), aber eine Erklärung lautet: Faschisierung. Das heißt in diesem Fall Politisierung. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die Parallele, die zur Popkultur zu ziehen wäre und hier nur angedeutet wird, mündet keineswegs in dem Vorwurf, bestimmte Teile der Popkultur seien faschistisch. Es ist nur festzustellen, dass fundamentale Leitorientierungen und Werte der Popkultur, sozusagen

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gerade die vermeintlich subversiven Kategorien, eine Nähe zeigen zu eben jenen Leitorientierungen der faschistischen und nachfaschistischen Gesellschaft. So erscheint zum Beispiel im Nachhinein die »Politik der ersten Person«, wie sie von den Autonomen betrieben wurde, nicht als Gegenmodell zu einer Entindividualisierung der siebziger und achtziger Jahre, sondern vielmehr als protagonistisches Modell von Individualismus, wie es sich gesamtgesellschaftlich durchgesetzt hat. Ziel kritischer Theorie war es, herauszufinden, »wie das bürgerliche Individuum eigentlich beschaffen ist und dass der Nationalsozialismus dieses Individuum eher erfüllt als abschafft« (Horkheimer). Ähnlich revidiert Marcuse in seinen Studien landläufige Vorstellungen über das NSSystem: der Nationalsozialismus ist nach seiner Analyse kein totalitärer Staat und basiert nicht auf Entpolitisierung. Der Nationalsozialismus stellt vielmehr die Idee der Souveränität des Staates infrage. Als erstes Merkmal der »neuen deutschen Mentalität« nennt Marcuse die »uneingeschränkte Politisierung«: »Im jetzigen Deutschland sind alle auf das individuelle Leben bezogenen Motive, Probleme und Interessen mehr oder weniger direkt politischer Natur, und ihre Verwirklichung ist ebenfalls eine unmittelbar politische Handlung. Gesellschaftliche und private Existenz, Arbeit und Freizeit sind gleichermaßen politische Aktivitäten. Die traditionellen Schranken zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaft und Staat sind gefallen.«5 »Plastic people with plastic minds are on their way to plastic homes.« Gil Scott-Heron, ›Lady Day and John Coltrane‹

»Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern … Ich betrachte das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie als potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.«6 Adornos Vortragsworte vom Herbst 1959 haben an Aktualität nichts verloren, solange noch heute die Ursachen fortbestehen, die im 20. Jahrhundert zur Katastrophe führten; die Diagnose einer ›Dialektik der Aufklärung‹ ist jedenfalls durch die Ereignisse der letzten Jahrzehnte des jüngst vergangenen Jahrhunderts nicht obsolet, auch wenn in großen Teilen der Welt die allgemeinen Lebensbedingungen für die Menschen sich scheinbar verbessert haben. Zudem muss man nicht die Gefahr des Faschismus heraufbeschwören, um festzuhalten, dass gleichwohl keine emanzipierte Gesellschaft in Aussicht steht, wenn gegenwärtig noch Milliarden von Menschen Hunger leiden und in Elend und Not leben, von der gesellschaftlichen Unfreiheit, das Leben selbst bestimmen zu können, ganz zu schweigen. Es geht in der Kritik

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der Diktatur der Angepassten um den Befund der strukturellen Gefahr, die selbst in den scheinbar demokratischen Systemen eingelagert ist und sich dort in Form eines kollektiven Bewusstseins als Unterhaltung fortsetzt. Leo Löwenthal definierte faschistische Agitation wie auch Kulturindustrie als »umgekehrte Psychoanalyse«: »Gemeint waren damit jene Techniken, die darauf abzielen, Menschen im Zustand psychischer Abhängigkeit zu halten, neurotisches und sogar psychotisches Verhalten zu fördern und zu festigen, daß es schließlich in der totalen Abhängigkeit von einem ›Führer‹ oder von Institutionen oder Produkten kulminiert.«7 Diese Thesen, die Löwenthal bei einen Vortrag über seinen Freund Adorno 1978 noch einmal aufgegriffen hat, nahm ich zum Anlass, um eine Strukturähnlichkeit zwischen dem autoritären Charakter, der bereitwillig das nationalsozialistische Regime unterstützte, und dem modernen Autoritarismus der Popkultur, der seinen Unterhaltungsspaß auf zynische Menschenverachtung gründet, zu konstatieren. Der Beitrag, der zum zehnten Todestag Löwenthals in den ›Subtropen‹ erscheinen sollte, wurde von der Redaktion mit der Begründung per E-Mail abgelehnt, ich stellte »ahistorische Vergleiche zwischen der NS-Zeit und Popkultur/Kulturindustrie«. Ob die Kritik der Redaktion, die theoretisch mit Hardts und Negris ›Empire‹ auf einer Linie steht, für den Artikel und auch aus deren theoretischen Perspektive berechtigt und angemessen ist, sei dahingestellt; das Argument scheint sie zu verfehlen. Zumal, wenn in der ›Jungle World‹ (zu der die ›Subtropen‹ monatliches Supplement waren) dann der Beitrag, etwas überarbeitet, erschien, mit einem Foto von Löwenthal, nebst redaktioneller Bildunterschrift: »Kulturindustrie ist faschistisch.«8 Dabei ging es ja gerade nicht um diese These, die hier falsch provozierend gemeint ist. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Keineswegs als ahistorisch, sondern vielmehr als historisch belegt gilt heute, dass der Nationalsozialismus gerade in seinem Kulturkonservatismus in sehr modernistischer Weise die Massenkultur nutzte und im umfassenden Maße eine Ästhetisierung des Alltagslebens besorgte, die bis in die intimsten Regungen der Menschen hinein, die sowieso schon ins Gauleitersystem eingepasst waren, funktionierte. Niemand würde bestreiten, dass in der postfaschistischen Massenkultur, in den Heimatfilmen, den Schlagern, der ganzen Befindlichkeitsideologie der Restauration noch genügend Spuren des nazideutschen Alltags zu finden sind; allerdings zeigen die faschistisch organisierte Massenkultur und die demokratisch organisierte Kulturindustrie in einem bestimmten Blickwinkel entscheidende Überschneidungen. Der nationalsozialistische Alltag kann nicht auf die äußersten Grausamkeiten und den Terror reduziert werden, sondern der Terror und das Grauen sind aus der reibungslosen, konformistischen Normalität der Volksgemeinschaft abzuleiten. Die Bereitschaft, am Massenmord freiwillig teilzunehmen, die bei fast allen Deutschen vorhanden war, hat nicht den autoritären Charakter hervorgebracht, sondern sich eines

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autoritären Charakters bedient, der sich schon viel früher in den Harmlosigkeiten der Massenkonformität äußerte. »Die Gesellschaft forderte von den Individuen ›Pflichterfüllung‹ … Für die große Mehrheit der Bevölkerung gab es nur eine Pflicht: Arbeit … Die technologische Angleichung der Individuen bei der Arbeit findet ihre Entsprechung in der Gleichschaltung der Individuen in der Freizeit.«9 Diese Gleichschaltung wurde in der Ästhetisierung des Alltagslebens durchgesetzt, indem nämlich der Bereich der Freizeit immer weiter in die Produktionssphäre ausgedehnt wurde, ohne dadurch freilich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu verändern: Das Programm von ›Kraft durch Freude‹, der Volksempfänger und der Volkswagen sind Indizien für den Prozess, die Kunst aus ihrer Autonomie zu entbinden und in den Arbeitstag zu integrieren: Das Leben in der faschistischen Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass die Grenzen zwischen den einzelnen sozialen Sphären (Gesellschaft, Gemeinschaft, Staat und Politik, Religion, Kultur, Kunst, Sport etc.) aufgehoben erscheinen, ohne dass an der ökonomischen Struktur etwas verändert wäre. Stand der Mensch zuvor als Individuum im Widerspruch zum kapitalistischen System, so steht er jetzt scheinbar von allen Widersprüchen befreit inmitten des nationalen Volkskörpers und projiziert alle Widersprüche als das Schicksal seines Volkes auf die ›Rasse‹, die Juden, den Fremden etc. – Popkultur ist nicht faschistisch. Aber sie zeigt eben sehr ähnliche Strukturmerkmale. Wenn gleichzeitig Popkultur, zumal die nord- und südamerikanische, wesentlich zur kulturellen Entnazifizierung der dumpfen Innerlichkeit beigetragen hat, so nur zu dem Preis, die Menschen wiederum mit dem kapitalistischen System befriedet zu haben; zwischen Volkstümlichkeit und popkultureller Folklore und Hippiesierung bestehen gravierende politische Unterschiede, die aber in derselben ideologischen Matrix zusammenschießen: »Sie verschmelzen mit dem Bild von einer Ordnung, die erfolgreich die verborgensten Gefahrenzonen der individualistischen Gesellschaft koordinierte. Schließlich bringen sie die Individuen dazu, eine Welt zu lieben und aufrechtzuerhalten, die sie nur als Mittel der Unterdrückung braucht.«10

The Matrix »Spezialeffekte langweilen mich.« John Gaeta (Verantwortlicher für die Tricktechnik der ›Matrix‹-Trilogie) »Das Glück ist uns nur vorstellbar in der Luft, die wir geatmet, unter den Menschen, die mit uns gelebt haben. Es schwingt, mit andern Worten, in der Vorstellung vom Glück … die Vorstellung der Erlösung mit.« Benjamin, ›Das PassagenWerk‹ (GS Bd. V·1, S. 600)

Das menschliche Dasein gleicht dem Leben in einer unterirdischen Höhle. Mit dem Rücken zum Höhleneingang gefesselt, kann der Mensch nur die

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Schatten der Dinge sehen, die ihm als die Wirklichkeit erscheinen. Hätte er die Möglichkeit, die Höhle zu verlassen, so blendete ihn das helle Tageslicht außerhalb der unterirdischen Schattenwelt; die Augen täten ihm weh, und er wäre weiterhin überzeugt, dass die Schattenwelt die wirkliche sei, die wahre Welt hingegen ein Trug. Es braucht Zeit, bis der Mensch sich an die neue Welt gewöhnt haben wird; kehrte er dann in die Höhle zurück, als Aufklärer, so würde ihm niemand glauben; es könnte sogar sein, so beschließt Platon sein Höhlengleichnis im siebten Buch der ›Politeia‹, dass die in der Höhle Gebliebenen ihn im Zorn töten könnten. – Obgleich es kulturkonservativ und pessimistisch anmutet, das Höhlengleichnis auch als Bild für die gegenwärtige gesellschaftliche Funktion von Kultur zu verstehen, wiederholt sich das Gleichnis in der postmodernen Fassung einer bloß simulierten Welt: Das, was wir als Wirklichkeit kennen, ist lediglich eine gigantische Software, während wir unser materielles Dasein als vegetierende Körper in einer riesigen Brutmaschine unterhalb der Erdoberfläche fristen; diese virtuelle Realität, die wir kennen, ist die Matrix (der gravierende Unterschied zu Platons Höhlengleichnis ist, dass es hier darum geht, von der Scheinwirklichkeit in die reale Höhle zu gelangen; dort ist das Leben weitaus unwirtlicher und es gibt wenig Gründe, es nicht bei der Softwareexistenz in der Matrix zu belassen). Ziemlich zu Anfang des ersten Teils von ›Matrix‹ verkauft Neo (Keanu Reeves) Drogen, die er in einem hohlen Buch aufbewahrt und dort herausnimmt; es ist: Baudrillard, ›Simulacra & Simulation‹ – eine Aufsatzsammlung (Untertitel: ›The Body, in Theory: Histories of Cultural Materialism‹). Baudrillards Simulationsthese, die hier nicht umsonst im Zusammenhang mit synthetischen Designerdrogen zitiert wird, ist der Schlüssel dieser Konstruktion des Höhlengleichnisses, die die Brüder Andy und Larry Wachowski mit ›Matrix‹ 1999 in die Kinos brachten. Baudrillard sagt: »Ich meine, dass alles schon passiert ist. Zukunft ist schon angekommen, alles ist schon angekommen, alles ist schon da. Es lohnt sich nicht, zu träumen oder irgendeine Utopie der Umwälzung oder der Revolution zu nähren. Es ist schon alles umgewälzt. Ich meine, alles hat schon seinen Ort verloren. Alles hat Sinn und Ordnung verloren. Es ist keine Übertreibung, wenn wir sagen, alles sei schon eingetreten.«11 Die Welt, die in ›Matrix‹ vorgeführt wird, beschreibt gleichsam einen Zustand der Nachgeschichte, in dem die Gegenwart zeitlos ist und die Zukunft immer schon gekommen zu sein scheint. »Wir sind jetzt in einem Computerprogramm?« – »Deine momentane Erscheinung nennen wir das Restselbstbild, die mentale Projektion deines digitalen Selbst.« – »Die Welt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Sie existiert mittlerweile nur als Teil einer neuro-interaktiven Simulation, die wir als Matrix bezeichnen. Du hast bisher in einer Traumwelt gelebt, Neo.« Es herrscht Krieg zwischen Menschen

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und Maschinen. Die Maschinen leben von der Energie der Menschen. »Was ist die Matrix? Kontrolle! Die Matrix ist eine computergenerierte Traumwelt, geschaffen, um uns unter Kontrolle zu halten.« – »Die Matrix ist ein System, Neo. Dieses System ist unser Feind. Was aber siehst du, wenn du dich innerhalb des Systems bewegst? Geschäftsleute, Lehrer, Anwälte, Tischler – die mentalen Projektionen der Menschen, die wir zu retten versuchen. Bis es dazu kommt, sind diese Menschen noch immer Teil des Systems. Und das macht sie zu unseren Feinden.« – »Viele dieser Menschen sind so angepasst und vom System abhängig, dass sie alles dafür tun, um es zu schützen.« ›Matrix‹ bleibt dem Idealismus verfangen, dem auch schon Platon im Höhlengleichnis folgte: die Frage von Schein und Sein, von Simulation und Geschichte wird reduziert auf den Konflikt mit der Technik; die Scheinwelt, die der Wirklichkeit entgegengesetzt wird, soll tatsächlich eine bloß fiktive Welt sein und die reale Welt bleibt unwirklich, weil ihr alle Form menschlicher Praxis fehlt, die vollständig von der Simulation der virtuellen Realität aufgesogen scheint. Platons Idealismus hat bereits Aristoteles kritisiert, indem er den Wirklichkeitsbegriff hinsichtlich der Kategorie ›Möglichkeit‹ korrigierte und konkretisierte. Doch das Mögliche bleibt auch im Idealismus von ›Matrix‹ außen vor, der Film blendet aus, was die Matrix strukturiert: das ökonomische System, die abstrakten Tauschbeziehungen, die Menschen und Dinge zueinander haben, und die Matrix – ob sie nun Software ist oder nicht – zusammenhalten. Das Dilemma ist: Dass die Welt, so wie sie gezeigt und von der Matrix reproduziert wird, als beste aller möglichen erscheint: als heile Welt. Schließlich verfängt sich der Film in der Doppeldeutigkeit, die er zwar selbst nahelegt, aber auf einen Effekt reduziert: Auch der Film ist Teil der Matrix. Auch der Film ist Teil der Traumwelt, die er zugleich konstruiert und aufbricht. Und gerade dieser Film (beziehungsweise die Trilogie) lebt vom Einsatz der Computertechnik und erfindet die simulierte analoge Welt des Kinos nun noch einmal digital; auch wenn die Tricktechnik beeindruckend ist, so bleibt ihr durch die gegenwärtig zur Verfügung stehende Technik, die Leinwand, doch eine Grenze gesetzt. Keiner der Spezialeffekte kann darüber hinweg täuschen, dass die Matrix hier draußen, in der das Publikum, das gerade den Film gesehen hat, sich für einen Moment glauben mag, mit ziemlich wenig Animationstechnik gemacht worden sein muss, jedenfalls längst nicht an die Sinnlichkeit des Films heran reicht. Die Matrix, in der die Menschen von den Maschinen beherrscht werden, ist eine wahre, perfekte und schöne Welt; die Diktatur der Angepassten ist eine hässliche, langweile und unvollständige Welt, in der fast alles, was Spaß macht im Leben, meistens fehlt. Deshalb gibt es in der Matrix keine Erlösung, keine Revolution; hier, in der Wirklichkeit aber dafür umso mehr.

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Stichworte zur Diktatur der Angepassten I. Nach fünfzig oder vielleicht sogar einhundertfünfzig Jahren Popkultur sieht sich eine kritische Theorie mit den Abfallresten konfrontiert, den Scherben und den Trümmern einer Kultur, die eben nicht archiviert, sortiert oder wieder verwertet wurden. Den Fundsachen fehlt die Zeit, fehlt die Geschichte; an ihnen abzulesen, was sie bedeuten, ist ebenso schwierig, wie sie als Bruchstücke vergangener Kunstwerke zu interpretieren, weil sie in eine Aktualität hineinragen, in der die Kunst selbst nur noch wie längst Vergangenes überlebt. Nichtsdestotrotz hängt an diesen Objekten die Spur der Erinnerung, speichern sie Gedächtnis, sind sie Bilder, in denen Erkenntnis in Konstellationen zusammentritt wie in einem Kaleidoskop. Auf Wahrheit erheben sie selbst keinen Anspruch; und doch geht es einer kritischen Theorie darum, an diesen Gegenständen ihre Wahrheit freizulegen, sie zu entfalten oder unter den Schichten der jüngsten Vergangenheit hervorzuholen. Denn diese Trümmer könnten sich indes wie die neuste Mode als Antizipationen einer anderen, kommenden Zeit erweisen.

II. »Es hat keine Epoche gegeben, die sich nicht im exzentrischsten Sinne ›modern‹ fühlte und unmittelbar vor einem Abgrund zu stehen vermeinte. Ein verzweifelt helles Bewußtsein der entscheidenden ›Krisis‹ ist in der Menschheit chronisch. Jede Zeit erscheint als ausweglos neuzeitig. Das ›Moderne‹ aber, das die Menschen leiblich betrifft, ist genau in dem Sinne verschieden wie die verschiedenen Aspekte ein und desselben Kaleidoskops. – Die Konstruktion der Geschichte sind Instruktionen vergleichbar, die das wahre Leben kommandieren und kasernieren. Dagegen der Straßenaufstand der Anekdote. Die Anekdote rückt uns die Dinge räumlich heran, läßt sie in unser Leben treten.« Benjamin, ›Das Passagen-Werk‹ (GS Bd. V·2, S. 1014)

Was bedeutet Popkultur? Wie sind ihre einzelnen Momente zu verstehen, zu erklären? Was steckt in einem Song, über den kruden Text und die simplen Akkordfolgen hinaus? Was erzählen mir die Blumen am Arsch der Hölle? Was weiß ich von der blauen Blume im Land der Technik? »Was mir die Blumen

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auf der Wiese erzählen?« Es sind weniger Schwierigkeiten der Interpretation, als vielmehr Probleme der Darstellung; sofern eine kritische Theorie als materialistische Kritik der Verhältnisse sich von der formal-logischen Ordnung der unmittelbaren Erscheinungen, mit der sich neuere Poptheorie gemeinhin schnell begnügt, nicht recht überzeugen lassen möchte (weil sie überzeugen eh für unfruchtbar hält)1, zielt sie auf eine Praxis, an der sich Begriffe überprüfen lassen müssen, aus der sich die Begriffe als Reflexionsbegriffe in immanenter Kritik entwickeln lassen. Damit ist kritische Theorie wesentlich auf die Sinnlichkeit ihrer Praxis, auf ihre eigene Haltung (auf das, was Adorno Eingriffe nannte)2 verwiesen: Sie gewinnt ihre Methoden aus der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, stülpt dem Gegenstand jedenfalls nicht von außen eine fertige Methodologie über. Mit den Fundsachen versucht kritische Theorie forensisch umzugehen: Die Gegenstände sind ihr Indizien, denen Sinn beigebracht werden muss, Beweisstücke, denen keine Gewalt ihre Kenntlichkeit erpressen kann. Zugleich birgt aber jeder Sinn, der sich zu erkennen gibt, den Verweis auf die »ungeheuren Kräfte der Geschichte« in sich. Die Indizien gerinnen zu dialektischen Bildern durch den Zugriff eines Denkens, zu dem, wie Benjamin im ›Passagen-Werk‹ notiert, »ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken« gehört: »Das destruktive oder kritische Moment in der materialistischen Geschichtsschreibung kommt in der Aufsprengung der historischen Kontinuität zur Geltung, mit der der historische Gegenstand sich allererst konstituiert.«3 Präsentiert sich die Poptheorie, die journalistische wie die kulturlinke (die immer noch bürgerlich genug ist, um sich an der Bescheidenheit der akademischen Konventionen auszurichten) gerade so, als sei alles, was sich ihr in den Weg stellt, allein deshalb schon voller Sinn, der nur noch positivistisch in den Jargon gebracht werden muss, der mal spröde klanglos ist, mal metaphorisch übersteuert, – so bleibt die kritische Theorie von der Kraft der Negation bestimmt, die in den Zusammenhängen waltet: Es gibt keinen Grund, auf die Unterhaltsamkeit, den Spaß und die Fröhlichkeit der Popkultur zu vertrauen. Traditionelle Theorie, auch die traditionelle Theorie der Popkultur und Gesellschaft, nivelliert sachlich alles Außergewöhnliche zum Gewöhnlichen (auch wenn sie dies mit einer extravaganten Sprache unternimmt); kritische Theorie versucht dementgegen dem Gewöhnlichen zu misstrauen, und sucht nach weiteren Indizien. Kritische Theorie verfährt detektivisch, wie in der einen Episode der ›Sesamstraße‹, die in dem kleinen Garten spielt, in dem offenbar gerade eine Party standfand: MÄDCHEN: »Oh Mann, das sieht ja schlimm aus! Was ist denn hier geschehen?« SHERLOCK HUMBUG: »Nichts kann den messerscharfen Augen des größten Detektivs der Welt entgehen, denn meine Detektivaugen sehen alles.«

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MÄDCHEN: »Guten Tag!« SHERLOCK HUMBUG (erschrocken): »Oh, ich hatte dich nicht gesehen.« MÄDCHEN: »Können sie mir vielleicht erklären, was hier passiert ist?« SHERLOCK HUMBUG: »Ah, ich schließe daraus, dass hier etwas passiert ist!« Sie fangen an, sich im Garten umzusehen; Sherlock Humbug folgt dem Mädchen mit seiner Lupe und inspiziert alles sehr genau. MÄDCHEN: »Ein Stück Einwickelpapier. Und hier liegt ein Stück Kuchen mit einer Kerze drin. Und hier liegen ein paar Papierhüte herum. Und hier drüben liegen kleine Tuten. Was bedeutet das?« SHERLOCK HUMBUG: »All diese Dinge nennt man Beweisstücke. Und wenn man all diese Beweisstücke genau untersucht, kann man herausfinden, was hier passiert ist.« MÄDCHEN: »Vielleicht war hier ein Kindergeburtstag?« SHERLOCK HUMBUG: »Nein, ich hab’s: Die Krabbelkäfer waren hier und haben ihren berühmten Bonbontanz getanzt.« MÄDCHEN: »Was?« SHERLOCK HUMBUG: »Ja, alle sieben Jahre kommen die Krabbelkäfer und tanzen ihren Bonbontanz. Dann blasen sie auf ihren Tuten und hoffen, dass es anfängt, Bonbons zu regnen.« MÄDCHEN: »Ach, wirklich?« SHERLOCK HUMBUG: »Sie haben hier getanzt und in ihre Tuten getutet. Dann haben sie ihre Hüte abgenommen, um darin Bonbons aufzufangen, wenn es anfängt Bonbons zu regnen.« MÄDCHEN: »Ja, aber ich dachte …« SHERLOCK HUMBUG: »Doch dann hat es leider keine Bonbons geregnet und einer von den Krabbelkäfern hat großen Hunger bekommen und dieses Stück Kuchen entdeckt und es angeknabbert.« MÄDCHEN: »Ja, aber glauben sie wirklich …?« SHERLOCK HUMBUG: »Dann ist ein großes scheußliches Monster am Tatort erschienen und hat alle mit Kerzen beworfen. Und eine von den Kerzen ist in diesem Stück Kuchen stecken geblieben.« MÄDCHEN: »Oh.« SHERLOCK HUMBUG: »Ja, dann bekam einer von den Krabbelkäfern Angst und hat eine Nachricht auf das Papier geschrieben und um Hilfe gebeten. Aber das Monster hat ihm das Papier weggenommen und es hierher geworfen. Und hat dann die Krabbelkäfer um das Haus gejagt. Und wenn ich mich nicht allzusehr täusche, werden sie jeden Augenblick alle wieder hier erscheinen.« MÄDCHEN: »Toll, das hätte ich nie erraten.« JUNGE, der aus einem kleinen Haus kommt, singt: »Mein Geburtstag ist heut, mein Geburtstag ist heut …«

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Er hat also Geburtstag, und fragt das Mädchen, ob sie seine Geschenke sehen möchte, nimmt sie mit ins Haus. Sherlock Humbug bleibt verzweifelt zurück, zieht dann enttäuscht ab – als plötzlich mit viel Lärm die Krabbelkäfer und das Monster um die Ecke kommen. Das Monster bewirft die Käfer mit Kerzen, als es auf einmal Bonbons anfängt zu regnen … Die kritische Theorie richtet sich auf Symptome, Indizien und Details,4 die offenbar eindeutig für eine andere Geschichte sprechen, die sogar stattgefunden haben mag; und doch sind die Fundstücke Beweise für das Abwegigste, Ungewöhnlichste und Überraschende – für das, was nur alle sieben Jahre passiert. Ernst Bloch schreibt über den Detektivroman: »Etwas ist nicht geheuer, damit fängt das an. Aber zugleich muß nach dem Weiteren, das hier das Nähere ist, gesucht werden. Nach einem versteckten Wer ist gefragt, wird dergleichen freilich erzählt, so ist es nicht hoch angesehen … Der Fall selber muß etwas in sich haben, so ganz nebenbei.«5 Und in diesem Sinne sind die Begriffe der kritischen Theorie ganz spezifische Werkzeuge; es sind Werkzeuge, die Spuren kenntlich machen, die aber auch helfen, ohne Spuren zu hinterlassen, irgendwo einzudringen und sich umzusehen; es sind Begriffe, die wie Tarnungen und Verkleidungen genutzt werden können, die im entscheidenden Moment der Überführung und Aufklärung des Verbrechens aber gefährliche Waffen der Kritik sind.

III. »Wir können die Gegenwart freilich nicht interesselos betrachten, der politischen Praxis steht nicht die freie Kontemplation, die reine Schau gegenüber, sondern die Richtung unseres Blickes kann durch eine andere Praxis, durch andere Interessen, durch andere Leiden bestimmt sein, und vor der Wahrheit hat die Politik keinen Vorzug.« Max Horkheimer, ›Notizen 1950 bis 1969 und Dämmerung. Notizen in Deutschland‹ (Frankfurt am Main 1974, S. 338 f.)

Sukzessive droht aus dem Popdiskurs zu verschwinden, was denn überhaupt Intention einer radikalen kritischen Theorie der Gesellschaft war, ist und sein sollte: dass diese Welt nicht die beste aller möglichen ist; dass eine bessere vorstellbar ist; dass hier und heute Bedingungen und die Möglichkeiten für eine bessere (emanzipierte) Gesellschaft vorhanden sind; dass allerdings ebenfalls Gewalten vorhanden sind, die die Einrichtung einer befreiten Gesellschaft unterbinden; dass schließlich die Menschen selbst ihr Handeln darauf fixieren, die Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Existenz unter Opfern und gegen das Bestreben, ihre – seien es auch noch so verzerrte – Bedürfnisse zu befriedigen, aufrecht zu erhalten. Diese Dialektik einer kritischen Theorie hat Herbert Marcuse im ›Eindimensionalen Menschen‹ vor vierzig Jahren diagnostiziert: »Die Gesellschaftstheorie hat es mit den geschichtlichen Alternativen

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zu tun, die in der etablierten Gesellschaft als subversive Tendenzen und Kräfte umgehen. Die mit den Alternativen verbundenen Werte werden durchaus zu Tatsachen, wenn sie vermittels historischer Praxis in Wirklichkeit übersetzt werden. Die theoretischen Begriffe verlieren mit der gesellschaftlichen Veränderung ihre Gültigkeit. Hier aber konfrontiert die fortgeschrittene Industriegesellschaft die Kritik mit einer Lage, die sie ihrer ganzen Basis zu berauben scheint. Ausgeweitet zu einem ganzen System von Herrschaft und Gleichschaltung, bringt der technische Fortschritt Lebensformen (und solche der Macht) hervor, welche die Kräfte, die das System bekämpfen, zu besänftigen und allen Protest im Namen der historischen Aussichten auf Freiheit von schwerer Arbeit und Herrschaft zu besiegen und zu widerlegen scheinen. Die gegenwärtige Gesellschaft scheint imstande, einen sozialen Wandel zu unterbinden.«6 Die Popkultur erscheint gegenwärtig nicht nur als der Bereich, in dem die subversiven Kräfte und Tendenzen zu verorten sind, sondern vielmehr als die soziale Matrix, die alle noch verbleibenden subversiven und revolutionären Potenziale absorbiert und eben in der Ideologie des Kulturellen, des Überbaus neutralisiert. Nicht dass Pop nicht eventuell subversiv ist, ist das Problem, sondern dass diese Formen der Subversion höchstens in einem ästhetischen, nicht aber in einem praktischen Verhältnis zur Gesellschaft stehen. Damit kulminiert in der Popkultur genau die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die mit dem Interesse an der Kultur als affirmatives und eigenständiges Wertereich die Widersprüche, die sich einmal als gesellschaftliche Konflikte, Kämpfe und Auseinandersetzungen politischer Bewegungen formierten, zur individuellen und privaten Angelegenheit des modernen Subjekts erhoben hat. Die kritische Theorie der Popkultur operiert als Theorie einer Gesellschaft, die in der Popkultur ihren Ausdruck findet. Dass die Popkultur Ideologie ist, bezeichnet ein materielles Verhältnis, nicht eine bloß ideelle Chimäre; die kapitalistische Gesellschaft hat sich in allen Lebensbereichen insofern durchgesetzt, als dass alle menschlichen und unmenschlichen Beziehungen der Verwertungslogik des Warentauschs unterworfen sind. Wenn auch die Produkte der Kulturindustrie zu Waren geworden sind, bedeutet dies für den der Warenform konstitutiven Fetischcharakter, dass die gesamte Formation des Alltagslebens, die als Popkultur in Erscheinung tritt, strukturell und dynamisch vom Fetischismus bestimmt sind: Man kann an dem Befund des universellen Verblendungszusammenhangs und der Verdinglichung monieren, dass damit ein totales System konstatiert wird, das kein Außen zulässt; man kann zudem über alle möglichen Phänomene, die gerade in den Sinn kommen, fabulieren, inwiefern diese eben Beweis für eine noch nicht von der kapitalistischen Warenproduktion ergriffene Sphäre sind. Dieser Beweis ist nur als schlechter Idealismus möglich, der die menschliche Wirk-

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lichkeit und gesellschaftliche Praxis eskamotiert, um sie als fiktive Lebenswelt namens Popkultur wieder hervorzuzaubern.7 Der Fetischismus ist aber kein theoretisches Problem über die Inszenierung der Ware, sondern ein materielles Problem der gesellschaftlichen Funktion der Ware: Inwiefern sie nämlich in ihrer spezifischen Wertform die Vorstellung und Realität von Gesellschaft überhaupt hervorbringt. Die Popkultur ist der Fetischismus, zugleich aber auch die Strategie, die die fetischistische Gesellschaft aufrecht erhält und vermittels der alle Verhältnisse fetischisierenden Ästhetisierung jede subversive Kraft unter Kontrolle bringt. Was heute die Popkultur ist, war bis in die sechziger Jahre die Kulturindustrie und die Industriegesellschaft (Automobil), war im 19. Jahrhundert die Massenkultur und ihre Fixierung auf den technischen Fortschritt (Eisenbahn).8

IV. »Entschiedene Abkehr vom Begriff der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus es behauptet – nur eine zeitliche Funktion des Erkennens sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden.« Benjamin, ›Passagen-Werk‹ (GS Bd. V·1, S. 578) »Nur von ihren Extremen her kann die Wirklichkeit erschlossen werden.« Siegfried Kracauer, ›Die Angestellten‹ (Frankfurt am Main 1974, S. 7)

Zugleich ist von höchstem Interesse, ob man mit Mitteln der Popkultur herausfinden kann, wann der Zeitpunkt versäumt wurde, diese Gesellschaft zu verändern und in eine humane und emanzipierte zu verrücken. Also ist eine kritische Theorie der Popkultur als Gesellschaftstheorie immer auch eine Kritik der konkreten Utopie, die versucht, die Geschichte der Popkultur zu rekonstruieren: nicht aus dem Interesse der Historisierung und Kanonisierung der Popkultur,9 sondern, um aus dem Ausdruckszusammenhang, den Popkultur darstellt, die Geschichte überhaupt anschaulich zu machen. Diese Erkenntnis von Geschichte löst sich vom kunstgeschichtlichen Verständnis der Wahrheit; es geht nicht um Nacherleben (der Historismus, der in der Popkultur als Retromode und Revival sich wiederholt). Die merkwürdige methodische Konsequenz, die daraus folgt, lautet: Die kritische Theorie kann sich allein auf die Reportage nicht verlassen. Und genau das macht der Historismus und der Popjournalismus, indem mit der Reportage versucht wird, den »Hunger nach Unmittelbarkeit« zu stillen.10 Das gilt auch für den Poststrukturalismus, der zum Fundament der Poptheorie geworden ist und dort gelegentlich als kritische Theorie fungieren soll. Man glaubt scheinbar die Ideologie der Unmittelbarkeit, wonach gerade in der Popkultur Erfahrungen, die gemacht werden, direkt zugänglich und artikulierbar sind, in die Theorieproduktion verlängern zu können (Erfahrungen sind

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aber immer ein Prozess vermittelter Erkenntnisse); ja, man nimmt das unmittelbar Erlebte und verziert es mit Theoriebrocken, mit schillernden Begriffen wie Applikationen in der Mode, ohne die Theorie fruchtbar zu entfalten als reflexiver Prozess der Distanzierung, als Vermittlungspraxis. Theorie, der Praxisferne vorgeworfen wird, ist tatsächlich eine mühevolle Praxis; wenn alles zugänglich wäre, bräuchte es keine Theorie, erst recht keine theoretische Kritik, die kritischer Praxis vorauslaufen muss, um sie nicht im blinden Aktionismus enden zu lassen. Dass eine kritische Theorie schwer ist, auch sprachlich schon vielfach als Zumutung empfunden wird, ist ihr immer wieder als elitär angekreidet worden. Das könne man auch einfacher sagen. Statt dessen: »Die kritische Theorie muss sich in ihrer eigenen Sprache mitteilen. Diese Sprache ist die Sprache des Widerspruchs, die dialektisch in ihrer Form sein muss, so wie sie es in ihrem Inhalt ist. Sie ist die Kritik der Totalität und geschichtliche Kritik. Sie ist kein ›Nullpunkt des Schreibens‹, sondern seine Umstülpung. Sie ist keine Negation des Stils, sondern der Stil der Negation.«11 An Theorie den Maßstab anzulegen, sie müsse in erster Linie gut geschrieben sein, ist regressiv. Theorie muss in erster Linie richtig sein, eine Aussage und eine Absicht haben; sie muss stringent sein: Theorie zielt auf Erkenntnis, nicht auf Wohlgefallen und Unterhaltung. Es gibt eine Reihe von Popautorinnen und Popautoren, die sehr gut schreiben können, die mit einem großen Vokabular, das von Alltagssprache und Philosophie gleichermaßen lebt, ganze Welten zu entwerfen vermögen. Ihre Texte haben bisweilen den Rang von Erzählungen, sind geradezu Mythologien, die vielleicht den Rezipienten begeistern, ihn anregen, ihn politisieren. Aber diese Texte sind nicht immer wirklich Theorie, sondern Abbild des Diskurses, den sie gerade fortsetzen, eigentlich unvermittelte Affirmation, journalistischer Bericht. Das ist nicht schlimm; davon lebt der Popdiskurs, daher mag er sogar seine diskursive Kraft nehmen, seine Attraktion, die bis zum theoretischen Interesse reichen kann. Mindestens problematisch wird es aber, wenn diese Texte den Status von Theorie bekommen, wenn sie zum Maßstab für Theorie werden. »Das ist toll geschrieben, so macht Theorie Spaß.« Theorie macht so wenig Spaß wie die Wirklichkeit, die sie zu begreifen versucht (gleichwohl kann die theoretische Erkenntnis ein Lustgewinn sein und insofern auch Spaß machen …). – Problematisch wird es allemal, wenn derart Begriffe, kritische Begriffe, absorbiert werden und mehr der Imageproduktion dienen, weniger dem theoretischen Anliegen; problematisch also ist es, wenn die Intention geliehen ist, die Emphase geborgt, das Engagement schlichtweg gelogen. Hier geht es um die Begriffe Subversion, Widerstand, Emanzipation. Es geht um die Texte, die behaupten oder widerlegen, dass diese oder jene Handlung widerständig oder subversiv sei; es geht um die Texte, die bestreiten oder konstatieren, dass Pop emanzipatorisch sein kann; es geht um einen merkwürdi-

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gen Streit, der von der Befreiung handelt: Allerdings bedeuten die Begriffe Subversion, Widerstand, Emanzipation oftmals nicht mehr als das, was sie unmittelbar ausdrücken sollen; bedeuten jedenfalls nicht die Not und Notwendigkeit, Widerstand gegen unerträgliche Verhältnisse zu leisten, den Druck, die Entfremdung, die Ohnmacht und die Aggression subversiv zu unterlaufen, meinen keineswegs die Emanzipation als radikale Negation der bestehenden Verhältnisse, Abschaffung der kapitalistischen Verwertungslogik. Sie erheben zur Maximalforderung, die doch eigentlich das Mindeste wäre, dass Frauen ohne sexistische Anmache in Konzerte gehen können, dass Menschen ein Recht auf Unterhaltung haben, die besser ist als der gebotene Mainstreamschrott, und die sich deshalb selbst etwas ausdenken, dass die Konsumenten sich nicht alles andrehen lassen, dass die Teilnahme an der Popkultur einfach umsonst sein sollte etc. Dass innerhalb der so genannten Poplinken sich an Theorie wie dem Poststrukturalismus (Michel Foucault, Félix Guattari und Gilles Deleuze, Judith Butler etc.) orientiert wird, die brauchbar scheint, gegenwärtige soziale Phänomene der Popkultur überhaupt zugänglich zu machen, dass insbesondere mit Bezug auf unterschiedliche Positionen der Cultural Studies versucht wird, innerhalb der Popkultur Subversionspotenziale und emanzipative Widerstandsformen ausfindig zu machen, ist freilich überhaupt nichts Verwerfliches. Im Gegenteil. Wenn diese Theorien allerdings zu starren Gebilden verhärten, und selbst die dynamischen Begriffe zu bloßen Etiketten werden, mit denen lediglich demonstriert werden soll, dass man (und vornehmlich Mann) philosophisch up to date ist, wenn mit diesem theoretischen Schematismus und Jargon dann auch noch andere Positionen, insbesondere die der kritischen Theorie, die sich für manche ausschließlich auf die Kulturindustriekritik Theodor W. Adornos zu beschränken scheint, für obsolet erklärt werden, weil die kritische Theorie und ihre Begriffe nicht verstanden werden und deshalb falsch sein müssen, weil die Kritik des beschädigten Lebens gar nicht stimmen kann, da man sich ja ganz gut fühlt, – dann kippt das Bescheidwissen allzu leicht in Ressentiments um, auch wenn der Poptheoretiker sich selbstverständlich am allerwenigsten für borniert hält.

V. »Das Allgemeine ist immer zugleich das Besondere und das Besondere das Allgemeine. Indem die Dialektik dies Verhältnis auseinanderlegt, wird sie dem gesellschaftlichen Kraftfeld gerecht, in dem alles Individuelle vorweg bereits gesellschaftlich präformiert ist und in dem doch nichts anders als durch die Individuen hindurch sich realisiert.« Adorno, ›Drei Studien zu Hegel‹ (GS Bd. 5, S. 289)

Kritische Theorie ist in erster Linie die schwierige Arbeit am Begriff, um vom Abstrakten zum Konkreten zu gelangen (durch die Eiswüste der Abstraktion

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mit den Siebenmeilenstiefeln des Begriffs). Erstens: »Begriffsbildung ist ein historischer Prozess.« – Zweitens: »Die Begriffsbildung erfolgt kritisch.« – Drittens: »Gesellschaftlich relevante Begriffe werden ›induktiv‹ gebildet.« – Viertens: Gesellschaftliche Begriffe sind integrativ.«12 Also: »Die Kategorien, mit denen wir arbeiten wollen, sind keine Verallgemeinerungen, die man durch einen Prozess der Abstraktion von vielfältigen Einzelfällen und Gattungen erhält, und sie sind auch keine axiomatischen Definitionen und Postulate. Der Formierungsprozess dieser Kategorien muss die Historizität des betreffenden Gegenstandes berücksichtigen, das heißt, diese Kategorien müssen auch die tatsächliche Genese des Gegenstandes einschließen … Der Allgemeinbegriff löst sich demnach nicht in eine Vielzahl empirischer Fakten auf, sondern wird in der theoretischen Analyse einer gegebenen sozialen Konfiguration konkretisiert und auf das Ganze des historischen Prozesses bezogen, mit dem er unauflöslich verbunden ist. Eine solche Analyse ist ihrem Wesen nach kritisch.«13 Und das heißt zweitens: »Die ambivalente Beziehung zwischen den vorherrschenden Werten und dem sozialen Kontext zwingt die Kategorien der Gesellschaftstheorie dazu, kritisch zu werden und so die tatsächliche Kluft zwischen der gesellschaftlichen Realität und den Werten, die sie in Anspruch nimmt, zu reflektieren.«14 Weil: »Gesellschaftliche Begriffe beziehen ihre kritische Färbung aus der Tatsache, daß die Kluft zwischen Ideal und Realität typisch für die Totalität der modernen Kultur ist … [Die Induktion sollte deshalb] in der Gesellschaftstheorie das Allgemeine im Besonderen aufsuchen und nicht darüber oder darunter.«15 Schließlich, folgt daraus viertens: »Aufgrund der Tatsache, dass der Begriff unter dem Aspekt der historischen Totalität, die ihm entspricht, gebildet werden muss, sollte die Soziologie dieses wandelbare Muster allein aus dem Inhalt des Begriffs entwickeln können, anstatt ihm von außen spezielle Inhalte überzustülpen.«16 Insofern hat auch eine kritische Theorie der Popkultur die Aufgabe, »die Gesellschaft unter Gesichtspunkten zu erforschen, die nicht durch irgendeine Nachfrage oder akademische Gepflogenheit nahegelegt, sondern aufgrund seiner eigenen theoretischen Erwägungen als wesentlich erkannt werden … Entscheidend ist, daß die Gesellschaft dabei nicht bloß wie etwa in der modernen Soziologie Durckheims als ein Inbegriff von ›Sachen‹ betrachtet wird, sondern als ein geschichtlicher Prozeß mit inneren Tendenzen und Gegentendenzen, die man nur erfassen kann, insofern man selbst mit seiner Arbeit und seinen Interessen bewußt an ihnen teilnimmt. Die wichtigste dieser Tendenzen ist die Herstellung von Zuständen, in denen die unendlichen Fähigkeiten der Menschen nicht mehr gehemmt sind, sondern in denen sie sich in voller Freiheit zum Wohl des gesellschaftlichen Ganzen entfalten können.«17 Was ist Gesellschaft? – »Mit Gesellschaft im prägnanten Sinn meint man eine Art Gefüge zwischen Menschen, in dem alles und alle von allen abhän-

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gen; in dem das Ganze sich erhält nur durch die Einheit der von sämtlichen Mitgliedern erfüllten Funktionen, und in dem jedem Einzelnen grundsätzlich eine solche Funktion zufällt, während zugleich jeder Einzelne durch seine Zugehörigkeit zu dem totalen Gefüge in weitem Maße bestimmt wird.«18 Gesellschaft wird nicht durch ihre Widersprüche definiert, sondern die Widersprüche konstituieren die Gesellschaft. Zudem: »Das allherrschende Identitätsprinzip, die abstrakte Vergleichbarkeit ihrer gesellschaftlichen Arbeit, treibt sie [i.e. die Menschen, Anm. R.B.] bis zur Auslöschung ihrer Identität. Nicht umsonst ist der als wertfrei sich gerierende Begriff der Rolle vom Theater erborgt, wo Schauspieler nicht real die sind, welche sie spielen. Gesellschaftlich drückt solche Divergenz den Antagonismus aus. Theorie der Gesellschaft hätte von dessen unmittelbaren Evidenzen fortzuschreiten zur Erkenntnis seines sozialen Grundes: warum die Menschen immer noch auf Rollen vereidigt sind. Der Marxsche Begriff der Charaktermaske, der jene Kategorie nicht nur antizipierte, sondern gesellschaftlich deduziert, hat das tendenziell geleistet. Operiert die Wissenschaft von der Gesellschaft mit derlei Begriffen, schreckt aber vor der Theorie zurück, deren Momente sie sind, so leistet sie Dienste für die Ideologie. Der Begriff der Rolle, unanalysiert von der sozialen Fassade bezogen, hilft, das Unwesen der Rolle zu perpetuieren. Ein Begriff von Gesellschaft, der damit nicht zufrieden ist, wäre kritisch. Er überschritte die Trivialität, dass alles mit allem zusammenhängt.«19 Eine kritische Theorie der Gesellschaft ist wesentlich eine dialektische Theorie; sie lässt sich den Unterschied von Wesen und Erscheinung nicht ausreden, sowenig wie den Rest, der dem Begrifflichen entgeht. Benjamin schreibt: »Für den Dialektiker kommt es darauf an, den Wind der Weltgeschichte in den Segeln zu haben. Denken heißt bei ihm: Segel setzen. Wie sie gesetzt werden, das ist wichtig. Worte sind seine Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.«20 – Die Begriffe selbst formt die kritische Theorie als dialektische Figurationen des Ausdrucks, den die Wirklichkeit in Widersprüchen hinterlässt. Begriffe dialektisch zu denken heißt, ihres immanenten Widerspruchs gewahr zu werden, der Spannung, welche die Begriffe zur Wirklichkeit halten. Die Totalität, auf die kritische Theorie zielt, ist nicht als geschlossenes System zu haben, gerade weil das System die Erkenntnis vom Ganzen verschließt. Sie versucht derart die Totalität offen zu halten und ihr in Konstellationen habhaft zu werden, indem sie sich auf die gesellschaftlichen Kraftfelder konzentriert, sie durchdringt; und mit dem Prinzip der Durchdringung versucht sie, den avancierten Mitteln der gegenwärtigen Technik habhaft zu werden, die ihr zugleich als die Kraftfelder entgegentreten.21 Daher kommt ihr maßloses Interesse an den Vergnügungen, an der Popkultur; nirgends sind diese Kraftfelder dichter von Spannungen, Widersprüchen, Anta-

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gonismen bestimmt. Hier sind das Dionysische und das Apollinische nicht Gegensätze, sondern Aspekte desselben Ausdruckszusammenhangs. Skandalisierung und Entskandalisierung des Lebens gehören in der Popkultur zusammen. Dem dialektisch zu begegnen, heißt kraft der bestimmten Negation.

VI. »Die Zivilisation schafft die Herrschaft des Menschen über die Natur, doch gerät der Mensch demzufolge selbst unter die Herrschaft derjenigen Mittel, welche ihm die Möglichkeit gegeben hatten, über die Natur zu herrschen. Der Kapitalismus bezeichnet den Höhepunkt dieser Herrschaft. Im Kapitalismus gibt es überhaupt keine Klasse, die infolge ihrer Lage in der Produktion zur Schaffung der Kultur berufen wäre. Die Zertrümmerung des Kapitalismus, die kommunistische Gesellschaft, erfasst die Frage gerade bei diesem Punkte. Sie will eine solche Gesellschaftsordnung schaffen, in welcher einem jeden eine derartige Lebensweise zuteil wird, die in den dem Kapitalismus vorangegangenen Zeiten nur die herrschenden Klassen führten, in welcher Lage sich aber während des Kapitalismus keine einzige Klasse befinden konnte. Damit beginnt erst wirklich die Geschichte der Menschheit.« Georg Lukács, ›Alte Kultur und neue Kultur‹ (in: Taktik und Ethik, Darmstadt und Neuwied 1975, S. 134)

Die kritische Theorie begreift die Verhältnisse menschlichen Zusammenlebens als gesellschaftliche Totalität im Bewusstsein, auf diese Totalität keinen unmittelbaren Zugriff zu haben. Während bei Marx die Kritik der politischen Ökonomie sich noch auf die soziale Basis der Produktionssphäre richtete, von der die Kultur als Überbau in Wechselwirkung abhängig galt, ist später auf die tendenzielle Eigendynamik der Kultur aufmerksam gemacht worden: Kultur meint in diesem Sinne – wie schon bei Marx – Reproduktion. Auch hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten der ökonomische Strukturzusammenhang in der Massenkultur verlängert, die so genannte Massenkultur ist heute maßgeblicher ökonomischer Faktor, ja, die Durchsetzung des Kapitalismus erfolgte wesentlich auf kulturellem Gebiet, erfolgte in einem gesellschaftlichen Zusammenhang, der sowohl für die neue Ideologie (Legitimation) der Verwertungsgesellschaft, wie auch für die Distribution, Konsumtion und schließlich Produktion der neuen, »ungeheuren Warensammlung« überhaupt erst geschaffen wurde (und zugleich ist diese Kultur die Ideologie, die Distributionssphäre, der Bereich des Konsums, der Wirtschaftszweig der Kulturindustrie). Die Dialektik der Kultur ist von Ungleichzeitigkeiten bestimmt; Kultur wirft die Gesellschaft aus ihrer geschichtlichen Bahn, stellt sie still – zugleich formiert sich Kultur als der beschleunigte Zugriff auf die Zukunft. Im Namen der Kultur wird die Geschichte der Gesellschaft von der Mode abgelöst. Aber

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die Mode selbst vermag ihrer eigenen Zeit, der Unruhe der Gegenwart, nicht immer zu folgen. So nimmt die Kultur längst vergangene Motive auf, versucht sie in den Stand der Aktualität zu heben, schleudert das Veraltete in die Zukunft; und vor allem: liefert sie – maßgeblich dann als Popkultur – Bekenntnisse zur Gegenwart, eingehüllt in die Formensprache der Vergangenheit, archaisch, mythisch. In der Popkultur gerät solche Ungleichzeitigkeit, die in der Massenkultur noch auf die Maßgaben der Kunst trifft, zum Kitsch. Zugleich tritt dieser Ungleichzeitigkeit, die als innerkulturelles Problem erscheint, eine zweite hinzu, die sich im historischen Widerspruch, in geschichtlichen Verspätungen zum erreichten Stand der Produktionsweise bemerkbar macht. So treten beispielsweise in der Kunst des 20. Jahrhunderts der technische Fortschritt, das avancierte Material und die Möglichkeiten der Vermittlung wie des Verstehens immer weiter auseinander. »Auf der einen Seite die Avantgardekunst, die weder beansprucht noch darauf zählen kann, unmittelbar verstanden zu werden, und die experimentiert; auf der anderen Seite ein System von ›Übersetzungen‹ und ›Vermittlungen‹, bisweilen mit Verzögerungen um Jahrzehnte, das Formbildungen (mit den damit verbundenen Wertesystemen) von breiter Verständlichkeit bevorzugt, die einer Dialektik schwer bestimmbarer Einflüsse folgen.«22 In ähnlicher Weise, für dieselbe Zeit, konstatierte Benjamin in den dreißiger Jahren für die Massenkultur: »Als Marx die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise unternahm, war diese Produktionsweise in den Anfängen … Die Umwälzung des Überbaus, die langsamer als die des Unterbaus vor sich geht, hat mehr als ein halbes Jahrhundert gebraucht, um auf allen Kulturgebieten die Veränderung der Produktionsbedingungen zur Geltung zu bringen. In welcher Gestalt das geschah, läßt sich erst heute feststellen.«23 – Allerdings hat für größere historische Zeiträume auch Marx schon solche Ungleichzeitigkeiten bemerkt: »Bei der Kunst bekannt, daß bestimmte Blütezeiten derselben keineswegs im Verhältnis zur allgemeinen Entwicklung der Gesellschaft, also auch der materiellen Grundlage, gleichsam des Knochenbaus ihrer Organisation, stehen. Z.B. die Griechen verglichen mit den modernen oder auch Shakespeare. Von gewissen Formen der Kunst, z.B. dem Epos, sogar anerkannt, daß sie, in ihrer Weltepoche machenden, klassischen Gestalt nie produziert werden können, sobald die Kunstproduktion als solche eintritt; also daß innerhalb des Berings der Kunst selbst gewisse bedeutende Gestaltungen derselben nur auf einer unentwickelten Stufe der Kunstentwicklung möglich sind.«24 – Für sich betrachtet, ist die antike Kunst an ihre gesellschaftliche Entwicklungsstufe geknüpft, stellt also im Sinne des Basis-Überbau-Verhältnisses in Bezug auf die griechische Gesellschaft selbst keine Ungleichzeitigkeit dar. »Aber die Schwierigkeit liegt nicht darin, zu verstehen, daß griechische Kunst und Epos

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an gewisse gesellschaftliche Entwicklungsformen geknüpft sind. Die Schwierigkeit ist, daß sie für uns noch Kunstgenuß gewähren und in gewisser Beziehung als Norm und unerreichbare Muster gelten.«25 Die Formation der antiken Gesellschaft wird abgelöst von anderen, die Produktionsverhältnisse entwickeln sich mit dem technischen und sozialen Fortschritt der Produktivkräfte; aber die Kunst überdauert die sie bedingenden Verhältnisse. Ihr »Reiz für uns«, schreibt Marx über die antike-griechische Kunst, »steht nicht im Widerspruch zu der unentwickelten Gesellschaftsstufe, worauf sie wuchs. Ist vielmehr ihr Resultat und hängt vielmehr unzertrennlich damit zusammen, daß die unreifen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie entstand und allein entstehen konnte, nie wiederkehren können.«26 Die Ungleichzeitigkeit entfaltet sich erst im Zuge der Freisetzung der geschichtlichen Kräfte und gerinnt schließlich im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus zum Widerspruch der Kultur. Dieser Widerspruch markiert die ästhetische Dimension der Kunst. – Dieser Widerspruch markiert aber auch die allgemeine Krise, die in der Kultur ihren Ausdruckszusammenhang findet.

VII. a) Die Definition von Pop besteht in der Definition des Definitionsproblems: dass Pop begrifflich nicht eindeutig zu fassen ist, weil es sich nicht um ein eindeutiges Phänomen handelt; dass Pop also nicht definierbar ist, ist selbst schon Pop = die Definition von Pop. Wenn es heißt, Pop sei nicht eindeutig, meint das einerseits, dass Pop nämlich vieldeutig ist (als Pluralisierung von Sinn und Bedeutung), dass Pop andererseits totaler Bedeutungsverlust, Negation des Sinnes ist (Pop als nicht-deutbar oder in seiner Undeutbarkeit beliebig). Zugleich das Als-ob: Pop tut so wie Kunst, wie eine Epoche der Kunst, eine Kunstform. Ebenso: Pop ist Musik im Gegensatz zur Kunstmusik; populäre Musik. Pop ist Popmusik (im Gegensatz zu Rock). Pop ist Popmusik als ganz spezifisches Genre. Pop ist Tendenz und bestimmtes Produktionsverhältnis von Musik (Studio, Sampler etc.). Dann natürlich: Pop ist Mainstream. Pop ist Subversion innerhalb des Mainstreams. Pop ist Randzone des Mainstreams. Pop ist eine andere Wirklichkeit, Pop ist genau die eine Wirklichkeit, die es gibt. Schließlich die Anekdoten: Pop ist Kultur, kulturelles Segment, kulturelle Praxis, Pop ist Politik; Pop ist Entpolitisierung der Kunst, Pop ist Kunst. Pop ist Antikunst, Pop ist alles, Pop ist nichts, Kultur ist Pop, die Gesellschaft ist pop. Pop ist eine bestimmte Ideologie des Spätkapitalismus … Für die kritische Theorie ergibt sich immer noch eine andere Perspektive auf die Popkultur: Das, was wir heute als Kultur umschreiben, ist immerhin das Resultat eines geschichtlichen Restaurationsprozesses, der innerhalb eines

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halben Jahrhunderts sukzessive verdrängt hat, aus welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Gegenwart erwachsen ist. Man sollte also für eine kritische Theorie der Popkultur ernst nehmen, was Adorno in der ›Negativen Dialektik‹ formulierte: »Alle Kultur nach Auschwitz, samt der dringlichen Kritik daran, ist Müll.«27 Und Adorno notierte allgemein: »Kultur ist Müll, und Kunst, einer ihrer Sektoren doch ernst als Erscheinung der Wahrheit. Das liegt im Doppelcharakter des Fetischismus.«28 Gewiss kann Punk (Müll) in dieser Weise als der erste Reflex der Kulturindustrie auf das verstanden werden, was sie den Menschen antat. Das heißt mindestens, die Popkultur – als Spaßkultur, als Amüsierbetrieb – auf die geschichtliche Erfahrung des 20. Jahrhunderts zu beziehen.

VII. b) Pop ist Müll, aber wenigstens tanzbarer Müll. Angesichts der enormen technischen Möglichkeiten, die sich auf dem kulturellen Feld bieten, sollte wesentlich mehr quantitativ und qualitativ denkbar sein; es ist freilich reaktionär, sich kulturpessimistisch und -konservativ die alten Zeiten zurück zu wünschen. Es scheint aber doch auch nicht sonderlich fortschrittlich zu sein, sich mit dem Gegebenen zu arrangieren und resignativ das Beste daraus zu machen, wo doch die meisten Angebote ganz augenscheinlich Schrott und Verarschung sind (in Bezug auf das durchschnittliche Alltagsleben, zu dem die Popkultur die Freizeit abgeben soll). Das berührt bereits das Problem einer kritischen Theorie der Popkultur weit über den Geschmack hinaus, nämlich materiell. – Gesellschaftliche Tendenzen sind in der Kultur zu dechiffrieren; das ist allerdings in der Epoche der Kulturindustrie, die in der Popkultur kulminiert, nicht mehr so einfach. Zwar kann nach einer Formulierung Lukács’ Kultur noch immer als »die Idee des Menschseins des Menschen«29 verstanden werden, doch ist zu fragen, ob sich diese Idee derzeit tatsächlich in den angebotenen Kulturwaren erschöpft, oder nicht noch irgendwo Unabgegoltenes vorhanden ist. Wenn etwa Aby Warburg die Kultur ein kollektives Gedächtnis nannte, dann zielt nur die kulturkonservative, reaktionäre oder bonierte popdiskursive Frage auf »Kultur«; die kritische Theorie ist freilich viel mehr am Gedächtnis interessiert: Was haben denn die Menschen sich in den letzten einhundert Jahren gemerkt, was hat in ihren privaten Bestand der Erinnerung Eingang gefunden, was sedimentiert im kollektiven Gedächtnis? Und: Kann man davon auf den Milliarden von Schallplatten, die es gibt, irgendwas hören? Also: Die Welt geht unter, Außerirdische kommen, finden nur Schallplatten als einziges Indiz für eine terrestrische Zivilisation, bauen ihr Soundsystem auf, und hören, aber was? (Dass sie nur Schallplatten finden, kann ja daran

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liegen, dass andere Objekte – Bücher, Briefe, Kleidungsstücke etc. – ihnen als Natur, nicht als Kultur erscheinen …) Aber: Ist denn bei einer einzigen Schallplatte abhörbar, was sich im 20. Jahrhundert zugetragen hat? Und wenn ja, sind das eher Platten von Merzbow oder von Astrud Gilberto, Slayer oder Nina Simone, Sepultura oder Deep Purple, Autechre oder eine FinnischerTango-Compilation, John Zorn oder Erich Korngold?

VIII. Nicht nachfragen. Popkultur ist ein Angebot, das bisschen Leben, das übrig bleibt, wenn man Miete, Strom, Gas abzieht, unterhaltsam zu gestalten. Ein gigantisches Ablenkungsmanöver, sagen die einen; eine große Gefahr für die Stabilität des herrschenden Systems, sagen die anderen. Beide Parteien hegen besondere Interessen innerhalb der Popkulturindustrie und bemühen sich um eine spezifische Standortpolitik der Popkultur. Gegen die postmoderne Doppeldeutigkeit ist die dialektische Eindeutigkeit der Popkultur zu analysieren (nicht zu verteidigen). Einerseits das antizipatorische Moment, die kleine Möglichkeit, auf der abstrakten Tanzfläche des imaginären Widerstandsmuseums zum Konkreten durchzudringen. Andererseits die Spuren des Unabgegoltenen, die Ungleichzeitigkeit der bürgerlichen Vorstellung von Kulturrevolution (die Popelemente aus dem 19. Jahrhundert). Fortschritt und Verfall: Je größer die Geschwindigkeit, mit der eine technische oder kulturelle Erfindung in die Gesellschaft einbricht, desto schneller kommt es zum Stillstand, zur Regression. Techno zum Beispiel hat sich in den ersten Jahren so rasch entwickelt, dass er seit über zehn Jahren nunmehr nur noch als langweilige Replik der Angestelltenkultur auf die Ideologie von Kontrolle und Libertinage erscheint (auch hier gilt: Ulrich Sonnemanns Kritik am Narzissmus des verfrühten Feierns). Anders der Jazz: Seine Impulse haben sich in Synkopen über die Welt ausgebreitet, in synthetischen Klangwellen, füllen den utopischen Raum und das kairos der Popkultur bis heute mit der Bluenote.

IX. Dialektik der Popkultur: Wenn über Popkultur in den neunziger Jahren geschrieben werden soll, so sind es zwei Daten, die zusammengedacht werden müssen: Einerseits die Spannung zwischen Nirvana, ›Nevermind‹, Ende der Gitarrenmusik sowie ihr Neuanfang und elektronische Musik, die nächste Stufe der Massenveranstaltungen bei gleichzeitiger Zerstreuung der Massen. Andererseits Rostock-Lichtenhagen, 1992: Zweitausend Anwohner beklatschen jugendliche Neonazis, die zwei Tage lang Asylsuchende attackieren. Die

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Polizei, kaum da, rückt ab, weil es sich nicht um eine erkennbare rechtsextremistische Tat handelt, sondern um Jugendkrawall (heißt das also: ein popkulturelles Phänomen, kein politisches?). Die Bewohner werden deportiert. In der nächsten Nacht – 24. August 1992 – fliegen Brandsätze in den von Vietnamesen bewohnten Block des »Sonnenhofs«; die Polizei sieht keinen Anlass zum Handeln, Telefon besetzt, Feuerwehr rückt erst eine Stunde später an. Schließlich kommt die Polizei doch noch. Sie verhaftet vierzig Gegendemonstranten. Von den Neonazis werden drei verhaftet, die Jahre später mit Bewährungsstrafen davonkommen. Aus dem Polizeiprotokoll wird handschriftlich von einer unbekannten Person der Satz gestrichen, dass für die Vietnamesen zu keinem Zeitpunkt Gefahr bestand. Ein einsatzleitender Polizist räumt Jahre später ein: Objektiv bestand keine Gefahr, auch wenn die Menschen im Haus es subjektiv so empfunden haben mögen. Im Spätsommer 1992 beschließt der Bundestag die Asylrechtsänderung – weil Asylrechtsmissbrauch, so das Hauptargument, bei der Bevölkerung Unmut erzeugt. Wenn die ganze Gesellschaft mittlerweile zur Popgesellschaft geworden sein soll, und auch die offizielle Politik längst von Popelementen bestimmt ist, dann kann dieses Ereignis, was den Pop betrifft, nicht auf weiße Schnürbänder, Rechtsrockschallplatten und Skinheadkultur reduziert werden; wahrscheinlich ist Rostock-Lichtenhagen der historische Wendepunkt von Pop I zu Pop II, zumindest hier in Deutschland.

X. »Modell war’n immer die Andern.« Kante ›Anatomie / Entfernt‹ (›Zwischen den Orten‹, 1997)

Es ist der Pop in der Kontrollgesellschaft untersucht worden. Muss denn nicht, wenn überhaupt, Pop als Ausdruck der Kontrollgesellschaft untersucht werden, als Manifestation eben jener Kontrollmechanismen, die sich in die Subjekte eingeschrieben haben? Adorno verweist auf die Konditionierung, die in der amerikanischen Soziologie zur selben Zeit beobachtet wird, wie in den Büros und Hotels – also der Angestelltenarchitektur – die Klimaanlagen installiert werden (Air-Condition). »Der Endeffekt des conditioning, der zu sich selbst gekommenen Anpassung, ist Verinnerlichung und Zueignung von gesellschaftlichen Druck und Zwang weit über alles protestantische Maß hinaus: die Menschen resignieren dazu, das zu lieben, was sie tun müssen, ohne auch nur noch zu wissen, daß sie resignieren. So wird ihr Glück subjektiv befestigt und die Ordnung zusammengehalten. Alle Vorstellungen einer bloß äußerlichen und durch Agenturen wie Familie und Psychologie vermittelten Einwirkung der Gesellschaft auf die Einzelnen sind als überholt durchschaut.«30

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Die Strategien, die Subjekte bei der Stange zu halten, sind vielfältig; sie verlangen allerdings zur Durchsetzung keineswegs den Tod des Subjekts, sondern vielmehr die bedingungslose Entäußerung des Subjektivismus, also genau jene Ideologie des Individuums, die uns heute als Persönlichkeit, Charakter und Schicksal angedreht wird. Ein wesentliches Element der Kontrolle ist freilich nicht ihr Selbstzweck, sondern die Anpassung der Subjekte an die ökonomische Struktur, die nichts außerhalb von ihnen Stehendes ist, sondern sich in ihrer Logik durch die Subjekte hindurch überhaupt nur verwirklichen konnte. Die Beseitigung der Opposition ist deshalb nur noch bei denen, die dem Druck der Widersprüche nicht mehr standhalten, die aus dem ökonomischen System ausgeklinkt werden, auf Maßnahmen körperlicher Gewalt und Erziehung angewiesen; inmitten des Systems funktioniert die Integration, eine Form der Selbstähnlichkeit zwischen Individuum und Gesellschaft, die auf der scheinbaren Einebnung der Widersprüche basiert. Die Entfremdung, die Marx Mitte des 19. Jahrhunderts ja eben nicht als vitalistische Kritik der Moderne formuliert hat, sondern als strukturelles Verhältnis gesellschaftlicher Praxis der Individuen,31 hat sich mit der Ausbreitung und Durchsetzung des Kapitalverhältnisses und der Verwertungslogik in nahezu alle individuellen und gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen eingeschrieben. Aus einer anderen Theorieperspektive, nämlich poststrukturalistisch betrachtet, erscheint diese Entfremdung als nichtpersonale, strukturelle Form von Herrschaft, als Macht und Kontrolle. Die kritische Theorie versucht allerdings die Dialektik in diesem Verhältnis freizulegen, also die strukturelle Dynamik, nach der jedes Machtverhältnis immer auch ein praktisches Verhältnis, wenn man so will, ein Produktionsverhältnis darstellt. Nicht nur die Herrschaftsmechanismen wurden entpersonalisiert, sondern ebenso die Beherrschten. Die Beherrschten haben a) Anteile der Herrschaft übernommen, b) notwendige Selbstbeherrschung (ohne Selbst) – als übersprungene Autonomie der Subjekte – eingeübt, c) Herrschaft zwischen den Menschen auf niedrigerer Stufe verfestigt, und d) die Internalisierung der Herrschaftsverhältnisse internalisiert (»Das ist so, das war immer so, das wird immer so bleiben«). Und stets wird ein Moment von gesellschaftlicher Praxis bezeichnet. »Die Trennung von Gesellschaft und Psyche ist falsches Bewußtsein; sie verewigt kategorial die Entzweiung des lebendigen Subjekts und der über den Subjekten waltenden und doch von ihnen herrührenden Objektivität … Die Menschen vermögen sich selbst in der Gesellschaft nicht wiederzuerkennen und diese nicht in sich, weil sie einander und dem Ganzen entfremdet sind … Das falsche Bewußtsein ist zugleich richtiges, inneres und äußeres Leben sind voneinander gerissen.«32 – Es gibt mithin keinen Grund, das Subjekt zu unterschätzen; es gibt keinen Grund, die Widersprüche zu leugnen, den sub-

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jektiven Faktor zu verdrängen. Poptheoretische Verkürzung, Poststrukturalismus: die Welt in den Unzulänglichkeiten des eigenen, schmalen Diskursuniversums auflösen (»Widersprüche? Für mich sind das alles so rhizomatische Beziehungen.« – »Subjekt? Ist das nicht diese Erfindung der Humanwissenschaften?« – »Identität? Da krieg ich so’n Hals, ey!«). Das Interesse der kritischen Theorie ist die Befreiung des Subjekts, nicht die Wiederholung seiner realen Beschränkung durch die beschränkte Theorie. »Es fickt, es scheißt.«33 Aber fickend und scheißend wird die Welt nicht verändert.34 Es gibt keinen Grund, dem Subjekt zu misstrauen oder es zu verabschieden. Denn »das Subjekt ist noch nirgends adäquat prädiziert; so steht es zu allen seinen bisherigen Bestimmungen, sobald diese endgültige sein wollen, im Widerspruch. Ja von hier aus erhellt aufs Neue: das Subjekt, wie es weder im Umfang noch gar im Inhalt der ihm bisher gewordenen Prädizierungen unterkommt, ist der treibende Grundwiderspruch in den gesellschaftlichen Widersprüchen überhaupt.«35

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Elemente des Konformismus I. »Ja, so sind die Menschen.« Gebrüder Grimm, ›Der Wolf und die sieben jungen Geißlein‹

»Der Bösewicht verstellt sich oft.« Vorsicht ist vor dem Wolf geboten, den die Geißlein nicht ins Haus lassen sollen; so schlägt der erste Versuch des Wolfs fehl, ins Haus der Geißlein zu gelangen. »Da lief der Wolf zu einem Bäcker und sprach: ›Ich habe mich an den Fuß gestoßen, streich mir Teig drüber.‹ Und als ihm der Bäcker die Pfote bestrichen hatte, so lief er zum Müller und sprach: ›Streu mir weißes Mehl auf meine Pfote.‹ Der Müller dachte: Der Wolf will einen betrügen, und weigerte sich; aber der Wolf sprach: ›Wenn du es nicht tust, so fresse ich dich.‹ Da fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote weiß. Ja, so sind die Menschen.« Das Märchen berichtet, dass sie weniger aus rationalen Erwägungen, aus Solidarität, Sorge oder Liebe handeln, sondern vielmehr aus Angst und Ohnmacht, aufs eigene Wohl bedacht, angepasst und dem eigenen Schicksal ergeben. – Diese kurze Szene aus dem grimmschen Märchen vom ›Wolf und den sieben jungen Geißlein‹ kann als Urbild der Diktatur der Angepassten gelesen werden: Der Bäcker und der Müller, Handwerker aus der idyllischen und beschaulichen Welt des Kleinbürgers, die im Märchen stets den romantischen Gegenentwurf zum städtischen Leben repräsentieren, sind die Idealtypen der konformistischen Persönlichkeit, die sich – die Grimm-Brüder notierten das Märchen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zweihundert Jahre später als sozialer Charakter durchgesetzt haben wird: Es ist eine von Widersprüchen, von Verzerrungen und Störungen gekennzeichnete Persönlichkeit, die selbst als Idealtyp nur in ihrer äußersten Spannung zu bezeichnen ist – als schließlich entpersonalisierte Persönlichkeit, die eben ›Personality‹ nur noch als ideologischen Ersatz propagiert; als gelungene Anpassung, die sich allerdings mitunter als Gegenteil tarnt. Der Wolf ist zweifelsohne auch für Menschen ein gefährliches und bedrohliches Tier; man kann nur Mutmaßungen darüber anstellen, weshalb der Bäcker, ohne mit der Wimper zu zucken, dem Wolf die angeblich verletzte Pfote mit Teig bestreicht: entweder ist es reine Folgsamkeit und Naivität, die über die Gefahr blind hinwegsieht, oder es ist Angst, die sich der Bäcker eben nicht anmerken lassen möchte. In beiden Fällen ist es aber der Gehorsam des Unmündigen, der auch in der Begegnung mit dem Müller

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bestätigt wird: Er verweigert sich ja zunächst nicht ob der grundsätzlichen Gefahr des Wolfes, sondern aus Misstrauen; er ist der Kleinbürger, der sich immer schon beschubst und betrogen fühlt. »Ja, so sind die Menschen« heißt es im Märchen – im Übrigen sind der Bäcker und der Müller die einzigen Menschen, die in diesem Märchen auftreten; und man kann sich auch wundern, weshalb sie eigentlich nichts mitbekommen vom anschließenden Mordüberfall des Wolfes auf das Haus der Geißlein, welches sich offenbar im selben Dorf befindet wie eben auch die Backstube und die Mühle; und unbehelligt liegt der Wolf auf der Dorfwiese, vollgefressen und müde von der Bluttat, und schnarcht vor sich hin.

II. »Ererbte Moralbegriffe, religiöse Vorstellungen, Aberglaube und überlieferte Weisheit aus dürftigen Stuben – das alles treibt mit und wirft sich unzeitgemäß der herrschenden Lebenspraxis entgegen … Sie möchten ihre eigenen Empfindungen ausdrücken; sie widersetzen sich dem System, das ihr Dasein zu bestimmen sucht, und werden doch von dem System übermannt.« Siegfried Kracauer, ›Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland‹ (Frankfurt am Main 1974, S. 69) Es geht darum herauszufinden, »wie die objektiven Elemente eines gesellschaftlichen Ganzen in den Massenmedien produziert und reproduziert werden. Das schließt ein, dass auf den ›Geschmack der Massen‹ als grundlegende Kategorie verzichtet wird. Statt dessen müsste aller Nachdruck darauf liegen, herauszubekommen, wie den Verbrauchern ein bestimmter Geschmack beigebracht wird, der selbst nur das Ergebnis der technischen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen und Interessen ist, die von den Beherrschern der Produktionsmittel vertreten werden. Was bedeuten Vorlieben oder Abneigungen gesellschaftlich wirklich?« Leo Löwenthal, ›Standortbestimmung der Massenkultur‹ (in: Literatur und Massenkultur, Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main 1990, S. 24)

Alles fing viel früher an; die Frage ist, ob es einen historischen Zugriff auf die Ereignisse gibt, der es erlaubt, gegen die herrschende Konstruktion von Geschichte, gegen die panische Spaßkultur der Popgesellschaft und ihre perennierende Selbstentfremdung, gegen den urkomischen toleranten Zynismus, eine andere Geschichte aus dem Kontinuum freizusprengen. Unter dem Vorzeichen der Globalisierung ist im hysterischen Kapitalismus der Wahnsinn zurückgekehrt und überwuchert nahezu alle Bereiche, die ehedem von der bürgerlichen Rationalität als besetzt galten, als Freiräume der Vernunft, als Idyllen der Selbstbestimmung: Politik, Kultur etc. Im demokratischen Zeitalter und dem nachfolgenden hat sich die Dialektik der Aufklärung längst in den Subjekten durchgesetzt. Strukturell macht es dabei erst einmal keinen

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Unterschied, ob sich der Wahnsinn in politischen Delirien, in antisemitischer Paranoia oder in den verschiedensten, mittlerweile ins Alltagsbewusstsein abgesunkenen Verschwörungstheorien äußert. Am Ende schließt sich die konforme Welt in sich selbst und mündet im gewohnten Feindbild. Es ist schon einigermaßen bezeichnend, wenn man sich mit Leuten unterhält, die mit höchstens Halbwissen über zum Beispiel die Unmöglichkeit des Kommunismus schwadronieren, die sich aufgeklärt geben, wenn es um das Lippenbekenntnis geht, selbstverständlich links zu sein, die in überzeugender Arroganz sich darüber mokieren, mit wieviel Dummheit sich der Durchschnittskonsument allerhand Schrott andrehen lässt, etc. – also mit Leuten, die dann im Verlauf der Unterhaltung sich zwar als Esoterikgegner profilieren möchten, aber trotzdem mit heimlicher Begeisterung sich ihr Zeitungshoroskop zu Herzen nehmen; die gerade als tolerante und informierte Liberale »einfach mal nachhaken wollen« und es geradezu in ihrem demokratischen Interesse »verwunderlich finden, wieviel Macht die Juden heute schon wieder haben«; die sich – was noch das Harmloseste ist – in ihrer bloßen Erscheinung, Meinung und Selbstwahrnehmung nicht einen Grad unterscheiden von den approbierten Stereotypen der Magazine, über deren Ideologeme sie sich erhaben dünken. Die gesellschaftlichen Bereiche, in denen diese Unterhaltungen stattfinden mögen, sind von den Inhalten längst entkoppelt. Auch die vermeintlich subversiven Bezirke der Popkultur, die Politik einmal ganz anders definieren oder sich davon freimachen wollten, sind vom Ressentiment nicht frei (es scheint so zu sein, dass insbesondere die Popmythen den Nährboden für die ältesten Vorurteile abgeben; genauso, wie sich gerade in der Popkultur die stereotypen Muster des Rassismus fortsetzen, genauso kursieren wieder antisemitische Klischees wie zum Beispiel das, dass die Juden Christus ans Kreuz genagelt hätten; im Popgewand geriert sich auch die neuere Verschwörungstheorie über den 11. September 2001, die so langsam zu einem zweiten Protokoll der Weisen von Zion avanciert). Zum Popkonformismus gehört, dass das Ressentiment immer schon in dem sich bestätigt, was ohnehin ist. Eine Forschergruppe um den Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer findet heraus, dass 52,1 Prozent der Deutschen der Aussage »Gegen Außenseiter sollte härter vorgegangen werden« »voll und ganz zustimmen«, und noch einmal 28,0 Prozent »stimmen eher zu«: das sind also achtzig Prozent, die hier diffuse Ressentiments gegen Außenseiter formulieren; über fünfzig Prozent finden, dass »zu viele Ausländer in Deutschland leben«; 64,4 Prozent »stimmen voll und ganz zu«, dass »Verbrechen härter bestraft werden sollten«, 33 Prozent finden es »ekelhaft«, wenn Homosexuelle sich küssen, und so weiter.1 Für eine kritische Theorie der Popkultur ist nicht uninteressant, diese Erhebungen mit den Ergebnissen von Befragungen in Zusammenhang zu bringen, die das scheinbar

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belanglose Alltagsbewusstsein betreffen. Also: In welchem Verhältnis stehen die Ressentiments latenter oder offener Fremdenfeindlichkeit zu den Befragungen, die zum bürgerlichen Lebensstil der Angestelltenkultur durchgeführt werden (»Sind sie mit ihrem Partner zufrieden?«, »Welche Sexstellungen bevorzugen sie?«, »Wie gefällt ihnen die neue Mode?«, »Was für ein Charakter sind sie?«, »Liebt ihr Partner sie wirklich?« etc.)? Wolfgang Pohrt hatte in Anbetracht des neonazistischen Terrors Anfang der neunziger Jahre mit seiner empirisch-soziologischen Studie über den ›Autoritätsgebundenen Charakter‹ »die Anfälligkeit der Deutschen für einen neuen Faschismus« untersucht und damit den Versuch unternommen, »es ernst zu nehmen, was alle sagen, zuende zu denken, was jeder meint, nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben, und nicht auszuschließen, weil das für unmöglich Gehaltene auf der Tagesordnung steht.«2 Pohrt nahm die Untersuchungen zum Ausgangspunkt, die zu Beginn der fünfziger Jahre unter dem Titel ›Studien zum autoritären Charakter‹ durchgeführt wurden.3 Das philosophische Gerüst dieser Forschungen, die im Schatten der Erfahrung des Nationalsozialismus standen, hatten Theodor W. Adorno und Max Horkheimer bereits mit der ›Dialektik der Aufklärung‹ entwickelt. Es ging um die Frage, wie Menschen disponiert sein müssen, um nicht nur für den Faschismus empfänglich zu sein, sondern aktiv an seinen Verbrechen teilzunehmen, also um den »psychologischen Aspekt des Faschismus«.4 »Im Mittelpunkt des Interesses stand das potentiell faschistische Individuum, ein Individuum, dessen Struktur es besonders empfänglich für antidemokratische Propaganda macht.«5 – Also nicht der fertige, offensiv sich bekennende Faschist oder Antisemit stand im Mittelpunkt der Untersuchungen, sondern eben die Frage, welche Bewusstseinsstrukturen, die scheinbar ganz jenseits einer politischen Einstellung operieren, vorbereitend und unterstützend für die Konstitution des faschistischen Charakters sind, beziehungsweise welchen Anteil daran die autoritäre und konformistische Persönlichkeit haben.6 In den ›Studien‹ wurde die autoritäre Persönlichkeit in einer demokratisch strukturierten Gesellschaft, den Vereinigten Staaten von Amerika, untersucht, was den Forschungen Aktualität verleiht: Konformität erscheint damals wie heute weniger als Anpassungsdruck, sondern vielmehr als Vermögen, sich mit den gegebenen Verhältnissen zu arrangieren. Es geht dabei um die psychische Disposition der Individuen, um ihren »Sozialcharakter«, wie Erich Fromm es nannte.7 Im Zentrum steht das Gefühl der Ohnmacht; es beschreibt den Zwiespalt des modernen bürgerlichen und vor allem kleinbürgerlichen Charakters: »Einerseits hat er eine sehr aktive, auf bewußte Gestaltung und Veränderung der Umwelt ausgerichtete Einstellung … Andererseits aber weist der bürgerliche Mensch gerade schroff entgegengesetzte Charakterzüge auf. Er produziert eine Welt der großartigsten und wunderbarsten

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Dinge; aber diese seine eigenen Geschöpfe stehen ihm fremd und drohend gegenüber … Die ganze materielle Welt wird zum Monstrum einer Riesenmaschine, die ihm Richtung und Tempo seines Lebens vorschreibt.«8 In den extremen Ausprägungen gerinnt dieses Gefühl der Ohnmacht zur Neurose. »In den neurotischen Fällen wird der Inhalt des Ohnmachtsgefühls etwa folgendermaßen beschreiben: Ich kann nichts beeinflussen, nichts in Bewegung setzen, durch meinen Willen nicht erreichen, daß irgend etwas in der Außenwelt oder in mir selbst sich ändert, ich werde nicht ernst genommen, bin für andere Menschen Luft.«9 Und, Fromm weiter: »Diese Menschen glauben nicht daran, sie vermöchten irgend etwas dazu zu tun, daß jemand sie liebt oder gern hat … Da sie nicht glauben, daß sie irgend etwas dazu tun können, um geliebt zu werden, konzentriert sich alle ihre Aufmerksamkeit auf die in ihnen einmal vorhandenen Qualitäten, wie sie sie von Geburt mitbekommen haben. Sie sind ständig von dem Gedanken erfüllt, ob sie klug, schön, gut genug wären, um andere anzuziehen. Die Frage lautet immer: ›Bin ich klug, schön usw., oder bin ich es nicht?‹ Das müsse man herausfinden, denn die Möglichkeit, sich aktiv zu verändern und die anderen zu beeinflussen, gibt es für sie nicht.«10 – Die Popkultur stellt nun ein ideologisches Muster dar, das diesen Zwangscharakter als funktionale Struktur in der Gesellschaft auf Dauer installiert, indem auf genau diese scheinbar individuellen Unzulänglichkeiten die kollektive Aufmerksamkeit gerichtet und alle Aktivität auf sie gelenkt wird. Solche Aktivität verharrt allerdings in »Scheinaktivität«: »Es ist oft recht schwer, die Grenze zwischen dieser scheinbaren und der echten Aktivität zu ziehen. Ganz allgemein läßt sich sagen, daß sich die Geschäftigkeit immer auf Dinge erstreckt, die im Verhältnis zum zu lösenden Problem nebensächlich und untergeordnet sind, und daß die Geschäftigkeit keine Beziehung zu den fundamentalen Zügen der zu lösenden Aufgaben hat.«11 Zu den Strategien der Scheinaktivität der Popkultur gehört insbesondere, bestimmte Verhaltensweisen als nonkonformistisch anzubieten, obgleich sie den Konformismus bestätigen; die meisten Handlungsoptionen innerhalb der Popkultur scheinen auf Veränderungen hinauszulaufen, die vermeintlich sogar nachhaltig Probleme lösen können: Veränderungen der Gesellschaft, des Lebensstils, des Selbst, der Mode, des Geschmacks, der Plattensammlung, des Freundeskreises, des Berufs etc. Die Popkultur steht dabei wie ehedem die Massenkultur mit ihren Handlungsoptionen und vor allem ihren ideologischen Angeboten im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Konflikten und den Möglichkeiten, praktisch und emanzipatorisch in diese Konflikte einzugreifen. Ökonomische Konflikte, die einmal als Klassenkampf begriffen wurden, werden unterminiert durch Vorurteile und politische Ressentiments, die sich auf Feindbilder lenken, die in ideologischen Hohlräumen der Kultur konstruiert werden (so

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gehört beispielsweise zum modernen Antisemitismus, dass die Feindschaft gegen den Juden sich nicht mehr primär auf seine ökonomische Stellung konzentriert, sondern gefiltert wird durch das Vorurteil über sein kulturelles Verhalten; in dem Maße, wie Kultur und Ökonomie verschmelzen, gewinnt dann das kulturell fundierte Vorurteil seine ökonomische Basis gewissermaßen zurück: beispielsweise was die Stellung der Juden in der Film- und Musikindustrie betrifft). In ähnlicher Weise hatte Fromm bereits 1929/30 die Studie ›Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches‹ durchgeführt, die bei den Probanden untergründige autoritäre, patriarchale oder antisemitische Einstellungen feststellte. Es zeigte sich, dass auch bei politisch fortschrittlichen Kräften, etwa der kommunistischen Arbeiterbewegung, ein tendenziell autoritärer, sexistischer, rassistischer und antisemitischer Charakter die individuelle Persönlichkeit bestimmt. Diese Disposition des Sozialcharakters wird 1936 in den ›Studien über Autorität und Familie‹ unter der Leitung Horkheimers vom Institut für Sozialforschung weiter untersucht: Immer wieder zeigt sich die zentrale Rolle einer Persönlichkeit, die durch einen autoritären oder konformistischen Charakter strukturiert ist. »Das Verhältnis der Individuen zur Autorität, das durch die besondere Art des Arbeitsprozesses in der neueren Zeit vorgezeichnet ist, bedingt ein dauerndes Zusammenwirken der gesellschaftlichen Institutionen zur Erzeugung und Festigung der ihm entsprechenden Charaktertypen.«12

III. »Eine moralisch-rosa Hautfarbe – diese Begriffskombination macht mit einem Schlag den Alltag transparent, der von Schaufensterdekorationen, Angestellten und illustrierten Zeitungen ausgefüllt ist … Sprache, Kleider, Gebärden und Physiognomien gleichen sich an, und das Ergebnis des Prozesses ist eben jenes angenehme Aussehen, das mit Hilfe von Fotografien umfassend wiedergegeben werden kann.« Siegfried Kracauer, ›Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland‹ (Frankfurt am Main 1974, S. 24 f.) »Wir können Kampf einjagen / Um Achtung scharren / Wir können Zahlen schwenken / Nach Schnäpschen trinken / Zum Erreichen lenken / wir können Häute decken / Mit Faseretten / Aus Teufelstritten / Unsere Leiber schecken / wir können bewegungslos und ohne reden / Um Verbindung bitten / weil wir einverstanden sind / Alles leicht zu erschwimmen / Weil wir einverstanden sind / wir können uns gar nicht mehr entsinnen / Wofür ein Verstand erklingt / Wir können frei sein / Von den Anderen / Wir können insgeheim / Und ganz allein / Unter Nichts sein / Wir können Einkommen / Wir können Arbeitspflichten / Zum Leben haben / Mit dem Körper tragen / Wir können unterscheiden / Zwi-

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schen Drinnen und Draußen / Zwischen An- und Verkaufen / Weil wir einverstanden sind /Alles leicht zu erschwimmen / Weil wir einverstanden sind / Wir können uns gar nicht mehr entsinnen / Wofür ein Verstand erklingt.« Schorsch Kamerun, ›Weil wir einverstanden sind‹ (›Now: Sex Image‹, L’Age D’Or 1997)

In der Popkultur wird die Ohnmacht der Individuen kollektiv organisiert – auf der Basis vollständiger Entsolidarisierung. Dass die individualisierten Subjekte kollektiv organisiert werden können, verdankt sich der Herausbildung des Typus des Angestellen, wie ihn Siegfried Kracauer beschrieben hat. In Bezug auf die Popkultur wäre schließlich von einer »Angestellten-Bohème«13 zu sprechen; sie ist der sozialpsychografische Reflex auf die Verschiebung ökonomischer Widersprüche, auf eine Verdichtung der kapitalistischen Verwertungslogik im Alltag der Menschen, die sich gleichzeitig als strukturelle und spezifische Krise bemerkbar macht. Es ist eine Binsenweisheit, dass heute die äußere Erscheinung eines Menschen einiges über seine soziale Stellung entscheidet. Das ist aber erst im 20. Jahrhundert ausschlaggebend geworden; sollen der Schmuck und die Inszenierung, die Mode ihre Wirkungen haben, müssen im selben Maße die unmittelbaren Klassengesetze ihre Bedeutung für den Ausdruck der sozialen Ordnung verlieren. In die Agenturen kehrte irgendwann die Clubware zurück, das Sportliche und die bequeme Freizeitkleidung – man sah darin, dass mit der Anzugsmode auch der Ernst der Arbeit, die keine mehr war, verdrängt werden sollte. Gleichwohl ist aber auch schon der Anzug des Angestellten des frühen 20. Jahrhunderts »Kriegsschmuck ihrer Feiertagskleider«14 gewesen, eine unbeholfene Adaption des Stils der feinen Leute. – Die Popkultur ist eine Angestelltenkultur, die das Beamtentum und die Spießigkeit aus ihren Reihen verdrängt haben möchte. Kracauer spricht von einer »im bürgerlichen Deutschland ausgeprägten Sucht, sich durch irgendeinen Rang von der Menge abzuheben, auch wenn er nur eingebildet ist.«15 Deshalb ist kaum mit Solidarität unter den Angestellten zu rechen. Heute, wo diese Sicht mittlerweile zum bescheuerten Programm vermeintlich linker Identitätspolitik der Popangestellten geworden ist, findet sich noch weniger Sympathie, Gemeinsamkeit und Kollektivität unter den Individuen. In keiner kulturellen Formation der bürgerlichen Gesellschaft wurde mehr Egoismus, Narzissmus, Nach-oben-Bumsen und Ellenbogen-Benutzung propagiert und legitimiert wie in der aus der Angestelltenkultur hervorgegangenen Popkultur; ausgerechnet daran hat sich die Idee des autonomen Subjekts geschärft, die dann von der politischen Linken direkt in die Büros der New Economy übernommen wurden und heute in den Vorstandsetagen der alten Ökonomie überleben. Insofern (aber nur insofern) sind Wolfgang Grams und Alfred Herrhausen aus demselben Holz des bürgerlichen Individualismus, und man

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kann mittlerweile Filme über das Verhältnis von Terror und Kapitalismus machen, als seien beides nur Extreme der modernen Biografie. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert haben sich in Stufen und Stationen verschiedene Typen der Konformität herausgebildet. Thomas Barfuss spricht von einem »Spießerpanorama«: Es zeigt den Spießer selbst, den Jedermann und die Jederfrau, den Babbitt, den bornierten Kleinbürger und neuere Typen des Konformismus. »In Kontrast dazu erscheinen seit den 80er Jahren unter dem Medienetikett der Young Urban Professionals oder Yuppies neue und flexible Typen auf der Bildfläche: erfolgreiche Jungmanager und trendbewusste Neureiche.«16 In seiner Studie ›Konformität und bizarres Bewusstsein‹ entwirft Barfuss eine sehr genaue Typologie der Diktatur der Angepassten. Sie zielt auf die Hervorbringung eines Subjekts fordistischer Konformität, rekonstruiert also den Sozialcharakter im Verhältnis zu den spezifischen Veränderungen innerhalb der Produktionsverhältnisse: »Wo demgegenüber der Entwicklungszusammenhang moderner Gesellschaften in seiner ganzen Vielschichtigkeit ins Bild gebracht werden soll, muss das Potenzial neuer Lebensstile mit der Etablierung neuer Produktionsweisen zusammengedacht werden: Weder wird sich eine Produktionsweise verstetigen lassen, ohne dass sie den Subjekten die Aussicht eröffnet auf neue und faszinierende Handlungsmöglichkeiten bei der Gestaltung ihres Lebens; noch werden sich Haltungen, Mentalitäten und Lebensstile verallgemeinern lassen, die sich nicht mit den technischen und organisatorischen Voraussetzungen des Produktionstyps vermitteln lassen, der die Mittel dafür zu erzeugen vermag.«17 So konstituiert sich in der Entwicklung der fordistischen zur postfordistischen Gesellschaft, der die Ausformung einer individualistischen Popkultur einher geht, ein neuer Typ von Massenkonformität, den Barfuss mit dem bizarren Bewusstsein beschreibt. »In Wirklichkeit kündete der verschärfte Konkurrenz- und Verdrängungskampf im Alltag den Subjekten nicht so sehr von einer bedingungslosen Entfesselung ihrer Differenz, sondern viel eher von einem deutlich gesteigerten Anpassungsdruck in einer sich wandelnden Gesellschaft, deren soziale Netze durchlässig geworden waren und deren Produktion auf der Basis mikroelektronischer Verfahren reorganisiert und flexibler gestaltet wurde.«18 Entsolidarisierung, Dekollektivierung und Reduzierung der Individuen auf bloße Marktbeziehungen waren die Folge. In dieser Weise erscheint der Konformismus gerade als nonkonformistisch, weil eine vermeintliche Verweigerungshaltung, sich nicht einzugliedern, zur zentralen Strategie des spätbürgerlichen Subjekts wird, um Anpassung an die bestehenden Zwänge gelingen zu lassen und um nicht aus dem Justemilieu herauszufallen; die Entfesselung der neoliberalen kapitalistischen Ökonomie im Subjekt wird pervers und paradox als seine Freiheit inszeniert: keine Bildung an

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Gewerkschaften, Berufsverbände, keine Vereinsmeierei, keine festen sozialen Beziehungen, nicht einmal ein fester Beruf, eine feste Liebesbeziehung und Familie, kein festgelegter Geschmack, kein fester Stil, kein festgelegter Standpunkt und keine Utopien über die Zukunft heißen die Leitlinien der bizarren Konformität.

IV. »Wir lernten alle nicht für die Uni, sondern fürs Leben, unser Hauptfach hieß Karriere.« Florian Illies, ›Generation Golf‹ (Berlin 2000, S. 178) »Das ist der Angriff der Gegenwart auf meine übrige Zeit.« Blumfeld

Die Popkultur bezog sich in ihrer Mode schon immer auf das Militärische, Uniforme; in den achtziger Jahren, das von einigen Postmodernen spitzfindig als das Jahrzehnt der Beschleunigung beschrieben wurde, wurden erstmals auch Fahrzeuge in die Zirkulation der Mode aufgenommen und es waren ausgerechnet die Yuppies, die mit einem Lebensstil, der ökonomische und konsumistische Mobilität verbinden sollte, sich gelegentlich militärische Geländefahrzeuge zulegten, Jeeps und VW Kübelwagen (Cabrios für den militärischen Einsatz an der Freizeitfront: Strand, Büro, Innenstadt …). Aus diesem Fuhrpark des neuen Mittelstands ist die Generation Golf hervorgegangen, die sich, nach Ansicht ihres Wortführers Florian Illies, dann mit demselben Automatismus geriert, mit dem das Automobil zum Symbol des konformistischen Individualverkehrs wurde, identisch mit der Ware selbst. »Die Generation Golf ist die erste, für die die Gleichberechtigung halbwegs Wirklichkeit geworden ist, für die sich die Kräfteverhältnisse nachhaltig verschoben haben.«19 Die Gleichberechtigung bezieht sich vor allem auf die Gleichschaltung des Verhältnisses dieser Generation zur Geschichte (was ja das ganze Unterfangen dieser Sparte von Büchern wie ›Generation Golf‹ unternimmt: dem entfremdeten Kleinbürgertum eine Geschichte in Form einer Biografie zu geben, deren einziger Inhalt die Datierung der eigenen Bedeutungslosigkeit auf den Sinnzusammenhang des Warenfetischismus ist). Die Generation Golf fährt im Kreisverkehr ihrer eigenen Gegenwart, auf der Suche nach ihrer Aktualität. Geht es um Geschichte, muss das Fahrzeug namens Selbstbewusstsein gleich an die Wand gefahren werden, indem man sich zur stumpfen Geschichtslosigkeit bekennt: »Das ist keine gute Überleitung: Das Verhältnis unserer Generation zur Geschichte allgemein und zum Holocaust ist dermaßen Roman-Herzoghaft unverkrampft, dass Kritiker dahinter Geschichtsvergessenheit vermuten, Ignoranz und Schlimmeres.« »In dieser Kritik übersehen die Kritiker jedoch, dass wir das Thema Nationalsozialismus zwischen dem dritten und dreizehnten Schuljahr mindestens achtmal auf dem Lehrplan stehen hatten …

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Das Wissen um die Grauen des Nationalsozialismus sind mit solchem Nachdruck in das Hirn eines jedes Mitgliedes der Generation Golf implantiert worden, dass wir bis heute eher die acht Gründe aufzählen können, die zum Ende der Weimarer Republik führten, als die zehn Gebote. Die Generation Golf verstand sehr gut, was Martin Walser meinte, als er von der ›Dauerpräsentation unserer Schande‹ redete und von der Kultur des Wegschauens.«20 Serienmäßig wurde bei dieser Generation der Rückspiegel vergessen. In den Achtzigern drehte Alexander Kluge seinen Film ›Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit‹; das sich in dem Filmtitel bereits ausdrückende Prinzip kann als paradigmatisch für das der Popkultur immanente Geschichtsverständnis angesehen werden, welches sich tatsächlich zu dieser Zeit in das allgemeine Bewusstsein von Gesellschaft einzuschließen beginnt: Es ist die (ästhetische) Lösung des geschichtsanschaulichen Widerspruchs, dass einerseits seit Errichtung des kapitalistischen Systems die Geschichte nicht sonderlich weit fortgeschritten ist, sich nicht wesentliche Änderungen in der Konstitution von Gesellschaft ergeben haben, dass aber andererseits dieser Stillstand die Projektionsfläche und Aktionsfläche für bahnbrechende technische und kulturelle Entwicklungen wurde; es ist die Vorstellung von Geschichte, aus der die Zeit herausgenommen und durch die (zeitlose) Mode ersetzt wurde. Die scheinbaren Veränderungen in der Konfiguration des Geschmacks und des Lebensstils, sind zum Beweis geworden, dass es eine weiterhin auf die Aktualität der Gegenwart zulaufende Geschichte gibt. Sie funktioniert allerdings nicht anders als die Schwarzen Löcher, die in der Astronomie zur selben Zeit beschrieben werden: als Raum-Zeit-Krümmungen, die nämlich Raum und Zeit bis zum Verschwinden in sich hineinziehen (und auch das Licht, an dem Raum und Zeit messbar wären). Es hat verschiedene Retromoden und Versuche gegeben, die vergangenen Jahrzehnte und ihren kulturellen Gehalt zu reaktivieren; das passierte für die Fünfziger, Sechziger und Siebziger immer mit dem exklusiven Aufwand, Einzelheiten zu reaktivieren (Schlaghose, Rockbands, Hippietum, Peace, Wohngemeinschaften etc.); es gelang nie für die vollständige Kultur eines Jahrzehnts. Nun waren die Achtziger selbst das erste Jahrzehnt, was seine kulturellen Ausdruck als Patchwork vorangegangener Jahrzehnte konstituierte – und es ist bis heute kulturell nicht wirklich vergangen: Wenn beispielsweise in den Achtzigerjahreshows, die derzeit im Fernsehen zu sehen sind, Bands aus der damaligen Zeit auftreten, dann werden die nicht aus der Versenkung geholt, sondern aus der Peripherie, in der sie seit den achtziger Jahren mit ihren damaligen Hits reüssieren (leidlich zumindest), in das mediale Zentrum der Gegenwart zurückgeholt. Zwar begegnet das Publikum der Mode mit Erstaunen und bisweilen Erschrecken – aber die Texte der Spider Murphy Gang sin-

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gen alle mit, als hätten sie das Lied erst kürzlich auf der Betriebsfeier wieder und wieder gehört (und die Angestellten singen: »… und draußen vor der großen Stadt, stehn die Nutten sich die Füße platt …«). Auch das ist die Neue Mitte: die Konzentration, die Zentrierung der alten Peripherie. Neokonservatismus, geistig-moralische wende, Tschernobyl, Punk und New Wave, neue Tänze auf einer immer weiter stagnierenden Fläche, der Untergang des realen Sozialismus; dazu die endlosen Schatten der Siebziger, die Militärdiktaturen, der Vietnamkrieg, der Bombastrock und die Industrialisierung der Rockkonzerte, Umstellung aufs Farbfernsehen. Die ersten flexibel einsetzbaren Computer finden entweder militärische Verwendung oder erklingen in neuen Soundwelten in der Musik; in beiden Fällen geht es um die Eroberung neuer Räume (neuer Märkte), die dann endgültig heute mit dem Internet erschlossen sind. Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen konstituiert sich die Popkultur. Otto Karl Werckmeister spricht für die achtziger Jahre von einer ›Zitadellenkultur‹: »Mit dieser Metapher benenne ich eine künstlerische und intellektuelle Kultur der demokratischen Industriegesellschaft in den Jahren 1980 bis 1987, der Zeit ihres größten wirtschaftlichen Erfolges, die die Leiden und Konflikte dieser Gesellschaft schlußlos zur Schau stellt.«21 Zitadellen sind Festungen, mit denen die Zentren der Gegenwart sich gegen Angriffe der Feinde verteidigt – zum Beispiel die Strategic Defense Initiative (SDI). Sicherheit als Schlüsselwort der Zitadellengesellschaft.22 Die Zitadellenkultur löst die argumentative Kultur der Siebziger ab. Reflexion, Diskussion, geschichtliche Anschaulichkeit, chronologische Überschaubarkeit. Dagegen die Zitadellenkultur (Habermas spricht ja dann von der ›Neuen Unübersichtlichkeit‹): »Sie bietet keine positiven gesellschaftlichen Fiktionen, keine weltabgewandten ästhetischen Illusionen an. Im Gegenteil, ihre Schaustellungen von Kriegen und Katastrophen, von Krisen und Entfremdungen, von Leiden und Gewalt sind vielleicht noch krasser als die der argumentativen Kultur, die sie ersetzt. Sie zielt auf unbegrenzte Entfaltung und hemmungslosen Ausdruck, ist gewollt bizarr entworfen, provokativ übertrieben und grandios inszeniert. Ihre forcierten Assoziationen mit brutaler zeitgeschichtlicher Erfahrung, die sie ästhetisch wirkungsvoll und thematisch zeitgemäß erscheinen lassen, sind zersplittert in große und kleine Bruchstücke, die sie zu kaleidoskopisch wechselnden, artistisch willkürlichen Konfigurationen zusammenfügt. Diese Kultur ist zugleich historisch und fiktiv, denn sie entschärft die Wirklichkeit nicht, sondern ästhetisiert sie in voller Schärfe. Oft treibt sie die Steigerung der Ästhetik durch Erfahrungsformen der Sinnlichkeit bis zu dem Anspruch auf sinnliche Erfahrung selbst, den sie unabläßig wiederholt und der ihre grundsätzlichste Illusion ausmacht.«23 War bis in die Siebziger die Massenkultur noch Resultat einer Ästhetisierung der Politik, so setzt sich in den achtziger Jahren das umgekehrte Prinzip

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durch: die Ästhetisierung als Resultat einer Popkultur, die als Politisierung der Popkultur auftritt. Und das heißt zugleich: eine verschärfte Stufe der Individualisierung, die Genese eines Subjekts, das nur noch aus Selbstverantwortlichkeiten und privaten Problemen besteht – ohne wirklich über ein Selbst und eine Privatsphäre zu verfügen. Es zieht sich endgültig von den Fronten gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zurück und flüchtet in seine eigene politische Meinung. »Die Zeiten, in denen die moderne Kultur der Schauplatz erbitterter ideologischer Kämpfe vom Volkstum bis zur Volksfront war, liegen ein halbes Jahrhundert zurück. In der Zitadellenkultur gibt es keine Fronten mehr, sondern nur noch konkurrierende Angebote. Ihre bunte Vielfalt bewährt sich in der Fähigkeit, einander widersprechende Phänomene nebeneinanderzustellen, ohne etwas auszulassen.«24 Was als ein Moment der Postmoderne beschrieben wurde, läuft auf eine umfassende Ästhetisierung der Krise hinaus. Die Konformität darf sich zu keinem Augenblick als Konformität zu erkennen geben; dies gewährleistet sie durch eine Enthemmung – die Diktatur der Angepassten wird obszön, die Obszönität und Schamlosigkeit wird in der Öffentlichkeit aufgehoben. Hauptsache, man spricht darüber. Foucault hat dies in ›Sexualität und Wahrheit‹ beschrieben. »Daß sich Probleme nicht lösen lassen, sondern nur ausgedrückt, erörtert und ertragen werden können, ist die ständig wiederholte Botschaft der Zitadellenkultur.«25 Doch das Verhältnis zur Beichte wird zynisch; hieß es in den achtziger Jahren noch »Gut, dass wir darüber gesprochen haben«, heißt es heute: »Du kannst es mir erzählen, aber es interessiert mich nicht«. Die beruhigende Stimme im Radio, die im Problemgespräch irgendwann nachts auf den Frequenzen der Kultursender versucht, die junge Frau vom Selbstmord abzuhalten, ist verstummt; statt dessen tritt dieselbe Frau vervielfältigt in der Mittagstalkshow auf, lässt sich mit einem billigen Applaus abspeisen und weiß genau, dass ihr Suizidgedanke deshalb sinnlos ist, weil niemand Notiz nehmen würde – deshalb unterlässt sie es. Dahinter steckt eine ästhetische Sublimation des Leidens. Zusehen wird eine Variante des Wegsehens; die staunende Anteilnahme am Spektakel ist eine Form der Ignoranz. Und insofern ist die Popkultur über die Zitadellenkultur hinausgewachsen. – Werckmeister schreibt: »Diese Kultur läßt sich weder auf Beifall für die Lage ein noch auf Protest dagegen. Ihre intellektuellen und künstlerischen Ausdrucksformen bilden ein Auf und Ab äußerster Zustände nach, über die sich kein Urteil gewinnen läßt. Es ist die Kultur einer Gesellschaft, die auf entscheidungslose Fortschreibung ihrer Krisenzustände angewiesen ist.«26 Dagegen hat die Popkultur das anteilnahmslose Schweigen in eben den zynischen Applaus verkehrt, mit dem die Diktatur der Angepassten meint, die Lage verändern zu können, wenn man sie nur laut genug und selbstverständlich ironisch und überaffirmierend beklatscht.

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V. »Ich gehöre dem Mittelstand an, dem besten und glücklichsten Stand der Welt, wie ihn lange Erfahrung gelehrt hat, denn dieser kenne nicht das Elend, die Mühsal, Sorgen und die Quälerei der arbeitenden Klasse, aber auch nicht den Hochmut, das Wohlleben, den Ehrgeiz und die Missgunst der Oberklasse.« Daniel Defoe, ›Robinson Crusoe‹ (Stuttgart 1976, S. 10) »Des Menschen Leben: das heißt vierzig Jahre Haken schlagen. Und wenn es hoch kommt (oft kommt es einem hoch!!) sind es fünfundvierzig; und wenn es köstlich gewesen ist, dann war nur fünfzehn Jahre Krieg und bloß dreimal Inflation.« Arno Schmidt, ›Schwarze Spiegel‹ »Wir können zunächst eine zunehmende Passivität der Menschen gegenüber dem allgegenwärtigen politischen und ökonomischen Apparat feststellen; Unterwerfung unter seine reichliche Produktivität und seine Benutzung ›von oben‹; eine Trennung der Individuen von den Macht- und Informationsquellen, welche die Empfänger in Verwaltungsobjekte verwandelt. Die Bedürfnisse der bestehenden Gesellschaft werden introjiziert und zu individuellen Bedürfnissen; gesellschaftlich erfordertes Verhalten und Streben werden spontan. Auf den höheren Entwicklungsstufen geht diese totale Gleichschaltung ohne Terror und Aufhebung der demokratischen Spielregeln vonstatten.« Marcuse, ›Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur‹ (in: Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt am Main 1970, S. 160)

Die Diktatur der Angepassten ist eine demokratische Gesellschaft; ihre Totalität ist kein protofaschistisches, geschlossenes und statisches System, sondern eine – charakteristisch für die spätkapitalistische Phase – von immanenten Widersprüchen, sozialen Spannungen und Konflikten, die sich gleichermaßen im Bewusstsein der Menschen ebenso wie in den differenzierten, von ideologischen Strukturen überlagerten Klassenbeziehungen niederschlagen. Die Diktatur befindet sich im dynamischen Zustand ihrer permanenten und fortschreitenden Krise, maßgeblich der Krise des kapitalistischen Verwertungszusammenhangs; ein bestimmendes Moment dieser Krise sind ihre politischen, ökonomischen und ideologischen, kulturellen Regulationsversuche, wonach Widersprüche und Konflikte, wie schließlich die Krise selbst, als Normalzustand deklariert werden oder temporär ein besonderer Komplex von Widersprüchen durch einen anderen sublimiert oder überlagert zu werden vermag. Antonio Gramsci schreibt im dreizehnten seiner Gefängnishefte, angefertigt zwischen 1932 und 1934, »über einige Aspekte der Struktur der politischen Parteien in den Zeiten organischer Krise«; die organische Krise ist die »Hegemoniekrise«: sie entsteht, wenn die führende Klasse in einer ihrer politischen Unternehmungen scheitert, für die sie den Konsens und die Allianz der

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großen Masse mit Gewalt versucht herzustellen oder durchsetzte – Gramsci nennt als Beispiel den Krieg –, oder weil die breiten Massen »urplötzlich von der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität übergangen sind und Forderungen, stellen, die in ihrer unorganischen Komplexität eine Revolution darstellen.«27 Dem geht zumeist die ökonomische Krise voraus, die sich in der Regel schon so weit zugespitzt hat, dass das Vertrauen in die politische Führung längst erschüttert ist. Gleichwohl muss die Krise noch nicht Ausmaße erreicht haben, die die soziale Grundversorgung infrage stellen, vielmehr kann die führende Klasse das Misstrauen in einzelne politische Fraktionen, insbesondere Zweifel an der regierenden Koalition, ausnutzen, um zur Durchsetzung eigener Machtansprüche das ideologische Fundament der gesellschaftlichen Ordnung – Demokratie, Warentausch, kapitalistische Produktionsverhältnisse – legitimatorisch zu sichern. Gramsci resümiert: »Man spricht von ›Autoritätskrise‹, und das eben ist die Hegemoniekrise oder Krise des Staates in seiner Gesamtheit.«28 Sowohl der Faschismus in Italien wie vor allem auch die Machtergreifung der Nazis 1933, also zur selben Zeit, als Gramsci seine Thesen verfasste, machen allerdings deutlich, dass eine Krise des Staates und der Autorität keineswegs zwangsläufig eine Aufhebung des Staates und eine Negation autoritärer Strukturen bedeuten muss, sondern vielmehr die Lösung der Hegemoniekrise in der nachhaltigen Verdichtung und Totalisierung bestehen kann, beziehungsweise die herrschenden Kräfte zunächst auch anstreben, ihre Macht längerfristig durch eine ideologische Normalisierung der Widersprüche als Gesellschaftscharakter in den Subjekten zu stabilisieren.29 »Imperialismus nach Innen«, wie Oskar Negt und Alexander Kluge es nennen. Die Krise der Autorität wird über das autoritäre Bewusstsein abgelenkt und verinnerlicht, die Krise des Staates führt zu einer Individualisierung politischer Beziehungen, wie es Herbert Marcuse in seinen Studien über Nazideutschland herausstellte: »Im jetzigen Deutschland sind alle auf das individuelle Leben bezogenen Motive, Probleme und Interessen mehr oder weniger direkt politischer Natur, und ihre Verwirklichung ist ebenfalls eine unmittelbar politische Handlung. Gesellschaftliche und private Existenz, Arbeit und Freizeit sind gleichermaßen politische Aktivitäten. Die traditionellen Schranken zwischen Individuum und Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaft und Staat sind gefallen. Aber es wäre ganz falsch, in dieser Politisierung den Höhepunkt deutscher Staatsvergötzung, Autoritätsgläubigkeit oder antiindividualistischer Tendenzen zu sehen. Vielmehr stellt die nationalsozialistische Politisierung aller Lebensbereiche eine Wiederbelebung bestimmter Formen jener terroristischen Politisierung dar, die für die Revolution der Mittelschichten in den westeuropäischen Ländern typisch waren. Dabei wurde der ›Bourgeois‹ zum politischen Bürger, zum Citoyen, dessen Leben darin besteht, Geschäfte zu

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machen, eine Tätigkeit, die ihrerseits eine politische Angelegenheit ist.«30 Diese Politisierung als Verschmelzung staatlicher und individueller Interessen beschreibt Marcuse hier zwar als terroristisch, tatsächlich ist aber der Nationalsozialismus in diesem Aspekt ein sehr modernes politisches System gewesen; die Auflösung der Grenze zwischen dem Privaten und Politischen hat Marcuse im ›Eindimensionalen Menschen‹ noch einmal als grundlegend für die Ideologie fortgeschrittener Industriegesellschaften analysiert, und inwiefern diese Form der Individualisierung politischer Interessen respektive Politisierung individueller Interessen gerade für sozialdemokratische und liberale kapitalistische Gesellschaften gilt, kann dann anhand der Untersuchungen Michel Foucaults zur Disziplinargewalt und Normierungsmacht nachvollzogen werden. Allerdings darf auch nicht vergessen werden, dass gerade im Schatten der sechziger und siebziger Jahre zahlreiche Nationen ihre Modernisierung über Diktaturen und Militärregierungen durchsetzten, gleichwohl aber mit Mitteln moderner Massenkommunikation und Kulturindustrie. Das entscheidende Prinzip dieser Figuration von Individuum und Staat ist zum einen die Verinnerlichung politischer Autorität im Subjekt, zum anderen die besondere Fundierung dieser Autorität in der modernen kapitalistischen Ökonomie der Wertvergesellschaftung: Die Schnittstelle von Politik und Privatsphäre ist ideologisch die bürgerliche Öffentlichkeit, idealtypisch der liberale Markt, faktisch allerdings die verdinglichte Produktion von Waren, die fetischistische (als natürlich erscheinende) Verkettung von Arbeit, Geld, Tausch, Konsum. Das Private des Menschen definiert sich durch seine Stellung im Produktionsprozess, durch sein Eigentum und seine (berufliche oder finanzielle) Fähigkeit, am Konsum zu partizipieren; das Politische hingegen beschränkt sich zunehmend auf die Regelung dieser privaten Vermögen, dieser individuellen Ökonomie. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass zur selben Zeit, in der Europa vom nationalsozialistischen Deutschland terroristisch überfallen wird, zeitgleich mit Gramscis marxistischen Überlegungen zur praxisphilosophischen Analyse des Komplexes Faschismus, Fordismus, Klassengesellschaft und Kultur, unter Regie der Kulturindustrie ein moderner, hegemonialer Idealstaat gegründet wird, der eindeutig als kapitalistischer sich zu erkennen gibt – und der darüber hinaus auch alle privaten, familiären Beziehungen seiner Einwohner regelt, der vollständig von den Abenteuern der Geldökonomie, dem Kampf um wirtschaftliche Anerkennung und Wahrung der Eigentumsrechte bestimmt ist, der allerdings als Idealstaat ohne Polis auskommt im Sinne einer klar erkennbaren – sei’s diktatorischen, sei’s partizipatorischen – den sozialen Verkehr organisierenden Struktur, ein Stadtstaat zwar mit Institutionen, die allerdings nur rudimentäre politische Funktion haben und tendenziell machtlos sind (insbesondere die Polizei ist dort eigentlich immer machtlos gegenüber der

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Kriminalität); die Rede ist von Entenhausen. Das Entenhausenprinzip einer Vergesellschaftung mit Staat ohne Politik oder mit Politik ohne Staat wiederholt sich in nahezu allen kulturindustriellen Erzeugnissen, die eine Erzählund Handlungsstruktur an der Nahtlinie individueller und sozialer Lebenswelt entwickeln: In den Sit-Coms, Daily-Soaps, den Reality-Serien, den Familien-, Krankenhaus-, selbst Anwalts-Serien gibt es keine Indizien dafür, ob die Akteure unter neoliberalen, sozialdemokratischen, konservativen, dikatorischen oder terroristischen politischen Verhältnissen leben. In Entenhausen und allen fiktiven Nachfolgegebilden der Kulturindustrie geht es fortwährend um persönliche Krisen, Widersprüche, ums Scheitern und Neuanfänge, aber es gibt keine Systemkrisen und keine Hegemoniekrisen. Das, nur nebenbei, ist Kulturindustrie in nuce: dass sie, gerade wenn das Leben immer unerträglicher, trister, bedrohlicher wird, doch immer wieder die bestehende Ordnung bestätigt und die Konsumenten im Glauben lässt, dass die Teilnahme an den vielfältigen Erzeugnissen und Angeboten der Kulturindustrie irgendwie sinnvoll, bedeutsam, lehrreich oder befriedigend sei und das individuelle Glück befördere. Gramsci beschreibt die Hegemoniekrise als Ausdruckszusammenhang der strukturellen Dynamik einer bestehenden gesellschaftlichen (kapitalistischen) Ordnung; er beschreibt jedoch weniger, wie diese Ordnung sich im Bewusstsein und Unbewusstsein der Subjekte manifestiert; er entfaltet auch nicht das verwertungslogische Krisenverhältnis. Ihm geht es im Sinne des Hegemoniekonzeptes um die Konfrontation sich gegenüber stehender gesellschaftlicher Kräfte, Gruppen, Klassen. Er notiert weiter: »Die Krise schafft gefährliche unmittelbare Situationen, weil die verschiedenen Bevölkerungsschichten nicht dieselbe Fähigkeit besitzen, sich rasch zu orientieren und sich mit derselben Schnelligkeit zu reorganisieren. Die traditionell führende Klasse, die über ein zahlenmäßig starkes geübtes Personal verfügt, wechselt Menschen und Programme aus und gewinnt die Kontrolle wieder, die ihr mit größerer Geschwindigkeit zu entgleiten im Begriff war, als das bei den subalternen Klassen geschieht; sie bringt womöglich Opfer, setzt sich mit demagogischen Versprechungen einer ungewissen Zukunft aus, behält aber die Macht, verstärkt sie für den Augenblick und bedient sich ihrer, um den Gegner zu zerschmettern und sein Führungspersonal zu zersprengen, das zahlenmäßig nicht sehr stark und sehr geübt sein kann.«31 Die Lösung der Autoritätskrise und die Wiederherstellung der Hegemonie heißt immer, zumindest ideologisch die Widersprüche, zumal die Klassenwidersprüche zu nivellieren, sodass die Autorität gewissermaßen angesichts der egalitären Ohnmacht aller sich legitimiert, ohne konkret akzeptiert werden zu müssen. Dabei gehen scheinbare Zugeständnisse an die politischen Bedürfnisse der

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Massen einher mit der Überlagerung der politischen Interessen der Einzelnen durch die spektakuläre Inszenierung von kulturindustriellen Ausweichmanövern. Beispiele: Tarifabschlüsse, Abbau der Sozialversorgung, Konzession: kein Krieg, Durchsetzung ökonomischer Interessen, Ich-AG. Gleichzeitig reüssiert eine Fernsehshow wie ›Deutschland sucht den Superstar‹, in der die ökonomischen Grundprinzipien von Leistung, Selbstkontrolle und Flexibilität als kulturelles Vermögen vorgeführt werden, in der zudem zwischen den Kandidaten und Zuschauern ein Wir-Gefühl einer blind nach Erfolg strebenden Solidargemeinschaft erzeugt wird: Hauptsache mitmachen, dabeisein und froh sein, dies alles erleben zu dürfen; die Kulturindustrie als Börse an der die Ich-AGs um ihre Aktienkurse wetteifern, kulturell so überschätzt wie vormals ökonomisch die Wertpapiere des Neuen Marktes; drastischer kann das, was Akkumulation des symbolischen Kapitals heute meint, nicht zelebriert werden. Diese Struktur, die in letzter Konsequenz, um auf Gramsci zurückzukommen, eine Verlagerung der Autoritätskrise in das Subjekt darstellt als Krise des autoritären Charakters, der diese Krisensituation nämlich überhaupt nur vermöge seiner autoritären Persönlichkeitsstruktur aushält

VI. »Keine Forschung reicht bis heute in die Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen.« Adorno, ›Minima Moralia‹ (GS Bd. 4, S. 65) »Die tun was! Popqueen Shakira. Nummer eins in den Charts. Und in den Herzen der kolumbianischen Straßenkinder. Ihre Organisation Barfuß unterstützt schon seit Jahren Krankenhäuser, kümmert sich um Ausbildungsplätze. Und startete soeben mit Reebock eine Hilfsaktion: 10.000 Paar Turnschuhe für die Ärmsten der Armen. Wahre Größe ist es, wenn man von seinem Erfolg etwas zurückgibt.« (Aus: Allegra, Heft 5, Mai 2003, S. 100)

Alle sind ersetzbar. In der Fabrik ist für die Arbeiten keine besondere Spezifikation notwendig; die Handgriffe sind auch von Kindern ausführbar. Kinderarbeit gibt es aber nicht in den Büros. In der Angestelltenökonomie wird erstmals der Mensch selbst austauschbar. »Die Angestellten leben heute in Massen, deren Dasein … mehr und mehr ein einheitliches Gepräge annimmt. Gleichförmige Berufsverhältnisse und Kollektivverträge bedingen den Zuschnitt der Existenz, die überdies … dem uniformierenden Einfluß gewaltiger ideologischer Mächte untersteht. Alle diese Zwangsläufigkeiten haben unstreitig zur Heraufkunft gewisser Normaltypen von Verkäuferinnen, Konfektionären, Stenotypistinnen usw. geführt, die in den Magazinen und den Kinos

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dargestellt und zugleich gezüchtet werden. Sie sind ins Allgemeinbewußtsein eingetreten, das sich nach ihnen sein Gesamtbild von der neuen Angestelltenschicht formt.«32 Heute behaupten die Angestellten ihre Individualität; sie wollen sich alle in ihrer Persönlichkeit voneinander unterscheiden. Die Rezepte dafür beziehen sie aus der Kulturindustrie, aus den Magazinen und den Fernsehberichten. Zugleich behaupten sie, obwohl zum Beispiel regelmäßige Leserinnen der Frauenmagazine, dass das wohl niemand ernsthaft glauben würde, sie ebne auch nicht. Dass sie zugleich die Schminktipps und Berichte über Beziehungsprobleme lächerlich finden und sich kaum vorstellen können, dass Menschen so dumm seien, sich danach wirklich zu richten, ohne dass sie im selben Moment selbst von den vorgegebenen Mustern auch nur einen Grad abweichen, also komplett widerspruchslos in der Ideologie, die sie vermeintlich mündig durchschauen, verweist auf das, was sie nicht durchschauen: Den Widerspruch zu den ökonomischen Bedingungen ihrer Existenz, der sich in ihr Leben eingeschrieben hat wie eine Beläufigkeit, die vollkommen im Schatten des neuesten Gerüchts über den Filmstar steht, dass sie zwar im Vorwege durchschauen wollen, dass sie aber immerhin für so interessant halten, um sich damit zu beschäftigen. So bleibt Ally McBeal und ihre Magersucht doch wichtiger als der Hunger in Afrika.

VII. Alt: »Kill the nation with a groove!« Überschrift einer Veranstaltungsreihe der so genannten Wohlfahrtsausschüsse Anfang der Neunziger. Neu: »No U.S.-Drinks.« Auf einer Preistafel in einer Hamburger Kneipe, darunter das Runenfriedenszeichen. Dazu Aufkleber, auf denen steht: »America, fuck your patriotism!«

In der Gewerkschaftszeitung ›Kunst & Kultur‹, Ausgabe 3, 2003, ist folgender Dialog zu lesen: »Kunst & Kultur: Herr Safranski, wir sind Zeugen eines Dritten Weltkriegs … Unter der Dominanz des Englischen leidet die Vielfalt der Sprachen. Und wenn wir die Religionen mit den verschiedensten Kulturen verbinden, dann werden auch diese beständig zurückgedrängt vom amerikanischen ›way of life‹. Meine Frage: Gibt es somit nicht tatsächlich eine Ausrichtung, ja, Unterwerfung in Richtung eines von Amerika dominierten zentralistischen Weltstaats? Safranski: die Tendenzen, die Sie beschreiben, sind zweifellos richtig: es gibt die Hegemonie der amerikanischen Massenkultur. K & K: Natürlich lassen sich auch starke Gegenbewegungen beobachten … Safranski: … Selbst in der Massen- und Alltagskultur lassen sich solche Gegenbewegungen feststellen. Der kulturelle Prozess ist polyzentrisch. Die Massenkultur in Europa wird allerdings sehr stark von Amerika bestimmt. K & K: Symptomatisch war ja auch

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nach der Wende, wie schnell und wie stark die amerikanische Kultur sich in Polen, in Tschechien oder in Ungarn flächendeckend breit machte. Safranski: Sicherlich. Aber es gibt Gegenbewegungen, die erst einmal von Eliten ausgehen, und das sind längerfristig – so lehrt die Geschichte – mitunter sehr machtvolle Prozesse. Unter dem Druck der Hegemonie finden sehr überraschende Renaissancen statt – Wiedererinnerungen an die eigenen Wurzeln …«33 – – – Eigentlich wollten wir einen Videofilm sehen (zum Beispiel ›American Beauty‹ oder ›Der Planet der Affen‹); im Fernsehen, im Zweiten Programm singt gerade Roger Whitaker. Ist das die Amerikanisierung der Massenkultur, von der Rüdiger Safranski – der Heidegger-Apologet34 – spricht? Wenn es doch wenigstens die Amerikanisierung der Massenkultur wäre, aber die Hegemonie der deutschen Volksmusik ist ja eher der hörbar-gewalttätige Beweis, dass die Amerikanisierung der Massenkultur misslang. Die noch in DDR-Zeiten an westlichen Beatformationen orientierten Puhdys haben dies regressiv antizipiert bestätigt: Auf ihrem Album ›zufrieden?‹ singen sie, im musikalisch billig mit der nationalistischen Gebrauchsmusik der Neuesten Deutschen Welle illustrierten Schüttelreim: »Wir brauchen keine Stars aus Amerika / wir haben doch bei uns schon alles da / Doch wenn ihr mal jemand’ braucht in Amerika / schicken wir euch einen ›Big-Brother‹-Star.«35 Auf dem Cover die Schwarzweiß-Erotik des Spießers, eine Frau in Dessous lehnt an einem Waschbecken in einem etwas heruntergekommenen Raum; innen zum Ausfalten ein Berlinpanorama. Und zur selben Zeit sangen Die Prinzen ›Das alles ist Deutschland‹. Gegenbewegungen, die erst einmal von Eliten ausgehen, wie Safranski weiß. Dann kam der 11. September. Die Prinzen touren jetzt unter dem Titel »Monarchie in Germany«; das dürfte, mit dem Gestus des Aufmüpfigen, der gewollte Reflex auf Schröders Roadshows alte Floskel »Anarchie in Germany« sein. Dabei hatten Fehlfarben (›Monarchie und Alltag‹) doch schon klargestellt: »Ihr kommt nicht mit bei unseren Änderungen.« So muss korrigiert und aktualisiert werden, was Horkheimer und Adorno in der ›Dialektik der Aufklärung‹ noch postulierten: »Der Glaube, die Barbarei der Kulturindustrie sei eine Folge des ›cultural lag‹, der Zurückgebliebenheit des amerikanischen Bewußtseins hinter dem Stand der Technik, ist ganz illusionär. Zurückgeblieben hinter der Tendenz zum Kulturmonopol war das vorfaschistische Europa. Gerade solcher Zurückgebliebenheit aber hatte der Geist einen Rest von Selbständigkeit, seine letzten Träger ihre wie immer auch gedrückte Existenz zu verdanken.«36 Im Nationalsozialismus unterlag diese Selbstständigkeit der verzögerten, aber umso moderneren Massenkultur vollends. Die Zurückgebliebenheit des Bewusstseins hinter dem Stand der Technik ist ein strukturelles Phänomen der Kulturindustrie, kein nationales; in der Popkultur wird sie zum Programm – es kommt nicht von Ungefähr,

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dass im demokratischen Deutschland die kulturellen Sparten, die gegen die vermeintliche amerikanische Kulturhegemonie gesetzt wurden, maßgeblich der deutsche Schlager und seine popmusikalischen Derivate, heute, wo man die Coca-Cola-Kultur fürchtet, gänzlich infantilisiert und auf naive Befindlichkeiten regrediert sind. Die rückständige Kulturindustrie zehrte allerdings von den Resten der Avantgarden, die dem Mainstream vorauseilen; sie werden – als Underground – zum Fundament gemacht, auf dem sich die Kulturindustrie langsam vorwärts bewegt. Ausgerechnet Rock ’n’ Roll, Blues, Jazz, Reggae, Funk oder Soul dürften inmitten dieser Überschlagungen der permanenten Ungleichzeitigkeit mehr an Entnazifizierung geleistet haben als die biederen Restaurationsversuche der deutschen Kultur. Der Amerikanisierung der Massenkultur ist es inmitten der allgemeinen wie tendenziellen Zurückgebliebenheit zu verdanken, dass fortschrittliche Elemente der Popkultur sich weitgehend von nationalen und nationalistischen Identitätsmustern und Legitimationsfunktionen lösen konnten.

VIII. »Die Unverschämtheit der rhetorischen Frage: ›Was wollen die Leute haben!‹ besteht darin, daß sie auf dieselben Leute als denkende Subjekte sich beruft, die der Subjektivität zu entwöhnen ihre spezifische Aufgabe darstellt.« Adorno und Horkheimer, ›Dialektik der Aufklärung‹ (GS Bd. 3, S. 167) »Die Schöne wirft entschlossen ihre blonde Mähne in den Nacken, ihre braunen Augen funkeln selbstbewusst. ›Jetzt kann ich den Deutschen endlich zeigen, was ich drauf hab!‹ Peng, die Frau schießt scharf. Michelle Hunziker (25), Top-Model mit Traumbody (90-63-89), Ex-Gattin vom Italo-Barden Eros Ramazotti. So süß und so ehrgeizig.« Petra Kaiser, ›Vom Po-Model zur Star-Macherin‹ (tvmovie Nr. 23, November 2002, S. 9)

Die Popindustrie hat abgewirtschaftet, entlässt ihre Mitarbeiter, setzt ihre qualifizierten Produzenten auf die Straße, weil es nur noch um austauschbare kulturelle Arbeitskraft geht. Es scheint, das einzige, was der Kulturarbeiter jetzt noch können müsse, ist singen; und das noch nicht einmal annähernd gut. Das Privatfernsehen wird zum Arbeitsamt der stillgelegten Kulturindustrie, sucht mit immer billigeren Show-Produktionen den immer größeren Star aus einer immer schlechter werdenden Masse an Anwärtern. Nun sucht Deutschland den Superstar, und nachdem alle Charaktermasken schon durch die Container geschleust wurden, bleibt eine kulturelle Reservearmee der Devianten und Verelendeten, die die Kulturindustrie zur letzten Schlacht rekrutiert. Dem Ladenmädchen wird nicht länger bloß die Illusion vermittelt, einmal zum Star werden zu können, wenn es nur das rechte Glück hat, sondern

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tatsächlich wird es Star; und zwar gerade, weil es Ladenmädchen ist. Glück braucht es da gar nicht zu haben, denn längst ist auch diese letzte Kolonne der Massenkultur, die vorgeblich aus der Masse selbst besteht, von den Erfolgsprinzipien der Leistung und der Konkurrenz bestimmt: nicht Glück also, sondern Fähigkeiten zählen, soft-skills. Alles an dem, was die Kandidaten zu bieten haben, ist wohlfeil gebotene Arbeitskraft, nichts Individuelles mehr; wenn sie singen können, dann singen sie immer wie die echten Stars, die selbst schon ihr eigenes Plagiat sind. So presst die Kulturindustrie aus ihren Produkten noch die Restspuren der Autonomie, als wären damit die Waren entgiftet. Die Kandidaten singen also wie Robbie Williams, und der versucht wie Frank Sinatra zu singen; die Kandidatinnen singen wie Christina Aguilera, die wie Britney Spears zu singen versucht, die wiederum Madonna imitiert. Die Kandidaten, die in Gruppen auftreten, dürften sich ein Stück aussuchen und wie beim echten Theater vorsprechen. Die Frauen wählen fast alle ›Killing me softly‹; ob sie die Roberta-Flack-Version kennen, ist fraglich. Wahrscheinlich glauben sie an den Erfolg der Coverversion der Fugees. Eine der Kandidatinnengruppen versagt bereits, als das Stück nicht wie gewohnt als Instrumental-Playback kommt, sondern bloß von einem Klavierspieler begleitet wird. An der Verzweiflung der Frauen über ihre Unfähigkeit zieht sich die Show hoch; dem Scheitern wird mehr Sendezeit eingeräumt als dem Gewinnen. Um so tragischer erscheint das inszenierte Bühnenspektakel, weil viele der Kandidaten offensichtlich wirklich mit einer reellen Chance gerechnet haben. Natürlich gilt aber die Formel, dass jetzt tatsächlich das Ladenmädchen zum Superstar mutieren wird, nur als Klischee, als Prototyp, für dessen Beweis eben nicht mehr als ein Exemplar benötigt wird. »Eine totale Rückbesinnung auf das Leistungsprinzip«, empfahl der »diplomierte Betriebswirt« und das ehemalige DKP-Mitglied Dieter Bohlen als seine wirtschaftspolitische Vision von jenem Deutschland, das jetzt den Superstar sucht. – Von den zwanzig, vielleicht sogar dreißig oder vierzig Kandidaten kann eine Frau tatsächlich singen; sie präsentiert sich mit fünf Freundinnen, die nicht annähernd an ihr Talent heranreichen. Die fünf Freundinnen dürfen weiter, die Talentierte gehört zu den Verliererinnen. In der Jury, die über diese Runde entscheidet, sitzt auch Bohlen, der wie kein anderer durchschaut und begriffen hat, wie die Kulturwaren funktionieren: Während die anderen in der Jury, irgendwelche Plattenfirmenvertreter und Musikjournalisten, vormachen, dass es um musikalisches Vermögen geht, urteilt Bohlen sachgerecht und kompetent, zum Beispiel über eine junge Frau, die definitiv weder singen noch tanzen kann: »Du hast das Zeug zum Superstar, du hast ein hübsches Gesicht, eine gute Figur, weiße Zähne.« Es soll wie im Märchen sein, wenn in entsprechendem Putz die einfache Küchenmagd als Prinzessin wachgeküsst wird. Heute geht’s freilich

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weniger romantisch zu: die Jungs und Mädchen kommen nicht aus dem verwunschenen Dorf im Feenwald, sondern aus der Sozialbausiedlung. Sie werden nicht geküsst, sondern gefickt. In jedem Fall wird bei dem Auswahlverfahren nicht getestet, wie es um die künstlerischen Qualitäten bestellt ist, sondern wie sehr die Einzelnen bereit sind, sich vor Publikum zu prostituieren. Vorbei sind die Zeiten, als die Stars noch beleuchtete Showtreppen, die wie Klaviaturen aussahen, herunterstiegen. Sie gibt es nur noch als verkaufsfördernde Maßnahme, nicht mehr zum bloßen Entertainment des Publikums, oder, wenn doch, als kostspielige, einmalige Sonderaktion. Der Superstar jedenfalls wird erst einmal unter Originalbedingungen des Vorsprechens gesucht, wie man es aus Filmen wie ›Flashdance‹ noch kennt: Auf dem ersten Blick kommt einem das brechtsche Konzept des offenen Bühnenraums in den Sinn, Montagetechnik also, episches Theater. Dann merkt man, weil das Spektakel der Kulturindustrie freilich alles andere als episch funktioniert – hier spielt sich niemand selbst –, sondern dramatisch ist bis zur Farce, dass es sich bei dieser Bühne eher um eine Art Demontagetechnik handelt: Ausgediente Räume, Ruinen der Kulturindustrie, in denen höchstens der Müll von der letzten Party herausgefegt wurde, Provisorien. Da sitzt kein Publikum, da wird auch nicht moderiert; stattdessen gibt es Befehle, Aufrufe, Informationen, nach denen sich die Kandidaten ebenso zu richten haben, wie die Fernsehzuschauer. Sie bekommen diese Show in einer Art Dokumentarbericht übermittelt, die Kommentarstimme aus dem Off bleibt emotionslos und distanziert; für diese Menschenshow soll kein unnötiges und störendes Mitgefühl auftreten (dies wird für die nachfolgende Sendung gebracht, in der es um irgendwelche ausgesetzten Haustiere geht). So wird die Show, die Suche nach dem Superstar, zur Reality-Soap, ganz nach dem Muster der ›Big Brother‹Sendungen: Die hier Beobachteten lebten in solchen Containern, in denen ansonsten Bauarbeiter aus Billiglohnländern saisonal wohnen, oder in die Asylsuchende eingepfercht werden. In den nächsten Runden wird den Stars schon bestätigt, Stars zu sein: sie werden vor die Kulisse gestellt: auf der Bühne und in ihrem Privatleben, das ab jetzt öffentlich stattfindet. In der ›Bild‹ ist am 27. Februar 2003 zu lesen: »›Superstars‹ verraten ihre Geheimnisse« – »Leser fragten am ›Bild‹-Telefon«. Was sind das für Geheimnisse, die diese Exponierten der Kulturindustrie noch nicht verraten haben, überhaupt je hüten konnten? »Hast du schon viel Geld verdient, Juliette?« (»Nein, reich sind wir jetzt alle noch nicht.«) – »Tun dir die bösen Sprüche weh, Daniel?« (ich versuche immer, die gute Seite von allem zu sehen. Ich lasse mich nicht unterkriegen.«) – »Gehst du jetzt von der Schule, Alexander?« (»Jetzt pausiere ich erst einmal. Zur Not kann ich zurück, falls es mit der Musik nicht klappt. Schließlich ist eine gute Ausbildung wich-

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tig.«) – »Wer ist dein Favorit, Dieter?« (»Nein, ich liebe sie alle. Ich bin der Schiedsrichter und natürlich total unparteiisch.«). Das Geheimnis der Superstars ist, dass sie keine Geheimnisse haben. Die Jury lobt die Darbietungen immer wieder mit dem Schlagwort der gelungenen »Performance«; was die ausgesuchten Experten des Kulturbetriebs damit meinen, geht auf den transparenten Körper. Zur Performanz gehört immer schon die Schönheitsoperation. Juliette hat sich mit 19 Jahren ihre Brüste vergrößern lassen, weil sie zu sehr unter ihren »kleinen Brüsten litt«. Sie hat sich einem Arzt »anvertraut«, der sie operierte; jetzt fühlt sie sich »stark«, »sexy«, »schön«, »weiblich«. Und jetzt (18. Januar 2003) steht es in der ›Bild‹-Zeitung, als sei die Veröffentlichung dieser Intimität die letzte Stufe des Selbstbewusstseins: Ein Vorbild ist sie nun für alle Frauen, die unter dem pathologischen Verhältnis der patriarchalen Gesellschaft zum Körper leiden. Eine der Kandidatinnen, Vanessa, singt irgendwann auf Französisch »Willst du mit mir schlafen gehen?«; ihr Outfit macht das Anliegen glaubwürdig, ihre Mutter klatscht so begeistert wie das Publikum insgesamt. Die einzige Frau in der Jury lobt die junge Sängerin: Bei dem Aussehen hätte sie bestimmt keine Schwierigkeiten damit, dass das, was sie da gerade gesungen hat, in Erfüllung geht. Die Popkultur kokettiert mit der Sexualität, weil sie keine hat. Bis zum Schluss kann der verrückte Daniel nicht wirklich glaubhaft machen, dass er bisexuell ist. Dafür gelingt es ihm, in einen günstigen Moment den Millionen Fernsehzuschauern ins Gesicht zu kreischen, dass Deutschland echt klasse ist. Wahrscheinlich glauben die Produzenten sogar, den Vorgeführten wirklich etwas Gutes zu tun, in dem sie ihnen die Chance geben, einmal ein Krümel vom großen Kuchen abzubekommen, der längst aufgeteilt ist. Entwürdigend ist das Trauerspiel allemal deshalb, weil keine andere Perspektive auf dieses Spektakel möglich ist, als sich lustig zu machen über die Verlierer, denen ökonomisch bereits die soziale Abstiegsposition zugewiesen war, die ihnen kulturell jetzt noch einmal bestätigt wird. Sie durften wenigstens einmal in die Kulturindustrie hineinschnuppern; statt Paläste, Dekoration und Inszenierung wurde ihnen aber dieselbe Trostlosigkeit geboten, die sie bereits kannten: aus ihrem eigenen Leben. Es ist wie eine Verkehrung der Türhüterlegende Kafkas; ein Mädchen vom Lande kommt und wird auch gleich gebeten, hineinzukommen; die Tür stehe auf, nur für sie. Tatsächlich ist die Tür nur für sie verschlossen, aber keine andere wird je kommen, um durch sie hindurchzugehen. Gelingt es ihr doch, einmal wenigstens einen kleinen Schritt durch die Pforte zu machen, so wird sie bemerken, dass sie lediglich durch eine Kulisse gekommen ist – und auf der Seite, auf der sie jetzt steht, sieht alles genauso aus. Vielleicht steht sogar dasselbe Mädchen noch einmal dort und wartet. In dem Bewusstsein der Kandida-

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ten ist es dieselbe Ideologie der Angestelltenkultur, die sich im 20. Jahrhundert formiert hat mit dem Aufkommen der Mode. »Glamour pur!« nennt es Kandidatin Juliette Schoppmann. Gewonnen hat kein Superstar, sondern die leuchtende Oberflächlichkeit, derjenige, der am anpassungsfähigsten und mit allen bedeutungslosen Rollen, die es zu spielen galt, kompatibel war.

IX. »Die Konformisten sind die Leibgarde des Kapitalismus.« Gregor Katzenberg »Der Punk vor der Tür hat inzwischen Gesellschaft von einem zweiten bekommen. Jetzt tragen sie Schilder wie ›Drogen für alle‹ und ›Ficken für Deutschland‹. Zwei angetrunkene Kohl-Besucher rufen sich im Vorbeigehen den KZ-Spruch ›Arbeit macht frei‹ zu und wünschen den Jungs die Einlieferung ins Arbeitslager.« Eckhard Stengel, ›Nasser Empfang für Kohl‹ (Frankfurter Rundschau vom 30. April /1. Mai 2003, S. 5)

»… HAVING AN OPINION MEANS NOTHING IF YOU DON’T TAKE ACTION. ACT FOR RESPECT, EXPRESS YOUR OPINION, TRY TO MAKE A DIFFERENCE …« – »Rebellion auf den Straßen von Paris … Inszeniert hat den Aufstand die Werbeagentur KesselsKramer im Auftrag von Jeans-Anbieter Diesel.«37 Die Schwarzweißbilder der Kampagne erinnern an Zeitungsfotos von Straßenschlachten: Junge Leute rennen protestierend über eine Straße, haben sich festgekettet, bemalen eine Wand mit Parolen. »Mehr grüne Ampeln« »Glaube an die Nummer 13« »Befreit Goldfische«, »Respektiere Deine Mutter« »Pflanze mehr Blumen« »Die Proklamationen irritieren.« Eine »nicht unbedingt an das Produkt gebundene Botschaft«: »ACTION for successful living.« »Wer sich auf die neue Diesel-Kampagne einlässt, wird mit starker Bildsprache, witzigem Inhalt und einer interessanten Lebenseinstellung entlohnt.«38 Es ging darum, »die Jeans mit einer Lebensart zu verbinden.« Eine GucciLinke und ein Antiglobalisierungs-Skinhead haben sich an ein Treppengeländer festgekettet – ihr Motto: »Marry young!« Auf einem anderen Foto schreibt ein Pseudopunk »Legalize the 4 day weekend«, während ein anderer Schmiere steht. »Eine Action-Szene mit 50 Akteuren authentisch darzustellen, kostet viel Kraft für alle Beteiligten.« Der Creative Director über den Fotografen: »Es war interessant, mit jemanden zu arbeiten, der normalerweise nichts mit Mode zu tun hat. Es eröffnete völlig neue, unerwartete Perspektiven.« Die unerwartete Perspektive ist so spektakulär wie das, was sie zeigt. Am Vorabend des Faschismus haben die Nazis den Linken die Straße genommen – auch, indem sie die Politik ästhetisierten; im demokratischen Zeitalter, in dem sich diffuser Protest weltweit zu regen beginnt, schlägt die ästhetisierte Politik zurück: in der Reklame. Auch das Individuum hat ein recht auf Veränderung

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der Eigentumsverhältnisse; hier bekommt es die Kleidung, um diesem Recht einen effektlosen Ausdruck zu verleihen. Statt Vermummungsverbot gibt es hier die zur Pflicht zur Kenntlichkeit, die Straße als Laufsteg, Demonstrieren als Stil. Und in jeder Parole wird das bedingungslose Einverständnis demonstriert, die zynische Larmoyanz, mit der die Straße von der Scheinaktivität der Konformisten eingenommen wird. Die einzige Polizei, die hier kommen kann, ist die Geschmackspolizei. Aber die kommt ja leider nie.

X. Ansage in einem Kaufhaus, Ladenschluss: »Sehr verehrte Kundinnen und Kunden. Wieder geht ein wunderschöner Einkaufstag zu Ende. Wir schließen unser Haus und hoffen, dass sie einen angenehmen Heimweg haben. Auf ein baldiges Wiedersehen …«

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Glücksversprechen (Glück im Unglück).

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Hieroglyphen im Hohlraum der Kulturindustrie. Erkenntnistheorie, dialektische Bilder Zeichensprecher: »Jedes Bild ist wie ein Messer ein Gebrauchsgegenstand und Lesen meint hier Denken mit anderem Verstand indem man liest und was begreift sich und den anderen sucht und findet (das ist Arbeit) das Gefundene mitteilt und verbindet (das ist Technik) gemeinsam eine Welt erfindet (das ist Liebe) und wer das nutzt macht sich verdächtig wird unberechtigt Ladendieb genannt so wird ein Zeichensprecher Schwerverbrecher so wird Gebrauchsgegenstand Mordinstrument jedes Bild ist wie ein Messer.« Jochen Distelmeyer (Blumfeld, ›Sing Sing‹, auf: ›L’Etat et Moi‹, WSFA 1994) »Benjamin hatte das Gefühl, daß außerhalb seiner Höhle helle Lichter brannten; er konnte die Hitze zwar spüren, das Licht aber nicht sehen.« Jay Parini, ›Dunkle Passagen‹ (München 2000, S. 181)

I. Es gibt keine Unmittelbarkeit: Die symbolisch-skopische Ordnung des Realen sperrt sich der Immanenz und bedarf deshalb einer immanenten Kritik, braucht die Reflexion des reflexiven Denkens; der expressive Charakter der Wirklichkeit und seine Sinndimensionen sind nur vermittelt zu erfassen. Gleichwohl ist die reflektierte und reflektierende Kritik der Verhältnisse nicht ein von außen Hinzutretendes, sondern Teil der konkreten Totalität; darin begründet sich die notwendige Selbstreflexion der kritischen Theorie. Darin begründet sich auch, dass ihre Methode vom Gegenstand nicht zu trennen ist, sondern das theoretische Werkzeug – der Begriff – gleichsam mit der begrifflichen Arbeit der Forschung vermittelt ist. Immanente Kritik der Verhältnisse heißt nicht nur zu erfassen, wie sie sich durch die Strukturen darstellen, son-

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dern sie sich in den Strukturen manifestieren (ausdrücken). Kritische Theorie geht von einem Zeitkern der Wahrheit aus. Es gibt eine Wahrheit (und ihr Kriterium ist die materielle, gesellschaftliche Praxis); sie ist aber selbst mit der Geschichte vermittelt und entschlüsselt sich im Zugriff des historischen Materialismus: als dialektisches Bild. Bereits Marx hat darauf verwiesen, dass sich die Darstellungsweise formell von der Forschungsweise unterscheiden muss: Wissenschaft, auch kritische Theorie, wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen. Gleichwohl zwängen uns die Verhältnisse in die Unmittelbarkeit dessen, was wir Alltagsleben nennen: Wir sind immer schon da, gerade dort und dann, wo und wann wir meinen, die größte Distanz zu besitzen (meistens: bei der Reflexion auf uns selbst). Nicht wie man in den hermeneutischen Zirkel hineinkommt, sondern wie man herauskommt ist auch für die kritische Theorie ein grundlegendes Problem; sie löst es allerdings nicht ontologisch, sondern mit der Kraft der materialistischen Kritik der Geschichte, die diesen Zirkel selbst als historisch gezogene Grenze gesellschaftlicher Zustände erkennt. Sie demonstriert, das heißt sie hat nichts zu sagen, nur zu zeigen; in Kommentarstruktur (Montage).1 Bei Benjamin ist das ein Denken in Konstellationen; Zeitkern der Wahrheit meint, dass die Wahrheit in der Zeit nur für den Augenblick zu erfassen ist: sie blitzt auf, oder huscht vorbei, wie Benjamin sagt. Solche Augenblicke sind in Konstellation zu bringen. Im alltäglichen Umgang der Menschen untereinander und miteinander erscheint die Welt als einigermaßen konsistent, gewöhnlich, logisch, klar, geordnet, gelegentlich höchstens irritiert durch das, was schmerzlich als Schicksal erfahren wird. Das Aufblitzen der Wahrheit bringt andere Bilder zum Vorschein, auf denen die Verhältnisse verzerrt sich darstellen; es ist deshalb die Wahrheit, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse selbst verzerrt sind und sich nur in äußersten Widersprüchen durchsetzen. Solche Widersprüche formieren sich in den Bildern als Phantasmagorien, fetischistische Manifestationen, Ideologien. Der Fetischismus betrifft die Wahrnehmung wie die Wirklichkeit gleichermaßen (weil die Wahrnehmung der sinnlich-praktische Eindruck der widersprüchlichen Praxis und Sinnlichkeit ist). Wenn die Verzerrungen des fetischistischen und fetischisierten Zusammenhangs der Gesellschaft wesentlich in den symbolischen Figurationen und ideologischen Formationen des Bewusstseins und Unbewussten, in der sinnlichen Entfremdung und verdinglichten Unsinnlichkeit ihren Ausdruck finden, dann gilt es für eine kritische Theorie, für den Fetischzusammenhangs einen Zugriff zu begründen, mit dem die verzerrte Struktur gesellschaftlicher Ordnung darstellbar und kritisierbar wird: dass sie verrückt (entzerrt) werden kann und die Konturen einer möglichen Umwälzung jetzt schon in dialektischen Bildern gelesen werden können.

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II. In unterschiedlicher Perspektive ist die Bildproblematik, das Problem von Bildlichkeit, Abbildbarkeit oder Bildbedeutung in den vergangenen Jahrzehnten in den Vordergrund der theoretischen Aufmerksamkeit gerückt; die Aspekte reichen dabei von der Ästhetik und allgemeinen Wahrnehmungslehre bis zu Fragen der Metaphorik, Allegorie oder Symbolik. Dies hat zum Ausgangspunkt die vielfach bemerkte Ubiquität der Bilder, die das 20. Jahrhundert kennzeichnende Medialisierung und mögliche Simulation der Realität durch eine virtuelle Bildwelt; im Besonderen geht es dabei um die Konstitution sozialer Wirklichkeit, um die Kraftfelder gesellschaftlicher Interaktionen und ihre Repräsentation durch Bildproduktion wie Bildreproduktion. Vor allem im Rahmen der so genannten Cultural Studies ist seit den sechziger Jahren der theoretische Fokus auf eine Kritik bildlicher und abbildender Repräsentation gelenkt worden, um so und derart ein reflexiv-reflektierbares Werkzeug zur Verfügung zu haben, das für eine erweiterte Theorie des Symbolischen verschiedene Formen und Erscheinungen moderner wie postmoderner populärer Alltagskultur erklärbar macht und insbesondere Sensibilität für vermeintlich subversive und dissidente, aber auch regressive und hegemoniale Bedeutungen der Massenkultur beansprucht – wenn man so will, im Sinne einer Ikonografie populärer Gegenwartskultur. Es geht um sichtbare Formen der Repräsentation von Macht und Widerstand. Die bekannten Beispiele sind etwa John Fiskes Untersuchungen zum Shoppen, zur Strand- und Badekultur, zur Selbstinszenierung von Madonna oder über Fernsehquiz-Sendungen und deren Rezeption. Wie der Ethnologe, der sich für eine Phänomenologie des Alltagslebens in eben diesen Alltag begibt, spricht Fiske treffend in einer fotografischen Metapher von »Schnappschüssen, die von einem Wissenschaftler bei seinen interkontinentalen Wanderungen in den 80ern gemacht wurden.«2 Fiskes Postulat der Lesbarkeit orientiert sich an einer Semiotik der optischen Zeichen; auffällig ist, dass seine Untersuchungen über Popmusik nicht von den musikalischen Strukturen und Standardisierungen handeln, von den klanglichen Zusammenhängen, vom Sound oder Rhythmus (die beiden für die moderne Musik ausschlaggebenden material-ästhetischen Parameter, die zum Beispiel bei Adorno in der Kritik der ›Popular Music‹ im Vordergrund stehen), sondern ausschließlich von den optischen Manifestationen der Popmusik, von ihrer Formation in Images, Zeitungsberichten, Bühnenshows oder Video-Clips.3 KURZEXKURS: KULTURANALYSE BEI FISKE. – In John Fiskes Ansatz, Popularkultur zu verstehen, geht es sowohl um die methodische Perspektive, als auch um

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sein Verständnis von Kultur. »Kultur (mit ihren Bedeutungen und Lüsten) ist eine konstante Abfolge sozialer Praktiken; sie ist daher inhärent politisch, sie ist entscheidend an der Verteilung und möglichen Neuverteilung verschiedener Formen sozialer Macht beteiligt. Popularkultur wird von verschiedenen Formationen unterdrückter oder entmachteter Menschen aus den sowohl diskursiven wie materiellen Ressourcen hergestellt, die von jenem sozialen System geliefert werden, das sie entmachtet … Popularkultur wird in Beziehung zu den Strukturen der Herrschaft gemacht.«4 Die kulturellen Strategien der vorgeblich Entmachteten präsentieren diese zugleich als eben nicht entmachtet, indem Fiske Semiotik mit den Aneignungsverfahren der Konsumenten verschmilzt, wird der Widerstand, den Menschen leisten, zum »semiotischen Widerstand«5 verengt, in dessen Fluchtbahn auch Fiskes Untersuchungen plötzlich stehen. Wenn es Fiske scheinbar um die »physische Präsenz« geht, meint er damit lediglich eine »genaue Lektüre der Signifikanten eines Textes«;6 so wird die Materialität des Zeichens zur Annäherungsfrage wissenschaftlicher Präzision, wobei »diskursiv« nicht mehr als »textuell-strukturell« meint und »materiell« eben auf die bloße Sichtbarkeit der Zeichen verweist. Fiske folgert für sein Verfahren, »dass jede Theorie, die irgendeiner Analyse zu Grunde liegt, auch eine soziale Dimension hat, die wiederum ein notwendiger Teil der ›Bedeutungen‹ ist, die die Analyse aufzeigt. Bedeutungen sind daher relativ und variabel … Kulturanalyse erreicht dann ein befriedigendes Ergebnis, wenn die ethnografischen Studien der historisch und sozial verorteten Bedeutungen, die tatsächlich gemacht werden, zur semiotischen Analyse des Textes in Beziehung gesetzt werden.«7 Das Problem an der fiskeschen Konstruktion ist, dass seine scheinbar radikale Semiotik unterkomplex und pseudoradikal bleibt, weil er sowohl der Popularkultur wie auch seinem theoretischen Annäherungsverfahren an diese Kultur immer schon Bedeutung – nämlich widerständige – unterstellt und insofern in einen hermeneutischen Zirkel rutscht, der sich kulturalistisch verengend um die Wirklichkeit zieht; der kritische Impuls, dass es unter Umständen weder für die Theorie noch für die beobachtete kulturelle Praxis Bedeutung gibt und auch die Unternehmungen der »Entmachteten« bedeutungslos bleiben gegenüber ihren real erzwungenen Leiden, fehlt in Fiskes Fassung der Cultural Studies. Gleichwohl gibt es Aspekte der Sichtbarkeit und Abbildung von Welt, die von den Cultural Studies präzise und kritisch herausgearbeitet wurden; maßgeblich gehören dazu die Untersuchungen zum Rassismus, die Stuart Hall vorgelegt hat.8 Die kritische Theorie des Rassismus, wie sie von Hall und anderen entwickelt wurde, geht wesentlich von der diskursiven und ikonologischen Konstruktion von »Rasse« aus; die neueren postfeministischen Theorien verfahren ähnlich.9

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Das zentrale Element der Cultural Studies und der durch die Cultural Studies dann in der Nachfolge angeregten Kulturwissenschaften ist die Kritik der Sozial- und Humanwissenschaften, die – wie Hall im Gespräch mit Christian Höller sagt – »damals ernsthaft Gefahr [liefen], die Frage nach dem Symbolischen und seinen materiellen Konsequenzen aus den Augen zu verlieren.«10 Konsequenzen hatte das vor allem für den Begriff der Ideologie, wie er in den Cultural Studies Eingang gefunden hat und weiterentwickelt wurde: Das Konzept der Ideologie bildet derart die Nahtstelle, über Louis Althusser zur poststrukturalistischen Kritik des Sichtbaren, in der Bild und Schrift in der auch für die Cultural Studies charakteristischen Weise zusammentreten, nämlich als Text, Kontext, Textur von repräsentativ symbolischen Machtbeziehungen. Grundlage war dabei eine kritische Debatte um den Begriff der Ideologie wie ihn Marx verwendete, inspiriert durch eine Rückbesinnung auf die Konnotation des Bildhaften eben, wie es bereits bei Francis Bacon in der IdeolenLehre gefasst ist.11 Vor allem spielte aber die Rezeption Antonio Gramscis eine Rolle, besonders sein Konzept der Hegemonie.12 Dass in dieser Weise die moderne und gegenwärtige Massenkultur vornehmlich in ihrer bildhaften, optischen Formation in den Fokus der Kulturwissenschaften geriet, hat freilich seinen Logik in der grundsätzlichen »skopischen Ordnung der Moderne«, wie man es mit Martin Jay formulieren kann.13 In ähnlicher Weise hat Ulrich Sonnemann von der »Monopolisierung des Erkennens und Denkens durch die Herrschaft des Auges« gesprochen, »die dann in der Inflationszeit der Bilder … zu dem Zustand geronnen ist,« der als »Okulartyrannis« benannt werden kann.14 – Dieses Regime oder sogar Tyrannei hat Michel Foucault in der Perspektive der Machtkritik beschrieben, als er im Zuge seiner Untersuchungen zur Gefängnisarchitektur auf den Panoptismus der benthamschen Überwachungsbauten stieß, nach denen heute die Kontrollgesellschaft insgesamt reguliert zu sein scheint.15 Was Foucault von den Cultural Studies, bei allen Parallelen, unterscheidet, ist die historische Perspektive, die Genealogie respektive Archäologie der Dispositive der Macht, wie er es nennt. Sie zielt auf die Problematisierung der Abbildung und Abbildbarkeit von Macht im Sinne der Repräsentation, und die Unterbrechungen sowie Störungen dieser Repräsentation.16 Schon in der früheren Arbeit ›Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks‹ ging es Foucault um die Herausbildung des Sichtbaren und Sichtbarmachens als ein Dispositiv der Macht im 18. Jahrhundert. »Die europäische Kultur hat in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts eine Struktur hervorgebracht, die noch nicht entflochten ist; man beginnt gerade erst, einige ihrer Fäden herauszulösen, die uns so unbekannt sind, dass wir sie leicht für wunderbar neu oder absolut archaisch halten, während sie doch seit nicht weniger,

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aber auch nicht viel mehr als zwei Jahrhunderten das dunkle aber solide Gewebe unserer Erfahrung bilden.«17 – Mit dem »dunklen Gewebe« spielt Foucault freilich auf die Metaphorik der Aufklärung und ihres philosophischen Zeitalters an. Mit der Aufklärung konstituiert sich das skopische Regime. Der foucaultschen Variante der Kritik der Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft wohl nicht zufällig verwandt, ist die große Gemeinschaftsarbeit Theodor W. Adornos und Max Horkheimers, die 1947 unter dem Titel ›Dialektik der Aufklärung‹ veröffentlicht worden ist: Auch in den zunächst ›Philosophische Fragmente‹ geheißenen Anhandlungen zur Entfaltung der Geschichtslogik moderner Gesellschaften spielt die optische Metapher der Aufklärung hinein: Aufklärung schlage dialektisch ins Gegenteil um, indem die aufklärerische Vernunft zur instrumentellen Vernunft verdinglicht; und was gewissermaßen aus der Aufklärung, nämlich der naturwissenschaftlich-positivistisch gefeierten Erhellung der Welt folgt, ist – wenn man jetzt einmal im Bild bleibt – die Überbelichtung, nämlich das, was Horkheimer und Adorno den »universellen Verblendungszusammenhang« bezeichnen.

III. Die in der ›Dialektik der Aufklärung‹ als Kulturindustrie gefasste »Ideologie, die in Film und Radio ihren maßgeblichen Ausdruck findet«18, beschreibt die spezifische Struktur der spätkapitalistischen Gesellschaft, insbesondere eben die Formation der Reproduktionssphäre, die wir heute mit dem Begriff ›Kultur‹ bezeichnen; auch wenn zumal durch die Handschrift Adornos die untersuchten Phänomene ebenfalls oder explizit musikalische Standardisierungen darstellen, geht es doch unter der Überschrift »Aufklärung als Massenbetrug« um die bildgebenden und bildverarbeitenden Leitmedien der modernen Massenkultur, allen voran um das Kino und die illustrierten Magazine. Konzentriert ist das Kulturindustriekapitel auf die Kernthese, dass die kapitalistische Verwertungslogik mittlerweile – nämlich zur Mitte des 20. Jahrhunderts – vollständig auch die kulturellen, künstlerischen und ästhetischen Sektoren gesellschaftlichen Lebens ergriffen hat, dass, kurzum, heute alle Kultur zur Ware geworden ist; und zwar nicht nur derart, dass die Kulturprodukte allesamt ökonomisch miteinander in Konkurrenz stehen und folglich einer Kommerzialisierung unterworfen sind, sondern auch insofern, als dass die Kultur in ihrer Gestaltung selbst zunehmend warenförmig erscheint, vom Fetischcharakter der Ware und ihrem Tauschwert definiert wird. Mithin ist es dialektisch konsequent, wenn zum Schluss des Kulturindustriekapitels das Ende der Kulturindustrie anvisiert wird, nämlich ihre Selbstaufhebung in Reklame: »Kultur ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, daß sie nicht mehr ge-

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tauscht wird; sie geht so blind im Gebrauch auf, daß man sie nicht mehr gebrauchen kann. Daher verschmilzt sie mit der Reklame. Je sinnloser diese unterm Monopol scheint, um so allmächtiger wird sie. Die Motive sind ökonomisch genug. Zu gewiß könnte man ohne die ganze Kulturindustrie leben, zu viel Übersättigung und Apathie muß sie unter den Konsumenten erzeugen. Aus sich selbst vermag sie wenig dagegen. Reklame ist ihr Lebenselixier. Da aber ihr Produkt unablässig den Genuß, den es als Ware verheißt, auf die bloße Verheißung reduziert, so fällt es selber schließlich mit der Reklame zusammen, deren es um seiner Ungenießbarkeit willen bedarf.«19 So gerinnt die Kulturindustrie zum letzten Bild, das Adorno und Horkheimer festhalten: »Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so vollkommen verdinglicht, dass die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen. Das ist der Triumph der Reklame in der Kulturindustrie, die zwanghafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.«20 Das Bild der weißen Zähne, Urbild der Reklame für eine saubere und reine Welt, hat Adorno in dem im Nachlass gefundenen Text ›Das Schema der Massenkultur‹ erneut aufgegriffen: »Verdinglichung ist der Massenkultur gegenüber keine Metapher: die Menschen, die sie reproduziert, macht sie den Dingen ähnlich, auch wo ihre Zähne nicht Zahnpasta bedeuten, ihre Kummerfalten kein Laxativ beschwören. Wer den Film besucht, wartet darauf, dass einmal dieser Bann gebrochen werde, und vielleicht ist es am Ende solche tief verhohlene Erwartung, welche die Menschen ins Kino treibt. Dort aber gehorchen sie. Sie assimilieren sich dem Toten. So werden sie verfügbar.«21 Verdinglichung, der geronnene Fetischismus der Verwertungslogik, ist eben keine bloße Metapher, sondern, wie Adorno herleitet, Hieroglyphe – es geht um die in der Reklame sich ausdrückende Konstellation von Bild und Schrift. Es heißt in dem Text vom Oktober 1942: »Als Schriftzeichen aber meldet das Glanzmädchen etwas ganz anderes als die psychologischen Spruchbänder, die ihm zum grinsenden Mund heraushängen. Nämlich die Anweisung, ihm ähnlich zu sein. Der neue Zusammenhang, in den die zugerichteten Bilder als Buchstaben treten, ist allemal der des Befehls. Den Besuchern [des Kinos, Anm. R.B.] ist die Aufgabe auferlegt, immerzu die Bilder in Schrift zu übersetzen. Die Gehorsamsleistung inhäriert dem Akt der Übersetzung selber, sobald er automatisch erfolgt. Je mehr der Filmbesucher, der Schlagerhörer, der Leser von Detektiv- oder Magazingeschichten den Ausgang, die Lösung, die Struktur vorwegnimmt, desto mehr verschiebt sich sein Blick auf das Wie, in dem das nichtige Resultat erreicht wird, das rebushafte Detail, und in der suchenden Verschiebung blitzt ihm der hieroglyphische Sinn auf. Er artiku-

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liert alle Phänomene bis in die subtilsten Nuancen hinein nach der simplen zweiwertigen Logik von do und don’t, und kraft solcher Reduktion gerade des Fremden und Unverständlichen ereilt er die Konsumenten. Die Tendenz zur Hieroglyphe hat in der bisherigen Geschichte der Massenkultur Epoche gemacht. Sie nämlich markiert den Übergang vom stummen zum Tonfilm. Im alten Film alternierten noch Schriftzeichen und Bild, und ihre Antithese verlieh dem Bildcharakter der Bilder Nachdruck. Diese Dialektik war gleich jeder anderen für die Massenkultur unerträglich. Sie verscheuchte die Schrift als Fremdkörper aus dem Film, aber nur um die Bilder selber ganz zu der Schrift zu machen, die sie absorbieren. Als Bewußtsein dieses Vorgangs im Material gewinnt Chaplins geduldige Sabotage des Tonfilms, zumal der vereinsamte Magazintransparent, den er Modern Times voranstellte, seine Legitimation. Die redenden Bilder aber sind Masken; das Urphänomen der neuesten Bilderschrift gleicht dem ältesten. Die Maske verwandelt das schlechthin Undingliche, den Ausdruck selber noch, durch Fixierung in den Schrecken darüber, daß ein Menschengesicht so stehenbleiben kann, und dann den Schrecken in Gehorsam vorm erstarrten Gesicht. Das ist das Geheimnis von keep smiling. Das Gesicht wird Buchstabe durch Gefrieren seines Lebendigsten, des Lachens. Der Film erfüllt die alte Kinderdrohung von der Fratze, die stehenbleibt, wenn die Uhr schlägt. Ihr Stundenschlag aber ist die reine Herrschaft. Die Masken des Films sind soviele Hoheitszeichen. Ihr Grauen steigt, indem sie als Masken gerade zu reden und sich zu bewegen vermögen, ohne daß darum ihre Unerbittlichkeit ums Geringste auch nur nachgäbe: alles Lebendige wird von Masken eingefangen.«22 Mit den Hinweisen auf das Rebushafte, den Rätselcharakter der nunmehr verdinglichten Kunst, der falschen Mimesis, sind zentrale Elemente der kritischen Ästhetik Adornos berührt, deren Fundament indes die Kritik der politischen Ökonomie ist: wenn Adorno konstatiert, dass, wie in der Passage zitiert, die Tendenz zur Hieroglyphe in der bisherigen Geschichte der Massenkultur Epoche gemacht habe, dann meint sein Konzept der Hieroglyphe nicht das allgemeine Zusammenspiel von Schrift und Bild in kunsthistorischer Deutung, sondern zugleich und vor allem jene Analogie zum Fetischcharakter der Ware, den Marx bereits angesprochen hat. Von Marx nimmt Adorno den Begriff der Hieroglyphe. Die Sprachbilder, die in der kritischen Theorie zur Erklärung des Zusammenhangs benutzt werden, geben Aufschluss über die Verflechtung des kritisch-materiellen und sinnlichen Motivs.23 Marx erklärt im ›Kapital‹, die Menschen, »indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen … ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es. Es steht daher dem Werte nicht auf der Stirn geschrieben, was er ist. Der Wert verwandelt viel-

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mehr jedes Arbeitsprodukt in eine gesellschaftliche Hieroglyphe. Später suchen die Menschen den Sinn der Hieroglyphe zu entziffern, hinter das Geheimnis ihres eigenen gesellschaftlichen Produkts zu kommen, denn die Bestimmung der Gebrauchsgegenstände als Werte ist ihr gesellschaftliches Produkt so gut wie die Sprache.«24 – So ließe sich fortsetzen, dass die Bestimmung der Kulturwaren als Werte, durchaus auch im übertragenen Sinn des ästhetischen Werts, ihr gesellschaftliches Produkt so gut wie die Reklamesprache sei.25 Dieser Zusammenhang greift tief in den mit der ›Dialektik der Aufklärung‹ beschriebenen Prozess ins Archaische zurück; dort heißt es zu jenem mythischen Umschlag, den in gewisser Hinsicht auch Marx mit dem Fetischcharakter bezeichnet: »Die Lehre der Priester war symbolisch in dem Sinn, daß in ihr Zeichen und Bild zusammenfielen. Wie die Hieroglyphen bezeugen, hat das Wort ursprünglich auch die Funktion des Bildes erfüllt. Sie ist auf die Mythen übergegangen. Mythen wie magische Riten meinen die sich wiederholende Natur. Sie ist der Kern des Symbolischen: ein Sein oder ein Vorgang, der als ewig vorgestellt wird, weil er im Vollzug des Symbols stets wieder Ereignis werden soll. Unerschöpflichkeit, endlose Erneuerung, Permanenz des Bedeuteten sind nicht nur Attribute aller Symbole, sondern ihr eigentlicher Gehalt.«26 Die kritische Theorie des Bildes fasst die Konstellation der Wirklichkeit als Hieroglyphe. In der Hieroglyphe kristallisiert sich Schrift und Bild, aber die Schrift bedeutet nicht unmittelbar, was sie bezeichnet; das Bild bildet nicht einfach ab, sondern ist Ausdruck. Die Welt ist durch Hieroglyphen verstellt; es bedarf eines dialektischen Verfahrens, um sie zu lesen. Die Hieroglyphen sind nicht bloß sinnliche Phänomene; sie sind vermittelt mit den konkreten praktischen Bedingungen ihrer Produktion; die Ökonomie der Bilder ist eine politische. Es sind nicht nur Bilder der Gegenwart. Gerade in der Konstellation der Hieroglyphen als zufällige Momentaufnahmen zeigt sich, dass in jeder von ihnen sich Geschichte sedimentiert; die Schriftzeichen und Bildelemente in der Hieroglyphe sind selbst historisch – und auch jedes Vermögen, die Hieroglyphen zu deuten, entfaltet sich nur als geschichtliches Vermögen des Menschen.27 Der Dialektiker versucht sie zu lesen gleich einem Rebus. Massenkultur ist, nach einem Wort Leo Löwenthals, Psychoanalyse verkehrt herum;28 die Massenkultur »knüpft … an Schemata des Bewußten und Unbewußten an, die sie in den Konsumenten mit Recht als verbreitet voraussetzt«, heißt es 1953 in Adornos Text ›Prolog zum Fernsehen‹.29 Dort spricht er von der »Bildersprache« und verweist auf seine »Interpretation der Massenkultur als ›Hieroglyphenschrift‹« in den eben zitierten Passagen aus dem ›Schema der Massenkultur‹.30

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IV. Benjamin, Dialektik des Sehens »Der Geschichtsverlauf, wie er sich unter dem Begriffe der Katastrophe darstellt, kann den Denkenden eigentlich nicht mehr in Anspruch nehmen als das Kaleidoskop in der Kinderhand, dem bei jeder Drehung alles Geordnete zu neuer Ordnung zusammenstürzt. Das Bild hat sein gründliches, gutes Recht. Die Begriffe der Herrschenden sind allemal die Spiegel gewesen, dank deren das Bild einer ›Ordnung‹ zustandekam. – Das Kaleidoskop muß zerschlagen werden.« Walter Benjamin, ›Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus‹ (in: GS Bd. I·2, S. 660) »Hundert Berichte aus einer Fabrik lassen sich nicht zur Wirklichkeit der Fabrik addieren, sondern bleiben bis in alle Ewigkeit hundert Fabrikansichten. Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion. Gewiß muß das Leben beobachtet werden, damit sie entstehe. Keineswegs jedoch ist sie in der mehr oder minder zufälligen Beobachtungsfolge der Reportage enthalten, vielmehr steckt sie einzig und allein in dem Mosaik, das aus den einzelnen Beobachtungen auf Grund der Erkenntnis ihres Gehalts zusammengestiftet wird. Die Reportage fotografiert das Leben; ein solches Mosaik wäre sein Bild.« Siegfried Kracauer, ›Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland‹ (Frankfurt am Main 1974, S. 16)

Die Deutung der Massenkultur als Hieroglyphenschrift, die Adorno entwickelt, ist nicht direkt von Marx übernommen, sondern durch Begriffe Walter Benjamins vermittelt, die er im ›Ursprung des deutschen Trauerspiels‹ entwickelt hat und später für seine Untersuchungen zur Entstehung der kapitalistischen Massenkultur im 19. Jahrhundert übernahm. Die Beschäftigung mit der Hieroglyphe geht dabei aus der kritischen Theorie der Allegorie hervor, die Benjamin in diesem Zusammenhang entfaltet. Die »moderne Allegorie«, die aus der Renaissance hervorging, habe sich in einer philosophischen Aporie, einer Ausweglosigkeit verfangen. Ausgangspunkt war die Annahme, dass in den ägyptischen Hieroglyphen Gott – statt in einer phonetischen Sprache – in natürlichen Bildern geschrieben habe. »Aus diesem Grund glaubte man auch, das abgebildete Ding sei wirklich das gemeinte Ding: das Seiende eben das Gemeinte: ›Die Hieroglyphen also ein Abbild der göttlichen Ideen!‹ … Natürliche Bilder versprechen Aufschluß zu geben über die Universalsprache, durch die Gott den Menschen die Bedeutung seiner Schöpfungen mitteilt«, erläutert Susan Buck-Morss.31 Die Ausweglosigkeit bestand nun darin: »Die Allegoriker häufen emblematische Bilder aufeinander, als ließe sich ihre Willkür und Zusammenhanglosigkeit durch die bloße Anzahl der Bedeutungen wettmachen.«32 – Und so verfährt die Kulturindustrie mit den Hieroglyphen in der Reklame für sich selbst. Die Parallele zur Popkultur zeigt sich in den überschwänglichen Ausdeutungen des Symbolischen, wobei das Symbolische in diesem Zusammenhang

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längst nicht mehr wesentlich von der Allegorie differenziert wird; auch insofern allein aufgrund der Interpretierbarkeit der überschäumenden Symbolik der populären Massenkultur auf ihr, wie eben Fiske es nennt, semiotisches Widerstandspotenzial geschlossen wird. Die Gefahr besteht heute in einer Barockisierung der Popkultur, indem allein aus der Tatsache, dass die gelieferten Hieroglyphen des Populären bedeutbar sind und zudem noch überaus vielfältig, schon ein positiver Bedeutungssinn zu konstatieren beansprucht wird, womöglich sogar eben als symbolischer Widerstand.33 Mit Blick auf die warenfetischistische Verzerrung der Wirklichkeit, die sich im Bewusstsein und Unbewussten der Menschen gleichsam fortsetzt und sedimentiert, bestand die Problematik für Benjamin allerdings darin, dass eben erst einmal die Bedeutungen überhaupt nicht evident sind, weder im trivialen Sinn des Verweises auf den möglichen Gebrauch der Dinge, noch in einem übergeordneten, quasi göttlichen Bedeutungssinn, nach dem die scheinbar bedeutungsreiche und sinngefüllte bürgerliche Kultur schlüssig auf die Idee der bürgerlichen Gesellschaftsordnung zu bringen wäre. Im Gegenteil ist es mit den – um das Wort wieder aufzunehmen – Hieroglyphen der Massenkultur des 19. Jahrhunderts, das Benjamin untersucht, eben so, dass ganz im Sinne der materialistischen Kritik der Gesellschaft die bestehende Ordnung ideologisch verzerrt und verkehrt widergespiegelt werde. Es ist vom »Vexierbild der Ware« die Rede, wenn es heißt: »Die Entwertung der Dingwelt in der Allegorie wird innerhalb der Dingwelt selbst durch die Ware überboten.«34 – »Die Embleme kommen als Waren wieder« und »die Allegorie ist die Armatur der Moderne«, schließlich: »Die Ware ist an die Stelle der allegorischen Anschauungsform getreten.«35 Darüber hinaus beschreibt Adorno Benjamins Ansatz: »Die Kraft der Auslegung hat sich umgesetzt in die, Äußerungen der bürgerlichen Kultur als Hieroglyphen ihres finsteren Geheimnisses zu durchschauen: als Ideologien. Gelegentlich hat er [i.e. Benjamin] von dem ›materialistischen Giftstoff‹ gesprochen, den er seinem Denken beimischen müsse, damit es überlebe.«36 So wird eben »das Rebus … zum Modell seiner Philosophie.«37 Dem Dialektiker Benjamin gerinnen diese Hieroglyphen, Allegorien, Vexierbilder, diese Rätsel zu Konfigurationen im historischen Prozess: zu dialektischen Bildern, ein Begriff, den Benjamin um 1935 in seine materialistische Kulturtheorie einführt. Die dialektischen Bilder sind allerdings keineswegs eine rein ästhetische Kategorie;38 von einer irgendwie gearteten kunst- und kulturgeschichtlichen Perspektive sind sie scharf abzugrenzen. Vielmehr versucht Benjamin mit dem Konzept des dialektischen Bildes an die Prozesslogik eines materialistischen Geschichtsbegriffs anzuknüpfen, bei gleichzeitiger Kritik seiner drohenden kulturalistischen Verengung und Mystifikation. Und sofern es bei dem Konzept des dialektischen Bildes um einen neu gefassten Begriff der

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Geschichte geht, geht es auch um die Grundlegung einer materialistischen Erkenntnistheorie, also um den Versuch, historische Erfahrung zu ihrem Recht kommen zu lassen – und sie überhaupt zu artikulieren. Diesbezüglich notiert Benjamin: »Zum dialektischen Bilde. In ihm steckt die Zeit. Sie steckt schon bei Hegel in der Dialektik. Diese Hegelsche Dialektik kennt aber die Zeit nur als eigentlich historische, wenn nicht psychologische, Denkzeit. Das Zeitdifferential, in dem allein das dialektische Bild wirklich ist, ist ihm noch nicht bekannt. Versuch, es an der Mode aufzuzeigen. Die reale Zeit geht in das dialektische Bild nicht in natürlicher Größe – geschweige denn psychologisch – sondern in ihrer kleinsten Gestalt ein. – Ganz lässt sich das Zeitmoment im dialektischen Bilde nur mittels der Konfrontation mit einem anderen Begriffe ermitteln. Dieser Begriff ist das ›Jetzt der Erkennbarkeit‹.«39 Im dialektischen Bild treten Erkenntnis und Erfahrung, Theorie und Praxis, in Verbindung; dass die Aufzeichnungen zur kritischen Theorie des dialektischen Bildes im ›Passagen-Werk‹ unter der Überschrift »Erkenntnistheoretisches, Theorie des Fortschritts«40 gesammelt sind und sich in diesem Konvolut ›N‹ sowohl eine Erkenntniskritik wie auch eine Fortschrittskritik formuliert finden, kommt nicht von Ungefähr. »Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, läßt immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verlorenen [sich] vollziehen.«41 Und: »Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation zum Stillstand kommt, da erscheint das dialektische Bild. Es ist die Zäsur in der Denkbewegung. Ihre Stelle ist natürlich keine beliebige. Sie ist, mit einem Wort, da zu suchen, wo die Spannung zwischen den dialektischen Gegensätzen am größten ist. Demnach ist der in der materialistischen Geschichtsdarstellung konstruierte Gegenstand selber das dialektische Bild. Es ist identisch mit dem historischen Gegenstand; es rechtfertigt seine Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs.«42 Die Spuren der kritischen Theorie des dialektischen Bildes führen zu Marx, beziehungsweise verweisen sie auf Benjamins eigenwillige Lektüre der marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Sehr zentral ist für Benjamin offenbar die optische Metaphorik, die Marx für die Darstellung des Fetischcharakters sowie Marx und Engels für die Erklärung der Ideologie benutzen. Zwei berühmte Abschnitte seien hierbei zitiert. Im ›Kapital‹ lautet die Passage, in der Marx seine Analyse des Warenfetischismus anschaulich macht: »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegen-

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ständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge. So stellt sich der Lichteindruck eines Dinges auf den Sehnerv nicht als subjektiver Reiz des Sehnervs selbst, sondern als gegenständliche Form eines Dings außerhalb des Auges dar. Aber beim Sehen wird wirklich Licht von einem Ding, dem äußeren Gegenstand, auf ein andres Ding, das Auge, geworfen. Es ist ein physisches Verhältnis zwischen physischen Dingen. Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.«43 In eben solcher Bildersprache heißt es in der ›Deutschen Ideologie‹ bei Marx und Engels: »Das Bewußtsein kann nie etwas Anderes sein als das bewußte Sein, und das Sein des Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß. Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen [Lebensprozeß].«44 Von Marx übernimmt Benjamin auch den Begriff der Phantasmagorie; er wird gleichsam zur Hieroglyphe wie die Signatur der Massenkultur des 19. Jahrhunderts: Phantasmagorie ist der Kapitalismus als Märchen von der befreiten Gesellschaft, der Traum, den die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert träumte – und aus dem sie mit Schrecken und im Terror im 20. Jahrhundert erwachte; Phantasmagorien sind Wunschbilder, auch Trugbilder oder sogar Wahnbilder. Im Exposee zur Passagenarbeit schreibt Benjamin: »Weltausstellungen sind die Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware … Die Weltausstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie erleichtert ihm das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt.«45 Im Theater bezeichnen Phantasmagorien phantastische Szenerien auf der Bühne.46 Benjamin verknüpft hier also eine Kritik der Massenkultur mit einer Theorie des Bildes und einer Kritik des Kapitalismus. Susan Buck-Morss erläutert: »Für Benjamin, dessen Ausgangspunkt nicht eine ökonomische Analyse des Kapitals, sondern eine Philosophie der historischen Erfahrung ist, liegt der Schlüssel zu der neuen städtischen Phantasmagorie nicht so sehr in

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der Ware auf dem Markt, sondern eher in der Ware als Schaufensterauslage, in der der Tauschwert nicht weniger als der Gebrauchswert seine praktische Bedeutung eingebüßt hat, während ein rein repräsentativer Wert in den Vordergrund tritt.«47 Dies zieht eine methodische Frage nach sich: »Auf welchem Wege ist es möglich, gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden?«48 Worauf zielt aber die Anschaulichkeit? Es geht um die Darstellbarkeit der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung, die Benjamin für das 19. Jahrhundert feststellt: Die Wirklichkeit ist, nach einem Wort Brechts, in die Funktionale gerutscht. Die Welt ist nicht mehr so, wie sie sich unmittelbar zeigt. Brechts Beispiel: Auf einer Fotografie der A.E.G. oder Krupp-Werke ist nichts über die kapitalistischen Produktionsbedingungen zu erkennen.49 Vielmehr lagert sich die Realität in einer Reihe von Bildern ab, die zu Traumbildern, Wunschvorstellungen, eben Hieroglyphen des kollektiven (bürgerlichen) Bewusstseins werden. »Der Form des neuen Produktionsmittels, die im Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entsprechen im Kollektivbewußtsein Bilder, in denen das Neue sich mit dem Alten durchdringt. Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären.«50 Und an anderer Stelle formuliert Benjamin: »Der Form des neuen Produktionsmittels, die am Anfang noch von der des alten beherrscht wird (Marx), entspricht im Überbau ein Traumbewußtsein, in der das Neue in phantastischer Gestaltung sich vorbildet … Ohne diese phantastische Vorform im Traumbewußtsein entsteht nichts Neues. Seine Manifestationen aber finden sich nicht allein in der Kunst. Es ist für das XIXte Jahrhundert entscheidend, daß die Phantasie allerorten über deren Grenzen hinaustritt.«51 Die Phantasie ist die psychische Reaktion, die die Phantasmagorie der Ware im kollektiven und individuellen Bewusstsein auslöst: »Aber immer zitiert gerade die Moderne die Urgeschichte. Hier geschieht das durch die Zweideutigkeit, die den gesellschaftlichen Verhältnissen und Erzeugnissen dieser Epoche eignet. Zweideutigkeit ist die bildliche Erscheinung der Dialektik, das Gesetz der Dialektik im Stillstand. Dieser Stillstand ist Utopie und das dialektische Bild also Traumbild. Ein solches Bild stellt die Ware schlechthin: als Fetisch.«52 – Die Dialektik im Stillstand ist, da Benjamin sie als »die Quintessenz der Methode« bezeichnet, die kritische Theorie in Kommentarstruktur.53 Eine kritische Theorie des dialektischen Bildes meint also die Stillstellung der Hieroglyphen, den Zugriff auf die aufblitzende, im Kristall zusammenschießende Konstellation von Geschichte, Jetztzeit.54

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V. ›Kulturprobleme. Fetischismus‹ »Ich formulierte, ›daß das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist, als eine Idee‹. •Dialektisches Bild•« Benjamin, ›Das Passagen-Werk‹ (GS Bd. V·1, S. 118)

Wie lässt sich der Fetischismus beschreiben? Gramsci notiert in den ›Gefängnisheften‹ unter der Überschrift ›Kulturprobleme. Fetischismus‹: »Wie sich der Fetischismus beschreiben läßt. Ein Kollektivorganismus setzt sich aus Einzelindividuen zusammen, die den Organismus bilden, insofern sie sich eine bestimmte Hierarchie und Führung gegeben haben und aktiv billigen. Wen jede der Einzelkomponenten den Kollektivorganismus als ein ihr äußerliches Wesen denkt, ist offensichtlich, daß dieser Organismus faktisch nicht mehr existiert, sondern eine Einbildung des Verstandes, ein Fetisch wird … Erstaunlich ist, und das ist bezeichnend, daß der Fetischismus dieser Art sich durch ›freiwillige‹ Organismen nicht ›öffentlichen‹ oder staatlichen Typs reproduziert, wie die Parteien und die Gewerkschaften … Der Einzelne erwartet, daß der Organismus handelt, auch wenn er nicht tätig wird, und er überlegt nicht, daß gerade deshalb, weil seine Einstellung sehr verbreitet ist, der Organismus notwendig untätig ist.«55 Gramsci beschreibt also den Fetischismus nicht als Charakter der Ware und der Warenproduktion, sondern als spezifische Organisationsweise von Gesellschaft, als Verhältnis von sozialer und individueller Praxis und ihrer Reichweite … »Ein Kollektivbewußtsein, und das heißt ein lebendiger Organismus, formiert sich erst dann, wenn die Vielfalt sich durch die Reibung der einzelnen vereinheitlicht hat: man kann dann auch nicht sagen, daß das ›Schweigen‹ keine Vielfalt sei. Ein Orchester bei den Proben, jedes Instrument für sich, macht den Eindruck der schrecklichsten Kakophonie; und doch sind diese Proben die Bedingung dafür, daß das Orchester als ein einziges ›Instrument‹ lebt.«56 Das ist mehr noch als das Prinzip des Orchesters das Prinzip der Band; die Popkultur kann als besondere Form, als spezifisches ideologisches Substrat dieses Kollektivbewusstseins, als Ideologie des Kollektivbewusstseins verstanden werden. Popkultur ist derart ein einziger Fetischismus, der den Einzelnen um das Organische, die »Gemeinschaft« (Fangemeinde, Jugend, Gruppe, Posse, Clique, peer group) permanent betrügt; ein Fetischismus, der dem Einzelnen verspricht, durch Konsum aktiv an etwas teilzunehmen, das gerade in der herrschenden Form der Aneignung (Konsum) alle Praxis lähmt, den sinnlich-praktischen Menschen entfremdet, entsinnlicht, unwirklich macht und ihm Praxis – also Handlungsmöglichkeiten – entzieht und verdinglicht. (Bei Marx haben waren, Dinge, Gegenstände einen Charakter, Fetischcharakter; hingegen die Produzenten, die Menschen, Charaktermasken tragen.) Der Bogen zu Marx’ Fetischbegriff als Charakterologie der Ware ergibt sich über den Konsum als die Aneig-

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nungsweise sozialer Realität, in der die Verwertungslogik der Produktion in die Formierung des Kollektivbewusstseins (»Pop«) eindringt. Und in dieser Hinsicht ist nämlich Konsum nicht einfach nur als Aneignung von Unterhaltungswaren, also von Produkten der Popkulturindustrie zu lesen, auch nicht als Selbstaneignung und Schöpfungsakt eines Stils, sondern immer auch und zunächst als Aneignung der Wertvergesellschaftung, als Manifestation eines abstrakten Vorgangs einerseits in der konsumierten Ware, andererseits im Konsum selbst und der durch ihn besiegelten Kollektivierungsleistung: die Mode; das, was die anderen haben, will ich auch haben. Das fetischistische Bewusstsein vergesellschaftet sich im Konsum; ihm ist Vergesellschaftung gleichsam wie Individualisierung überhaupt nur als Konsumtionsakt vorstellbar. Konsum ist nicht eine weitere Möglichkeit, einen eigenen Stil zu entwickeln, sondern der Stilschöpfung gegenläufig, auch indem durch den Konsum die kollektivbildende Funktion des Stils fetischistisch verzerrt und verkehrt wird. Konsum ist eigentlich das Gegenteil von Stilbildung, deren Antipol. Je mehr Popkulturen über den Konsum gesteuert werden, desto seltener kommt es zu originären Stilbildungen, desto seltener werden überhaupt spezifische, stilprägende Popkulturen. – Stil lässt sich nicht kaufen. Ein Stil kann Mode werden. Mode lässt sich kaufen. Der Stil, der zur konsumierbaren Mode geworden ist, ist bereits stillos. Stilschöpfung heißt, sich Kleidungsstücke, Accessoires zu organisieren. (Der Gaunersprache entlehnt: »Diese Jacke habe ich mir organisiert«, nämlich geklaut. Bei Fragen wie »Wo kriegt man das?«, »Kannst du mir das aus London mitbringen?«, »Wo hast du das besorgt?« ist es eigentlich gleichgültig, ob es sich um einen Kaufvorgang oder um Diebstahl handelt.) »Dieser Fetischcharakter der Warenwelt entspringt … aus dem eigentümlichen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, welche Waren produziert.«57 Marx begründet den Fetischcharakter der Arbeit durch die besondere Form gesellschaftlicher Praxis, beziehungsweise daraus, wie diese ökonomisch organisiert ist. Die Dialektik des Fetischismus: Die Produktionsverhältnisse bringen den Fetischismus hervor und aus dem Fetischismus resultiert das Bewusstsein von den Produktionsverhältnissen. Kopf = Religion, Hand = Produktion: »Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und daher von der Warenproduktion unzertrennlich sind.«58 – Warenförmigkeit der Kunst und Kultur meint ihren Fetischcharakter: dass sie etwas befriedigt durch Kräfte,

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die ihr nicht zukommen; eine Befriedigung wie beim Sexualfetisch – eine Ablenkung der Lust auf ein eigentlich gar nichts mit der Lust zu tun habendes Objekt. – Der Fetischismus der Popkultur lässt sich als Kitsch erklären. Der Kitsch ist die Hieroglyphe der Mode; in ihm tritt die Warenförmigkeit der Popkultur als Idiotie des Konsums hervor, die den fetischistischen Bezug zur Welt offen zur Schau stellt. – »Na Logo! Übertriebenes Understatement? Wer dieses Jahr durch die Frühlingssonne flaniert, darf ruhig wieder zeigen, wen er dabei hat. Dieses feine Täschchen von Tod’s zum Beispiel. Und weil das TModell wasserabweisend ist, lässt es Sie auch im Regenschauer weiterlächeln.« Und, selbe Seite: »Kult sind die guten Birkenstocks ja schon länger. Nach dem Styling von Topmodel Heidi Klum stehen Sie mit ihnen ab sofort auch modisch in der ersten Reihe.«59 – »Wer sagt denn, dass wir nichts von schicker Wäsche verstehen? Schaut euch nur mal das Motiv an! Nicht falsch verstehen: Es geht natürlich um Qualität und richtet sich an all euch Mädchen da draußen …«60 – Ideologie nicht als Verblendung, sondern als Dunkel des gelebten Augenblicks (als mögliches Motiv der Rettung in der Mode): »Gerade das Oberflächenphänomen par excellence, die Mode, die immerfort das Jüngstvergangene als das hoffnungslos Veraltete zudeckt, lebt aus der Tiefe des nie abgegoltenen historischen Versprechens … Mode, die derart Geschichte zitiert, spiegelt ihr Niegewesenes als Gewesenes vor.«61

VI. Ausdruckszusammenhang, ›Problemchen‹ »Mit Wackelvideo und Weltveränderungsmessianismus; nur daß jetzt keine Revolution ist und so, sondern die ›Wahrheit‹ und der ›Sinn‹ verbergen sich in irgendwelchen elektro-komischen Cybersachen. T. Leary war vor kurzem an der Humboldt-Universität mit einer Computercrew, und sein Team wollte uns in die Cyber-Virtualität rüberholen. Die kamen aber nicht mal mit der Saalbeleuchtung zurecht! Haben verzweifelt Knöpfe gedrückt, und da kam halb komisch, halb erhaben so eine riesige Gebrüder Humboldt-Oblate an zwei Seilen von der Decke runtergeschwebt, ganz langsam, theatermäßig, bis unten auf den Boden, dann nach vorn gekippt und hätte fast den Leary erschlagen und die Cybersachen alle umgekippt. Das Reale lässt sich auch nicht alles gefallen!« Thomas Kapielski, ›Aqua botulus‹ (Frankfurt am Main 2000, S. 109)

Benjamins Konzept des dialektischen Bildes als kritische Theorie der Hieroglyphen der Massenkultur hat sich zur Aufgabe gemacht, »darzustellen, wie die Bezugnahme auf die verdinglichte Vorstellung von Kultur die neuen, vor allem durch die Warenproduktion bedingten Schöpfungen und Lebensformen, welche dem vorigen Jahrhundert zu danken sind, dem Ensemble einer Phantasmagorie einbeziehen.«62 – Die Methode hat Benjamin selbst mit den Begriffen der

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Montage, der Kommentarstruktur und schließlich der Dialektik im Stillstand umrissen. Dabei geht es Benjamin nicht um eine Erkenntnis als Darstellung von Geschichte »wie es gewesen ist«; den Jahreszahlen soll, wie er sagt, ihre Physiognomie gegeben werden, und das heißt, wie er für das ›Passagen-Werk‹ notiert: »Es kann als eines der methodischen Objekte dieser Arbeit angesehen werden, einen historischen Materialismus zu demonstrieren, der die Idee des Fortschritts in sich annihiliert hat. Gerade hier hat der historische Materialismus alle Ursache, sich gegen die bürgerliche Denkgewohnheit scharf abzugrenzen. Sein Grundbegriff ist nicht Fortschritt sondern Aktualisierung.«63 Diese Aktualisierung meint allerdings keine passive Stellung der Theorie, sondern eine kritische Theorie-Praxis; mit der Aktualisierung konstituiert sich im dialektischen Bild gewissermaßen erst die Gegenwart. Dabei führt diese Methode immer wieder auf das geschichtstheoretische-erkenntnistheoretische Grundproblem zurück, wie überhaupt historische Erfahrung zugänglich gemacht werden und zu ihrem Recht kommen kann. Dafür unterscheidet Benjamin sein Vorhaben von der marxschen Kritik der politischen Ökonomie in einem zentralen Aspekt: »Marx stellt den Kausalzusammenhang zwischen Wirtschaft und Kultur dar. Hier kommt es auf den Ausdruckszusammenhang an. Nicht die wirtschaftliche Entstehung der Kultur sondern der Ausdruck der Wirtschaft in ihrer Kultur ist darzustellen. Es handelt sich, mit andern Worten, um den Versuch, einen wirtschaftlichen Prozeß als anschauliches Urphänomen zu erfassen, aus welchem alle Lebenserscheinungen der Passagen (und insoweit des 19ten Jahrhunderts) hervorgehen.«64 – Benjamin benutzt zur Verdeutlichung dessen, was er hier mit Ausdruckszusammenhang meint, nicht nur als Analogie den Traum. »Die ökonomischen Bedingungen, unter denen eine Gesellschaft existiert, kommen im Überbau zum Ausdruck; genau wie beim Schläfer ein übervoller Magen im Trauminhalt, obwohl er ihn kausal ›bedingen‹ mag, nicht seine Abspiegelung sondern seinen Ausdruck findet. Das Kollektiv drückt zunächst seine Lebensbedingungen aus. Sie finden im Traum ihren Ausdruck und im Erwachen ihre Deutung.«65 Wir haben es mit »Rückständen einer Traumwelt« zu tun, die noch immer, noch über einhundert Jahre später, die Kultur unseres Alltags wie das kollektive Alltagsbewusstsein bestimmen. Die Verwertung dieser Rückstände, dieser »Traumelemente beim Erwachen ist der Schulfall des dialektischen Denkens. Daher ist das dialektische Denken das Organ des geschichtlichen Aufwachsens. Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin.«66 – Erwachen in dieser Hinsicht heißt aber nicht nur Erkenntnis, sondern ist zugleich die verändernde revolutionäre Praxis, die Befreiung der Welt, was bei Benjamin messianisch zu verstehen ist.67 Die Arbeit des materialistischen Historikers ist nicht nur Traumarbeit, son-

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dern bedeutet, die Weckreize zu vertiefen; dafür setzt der Historiker die kritische Theorie des dialektischen Bildes ein: »Das dialektische Bild ist zu definieren als die unwillkürliche Erinnerung der erlösten Menschheit … Indem die Vergangenheit sich zum Augenblick – zum dialektischen Bilde – zusammenzieht, geht sie in die unwillkürliche Erinnerung der Menschheit ein.«68

VII. Bild der Rettung, Lesbarkeit »Die Welt ist verstellt durch Zeichen. Je besonderer uns ein Zeichen erscheint, desto weniger bedeutet es. Es ist alles sinnlos. Gegen diese Sinnlosigkeit suchen wir die Schrift zu lesen, als wenn es doch noch ein Geheimnis gibt.« Gregor Katzenberg »Wahrnehmung ist Lesen.« Benjamin, ›Über die Wahrnehmung in sich‹ (in: GS Bd. VI, S. 32) »Er gab uns drei solche Bücher; sie sind allesamt Aufzeichnungen seiner Ewigkeit, d.h. seiner selbst bzw. seines Urbildes … Das erste und größte Gottes-Buch ist die sichtbare Welt; sie ist beschrieben mit so vielen Buchstaben, wie es in ihr Geschöpfe Gottes zu sehen gibt … Das weite Buch ist der Mensch selbst, der nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist … Doch gab ihm Gott auch noch ein drittes Buch in die Hand; es ist gleichsam ein Kommentar zum äußerlichen Buch der Welt, für das innerliche Buch des Gewissens jedoch ein Leitfaden: die Heilige Schrift …« Johann Amos Comenius, ›Der Weg des Lichtes. Via Lucis‹ (Hamburg 1997, S. 24 f.)

In der ›Soziologie der symbolischen Formen‹ entwickelt Pierre Bourdieu eine konkrete Theorie der Lesbarkeit von Kunstwerken, ausgehend von der Analyse der »ästhetischen Kompetenz«. »Der Grad der ästhetischen Kompetenz eines Subjekts bemißt sich danach, inwieweit es die zu einem gegebenen Augenblick verfügbaren und zur Aneignung des Kunstwerkes erforderlichen Instrumente, d.h. die Interpretationsschemata beherrscht, die die Bedingung der Appropriation des künstlerischen Kapitals, m.a.W. die Bedingung der Entschlüsselung von Kunstwerken bilden, wie sie eine gegebenen Gesellschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt offeriert werden.«69 – In der Postmoderne werden diese Bedingungen pluralisiert vage; nicht weil die Kunstwerke tatsächlich ihre Bedeutungen vervielfältigen, sondern weil sie in der postmodernen Pluralisierungsperspektive vervielfältigt erscheinen, indem verschiedene Zugänge ermöglicht, Grenzen verflüssigt und Kontexte dekontextualisiert werden. Die Werke und ihre Bedeutungs- und Sinndimensionen verflüchtigen sich. Die Oberfläche wird permeabel und porös; sie wird empfänglich für Interpretationen aller Art, und vermittels dieser Interpretationszugänge wird durch die Oberfläche der Kunst wieder Werkbedeutung verliehen. Solche Lesbarkeit der Kunst ist die ›Verklärung des Gewöhnlichen‹, und mehr. Arthur C. Danto schreibt: »Etwas

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überhaupt als Kunst zu sehen, verlangt nichts weniger als das: eine Atmosphäre der Kunsttheorie, eine Kenntnis der Kunstgeschichte. Kunst ist eine Sache, deren Existenz von Theorien abhängig ist.«70 Andy Warhols Brillo-Kartons sind nichts weiter als Waschmittelkartons. Im kontextuellen Focus der Kunsttheorie werden sie aber zur Kunst und vermögen sich so als Kunstwerke zu entfalten: »Als Kunstwerk betont der Brillo-Karton jedoch nicht nur, daß er aufgrund von überraschenden metamorphorischen Attributen ein Brillo-Karton ist. Er tut das, was Kunstwerke immer schon getan haben – er veräußerlicht eine Weise, die Welt zu sehen, er drückt das Innere einer kulturellen Epoche aus und bietet sich als ein Spiegel an, um unsere Könige beim Gewissen zu packen.«71 Der Spiegel ist zerbrochen; das Innere der jetzigen kulturellen Epoche ist die Barbarei. Die Legitimation der Kunst gelang über den vergleichsweise aufwendigen Apparat der Kunsttheorie und ihrer Institutionen. Die gewöhnliche Waschmittelbox musste schon als Serie ins museale Gefängnis gestellt werden, um zum Kunstwerk verklärt (oder erklärt) werden zu können. Die ästhetische Kompetenz, die mit dem alten Kunstbetrieb verbunden ist, konkurriert mit der Kompetenz der Alltagsästhetik, die ihre Kunsttheorien aus der Massenkultur zu gewinnen scheint: Expertisen einer Avantgarde, die nicht den mühsamen und langweiligen Weg durch die Museen gegangen ist, die nicht tote Werke durch graue Theorie zum Leben erweckt, sondern die Lebendigkeit des Gewöhnlichen zum überschäumenden Vitalismus verklärt. Auch die Pluralisierung der ästhetischen Kompetenz bleibt Ideologie; Ästhetik bleibt Schein. Dass Warhol die gewöhnlichen Konsumobjekte überhaupt in Kunstwerke verwandeln konnte, dürfte weniger mit seinen genialen Fähigkeiten zu tun haben, als vielmehr mit der trivialen Tatsache des gerade den gewöhnlichen Warendingen immanenten Fetischcharakters. Dieser ungewöhnliche Schein der Ware macht sie ja sehr leicht zu einem ästhetischen Objekt, das sie nämlich in ökonomischen Begriffen einer Ästhetik des Tauschwerts schon immer ist. Das Warending ist genauso plötzlich und vorhersehbar Kunstwerk, wie es als gewöhnliche Ware auch schon als Kunstwerk verklärt wird – Benjamin beobachtete das an der Inszenierung der Waren in den Schaufenstern für das 19. Jahrhundert; heute werden in den Bekleidungsgeschäften die Textilien wie im Museum präsentiert, in Vitrinen und auf Podesten, als serielle Einzelstücke. Die Verklärung der gewöhnlichen Lebendigkeit, mit der es die postmoderne Massenkultur zu tun haben möchte, ist Ideologie, weil schon die gewöhnliche Lebendigkeit Verklärung ist: ästhetische Überhöhung und Verkleidung der armseligen Existenz. Genau in dieser Verklärung des Gewöhnlichen reüssiert die postmoderne Bedeutungsvielfalt der Massenkultur. Diedrich Diederichsen glaubt sie bei den ›Simpsons‹ gefunden zu haben: als »postmoderne Aufklärung«: »Ein ewiges laterales Apropos verknüpft alle Gegenstände der Welt

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als immer schon Kunstgegenstände und Bedeutungsspeicher endlos miteinander. Zu allem fällt uns eine andere Fernsehserie, ein anderes Kunstwerk, eine berühmte Kameraperspektive, ein abgehalfterter Star, ein berühmter Satz sowie deren Verkehrungen, Verdichtungen, Verfremdungen etc. ein, und die Kette unserer Verknüpfungen nimmt kein Ende. Postmoderner Alltag ist eine hermeneutische und interpretative Sisyphos-Arbeit und diese Arbeit ist nie getan. Die Welt der Zeichen und Verweise wird nie ordentlicher. Heldenhaft stemmen wir uns gegen die Entropie, indem wir, wir Simpsons, immer wieder deuten, einsortieren, bewerten, gegenbewerten, Schätze heben.«72 – Sicher gehören die ›Simpsons‹ zum Besten was die Kulturindustrie an Unterhaltung zu bieten hat, an dem die naive Rezeption von Kindern genauso ihre Freude hat wie die intellektuelle der neuen kulturellen Elite, die sich mit Cross-over-Bildung auf die Vieldeutigkeit der Massenkunst, jenseits ihrer alten E- und U-Grenze verstehen. Allein die Vieldeutigkeit und Bedeutungsvielfalt ist aber noch überhaupt kein Verweis auf irgendwelche Subversionspotenziale; und im Übrigen ein ästhetisch ziemlich bekanntes Verfahren: Es gehört zum künstlerischen Ausdruckszusammenhang der Renaissance, insbesondere aber der Romantik, auch in der Transzendenz der Sinndimensionen und Grenzen zwischen Amüsement und hochkulturellem Bildungsgut, Vergnügen und ernster Kunst – (in der bürgerlichen Literatur, der sinfonischen Musik und den Opern und der Malerei finden sich die prägnantesten Beispiele, angefangen bei Hölderlin, Novalis, über Wagner, bis zu Bruckner und Mahler, schließlich bis zum Expressionismus des Blauen Reiters und darüber hinaus, eigentlich als fundamentales Kennzeichen der künstlerischen Moderne und ihrer ästhetischen Logik …). Und auch die Massenkunst ist bereits früh mit diesem Verfahren der Bedeutungsvielfalt vertraut, die anspruchsvolle Kunst suggerieren soll. Allein von der Lesbarkeit beziehungsweise von der Vielfalt der Lesarten eines künstlerischen Produkts Sinn oder Bedeutungsvielfalt zu supponieren, ist ein Trugschluss, bestenfalls ein hermeneutischer Zirkel. Dennoch ist Lesbarkeit wesentlicher Zugang zur Kunst, Vermittlung ihres Gehalts; aber eine Theorie der Lesbarkeit muss zugleich auf die Sprache rekurrieren, statt bloß auf ihren Text oder Kontext. So wie die semantische und syntaktische Struktur der Sprache nicht unabhängig von den materiellen Bedingungen des Sprechens (Klassengesellschaft, geschlechtsspezifische Sprechweisen, restingierter und elaborierter Code) begriffen werden kann, ist auch die Lesbarkeit gesellschaftlich vermittelt, bis hin zum Vermögen der Menschen, überhaupt lesen zu können. »Die durchschnittliche Lesbarkeit eines Kunstwerkes (in einer bestimmten Gesellschaft zu bestimmter Zeit) ist ein Resultat der Distanz zwischen dem Code, den das betreffende Werk objektiv erfordert, und dem sozialen Code als einer historisch bedingten Institution. Die Lesbarkeit eines

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Kunstwerkes hängt also für ein bestimmtes Individuum von dem Abstand zwischen dem mehr oder weniger komplexen und verfeinerten Code, den das Werk erfordert, und dem individuellen Sachverständnis ab.«73 Das hat seinen klassenspezifischen Ausdruck im jeweiligen »Bildungsbedürfnis« der Individuen, ist also abhängig von ihrer sozialen Stellung. Auch die postmoderne Massenkultur ist eine Klassenkultur, vielleicht sogar mehr als die moderne in Hinblick auf die ideologische Struktur, weil erstmals die bürgerliche Elite Anspruch auf das erhebt, was einst den Unteren vorbehalten sein sollte: auf den Kitsch der schlechten Unterhaltung, die kulturelle Belanglosigkeit. Die postmoderne Ideologie macht die Lesbarkeit zum künstlerischen Prinzip ästhetischer Kompetenz schlechthin; je vieldeutiger das Objekt, desto mehr ist es »Kunst« (oder erfährt eine den Kunstwerken ähnliche Aufmerksamkeit). Nach Bourdieu heißt das: Der Code wird gröber, weniger komplex, der individuelle Sachverstand wird ausgedehnt (indem jedes Fragment des Wissens zum Sachverstand gehören kann). Damit wird Massenkunst sowieso lesbar, während die alten Künste einer ästhetischen Legasthenie verfallen: zu schwer oder buchstäblich unbedeutsam sind sie, ihrer Logik nach, im Übrigen objektiv – im selben Maße wie die populäre Kultur objektiv bedeutsam ist und leicht. ›Reading the Popular‹ (und in vielleicht strukturalistischer Reminiszenz auf Louis Althussers und Etienne Balibars ›Das Kapital lesen‹ wird dann das, was unverständlich ist, einfach weggelassen; auch bei Fiske fällt Dialektik unter den Tisch). Es ist schließlich gleichgültig, ob ein Verweis in einer Simpsons-Folge intendiert ist oder nicht, so gleichgültig wie die Bedeutung eines Verweises ist. Dass die Kulturindustrie alles mit Ähnlichkeit schlage, wie Adorno und Horkheimer meinten, gilt auch für die populäre Kunst nach dem Ende der Kulturindustrie. Zusammen mit Roger Chartier und anderen diskutierte Bourdieu den allgemeinen Begriff des Lesens als kulturelle Praxis. Bourdieu verweist auf das im Unbewussten eingeschriebene Lesebedürfnis der privilegierten Klasse, auf die Lesepolitik. »In einer Zivilisation von Lesern bleibt es bei einer enormen Menge an Vor-Wissen, das nicht durch Lesen übermittelt wird und doch das Lesen orientiert.«74 Und Chartier ergänzt: »Das Vermögen, Bedeutungen aufzudrängen, hängt von den historischen Bedingungen ab, unter denen sie manipuliert werden.«75 Es gibt eine »dominante kulturelle Ordnung« der Zeichen, in der Lesen nach Terni »nicht nur die Fähigkeit [ist], eine gewisse Anzahl von Zeichen identifizieren und dekodieren zu können, sondern auch die subjektive Fähigkeit, sie in schöpferische Beziehung zwischen sich und anderen Zeichen zu setzen.«76 Lesen meint das Verhältnis zur herrschenden Zeichenordnung, zum dominanten Code. Stuart Hall unterscheidet drei »hypothetische Positionen« des Lesens im Sinne des Kodes (des Kodierens

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und Dekodierens). Erstens: der dominant-hegemoniale Ansatz, der eine affirmative Übereinstimmung des Kodierens und Dekodierens festigt und reproduziert. Zweitens: der ausgehandelte Kode, die korporative Position der Dekodierung, die häufig im Widerspruch zur dominant-hegemonialen Kodierung steht. Schließlich drittens: Lesen als Anwendung eines oppositionellen Kodes. »Einer der wesentlichsten politischen Momente … wird von dem Punkt markiert, an dem Ereignissen, die normalerweise in ausgehandelter Form bezeichnet und dekodiert werden, eine oppositionelle Lesart zugeschrieben wird. An dieser Stelle haben wir es mit der ›Politik des Bezeichnens‹, dem Kampf im Diskurs zu tun.«77 Dieser Kampf im Diskurs muss in den Kampf des Diskurses übersetzt werden, die Ordnung des Diskurses in die Praxis, die die diskursive Ordnung sprengt: die unterschiedlichen Weisen der Kodierung sind nicht frei wählbar, sondern anhängig und präformiert durch Bildung, Wissen, klassenspezifisch und geschlechtsspezifisch vermittelte Vermögen (grundsätzlich ist in dieser Hinsicht Spivaks Frage zu stellen: Can the subaltern speak?). Der Ausdruckszusammenhang erschöpft sich nicht in der Lesbarkeit. Die Komödie der Massenkultur oder die Tragödie der Kultur sind keine zwei Lesarten, die in ihrer Literalität vollends aufgehen, sondern sind als Texte höchstens Verweise auf die Kontexte, die materiellen Bedingungen, auf die Orte und die Zeit des Lesens. – Lesen heißt nicht Interpretieren, sondern ist der Kommentar zum Ausdruckszusammenhang, der in der Schrift als Konstellation sich darstellt. Die postmoderne Poptheorie will sich mit der Lesbarkeit begnügen, die sie mit medialem Expertenwissen bedient; kritische Theorie entschlüsselt in der Lesbarkeit das Rätsel (die Konstellation, das Vexierbild). Dessen Zeichen sind tragisch, je komischer es scheint. Die postmoderne Literalität, die sich mit der Lesbarkeit der Welt als Text begnügt, hat bei aller Kritik an der modernen bürgerlichen Geschichtsschreibung mit dieser doch den Historismus gemein. Benjamin charakterisiert den Historismus als Universalgeschichte ohne »theoretische Armatur«; sein Verfahren ist »additiv« und »bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufüllen.« (Jenseits der Großen Erzählung sind es dann die kleinen Erzählungen, die Simpsons der Gesellschaft eben, deren homogene und leere Struktur mit Bedeutungen aufgefüllt wird. Das Muster der unendlichen Popgeschichte deckt sich mit dem historistischen Modell der bürgerlichen Kunstgeschichte.) »Der materialistischen Geschichtsschreibung ihrerseits liegt ein konstruktives Prinzip zugrunde. Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken sondern ebenso ihre Stillstellung. Wo das Denken in einer von Spannungen gesättigten Konstellation plötzlich einhält, da erteilt es derselben einen Chock, durch den es sich als Monade kristallisiert. Der historische Materialist geht an einen geschichtlichen Gegenstand einzig und allein

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da heran, wo er ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit. Er nimmt sie wahr, um eine bestimmte Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte herauszusprengen; so sprengt er ein bestimmtes Leben aus der Epoche, so ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk.«78 Diese Methode heißt Lesen; sie verweist auf die Verbindung zwischen Messianismus und Materialismus, auf die Konstellation von Schrift, Lesen und Sprache.79 – »Diese, wenn man so will, magische Seite der Sprache wie der Schrift läuft aber nicht beziehungslos neben der anderen, der semiotischen, einher. Alles Mimetische der Sprache ist vielmehr eine fundierte Intention, die überhaupt nur an etwas Fremden, eben dem Semiotischen, Mitteilenden der Sprache als ihrem Fundus in Erscheinung treten kann. So ist der buchstäbliche Text der Schrift der Fundus, in dem einzig und allein sich das Vexierbild formen kann … Da aber diese unsinnliche Ähnlichkeit in alles Lesen hineinwirkt, so eröffnet sich in dieser tiefen Schicht der Zugang zu dem merkwürdigen Doppelsinn des Wortes Lesen als seiner profanen und auch magischen Bedeutung.«80 – Die Schrift der Menschheit ist ihre Geschichte; sie zu lesen, heißt eben Jahreszahlen ihre Physiognomie zu geben: »Will man die Geschichte als einen Text betrachten, dann gilt von ihr, was ein neuerer Autor von literarischen sagt: die Vergangenheit habe in ihnen Bilder niedergelegt, die man denen vergleichen könne, die von einer lichtempfindlichen Platte festgehalten werden. ›Nur die Zukunft hat Entwickler zur Verfügung, die stark genug sind, um das Bild mit allen Details zum Vorschein kommen zu lassen …‹ Die historische Methode ist eine philologische, der das Buch des Lebens zugrunde liegt. ›Was nie geschrieben wurde, lesen‹, heißt es bei Hofmannsthal. Der Leser, an den hier zu denken ist, ist der wahre Historiker.«81 Lara Croft ist der Engel der Geschichte, der sich vom Sog des Sturmes befreit hat (durch die Sinnlichkeit der Erotik, nicht durch die Gewalt der Interpretation).82 Sie interpretiert nicht, sondern fügt die Fragmente von Zeichen zusammen, die zum Schlüssel zur Lösung des historischen Rätsels werden. Es ist der kulturindustrielle Mythos (den es bei ›Indiana Jones‹ und bei ›Das fünfte Element‹ genauso gibt), der auf die Idee der Universalgeschichte verweist: als messianische. Die Zeichen, die sich Lara Croft als Leserin zeigen, haben die Fesseln der Schrift gesprengt: es sind dialektische Bilder der messianischen Rettung. »Nur dialektische Bilder sind echt geschichtliche, d.h. nicht archaische Bilder. Das gelesene Bild, will sagen das Bild im Jetzt der Erkennbarkeit trägt im höchsten Grade den Stempel des kritischen, gefährlichen Moments, welcher allem Lesen zugrunde liegt.«83

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VIII. Im Lesen erscheinen die Spuren der Geschichte als dialektische Bilder.84 Jedes einzelne Element der Popkultur ist eine solche Spur. Diese Spuren sind die Hieroglyphen der Massenkultur; wir lesen sie wie ein Buch in einer Sprache, die wir halbwegs verstehen, ohne jedes einzelne Wort übersetzen zu können, ohne die Grammatik zu beherrschen. Etwas falsch verstehen schließt die Erkenntnis überhaupt nicht aus, im Gegenteil.

IX. Hieroglyphen im Hohlraum der Popkultur Die Mythologie des Lesens sucht im Abenteuer die Spuren der Zeichen, aus denen die Geschichte als Text bedeutet werden kann. Die Mythologie glaubt im Mythos selbst den Schlüssel zu finden, der die Pforte öffnet, durch die jene Kraft kommen wird, die die Welt verrückt: die alte Schriftrolle, das fehlende Teil des Amuletts, die Übersetzung der magischen Symbole, die Öffnung des Schreins, des Grals etc. Die Lösung des Rätsels liegt jedenfalls weit außerhalb der Gegenwart; die Spuren führen aber nicht in die Vergangenheit, sondern in die Mythologie selbst, aus der Geschichte heraus. Wer sich auf solche Abenteuer begibt, muss selbst zur mythologischen Figur werden und alle Kräfte – so die körperlichen, geistigen und sexuellen bei Lara Croft – zu übermenschlichen verwandeln, die nur noch in einem Raum bestand haben, der mit der gesellschaftlichen Ordnung von Geschichte nichts mehr zu tun hat (›Tomb Rider‹: die Möglichkeit der Befreiung der wirklichen Welt liegt in der virtuellen Realität). »Darum ist der Abenteurer auch das stärkste Beispiel des unhistorischen Menschen, des Gegenwartswesens. Er ist einerseits durch keine Vergangenheit bestimmt …, andererseits besteht die Zukunft für ihn nicht.«85 – Dagegen: der »wahre Historiker«, von dem Benjamin spricht: der historische Materialist, der die Geschichte selbst als Abenteuer deutet. Dieses Abenteuer der Geschichte tritt den Menschen in der Moderne als das urbane Leben entgegen; Benjamin beschreibt mit dem Flaneur gleichsam einen modernen Charakter, der den urbanen Raum als Buch zu lesen versteht. So betritt auch der kritische Theoretiker den sozialen Raum und versucht seine Ordnung zu verstehen: Benjamin spricht vom »Kolportagephänomen des Raumes«: »Kraft dieses Phänomens wird simultan was alles nur in diesem Raume potentiell geschehen ist, wahrgenommen. Der Raum blinzelt den Flaneur an: Nun, was mag sich in mir wohl zugetragen haben?«86 In der Kolportage erscheinen die Hieroglyphen der Massenkultur. Kolportage ist die Spur, die im Pop mündet; eine geschichtliche Spur des Rückfalls in die Mythologie. Ernst Bloch schreibt: »Kolportage hat in ihren Verschlingungen

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keine Muse der Betrachtung über sich, sondern Wunschphantasien der Erfüllung in sich; und sie setzt den Glanz dieser Wunschphantasie nicht nur zur Ablenkung oder Berauschung, sondern zur Aufreizung und zum Einbruch … Kolportage [ist] bewaffnetes Märchen, als höchst aktivierte ›Unterhaltung‹ an mythischen Mächten und vor allem als deren Sturz.«87 Für Bloch heißt das: Herausspielen des Bedrohlichsten, durch Verwendung der Gefahr selbst als Motiv der Rettung, etwa »Rettung … durch surrealistische Kolportage … Das Märchen wird beerbt von der Kolportage.«88 Solcher Rettung geht es allerdings nicht um Traditionsbewahrung und Kulturerbe im konservativen Sinne, sondern »gibt … Stoff zu einem marxistischen Problem«.89 – Kolportage »schiebt gleichfalls alte Stoffe ineinander und reproduziert sie, doch die Ritterromane, sogar Mythen, die sie umwandelt, sind in einen Wunschtraum eingesetzt, der alles in bar meint, in keinen aus Erinnerung und pathetischer Flucht. Der Kolportagetraum ist deshalb ein revolutionär fundierter, ein wetternder Bildnebel von befriedigender Rache und erfülltem Wunsch, mit viel Spannung, Handlung und großartigem Triumph am Ende.«90 – Als Kolportagetraum ist Lara Croft dann doch »Hieroglyphe im Hohlraum« (Bloch) der Popkultur.

X. Basteln im Kapitalismus »Die Geste des Klebens gehört also zu den Kriterien, die den Abfall in die Kultur einbeziehen wollen.« Vilém Flusser, ›Nachdenken über Collage‹ (in: Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Bensheim und Düsseldorf 1993, S. 244) »Die Mittel des Bastlers sind also nicht im Hinblick auf ein Projekt bestimmbar …; sie lassen sich nur durch ihren Werkzeugcharakter bestimmen – anders ausgedrückt und um in der Sprache des Bastlers zu sprechen: weil die Elemente nach dem Prinzip ›das kann man immer noch brauchen‹ gesammelt und aufgehoben werden.« Claude Lévi-Strauss, ›Das wilde Denken‹ (Frankfurt am Main 1973, S. 30) »Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken.« Martin Kippenberger (1984)

Es bleiben aber tragische Zeichen. Vor allem, weil die Popkultur mit noch ganz anderen Hieroglyphen voll ist, die nicht aus dem revolutionierten Märchen kommen, sondern aus dem Bodensatz der Reaktion. Die abenteuerliche Suche kann in die Städte hinein führen, oder in die Mythologie hinaus; meistens reicht es aber nicht zum Abenteuer, nicht einmal zur Suche, sondern nur zur Sehnsucht, die in der Popkultur ideologisch verkleidet wird. Zum Beispiel die Wiederkehr des Hakenkreuzes; zusammen mit dem Eisernen Kreuz und anderen Zeichenelementen des Nationalsozialismus benutzten

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es Rocker schon in den fünfziger und sechziger Jahren als naive und primitive symbolische Provokation – das eindeutige Symbol des Hakenkreuzes wurde vieldeutig, indem seine Bedeutungsfunktion negiert und das bloße Zeichen auf die Ausdrucksfunktion reduziert wurde. Manche Rockstars kokettierten mit der Hakenkreuzsymbolik, indem sie gerade in der vermeintlichen Provokation ihren Antinazismus beweisen wollten, das Hakenkreuz und ähnliche Zeichen schließlich entpolitisierten und kulturalisierten, Hitler zum ersten Rockstar erkoren oder zumindest Bewunderung für die Organisation der Massen im Dritten Reich empfanden; die politische Misere des Nazismus erschien gleichwohl kulturell als Hochleistung. Das Hakenkreuz galt nicht als das Symbol der Normalität, der Disziplinierung und terroristischen Kontrolle, sondern, im Gegenteil, als Zeichen des Nonkonformismus, gerichtet gegen den Spießbürger. – Nichtsdestotrotz wiederholte sich damit durchaus eine bestimmte ideologische Strategie des Nationalsozialismus, mit der gerade die Jugend gedrillt wurde: auch mit Abenteuer, Ernst Jünger und Indianer wurden die rebellischen Kräfte für den Frontkampf mobilisiert, dessen Schützengräben erst auf dem militärischen, dann auf dem kulturellen Schlachtfeld gezogen wurden. Mit den Rockern formierte sich eine SA der Langhaarigen, die mit Stahlhelm und sonstigen Devotionalien als Ordner, Schutztruppen oder einfach marodierende Rackets auftraten; aus den Rockern sind die Metal-Fans hervorgegangen, und nicht von ungefähr dürfte es kommen, dass ausgerechnet im Metal-Bereich neben okkulter und satanistischer Symbolik sich vor allem militärisch-nazistische Zeichen wiederfinden und die Leistungen des NS-Regimes besungen werden. Der Einwand, die Metal-Fans seien in der Regel harmlose, friedliche Musikliebhaber, wäre sozialpsychologisch an der Ich-Stärke der Fans zu überprüfen; nicht fern liegt jedenfalls die These, dass gerade in ihrer Schwäche sich der ohnmächtige Wunsch nach kollektiver, wenigstens symbolisch repräsentierter Gemeinschaft manifestiert. Genauso wie es absurd ist, Aggression und Gewaltbereitschaft jugendsoziologisch und massenkulturell lediglich auf den Metal und seine Varianten zu projizieren, statt ein Grundzug der Kulturindustrie darin zu entdecken, dass sie es vermag, die regressiven Potenziale zu binden, genauso ist es widersinnig, in der aggressiven Symbolik in diesem Segment der Popkultur einen spielerischen und pluralisierenden Umgang mit Gewalt zu sehen, oder diese Symbolik glatt zu leugnen. Gleichwohl kann auch die Negation der herrschenden Gewalt ebenso wie die Negation ihrer kulturellen Surrogate nicht gewaltfrei vollzogen werden; auch das steckt im militärischen Begriff der Avantgarde: Im Surrealismus kulminiert die Opposition der Hochkultur gegen diese selbst; in den späten siebziger Jahren, nach dem Scheitern der hochkulturellen ästhetischen Avantgarde, tritt mit dem Punk eine Art kulturindustrielle Avantgarde des Surrealen

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hervor und greift Massenkultur mit ihren eigenen Mitteln frontal an; auch darin manifestiert sich der Niedergang der Massenkultur, den diese mit dem Ende der sechziger Jahre ohnehin erfuhr; in den Siebzigern kulminiert im Punk ebenso wie in den parallelen Popstilen – vor allem Disco, Glam Rock – dann die endgültige Krise der Massenkultur. Das Hakenkreuz, das im Punk wieder auftaucht, ist jetzt schon Warenmarke, Fetisch, und war, wie Olaph-Dante Marx schreibt, »entgegen der konventionellen Deutung, etwas anderes als nur Provokation … es ging nicht darum, Spießer zu schocken, um sie zu demaskieren. Dies wäre eine typische Hippie-Absicht … Im Rahmen des Erscheinens von Punk auf der Fläche zeitgenössischer Inszenierungen trug auch das Hakenkreuz nur zum Zombie-Bild bei … Der Zombie war eine Modefigur der Spätsiebziger, die dem Punk den größeren Zusammenhang erschloß.«91 Vom Hakenkreuz bis zum Holocaustmotiv sieht Marx die Signatur einer »semiotischen Katastrophe«, die jedoch das verzerrte Spiegelbild der Sinnkrise der übrigen Symbolwelt abgibt: »Man beklagt den Verlust der ›wahren Empfindung‹, zu der selbst die archaischsten ›Dichter‹ nur noch stundenweise finden, den Verlust des Selbst, des Ich, des Anderen, des Du, der Welt, des Sex (des natürlichen Sex), des eigenen Gedankens, der Wahrheit, des Individuellen, des Originellen … In der Geschichte der Pop-Kultur, die schneller und direkter reagiert als andere Kulturen, entspricht Punk dem Gewahrwerden der semiotischen Katastrophe. Punk war dabei die letzte Mode, die einen Bezugspunkt hatte. Und der war die Beziehungslosigkeit selbst.«92 Mitunter schnitten sich die Punks Hakenkreuze in die Haut; anders als die Rocker demonstrierten sie damit nicht die sadistische Stärke, sondern inszenierten sich masochistisch als Opfer, gebrandmarkt von der »faschistoiden Normalität« als Aussatz und Abschaum: Man wollte gehasst werden. Das Hakenkreuz trug nicht zu ihrer Verschönerung bei, sondern war Indiz der Ästhetik des Häßlichen; ein Nihilismus einer nur noch als nihilistisch zu ertragenden Ordnung – das meinte im Punk das Wort »Chaos«, bei dem um das A der Kreis zum Symbol der Anarchie gezogen wurde; im Übrigen auch eine Wahlverwandtschaft zum Surrealismus, der seine Vorstellung von Freiheit den Ideen Bakunins entlieh: Freiheit ist Ordnung ohne Herrschaft … Punk ist eine »negative Mythologie«, ebenso wie der Surrealismus eine war; während der Surrealismus sich auf den Mythos der bürgerlichen Hochkultur und seine überhöhte, affirmative Sinnproduktion bezog, bezieht sich Punk auf den Mythos Pop. Wie der Surrealismus es als politische Kunst nicht vermochte, eine Kunst der Politik zu entfalten, so blieb auch der Punk beim ›Soundtrack zum Untergang‹. Im Nihilismus und seiner symbolischen Prägnanz durch Hakenkreuze und sonstige Zeichen des Terrors entdeckten einige Vertreter der Cultural Stu-

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dies keineswegs nur die nihilistische Reaktion auf den Sinnverlust der Krise, sondern ebenso den Versuch, Sinn zu rekonstruieren: im spielerischen, umwertenden und pluralisierenden Umgang mit dieser Symbolik. Die Ästhetisierung des Alltagslebens erschien dabei mitnichten (ausschließlich) als Taktik kultureller Hegemonie, sondern als subkulturelle Subversion der bestehenden Zeichenordnung von Unten; in diesem Sinne wurde der Begriff »Stil« als Strategie von Jugendlichen verstanden, die durch eine »differenzierende Selektion aus der Matrix des Bestehenden« es schöpferisch zu »Transformationen und Umgruppierungen des Gegebenen in ein Muster [bringen], das eine neue Bedeutung vermittelt, einer Übersetzung des Gegebenen in einen neuen Kontext und seiner Adaptation.«93 In Stichworten – Dick Hebdiges Defintion von Stil:94 »Stil als absichtliche Kommunikation.« Hinter den Stilen aller »auffälligen Subkulturen« stecke der »primäre Sinn, einen bedeutungsvollen Unterschied (und parallel dazu eine Gruppenidentität) mitzuteilen.« – »Stil als Bricolage.« »Die radikalen ästhetischen Praktiken von Dada und Surrealismus (Traumarbeit, Collage, Ready Mades) sind hier sicher relevant. Sie sind die klassischen Formen anarchischer Diskurse …, ein Angriff auf die Syntax des Alltagslebens«, das heißt »man muß das Objekt mit einem neuen Namen verkoppeln und bezeichnen und so von seinen Zwecken befreien.« So gehe der Bricolageur vor, zum Beispiel im Punk. – »Stil als Empörung: empörender Stil.« Die Etablierung und gleichzeitige Negierung einer jeden Ästhetik des Hässlichen. Vermeintliche Antimode und Bildersprache des Abartigen oder des als abartig Geltenden. Ein für die Punkbewegung »typischer Hang zu absichtlichen Schändungs- und Entweihungsaktionen.« Das Hakenkreuz erscheint als Beispiel für die Anwendung der Theorie der Stilschöpfung prekär, fast höhnisch. Denn das Hakenkreuz ist nicht einfach Beispiel, sondern Manifestation popkultureller Stilbildungsprozesse selbst; zudem mag das Hakenkreuz kulturalistisch in andere Bedeutungskontexte gestellt werden (etwa: als Sonnenzeichen, religiös, als Provokation, als Stigmatisierung gegen Nazismus etc.). – Dies unterstellt jedoch, dass a) mit der symbolischen Umcodierung auch der materielle Bezug des Zeichens, überhaupt die Materialität des Zeichens vollständig aufgehoben oder zumindest aufgeklärt werden kann, dass b) die Stilschöpfenden tatsächlich bewusst an diesem Aufhebungsund Aufklärungsprozess interessiert sind. Ad a): Weder ist das Hakenkreuz – anders als etwa Hammer und Sichel, der rote oder schwarze Stern, die Friedenstaube, das Anarchiezeichen – aus seiner historischen Materialität entbindbar, weil es als nazistisches Symbol an die regressive Logik des Nazismus gebunden bleibt, die im geschichtlichen Bewusstsein mit aufgehoben werden müsste. Anders als Hammer und Sichel, die als diffuse Sympathieerklärung für alle möglichen Varianten des Sozialismus getragen werden können, oder als ironi-

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scher »Mode-Gag«, kann das Swastika nicht einmal als archaisches Sonnensymbol getragen werden; das Sonnensymbol ist kein utopisches Zeichen, sondern in der Symbolik bereits durch seine regressive Logik konstituiert. Das Hakenkreuz provoziert durch die scheinbare Erinnerungslosigkeit seiner Träger, gleich ob antifaschistischer Punk oder Naziskin, anders als ein roter Stern, dessen Provokation nur funktioniert, wenn er expliziter Ausdruck der Erinnerung ist, etwa an die Möglichkeit des Kommunismus. Und es gibt selbst im einfachsten, wahrscheinlich sogar im modischen, warenfetischistisch verzerrten Gebrauch des roten Sterns immer noch den Rest der sozialistischen Utopie, während mit dem Hakenkreuz keineswegs der Nationalsozialismus und sein Terror erklärt wird, geschweige denn erkannt. Ad b): Es scheint beim – wie auch immer – provokativen Gebrauch des Hakenkreuzes nur sehr oberflächlich um ein geschichtliches Bezugsbewusstsein zum Nazismus zu gehen; es ist weder Warnung, noch Mahnung, noch überhaupt Teil antifaschistischer Aufklärungsarbeit; es kann ja nur provozieren, wenn es eben andeutet, sich dieser geschichtlichen Reichweite gar nicht bewusst zu sein (anders zum Beispiel beim antifaschistischen Symbol des zerschlagenen Hakenkreuzes). Das Hakenkreuz also als Teil des warenförmigen Erlebnisangebots, wobei hier ein geschichtlich belastetes Zeichen zur Mode wird, unabhängig von seiner unmittelbaren Distribution durch die Kulturindustrie. Am Beispiel Hakenkreuz mag überprüft werden, ob die Kategorie ›Stil‹, die sich auf Claude Lévi-Strauss’ Begriff der Bricolage stützt, als kritische Theorie der popkulturellen Zeichenordnung überhaupt anwendbar ist, ob die mit dem Stilkonzept gemeinten Deutungsverfahren der Cultural Studies nicht in die assoziative Beliebigkeit abrutschen. – Es gibt Hieroglyphen der Massenkultur, denen kein Erkenntnischarakter zukommt; das, was in ihnen zu lesen ist, ist nichts weiter als die Ideologie des Terrors, den sie bedeuten.

XI. Die Verzückung »Gleichwohl ist der folgende begriffliche Stellenwechsel merkwürdig: im alten Mythos ist der Räuber aktiv, er will seine Beute an sich reißen, er ist Subjekt des Raubes (dessen Objekt eine bekanntermaßen immer passive Frau ist); im modernen Mythos (dem der leidenschaftlichen Liebe) ist das Gegenteil der Fall: der Räuber will nichts, tut nichts; er ist reglos (wie ein Bild), und das geraubte Objekt ist das eigentliche Subjekt des Raubes.« Roland Barthes, ›Fragmente einer Sprache der Liebe‹ (Frankfurt am Main 1988, S. 128)

In ›Fragmente einer Sprache der Liebe‹ beschreibt Roland Barthes die Verzückung als Liebe auf den ersten Blick: »Sie überkommt mich, ohne dass ich mich dessen versehe, ohne dass ich es will, ohne dass ich auch nur den gering-

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sten Anteil daran habe.«95 Diese Verzückung bezeichnet, sublimiert, das theoretische, nicht-positivistische, sondern emphatische Verhältnis zu den Dingen (Bloch: vom Ding an sich zum Ding für uns – das ist die konkrete Utopie, das ist ihre Verzückung). Es scheint aber, dass die Verzückung nicht nur einer geliebten Person gelten muss; sie kann auch auf die Attraktionen, die Bezauberungen, die Faszinationen, die Wunder, die Unerklärlichkeiten der Welt gerichtet sein: als Metaphysik der kritischen Theorie (und in dieser Weise entspricht die Verzückung der »Haltung«, als die Max Horkheimer die kritische Theorie bezeichnete). Barthes unterscheidet u. a. »Schema«, »ein Bild«, »eine Situation«. – Schema, so startet das Imaginäre: »Beim faszinierenden Bild ist, was mich (wie ein lichtempfindliches Papier)96 beeindruckt, nicht die Addition seiner Details, sondern diese oder jene Wendung.«97 Ich werde abrupt, plötzlich vom anderen berührt, bin von ihm hingerissen (ein Lächeln, eine Bewegung, eine Zartheit des Ausdrucks etc.). »Was kümmert mich also die Ästhetik des Bildes? Irgend etwas passt sich genau meinem Verlangen an (das ich gar nicht kenne); ich nehme also nicht die geringste Rücksicht auf Stil. Beim Anderen ist es bald die Übereinstimmung mit einem großen kulturellen Modell, die mich hinreißt … Der Zug, der mich ›trifft‹ (wiederum ein Jagdausdruck), bezieht sich auf ein Stückchen Praxis, auf den flüchtigen Anflug einer Haltung, kurz, auf ein Schema (schema: das ist der Körper in Bewegung, in Situation, im Leben).«98 – Ein Bild: Etwas als Ganzes entdecken und deshalb, sagt Barthes, mit den Augen verschlingen. »Ist das Bild immer visuell? Es kann auch klanglich, das Guckloch kann auch sprachlicher Art sein: ich kann mich in einen Satz verlieben, der mir gesagt wurde.« Barthes nennt dies eine »Wendung«, »die in mir heimisch werden wird wie eine Erinnerung.«99 – Die Situation, die Überraschung, das Unerwartete: »Was mich fasziniert, mich hinreißt, ist das Bild des Körpers in einer Situation. Was mich erregt, ist eine Silhouette bei der Arbeit, die mir keinerlei Aufmerksamkeit schenkt.«100 Es ist die Unschuld des Bildes; aber: »ich überrasche den anderen, und gerade dadurch überrascht er mich: ich war nicht darauf vorbereitet, ihn zu überraschen.«101 – Die kritische Theorie des dialektischen Bildes, das gewaltige Risiko: »Mich plötzlich einem unbekannten Bild unterworfen zu haben (und die ganze rekonstruierte Szene wirkt wie die prunkvolle Montage eines Nichtwissens).«102 Ernst Bloch spricht vom »Dunkel des gelebten Augenblicks«.103 Und Bernadette La Hengst fasst es so: »Der beste Augenblick in deinem Leben ist gerade eben jetzt gewesen«,104 also: Reflex auf das Jüngstvergangene, von dem Benjamin sagt, er sei – als »elegische, hingerissene Betrachtung des Jüngstvergangenen – dessen revolutionäre Explosion.«105

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Pop Mythos Pop Zur Konstruktion von Subversion »Komm mit ins Abenteuerland …« Pop und Mythos als symbolische Formen »Komm mit, komm mit mir ins Abenteuerland. Auf Deine eig’ne Reise, komm mit mir ins Abenteuerland, der Eintritt kostet den Verstand. Komm mit mir ins Abenteuerland und tu’s auf Deine Weise. Deine Phantasie schenkt Dir ein Land, das Abenteuerland.« Pur, ›Abenteuerland‹ »Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel der Moderne; das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert; Explosion ist eine ihrer Invarianten. Antitraditionalistische Energie wird zum verschlingenden Wirbel. Insofern ist Moderne Mythos, gegen sich selbst gewandt; dessen Zeitlosigkeit wird zur Katastrophe des die zeitliche Kontinuität zerbrechenden Augenblicks; Benjamins Begriff des dialektischen Bildes enthält dies Moment.« Adorno, ›Ästhetische Theorie‹ (GS Bd. 7, S. 41)

Die als Popkultur gefassten Phänomene und Strukturbeziehungen lassen sich als ein dynamischer Ausdruckszusammenhang beschreiben, in dem die bestehende gesellschaftliche Ordnung des Spätkapitalismus in symbolischen Formen des kollektiven wie individuellen Bewusstseins der Menschen sich manifestiert. Diese symbolischen Formen sind, nach Ernst Cassirers kulturanthropologischer Sozialphilosophie, als Mythos, als Sprache und schließlich als Kultur zu verstehen; sie korrespondieren ferner mit spezifischen menschlichen Erfahrungen als Typen von symbolischer Aktivität, »als Sinngebung innerhalb eines sinnlichen Substrats.«1 Mit Bezug einerseits auf Goethe, über Schelling, Hegel und Vischer, andererseits auf Humboldt und Herder definiert Cassirer: »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.«2 In dieser Weise sind nicht nur Mythos, Sprache, Kunst oder Religion symbolische Formen im Sinne einer »einheitlichen und allgemeingültigen Struktur«, sondern durchaus auch, in den verschiedensten Dimensionen und Facetten, die Popkultur. »Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbst-

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ständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.«3 Symbolische Formen sind demnach »universelle, intersubjektiv gültige Formen oder Grundformen des Verstehens der Welt«.4 Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Substanzbegriff und Funktionsbegriff, mit der Cassirer die »logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten, was den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffs bildet«,5 darstellt, führt er in seinem posthum 1946 erschienenen Spätwerk ›Der Mythus des Staates‹ aus: »Es ist ein gemeines Charakteristikum aller symbolischen Formen, daß sie auf jeden beliebigen Gegenstand angewendet werden können. Nichts ist für sie unzugänglich oder undurchdringlich: der spezielle Charakter eines Objekts beeinflußt ihre Aktivität nicht.«6 Insofern Pop eine spezifische Strukturbeziehung von menschlicher Erfahrung, Welterklärung, Sprache, Kunst und schließlich Mythos darstellt, kann Pop eben als mehrschichtige Überlagerung symbolischer Formen begriffen werden. Als moderne Mythologie ist die Popkultur auch ›Arbeit am Mythos‹ (Hans Blumenberg), kulturelle Deutung der Welt als praktischer Verstehensprozess, Sinnlichkeit als Sinn erzeugende, also produktive Aktivität, ganz gleich, ob es sich um die weitläufigsten Popmythen handelt, um die Mythen der Authentizität, der Originalität, der Subversion und Dissidenz, die Mythen der Identität und Differenz, die Mythen der Popstars, der Pophelden und der Popangestellten, die Mythen der Popjobs, der Popökonomie und der Mode, die Mythen der Jugend und Subkultur, um die Mythen der Drogen, des Konsums und der Verweigerung, überhaupt um den Mythos Popgeschichte, um den Popdiskurs, die Poplinke, um den Mythos Popmythos – oder die engeren, speziellen, spezifischen und parziellen, interessanten oder bedeutungslosen und langweiligen, lustigen oder gefährlichen Mythen: Blues, die Gitarre, Carlos Santana, ›Garota de Ipanema‹, deutsche Schlager (nach 45), the Myth of Rock, Punk, Techno, the Mothership Connection, die Roland 303 und 606, der DX7 und die Werksounds bei Modern Talking, deren Charterfolge, Technics-Plattenspieler, Hammond B3 beziehungsweise C3 und Korg MS20, Hollywood, Bollywood, Woodstock und Wutzrock-Festival, Mythos Marilyn Monroe und Mythos Phil Ochs, Swingjugend, alte Reggaeplatten, Schellack, Velvet Underground, frühe Genesis, Led Zeppelin, Curtis Mayfield, Nina Simone, DDR-Rock, Politrock und Rio Reiser, die ganz frühen Beatles, die ganz späten Beatles, die nie veröffentlichten Studiotapes der Beatles, Freddy Mercury, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Bootlegs, KLF, Copy kills Music, Secret Gigs, Konzerte überhaupt, riesige Plattensammlungen, schlechte Plattensammlungen, The Buggles, Mtv, Zwobot, Neuerscheinungen, Club Culture, Nachtleben, speziell die Szenen Köln, Berlin, HipHop in Hamburg … Demnach ist es so: »Der Zusammenschluss von ›Pop‹ und ›Mythos‹ umfasst ein

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weites Spektrum archetypischer Sinnkonstruktionen. Dazu gehören die zahlreich anzutreffenden Todes- und Erlösungsmotive, archaische Körper- und Ekstaseerfahrungen, Bricolagen mit religiösen und pseudoreligiösen Symbolen und schließlich die Tendenz zur Selbstmythisierung des Pop, wie man am Phänomen der Beatles sehen kann. Nicht zuletzt gehören auch die in der Regel medial vermittelten Biografien sowie das Starwesen im Allgemeinen zum Beziehungsfeld Pop und Mythos. Und schließlich wird … auch der geografische Raum, in dem sich Pop ereignet, zum mythischen Ort.«7 Popkultur, Massenkultur generell ebenso wie speziell populäre Kunst, das realkapitalistische Alltagsleben können in differenzierter Weise als Mythos und damit als symbolische Form verstanden werden. Zudem stellt der Pop (das Popfeld, die als Pop bezeichneten Phänomene) Komplexionen sich überlagernder symbolischer Formen dar: im Pop kristallisieren sich bestimmte Mythen der Moderne, nämlich zum Beispiel »Kultur«, »Lebenswelt«, »Urbanität«, »Technik«, »(sozialer) Fortschritt«, »Entertainment«, »Kunst«, »Kitsch«, »Musik«. Als Mythos kann einmal der substanzielle Ausdruckszusammenhang, das allgemeine dynamische Strukturverhältnis »Popkultur« respektive »Popgesellschaft« bezeichnet werden, zum anderen die spezifischen funktionalen Elemente der Popkultur: bestimmte Bands, Konzerte, Festivals, Popstars etc. – Ferner ist im Sinne einer kritischen Theorie der Popkultur allerdings zu klären, ob es sich tatsächlich um eine analytische kategoriale Bestimmung des Mythischen handelt, um metaphorische Analogien (Pop ist wie ein Mythos, manchmal wie Magie, manchmal wie ein Märchen), oder um eine synonymische Beschreibung für Ideologie, wobei nämlich allein die Rede vom Mythos bereits die Funktion haben kann, die ideologischen Festsetzungen zu verlängern (insofern macht es etwa einen Unterschied, ob man das vermeintliche Subversionspotenzial des Pop »Mythos« oder »Ideologie« nennt).

Star – Meet the Boys! »›Die fünf sind ja soo lieb! Das ist ja irre!‹ Mit strahlendem Gesicht und roten Backen schwärmt Sarah (14) aus Stade vom Traumtreff der Zeitschrift ›Hit!‹ mit den Backstreet Boys. Für Sarah ging ein Traum in Erfüllung: Sie traf die Backstreet Boys persönlich – eine Superband zum Anfassen! … ›Das war der beste Tag, den man sich nur vorstellen kann!‹ strahlt Sarah nach dem Interview, den Tränen nahe. ›Ich habe mit Nick geredet, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Zur Begrüßung gab er mir gleich ein Küsschen, und zum Abschied hat er mich noch einmal ganz lieb in den Arm genommen. Die Boys sind total natürlich und überhaupt nicht abgehoben. Es war ein Traum!‹« Susanne Baumann, ›Das große Backstreet Boys Fanbuch‹ (Düsseldorf 1996, S. 50)

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»Tag für Tag werden neue mythologische Gottheiten geboren, die sich bemühen, uns zu hypnotisieren, Tag für Tag bieten sich uns neue kurzlebige Superstars als Verhaltensvorbilder an.« José Ragué Arias, ›Pop. Kunst und Kultur der Jugend‹ (Reinbek bei Hamburg 1978, S. 35)

Pop als Verlängerung und Verdichtung, gleichzeitig als dialektische Aufhebungsbewegung der Kulturindustrie ist von jeher vom Mythos des erfolgreichen Stars behaftet; der Star ist die Grundfigur des modernen mythischen Bewusstseins, in der Mythologie des Stars verschmelzen die Formen bürgerlicher Subjektivität, der verdinglichte Arbeitsmensch und der geniale, autonome, kreative Künstler. Der Star stammt aus einfachen Verhältnissen; die Prototypen sind die Crooners, die Schauspieler, die Göttin Greta Garbo, der Gitarrengott Eric Clapton, die Popmythologie »von Mozart zu Madonna«.8 Mythos ist das Erfolgsversprechen, dass jeder und jede es schaffen kann, obzwar der Erfolg des Stars allerdings auf der Erfolglosigkeit der anderen basiert. Der Star lebt von der Durchschnittlichkeit, der er selbst ein Vorbild gibt. »Zur Kultur der Stars gehört als Komplement der Prominenz der gesellschaftliche Mechanismus, der, was auffällt, gleichmacht.«9 Der Star geriert sich als aufgeklärtes, demokratische Idol; er tritt öffentlich in Erscheinung auf Wohlfahrtsbällen, bei Benefizveranstaltungen, in Talk-Shows; wesentlicher Zug seiner Ernsthaftigkeit ist sein Engagement, dass er mitredet. Als Mensch mag er liberal eingestellt sein; als bloße Funktion des Profitmotivs der Kulturindustrie hat die Maske des Wortführers aus der Unterhaltungsbranche schematisch Gemeinsamkeiten mit dem autoritären Agitator. – Der Agitator »schwelgt … in der Beschreibung seiner selbst als ›kleiner Mann‹, der wie sie [i.e. seine Anhänger, Anm. R.B.] denkt, fühlt und lebt. Im Bereich der Agitation übernimmt die Betonung der Gefühls- und Gedankennähe die Funktion der Identität der Interessen … Einerseits seine Schwäche bekennend, andererseits seine Stärken andeutend, kann er gleichzeitig jammern und prahlen.«10 Dieser Mythos als Ideologie der Kulturindustrie, als Ökonomie der Sinnproduktion, hat sich paradox mythisch verfestigt durch den Versuch, ihn zu entzaubern: In der Exposition seiner fetischistischen Logik durch die Pop-Art, durch die Serialisierung, deren berühmtestes Beispiel sicherlich Andy Warhols ›The Twenty-Five Marilyns‹ (1962) ist. Der Mythos verlängert sich, indem seine ideologische Funktion, die symbolische Form überhaupt, vom produktiven und alltagskulturellen Bedeutungssystem in ein ästhetisches Bedeutungssystem transformiert wird: Monroe ist nun die Verdoppelung des Mythos als Filmstar und als Kunstwerk, die Verdichtung des Mythos, weil das PopKunstwerk auf der massenkulturellen Inszenierung des Filmstars basiert und die Standardisierung der kulturindustriellen Massenprodukte eine wesentliche ästhetische Strategie der Popkultur darstellt: also ein für die Moderne bezeich-

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nendes Ineinandergreifen von kulturellen und ästhetischen Strategien.11 Die ästhetischen Strategien sind aber keineswegs bloß affirmative Verlängerungen der massenkulturellen Verfahrensweisen, sondern gleichzeitig der merkwürdige Versuch, den Popmythos durch Ironie, Pastiche, Parodie, Camp und Kitsch zu sprengen, zum Platzen zu bringen (›pop‹ = platzen) und insofern durch eine ästhetische List aufzuklären.

Gott ist mein DJ (oder mein Co-Pilot). Mythen der Popkultur, Mythos der Popkultur Die Pop-Art demaskiert den Star, nicht indem sie die Maske abreißt, sondern indem sie die Maske perfektioniert, überzeichnet, mit Mitteln der Ästhetik nochmals inszeniert. Solche Aufklärung schlägt in Mythologie zurück. Die Pop-Art ist ein Reflex auf die Massenkultur und ist damit selbst Moment der Dialektik der bürgerlichen Kultur, die zugleich ausgeblendet wird. Popkultur kennt immer nur die Gegenwart, die Unmittelbarkeit: die Saison. Pop ist eine Abfolge von Moden, die hier und da aktualisiert werden können. Die Sinngebung, die der Pop den Konsumenten gewährt, versinnlicht die Ware, lädt sie mit Bedeutung auf, ästhetisiert die abstrakte Verwertungslogik – und verkleidet sie damit. In der Mythologie der Popkultur wird der Pop selbst zur Ökonomie, zu Basis, der Kapitalismus, das Geld und der Tauschverkehr zu Überbauphänomenen. Die Geschichte, auf die der Popmythos rekurriert, ist nicht die Realgeschichte kapitalistischer Vergesellschaftung, die das 20. Jahrhundert grausam und totalitär zeichnete, sondern der Mythos der Kulturgeschichte selbst. Es gibt keine Vergangenheit, nur altmodische Klamotten, die keiner mehr trägt, Musik von gestern, die keiner mehr hört, oder die gute alte Zeit, das Damals. Das historische Archiv der Popkultur ist das Surrogat des Warentauschs: der Flohmarkt. In der Popkultur gibt es die Aufarbeitung der Moden, das Retro der Jahrzehnte: Fünfziger, Sechziger, Siebziger, Bashing der Achtziger, Nachleben der Neunziger. Popkultur reproduziert selbst den Ursprungsmythos, dass sie wesentlich ein Produkt der Nachkriegszeit sei, der vermeintlich demokratischen Phase. Die Ästhetisierung der Politik ist zugleich die politische Anästhesie; die Popkultur inszeniert sich als totalitäres, aber liberales System, in dessen Schatten der korporative Kapitalismus wütet, notfalls mit diktatorischen und militärischen Mitteln. Popkultur ist Spurenbeseitigung, ästhetische Entfernung geschichtlicher Wundmale kapitalistischer Vergesellschaftung, eine kulturalistische Schönheitschirurgie: Die gegenwärtige Latin-Mode mit ihren Electro- und Bossavarianten interessiert sich kaum für die Militärdiktaturen im Südamerika der Siebziger, weil in dem popmythologischen System der Sinngebung überhaupt keine Raster vorgesehen sind, mit

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denen auf soziale Strukturen jenseits der kulturellen Sphäre zu reflektieren wäre; weil der mythische Bezug symbolisch bleibt. Die Auseinandersetzung mit den dreißiger und vierziger Jahren blieb gleichsam im mythologisch-ideologischen Zugriff auf die faschistische Symbolik stecken: die Provokation des Hakenkreuzes, die Metaphorisierung des Holocaust, Hitler als der größte Popstar, unterminiert durch den pseudoradikalen oder bloß reklametauglichen Anschluss an die NS-Ästhetik, an Leni Riefenstahls inszenierten Herrenmenschen bei Rammstein oder in älteren C&A-Werbespots der Neunziger. Diese Aus- und Überblendung von Geschichte ist nicht der besondere Charakter der mythischen Struktur der Popkultur, sondern Kennzeichen des Mythos der Moderne, der in der Popkultur seine spezifische Kulmination erfährt. Die Verzerrungen, in denen in den einzelnen Mythen der Popkultur die Geschichte, vor allem die der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erscheint oder vielmehr nicht erscheint, sind einerseits Funktion des Mythos der bürgerlichen Kultur, andererseits Resultat eben dieses Mythos, der von seiner realgeschichtlichen Entfaltung, zu der das kapitalistische Zeitalter insgesamt gehört, gar nicht zu trennen ist. Einerseits besteht die Dialektik der Popmythen in der permanenten Selbstmystifizierung der Popkultur, andererseits ist die Popkultur selbst ein Effekt der Dialektik der Aufklärung, ein Effekt der als Modernisierung beschriebenen Prozesse, also Höhepunkt, Wendepunkt, eben Krise und Ausdruckszusammenhang der Krise der entfalteten kapitalistischen Verwertungslogik: Um- und Rückschlag in den Mythos. Dass Popkultur zugleich als Geschichte eines Mythos und als Mythos der Geschichte erscheint, rührt am grundsätzlichen Widerspruch von Mythos und Geschichte: »Strenggenommen sind Mythos und Geschichte nicht miteinander zu vereinbaren. Jener schreibt vor, nichts wahrhaft Neues könne geschehen, denn die Menschen seien gar nicht imstande, in die Wirkungen des Schicksals einzugreifen, während im Begriff der Geschichte die Möglichkeit menschlicher Einflußnahme auf die Ereignisse implizit enthalten ist … Mythen geben Antworten auf die Frage nach dem Warum der faktischen Beschaffenheit der Welt, wenn empirische Ursachen und Wirkungen nicht zu erkennen oder aus der Erinnerung entschwunden sind.«12 Im bürgerlichen Zeitalter geht der Mythos nicht nur eine Beziehung mit der Geschichte ein, sondern die Geschichte selbst wird als eine mythische Erzählung entworfen: Dies geschieht maßgeblich durch die paradoxe mythische Verklärung der geschichtlichen Elemente des Neuen, des Fortschritts, der Revolution und Veränderung, also der historischen Kräfte, die eigentlich vom Mythos ausgeschlossen werden. Das mythische Schicksal wird in den Geschichtstheorien des bürgerlichen Zeitalters zum Automatismus des Fortschritts: Geschichte wird zu einer »naturgeschichtlichen« Konstellation, wie Susan Buck-Morss

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mit Walter Benjamin bemerkt. Die Idee des sozialen Fortschritts, dass die Welt vernünftig werde, realisiert sich bloß in der fortschrittlichen Technik, die das Leben rationalisiert, damit wird aber Vernunft selbst zu einem anschaulichen Verfahren reduziert. Diese Idee manifestiert sich in der Vorstellung von Kultur, vor allem in der Massenkultur – Begriffe, die ihre heutige Bedeutung im 19. Jahrhundert erhielten. Was sich in dieser mythischen Geschichtsauffassung als Fortschritt, als Kultur niedergeschlagen hat, was sich im 19. Jahrhundert in den Weltausstellungen und Kaufhäusern, in den Varietés und Straßencafés, im Städtebau und der Politik konkretisierte, ist allerdings nicht bloß Ideologie, sondern der geschichtliche Ausdruckszusammenhang einer geradezu mythischen Geschichtslogik, die dem zugrunde liegt: die Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise. Die Produktionsverhältnisse bleiben aber verborgen, die Menschen treten nicht als Warenproduzenten auf, sondern als Konsumenten und solche, die vom Konsum ausgeschlossen sind. Auch dadurch wird verdunkelt, dass der Konsum auf derselben Logik wie die Produktion gründet, nämlich auf der Tauschwertlogik. War in vorbürgerlichen Gesellschaften der Mensch vom Schicksal, von der Ideologie der Kirche bestimmt, so ist er als aufgeklärter, von der Religion befreiter Bürger und Prolet nur scheinbar autonom, nämlich vielmehr durch die Produktionsverhältnisse bestimmt, die ihm aber fetischistisch verkehrt erscheinen. Man kann Walter Benjamins Versuch, Marx’ Kritik der Fetischverhältnisse für eine Theorie der historischen Erfahrung zu aktualisieren, um so die mythisch verzerrte Geschichtsauffassung zu sprengen, auf den Mythos der Popkultur übertragen. So gehört zum allgemeinen Mythos der Popkultur die Vorstellung vom technischen Fortschritt, beziehungsweise vom sozialen Fortschritt, der sich in der Technik ausdrückt (mit dem Sound-System gegen das Scheißsystem). So gehört zum allgemeinen Mythos der Popkultur die Vorstellung einer Popgeschichte, die sich unabhängig von der Produktionslogik, Politik, Gesellschaft entfaltet (sie kann oder muss dann als linke Popkultur an Bewegungen, an die Politik andocken …). So gehört schließlich zum allgemeinen Mythos der Popkultur die Vorstellung, dass Mode, Konsum oder Style Formen von Praxis darstellen, die tendenziell subversiv oder dissident seien. So gehört zum allgemeinen Mythos der Popkultur die Vorstellung, dass die Geschichte durch das Neue gemacht wird, durch die Zukunft, die in Form von Neuwaren in die Gegenwart eindringt: neue Sounds, die neue Radiohead, die neue Konsole, die neue Kollektion, die neue Systemsoftware, das Update. So gehört schließlich zum allgemeinen Mythos der Popkultur die Vorstellung, dass das Popsubjekt sich in den Kulturwaren wiedererkennt, seine Erfahrung im Konsum artikuliert. Die Popmythen, vor allem die als subversiv reklamierten Popmythen, sind die Ritualisierung des Popmythos; die Ritualisierung ist die Regression,

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auch besseren Wissens zum Beispiel in Plattenkritiken und Bandvorstellungen immer wieder auf die Fiktion eines Damals zu rekurrieren, wobei sich das vermeintlich subversive, dissidente Damals zur subversiven, dissidenten Fiktion verschiebt. Ritualisierung ist Angleichung, Mimikry an das Erzählte. Ebenso wie der Mythenerzähler Homer selbst zum Mythos und die Märchentante selbst zur Märchengestalt wird, ebenso wie Homer in seinem dramatischen Bericht Odysseus immer ähnlicher und die Oma immer mehr sich der guten Hexe angleicht, von der ihre Gute-Nacht-Geschichte handelt, entspricht der Popjargon immer mehr dem Gestus, die für eine Band, eine Nische, ein Jahrzehnt etc. konstatiert wird. Das ist keineswegs eine operative Dysfunktionalität des kritischen Popdiskurses, sondern die diskursive Funktionale der Popkultur überhaupt, und hat mit der Struktur mythologischer Sinngebung zu tun (die sich in den Formen bürgerlicher Öffentlichkeit, in den Medien, im Journalismus verlängert): Der Popmythos und sein Jargon sind tautologisch. Roland Barthes sagt, der Mythologe sei selbst zur Metasprache des Mythos verurteilt und laufe deshalb »unaufhörlich Gefahr, das Wirkliche, das zu beschützen er beansprucht, zum Verschwinden zu bringen«.13 Wer schreibt, dass die Pet Shop Boys eine gute Popband sind, beansprucht gleichzeitig das Urteilsvermögen für sich, entscheiden zu können, was eine gute Band ist – und legitimiert sich damit als Kenner der Pet Shop Boys; wer schreibt, das Tanzen zu Technomusik eine Form von Widerstand sei, definiert nicht Tanzen und Technomusik, sondern ›Widerstand‹ – und erklärt sich damit selbst für ›widerständig‹; wer bestimmte Alternative-, Hardcore- und PostrockBands dem Diskursfeld der Poplinken zuordnet, begründet damit nicht, warum diese Bands poplinks seien, sondern postuliert derart sein Verständnis von ›poplinks‹ – und dass er selbst ›poplinks‹ sei. Jedenfalls beschreibt der Poptheoretiker nicht nur Popkultur, sondern verwandelt sich und die Theorie selbst in Pop. Der Popjournalismus funktionierte nicht, wenn der Journalismus über den Pop nicht selbst Pop wäre. Die Popmythen machen aus dem Mythos Pop. Die Diskursform der Popmythen ist sozusagen fanatisch, nämlich ganz im Sinne des Fans, des Fanverhaltens. Fan (Gegenstück zum Star). – Der Fan (der echte Fan) verkleinert sich seine Welt zu einem Riesenuniversum, in dem Raum und Zeit vollständig durch seinen Lieblingsmythos besetzt werden, zumeist symbolisch (Poster, Aufnäher, Zeichen auf dem Rucksack etc.) oder diskursiv (Wissen, Mitreden, den Mythos konsumieren). Der Fan reproduziert den Mythos, indem er dessen diskursive oder symbolische Ordnung in seine Ordnung integriert. »Nachdem ich die neue Platte von XY gehört habe, macht alles wieder Sinn.« Dass viele Linke sich über bestimmte Bands und Jugendkulturen politisiert haben, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass den meisten Linken ›Politisie-

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rung‹ lediglich bedeutet, ›politische‹ Musik zu hören (das unterscheidet den Grönemeyer-Fan, den Westerhagen-Fan leider nicht von dem Poplinken, dessen politische Selbstverortung sich ebenfalls auf seine Plattensammlung, sein Kunstinteresse und eine eilig rezipierte Modephilosophie beschränkt). Ist der Star die Grundfigur des modernen mythischen Bewusstseins, so ist der Fan der Sozialcharakter, der dieses Bewusstsein als den Mythos seines gesellschaftlichen Daseins reproduziert. Die Mythen der Popkultur funktionieren als System selbstreferenzieller, den jeweiligen Mythos ständig reproduzierender Sinngebung; Mode, kulturelle Distinktion, Konstruktion von Jugend und Biografie etc. operieren mit einer Strategie der Sinngebung, die vornehmlich auf dem Ausschluss anderer Sinngebungsversuche basiert: Derart wächst aus einem diffusen Feld popkultureller Phänomene ein Ganzes zusammen, das sich auch dadurch abgrenzt, dass es alles, was es nicht versteht, interessant, altmodisch, krass, geil, super findet oder zum Unsinn erklärt. Sofern diese durchaus im Konflikt sich befindlichen, diversen Popmythen eine Sinneinheit herstellen, rekonstruieren sie einen Mythos der Popkultur, der als Totalität eines sozialen Bedeutungszusammenhangs fungiert (ähnlich der Religion). Die Popkultur hat im Zuge ihrer Entwicklung eine eigene Sprache ihrer Mythologie hervorgebracht, zu der strukturell die drei Momente gehören, durch die sich ein Mythos definiert: Pop besteht erstens aus mythischen Erzählungen (der Star, die Band, das Konzert, das Event; »Kennst Du noch die Band XY vom Anfang der Neunziger?«); besteht zweitens aus den in diesen Mythen sich manifestierenden Glaubenshaltungen und Überzeugungen (»Soll ich Dir die CD brennen?« – »Nein, die kaufe ich mir noch selber!«); besteht drittens aus einer Mythologie, also der Strukturen und Strategien der Mythenbildung und ihrer Aufrechterhaltung (Popmagazine, Mode, kulturelle Codes). Den universellen Popmythos ebenso wie die spezifischen Popmythen als symbolische Form zu verstehen, meint eine Ordnung der Wirklichkeit, ein Sinn- und Bedeutungsverstehen von Erfahrung. Erfahrung wird allerdings unter den kapitalistischen Produktionsverhältnissen ideologisch verzerrt; Cassirer spricht von Pathologien des Mythos, Marx spricht von Entfremdung, Lukács von Verdinglichung: Immer wieder wird die Sinngebung durch die Popmythen irritiert und es ist immer wieder notwendig, den Mythos zu erneuern, vielleicht sogar den universellen Popmythos durch neue kleine Mythen zu bereichern. Der Popmythos rekonstruiert permanent die Unmittelbarkeit, reklamiert fortwährender authentischer Ausdruck unmittelbarer Erfahrung zu sein.

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Fünf Minuten Umbaupause. Der Popmythos als semiologisches System und die Sinnkrise »Die Schwerkraft ist überbewertet, man braucht sie gar nicht, wie man ja wohl im Weltraum sieht. Und die Sonne kocht auch nur mit Wasser; die soll sich nicht so aufspielen, die gelbe Sau. Und der Himalaja, der alte Arsch, da kann ich mich drüber aufregen, Sau. Und der Kölner Dom, da kann ich mich auch drüber aufregen. So’n Hals hab ich über den. So’n Hals, so’n Hals, so’n Hals. Dada, da da da, da da da, dada [usw.].« Peter Licht, ›Lied gegen die Schwerkraft‹, auf: ›Lieder, 11‹

In dieser Weise funktionieren die Mythen der Popkultur als semiologisches System, wie es Roland Barthes in seinen ›Mythen des Alltags‹ in den fünfziger Jahren entworfen hat; ihm ging es um Phänomene, die heute durchaus der Popkultur zugerechnet werden können (Reklame, Greta Garbo, Citroën, Pommes Frites, Trivialliteratur, Striptease etc.). Barthes Untersuchungen erschienen 1957 als erster Teil der ›Mythologies‹, zusammen mit einem zweiten Teil, der sich mit der strukturalistisch-semiologischen Konstruktion des Mythos beschäftigt. Unter dem Titel ›Mythen des Alltags‹ wird 1964 eine leicht gekürzte, deutsche Fassung des Buches veröffentlicht. Barthes beschreibt den Mythos, die Mythen des Alltags, als besonderes semiologisches System einer Sprache. Sprache, hier folgt Barthes weitgehend Saussure, ist die Verkettung eines dreidimensionalen Schemas: Bedeutendes, Bedeutetes und Zeichen; das Zeichen definiert Barthes als »assoziatives Ganzes eines Begriffs und eines Bildes«.14 Das primäre semiologische System ist die Objektsprache der Zeichen. Diese Zeichen werden in der Sprache des Mythos zum Bedeutenden, das wieder auf ein Bedeutetes verweist und ein metasprachliches Zeichen darstellt. Barthes nennt das das sekundäre semiologische System. »Das Bedeutende des Mythos erweist sich als doppeldeutig. Es ist zugleich Sinn und Form, einerseits erfüllt, andererseits leer … Es ist dieses unabläßige Versteckspiel von Sinn und Form, durch das der Mythos definiert wird.«15 Der Mythos konstituiert sich durch seine unablässige Bedeutungsproduktion und Leere hindurch: Er produziert doppeldeutige Bedeutungen, Allegorien, breitet sich aus. In der vollständigen Ausdehnung gerinnen die Mythen des Alltags, die bei Barthes noch für sich, einzeln und isoliert bestehen, zu einem mythologischen Komplex, zu einer großen Erzählung, die nur noch als System funktioniert: der ubiquitäre Mythos Pop. Die Mythen der Popkultur sind in gewisser Hinsicht als Potenzierung dieses Systems aufzufassen, sozusagen ein terziäres semiologisches System. Die formale Struktur der Popkultur bleibt leer, die Bedeutungen haben nur in Bezug zueinander Sinn, außerhalb des Mythos sind sie komplett sinnlos, weil ihnen die Verbindung zur Objektsprache abhanden gekommen ist.

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Barthes Mythosbegriff bleibt zu unhistorisch, um die Krise des semiologischen Systems zu bemerken. Für ihn sind alle Mythen des Alltags sozusagen funktionierende Funktionalisierungen der Warengesellschaft: Alles kann auf Bedeutungen festgelegt werden, die innerhalb ihres semiologischen Systems eindeutig sind. »Die Semiologie hat uns gelehrt, daß der Mythos beauftragt ist, historische Intention als Natur zu gründen, Zufall als Ewigkeit. Dieses Vorgehen ist genau das der bürgerlichen Ideologie.«16 Das Verhältnis des Mythos zur gesellschaftlichen Wirklichkeit ist der Ersatz, die Ideologie, das falsche Bewusstsein vom richtigen Leben, das richtige Bewusstsein vom falschen Leben; zugleich ist der Mythos – wie die Ideologie – eine Funktion der Realität, eine Funktion der kapitalistischen Verwertungslogik. Die Frage ist nun, wie sich die Krise des gesellschaftlichen Systems im Mythos ausdrückt, ob die Widersprüche auch als Widersprüche in einer Dialektik des Mythos wiederkehren, ob auch der Mythos Teil der Totalität des Realen ist, oder ob der Mythos »das Reale entleert« und »jede Dialektik unterdrückt«.17 Bei Barthes, der eben die Mythen der Alltags- und Massenkultur der fünfziger Jahre beschreibt, fehlt »die semiotische Katastrophe« der späten siebziger und frühen achtziger Jahre, die Diedrich Diederichsen anschaulich beschrieben hat: »Überall die ausgebrannten Ruinen der semiotischen Katastrophe, Berge von Zeichen-Leichen, verdunkelte Horizonte: einsame Krüppel schleppen sich durch die Nacht und röcheln von ›Botschaft‹ und ›Verständigung‹ – dampfende Müllhaufen von Illusionen und Ideologemen rundherum. In der Geschichte der Popkultur, die schneller und direkter reagiert als andere Kulturen, entspricht Punk dem Gewahrwerden der semiotischen Katastrophe. Punk war dabei die letzte Mode, die einen Bezugspunkt hatte. Und der war die Bezuglosigkeit selbst. Dennoch kommt die Punk-Mode noch zu Aussagen: Der Riß ist eine solche zentrale Aussage, ein Fixpunkt, eine feste Bedeutung. Punk-Kleidung war durchsetzt von Rissen, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne, aber in einem Sinn. Punk machte (ein letztes Mal) Sinn, wie man im Englischen sagt, indem es die Zerrissenheit des Sinns abbildete.«18 Für den Mythos des 19. Jahrhunderts hat Walter Benjamin eine ähnliche Katastrophe festgestellt: Sie besteht in der Überschneidung von Fortschritt und Regression, sozusagen im Stillstand der Zeichen, nämlich der Embleme der Waren, die zu Phantasmagorien gerinnen. Im »Traumschlaf« dieser Epoche, in der die bürgerliche Welt träumt, dass sie erwacht sei, dienen diese Phantasmagorien der Schlaferhaltung. Sie werden so, wie das Medikament im Wasser aufgelöst wird, in der Kultur verdünnt: ihre Wirkung ist der Rausch des Fortschritts und der Geschwindigkeit, die Ekstase des Konsums und der technischen Entwicklung, kurzum: die Sinngebung, die große Bedeutung, die das Leben plötzlich bekommt, nachdem das Opiat der Religionen versagt hat, nachlässt; ihre Nebenwirkungen aber heißen: die Langeweile, die Katastrophe

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des Stillstands, die Regungslosigkeit, der chronische Schmerz. Ein dafür entscheidender Mythos des 19. Jahrhunderts ist die »Phantasmagorie der ›Kulturgeschichte‹, in der die Bourgeoisie ihr falsches Bewußtsein auskostet.«19 Es ist eine Phantasmagorie, die im Stillstand sich geriert: »Dialektik macht im Stillstand ein Bild. Diesem ist der Schein wesentlich.«20 »Es ist der Schein, der das Wesen der Bilder ist, die das träumende Subjekt der Geschichte erzeugt.«21 Und insofern heißt »Kritik der Moderne«: »Das Neue hat Scheincharakter und fällt zusammen mit dem Schein des ewig sich Wiederholenden. Der dialektische Schein des Neuen und immer wieder Gleichen ist die Grundlage der ›Kulturgeschichte‹.«22 – Die Kulturgeschichte ist die Mythologie der Chronik des 19. Jahrhunderts: die Weltausstellungen, die Eröffnungen, die Vernissagen, die Uraufführungen, »Nur heute in Paris!«; diese semiotische Ordnung der Zeichen schreibt sich fort in der Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts, ohne dass die Zeichen wirklich Geschichte hätten; sie bleiben stillgestellt (»Einziges Konzert in Europa!«). Die Popkultur ist gleichsam der Rückfall, der Flashback; das Klingeln des Weckers wurde nicht gehört, weil man bis in den frühen Morgen tanzen war (in den Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts wurden die Uhren zerstört sowie neue Zeitrechnungen eingeführt und im ausgehenden 20. Jahrhundert gibt es den Witz, die Revolution doch bitte nicht so früh morgens anzufangen; Christian S. sagt immer: »Aber weckt mich, wenn die Erschießungen sind.«). Die von Diederichsen diagnostizierte semiologische Katastrophe, die im Bedeutungsverlust der Mythen sich ausdrückt, ist allerdings kein Resultat der siebziger Jahre, sondern entspricht der mythologischen Struktur der Popkultur (sie kulminiert vielleicht in den Siebzigern): Der Sinn, den die Popmythen unablässig erzeugen, ist immer nur punktueller, temporärer Sinn, für eine Saison, für einen Sommer, oft nur für einen Abend. Die Bezugspunkte der Beziehungslosigkeit, die Bedeutungen der Bedeutungslosigkeit – sie rekapitulieren beständig den Popmythos als Ganzen, und sie konstituieren ihn, indem einzelne, abgesprengte und vernutzte Popmythen hier und da dem Vergessen überantwortet werden. Die Katastrophe besteht auch darin, dass, obwohl permanent Sinn produziert wird, niemals in der Popkultur eine permanente Sinnstiftung gelingt; deswegen wird jede Bedeutungslosigkeit sozusagen mit Bedeutung zugeschüttet, deswegen wird die allgemeine Sinnlosigkeit durch die besondere Sinnüberhöhung überlagert (»Ich habe keinen Job, meine Beziehung ist kaputt, meine Wohnung hat keine Heizung, meine Klamotten sind alt – aber die neue Platte von XY ist einfach das Beste, was je produziert wurde. Jetzt macht das Leben wieder Sinn!«). Die Sinnkrise, die sich in die Popkultur eingeschrieben hat, besteht nicht in dem Sinnüberschuss, sondern in seiner ideologischen Funktion: Das ist

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Mythos auch in dem Maße, wie es gelingt, relativ bedeutungslose, uninteressante, unwichtige Phänomene, Dinge, Menschen zu einer Bedeutungseinheit zusammenzuführen, Popkultur also permanent überzubewerten (das Exklusivinterview, das Fernsehspecial über Michael Jackson, die Talkshow mit den interessanten Gästen, die Jungschauspieler, die Osbournes, Reality-Shows, Stars, die ihre Wohnungen vorstellen …). Wie in der Kulturindustrie das Glücksversprechen gibt es in der Popkultur das Sinnversprechen, ein ästhetisches, politisches, künstlerisches, lifestyle-mäßiges Bedeutungsversprechen, das unerfüllt bleibt. Die Antwort auf das immer wieder verkündete Orakel der Popkultur ist nicht, dass es doch alles irgendwie Sinn macht, sondern dass der versprochene Sinn, selbst wenn er sich einlöste, komplett überflüssig wäre. Kein Mensch braucht zum Leben die Popkultur; sie ist eine pausenlose Beschäftigungstherapie.23 Laufend muss der Konsument etwas unternehmen, sich informieren, am Ball bleiben, tatsächlich wird so die Langeweile überspielt, die sich dunkel über die Gesellschaft des Spektakels ausbreitet. Schon die Vorstellung, dass Popkultur überhaupt interessant sein könnte und ihre einzelnen Phänomene und Segmente etwas bedeuten, ist eigentlich naiv. Sich mit Theorien auseinanderzusetzen, die unablässig in die verschiedensten Chimären der Popkultur Sinn hineininterpretieren, ist Zeitverschwendung, weil der Erkenntnisgewinn zumeist die blanke Beschreibung von Tatsachen, bestenfalls korrekt, meistens halbrichtig, nicht überschreitet. (Im Prinzip ist es die Verlängerung des brechtschen Befunds, dass die massenkulturellen Kommunikationsmöglichkeiten zwar gestatten alles zu sagen, aber niemand etwas zu sagen hat.24 Mehr Unterhaltungsangebote bedeuten nicht mehr Unterhaltung.) Selbst die verbliebenen profitablen Sektoren der alten Kulturindustrie bauen ihren ökonomischen Erfolg auf Resteverwertung; Popkultur verwaltet die Konkursmasse, die in den letzten Jahrzehnten als kultureller Sondermüll sich angesammelt hat. Sie bekennt offen, dass es nur noch um den letzten Profit geht, der ausgepresst werden soll, bevor die Pforten wahrscheinlich für immer geschlossen werden müssen. Was die Produkte an Ideologie vermitteln, bedarf keiner diskursiven Dekodierungsstrategie; damit die Lächerlichkeit des Ganzen nicht allzu deutlich hervortritt, changiert der Doppelsinn der Popkultur zwischen Todernst und Zynismus. Jeder hat seine Chance bekommen, zum Superstar zu werden; jetzt werden die letzten Praktikumsplätze vergeben, mit denen sich die Popkulturindustrie noch über Wasser hält. Zuletzt wird sogar gezeigt, wie diejenigen, die es nicht geschafft haben, wieder in der Scheiße landen, aus der sich zu entkommen versuchten. (Siegfried Kracauer hat Ähnliches – Unmittelbarkeitskult, Sinnverlust, Mythologisierung des Banalen etc. – bereits in seiner Essaysammlung ›Die Angestellten‹ beschrieben; die Popkultur ist in erster Linie eine Angestellenkultur.)

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Ist die gesamte Moderne als Auseinandersetzung mit dem Mythos beschreibbar, so kulminiert im Popmythos die Dialektik der Aufklärung in der Langeweile: Pop ist der erste Mythos, der ohne Spannungen, ohne episches Motiv auskommt, gewissermaßen ein Mythos ohne Mythologie. Die Popkultur ist wirklich nicht mehr als die Oberfläche, die sie vorgibt zu sein; insofern ist Pop gleichsam ein Antimythos, und im selben Maße irrational.

Kunst. Musikmythen Teil 17 »Warum Paradies der Ungeliebten ein Scheißtitel ist. Abkacken Alter, den Bach runter, auf den Müllhaufen der Geschichte mit diesen Künstlermythen. ›Keine versteht meine Kunst‹, oder: ›Warum kann ich nicht der deutsche Neil Young sein‹. BlaBla Bla, Blablabla, Bla, Bla Bla. Geht mir nicht auf den Sack, mit euren persönlichen Problemen, Künstler. Ihr sollt nicht an euch runter gucken, ihr sollt als Prototypen auf die Rennbahn. Ihr müsst euch selbst vergessen. Scheißdreck seid ihr! Verzweiflung ja, Selbstmitleid nein. Ich fühl’ mich nicht ungeliebt, Mann, ich heiße schließlich Ladys Love. Und abgesehen davon, sind’s natürlich immer Männer, die Selbstmitleider. Selten Frauen, achtet mal drauf. Musikmythen, Teil siebzehn: der Songwriter. Er steht vor dem Fenster und singt seine Songs, die davon handeln, nicht in diese Wohnung reinzukommen. Gequirlte Scheiße, absolut nicht mein Verein! Auch nicht ›Hier bin ich, wie ich die Straße entlang gehe mit meiner Freundin im Arm, ich fühl’ mich hundeelend‹. An die Ohren, was soll das! Bürgerliche Nabelschau ohne Sinn und Zweck. Nicht mein Verein: N.M.V. Nicht mein Verein, nicht mein Verein, nicht mein Verein! Ich will dazu gehören, mich einmischen in Leben, Politik, Scheiße und Psychologie. Und die anderen, die jetzt applaudieren: Einige von euch sind doch nur zufällig auf dieser Seite. Ihr habt dafür nichts getan, ihr Schmerzleugner, was wißt ihr schon! Stinkende Jasager, die sich hinter Modernität verstecken. Jaja, das war’s: Warum Paradies der Ungeliebten ein Scheißtitel ist.« Athletico Knarf Rellöm mit Fuschimuschi, ›Warum Paradies der Ungeliebten ein Scheißtitel ist‹, auf: ›Paradies der Ungeliebten.de‹ (WSFA 1998) und Knarf Rellöm Ism auf ›Fehler is King‹ (WSFA 1999)

Ein Großteil der Popmythen rankt sich um die Musik. Das kann über die Bedeutung der Musik in der bürgerlichen Gesellschaft erklärt werden. Claude Lévi-Strauss sieht dies allerdings in der mythischen Struktur der Musik selbst begründet. Die Musikmythen flankieren gewissermaßen, auch durch eine andere spezifische Erzählstruktur (Sound), jenen Bereich der Popmythen, bei denen es primär um die unmittelbare Sinngebung geht, etwa die Mode, die freilich auch eine Musikmode sein kann. Jedenfalls lässt sich in dieser Weise der Mythos strukturalistisch noch einmal differenzieren im Sinne einer struktural-anthropologischen Fundierung der Mythologie, im Gegensatz zur histo-

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rischen Dialektik des Mythos als Ideologie der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Ausgehend von Cassirer geht es Lévi-Strauss um die homologische Strukturähnlichkeit zwischen Musik und Mythos, die sich über deren Verbindung zur Sprache ergibt. Auch die Musik ist ein mythisches System der Übersetzung. »Im Grunde genommen gibt es niemals einen Originaltext: jeder Mythos ist von Natur aus eine Übersetzung, er hat seinen Ursprung in einem anderen Mythos aus einer benachbarten, jedoch fremden Population, oder in einem früheren Mythos derselben Population, oder auch in einem zeitgenössischen Mythos dieser Population, der jedoch zu einer anderen sozialen Schicht – Clan, Unterclan, Linie, Familie, Bruderschaft – gehört, deren Kennzeichen ein Zuhörer zu entfernen sucht, indem er ihn auf seine Weise in seine persönliche oder Stammessprache übersetzt, bald um ihn sich anzueignen, bald um ihn zu verleugnen, also stets, indem er ihn verfälscht.«25 – Die Popmythen, die sich über die Musik transportieren, brauchen diese Übersetzungsarbeit ebenso wie der Mythos Popmusik selbst: Ein System von Anspielungen, Transformationen, Bezügen, Verweisen, Allegorien, Metaphern, Material – das sind die Texte und Kontexte, die Instrumente, die Samples. Mit welchem Verstärker bekommt man diesen Bass-Sound hin? Ist diese Textzeile bei Blumfeld nicht von Celan? Das Riff kenne ich – ›War Pigs‹ von Black Sabbath! Woran erinnert mich die Melodieführung bei Barbara Morgenstern? Wie schafft der DJ es, so zu mixen? Für diese Aufnahme haben wir nur VintageGeräte benutzt! Das Geheimnis ist die Schlagzeugmikrofonierung! Ist das wirklich nur eine Vierspur-Proberaumaufnahme? Ist diese Musik tatsächlich am Computer gemacht? »Der Mythos gehört also niemals zu seiner Sprache, er ist ein Ausblick auf eine andere Sprache.«26 Und insofern sind Mythen »lediglich ineinander übersetzbar, so wie eine Melodie nur in eine andere Melodie übersetzbar ist, die mit ihr Homologiebeziehungen bewahrt«.27 Aber dennoch »läßt sich die Musik doch nicht in etwas anderes als sie selbst übersetzen«.28 Das hat mit der spezifischen Ordnung von Laut und Sinn zu tun: während in der Mythologie die Struktur vom Laut losgelöst und dem Sinn verhaftet erscheint, gelte für die Struktur der Musik im Gegenteil, dass sie vom Sinn losgelöst und dem Laut verhaftet sei. »Die Musik ist Sprache minus Sinn; und so verstehen wir, daß der Hörer, der zunächst ein sprechendes Subjekt ist, sich unwiderstehlich getrieben fühlt, diesen fehlenden Sinn zu ergänzen, wie der Amputierte, der dem verschwundenen Glied die Empfindungen zuschreibt, die er verspürt und die ihren Sitz in dem Stumpf haben.«29 Deswegen konzentriert sich wahrscheinlich das popmythologische System der Sinngebung auf die Musik; deswegen beziehen sich auch die anderen Popkünste immer wieder auf die Musik. Die nicht explizit musikalischen

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Popmythen liefern dem Rezipienten ein in Bildern, die Musikmythen liefern ein in Tönen kodiertes Schema. »Doch in beiden Fällen ist es der Hörer, der eine oder mehrere virtuelle Bedeutungen in das Schema legt, so daß die wahre Einheit des Mythos und des musikalischen Werks sich nur zu zweit herstellen läßt, während und mittels einer Art von Zelebration.«30 – Die magische, rituelle Bedeutung der Popmythen, das Konzert, die Originalaufnahme etc. Die mythische Struktur der Musik unterminiert gewissermaßen die mythische Struktur der Popideologie. Diese Dialektik des Mythos rührt am grundsätzlichen Widerspruch der Kunst: dass sie einerseits ihren Ursprung im Mythos hat und diesen Mythos auch reproduzieren muss, um Kunst zu sein (Aura, Authentizität, Originalität etc.); dass sie andererseits beständig gesellschaftlich neu definiert, diskursiviert und funktionalisiert wird und darin den Ursprungsmythos unterläuft. So kann aus einer materialistisch-ästhetischen Perspektive sowohl Benjamins These aus dem ›Kunstwerk‹-Aufsatz zugestimmt werden, dass das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit nicht nur die Aura verliert, sondern eine neue Zerstreuungsfunktion (Politik, Schick, Montage) gewinnt, als auch dem Befund, »daß die Massenmedien das beste Instrument, wenn nicht der heutige Faktor der Mythenbildung sind. Es hat sich auch gezeigt, daß Kunst im auratisch traditionellen Sinn durch Massenmedien am wenigsten erledigt ist«.31 Der in der Popkultur schärfste Ausdruck dieser Mythosverschränkung kristallisiert sich immer wieder in der selbst mythisch sich fortschreibenden Problematisierung, ob neben den Mainstreammythen, neben der Ideologie der Kulturindustrie, nicht eine kritische Mythologie notwendig wäre. Das meint keine Irrationalisierung und Ideologisierung, sondern einen aufgeklärten Mythos der Vernunft – wie Hegel, Schelling und Hölderlin, wahrscheinlich betrunken, notierten: »Wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.«32 Aber gerade im Schatten der geschichtlichen Erfahrung des Umschlagens in Mythologie bleibt brisant, ob solche Rettung des Mythos a) nicht sogar als Gegenmythos notwendig, b) als linke Strategie denkbar und c) überhaupt positiv benennbar ist, oder nicht vielmehr negativ bleiben muss.

Die Vorstellung geht (gleich) weiter Rettung des Mythos, links überholt? »Man verläßt also eine ältere Illusion, indem man sich eine neue bildet. Dies letztere vollzieht sich unter Einbeziehung realen Materials. Der Weg führt nicht vom Irrtum zur Wahrheit, sondern zur stoffreicheren Illusionierung.« Alexander Kluge, ›Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit‹ (Frankfurt am Main 1985, S. 13)

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Pop bezeichnet den Kulminationspunkt moderner Mythologie; der Popmythos ist wesentlich das, was in der kritischen Theorie als Ideologie bezeichnet wird, die Popmythen sind die jeweiligen spezifischen und kollektiven Strategien, die Konfigurationen des individuellen Bewusstseins zu affirmieren oder zu umgehen, zu brechen oder zu sichern. Doch gibt es auch einen Mythos, der frei von Ideologie ist, gibt es eine kritische Mythologie als Ideologiekritik? Pierre Bourdieu versucht diesbezüglich Mythologie und Ideologie zu unterscheiden: »Während die Mythologie das kollektive Produkt einer ganzen Gruppe ist, genauso wie die Sprache …, ist die Ideologie das Produkt eines Feldes spezialisierter Produzenten. Um eine ideologische Produktion zu verstehen, reicht es nicht, das Produkt auf eine soziale Nachfrage zu beziehen; man muss es auch auf die sozialen Bedingungen beziehen, in denen die Produzenten dieses Produkt erzeugt haben.«33 – Wenn es eine Rettung des Mythos gibt, dann wäre sie in jedem Fall Bruch mit der herrschenden Ideologie und Ideologie der Beherrschten; solche Rettung könnte sich nicht auf die symbolische Umdeutung – Encoding / Decoding – der Zeichenordnung verlassen, sondern hätte eine eigene Mythologie zu entwerfen, eine Praxis, soll Mythos nicht in Regression zurückfallen. Durchaus ist Barthes zuzustimmen, dass es »linke« Mythen nur in dem Grade gibt, »in dem die Linke nicht die Revolution ist«. Denn: »Die Bourgeoisie verbirgt sich als Bourgeoisie und bringt gerade dadurch den Mythos hervor; die Revolution bekennt sich als Revolution und zerstört gerade dadurch den Mythos.«34 Außerdem gebe es »eine Sprache, die nicht mythisch ist. Es ist die Sprache der produzierenden Menschen: überall, wo der Mensch spricht, um das Wirkliche zu verändern und nicht, um es als Bild zu bewahren, überall, wo er seine Sprache mit der Herstellung der Dinge verbindet, wo die Metasprache auf eine Objektsprache zurückverwiesen wird, ist der Mythos unmöglich.«35 Schließlich könne man sagen, »daß in gewissem Sinne der linke Mythos immer ein künstlicher, ein konstruierter Mythos ist, daher seine Ungeschicklichkeit«.36 Das setzt allerdings voraus, dass die Erfahrungen der Produzenten unmittelbar sind, sich unmittelbar artikulieren können, echt sind, keinen Mythos brauchen; das konstatiert, dass es eben eine dem Mythos ganz fremde Form der Produktion geben müsse. Doch auch der Mythos wird produziert, und zwar unter denselben, gegebenen Bedingungen der allgemeinen Produktionsverhältnisse und ökonomischen Widersprüche; gerade die bürgerlichen Mythen sind künstliche, konstruierte. Und ist nicht das Vertrauen auf die Kraft der Revolution, so gerechtfertigt sie sein mag, ein Erbe der bürgerlichen Mythologie? Anders als Roland Barthes hat Ernst Bloch auf die Notwendigkeit einer linken Mythologie hingewiesen; sie wäre eine nicht ideologisch verzerrte und damit konkrete Utopie, die nämlich den Popmythos immer transzendiert. Diese utopische Dimension eines Gegenentwurfs zum herrschenden Mythos speist sich oder kristalli-

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siert sich aus und in der Kunst (nach Barthes gäbe es folglich keine linke Kunst, sofern Kunst ihren Ursprung im Mythos hat). Wenn man so will, führt die Frage nach der Rettung des Mythos auf die Dialektik der Moderne zurück, auf den Widerspruch zwischen Ideologie (Kulturindustrie) und Kunst (Kulturrevolution). Im Fokus dieser Dialektik steht in der Moderne selbst die materialästhetische Linie Schiller-Surrealismus-Subkultur als »Antipop« (Martin Büsser), gegen die regressive Romantik, gegen den Traditionalismus von Kulturindustrie und Mainstream. Bloch hat dies bereits mit Georg Lukács als Problemfrage von Avantgarde und Volksfront respektive Erbschaftsmöglichkeit bürgerlicher Kultur in den dreißiger Jahren diskutiert: Ob es, obwohl auch die Kunst sich nur der Mittel bedient, die ihr hier und jetzt gegeben sind, die Möglichkeit der Transzendenz gibt. Bloch wie Benjamin haben diese Möglichkeit gerade im surrealen Allegorisieren der Wirklichkeit gesehen, aber mit dem entscheidenden Zusatz, dass diese Strategie nicht in der Kunst verharren darf, sondern zur gesellschaftlichen Praxis werden muss.37 Es geht, angesichts der Ästhetisierung der Politik, immer wieder um die Politisierung der Kunst beziehungsweise die Frage, wie solche Politisierung zu gestalten ist. Sie kann nur in der Freisetzung der Kräfte liegen, die sich in den surrealen, allegorischen Kunstformen manifestieren. Nicht eine affirmative Kunst, die den Menschen mit der bestehenden Ordnung vertraut macht (wie es der Popmythos verspricht), ist geboten, sondern »permanenter ästhetischer Umsturz – das ist die Aufgabe der Kunst«.38 Bereits in ›Triebstruktur und Gesellschaft‹ hat Marcuse diese »ästhetische Dimension« aus der Theorie einer nicht-repressiven Kultur entwickelt, in der die sinnlich-praktischen Kräfte der Phantasie freigesetzt werden. Die »Archetypen« einer Kultur nicht nur jenseits des Realitäts-, sondern ebenso jenseits des Lustprinzips findet Marcuse in den Mythen von Orpheus und Narziss. »Orpheus und Narziß stehen für eine sehr andere Wirklichkeit … Sie wurden niemals die Kulturheroen der westlichen Welt: ihre Imago ist die der Freude und der Erfüllung, ist die Stimme, die nicht befiehlt, sondern singt; die Geste, die gibt und empfängt; die Tat, die Friede ist, und das Ende der Mühsal der Eroberung, ist die Befreiung von der Zeit, die den Menschen mit Gott, den Menschen mit der Natur eint.«39 »Die orphisch-narzisstischen Urbilder sind die Urbilder der ›Großen Weigerung‹; die Weigerung, die Trennung vom libidinösen Objekt (oder Subjekt) zu ertragen. Die Weigerung zielt auf Befreiung ab – auf die Wiedervereinigung dessen, was getrennt wurde.«40 Im Sinne dieses mythischen Urbildes der Großen Weigerung wäre Kunst die Aktualisierung des Mythos, »die Schaffung einer anderen Wirklichkeit aus der bestehenden – die permanente imaginäre Revolution, das Auftauchen einer ›zweiten Geschichte‹ innerhalb des geschichtlichen Kontinuums«.41 – Diese zweite

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Geschichte wäre zum Beispiel eine Sonic Fiction, ›The Myth-Science Approach‹ nach dem Ende der Welt (Sun Ra), die Kodwo Eshun in ›Heller als die Sonne‹ erzählt: Sie setzt sich zusammen aus der »Mythowissenschaft der Beatkultur«, aus der »Mythowissenschaft des Scratch«, aus »mythillogische[m] HipHop«, aus den »Maschinenmythologien«, aus der »Mythowissenschaft … kosmopolitaner Möglichkeitsräume«42. »Sie werden mit etwas konfrontiert, das nicht mehr der edle, schöne, erhebende Gegenstand von einst, nicht mehr der höchste Ausdruck der erhabenen Werte der Kultur, sondern etwas Vulgäreres, Technischeres, Materielleres ist – eine Kunst, die sich selbst als Kunst zu verleugnen scheint und dabei die Wirklichkeit einholt, ohne sich ihr zu unterwerfen; eine Kunst, die eine ganze Generation weltweit dazu bringt, zu singen, zu tanzen und zu marschieren, ohne einer Militärkapelle oder einem Rattenfänger zu folgen. Diese Generation folgt nur sich selbst und der Melodie ihres Körpers und Geistes … Diese Werte, diese Triebe wollen Stimme, Gesang und Rhythmus werden. Sie rebellieren gegen die harmonisierenden, versöhnenden Formen der Tradition. Sie sind zum Schrei der Jugend überall auf der Erde geworden. Es ist der Schrei von Männern und Frauen, die die Geduld verloren, die gespürt haben, wie verlogen, heuchlerisch und gleichgültig unsere Kultur und Kunst sind. Sie wollen tatsächlich ›Musik von anderen Planeten‹, sehr wirklichen und sehr nahen Planeten … So oder so – Sie sind dabei.«43 Dieser Planet heißt Saturn. »… Daß ich unterm Saturn zur Welt kam – dem Planeten der langsamen Umdrehung, den Gestirn des Zögerns und Verspätens …«, schreibt Benjamin.44 Im Mythos ist Saturn der Gott des Goldenen Zeitalters, der Herrscher der Zeit vor der Zeit. Er inspiriert Träume, Bilder und Phantasie. »Benjamin betrachtet Saturn im Trauerspielbuch in einer theologischen Spannung. Die Allegorien werden beim Melancholiker durch den saturnalen Einfluß hervorgebracht. Ihre Umwandlung in Ikonen, in heilige Bilder, die in den unbedeutendsten Dingen vorliegen sollen, erfolgt im Rahmen einer jüdischen Theologie, nach der auch der Messias zur unscheinbarsten Zeit erwartet wird.«45 – Tanzen; das erste Stück auf Herbie Hancocks ›Monster‹ von 1980 heißt ›Saturday Night‹. Saturday ist Saturns Tag; »The music is starting to play, the beat of the drums makes the rest of the world go away … Saturday Night we dance for tomorrow. Make it soft, make it slow.« Ein Frauenchor singt ›Sabado‹, das spanische Wort für Samstag, Tag des Sabbats, siebter Tag und »dies septimus nos ipsi erimus« (Augustinus). Konstellation, die Anordnung der Sterne. Der Mythos der Moderne und der Surrealismus. »Abgrenzung der Tendenz dieser Arbeit gegen Aragon: Während Aragon im Traumbereiche beharrt, soll hier die Konstellation des Erwachens gefunden werden. Während bei Aragon ein impressionistisches Element bleibt – die ›Mythologie‹ – … geht es hier um Auflösung der

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›Mythologie‹ in den Geschichtsraum.«46 – ›Space is the place.‹ – Solche Auflösung der Mythologie im Geschichtsraum wäre die Wiederkehr des Saturns, ›Saturnzreturn‹ (Goldies vorherige Platte hieß ›Timeless‹; das gleichnamige Stück unterteilt sich in ›Inner City Life‹, ›Pressure‹ und ›Jah‹. Der zweite Track heißt ›Saint Angel‹. Benjamin findet Saturn in der Traumwelt der Massenkultur des 19. Jahrhunderts wieder: stillgestellt und zeitlos in Paris.) – es geht um die Rhythmisierung der Langsamkeit, um den Bruch des Kontinuums. Noch einmal Herbie Hancock, ›Stars in your Eyes‹: »Your mind a million miles away … It is the same old story about somebody with a dream … You got stars in your eyes, there is a whole world out there for you, baby … Maybe one day the whole world will know, … we share all the dreams …«47 Erstens – der Saturn ist ›Heller als die Sonne‹: »Traditionellerweise war die Musik der Zukunft immer beatfrei. Futuristisch zu sein bedeutete, den Rhythmus über Bord zu werfen. Der Beat ist der Ballast, der die Fluchtgeschwindigkeit verhindert, der die Musik davon abhält, den Ereignishorizont zu durchbrechen. Die Musik der Zukunft ist schwerelos, transzendent, konvergiert sauber mit der Entkörperlichung des Online-Verkehrs. Holsts ›Planetensuite‹, wie sie in Kubricks ›2001‹ vorkommt, Enos ›Apollo‹-Soundtrack, Vangelis’ ›Blade-Runner‹-Soundtrack: Das alles sind gute Platten, aber sonisch gesprochen sind sie so futuristisch wie die Titanic, nichts als erneuerte Beispiele des Erhabenen, das man aus dem 18. Jahrhundert kennt.«48 Zweitens – Tanzen: »Die Vision einer Kultur ohne Unterdrückung und Verdrängung, wie wir sie aus einem Randgedanken der Mythologie und Philosophie entwickelten, tendiert auf eine neue Beziehung zwischen Trieben und Vernunft hin.«49 Funk, Resexualisierung des Körpers (und nicht Entsexualisierung), Freisetzung der Perversion und Erotik, Sinnlichkeit – Marcuses Vorstellung einer Libido als »soziales Phänomen« klingt einerseits in ihrer Sprache veraltet, antiquiert, andererseits hat sie sich material-ästhetisch realisiert in »Soul und Postsoul«.50

Exkurs: Sollten sich nicht die Ruderer mit den Sirenen solidarisieren? »Im Gegensatz des einen überlebenden Ich zum vielfältigen Schicksal prägt sich derjenige der Aufklärung zum Mythos aus … Die Abenteuer, die Odysseus besteht, sind allesamt gefahrvolle Lockungen, die das Selbst aus der Bahn seiner Logik herausziehen.« Adorno und Horkheimer, ›Dialektik der Aufklärung‹ (GS Bd. 3, S. 64)

Pop bringt nicht nur ständig neue Mythen hervor, sondern aktualisiert die ältesten Mythen menschlichen Weltverstehens und reproduziert sich deshalb als

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umfassende, totale wie ursprüngliche Einheit und Objektivation von Welt und Welterfahrung, indem Pop selbst zum mythologischen System kulminiert, einschließlich immanenter Transzendenz des Mythischen, sozusagen mythologische Mythoskritik, die keine paradigmatische Wende von Pop I (besonderer Pop) zu Pop II (allgemeiner Pop) ist, sondern wesentliches Merkmal der dialektischen Logik eines ›mythischen Popbewusstseins‹ – im Sinne der symbolischen Prägnanz, wie Cassirer es nennt.51 Eine solche symbolische Prägnanz beschreibt den Übergang von Pop I zu Pop II. »Pop I wurde meist als Gegenbegriff zu einem eher etablierten Kunstbegriff verwendet. Pop II steht dagegen neuerdings im Gegensatz zu Politik, auch wenn sicherlich Öffentlichkeit der produktivere Gegenbegriff wäre. Pop I war immer in grenzüberschreitende Bewegungen verwickelt, das Drama von Pop II besteht auf den ersten Blick darin, daß kein Terrain sich gegen seine Invasion mehr sperrt.«52 So plausibel Diederichsens Befund auch ist, bleibt er als analytische Interpretation allerdings selbst mythisch, weil die beiden kontrastierten PopIdiome als Sinneinheiten unvermittelt konstatiert werden, und darüber hinaus Pop und allgemein die mit Pop bezeichnete Sphäre gegenüber dem realkapitalistischen Vergesellschaftungsprozess der vergangenen Jahrzehnte abstrakt oder bestenfalls angedeutet ist. Pop I ging immer schon mit Pop II schwanger; das ist Teil der Mythologie der besonderen, sich als widerständig oder subversiv, zumindest aber distinguiert verstehenden Popkulturen der Siebziger, Achtziger und frühen Neunziger. Diese symbolische Prägnanz ist allerdings keine Scheinschwangerschaft, sondern Prägnanz materieller Beziehungen, ganz in der Weise, in der Marx auch das Prägnanz-Bild gebraucht in der Rede von der Gewalt als Hebamme »jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.«53 Von dieser Gewalt, den real existierenden Zwangs- und Unterdrückungsverhältnissen kapitalistischer Gesellschaft, gegen die sich Widerstand auch mit den Mitteln der Kultur und Kunst versuchte zu formieren, ist in der Transformationsdarstellung der Popkultur über die Jahrzehnte nichts zu lesen, außer das offenbar verbindlich scheinende Referat derzeit angesagter Theorieplaketten. »War die Pop-Kultur früher noch ein Kind des Widerstandes gegen die alten, fordistisch produzierenden Disziplinargesellschaften, so arbeitet sie heute, mit all ihren ausdifferenzierten Angeboten, u.a. Gemeinschaften für Individualisierte zu stiften, den Verhältnissen zu«, schreibt Diederichsen an anderer Stelle, bezeichnenderweise unter Bezugnahme auf die griechische Mythologie, nämlich unter dem Titel ›AntiOdysseus‹:54 nicht nur als Anspielung auf den ›Anti-Ödipus‹ von Gilles Deleuze und Félix Guattari, sondern vor allem in Analogie zur Vorbeifahrt des Odysseus an der Sireneninsel, die Adorno und Horkheimer in der ›Dialektik der Aufklärung‹ aufnehmen. Dabei entgeht jedoch die Pointe, dass Odysseus den Mythos mit List bezwingt, die als Aufklärung selbst den Mythos reproduziert.

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Homers Epos berichtet davon, wie Odysseus es schafft, in den Genuss des Gesangs der Sirenen zu gelangen, ohne daran zugrunde zu gehen: Er lässt sich an den Mastbaum seines Schiffes fesseln, verstopft den Ruderern die Ohren mit Wachs, sodass diese weder dem gefährlichen Sirenengesang ausgesetzt sind, noch den Hilferufen des Odysseus, ihn doch loszubinden, folgen können. Auch wenn Diederichsen darauf verweist, dass es sich bei dieser Episode um »die dialektische Figur« der ›Dialektik der Aufklärung‹ schlechthin handelt, unterschlägt er sie, vermutlich in der antizpierenden Geste der Antidialektik des Poststrukturalismus; mehr noch, die Episode wird von einem Satz zum nächsten vollständig sinnentstellt, zur Rettung der Konstruktion des Mythos vom Anti-Odysseus. »Mythisch und aufklärerisch zugleich ist Pop-Musik in einem durchaus ähnlichen Sinne«, dass sie nämlich immer schon Aufklärung und Mythos sei. »Ihr zu vertrauen wäre genau so falsch, wie sich die Ohren zu verbinden.«55 In dem Mythos, den Diederichsen konstruiert, kommen die Gefährten nicht mehr vor; er übergeht die dialektische Figur, wonach Odysseus Prototyp des Unternehmers, des Bürgers ist, folglich – etwa nach Hegels Dialektik von Herr und Knecht zu zeigen – die rudernde Mannschaft Prototyp des Proletariats; er übergeht, was ja eben in Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹ als Auseinandertreten von Arbeit und Genuss angesprochen ist, die dialektische Figur der Produktionsverhältnisse und reduziert den Mythos, der streng genommen keiner mehr ist, auf die Rezeption eines nun solipsistisch auftretenden, politisch gescheiterten Antihelden Odysseus, der sich selbst an den Mast fesselt und schlussendlich sogar die Ohren zubindet, während ein Anti-Odysseus, die anti-odysseeische Linke, »ein Unterscheidungsvermögen [habe] entwickeln« müssen, »das hilft, zwischen den guten und bösen, langweiligen und unterhaltsamen Gesängen dieser und anderer Sirenen zu differenzieren«.56 Zum Problem wird, dass Odysseus und Anti-Odysseus nicht mehr miteinander reden können, vor allem politisch nicht auf einen Nenner kommen, theoretisch schon gar nicht; die ›Dialektik der Aufklärung‹, die immerhin eine – durchaus streitbare – negative Geschichtsphilosophie entwirft, die versucht bereits in Homers Epos die Muster einer »Logik des Zerfalls« (Adorno) zu erkennen, mit denen erklärbar wird, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt«,57 wird in Diederichsens Anti-Odysseus-Variante zur Frage des Geschmacksurteils, mit dem der zynische Bildungsbürger idiosynkratisch auf sich selbst verwiesen bleibt. Odysseus ist auch prototypischer Bürger in der Einsamkeit des Genusses, der seinen proletarischen Gefährten verstellt bleibt; die marxistische Kritik des Epos hieße zu fordern, dass jeder der Ruderer einmal an den Mastbaum gefesselt in den Genuss des Gesangs kommen müsste; nicht die Kulturindustrie ist Abbild des Sirenengesangs, wie Diederichsen meint, sondern Surrogat der Ideologie, die aus der Vorbeifahrt an der Insel resultierte, über

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die Jahrhunderte sich erst entfaltete. – Die Popkultur des späten 20. Jahrhundert ist ohne ihre Genealogie im liberalen Zeitalter nicht zu denken; sie ist gesellschaftliche Praxis gewordene Ideologie, die genau diesen Widerspruch von Arbeit und Genuss verleugnet. Gemeinhin wird die Sirenen-Episode als Adornos und Horkheimers mythische Konstruktion bürgerlicher Kultur und ihrer Kritik gedeutet. Auch Diederichsen interpretiert, indem er Odysseus vom prototypischen Bürger als Anti-Odysseus zum Popkonsumenten modelt, kulturalistisch. Anders aktualisiert Fredric Jameson in ›Spätmarxismus. Adorno oder Die Beharrlichkeit der Dialektik‹ die Episode als »die Parabel von den Ruderern«,58 wonach es nicht um eine Theorie der Kultur, sondern Industrie gehe, also eine Theorie über den ökonomischen Produktionszusammenhang (von zum Beispiel »Kultur«). In der ›Dialektik der Aufklärung‹ heißt es: »Maßnahmen, wie sie auf dem Schiff des Odysseus im Angesicht der Sirenen durchgeführt werden, sind die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung … Odysseus wird in der Arbeit vertreten … Die tauben Ohren, die den fügsamen Proletariern seit dem Mythos bleiben, haben vor der Unbewegtheit des Gebieters nichts voraus. Von der Unreife der Beherrschten lebt die Überreife der Gesellschaft … Die Ruderer, die nicht zueinander sprechen können, sind einer wie der andere im gleichen Takte eingespannt wie der moderne Arbeiter in der Fabrik, im Kino und im Kollektiv. Die konkreten Arbeitsbedingungen in der Gesellschaft erzwingen den Konformismus und nicht die bewussten Beeinflussungen, welche zusätzlich die unterdrückten Menschen dumm machten und von der Wahrheit abzögen. Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft, in die das antike Fatum unter der Anstrengung, ihm zu entgehen, sich schließlich gewandelt hat.«59 Die Entzweiung von Genuss und Arbeit, die Hegel bewusstseinsphilosophisch fasste, hat Schiller um die ästhetische Dimension erweitert, und zwar auch in dem Bild von Fesselung und Taubheit: »Der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und, anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.«60 Darüber hinaus rekapitulieren Adorno und Horkheimer die Entfremdung, die aus der Trennung von Arbeit und Genuss resultiert, als historische Logik der Vergesellschaftung: In der Trennung von Arbeit und Genuss manifestiert sich bereits in Homers ›Odyssee‹ die fortgeschrittene Arbeitsteilung, der gesellschaftlich verhärtete Gegensatz von Produktionssphäre und Reproduktionssphäre, von

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ökonomischer Basis und affirmativer Kultur; ein Zwangsverhältnis, das sich im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung verfestigt und zugleich durch die Massenkultur ideologisch legitimiert: Der Genuss, der Odysseus zuteil wird, ist das Modell der modernen Kunst; dass Odysseus es schafft, den Mythos mit einer List zu durchbrechen und so die Vorbeifahrt unbeschadet übersteht, antizipiert das Grundmotiv bürgerlicher Ästhetik als Kritik der Urteilskraft: im Genuss selber, im ästhetischen Vollzug, entschlüsselt sich der als Rätsel in das Kunstwerk eingelassene Wahrheitsgehalt; insofern hat das ästhetische Urteil Erkenntnischarakter, so wie es Adorno noch in der ›Ästhetischen Theorie‹ entwickelt, wenn auch gebrochen eingedenk der historischen Erfahrung der Moderne im Schatten des 20. Jahrhunderts. Die Ruderer geben aber nicht nur das Urbild des schuftenden Proletariats, dem Fabriklärm ausgesetzt, sondern gleichwohl den Prototypen des Konsumenten der Kulturindustrie: sie genießen nicht, sondern werden bloß unterhalten; ihr Leben ist organisiert nach dem Plan von Freizeit und Arbeitszeit. Dass sie die nach ihren Interessen völlig unsinnige Vorbeifahrt an den Sirenen überhaupt mitmachen, hat mit dem merkwürdigen Versprechen zu tun, das Odysseus ihnen gab: Sie werden mit der Heimkehr belohnt, gewissermaßen mit dem Feierabend, und was Odysseus genossen hat, bleibt ihnen eine abenteuerliche Erzählung, von der sie dann Zuhause berichten dürfen – gewissermaßen als unbeteiligte Dritte des Geschehens. (Vorstellbar, wie die Ruderer aus der Vorbeifahrt später ihren eigenen Mythos gestrickt haben, wie sie heimgekehrt stolz berichten, durch ihre Arbeitsleistung die Gefahr der Sirenen bezwungen zu haben. Hier findet sich ein Grundmotiv der ›Dialektik der Aufklärung‹: »Amüsement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus … Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in der Angleichung an ihn in der Muße … Das Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht wieder Anstrengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen Assoziationsgeleisen sich bewegt.«61) So wenig sie den Gesang der Sirenen je vernommen haben, so sehr kennen sie den Gesang nur vom Hörensagen: und wie man solchen Gesang fachkundig genießt, haben sie ja an ihrem Herrn selbst beobachten dürfen. Derart präsentiert die Kulturindustrie schon in ihren ersten Stadien im 19. Jahrhundert die Massenkunst: In den großen Opernhäusern in Paris wird ein Spektakel für alle geboten; das Bürgertum genießt und die Arbeiter lassen sich vom genießenden Bürgertum unterhalten. Sehen und gesehen werden; der Kulturbetrieb als Bühne der Habitus-Inszenierung, als Boulevard. Mythos, Schein, Ideologie ist beides. Das Bürgertum glaubt, dass das Spektakel nur der Rahmen ist zur Inszenierung der hohen Kunst, genauso wie es glaubt, dass seine auf Halbwissen regredierten Kenntnisse über Kunst ästhetischer Genuss seien, in dem sie ihre Welt wiederfänden; das Proletariat lässt sich vom Spektakel insgesamt unterhal-

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ten, je mehr es an der Lächerlichkeit des bürgerlichen Kulturbetriebs partizipieren darf, desto besser; damit wird der Neid erträglicher – die ohne Glück und Geld sollen lernen, dass Geld allein nicht glücklich macht. Ruderer und Odysseus, die Knechte und ihr Herr, geben aber nur ein unvollständiges Bild der Dialektik der Moderne; die Kulturindustrie konstituierte sich wesentlich über eine gesellschaftliche Klasse, die im Epos nicht vorkommt, das nivellierte Kleinbürgertum, die Angestellten. Sie funktionieren so wie ein Odysseus, der doch nicht richtig am Mastbaum gefesselt war, der an der Leine versuchte, zur Insel zu schwimmen; sie funktionieren wie Ruderer, denen die Ohren nicht fest genug verstopft waren und halb zuhörten, den Gesang wie Hintergrundmusik für ihre Arbeit empfunden haben dürften (also nicht wie Trommelschläge im Arbeitstakt, sondern eher wie das Radio auf dem Schreibtisch der Sekretärin, die sich im Büro animieren lässt, beim Gewinnspiel mitzumachen, um mit frischem Elan an die Arbeit zu gehen). Sie etablierten die Ästhetik, in der Genuss zum Amüsement wurde, kulinarisch und hübsch; sie rezipieren die Kulturwaren genauso, wie diese von der Reklame angeboten werden: als Kunstwerke, deren Wahrheitsgehalt allerdings der Preis, der technisch perfekte Sound geworden ist. Die vermittelten Erkenntnisse bedeuten, Geschmacksurteile darüber abzugeben, ob Munch oder Picasso besser übers Sofa passen, oder welche Lautsprecher mehr Druck machen, besonders im Bassbereich, ob der neue Start-Trek-Film nicht hinter dem letzten zurückfällt oder ob die alten Sachen von Grönemeyer, Westernhagen etc. nicht besser waren als die neuen. Eine andere Episode der Irrfahrt berichtet von der grausamen Begegnung mit dem Zyklopen Polyphemos, der Odysseus und seine Mannschaft gefangen nimmt: Ein Kannibale, der nach und nach die Gefährten auffrisst. Am Abend lässt der Zyklop sich herab, Odysseus nach seinem Namen zu fragen: »Mein Name ist Oudeis«, antwortete Odysseus, was »Niemand« bedeutet. »Ich werde dich erst als letzten verzehren, Freund Oudeis«, versprach Polyphemos. »In Wahrheit verleugnet das Subjekt Odysseus die eigene Identität, die es zum Subjekt macht und erhält sich am Leben durch die Mimikry ans Amorphe.«62 Odysseus verleugnet seine Identität und damit auch, dass er der Anführer der Seeleute ist, seine soziale Funktion; und genau mit dieser Verleugnung bestätigt er seine gesellschaftliche Stellung als Herr; das Leben der Knechte riskiert er als Bauernopfer, um sein eigenes zu retten. Das Leben der Mannschaft zählt nur als allgemeines Schicksal; der einzelne Ruderer zählt nichts, ist bloß anonyme Arbeitskraft. Mit der Täuschung, Niemand zu sein, nennt Odysseus sozusagen den Namen seiner Gefährten: sie sind wirklich Niemande, als Subjekte bedeutungslose, unbekannte Identitäten. Diese List ist der billigste Trick des im Kapitalismus Erfolgreichen, der sich zum einfa-

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chen Mann degradiert: Dagobert Duck, der sich immer wieder als armer Schlucker verkleidet, der Talk-Show-Moderator, der meinungs- und emotionslos die Meinungen und Emotionen seiner Gäste abfordert, der Popstar, der seinen Fans dankt, einer von ihnen zu sein, bis zum Star, der in der spätkapitalistischen Popgesellschaft aus seiner irgendwie charismatischen Bedeutungslosigkeit Publikumserfolg zu schlagen vermag. – Odysseus, der sich selbst im Augenblick schrecklicher Gefahr nicht mit seinen Gefährten solidarisieren vermag, sondern sie nur kopiert, bleibt einsam; ganz so, wie in der Kulturindustrie letztlich die erfolgreichen Stars paradox als Leitbilder angeboten werden und gleichzeitig vor ihrem Lebensstil gewarnt wird, weil er zu Suff, Lieblosigkeit, Verzweiflung, Depression führt; auch der Popstar findet das Glück nicht, das er ideologisch verkörpern soll: Er bleibt allein. Ebenso allein und vereinsamt findet sich der Anti-Odysseus wieder, zu dem in Diederichsens Text plötzlich Diederichsen selber wird: »Das Schlimme am Alleinsein ist ja die Langeweile. So daß ich, wenn ich wegen meiner Einsamkeit heulen muß auf der Straße, dies ein Anfang wäre, wenigstens zu erkennen, in welcher Weise man einsam ist, oder was einen daran stört; wie nicht allein oder einsam sein zu wollen und nicht gelangweilt werden zu wollen auf dasselbe hinausläuft. Darum geht’s. Oder man erkennt, daß man zwar einsam und alleine gerade nicht ist, aber sich vielleicht sogar wünscht, für sich zu sein. Man hat die vielen anderen im Blick und kann sie dennoch leicht abschütteln. Gerade auf der Straße und in der besonderen Einsamkeit, die sie als Unterbrechung einer oft erzwungenen, falschen Kollektivität auch zu bieten hat, kann man vielleicht lernen, von sich ausgehend die freiwillige Kollektivität zeitgemäßer und zeitgenössischer Einzelner neu zu denken.«63 Als Anti-Odysseus plädiert Diederichsen für eine Solidarisierung der (Pop-)Linken, für eine brechtsche »Freundlichkeit«: weil die Unfreundlichkeit und das arrogante, diskreditierende Sektierertum, das inquisitorisch richtet und vernichtet, statt kritisiert und argumentierend polemisiert, längst zum Umgangston geworden ist im Popfeld; nicht aus Laune, was ja noch belustigend wäre und ist, sondern weil mittlerweile wohl auch den links ventilierenden Popangestellten und subversiven Diskursphilistern der Arsch ökonomisch auf Grundeis geht und die kleinen Pöstchen an Universitäten oder in der Kulturindustrie verteidigt werden müssen. Zum Subversionsmythos der Poplinken gehört auch, dass sie kaum ihre Stellung in der Produktion, als Produzent, reflektiert; die Poplinke, die einst bissig den kommerziellen Mainstream-Erfolg kritisierte, den Ausverkauf der Subkulturen, agierte selbst in einer Ökonomie, in der Praktikanten umsonst und Kulturproduzenten mit Kostenbeteiligung arbeiten, Honorare nicht gezahlt und Projekte ehrenamtlich durchgeführt werden; eine Ökonomie ohne Tarife und Gewerkschaften, die mittlerweile die Kulturindustrie in

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fast allen Produktionszweigen übernommen hat, samt Anschein, dass man irgendwas total Subversives macht, wenn man für einen Musiksender Bands kostenlos interviewt. In Zeiten der globalkapitalistischen Krise, in der auch die Popnische nicht mehr mit Nebenjobs finanziert werden kann, bricht der Subversionsmythos zusammen: Nicht nur die Subversion bleibt aus, sondern ausgerechnet das, was subversiv sein sollte, entpuppt sich als Konkurrenzverhältnis schlechthin: das alte Problem der Boheme; und das alte Problem des Kulturproletariats, das ganz alte Problem der Gefährten von Odysseus. Hier ist Solidarität gefragt, Kulturpolitik für und mit den Anti-Ruderern, den Kulturarbeitsverweigerern und Außenseitern. (Aber wie?) Soll der Gesang der Sirenen und Odysseus’ List, ihn zu genießen, als mythisches Urbild der Popkultur Bestand haben, so ist nicht nur zu berücksichtigen, was mit den Ruderern geschieht, sondern auch, wie es den Sirenen ergeht: Pop ist Produktionszusammenhang; die Mythen, die Pop produziert, werden von Produzenten gemacht, von den Konsumenten bloß ideologisch reproduziert (auch hier gilt Schellings Jugendbemerkung: »Über dem Produkt das Produzierende nicht zu vergessen.«). In der ›Dialektik der Aufkärung‹ heißt es: »Das Epos schweigt darüber, was den Sängerinnen widerfährt, nachdem das Schiff entschwunden ist.«64 – Einen anderen Ausgang überliefert allerdings Robert Ranke-Graves: »So passierte das Schiff sicher die Insel, und die Sirenen begingen aus Ärger Selbstmord.«65 Die Verlockung der Sirenen war keineswegs nur eine ästhetische des reinen Genusses; im Gesang wird das sexuelle Versprechen, das Begehren seinen Ausdruck gefunden haben, dem Odysseus sich gleichsam versperrt. Gefesselt kann er nicht einmal onanieren. Zugleich wird durch seine List Sexualität überhaupt zugerichtet, das Ästhetische entsexualisiert, enterotisiert. Damit wird das, was die Sirenen bieten, zur Arbeit, zum Produkt, und die Lust, die sie versprechen, zur Beigabe, zur symbolischen Repräsentation von Sex und Geilheit. Odysseus zerbricht den Mythos durch einen neuen, der sich in der Natur- und Selbstbeherrschung manifestiert. Das ist, vor allem bezogen auf die Versagung der Triebe, ihre Sublimation, der Grundmythos der Kultur: dass sie Resultat gelungener Verdrängung der Libido ist, Durchsetzung des Realitätsprinzips. Auch den lockenden Sirenen bleibt die Lust versagt. Britney Spears und Christina Aguilera müssen nach jeder vermeintlichen Schamlosigkeit ihre Prüderie bezeugen. Sie verleugnen durch die Zurschaustellung ihrer sexuellen Reize die Trennung von Herr und Knecht, die sich auf dem Schiff längst vollzogen hat, die bei ihnen, den Sirenen, mitten durch den Körper läuft: Sie sind verdammt, ihre erotische Anziehungskraft, ihre sexuelle Attraktion selbst zu genießen – in dem Dienst, den sie leisten; ihre Lust bleibt auf die gleichzeitige Versagung der Lust beschränkt, und dafür arbeiten sie. Im modernen Mythos kulminiert das

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in der protestantischen Ethik der Sünde. Im Mythos der Moderne kehrt dieses Urbild der Sublimation wieder in der Prostitution und im Spiel, wie Benjamin im ›Passagen-Werk‹ notiert: »Denn im Bordell und im Spielsaal ist es die gleiche, sündigste Wonne: In der Lust das Schicksal zu stellen. Daß Sinnenlust, von welcher Art sie sei, den theologischen Begriff der Sünde bestimmen könne, mögen ahnungslose Idealisten sich träumen lassen.«66 – »Im Showgeschäft Gefühle zeigen.« – – – Einer der beharrlichsten Mythen der Popkultur ist, dass die Musik nicht deshalb spiele, weil sie Ware ist, sondern um ihrer selbst willen. Spielen im Kapitalismus ist Prostitution. Gerade am neueren Erfolg der Frauen in der Kulturindustrie, der umso größer wird, je mehr Fleisch sie zeigen, je mehr Sinnlichkeit sie repräsentieren, offenbart sich dieses Prinzip. In der neuesten Phase des Krisenkapitalismus ist das eine besondere Variante der selbstlosen Ich-AG: Auch der Aktionär braucht spielerisches Geschick; und schon immer hatte Existenz die philosophische und ökonomische Doppelbedeutung. Odysseus ist Robinson, der selbstständige Unternehmer, der Prototyp des Bürgers. Die Existenzen, die jetzt selbst zu Aktiengesellschaften in einer Person werden sollen, weil sie auf dem geregelten Arbeitsmarkt keine Chance mehr haben, finden ihre Prototypen in den Kulturschaffenden, den Popproduzenten, die wie die Ruderer angeheuert werden, und in den Huren, die sich wie die Sirenen prostituieren (sich bloßstellen, sich preisgeben). In den Metropolen konzentriert sich die Popkultur in den Vierteln, die von der Kulturindustrie wie von der Sexindustrie gleichermaßen geprägt sind.67 – In keinem gesellschaftlichen Raum sind die Surrogate der Solidarität derart über Konsum, Geld, Ware geregelt wie hier (jede noch so verzerrte Form des Genusses ist über den Eintrittspreis geregelt, sei es Sex oder Theater, Kino, Konzert, Museum; nur der Journalist, der Kritiker, der sich ökonomisch auf derselben Stufe bewegt, darf um einen Platz auf der Gästeliste streiten). Arbeit in der Popgesellschaft verspricht Selbstentfaltung. Laufend müssen die Angestellten der Kulturindustrie, die Popkünstler ebenso wie die Pornodarsteller (insbesondere Darstellerinnen) in Interviews bestätigen, dass ihnen die Arbeit Spiel ist, Spaß macht, dass sie freiwillig ist und eben Selbstentfaltung. »Spiel und Selbstentfaltung als Prinzipien der Zivilisation bedeuten nicht eine Umformung der (mühsamen) Arbeit, sondern deren vollständige Unterordnung unter die frei sich entfaltenden Möglichkeiten des Menschen und der Natur.«68 Dagegen setzt Marcuse, mit Bezug auf Schiller, eine »Veränderung auf eine nicht-repressive Ordnung hin«, die »Umformung von Arbeit (Mühe) in Spiel … Die Selbst-Sublimierung der Sinnlichkeit (des sinnlichen Triebes) und die Ent-Sublimierung der Vernunft (des Formtriebs), um die beiden antagonistischen Grundantriebe zu versöhnen … Die Überwindung der Zeit …«69

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SIRENENGESANG IN ENTENHAUSEN. – Phantomias alias Donald Duck bekommt, um einer Räuberbande das Handwerk zu legen, von Daniel Düsentrieb eine besondere Pistole: »Die Munition besteht aus einer geballten Ladung Musik. Man schiebt eine Patrone mit dem gewünschten Rhythmus ein, richtet die Waffe auf das Opfer und drückt ab! So!« – ›My baby baby balla balla …‹ – Donald: »Mannomann! Da geraten einem ja alle Gehirnwindungen durcheinander!« Düsentrieb: »Dabei war das noch die harmloseste Patrone! Du solltest erst mal die anderen hören! … Im Patronengürtel findest du jede gewünschte Art von Musik. Rock, Beat, Tango, Rumba …« Als Phantomias wenig später in der Nacht die Waffe einsetzt – ›Yeah! Yeah! Yeah! Rock ’n’ Roll again …‹ –, wird er von den Anwohnern mit Schuhen, Bügeleisen, Gläsern, einem Wecker und Töpfen beworfen: »Ich rufe die Polizei, wenn Sie nicht sofort damit aufhören!« Zum erfolgreichen Einsatz kommt die Waffe schließlich in dem Gefängnis, in dem die ausgefuchste Räuberbande ihren Unterschlupf hat. Die eigentliche Wachmannschaft, die von den Gangstern in den Keller gesperrt wurde, soll sich Watte in die Ohren stecken; Donald schießt mit der Pistole die Soundmunition ins Mikrofon der Lautsprecheranlage: ›Waterloooo … Rock around the clock … La cucaracha‹ – ›Cha-cha-cha! Yeah! Yeah! Boogie-Woogie … Let’s twist again …‹ – ›O sole mio …‹ – ›… humba, humba … täteräää …‹ – ›Heute haun wir auf die Pauke …‹ Völlig benebelt und verwirrt gehen die Kriminellen zu Boden.70

»… und tu’s auf Deine Weise.« »Als er es in seinem Zimmer hatte und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrische Freude, daß er statt weiterzuspielen aufsprang und aus einiger Entfernung die Hände in den Hüften das Klavier lieber anstaunte. Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnet und sie trug dazu bei, sein anfängliches Unbehagen, in einem Eisenhause zu wohnen, gänzlich verschwinden zu lassen.« Franz Kafka, ›Der Verschollene‹ (Frankfurt am Main 1993, S. 47 f.)

Widerstand und Subversion sind nicht besondere Mythen der Popkultur, sondern der Ursprungsmythos eines Modells von kultureller Emanzipation innerhalb der bestehenden kulturellen Ordnung, das die Befreiung vom gesellschaftlichen System propagiert (und unablässig und immer wieder versucht), ohne dieses System zu verändern; ein Modell, das den affirmativen Charakter der Kultur bestätigt, indem es die transzendierenden Elemente des Widerstands und der Subversion von einer kollektiven realen Gewalt zu einer individualisierten symbolischen Gewalt verschiebt – und diese Verschiebung als Transzendenz, als Widerstand mythologisiert. Diese bedeutende Verschiebung ist für den Begriff und das Bild des Widerstands und der Subversion innerhalb

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der Popmythen konstitutiv: als umfassende Integration. Der Popmythos basiert nicht auf Definition (also Aus- und Abgrenzung), sondern auf Ausdehnung und Einschluss: Nicht Kritik der kapitalistischen Arbeitsverhältnisse, sondern Integration der Produktion ins kulturelle Feld; nicht Ablehnung des Konsums, sondern Integration des Konsums. Das Wie wird wichtiger als das Was: Kapitalismus wird im Popmythos zur Einstellungssache. »Jedes kulturelle Feld besitzt seine eigenen Mythen. Mittelständige Angehörige des Kulturmilieus erzählen beispielsweise über Literatur gerne die Mär, sie verhindere per se die Barbarei. Pop und Rock dagegen sind geradezu Synonyme für Jugend, Emanzipation, Dissidenz und Fortschritt. Ihr Mythos erzählt immer noch die Geschichte des jungen Mannes, der zu einer Gitarre greift, eine Band gründet und Musik spielt, die seine Eltern und damit die Gemeinschaft der Erwachsenen provoziert. Aber die dissidente Authentizität dauert nur einen kurzen Moment, dann kommen die bösen äußeren Mächte und kooptieren das gerade Gespielte … Obwohl die Mythen über Pop und Rock in den achtziger Jahren langsam verblaßten, funktionieren sie in kleineren Kreisen dennoch ›reiner‹ denn je.«71 – Aber ist nicht die Deutung, dass jedes kulturelle Feld seine eigenen Mythen besitzt, selbst ein Mythos? Wo und wer sind die mittelständischen Angehörigen des Kulturmilieus, wie und wo erzählen sie die Mär von der Barbarei verhindernden Literatur? Welche Literatur ist das? ›Nichts als die Wahrheit‹ verspricht der auf ewig zum Mitarbeiter des Monats gefeierte Dieter Bohlen, der Fleisch und Schrift gewordene Mittelstand, der fleißigste und erfolgreichste Angestellte der Kulturindustrie. Modern Talking – so funktionieren Protestsongs! Wer hat jemals den Mythos erzählt, dass Pop und Rock Synonyme für irgendwas seien, wenn nicht diejenigen, die den Mythos aufklären und um die graduelle Nuance dahingehend korrigieren wollten, dass das Subversionspotenzial kein Mythos ist, sondern die Aufklärung selbst? Sie mündet in der Rationalisierung des Mythos: »Tatsächlich sind Kämpfe auf dem Feld der Kultur wichtiger denn je, und es lohnt sich definitiv, auch weiter ästhetisch um Repräsentation zu streiten. Allerdings muß man wohl aufgrund der ambivalenten Geschichte von Pop betonen, daß man diesen Kampf immer wieder verlieren wird, wenn es nicht gelingt, an den sozialen und institutionellen Praxen etwas zu verändern.«72 Ist die Geschichte von Pop ambivalent? Oder ist die Geschichte von Pop nicht selbst eine Ambivalenz des Mythos bürgerlicher Kultur? – Der Mythos der Popgeschichte wird fortgeschrieben, statt ihn als Ende der Vorgeschichte tatsächlich zu sprengen (also die oben von Benjamin zitierte Auflösung der Mythologie in den Geschichtsraum; die Sprengung des Kontinuums, der homogenen und leeren Zeit …). Insofern braucht es eine Kulturrevolution in der Poplinken, die nicht die Zeichenordnung verschiebt, sondern zerstört. Freilich: »Die Räume für Kritik

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werden aber aus dem Grund enger, weil mit dem Sieg über die Disziplinargesellschaft das Kategoriensystem gesellschaftlicher Selbstbeschreibung kulturalisiert wurde. Was zuvor noch wirtschaftlich oder politisch interpretiert werden konnte, läßt sich jetzt nur noch durch die Brille der Kultur betrachten. Auch das ist ein Ergebnis von jugend- und popkulturellen Kämpfen: Soziale Unterschiede gelten heute als konsumistische Stilprobleme, und soziale Auseinandersetzungen können nur noch als symbolische Kämpfe wahrgenommen werden.«73 Widerstand droht vollends zur bloßen Metapher zu werden, wenn er sich auf die Repräsentation beschränkt. »Was bedeutet ›repräsentieren‹? Repräsentation ist die Vor- und Darstellung einer Sache in einem anderen Medium. Die Mythen von der Dissidenz unterstellten Pop beispielsweise, er repräsentiere Widerstand und Fortschritt.«74 Auf diese reine Repräsentation des Mythos vom Widerstand läuft es allerdings hinaus, wenn Diederichsen schreibt: »Linke sollten ihre unausgesprochenen kulturpolitischen Aktivitäten und Lebensformen bewußt gestalten, diskutieren und zum Gegenstand der Reflexion erklären. Einerseits ja … Andererseits nein.«75 Einerseits ja: »Wenn die Linke sich als revolutionäre oder utopische oder in einem fundamentaleren Sinne gesellschaftsverändernde Kraft denken will, braucht sie ein dem Gegenwärtigen und Unmittelbaren zugewandtes Gesicht. Sie hat dies, wann immer sie erfolgreich war, auch gehabt, nur hat sie dies zuletzt zu lange ignoriert oder sich dessen geschämt. Lebensform oder ›Kultur‹ wäre also der der Gegenwart zugewandte Teil linker Politik, der allerdings auch im Zusammenhang mit ›echter Politik‹, also pragmatischer oder sogenannter Realpolitik eine Beziehung eingehen muss. Diese Beziehung entsteht idealiter dadurch, dass Linke in der Konkretheit von Lebensformen sich anschaulich beobachtbar, kritisierbar und angreifbar machen.«76 Andererseits nein: »Statt dessen käme es darauf an, die besondere Nichtidentität und die fragliche Differenz zu gestalten und zu benennen, das nichtidentitäre, aber eben nicht einfach nur irgendwie nichtindentitäre, sondern meist sehr genaue Verhältnis zwischen einer Vorliebe zu einer Gestalt und einer Idee zu artikulieren.«77 Der »Unterstellung, ›Kultur-‹ oder ›Poplinke‹ seien diejenigen, die Kultur anstelle von Politik betreiben wollten«,78 opponiert Diederichsens Idee, Kultur als Politik zu betreiben, Politik als Kultur. Pragmatische Realpolitik ist dann der gestattete Einblick ins Privatleben, die Linke als Lebensform, verpflichtet auf die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt, nebst oder inklusive Zurschaustellung des gelebten Widerspruchs als gestalteter Differenz, also eine Innenarchitektur des richtigen (linken) Lebens im falschen. (Und wollen wir das?)

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Monaden, mit Fenstern; Keimzellen der Popkultur.

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»Regt Euch jetzt bitte nicht künstlich auf!« Anmerkungen zur Poplinken – Maxiversion & Remixe »Die linken Vögel behielten gegen den Grund des erstorbenen Himmels etwas von ihrer Helle, blitzten mit jeder Wendung auf und unter, vertrugen oder mieden sich und schienen nicht aufzuhören, eine ununterbrochene, unabsehbare Folge von Zeichen, ein ganzes, unsäglich veränderliches, flüchtiges Schwingengeflecht – ein lesbares – vor mich hinzuweben. Nur daß ich abglitt, um mich stets von neuem bei den andern zurückzufinden. Hier stand mir nichts bevor, nichts sprach zu mir … Links hatte noch alles sich zu enträtseln, und mein Geschick hing an jedem Wink …« Benjamin, ›Nordische See‹ (in: GS Bd. IV·1, S. 386) »Links ist da, wo die Hi-Hat steht.« Andre Rattay

Leg deine Ohren auf die Schienen der Geschichte: Pop als Archiv der Unmittelbarkeit Die Poplinke ist das fortgeschrittene Stadium der Kulturlinken; sie verweist auf die Geschichte, auf die die Kulturlinke mittlerweile zurückblicken kann (es ist »eine eigene Geschichte aus reiner Gegenwart«). Solche Geschichte lebt allerdings von Selbstbezug und -bezeugung, ist ›Kulturgeschichte‹ – mithin maßgeblich der Reflex auf die Strukturveränderungen der Massenkultur und des durch sie vermeintlich bedingten Wandels des Sozialen. Die Poplinke ist eine politische Form der Selbstreferenzialität. Will sagen: Die Kulturlinke thematisiert zwar die Gegenwärtigkeit einer Kulturindustrie, blendet jedoch die Dialektik der Aufklärung, die dieses Jahrhundert bezeichnet, aus. Das Soziale und Politische erlebt sie gefiltert durch die Kultur: die abstrakten Mechanismen der Repression werden als Alltagskultur wahrgenommen, aus dem Blickwinkel der Nische in der Popkultur; die konkrete Gewalt – etwa in Form des Krieges (Vietnamkrieg, Kosovokrieg, Golfkrieg I-III) – wird Thema der Kritik, wenn sie als Phänomen des Pop kritisiert werden kann, wenn der Krieg bereits als Popereignis erscheint. Durchaus ist die Poplinke sensibel für die historische Gewalt, die auf dem vergangenen Jahrhundert lastet; das Verhältnis, welches die Poplinke zu ihr gewinnt, ist aber eines von ›Interesse‹ – nur wo die Gewalt unmittelbar in den Erfahrungshorizont der Gegenwart hineinreicht, wird sie zur Kenntnis

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genommen. Für eine Gegenwartsdiagnose mögen die Konzepte von Normierungsmacht und Kontrollgesellschaft nutzbar sein; um Auschwitz zu denken, fehlt ihnen die Reichweite. So verblasst Vergangenheit zum Geschichtszeichen. Gegen Adornos Diktum aus der ›Negativen Dialektik‹, wonach alle Kultur nach Auschwitz Müll sei, samt der Kritik an ihr, erweist sich Popkultur insgesamt als immun – sie gilt, gleich ob Mainstream oder Subkultur, als Nachkriegserscheinung, postfaschistisch. Die Dynamik von Basis und Überbau muss dialektisch gefasst werden. Das englische Wort für ›Überbau‹, nämlich Superstructure, trifft dies bereits gut: Pop kann als eine Superstruktur der sozialen und ökonomischen Strukturverhältnisse verstanden werden. Pop ist nicht nur Überbau des Spätkapitalismus, sondern selbst Ausdruck eines Strukturzusammenhangs der globalen kapitalistischen Verwertungslogik. Popgeschichte ist keine autarke oder autistische Abfolge von »kulturellen Ereignissen«, sondern als Geschichte überhaupt nur aus der Entfaltung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen. Die konzedierte Popgesellschaft ist mitnichten die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Entstellungen; sie ist – schon dem Schlagwort und ihrer Ideologie nach – gewissermaßen die Emblematik der Kulmination des im 19. Jahrhundert in Gang gesetzten Prozesses der Wertvergesellschaftung. Insofern hat auch die Popkultur ihre Urgeschichte im 19. Jahrhundert (wie der Spätkapitalismus überhaupt). Und insofern ist Pop nicht als Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft zu denken, sondern als Moment der Dialektik der Aufklärung, die im 20. Jahrhundert auch ihre terroristischen Stadien durchlief, von deren Spuren sie bis heute nicht frei ist. Die soziale Funktion der Kultur als Kitt entfaltete der Nationalsozialismus ebenso gekonnt wie die Massendemokratie. Dass Pop die reine Kultur ist, die Adorno als Müll bezeichnete, berührt Reflexionsebenen, die in der Poplinken nicht vorgesehen sind. Überhaupt ist in der Kulturlinken der Begriff ›Kultur‹ so fragwürdig wie jener der ›Linken‹. Er ist nämlich zunächst ein bürgerlicher, abgezogen vom Verständnis der »affirmativen Kultur«, die sich als Reich des schönen Scheins gegen die harte soziale Wirklichkeit setzt. Nur dass im Pop dieser Schein noch heller strahlt, weit in den Alltag hinein. Die vergebliche Suche nach dem Subversionspotenzial, der Dissidenz: An der Popkultur interessiert wohl mehr ihre identifikatorische Kraft, weniger die negatorische Seite der Kultur. Es fehlt in der Poplinken genauso wie im Mainstream das Geschichtsbewusstsein der eigenen Mode (statt dessen wird die eigene Geschichte aus dem Modebewusstsein geschrieben); es fehlt die Erinnerung an der politischen Bewegung, statt dessen wird die Bewegungsgeschichte zum Trend, die Revolution zur Saisonfrage (das alte Problem der ›Wohlfahrtsausschüsse‹ – die Kultur kokettiert mit der Revolte, indem sie diese ins ästhetische Programm integriert; für eine hedonistische Linke ist das für einen gelun-

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genen Augenblick genug – für die Emanzipation ist es allerdings viel zu wenig. Politik und Utopie können nicht inhaltlich in der Popästhetik aufgehoben werden, nur material und formal). – Es gibt zum Beispiel kaum ein Lernverhältnis zur eigenen Geschichte; keine reflektierende Auseinandersetzung mit der Kulturpolitik vergangener Bewegungen. Die Linke hat zu Recht den Stalinismus kritisiert; die Poplinke hat sich aber nie mit Schdanow auseinandergesetzt (oder zum Beispiel mit der programmatischen Massenkultur der Deutschen Demokratischen Republik). Der sozialistische Realismus wurde sang- und klanglos verabschiedet, ohne je auf die alten Debatten zwischen zum Beispiel Lu Märten, Lukács, Bloch und Brecht zu reflektieren; lautstark wurde ein realistischer Individualismus dem entgegengesetzt, eine Propagandakunst der Befindlichkeiten. Das Kollektive, das in der revolutionären Avantgardekunst ebenso wie in der realsozialistischen Massenkultur verwirklicht werden sollte, wurde der Kulturindustrie und ihrer Inszenierung der Masse überlassen, oder in der popistischen Innerlichkeit retuschiert (zur Hood, Posse, Gang, Szene, Crew, Band etc.). Es hat Versuche gegeben, Gramscis Kulturtheorie poplinks zu wenden; einige berühren psychoanalytische Kulturtheorien, dann von Lacan inspiriert; heute steht Bourdieu und seine Soziologie der symbolischen Formen neben Luhmann, Baudrillard und ›Tausend Plateaus‹. Antiquiert oder einfach aus der Mode, »mega-out«, erscheint dagegen die kritische Theorie, sei’s weil sie die Anstrengung der immanenten Gedanken des Widerspruchs und Einspruchs verlangt, sei’s weil sie einfach als zu schwer gilt. Was aber eine linke Kulturpraxis einschließen müsste, nämlich eine utopische Dimension der Kultur, negativ wie prospektiv, und das heißt die praktische Entfaltung einer Kultur der Verweigerung als Aufhebung der Kultur – das fehlt. Vielmehr besteht zwischen Kultur und Linkssein so etwas wie eine enharmonische Verwechslung, wird das eine im anderen abgebildet, identifiziert, also gleichgemacht, trotz aller postmodernistischen Rede von der Differenz. »Ein Werk, das die richtige Tendenz aufweist, braucht keine weitere Qualität aufzuweisen. Man kann auch diskretieren: ein Werk, das die richtige Tendenz aufweist, muß notwendig jede sonstige Qualität aufweisen.«1 Der bloß politische Popsong reicht nicht; Walter Benjamin, der hier auf die Probleme politischer Dichtung anspielt, griff mit diesen Sätzen eine zentrale Figur der damaligen kulturpolitischen Debatte auf, kristallisiert im Begriff der Tendenz – heute könnte man Parteinahme sagen. Es ging um Form, Inhalt und die dialektische Vermittlung von beiden; es ging um Fortschritt in der Kunst und eine Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Kultur; es ging um die Formulierung einer neuen Kultur und die Reflexion auf die soziale Stellung der Künstler, eine Kritik der kulturellen Produktionsbedingungen und -verhältnisse. – Und so bleibt, dass sich, um Benjamin zu paraphrasieren, ›poplinks noch alles zu enträtseln‹ hat.

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Die besseren Parties »Hier also, in dem Reiche des ästhetischen Scheins, wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch im Wesen nach realisiert sehen möchte.« Friedrich Schiller, ›Über die ästhetische Erziehung des Menschen … / 27. Brief‹ (in: ›Über das Schöne und die Kunst‹, München 1984, S. 229)

Was unter dem Vorzeichen, dass es keine Linke mehr gäbe, »links« zu Beginn unseres Jahrhunderts bedeuten könnte, erzwingt die Frage nach der Zerfallsgeschichte der Linken im 20. Jahrhundert. Was die Linke im 20. Jahrhundert erreicht – oder besser nicht erreicht – hat, verlangt mehr als die geübte Selbstkritik an politischen Strategiefehlern. Dass die Revolution misslang, lag nicht an der mangelnden Mobilisierung oder an den falschen Parolen. Dass die Revolution misslang, lag auch, wie so oft, an der falschen Kompromissbereitschaft, an den ohnmächtigen Konzessionen, der fehlenden Radikalität, vor allem an der Fantasie- und Utopielosigkeit; statt dessen wird soziale Fantasie mit der Paranoia der Rackets verwechselt, mischen sich Esoterik, Lustfeindlichkeit, Antisemitismus und Schlimmeres in die vermeintliche Widerstandspraxis. Dass wir die besseren Parties haben, überzeugt ja nicht einmal mehr die größten Idioten in den eigenen Reihen. Zudem: Die so genannte Pop- oder Kulturlinke glaubte als politischen Fehler der Linken die Politik selbst zu erkennen und meinte die Politik zugunsten der Popkultur verwerfen zu können. Schon als Konzept einer immanenten Kritik der Linken ist das fraglich; und in der weiteren politischen Auseinandersetzung mit der Rechten wird dies Konzept zur Tragödie (die Punkbewegung bis zur APPD) oder zur Farce (Schlingensiefs Versuch, mit Horst Mahler das bürgerliche Theater zu dekonstruieren). Darüber hinaus liegt der Kulturlinken der doppelt merkwürdige Befund zugrunde, wonach die traditionelle Linke keine adäquate Auseinandersetzung mit dem »kulturellen Feld« kannte, und die Politik sich dort einholen ließe, wo die Politik des Sozialen sich in Kultur auflöst – wenn alles Pop wird, dann ist poplinks auch politisch; und wenn Pop das Gemisch aus Party, Musik und Sex ist, dann proklamiert poplinks die besseren Parties, die bessere Musik, den besseren Sex. Diejenigen, die das als Konsens der Linken definiert haben wollten, nivellierten die Linke dadurch als Konkurrenzunternehmen zur Rechten, im Sinne der Attraktivität und des Indentifikationsangebots für Jugendbewegungen. So betreibt man Jugendzentren, aber keine emanzipatorische Praxis. Die Ablehnung der Politik zielte vor allem gegen die Lustfeindlichkeit der K-Gruppen und der Autonomen. Statt das Private zum Politischen zu machen, sollte die Politik privat werden: mit Hilfe postmoderner Versatzstücke schrieb sich die Kulturlinke fast unbemerkt die modernsten Ziele auf ihre

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Fahnen: das autonome bürgerliche Individuum. In der Wahrnehmung der Gesellschaft als vorrangig kulturelle, popistische Großveranstaltung reicht der subversive Widerstand des Individuums gegen die Kontrollgesellschaft nicht weiter als zur Beurteilung, ob man gerade auf der besseren Party ist oder nicht. Die Partykultur wird jedoch nicht zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift; ihr fehlt die Solidarität. Es geht nicht nur darum, den allgemeinen Konkurrenzdruck der Individuen erträglicher zu machen; man kann und sollte an der Kulturindustrie kritisieren, dass sie ihr Versprechen, für ein Wochenende den Alltag zu verdrängen, nicht wirklich einlöst. Aber es kann nicht Aufgabe einer poplinken Praxis sein, diese Verdrängung zum Programm der eigenen Parties zu machen. Die subversive Unterhaltung ist nicht die bessere Variante des kulturindustriellen Stumpfsinns, der ohnehin läuft, sondern eine ganz andere Unterhaltung. Solche Unterhaltung setzt nicht auf Verdrängung, sondern auf Erinnerung – es ist ja bürgerliche Ideologie, dass Erinnerung, ästhetische Erfahrung, Reflexion und dergleichen nur dem kontemplativen Genuss vorbehalten sind. Auch die besseren Parties finden noch immer im Falschen statt; die Drohung des Exterminismus, das Zeitalter der Angst lässt sich nicht wegtanzen. Aber eine Solidarität, die nicht nur den Raum besetzt, sondern auch die Zeit (Geschichte), vermag vielleicht in einer hedonistischen Zerstreuung die Frontlinien neu zu definieren.

Die bessere Musik »Hunde, die bellen, beißen nicht.« Sprichwort

Eine Frau wird verhaftet, weil sie dafür verantwortlich gemacht wird, dass auf einer Demonstration Slimes ›Deutschland muss sterben‹ abspielt wurde, während Atari Teenage Riot ihre Hardcoretechno-Coverversion desselben Stückes im Musikfernsehen ungehindert präsentieren. Die Kulturindustrie verwandelt sich in Reklame für die Welt, so wie sie ist. Und wenn die Welt scheiße ist, dann macht sie sogar noch diese Scheiße zum Element der schönsten Werbung. Als Verwaltungsapparat der Warengesellschaft ist ihre schärfste Waffe die Integration: Wo Subversion und Protest nicht selbst bereits lancierte Produkte sind, wird Widerstand zu Werbestrategien, zu Accessoires der jeweils neuesten Moden. Die repressive Toleranz (Herbert Marcuse) macht Ideale und Mode synonym, solange die Ideale eine Frage der Förmlichkeit bleiben. Der poplinke Standpunkt des besseren Geschmacks verteidigt die Ideale als Scheinproblem des Förmlichen, der Formalität, indem überhaupt das Problem des Widerspruchs von Form und Inhalt ausgespart wird. In weiten Teilen ist die Kulturlinke damit nicht nur nicht gesellschaftskritisch, sondern streng genommen nicht einmal kulturkritisch. In den Neunzigern gelang es zwar, Ansprüche

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auf die Massenkultur durchzusetzen, und mit HipHop, House, Drum ’n’ Bass und Techno wurde den Verhältnissen ihre eigene Melodie vorgespielt – die kulturelle Hegemonie wurde jedoch nicht durchbrochen, sondern verschoben: Die Kultur wird insgesamt zur Nische, tritt zur Gesellschaft im selben Verhältnis wie das Feuilleton zur Politik. Es gibt keine Lösungen, nur erste Schritte. Der ›Club der kulturell Verunsicherten‹ war mehr als ein Versuch. Die materialästhetische Dialektik von Form und Inhalt verlangt die immanente Kritik, die den Inhalt historisch reflektiert. Eine explizite ›Kultur‹-Linke operierte eben bloß auf dem kulturellen Feld historisch, indem sie die musikalischen Formen der Kulturindustrie vergangener Jahrzehnte nutzbar machte (zum Beispiel Disco, Pop der Achtziger, Punk-Revival); sie drohte als Linke auch dort zu versagen, wo sie die musikalischen Inhalte vergangener Jahrzehnte als unmodern-unmodisch (»unsexy«) ablehnte oder an Expertinnen und Experten delegierte. Die Erbaulichkeit der Popmusik, die die Kulturlinke entdeckte, bemisst sich an der ganz und gar zeitgemäßen Frage, »was wieder geht«. Der Kulturindustrie in Sachen Trendforschung unter die Arme zu greifen, bestimmt aber keine linke Position. Statt dessen ginge es um die radikale Negation, um die Frage, »was nicht mehr geht«. In diesem Sinne verlangen die glücklichen Momente ein Sich-Abarbeiten, nicht die krude Affirmation des eigenen Wohlgefallens. An dem Etikett ›Kulturlinks‹ bleibt eigentlich das, was mit ›Kultur‹ hier gemeint ist, genauso unklar, wie ›links‹. Gerade bei den vielen Bands und Projekten, die im weitesten Sinne der Kulturlinken zugerechnet werden, scheint es präjudiziert zu sein, dass sie links seien, weil es ja auch irgendwie draufsteht. Damit wird bei Bands wie Cpt. Kirk &., Brüllen, TGV, Knarf Rellöm Ism, Die Goldenen Zitronen etc. aber gerade die Diskussion ausgespart, die sie doch provozieren. Theorie durchbricht allerdings selten die Repräsentationslogik, reflektiert nach Außen nur symbolisch den Distinktionsgewinn, den man drinnen in der Nische einstreicht. Gleichwohl kann aus der Repräsentationslogik des diskursiven Spiels durchaus eine Waffe gemacht werden, so wir Knarf Rellöm auf »Punk als Haltung« insistiert, zum Beispiel im operativen Umgang mit dem musikalischen Material (das Konzert als episches Theater, offener Bühnenraum und Freilegung der Produktionsbedingungen). Bei Knarf Rellöm Ism funktioniert Unterhaltung politisch, wenn sie auch streitbar bleibt, so wie Alexander Diehl einwarf, dass »Hey Everybody« auf ›Fehler is King‹ mit der Zeile ›Das war kein Sozialismus / Das war Spießerkram …‹ den politischen Impuls durchs Gimmick zu depotenzieren drohe. Gemeint ist die Diskussion über die alte Frage, was Kunst wie und wann politisch macht. Diese Frage ist eine des Materials wie des Gehalts; die Kulturlinke hat inmitten ihrer Postmodernisierungsstreitereien entschieden, allein schon die Frage als »platten Materialismus« zu diffamieren, um statt dessen das

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Problem als Repräsentationskritik popdiskursiv abzuschieben. Doch zwischen der politischen und der künstlerischen Avantgarde ist die Vermittlung kein diskursives Problem, sondern mindestens eines der politischen und ästhetischen Praxis. Isabelle Graw, Christoph Gurk, Andreas Fanizadeh und andere haben die Elaborate und das Programm der Gruppe ›Kunst und Kampf‹, die Bernd Langer in seinem Buch ›Kunst als Widerstand‹ vorgestellt hat, zu Recht als künstlerische wie politische Unzumutbarkeiten abgelehnt, die zwischen reaktionärem Kunstverständnis und Männerphantasien schwanken. Das Gegenkonzept gegen die falsche Unmittelbarkeit, bei der der Kapitalist noch das Schwein mit Zylinder ist, reicht jedoch nicht weiter als zur Verteidigung der ornamentalen Abstraktion, nach der sich die linke Befindlichkeit von der anderen Seite her formiert. So gleichen sich schließlich die diametralen Positionen in der Naivität, mit der eine offenbar unbegriffene Frage nach dem Zusammenhang von Kunst und Politik beantwortet sein will, und mit der sie auf der Gegenseite mit der Ästhetik des Abstrakten als unbeantwortbar annulliert wird. Solche Naivität ist nicht ungefährlich, wenn die falsche Unmittelbarkeit auf die begrenzte Abstraktionsästhetik trifft; man kann sich über den heimlichen »Die Kunst dem Volke«-Stalinismus von Bernd Langer und Genossen beschweren, oder die Selbstverliebtheit der linken Ästheten, die ihre Nische im bürgerlichen Betrieb gefunden haben, belächeln. Eine Kunst, die kritisierbar bleibt, weil sie sich abarbeitet am Gegenstand, den sei selbst kritisiert; eine Kunst, deren radikaler Impuls der radikale Reflex auf die Wirklichkeit ist; eine plakative Kunst, die mit Revolution die Umwälzung der bestehenden Verhältnisse meint und nicht die verkürzte Geste der ästhetischen Beschwerde der vom Betrieb Übervorteilten – die ist doch weitaus erträglicher als die pseudoradikale Kulturkritik, die an der Kunst immer noch mehr zu bemängeln hat als an den sozialen Verhältnissen; oder die Künstlerinnen und Künstler, die sich für wahnsinnig politisch halten und doch nur politisch wahnsinnig sind, wenn sie menschenverachtenden Zynismus zum Programm erheben und das blanke Ressentiment zur ästhetischen Strategie (es stimmt ja einfach nicht, wenn Ted Gaier über Chris Korda schreibt, dass »zu guter Letzt der Kampf gegen die Menschheit auch der Kampf gegen den Kapitalismus« ist; das ist im Gegenteil die dümmste Variante einer bedingungslosen Verteidigung der bestehenden Ordnung – konterrevolutionär). Aber auch so: »Das dominierende ästhetische Programm der radikalen Linken kennt kein Patagonien, die Bowlingbahn nur als verleugnetes oder heimliches Vergnügen.«2 Das, so Andreas Fanizadeh weiter, zeige sich etwa an der Gruppe ›Kunst und Kampf‹ um Bernd Langer. Zu einem eventuell »produktiven Mißverständnis« sei es gekommen, als die Gruppe zum Soli-Abend »die Hamburger Kamerun-Band [einlud], deren heterogener, ironischer und brüchiger Stil das genaue Gegenprogramm zur eigenen Homogenisierungstaktik ist.«3 Gleich-

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wohl kann eben das auch bezweifelt werden: Es ist zu vermuten, dass etwa in der unsensiblen, unmusikalischen Perspektive von Kunst als Widerstand, die Erklärung der Welt in Stereotypen dann musikalisch genau so funktioniert, wie ihnen die Goldenen Zitronen klingen. Was Fanizadeh als den heterogenen, ironischen und brüchigen Stil der Goldenen Zitronen ausmacht, ist ja eben nicht einer Ästehtik des Materials geschuldet, sondern des »anvisierten Kontextes« (Isabelle Graw). Kontextualisierung vermag aber höchstens, die eigene Haltung zur Kunst – zur Popkultur – zu objektivieren; damit lässt sich freilich leicht urteilen, die Goldenen Zitronen seien ästhetisch brüchiger als ›Kunst und Kampf‹ – aber um das festzustellen, braucht man eigentlich nur den krudesten Kunstbegriff, um zu merken, dass hier sowieso jenseits aller Kategorien und Reflexion von Kunst die Rede ist. Interessanter ist da doch Kameruns (Solo)-Projekt, seine ungefähr zehnminütige Trashtechnoshow unter dem Namen Sylvesterboy, mit Boxershort, Römerhelm, US-Flagge als Cape, Plastikschwert. Während beim 1999-S.O.S.(Struggle of Students)-Konzert in der Fabrik mit EinsZwo und Blumfeld Sylvesterboy allgemein und im Besonderen (»Free Mumia!«) auf Zustimmung stieß, begegnete das Publikum bei einem späteren Tocotronic-Konzert im Docks Kameruns Showeinlage mit Unverständnis, mit Pfiffen und Bierbecherwürfen Richtung Bühne. Freilich sind solche Reaktionen kalkuliert oder provoziert, gehören zum Spiel der Kontextualisierung. Als gemeinte Selbstironisierung ist das unproblematisch, gerade weil das Politische different gehalten wird – wenn es um politisch ernsthafte Strategien von Empowerment oder Dekonstruktion geht, etwa in offensiv feministischer Musik, geraten Versuche materialästhetischer Bestimmungen fast zwangsläufig zur bodenlosen Überinterpretation.

Der bessere Sex Den Zusammenhang von Kunst und sozialem Kontext immer wieder neu zu bestimmen, bleibt als rein deskriptives Unterfangen bedeutungslos; kulturlinks wäre aus solchen Erfahrungen die Kultur (respektive Kunst) beständig neu zu bestimmen. Und das will meinen: Wo der Linken die Kultur wichtig ist, fragt sie nach deren Funktion, nach der Stellung der Kulturproduzenten; sie versteht dies als operativen Eingriff gegen die bestehenden Verhältnisse und für diejenigen, die sich dagegen wehren. Kontextualisierung heißt in dieser Hinsicht, die Konstellation von Kunst (Kunstwerk wie -konzept; Material), Produzent und Rezeption (Publikum, Konsum, Genuss) als fortwährenden Prozess der Diskussion zu begründen – als Selbstverortung. Der Subjektivismus der Kulturlinken kennt diese Selbstverortung scheinbar nur als monologisches Prinzip zwischen Produkt und Produzent; das Publikum ist in die Beobachtungsposition zurückgepfiffen worden – auch wenn diese oder

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jene Band dem Publikum nicht schmeckt, wird weiterhin eine Art Publikumslinke automatisch supponiert (»Wer zum Konzert von Band XY geht, die als links gelten, ist automatisch links.«). Doch zu den Mobilisierungskonzerten von Blumfeld, Tocotronic, Superpunk, TGV etc. für die Demonstrationen gegen den Hamburg-Bergedorfer Naziaufmarsch 1999 sind die meisten wohl gekommen, um schlicht die Musik zu hören. Freilich sind ein Dreitausenderpublikum zu solchem Zweck für ein antifaschistisches Öffentlichkeitsbild besser als nur die spärliche Demonstration von weniger als sechshundert Teilnehmenden; dennoch stehen hier Probleme an, die mit dem Konzept der Kulturlinken unmittelbar zu tun haben. Die Kulturlinke kennt nämlich keine politische Bewegung (also: das Desiderat der Theorie kippt hier in die fehlende Praxis). Ihr Adressat ist ein Publikum, das zunächst genauso konsumiert wie das Mainstreampublikum; auch poplinks verlangt man Unterhaltung und nicht Rechenschaft über Produktionsbedingungen. Man möchte Spaß und will sich wenigstens darüber freuen, dass der Spaß von links kommt. Das führt, über einen kleinen Umweg, den aber die Poplinke selbst ausgeschildert hat, nun zum dritten Postulat: zum besseren Sex. Die Kulturlinke versprach, dass die Warengesellschaft nur lustvoll abgeschafft werden kann; geeinigt hat man sich wohl darauf, dass diese Gesellschaft nicht abgeschafft zu werden braucht, solange sie ein bisschen »Sexyness« zulässt. Es wird behauptet – nicht nur von Poplinken, sondern auch von liberal gesinnten Anwälten der populären Künste –, in den (post-)modernen Formen der Massenkultur schaffe sich ein neuer, lustvoller Körper Raum; gegen die körperfeindliche Gesellschaft, die das Begehren und die Lüste aussperre, habe sich jenseits des Mainstream Orte und Inseln der subversiven Körperpraxis gebildet: das alte Programm der künstlerischen Avantgarde, die die Grenze zwischen Leben und Kunst aufheben wollte, realisiere sich nicht in der ästhetischen Rationalität der bürgerlichen Kunst, sondern in einer ästhetischen Befreiung einer vermeintlich ›reinen Praxis‹, die keine »Theorie« (also keine »Schau«, keine »Reflexion«, keinen »Geist«) brauche. Die Idee der Befreiung, die die Kulturlinke an den Körper bindet, macht den Sex, die Erotik, die Lust selbst, zum Fassadenphänomen, zum Accessoire der jeweiligen Mode. »Sexyness«, als poplinke Leitfigur nicht umsonst von heterosexuellen Männern als Kampfbegriff in den Diskurs eingeführt, hat nur insofern mit Foucault (auf den man sich in dieser Hinsicht beruft) zu tun, als dass über Sex nicht gesprochen wird: Man zeigt seinen Sex, stellt sich zur Schau, repräsentiert den sexualisierten Körper. Die lustvolle Politik, die sich in den sexualisierten Körpern entäußert, ist bemerkenswerterweise gegenüber der Sexualität, ihrer Repression, ihrer Tabus, ihrer Perversionen und Gewalt, neutral, naiv. Die Realität von Homophobie und Frauenverachtung innerhalb der

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Popkultur, aber auch die übliche Verklemmtheit, die Angst, die sexuellen Mythen werden von den Bühnen der sexualisierten Popkörper verdrängt; gleichwohl kann »das Sexuelle« ein Zeichen auf der Inszenierungsfläche der Körper sein, solange die Rollenverteilung klar bleibt (nur wer als Lesbe erkennbar ist, darf sich als Lesbe zu erkennen geben; sein perverses Begehrens darf zeigen, wer als »pervers« erkennbar ist, zum Beispiel als schwul; die Künstlerin erlaubt sich Libertinage wie die heterosexuelle Beziehung die Zwangsmoral. An ihren äußersten Punkten widerfährt den Körpern doch noch der theoretische Zugriff: Die Rede ist von der Dekonstruktion der Geschlechter. Vorerst scheint das ein theoretisches Projekt zu bleiben, jedenfalls ist schwer vorstellbar, dass sich die Auflösung der Geschlechter anders als bloß spielerisch gegen die Verhärtungen der Körper durchzusetzen vermag. Vielleicht ist die Geschlechterdekonstruktion die krudeste Deckung der herrschenden Ideologie; vielleicht ist sie aber auch die einzige Praxis, an der eine radikale Poplinke sich entfalten könnte. Es geht nicht um die Verteidigung eines »wahren« oder »echten« Sexes, eigentlich nicht einmal um die Verteidigung der Erotik (ein Wort, mit dem man sich im sexy Popdiskurs schnell mal lächerlich machen kann). Diese Anmerkung zum »besseren Sex« soll eher eine doppelte Verwunderung ausdrücken: Weshalb im Namen des Sexes eine sexualisierte Kultur im Sinne einer entsinnlichten Politik unterstützt wird; weshalb »Sexyness« also ausgerechnet dort sein soll, wo am wenigstens Schweiß, Gestank, Zärtlichkeit, Ficken ist? Und: Weshalb überhaupt im Namen des Sexes eine linke Kultur proklamiert wird, wo doch – folgt man Freud – entweder der Sex als die Sexualität nur die verdrängte Form der Lust ist, oder aber als Lust selbst von eben der Kultur zur Versagung gezwungen wird? Es scheint, als sollte das Lustprinzip befreit werden, ohne das Realitätsprinzip überhaupt infrage zu stellen. So wie die Linke mit der Kultur von der Politik befreit werden sollte, ohne die Gesellschaft infrage zu stellen.

Remixe »Wenn Hoffnung bleibt in der verwalteten Welt, dann liegt sie nicht bei der Vermittlung, sondern bei den Extremen. Wo Organisation notwendig wäre, in der Gestaltung der materiellen Lebensverhältnisse und der auf ihnen beruhenden Beziehungen zwischen den Menschen, gibt es zu wenig Organisation und zu viel im Bereich des Privaten, in dem Bewußtsein sich bildet.« Adorno, ›Individuum und Organisation‹ (in: GS Bd. 8, S. 445)

[Ä] Kulturalisierung der Linken. Das heißt: a) Gesellschaft wird zunehmend als »Kultur« wahrgenommen, wobei unter dem Schlagwort der Kultur die weit-

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gehend widerspruchsfreie Gesamtheit des Alltagshandelns verstanden wird; b) In dieser Verabsolutierung der Kultur gerät paradox eine Kritik der bürgerlichen Kultur aus dem Blickfeld – Ideologiekritik im Sinne einer Kritik des individuellen und kollektiven Bewusstseins findet nicht mehr statt. c) Statt dessen wird die Omnipräsenz der Popkultur, die Ubiquität der Popgesellschaft behauptet. Darin verortet sich die einerseits »linke Kultur« als besondere Ausdrucksweise der Popformation; andererseits die Linke als besondere kulturelle Repräsentationsform. Dabei rekurriert die Linke selbst zunehmend auf symbolische Strategien (»symbolischer Widerstand«), mit denen allerdings nur noch den politischen Forderungen ein stellvertretender ästhetischer und ornamentaler Ausdruck gegeben wird. Der linken Popkultur fehlt wie der bürgerlichen Kultur überhaupt ihre Handlungsfähigkeit, denn sie beruht auf dem Prinzip der Praxisabstinenz, auf dem Prinzip des Surrogats. Sein Spiegelbild findet das in bestimmten theoretischen Verschiebungen der letzten dreißig Jahre (also parallel zur Phase der Herausbildung der gegenwärtigen Popkultur): a) Enttheoretisierung der Linken, bis hin zur Theoriefeindlichkeit mit allen verqueren Begleiterscheinungen (zum Beispiel pseudofeministische Kritik an pseudoradikalen popjournalistischen Theoriemackern; zum Beispiel, wenn sich Popkünstler und Popkritiker berufen fühlen, linkspolitische Lippenbekenntnisse abzugeben über Sachzusammenhänge, von denen sie keine Ahnung haben – etwa: Krieg, aber auch Kritik der Antikriegsbewegung; Standortpop versus Popstandort –, Phrasendrescherei im Allgemeinen, Jargon); b) Cultural Studies und ihr ökonomistischer Kulturalismus bzw. kulturalistischer Ökonomismus; c) poststrukturalistische Machttheorie, die Gesellschaft nicht dialektisch denkt, sondern sich darin radikal glaubt, wenn sie die Widersprüche als Kraftlinien, Widerstreit, Kontingenz, Rhizom etc. verschleiert; d) die generelle Mode, mit Begriffen um sich zu schmeißen, die man lieber nicht zu genau kennt, um sich nicht theoretische Abgehobenheit vorwerfen zu lassen, – und dass nahezu alle derzeitigen politischen Lager der Linken in ihrer theoretischen Verkürzung ins Verschwörungstheoretische tendieren, ist schon durch die eklektizistischen Parolen der Modetheorien präjudiziert; e) schließlich fehlt es an einer kritischen Theorie des Diskurses, statt dessen üben sich die Maulhelden in gegenseitigen Beleidigungen, und damit kopieren sie eines der marktgängigsten Muster der Kulturindustrie in Krisenzeiten, inszenieren das Spektakel ihrer eigenen Bedeutsamkeit (oder Bedeutungslosigkeit), simulieren den Skandal, freilich als Farce, nicht als Tragödie. Der Kulturbegriff der Linken, der globalen wie der antiglobalen, orientiert sich selbst am Authentischen, echten, an der Unmittelbarkeit. Darauf zielt das Scheinproblem der Identitätspolitik: In ihrem Namen werden Identitäten

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nicht neu bestimmt, aufgelöst, sondern gefestigt; und das häufig schon im naiven Gebrauch des Identitätsbegriffs. Mit der Kritik der Identität wurde schließlich das emanzipatorische Konzept von Subjektivität selbst über Bord geschmissen. In der linken Kulturpraxis wurde dies als scheinbarer Hedonismus propagiert, der aber nicht mehr bedeutete als die Ornamentalisierung und Ästhetisierung des eigenen (authentischen) Lebens; übrigens ein ganz frühes Modell bürgerlicher Selbstbehauptung. Im Popdiskurs wird schließlich »Politik« nur zu leicht mit Befindlichkeit verwechselt; Pop wird zur Standpunktästhetik und im Zuge der neuesten Modetheorie kann halbherzig (auch sich selbst) versichert werden, schon seit Jahren den kritischen Diskursen der politischen Linken verpflichtet zu sein. Es geht zumeist nicht um reale und existenzielle Widersprüche, sondern um symbolische Schattenkämpfe, darum, ob eben der Diskurs, an dem man teilnimmt, »richtig« ist. Glamour als künstliche Aura, Hippness und Sexyness als Ästhetisierung rückwärts (dabei sollte die dialektische Figur jedoch nicht unterschlagen werden: wo nämlich die Ästhetisierung selbst eine Regression darstellt, kann ihre Rückwärtswendung zur plötzlichen Avantgarde werden – Benjamin hatte Ähnliches von der Mode und ihrer Möglichkeit der Rettung behauptet …). »Hereinspaziert!« – Macht Pop eigentlich dumm, und wieviel davon ist wirklich schädlich? »Hereinspaziert in die Menagerie, / Ihr stolzen Herren, Ihr lebenslust’gen Frauen, / Mit heißer Wollust und mit kaltem Grauen / Die unbeseelte Kreatur zu schauen, / Gebändigt durch das menschliche Genie. // Was seht ihr in den Lust- und Trauerspielen?! – / Haustiere, die so wohl gesittet fühlen, / An blaßer Pflanzenkost ihr Mütchen kühlen / Und schwelgen in behaglichem Geplärr, / Wie jene andern – unten im Parterre. – / Das wahre Tier, das wilde, schöne Tier, / das – meine Damen! – sehn Sie nur bei mir // … // Und nun bleibt noch das Beste zu erwähnen: Mein Schädel zwischen eines Raubtiers Zähnen. Wißt Ihr den Namen, den das Raubtier führt? – – / Verehrtes Publikum – Hereinspaziert!!« Alban Berg, ›Lulu‹ (›Prolog‹) »Meide, meide, meide die Popkultur. Meide, meide, meide die Popkultur, dann geht’s dir besser. Meide, meide, meide die Tittenposter, meide Bilder von Bäuchen. Meide Informationen von Menschen, die vor Mikrofonen reden. Die Popkultur ist nicht gut für uns. Die Popkultur ist nicht gut für uns. Die Popkultur ist nicht gut für uns. Die Popkultur ist nicht gut für uns. Meide Geräusche, meide die Schallwellen. Meide Bilder von Menschen, die vor Kameras Sachen machen. Meide Bilder von Menschen, die auf Paradewagen tanzen. Meide, meide die Sachen, wo man am Ende von kotzen muss. Die Popkultur ist nicht gut für uns.

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Die Popkultur ist nicht gut für uns. Die Popkultur ist nicht gut für uns. Die Popkultur ist nicht gut für uns. Die Popkultur lalalalalala. Die Popkultur.« Peter Licht, ›Meide die Popkultur‹ auf: ›Lieder, 11‹

Noch einmal: »Unter den Intellektuellen, die mit dem Phänomen sich abfinden wollen, und die versuchen, ihre Vorbehalte gegen die Sache mit dem Respekt vor ihrer Macht auf die gemeinsame Formel zu bringen, ist, sofern sie nicht schon aus der angedrehten Regression einen neuen Mythos des zwanzigsten Jahrhunderts machen, ein Ton ironischer Duldsamkeit gängig. Man wisse ja, was es mit all dem, mit Illustriertenromanen und Filmen von der Stange, mit zu Serien ausgewalzten Familien-Fernsehspielen und Schlagerparaden, mit Seelenberatungsund Horoskopspalten auf sich habe. All das jedoch sei harmlos und überdies demokratisch, weil es der freilich erst angekurbelten Nachfrage gehorche. Auch stifte es allen möglichen Segen, etwa durch Verbreitung von Informationen, Ratschlägen und entlastenden Verhaltensmustern. Allerdings sind die Informationen, wie jede soziologische Studie über ein so Elementares wie den Stand politischer Informiertheit dartut, ärmlich oder gleichgültig, die Ratschläge, die man aus den kulturindustriellen Manifestationen herausliest, nichtssagend banal oder schlimmer; die Verhaltensmuster schamlos konformistisch.«4 – Die Frage ist also immer wieder: Machen uns die Medien dumm? Allgemeiner: Machen die Medien überhaupt dumm? Oder sind wir einfach nur bescheuert, weil die Frage schon falsch gestellt ist und eigentlich eher darauf deutet, ›den Medien‹ sowieso einen völlig falschen Stellenwert zuzuweisen (in der Weise: Ein Schreibheft ist auch ein Medium – kann ein Schreibheft dumm machen? Können also die Medien überhaupt dumm machen, und was heißt das: Waren wir, respektive war das Publikum vorher denn schlau, mündig, autonom, bis wir respektive es von den Medien eingeholt wurden?). – Allerdings ist die Frage des »dummen Publikums« und der von der Medienmacht beeinflussten und hinters Licht geführten Konsumenten immer wieder Grundlage des sei’s sozialdemokratischen, sei’s poststrukturalistischen oder diskurstheoretischen Einwurfs gegen die Kulturindustriethese Adornos und Horkheimers: Hier, in dieser vermeintlich pluralen Optik auf gegenwärtige populäre Massenkultur, will es so scheinen, als laufe die Kritik der Kulturindustrie auf nicht mehr und nicht weniger hinaus als auf die »Manipulationshypothese«. So meint Christoph Gurk pauschal konstatieren zu können: »Horkheimer und Adorno [gingen] grundsätzlich von einem passiven Konsumenten aus, dessen Bedürfnisse durch die Penetrationstechniken der Kulturindustrie immer schon manipuliert sind.«5 In seiner erweiterten Variante der »neuen kritischen Medienforschung« schreibt Dieter Prokop: »In den meisten üblen gesellschaftlichen Strukturen finden sich Elemente, die die Dinge weiter treiben, die den Menschen nützen und kritisches Bewusstsein fördern. Man muss nur daran interessiert sein, sie zu untersuchen.«6 Und er resümiert schließlich: »Nicht

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das Bild als solches schließt kritisches Denken aus. Es gibt in den Bildern, in den Inszenierungen, auch Visualisierungen des Befreienden. Gesetz, Demokratie, Menschenrecht, Gemeinwohl, Fortschritt sind selbstverständlich populär visualisierbar.«7 Kultur wird in sich selbst aufgehoben; die Kulturindustrie manipuliere nicht, weil sich die Konsumenten im manipulativen System frei aussuchen können, welchen Schrott sie sich als »Visualisierung des Befreienden« andrehen lassen (Demokratie, Menschenrecht, Gemeinwohl, Fortschritt; und Prokop schreibt eben nicht Visualisierung des zu Befreienden). Demnach kann Prokop ohne Weiteres seinen investigativen Subjektivismus zusammenfassen: »Hoffnung besteht auch, weil die Manipulationsmöglichkeiten … gar nicht funktionieren. Markterfolg hatten in der Mediengeschichte immer nur die wirklich nützlichen Angebote, nicht die Marketingstrategien. In der neueren Mediengeschichte blieb das Publikum immer dann weg, wenn es zu viel Standardisiertes und schlecht Gemachtes vorgesetzt bekam.«8 Nun hat allerdings die Kritik der Kulturindustrie kaum etwas mit Markterfolg zu tun, sondern damit, ob die Konsumenten über die Freiheiten des Konsums hinaus mündig genug sind, die gesellschaftlichen Verhältnisse als die Bedingungen ihrer Existenz zu reflektieren. So ist auch Voltaire zu verstehen, mit dem Prokop den ›Kampf um die Medien‹ beendet: »Was hatte Voltaire über das Publikum gesagt? Er sagte: ›Das Publikum ist nicht dumm; es bietet seinerseits dem Wahnsinn Trotz, der auf seine Kosten lebt.‹«9 Prokops über das Schlusszitat hinweg reichender Hinweis auf den radikalen Aufklärer Voltaire kommt freilich nicht von ungefähr; einmal, weil auch Prokop – anders als manche der zynischen Antihumanisten des Popdiskurses – sich dieser Tradition einer dialektischen Aufklärungskritik verpflichtet weiß. Mehr noch aber, weil die Frage nach der Beziehung von Kunst, Kultur, Publikum und Manipulation das problematische Grundverhältnis bürgerlicher Kultur überhaupt bezeichnet und seit der Aufklärung, also seitdem Kultur für das Aufklärungsdenken programmatisch ist, diskutiert wird: in beide Richtungen, nämlich nicht nur hinsichtlich der Schäden (»Verdummung«), die das Publikum nehmen kann, sondern auch hinsichtlich der zerstörerischen Gefahr, die von einem ungebildeten Publikum für das hohe Kunstwerk besteht. In dieser Weise spricht Pestalozzi 1823 von der Massenkultur und kontrastiert sie einer Individualkultur: »Es ist unwidersprechlich: es mangeln der Massakultur unsers Geschlechts und der einzig möglichen Massabehandlung derselben wesentliche Fundamente, deren festes, gesichertes Dasein die Individualkultur desselben wesentlich anspricht und ansprechen muß. – Mehr noch: Sie, die Massakultur unsers Geschlechts, ruht als solche wesentlich auf Fundamenten, die den Ansprüchen unserer Individualkultur unwidersprechlich entgegenstehen. Die Massakultur und mit ihr die wesentlichen Formen und Gestaltungen des gesellschaftlichen Zustands gehen unwidersprüchlich überwiegend von den Ansprüchen unsers Fleisch und Blutes aus.«10 –

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Löwenthal verweist auf die Verschiebungen, die diese Debatte in der frühen Neuzeit erlebt hat. »Während Montaigne Unterhaltung und Kunst (die hohe wie die niedere, wenn auch nicht die mittlere) rechtfertigte oder wenigstens als die unausweichliche Antwort auf ein tiefverwurzeltes menschliches Bedürfnis akzeptierte, sah Pascal in diesem Versuch der Flucht etwas, wogegen man ankämpfen müsse … Nach Pascals Auffassung ist das Theater die gefährlichste aller Zerstreuungen. Es nimmt alle unsere Sinne gefangen und kann deswegen den Menschen sehr leicht zu dem Glauben verführen, daß er all die edlen Eigenschaften hat, die er auf der Bühne dargestellt sieht.«11 Gleichwohl etablierte sich das Theater zur zentralen kulturellen Institution des bürgerlichen Gesellschaftslebens und damit »entwickelte sich ein neues Dilemma: Wie sollte die Beziehung zwischen Schauspieldichter und Publikum beschaffen sein?«12 Mit seinem ›Vorspiel auf dem Theater‹ hat Goethe im ›Faust‹ diese Debatte aufgegriffen und problematisiert, »ob und wieweit ein Künstler dem Geschmack des Publikums und seiner Neigung zu bloßer Unterhaltung und Entspannung Konzessionen machen darf«.13 – Es heißt bei Goethe: »Die Masse könnt ihr nur durch Masse zwingen, ein jeder sucht sich endlich selbst was aus. In bunten Bildern wenig Klarheit, viel Irrtum und Fünkchen Wahrheit, so wird der beste Trank, der alle Welt erquickt und auferbaut.«14 – Löwenthal fasst zusammen: »Hier im ›Faust‹ sehen wir, daß die Diskussion von ihrem religiösen und moralischen Hintergrund abgelöst ist und dafür drei neue Elemente eingeführt sind: ein Bewußtsein von der Möglichkeit zur Manipulation, die sich in der Unterhaltung bietet; die Rolle des Geschäftsmannes, dessen Kriterium der Erfolg und dessen Ziel ein ökonomisches ist, als Vermittler zwischen Künstler und Publikum; und ein Gefühl für den Konflikt zwischen den Bedürfnissen des wahren Künstlers und den Wünschen eines Massenpublikums.«15 – Eine materialistische Wendung erfährt diese Diskussion etwa in Brechts Lehrstücken und seiner Theorie des epischen Theaters; dies wird radikalisiert und über die Grenzen des üblichen Theaters hinaus erweitert durch Dada, Absurdes Theater und Living Theater. Brecht (I): »Das Lehrstück lehrt dadurch, daß es gespielt, nicht dadurch, daß es gesehen wird. Prinzipiell ist für das Lehrstück kein Zuschauer nötig, jedoch kann er natürlich verwertet werden.«16 – »Der Rollenaufbau erfolgt nach gesellschaftlichen Gesichtspunkten … Nicht das ›ewig Menschliche‹ sollte in Erscheinung treten, nicht was angeblich alle Menschen zu aller Zeit tun, sondern das, was in unserer Zeit, zum Unterschied zu andern Zeiten, Menschen bestimmter gesellschaftlicher Schichten, zum Unterschied zu andern Schichten, tun.«17 – »Das Theater der parasitären Bourgeoisie erzeugt eine ganz bestimmte Nervenwirkung, die keineswegs dem Kunsterlebnis vitaler Epochen gleichzustellen ist. Es ›zaubert‹ die Illusion hervor, Vorgänge des wirklichen Lebens widerzuspiegeln, um mehr oder weniger primitive Schocks

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oder sentimentale Stimmungen vager Art zu erzielen, die als Surrogate für die fehlenden seelischen Erlebnisse eines ohnmächtigen und verkrüppelten Publikums in der Wirklichkeit konsumiert werden sollen. Selbst ein flüchtiger Blick genügt zu der Feststellung, daß all diese Wirkungen auch erzielt werden können mit völlig verzerrten Widerspiegelungen des wirklichen Lebens. Viele Künstler haben sogar die Überzeugung gewonnen, daß dieses zeitgemäße ›Kunsterlebnis‹ nur durch solche verzerrten Widerspiegelungen hergestellt werden kann … Demgegenüber muß festgehalten werden, daß es ein natürliches Interesse an bestimmten Vorgängen zwischen Menschen gibt, ganz jenseits der Sphäre der Kunst.«18 René Pollesch, ›Der Kandidat (1980). Sie leben!‹ (Deutsche Schauspielhaus Hamburg): »In John Carpenters Sie leben! Findet jemand, der aussieht wie Kurt Russel, aber der konnte wohl nicht, und der Schauspieler hier war BILLIGER! oder ließ sich besser rumschieben in dieser B-Scheiße, eine Kiste mit Sonnenbrillen und der setzt sie auf, die Sonnenbrille, und dann sieht er, in seiner völlig konfliktfreien Umgebung, daß da einige Leute rumlaufen, die da gar nicht hingehören in das organische Kapital dieser Stadt. Das sind irgendwie außerirdische oder Randgruppen, die die Stadt unter sich aufgeteilt haben und seltsam aussehen durch die Sonnenbrillen: AHHHH!, irgendwelche Broker-Gangstas, oder Profit-Hunters oder Laptop-Scheißer. Und an den Wänden steht ›Kauft ein‹ und Gehorcht!‹ – und so was! Und: ›Kriegt Kinder und vermehret euch!‹ Und die Fassade des Palastes der Republik sieht aus wie eine Schloßfassade. Das können aber nur die AUSSERIRDISCHEN LESEN oder die Kommission für den Schloßplatz in Berlin! DIE SCHLOSSFASSADE! Oder den Bahnhof als Visitenkarte der Stadt. Das können nur Schill und Global Player lesen und die KREATIVEN! Diese Ansprüche an die Stadt, ihr Gesicht zu zeigen. Aber was für ein SCHEISSGESICHT! Kurt Russel sieht irgendwie nur Außerirdische. Und dann wird ihm klar – diesem Kurt-Russel-Double – die Verelendung wird hier irgendwie wegsimuliert mit einem Fernsehsender, der heißt, glaube ich, Studio 54 und der gehört Berlusconi oder Stoiber.« Brecht (II): »Das moderne Theater muß nicht danach beurteilt werden, wieweit es die Gewohnheiten des Publikums befriedigt, sondern danach, wieweit es sie verändert. Es muß nicht gefragt werden, ob es sich an die ›ewigen Gesetze des Dramas‹ hält, sondern ob es die Gesetze künstlerisch bewältigen kann, nach denen sich die großen sozialen Prozesse unseres Zeitalters vollziehen. Nicht ob es den Zuschauer am Billettkauf, also am Theater interessiert, sondern ob es ihn an der Welt interessiert.«19 Darüber hinaus: Die Frage, ob Kultur Wahrheit vermittelt, sachliche Information liefert oder den Rezipienten um die Realität betrügt, geht als Problem bis in die Antike zurück. Schon Platon wollte bestimmte Künste ver-

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boten haben. Interessant ist dabei, dass die These, Kunst könne betrügen, nur durch die Gegenthese Sinn macht, wonach nämlich Kunst sehr wohl ein besonderer Ort des Wahren und Guten ist; das Medium vermittelt zwischen dem wahren und Guten durch das Schöne. Um das Schöne erkennen und überhaupt wahrnehmen zu können, braucht es Geschmack, den dann Jahrhunderte später ein genussfähiges Bürgertum für sich reklamiert (David Hume, ›The Standard of Taste‹). Im Zuge der Ausbildung nicht nur der Geschmacksfähigkeit und des ästhetischen Urteilsvermögens, sondern auch der Etablierung eines sozialen Raumes oder Feldes, in dem Geschmack und Urteilsvermögen ihren Ort bekommen, galt die Kritik der Manipulation durch Kultur keineswegs bloß negativ: Sehr wohl stand es im ideologischen Interesse des Bürgertums durch Kultur zu manipulieren, bis dahin, dass freilich auch ›die Wahrheit‹ oder moralische und sittliche Werte Gegenstand der kulturellen Manipulation sein können; genau das meint: Medium. Marshall McLuhan – ›Das Medium ist die Botschaft‹, ›Das Medium ist die Massage‹ – wie auch Pierre Bourdieu – ›Die feinen Unterschiede‹ – haben das auf unterschiedliche Weise als Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft freigelegt. Um aus der Problematik der Manipulationshypothese schließlich eine materialistische Kritik zu formulieren, ginge es um die Rekonstruktion von Kultur und ihrer ideologischen Funktion (Marcuse spricht bekanntlich vom »affirmativen Charakter der Kultur«, und meint die Dialektik der Kultur, die auch für die Popkultur geltend gemacht werden müsste). Brecht (III): »Barbarische Belustigungen! Wir wissen, daß die Barbaren eine Kunst haben. Machen wir eine andere!«20 [Ö] Was hat eigentlich die Poplinke (insbesondere der Teil, der den Schematismus des politischen Bekenntnisses grundlegend als Ableitung des journalistischen Urteilsvermögens versteht, dem also das als »Pop« erkannte immer schon »links« genug ist, um korrekt und vertretbar zu sein) von zum Beispiel Michel Foucault gelernt? »Von Foucault haben wir gelernt, dass ein kritisch ambitioniertes Denken sich an keine feste Position klammern darf, Kritik bedeutet nie einfach beruhigt auf der besseren oder richtigen Seite stehen bleiben zu können. Sie ist eine Kunst, die immer wieder von neuem beginnen muss.«21 Wie eine Schallplatte, mit zwei Seiten und einem kleinen Loch in der Mitte. Und auch das Vinyl dreht ja auf dem Plattenteller seine kleinen hermeneutischen Zirkel. Und was hat die Poplinke von Judith Butler gelernt? »Interessanterweise erweist sich die Popkultur seit ›Gender Trouble‹ als besonders anschlussfähig für Butlers Gedankengut. Das liegt vor allem daran, dass Pop selbst eine elastische diskursive Praxis darstellt. Songs, Plattencover, journalistische Texte,

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Moden und Musikvideos können als performative Akte aufgefasst werden, welche die herrschenden Normen zitierend wiederholen und dabei verschieben. Weil Pop traditionell utopisches Medium der Überschreitung ist, bietet es den Mechanismen der subversiven Resignifikation besondere Freiheitsgrade.«22 Zu solchen »Freiheitsgraden«, was immer das auch sein soll (und wie werden diese Grade gemessen? Als Temperatur? Winkel?), zählt aber auch die völlig beliebige »Resignifikation« von Theorie, wenn der Popdiskurs sich in der Emphase der freien Assoziation einmal wieder selbst überschreitet oder wenigstens die letzte Grenze einer auch nur annähernd präzisen Begrifflichkeit (ganz zu schweigen zum Beispiel von konsistenten, argumentierten Konzepten des Subversiven, Utopischen etc.). – Merksatz: Freies Assoziieren über kritische Theorie ist noch keine kritische Theorie der freien Assoziation. Ansonsten gilt auch hier: Transzendieren ohne Transzendenz. Und so weiter. Und Guy Debord? Die Poptheorie ist dahin gekommen, wo sie nichts weiter ist als Soziologie, in die Sprache des Popjournalismus gebrachter gesunder Menschenverstand des guten Willens: »Dieser entrüstete gute Wille, der es selbst als solcher nicht weiter dazu bringt, als die äußere Form des Systems zu tadeln, hält sich für kritisch und vergisst dabei den wesentlich apologetischen Charakter seiner Voraussetzungen und seiner Methode.«23 Und was hätte die Poplinke wenigstens vom sozialistischen Realismus über den realen Kapitalismus lernen können? »Der seinem realen gesellschaftlichen Sein entfremdete Mensch sucht sein Bedürfnis nach Schönheit und erhöhtem Erleben vorwiegend in Bereichen außerhalb des als unschön empfundenen Arbeitsalltags, in einer Traumwelt zu befriedigen … Schönheitsbedürfnisse und der Wunsch nach intensivem Erleben der Vielfalt und Buntheit der Welt werden mit Surrogaten befriedigt, die auf Verstand und Gefühl verheerende Wirkungen ausüben … Sex, Horror und Idylle sind die inhaltlichen Grundpfeiler dieser Produktion. Doch zunehmend setzen sich diese drei thematischen Hauptrichtungen der spätkapitalistischen Massenproduktion auch in der ›gehobenen Kunst‹ für die verfeinerten ästhetischen Bedürfnisse der Besitzenden und der Intellektuellen durch, die Unterschiede reduzieren sich immer mehr auf die Gestaltungsweise. Das Primitive und das Esoterische sind zwei verschiedene Seiten derselben Medaille.«24 [XXX] »Die dialektische Behandlung dieser Frage, und damit komme ich zur Sache selbst, kann mit dem starren isolierten Dinge: Werk, Roman, Buch, überhaupt nichts anfangen. Sie muß es in die lebendigen gesellschaftlichen Zusammenhänge einstellen … Anstatt nämlich zu fragen: wie steht ein Werk zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? ist es mit ihnen einverstanden, ist es reaktionär oder

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strebt es ihre Umwälzung an, ist es revolutionär? – anstelle dieser Frage oder jedenfalls vor dieser Frage möchte ich eine andere Ihnen vorschlagen. Also ehe ich frage: wie steht eine Dichtung zu den Produktionsverhältnissen der Epoche? möchte ich fragen: wie steht sie in ihnen? Diese Frage zielt unmittelbar auf die Funktion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produktionsverhältnisse einer Zeit hat.« Benjamin, ›Der Autor als Produzent‹ (in: GS Bd. II·2, S. 685 f.)

Eine kritische Theorie der Popkultur ist Ideologiekritik: weil die Menschen aber nur scheinbar in bloß ideologischen Beziehungen zueinander stehen, tatsächlich jedoch in praktischen und konkreten gesellschaftlichen Zusammenhängen leben, ist Ideologiekritik als Kritik der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu begreifen. Einerseits geht es darum zu analysieren, wie ideologisch durch die (oder in der) Popkultur die gesellschaftlichen Widersprüche verdrängt und abgeschnitten werden. Andererseits geht es um eine Kritik der gesellschaftlichen Widersprüche, die in der Popkultur ihren Ausdruck finden (und zwar: nicht, um die Widersprüche aufzulösen, sondern um die widersprüchlichen Verhältnisse aufzuheben. In dieser Hinsicht entschlüsselt eine kritische Theorie die Popkultur als sowohl überzeichneten als auch naiven Ausdruck des falschen Bewusstseins von falschen gesellschaftlichen Zuständen). Die unkritische Poptheorie, die aus dem Kulturalismus und dem Soziologismus gleichermaßen sich immer wieder neu konstituiert, kartografiert den popkulturellen Alltag der Menschen, als sei mit der bloßen Beschreibung der verschiedenen Popphänomene schon alles erkannt. Es geht aber nicht um die Erkenntnisse der Poptheorie, sondern um die Möglichkeiten der Menschen, ihren popkulturellen Alltag selbst zu erkennen (i.e. zu verändern, umzuwälzen, aufzuheben …). Ausgangspunkt dieser kritischen Erkenntnis wäre, dass die Popkultur nichts weiter als die entfremdete, verdinglichte Formierung des Alltagslebens ist, dass es aber keinen »echten«, »wirklichen« Alltag jenseits der Popkultur gibt. Der Alltag selbst ist das Problem, die Aufsprengung der verdinglichten und entfremdeten Strukturen, die Aufhebung der Popkultur die mögliche Lösung. Es geht nicht um die Erfindung neuer ästhetischer Begriffe, um die Fortsetzung des Jargons, der mit immer neuen Phrasen die angeblich immer neuen Moden erfassen und verstehen möchte, sondern um die Rekonstruktion einer politischen Praxis (der Kunst), die fähig ist, die Ästhetisierung des Alltagslebens, die wir als Pop bezeichnen, zu nutzen, um den Menschen die mögliche Abschaffung des Alltags ebenso zu vermitteln wie die konkrete Utopie des realen Humanismus. (Und auch hier bedeutet eine Revolution einerseits Griff nach der Notbremse, anderseits Verrückung der gegenwärtigen Verhältnisse. – In einer befreiten und befriedeten Gesellschaft werden wir unter Umständen keine neuen Platten im Schrank stehen haben; wir werden die schon jetzt vorhandene Musik nur völlig anders hören.)

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Wenn die Praxis das Kriterium der Wahrheit ist: Auf welche Praxis bezieht sich die Wahrheit der Popkultur? Und um welche Wahrheit geht es, wenn der Wahrheitsgehalt der Kunst, ihr Erkenntnischarakter, in den Zeiten der Popkultur eben nicht mehr ästhetisch zu haben ist? Kritische Theorie der Popkultur interessiert sich durchaus dafür, wie Pop funktioniert; mehr über die Praxis verrät aber die gesellschaftliche Funktion der Popkultur. Eine Analyse der gesellschaftlichen Funktion des Pop hat allerdings viel mehr mit der zunehmenden und tendenziellen Dysfunktion von Pop zu tun (gemessen an dem Elend der Menschen, ist der vermeintliche Reichtum der globalen Popkultur und ihre angebliche Vielfalt erbärmlich). Das ist nicht die Kulturkritik einer bornierten Verachtung gegenüber den Popwaren, sondern Gesellschaftskritik, die sich zur intoleranten Verachtung einer Kultur bekennt, die auch noch das Elend zum Gegenstand der Unterhaltung erhoben und die Ruinen des Genusses der Langeweile und Phantasielosigkeit überantwortet hat. Das ist die Krise, auf deren Überwindung die kritische Theorie zielt. (Die alte Massenkultur hat das soziale Elend durch kulturelles Amüsement vertuschen wollen; die Popkultur stellt das Elend aus im Zentrum des Entertainments. Daher die vernichtende Kritik an der Unterhaltung.) Imaginäre Praxis. Kurze Zwischennotiz Das Imaginäre kann als Konzept einer kritischen Ästhetik begriffen werden; es bezeichnet einerseits die Strukturen der Verblendung, der Täuschung und der Illusionen, wie sie von der modernen Unterhaltungsindustrie hervorgebracht werden; andererseits ist das Imaginäre aber auch an die Phantasie gekoppelt, an die produktive Einbildungskraft, an die Wunschvorstellungen und Hoffnung. Das Imaginäre kann zur sprengenden Gewalt werden, sobald es die Fähigkeit bezeichnet, gesellschaftlichen Gegenentwürfen Konturen zu verleihen; das Imaginäre ist aber auch die regressive Gewalt des schlechten Scheins, die ästhetische Bestätigung, dass alles so bleibt, wie es ist. Diese Dialektik des Imaginären bekommt unter Bedingungen einer spätkapitalistischen Informationsgesellschaft und Kulturindustrie eine dramatische Wendung: Das Imaginäre als subversive Praxis der Phantasie oder subversive Phantasie der Praxis ist heute weniger als eine Ästhetik zu beschreiben, sondern vielmehr als eine instrumentalisierende Scheinpraxis der Ästhetisierung des Alltagslebens. Cornelius Castoriadis nennt die Gesellschaft eine »imaginäre Institution«; ein politisches Programm. Er schreibt, der Kapitalismus müsse gleichzeitig »die im eigentlichen Sinne menschliche Tätigkeit der ihm unterworfenen Subjekte in Anspruch nehmen … und diese Tätigkeit entmenschlichen.«25 Das passiert in der Sphäre, die gemeinhin als Kultur bezeichnet wird, in der bürgerlichen Kultur ebenso wie in der (entbürgerlichten? kleinbürgerlichen?)

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Popkultur: Um die gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten, muss sozusagen einerseits Energie – Fähigkeiten, Vermögen, Gefühle etc. – abgezogen und als Kultur absorbiert werden, die andererseits in eine Kraft transformiert wird, die im Namen dieses »Energiefeldes«, dieses kulturellen Kraftfeldes also eben diese Fähigkeiten, Vermögen, Gefühle als verdinglichte, entfremdete, »entmenschlichte« zurückwirft. Deshalb, so Castoriadis, kann sich eine revolutionäre Veränderung der Gesellschaft nicht auf die Kultur verlassen, sondern nur auf die emanzipatorische Praxis selbst, die schöpferisch ist, weil sie das »radikal Andere« erzeugt: solche Praxis zielt auf die Transformation »der gegenwärtigen Gesellschaft in eine andere, die ihrer Organisation nach auf die Autonomie aller ausgerichtet ist. Und die Durchführung dieser Veränderung muß im autonomen Handeln der Menschen selbst liegen.«26 – Diese Praxis konstituiert zugleich den utopischen Horizont, die Hoffnung, die nur aus ihr selbst geschöpft werden kann: Erst hier ist Geschichte möglich, erst hier beginnt der reale Humanismus als der Entwurf einer Gesellschaft des radikal Imaginären: »Ohne ein produktives, schöpferisches oder … radikales Imaginäres, wie es sich in der untrennbaren Einheit von geschichtlichem Tun und gleichzeitiger Herausbildung eines Bedeutungsuniversums offenbart, ist Geschichte weder möglich noch begreifbar.«27 (Jürgen Habermas erläutert bündig: »Die Praxis folgt einem Entwurf, der aber nicht eine Theorie der Anwendung vorausgeht, sondern als Vorgriff im praktischen Vollzug selbst korrigiert und erweitert werden kann. Die Praxis bezieht sich jeweils auf eine Totalität von Lebensvollzügen, in die sie gleichzeitig eingebettet ist – als Totalität entzieht sie sich dem vergegenständlichenden Zugriff. Und schließlich zielt Praxis auf eine Beförderung der Autonomie ab, der sie selbst zugleich entspringt.«28) Diese Konzeption von Praxis wäre allerdings in das Programm einer kulturlinken Poppolitik zu intergrieren: durch den Vorrang des sinnlichpraktischen Moments (das Imaginäre?). Tod, Kälte, Überleben Popkultur, egal wie langweilig oder beschissen, wie spießig oder abgelutscht sie daherkommt, verliert nie die Überzeugungskraft, mit der sie glauben macht, dass es irgendetwas zu tun gibt: noch einen Text schreiben, noch die Platte bestellen, noch das neue Magazin kaufen, noch den gerade veröffentlichten Video-Clip sehen, noch zum Tanzen oder ins Konzert gehen, noch shoppen, Klamotten kaufen, oder sich einfach mit den Popobzessionen der anderen beschäftigen. In dieser beharrlichen Weise an Kultur teilzunehmen, heißt Jugend. Was aber ist, wenn diese Jugend, gleichwohl sie genötigt ist, ihre Lage zu überdenken, will sie sich nicht bedingungslos dem System unterwerfen, nicht auf Kultur in dieser Form zugreifen kann, keinen »Pop« zur Verfügung

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hat? 1933 bis 1945 – das ist jedenfalls der für diese Frage benennbare Zeitraum in Deutschland; für viele Jugendliche ist diese Frage aber noch immer aktuell, etwa durch ihre Situation als Illegale, Flüchtlinge etc. in diesem Land wie auch anderen Ländern; und je unsicherer der Raum wird, indem sich diese Menschen bewegen (dürfen oder müssen), umso ungenauer wird die Zeit, in der sie leben (das heißt ihre Geschichte, die ihnen sowieso abgesprochen wird, verschwindet). Dazu hat Peter Brückner in ›Das Abseits als sicherer Ort‹ geschrieben: »Wie werden die ›versunkenen Erfahrungen‹ bewußt? Indem wir lernen, die Rätsel unserer Lebensgeschichte im Kontext der Geschichte unserer Gesellschaft zu lösen, und zwar im Detail, und indem wir der Reflexion vertrauen, solange sie Erfahrung und Objektivität fühlbar vermittelt. Das, vor allem, ist kritische Theorie.«29 Und das heißt: »Freiheit beginnt mit der Weigerung, die soziale Chance zu nutzen, d.h. mit der Weigerung, die soziale Mechanik der Normalität auch noch selbst mit zu tragen.«30 Von der Kunst ist zu verlangen: »sich dem Zugriff der Macht zu entziehen, eine gewisse Kälte. Es muß Technik sein, kein Lebensstil … Die Lust daran macht verdächtig.«31 (Deshalb funktioniert Hedonismus als Haltung, mit der politische Praxis möglich ist; Hedonismus ist aber nicht die politische Praxis …) Birth of the Uncool Popkultur ist die hysterische Antwort auf die Kälte. Popkultur ist nicht die Politisierung der Kunst (welche eben der Ästhetisierung der Politik entgegenzusetzen wäre), sondern die Ersetzung des politischen Lebens durch Kitsch. Als Strategie ist das der bürgerlichen Lebenswelt nicht unbekannt; bereits im frühen 19. Jahrhundert verlagerte das Bürgertum seinen politischen Kampf in die Kultur, das öffentliche Engagement ins Private des schönen Lebens. Und schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts, so Gerd Ueding, verdrängt die Parole ›Schöner leben‹ in Deutschland die politischen Forderungen nach einem besseren, gerechteren, demokratischeren Leben. In den Verhältnissen, die man ablehnt, die aber doch nicht verändert werden können, richtet man es sich so gut wie möglich ein. Das hieß (für die verschönerte Welt des Bürgertums): Nähkörbchen, Tischchen mit Deckchen, Klavier mit aufgeschlagenen Noten, Hyazinthen in kleinen Treibhäusern auf dem dekorierten Fenster, ein Teppich, Kupferstiche an den Wänden, Lämpchen, Teewagen. Dieses Wohnideal bestimmte auch das 19. Jahrhundert. »Die Verschönerung der Welt geht in der bürgerlichen Kultur des 18. und 19. Jahrhunderts vom eigenen ›kleinen‹ Haus aus und erfaßt zunächst die ja noch den eigenen Formungsmöglichkeiten offenstehende Umgebung des Hauses, den Garten.«32 – »Die ganze Welt wird in häusliches Leben verwandelt.«33 Nun heißt es – berechtigt – »her mit dem schönen Leben«. Und den Entwurf dieses schönen Lebens besorgt die Popkultur; längst haben die Popmaga-

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zine, die einmal den reinen Musikjournalismus durch praktische Kritik der Verhältnisse unterbrechen wollten, ihre Modestrecken, zu denen die Musik nur noch den Soundtrack abgibt. Die neuste Popmode ist hot, nicht cool. Die radikale Forderung nach Emanzipation der Menschen und ihrer Verhältnisse ist in die Libertinage umgekippt. Damit ist die Politik der Popkultur wieder das, was sie eigentlich immer war: Stumpfsinn, der ganz hübsch anzusehen ist und an den gegebenen Verhältnissen, außer einer gelegentlichen Erkältung, nichts ändert. Je hysterischer die Popkultur sich selber feiert, umso uncooler die Poppolitik; gleichwohl hätte eine hysterische, wenn auch coole Poplinke ihr Recht (»reclaim the streets« und dergleichen). Umfunktionieren. Zur Didaktik der Massenkultur »Und wer wollte und könnte ernstlich ohne Hirngespinste leben? … Ein umfassenderer Anspruch auf Befreiung ist nur über eine Sprache denkbar, die Klassenzugehörigkeit berücksichtigt und die schon in ihrer Form die bestehenden Verhältnisse aufbricht. Würde dies in die intellektuelle und künstlerische Praxis stärker einbezogen, könnte sich neben anderem so etwas wie eine auch unterhaltende Wissensübermittlung und Gesellschaftskritik entwickeln, die sich nicht ausschließlich an die Professionellen der Zunft wendet, ›die unteren Schichten‹ nicht von vornherein ausschließt oder sich, wie im Kulturbetrieb gang und gäbe, überwiegend gegen diese richtet. Freilich ohne daß gleich ein neues Zwangskollektiv zusammengetrommelt oder zur Identifikation angeboten wird.« Andreas Fanizadeh, ›Bowling in Patagonien, Kegeln in Berlin. Antifaschismus, Kunst, Alltagspraxis‹ (in: Die Beute. Neue Folge – Politik und Kunst, Heft I (1998), S. 119 und 128)

Freilich gibt es ein Recht auf Unterhaltung; und zum Desiderat einer poplinken Kulturpolitik zählt, keinen offensiven, utopischen wie konkreten, lustvollen und geistreichen Begriff der Unterhaltung zu haben. Statt dessen nehmen wir, was wir kriegen können. Es geht um Umfunktionieren im Sinne des Neustrukturierens, darum, Unterhaltung den neuen Verhältnissen anzupassen. (Olaf Sanders hat mich darauf hingewiesen, dass in der Barockphilosophie die Überzeugung der Rhetorik, die Unterredung hingegen der Dialektik zugeordnet war – ganz in dieser Weise wäre die Unterhaltung gleichsam dialektisch zu bestimmen.) Bertolt Brechts Konzept der Verfremdungstechnik rekurriert auf eine Theorie der Unterhaltung. Solche Unterhaltung der Verfremdungseffekte steht im dialektischen Verhältnis zur Entfremdung der Menschen im Alltag. Unterhaltung oder Vergnügen bestimmt Brecht nicht moralisch, sondern in funktionaler-situativer Weise und Hinsicht: didaktisch.34 Es geht um die Nützlichkeit der Didaktik – schließlich: um die kritische Haltung. Und das

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heißt: Das Unpopuläre im Gewöhnlichen heraussuchen; also so auch Strategien im kulturellen Kampf zu entwickeln. Wovon handelt der kulturelle Kampf? Mitnichten von Bedeutungen; darauf wird er nur zu gerne reduziert.35 »Eine verfremdende Abbildung ist eine solche, die den Gegenstand zwar erkennen, ihn aber doch zugleich fremd erscheinen läßt. Das antike und mittelalterliche Theater verfremdete seine Figuren mit Menschen- und Tiermasken … Die neuen Verfremdungen sollten nur den gesellschaftlich beeinflußbaren Vorgängen den Stempel des Vertrauten wegnehmen, der sie heute vor dem Eingriff bewahrt.«36 – Die neue Unterhaltung heißt: umfassendes, durchgehendes Vergnügen am menschlichen Zusammenleben. Lustige Irrtümer der Poptheorie (Prima leben und sparen) »To my friends: This is the revenge of entertainment. To my enemies: This is the entertainment of revenge.« Gonzales, ›The Entertainist‹ (Kitty-Yo 2000) »Nichts ist leichter, als auf Kosten anderer Leute ein Idealist zu sein. Ein übersättigter Mensch mag leicht die Nase rümpfen über den Materialismus hungriger Menschen, die vulgäres Brot anstatt erhabene Ideen fordern.« Karl Marx, ›Mazzini und Napoleon‹, 1858 (in: MEW Bd. 12, S. 420)

A. – Methodisch schrumpft Poptheorie auf empiristische Banalitäten: Dass Popkultur überhaupt theoretisch beschreibbar ist, der ganze überkommene Apparat der bürgerlichen Soziologie und Ästhetik ihr übergestülpt werden kann, samt der Pseudoprobleme, die gesellschaftstheoretisch längst nichts mehr hergeben, feiert die Poptheorie mit der Attitüde der zeitgemäßen Forschung, die sich trotz harter Türpolitik Zugang zum Discobetrieb verschafft hat. An die Binsenweisheit, dass Popphänomene interpretierbar sind, reiht sich nahtlos der kulturwissenschaftliche Gemeinplatz, dass sogar unterschiedliche Interpretation möglich sind. Was der Popforschung theoretisches Rüstzeug ist, soll in der Wirklichkeit der bedeutungsschillernden Popwelt schließlich subversive Haltung der Rezipienten sein. Doch schon die bloße Idee, dass zum Beispiel ein Angestelltenverhältnis in der Popkultur, Konsum kulturindustrieller Produkte, oder eine als Körperästhetik verbrämte Aktivität wie Tanzen in irgendeiner Weise widerständig sei, ist buchstäblich idiotisch. Ausgerechnet die totale Integration des Menschen soll ihm die Individualisierung garantieren, die bisher misslang. Keiner kulturellen Formation der Moderne wurde ein derartiges Subversionspotenzial nachgesagt, und in der vollends entfalteten Popkultur sollen die krudesten Freizeitbeschäftigungen und die Teilnahme am ökonomischen Zwangszusammenhang auf einmal als Vorstufe der emanzipatorischen Selbstverwirklichung dienen. Das theoretische Verfahren, nach dem den bestehenden Verhältnissen Widerständigkeit untergemogelt wird, ist weder argumentativ brillant, noch ori-

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ginell, noch überhaupt richtig. Jede Bäckerei, jeder Supermarkt, jedes Reiseunternehmen findet sich in einer Konkurrenzsituation und ist auf Profit bedacht; niemand käme wohl auf die Idee, demjenigen, der den Bäcker für die schlechten Backwaren, den Supermarkt für das miserable Angebot, das Reiseunternehmen für das heruntergekommene Hotel kritisiert, Kulturpessimismus und elitäre Arroganz vorzuwerfen; widersinnig wäre es zu behaupten, dass man bei der Kritik des Bäckers etc. die »Performanz der Ware … im Kontext ihrer lokalen Aneignung … nicht … berücksichtigt« hätte.37 Ausgerechnet dort, wo die Produkte den Menschen allerdings einen besonderen leiblichen Genuss bescheren sollen, macht sich Kritik an eben diesen Produkten des Kulturpessimismus ebenso wie des Elitären verdächtig, als wolle man den Menschen den Schrott, der ihnen vorgesetzt wird, nicht gönnen. Schlechtes Essen macht krank, niemand bezweifelt das. Zu behaupten, dass stumpfsinnige Kulturwaren dumm machen, gilt jedoch als massenverachtend und überheblich. Aus der Trickkiste der Medientheorie wird der irgendwie doch mündige Konsument gezaubert, der immerhin mündig genug sein soll, den größten Kulturmüll mit sinkenden Quoten abzustrafen. Während die fetischistische Bindung des Konsumenten an die einfachen Waren des täglichen Gebrauchs selbst für den einfältigsten Marxleser kein Geheimnis mehr darstellt (wenn auch in der Erklärung geheimnisvoll bleibt), wird derselbe Akt der Aneignung für die Kulturware zur wahren Magie, zum Identität stiftenden und gleichermaßen subversiven Ritual: »Mimetische Aneignung von Kultur ist ein Akt der Produktion … Das mimetische Vermögen befähigt die einzelnen Menschen also, quasi leiblichen Widerstand gegen die mit den Kulturindustrien verbundenen Prozesse der Standardisierung und Homogenisierung zu entwickeln. Zugleich laufen aber auch die Prozesse der Angleichung an die Vor-Bilder der Kulturindustrien über Mimesis.«38 – Zur zunehmenden Belanglosigkeit der Popkultur gehört, dass alles Wissen über sie gleichgültig ist, bloß Halbbildung, bei der vollständig egal ist, ob sie den Sachverhalt trifft oder nicht. Peinlich wird’s allerdings, wenn selbst die Restspuren an Zustandsbeschreibungen der sozialen Realität falsch sind. B. – Ob das die Kulturwaren konsumierende Publikum subversiv ist oder nicht, ist eine rein scholastische Frage. Das entscheidet die Praxis. Und beurteilt nach dem, was die Menschen so tun, wie sie sich entscheiden, wenn es darum ginge, ihre vermeintliche Subversivität unter Beweis zu stellen, sieht es ja erst einmal so aus: Vormarsch rechtspopulistischer Politik, Forderungen nach härterer Bestrafung von Kriminellen, gegen Außenseiter, Zunahme und Ausweitung des Antisemitismus und Rassismus. Die ökonomische Freiheit, unter den angebotenen Kulturwaren mündig wählen zu können, kann kaum ernsthaft der Kritik des kulturindustriellen Verblendungszusammenhangs entgegengehalten werden: Vielmehr wird darin die herrschende Unfreiheit bestätigt, indem Konsum zum Statt-

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halter, zum Surrogat der verhinderten Emanzipation wird. Wäre das Publikum der Kulturindustrie nicht verdinglicht, nicht entfremdet, sondern frei, mündig und in seinem Verhalten autonom, dann gäbe es weder die Kulturindustrie, noch das Publikum; dann gäbe es überhaupt nicht diese Gesellschaft. – Darüber hinaus bleibt es das unausgewiesene Desiderat der Pop- und Mediensoziologie erklären zu können, wieso Menschen, die sich irgendwie doch aufgeklärt und selbstmächtig gegenüber Quizsendungen und Talkshows verhalten, in derselben Freiheit sich demokratisch für politische Regression, Todesstrafe, mehr Kontrolle, Asylrechtsänderungen etc. entscheiden und noch nicht einmal für die eigenen Interessen (selbst die herrschende Bedürfnisstruktur zugrunde gelegt, sind die meisten Entscheidungen für die Erfüllung dieser Bedürfnisse ihrer Befriedung nicht gerade zuträglich). C. – Poptheorie, die zur Mode wird, verhält sich freilich auch darin saisonbedingt, dass sie ihre Kollektionen hat, konjunkturabhängig. So kann es auch hier passieren, dass die neueste Theoriemode, deren gewagten Begriffe gerade noch auf den akademischen Laufstegen für Verunsicherung sorgten, schon kurz nach der Veröffentlichung völlig obsolet ist. Die größte Feindin der Mode bleibt noch immer die beste Freundin der Kritik: die Praxis. Sich auf die New Economy im Sinne globaler Kulturindustrie zu berufen, war immer schon realitätsblind und schon einen Sommer später einfach lächerlich, zumal wenn damit auch noch ein »interaktives Verhältnis« zwischen »Stars und Fans« herbeiassoziiert werden soll. – »Auch Multi-Media-Firmen sind ein Beispiel dafür, dass kreative Inhaltsproduktion für die globalen und lokalen Dynamiken der Popkulturen eine große Rolle spielt. Als junge Marketingunternehmen sind sie mitunter selbst Bestandteil der lokalen popkulturellen Szene … Mit der globalen Kulturindustrie des 21. Jahrhunderts werden allmählich alle Kulturformen nach dem Modell der digitalen Medien und der Interaktivität ausgerichtet. Bei Popkulturen gilt dies in besonderem Maße: Sie gehören zu den Wegbereitern einer globalisierten Kulturindustrie, haben sie sich doch vom Repräsentationsmodell der Darstellung gelöst und Pop als Performanz, als Machen, als Lebensstil formuliert und inszeniert. Und dies gilt nicht nur für die Popstars, sondern auch für ihre Fans. Auch sie leben Pop im Feld des Lokalen: Ähnlich wie Fußballfans verstehen sich Popfans weniger als Publikum oder als Konsumenten, sondern sie interagieren mit ihren Popidolen. Stars und Fans haben, wenn auch nur mittelbar und virtuell, ein interaktives Verhältnis.«39 – Der größte Fehler der Poptheorie ist die Mimikry, die sie zum Gegenstand einnimmt, zudem, ohne wirklich Ahnung vom Gegenstand zu haben; ihre akademische Originalität steht alsbald im Schatten ihrer Ignoranz gegenüber der widersprüchlichen Wirklichkeit. Die Welt wird, ob nun digital oder analog oder wie auch immer, mit Text, Buchstaben, Zeichen, Reklame zugeschissen und an ihren Bruchstellen nur noch durch die Werbesprüche zusammengehalten, weshalb es schlichtweg falsch und widersinnig ist, hier eine neues Modell zu vermuten.

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Und wer lebt denn Pop? Wo ist denn jemals Pop in irgendeiner Weise vom »Repräsentationsmodell der Darstellung« herausgetreten in die konkrete Alltagspraxis der Menschen? Pop ist überhaupt keine alltagsstrukturierende Verhaltensweise, sondern vielmehr der ideologische Ausdruck genau dieser Illusion. – »Und Popmusik kann auch Motor zur (Wieder-)Aneignung des urbanen Raumes sein.«40 »In den glokalen Gemeinschaften des Pop fungieren Musik und Bild als zentrale Kommunikationsmedien.«41 – Soll hier mit »Politik« nicht die Konformität der demokratischen Gemeinschaft gemeint sein, die sich ohnehin in den kulturellen Mustern bestätigt findet, sondern eben durchaus »Politik« im Sinne von »links«, »widerständig«, »subversiv«, ist es anmaßend und auch soziologisch gegenüber der politischen Linken im Zeitalter der Massenkultur ignorant. Kleins und Friedrichs Poptheorie mag sich selbst noch so sehr als »politisch« oder gar »links« etikettieren, sie ist es nicht. Widerstand, Emanzipation, Subversion gibt es bei ihr nur als kulturelles Schema; damit folgt sie der bestehenden Ordnung der Ästhetisierung der Politik, indem sie diese bestätigt: Politik ist dann nur noch Ästhetisierung. So ist auch das Feld, auf dem die »Politik des Lokalen« ausgetragen werden soll, auch bloß ästhetische Oberfläche, »Inszenierung«: »Solche gelebten Alternativen werden genau in dem Moment wichtig, wenn Fernsehbilder von Zerstörung und Krieg geprägt sind, wenn Territorien neu markiert werden und wenn die Rede vom ›Kampf der Kulturen‹ wieder Konjunktur hat.«42 – Freilich bestätigt eine politische Linke, die der Kultur das Kampfmittel ›Pop‹ abringt, genau das Gegenteil: dass wenigstens die Fernsehbilder von Krieg und Gewalt geprägt sind und somit noch Reste des Realen vermitteln; dass Territorien nicht umkämpft sind, weil sie markiert werden, sondern weil sie von Menschen bewohnter und belebter Raum sind; dass die dumme Rede vom »Kampf der Kulturen« nur der Abstrich der realen Dialektik der Aufklärung ist. D. – Poptheoretischer Grundirrtum: »Politisch« oder gar »links« mit der (nicht einmal stimmigen) Beschreibung kultureller Phänomene verwechseln. Vehikel der Anpassung »Der emphatische Verweis auf das politische Potential der Kunst, der diesen Radikalismus kennzeichnet, drückt sich vor allem ein Bedürfnis aus nach wirksamer Kommunikation der Anklage des Bestehenden und der Ziele der Befreiung.« Marcuse, ›Konterrevolution und Revolte‹ (Frankfurt am Main 1973, S. 95) »Ich rekapituliere kurz die allgemeinsten Kennzeichen dieses inneren Zerfalls der bürgerlichen Kultur: – die Abkehr von der ›innerweltlichen Askese‹ als dem klassischen ›Geist des Kapitalismus‹; … Eingliederung libertärer Subkulturen, die den Warenmarkt erweitern können …« Marcuse, ›Konterrevolution und Revolte‹ (Frankfurt am Main 1973, S. 101)

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»Die höhere Kultur besteht noch. Sie ist zugänglicher denn je. Sie wird von mehr Leuten gelesen, gesehen und gehört als je zuvor; aber die Gesellschaft hat längst die geistigen Bereiche abgeriegelt, worin diese Kultur in ihrem Erkenntnisgehalt, ihrer bestimmten Wahrheit verstanden werden könnte.«43 Und genau darin steckt die Dialektik der Kultur, ihr negatives Moment, wonach eben die Aufhebung der Grenze zwischen hoher und niederer Kultur keineswegs eine Demokratisierung bedeutete, sondern eine Ästhetisierung, die in letzter Konsequenz den affirmativen Scheincharakter der (bürgerlichen) Kultur verdichtete. Die Widersprüche der Kultur wurden nicht aufgehoben, sondern eingeebnet und verdrängt. Dadurch haben sich nicht etwa die Möglichkeiten einer subversiven und radikalen Gegenkultur vermehrt, sondern verringert, indem das Widerständige der Kultur, das einmal im Widerspruchsverhältnis von Kultur und Gesellschaft selbst steckte, entschärft wurde. »Die oppositionellen Elemente der Kultur werden so abgebaut: die Zivilisation übernimmt, organisiert, kauft und verkauft die Kultur; ihrem Wesen nach nichtoperationelle, nicht am Verhalten orientierte Ideen werden in operationelle, verhaltensmäßige übersetzt; und diese Übersetzung ist nicht bloß ein methodologischer, sondern ein gesellschaftlicher, ja politischer Prozeß. Wir können jetzt den Haupteffekt dieses Prozesses in einer Formel ausdrücken: die Integration der Kulturwerte in die bestehende Gesellschaft hebt die Entfremdung der Kultur von der Zivilisation auf und ebnet damit die Spannung zwischen ›Sollen‹ und ›Sein‹ ein (die eine reale, historische Spannung ist), zwischen Potentiellem und Aktuellem, Zukunft und Gegenwart, Freiheit und Notwendigkeit.«44 Gerade im Schatten der Popkultur ist in dieser Weise das utopische Motiv der Kultur, ihr real-humanistischer Entwurf auf die Machbarkeit einer besseren Welt nicht verwirklicht worden; vielmehr ist es – paradox anmutend – in der Aktualisierung auf ein Hier und Heute auf die Gegenwart und ihre Bedingungen fixiert worden, abgeschnitten von Zukunft. So zählt in der dissidenten Popkultur wie im Mainstream immer das Aktuelle, kaum das Potenzielle. Marcuse resümiert: »Das Ergebnis: die autonomen, kritischen Kulturgehalte werden pädagogisch, erbaulich, zu etwas Entspannendem – ein Vehikel der Anpassung.«45 Die Popkultur als vorläufiges Resultat der Krise der bürgerlichen Kultur wirkt als Vehikel der Anpassung auf die allgemeine Struktur der Gesellschaft zurück: Die gegenwärtige Kultur wird zum ideologischen Überbau der Diktatur der Angepassten. Marcuse spricht von der »neuen technologischen Gesellschaft«. »Die administrative Aufsaugung der Kultur durch die Zivilisation ist das Ergebnis der etablierten Richtung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts, der sich ausweitenden Unterwerfung von Mensch und Natur durch die Mächte, die diese Unterwerfung organisieren und den sich erhö-

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henden Lebensstandard dazu benutzen, ihre Organisation des Kampfes ums Dasein zu verewigen.«46 Die etablierte Kultur sichert die Diktatur der Angepassten, verfestigt die Konformität und schließt den Nonkonformisten aus, bedrängt den Renitenten, diskriminiert die Abweichenden; gleichwohl aber die Ideologie genau das Gegenteil aufrecht erhält, nämlich den Schein einer nonkonformistischen, Individualität gewährleistenden und an freier Selbstentfaltung ausgerichteten Gesellschaft. Da es sich nicht um eine kausales Unterdrückungsverhältnis handelt, sondern um ein Moment der Dialektik der Aufklärung, müssen sich auch die oppositionellen Kräfte einer sozialen Bewegung der Gegenkultur darüber aufklären, dass sie unter Umständen im selben Maße, wie sie für eine Humanisierung der Verhältnisse eintreten, die herrschende Unmenschlichkeit unterstützen, indem sie Strategien einsetzen, die nachhaltig in das bestehende System integriert werden können. »Denn die herrschende demokratische Kultur fördert Heteronomie unter der Maske der Autonomie, hemmt die Entwicklung der Bedürfnisse unter der Maske ihrer Beförderung und beschränkt Denken und Erfahrung unter dem Vorwand, sie überall zu erweitern und weithin auszudehnen. Die Majorität der Menschen erfreut sich eines beträchtlichen Spielraums beim Kaufen und Verkaufen, bei der Suche nach einer Arbeit und bei deren Wahl; sie können ihre Meinung ausdrücken und sich frei bewegen – aber ihre Meinungen transzendieren nirgendwo das etablierte Gesellschaftssystem, das ihre Bedürfnisse, ihre Wahl und ihre Meinungen determiniert. Freiheit selbst wirkt als Vehikel von Anpassung und Beschränkung.«47 Eine kritische Theorie der Gesellschaft muss diesen Widerspruch der Kultur durchbrechen, ohne ihre Dialektik preiszugeben. So kommt Marcuse über seinen Versuch einer Neubestimmung der Kultur zu demselben Ergebnis wie vor ihm Adorno und Horkheimer in der Kritik der Kulturindustrie: »Sozialer Wandel setzt voraus, daß ein vitales Bedürfnis nach ihm besteht sowie die Erfahrung unerträglicher Verhältnisse und ihrer Alternativen – und eben dieses Bedürfnis und diese Erfahrung werden in der etablierten Kultur daran gehindert, sich zu entwickeln. Ihre Befreiung setzt die Wiederherstellung der verlorenen kulturellen Dimension voraus, die (ganz gleich, in welch prekärer Weise) vor der totalitären Gesellschaft geschützt war: sie war die geistige Dimension der Autonomie.«48 – Punk als Haltung. Anderseits hat Marcuse davor gewarnt, diese Wiederherstellung oder Neubestimmung der emanzipatorischen Dimension der Kultur als unmittelbare und naive Politisierung misszuverstehen (oder sogar zu missbrauchen). In ›Konterrevolution und Revolte‹ heißt es entsprechend: »Permanenter ästhetischer Umsturz – das ist die Aufgabe der Kunst.« Aber, heißt es weiter: »Die Abschaffung der ästhetischen Form, die Vorstellung, Kunst könne zu einem Bestandteil der revolutionären (und vorrevolutionären)

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Praxis werden, bis sie, unter einem voll entwickelten Sozialismus, adäquat in die Wirklichkeit umgesetzt (oder durch ›Wissenschaft‹ absorbiert) werde – diese Vorstellung ist falsch und repressiv: das würde das Ende der Kunst bedeuten.«49 Denn: »Kunst kann, gleichgültig, in welcher Form sie auftritt, die Spannung zwischen Kunst und Wirklichkeit niemals beseitigen. Das liefe auf die prinzipiell unmögliche endgültige Einheit von Subjekt und Objekt hinaus: die materialistische Version des absoluten Idealismus. Ignoriert würde die unüberwindliche – biologische, nicht theologische – Grenze der Veränderbarkeit der menschlichen Natur. Diese unaufhebbare Entfremdung der Kunst als Kennzeichen der bürgerlichen (oder einer anderen) Klassengesellschaft zu betrachten, ist Unsinn.«50 Sie ist auch ein gutes Mittel, um von den leidvollen, faktischen und überwindbaren Entfremdungen des Menschen abzulenken, dessen soziale Unterdrückung demgegenüber nur lächerlich erscheint, profan. – Gegen das falsche Ende der Kunst setzt Marcuse eine dialektische Aufhebung der Kunst; die Entfremdung, die sie bezeichnet, geht in die konkrete Utopie ein, bezeichnet die objektive Möglichkeit der befreiten Gesellschaft: Kulturrevolution. Die material-ästhetische und praktische Verteidigung des Programms der Avantgarde, aber bei gleichzeitiger praktischer Kritik und kritischer Praxis gegenüber dem Absolutismus der avantgardistischen Idee. Heinz Paetzold nennt das den »nichtreduktionistischen Charakter der neomarxistischen Ästhetik«: »Die Kunst konstituiert eine Ausdruckswelt, die das Kontinuum des empirisch Seienden durchbricht. Ästhetisches kann daher dem Bewußtsein erst durch ›Vermittlung‹ kommensurabel werden. Indem ästhetische Gebilde das Sinnkontinuum des Bestehenden durchbrechen, ermöglichen sie eine Kritik. Die Fremdheit des Ästhetischen im Gegebenen gemahnt die Gesellschaft daran, daß nur erst der verfremdete Blick ›von außen‹ das Wesen der Gesellschaft enthüllen kann. Fremd werden die Kunstwerke, weil sie eine Rationalität antizipieren, die erst einer von Zwängen emanzipierten Gesellschaft in vollem Umfang kompatibel wären.«51 Insofern lässt sich das Ende der Kunst als Politisierung der Kunst vermittelt denken; und eine Politisierung der Kunst hieße nicht eine Vernichtung des Ästhetischen oder eine Verdeckung der Ästhetisierung, sondern eine Aufhebung des Ästhetischen – als Konkretisierung (also: eben nicht der Zynismus Lebenskunst, die Spießigkeit der Ästhetik der Existenz, sondern die politische Freisetzung des Lebens, die Überwindung der ästhetischen Norm). In den Worten der alten Avantgarde: »Wenn Kunst sich selbst in reales Leben transformiert, ist das Ende der Kunst gekommen.« – »Eines Tages wird der Augenblick da sein, in dem wir ohne jede Kunst, wie wir sie jetzt kennen, auskommen werden. Schönheit wird dann zu greifbarer Realität herangereift sein. Die Menschheit wird durch den Verlust der Kunst nicht viel einbüßen.«52 Piet Mondrians Manifest ist von Marcuses dialektischem Entwurf einer Kul-

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turrevolution durchaus nicht weit entfernt: »Gibt es etwas in der ästhetischen Dimension, das eine wesentliche Affinität zur Freiheit hat, nicht nur in ihrer sublimierten kulturellen (künstlerischen), sondern ebenso in ihrer entsublimierten politischen Form, so daß das Ästhetische eine gesellschaftliche Produktivkraft werden kann, ein Faktor in der Produktionstechnik, ein Horizont, unter dem die materiellen und geistigen Bedürfnisse sich entfalten?«53 Ja, und Kunst kann derart zum »Eichmaß für eine freie Gesellschaft werden: »Beim Neubau der Gesellschaft, der dieses Ziel erreichen will, nähme die Wirklichkeit insgesamt eine Form an, die das Ziel ausdrückt. Die wesentlich ästhetische Qualität dieser Form würde aus ihr ein Kunstwerk machen; insoweit aber die Form aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozess hervorginge, hätte Kunst ihren traditionellen Ort und ihre Funktion in der Gesellschaft geändert: sie wäre zur Produktivkraft der materiellen wie der kulturellen Umgestaltung geworden. Als solche Kraft wäre sie ein integraler Faktor beim Gestalten der Qualität und der ›Erscheinung‹ der Dinge, der Realität, der Lebensform. Dies würde die Aufhebung der Kunst bedeuten: das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen, aber ebenso das Ende der kommerziellen Vereinigung von Geschäft und Schönheit, Ausbeutung und Freude.«54 – Genau von diesem dialektischen Moment, die Kunst als Mittel der Emanzipation gegen ihr falsches Ende in der Popkulturindustrie zu verteidigen, die Kunst aber als Utopie einer neuen, schönen, solidarisch und kollektiv von Menschen gemeinsam gestalteten Welt aufzuheben, wäre das einzige wirklich revolutionäre Postulat einer kritischen Popkultur heute. »Die materialistische Ästhetik unterscheidet systematisch zunächst zwischen einem falschen und einem gelungenen Ende der Kunst. Falsch ist das Ende der Kunst dann, wenn das Postulatorische, das Kunst bewegt, das Schöne als Versprechen von Glück (Marcuse), verlorengegangen ist, ohne daß es sein Telos in einer gelungenen Gesellschaft erreicht hat.«55 Dieses falsche Ende der Kunst kulminiert, so die kritische Theorie, in der Kulturindustrie. – Ein gelungenes Ende der Kunst ist dem entgegen nur denkbar, wenn auch die Umgestaltung der Gesellschaft gelingt; wenn Kunst sich als Emanzipationsprozess selbst aufhebt, wenn Kunst sich nämlich von der Bindung an das Werk befreit und die durch sie freigesetzte ästhetische Erfahrung zum revolutionären Grundmotiv künstlerischer Praxis werden lässt. Dieses findet, solange eine fundamentale Umwälzung der bestehenden Ordnung ausbleibt und auch die radikalsten Kunst diese Ordnung immer nur wieder bestätigt, sein konkretes Beispiel einzig in Situationen, deren ästhetische Dimension oft im Dunkel des Augenblicks verborgen bleiben. Die Forderung lautet: »Des in der Kunst Imaginierten sollen sich die Menschen dadurch wahrhaft bemächtigen, daß sie das im ästhetischen Schein abstrakt Versprochene zum Moment ihrer Praxis werden lassen.«56 Die

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gefährliche Verwechslung besteht darin, dass der Pop – egal in welcher subkulturellen Diminution und subversionsrhetorischen Deklination – für diese Praxis des gelungenen Endes der Kunst gehalten wird.) Zur Politik der kleinsten Programmatik (eine kleine Kunst, die aber nicht bescheiden ist, jedenfalls nicht gegenüber der Großkotzigkeit der bestehenden Ordnung) Links bleibt der kategorische Imperativ, den Marx in der Einleitung ›Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie‹ formulierte: »… alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.«57 Dies ist die Haltung, die die Kulturlinke als moralische Position vereiteln will; sie ist aber nur wirksam wie glaubhaft als Haltung, sofern sie auf der kritischen Theorie der gesellschaftlichen Praxis sich gründet. Marcuse hat in den sechziger Jahren von den zwei sich entgegenstehenden Hypothesen gesprochen: 1. die bestehende Gesellschaft verhindert ihre qualitative Änderung; 2. dennoch sind Kräfte vorhanden, die dies durchbrechen und »die Gesellschaft sprengen« könnten. Man mag darüber diskutieren, ob diese Hypothesen auch heute noch begründet sind (und ich meine: ja, erst recht heute); sie markieren jedoch die gegenwärtigen Defizite der (Kultur-)Linken. Stand bisher die Linke selbstverständlich auf der Seite der verändernden Kräfte, so hat sich unter dem Vorzeichen der Kulturlinken ein radikaler Wandel vollzogen; mit ihren Programmen ist die Kulturlinke in die Defensive gerutscht und hat sich zum Teil sogar zur Fürsprecherin der bestehenden Verhältnisse gemacht. Man muss die kritische Theorie nicht neu erfinden, um den kategorischen Imperativ von Marx zu begründen; es braucht allerdings eine gewisse Beharrlichkeit im Grundsatz des Kommunismus, dass diese Welt nicht die beste aller möglichen ist, und dass eine bessere möglich ist – – – .

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Die Rückkehr der Kulturindustriethese als Dancefloorversion. Episode I »Die Zeit warf mit vollen Händen Müll und Unsinn in mein Leben wie ein Narr die Karnevalsbonbons, die alle sammeln und die keinem schmecken … Man kann einen Wunsch nicht aufgeben. Es ist wie bei den Tieren, die ein vielleicht unmögliches Kunststück üben. Lachse, die einen Wasserfall raufspringen wollen, oder verdreckte Möwen in der Ölpest, die versuchen zu fliegen. Sie müssen es weiter tun. Der ganze Sinn geht doch sonst flöten, und man erlebt nur Dinge ohne ihn. Man muss weitermachen, wenn man was gefunden hat. Also machten wir das.« Silvia Szymanski, ›Max, der Clown‹ (›Kein Sex mit Mike‹, Hamburg 1999, S. 41 f.)

Jeder Mensch lebt exakt nur einmal. Manche tun das länger, andere kürzer. Sehr wenige haben die Möglichkeit, die ihnen verbleibende oder zur Verfügung stehende Zeit zu füllen; die meiste Zeit geht eh für Arbeit drauf, und dafür, zu lernen, wie man sich möglichst selbstkontrolliert (»frei«, »selbstbestimmt«), ohne äußeren Zwang dieser Arbeit fügt. Während der Großteil der Menschheit die übrige, verbleibende Zeit mit Hunger, Elend, Not gefüllt bekommt, erlaubt uns die bürgerliche Gesellschaft, eingeschränkt durch soziale Misere, Krankheit und Misslingen (die Synonyme für Schicksal, Persönlichkeit und Charakter), ein kleines Quantum an Lebenszeit zu verbringen (Freizeit verbringt man, was immer schon nach umbringen, Zeit totschlagen klingt: »Na, wie hast du die Ferien verbracht?« Eine Frage, bei der »Lass dich bloß nicht erwischen!« immer schon mitschwingt). Und was tun wir? Einkaufen, Shoppen, Autofahren, in Staus stehen, in Warteschlangen stehen, in Wartezimmern sitzen, in Fitness-Studios sitzen und warten, bis der Körper unseren Vorstellungen entspricht, Joggen, Fahrradfahren; unsere Vorstellungen verbessern, etwa beim Fernsehen, im Kino, im Vergnügungspark. Wir sehen Talkshows, Gerichtssendungen, Serien, Krimis, Thriller, irgendwelche Filme, Funnies; wir hören Musik, gehen auf Konzerte; wir fahren in den Urlaub, reisen an Orte, über die wir uns vorher durch Kataloge, Freunde, Diaabende, Videos informiert haben. »Das kenne ich; hier ist es schön.« Wir kommen immer wieder: In die Schule, ans Fließband, an die Kasse, nach Mallorca und nach Dänemark. Wir gehen in die Lieblingskneipe; einige definieren »Lieblingskneipe« durch Angebote wie Eimersaufen oder irgendwelches Entertainment (meistens die Zurschaustellung weiblicher Körper), andere lehnen das ab und treffen in der Lieblingskneipe Freunde, die das auch ablehnen. Wir

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unterhalten uns; manchmal geht es um Politik, um uns, um Klamotten; wir bestätigten die Grenzen unseres Alltags, die mal ein größeres, meistens ein kleineres Gebiet abstecken. Und das letzte Hemd hat keine Taschen; sofern wir nicht unmittelbar an der kapitalistischen Ordnung teilnehmen und irgendwas produzieren, oder zumindest vorgeben, etwas zu produzieren (in unseren Büros mit den total netten Kollegen und der angenehmen Atmosphäre …), reproduzieren wir: uns, das System, die Struktur, die Matrix. Der gute Idealismus (Schiller, Schelling, Hegel etc.) sah in der Kultur gleichsam das produktive Element, die Produzenten und die Praxis. Die idealistische Regression der Kulturwissenschaft, die sich heute als Poptheorie formiert, sieht vom Produktions- wie Reproduktionszusammenhang ab, um so den verengten Blick wenigstens auf eine symbolische Praxis richten zu können: »Represent, Represent!« hieß der Schlachtruf der Poptheorie, bevor sie vor lauter Realitätsblindheit das Repräsentationsmodell selbst nicht mehr halten konnte und mühsam hinzunahm, was sogar dem stupiden Materialisten selbstverständlich ist: Sie entdeckte jetzt die Performanz, die Performativität menschlicher Aktion, Aktivität, Handlung. Dass aber die Poptheorie jeden konkreten Splitter gesellschaftlicher Praxis der Menschen wieder nur idealistisch, nämlich über den Umweg des Theaters, des Spektakels, der Schaubühne haben kann, bestätigt ganz offen die Ignoranz gegenüber dem sinnlichpraktischen Menschen und vor allem gegenüber der Unterdrückung, Verhinderung, Erniedrigung des Menschen durch die Verwertungslogik der Produktionsverhältnisse. Alle menschlichen Verhältnisse haben ihren Basis in unmenschlichen Verhältnissen, nicht in den Nischen der Repräsentation. Jeder lebt nur einmal; und der Versuch, die Lebenszeit mit einer Haltung zu füllen, die sich der bestehenden Ordnung verweigert, ist notwendig. Zu glauben, dass solche Haltung allerdings schon die Performanz der Alternative sei, ist fantasielos und traut den Menschen nicht viel zu. Adornos Diktum, dass es keine richtiges Leben im falschen gibt, als Lustfeindlichkeit und Borniertheit der kritischen Theorie gegenüber Spaß und Lebensfreude zu verwerfen, ist selbst die Borniertheit, die sich mit wenig zufrieden gibt, Lust als Abstrich des Verzichts zulässt und immerhin soviel Abstraktionsvermögen besitzt, um noch dem herrschenden Stumpfsinn Spaß abzutrotzen. Mit einer real-humanistischen Rettung der Vermögen und Möglichkeiten des Menschen, wofür idealistisch ja einmal die Kultur stand wie materialistisch die soziale Praxis, hat das allerdings nichts zu tun. – Insofern ist der Kritik der Kulturindustrie mit den Repräsentations- und Performanz-Theorien des Popidealismus nicht beizukommen; »Massenbetrug«, »Stereotypen«, »Standardisierung« und andere Schlüsselkategorien der Kulturindustriethese sind Kategorien der kritischen Theorie der Gesellschaft, der Kritik der politischen Ökonomie, und nicht

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Oberflächenbeschreibungen irgendwelcher Repräsentations- und PerformanzPhänomene.

Was bisher geschah … »Es scheint ein starkes Bedürfnis zu geben, … Fragen moralischer und geschmäcklerischer Art, ob Intellektuelle das und jenes tun dürfen, in theoretischer Verkleidung zu diskutieren. In vielen Diskussionen um Kulturindustrie scheint nicht mehr als diese Banalität das heimliche Curriculum zu sein. Und auch Adorno wurde so gelesen, obwohl es in der Theorie sich nicht um Pädagogik und Verbote und Erlaubnisse geht, vielmehr um Analysen unter Berücksichtigung der sozialen Position der Intellektuellen … In der Analyse von Kulturindustrie wird gewiß nicht das Volk verachtet (das tun eher die Betreiber). Es werden vielmehr die Gebildeten kritisiert, die – gerade unter dem Druck, sich als gebildet darstellen zu müssen, und in der bildungsverachtenden Reaktionsbildung darauf – mit der Kulturindustrie nicht umgehen zu können.« Heinz Steinert, ›Kulturindustrie‹ (Münster 1998, S. 193 f.)

»Kulturindustrie« ist längst zum Schlagwort geworden. Der Begriff geht auf Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und ihre Gemeinschaftsarbeit ›Dialektik der Aufklärung‹ zurück. Wer die Namen kennt, wird vermutlich die Kulturindustriethese erst einmal mit der ebenfalls nur schematisch geläufigen Jazzkritik Adornos in Zusammenhang bringen: Sowenig wie Adorno die Jazzmusik mochte, so sehr lehnte er die Kulturindustrie insgesamt ab, so jedenfalls das gängige Bild. Kulturindustrie sei Massenkultur oder populäre Kultur, oder neuerdings Popkultur; für Adorno und Horkheimer ausnahmslos Schund. Kulturindustrie manipuliere das Publikum, welches für unmündig erklärt werde, sich nach seinen Interessen und Bedürfnissen im Angebot der Kulturindustrie frei zu orientieren. Dagegen, scheint es, verteidigten Adorno und Horkheimer die Kunst der Hochkultur beziehungsweise letztendlich ihr eigenes kulturelles Vermögen als Bildungsbürger, sehr wohl zu wissen, wie der Laden läuft. Die Kritik der Kulturindustrie gilt insgesamt als elitär und arrogant; da zugleich vermutet wird, Adorno und Horkheimer hätten sich mit der populären Kultur und ihren Möglichkeiten gar nicht ausgekannt, wird sie so oder so als veraltet und unbrauchbar abgelehnt: Sehr wohl seien nämlich gerade die beiläufigen Regungen des Publikums, etwa Zappen vorm Fernseher oder Shoppen in den Malls, um zwei beliebte Beispiele einiger Vertreter der so genannten Cultural Studies zu geben, nicht nur Zeichen eines mündigen Publikums, sondern sogar subversiv und widerständig. In diesem Zusammenhang wird Kulturindustrie oft auch wörtlich verstanden, also als eine Art industrieller Komplex, eine Fabrikanlage, bei der vorne die Noten reinkommen und hinten die dummmachende Musik –

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und nicht wenige Formulierungen Adornos und Horkheimers legen solche Assoziationen durchaus nahe. So wird heute mithin im Plural von Kulturindustrien gesprochen, als Synonym für bestimmte Firmen und Unternehmensgruppen. Des Weiteren hat sich eingeschliffen, dass Adorno und Horkheimer mit dem Etikett ›Kulturindustrie‹ gewissermaßen den kulturellen Kommerz kritisieren würden, wonach sie also monierten, dass Kultur Geld koste, die Teilnahme an ihr zunehmend sogar teurer werde. Ohnehin wird das Kulturindustriekapitel häufig aus dem Zusammenhang der ›Dialektik der Aufklärung‹ gerissen, also zumeist nicht im Kontext des Gesamtbaus des Buches betrachtet, eben auch nicht hinsichtlich der Kernthese eines Umschlagens von Mythos in Rationalität und umgekehrt gelesen, geschweige denn – gerade wenn heutige, fröhlich Popkultur als »Argument« gegen die Kulturindustriethese angeführt wird – reflektiert auf die Zeit der Abfassung der ›Dialektik der Aufklärung‹, die ja erst einmal im Schatten des Nationalsozialismus, der Judenvernichtung und des Zweiten Weltkriegs steht. – Schließlich: Bisweilen, und auch meine Rezeption der Kulturindustriethese ist davon geleitet gewesen, scheint es, als ginge es Adorno und Horkheimer nur darum zu prüfen, ob Intellektuelle, die ja eigentlich auf Beethoven, Beckett oder Botticelli abonniert sind, auch Beatles hören, sich an Donald-Duck-Geschichten erfreuen können oder sich einen Stone-Film im Kino ansehen dürfen; kurz, ob es für kritische Theoretiker eigentlich auch erlaubt ist, sich von der Kulturindustrie unterhalten zu lassen. Der These, Adorno und Horkheimer hätten mit dem Begriff ›Kulturindustrie‹ eine besonderen kulturellen Bereich innerhalb der spätkapitalistischen Gesellschaft markieren wollen, ein Moment des Überbaus sozusagen, ist hier entgegengesetzt: Kulturindustrie ist ein anderer Ausdruck für die besondere Formation der spätkapitalistischen Gesellschaft insgesamt, und zwar Gesellschaft der dreißiger, vierziger, fünfziger, sowie sechziger Jahre. Dafür finde sich das Argument im Aufbau der ›Dialektik der Aufklärung‹ selbst: Das Buch – zu Beginn der vierziger Jahre von Adorno und Horkheimer unter Mitarbeit von Friedrich Pollock, Leo Löwenthal und Gretel Adorno geschrieben – erschien 1944 institutsintern unter dem Titel ›Philosophische Fragmente‹; die Ausführungen waren nicht als System gedacht, nicht abgeschlossen, sondern eben fragmentarisch. Gleichwohl wird gerade im Sinne des Fragmentarischen versucht, die gesellschaftliche Totalität zu erfassen, mit einer geschichtsphilosophisch großen Thesen: dass nämlich die Dialektik der Aufklärung, der Umschlag von Mythos in Vernunft und umgekehrt, die Verkehrung und Verdinglichung von Rationalität in Irrationalität in der geschichtlichen Logik der Entwicklung des Menschen bereits angelegt ist, durch die Widersprüche hindurch, die sich in der Konstitution des menschlichen Selbst ausdrücken. Jedenfalls steht also die These einer negati-

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ven Geschichtsphilosophie im Raum, wonach der Nationalsozialismus keineswegs ein historischer Unfall oder gar Zufall ist, auch nicht einem menschlichen Bösen oder ähnlichen Schicksalsmächten folgt, sondern der Logik der Aufklärung selbst eingeschrieben ist; dass ferner zwischen Stalinismus und Faschismus, schließlich auch amerikanischer Massendemokratie genügend strukturelle – das ist immer zu betonen – Parallelen bestehen, die eine geschichtsphilosophische These der Dialektik der Aufklärung überhaupt nahelegen. Zugrunde liegt dem die marxistische Gesellschaftstheorie, nach der eben die ökonomische Basis, die Produktionsverhältnisse das historische ausschlaggebende Moment sind, als entfesselte Widersprüche dann geschichtsschreibend wirken, Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen etc., die vorerst im Kapitalismus mündet, dem mit einer Kritik der politischen Ökonomie beizukommen ist. Hinzu tritt das utopische Motiv, wonach davon ausgegangen wird, dass hier und heute eigentlich die Bedingungen für eine befreite und befriedete Welt vorhanden sind, niemand mehr hungern oder unnötig leiden müsste; was statt dessen passierte, ist mit den Namen Auschwitz und Hiroshima verbunden. Kritische Theorie ist primär kritische Theorie der Gesellschaft. Also die ›Dialektik der Aufklärung‹ als Gesellschaftskritik gelesen, führt zu der Frage, in welchem Abschnitt des Buches es denn um den kritischen Entwurf dieser Gesellschaft geht? Es soll ja immerhin die Antwort auf das Problem gefunden werden, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.«1 Wir haben: Einen einleitenden Abschnitt zum »Begriff der Aufklärung«, in dem eben eine symstematische und historische Einführung in den Begriff der Aufklärung gegeben wird: ein philosophisches Kapitel. Dem folgen zwei Exkurse, einmal zu Homers ›Odyssee‹ und zu de Sades ›Juliette‹, dann kommen zwei Abschnitte, nämlich einmal das – in seiner Geschlossenheit – umfangreichste Kapitel über Kulturindustrie und ein ebenfalls umfangreiches Kapitel über »Elemente des Antisemitismus«; schließlich knapp ein Drittel des Buches ausmachend: »Aufzeichnungen und Entwürfe«. In welchem Abschnitt findet sich also die Gesellschaftskritik expliziert und konkretisiert? Meiner Ansicht nach im Kulturindustriekapitel – und, das ist dazu zu sagen, im Antisemitismuskapitel; die Autoren haben mehrfach den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Kulturindustrie betont. Was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als »Kultur« erscheint, dann als Massenkultur auch zunehmend die ärmeren Schichten erreicht und sie, die Arbeiter und Angestellten, Anteil nehmen lässt, hat sich als Begriff überhaupt erst Mitte des 19. Jahrhunderts herausgebildet; seither wurde mit »Kultur« nicht mehr ausschließlich die Sphäre geistiger Gebilde bezeichnet, oder das

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kultivierte Verhalten, die Manieren und Sitten, sondern gerade das kulturelle Alltagsleben, welches durch Arbeitszeitverkürzung und höheren Lebensstandard immer mehr Menschen zuteil wird. Das kulturelle Alltagsleben heißt jedoch mehr als die Ermöglichung des Theaterbesuchs, Music halls, Kneipen und später Kino, heißt, dass das Leben selbst sich alltäglich als »Kultur« ausdrückt, als Kultur wahrnehmbar wird, also in der Mode, in der Art und Weise, wie die Menschen sich in den Städten, auf den Boulevards und Straßen bewegen, wie sie Wohnen, wie sie Essen, wie sie sich um ihre Gesundheit sorgen etc. Kultur ist also der allgemeinste Begriff für das, was Marx im Vorwort ›Zur Kritik der Politischen Ökonomie‹ als Überbau beschreibt: »Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten.«2 – Ideologische Formen ist das Stichwort, welches sich auch in der ›Dialektik der Aufklärung‹ wiederfindet, wenn es dort heißt: »Der Abschnitt ›Kulturindustrie‹ zeigt die Regression der Aufklärung an der Ideologie, die in Film und Radio ihren maßgebenden Ausdruck findet.«3 Wenn es hier aber um Film und Radio geht, also um Phänomene, die wir heute umstandslos dem Kulturellen zuordnen, dann in der Weise, dass nicht mehr eine Trennung vorliegt zwischen dem ästhetischen Schein und dem konkreten sozialen Sein, sondern die kulturellen Formen in das Alltagsleben übergegangen sind; Film und Radio sind die Gesellschaft. Stattdessen Film und Radio irgend als Kultur aus der sozialen Sphäre abzuspalten, ist soziologistisch verkürzt, als ob ich etwa durch mein Zimmer gehen könnte, zum Kühlschrank, auf Toilette, um dann den Fernseher anzumachen oder ein Buch aufzuschlagen und in dem Moment quasi »kulturell« werde, als kultureller Mensch überhaupt in Erscheinung trete. So beginnt das Kulturindustriekapitel in der ›Dialektik der Aufklärung‹ mit einem Einwand gegen eine »soziologische Meinung« – also keine Kritik der Kulturphilosophie, keine Kritik der Ästhetik, sondern Kritik der Soziologie. Und das Beispiel an dem der Einwand, der für uns jetzt keine Rolle spielt, konkretisiert wird, ist das für damalige Soziologie Konkreteste, das vorstellbar ist, wenn man an die Chicagoer Schule um Park und Wirth denkt, nämlich: Wohnarchitektur in der Großstadt. Und daraus erst wird der Begriff der Kultur abgeleitet, und zwar als ideologische Plakette selbst: »Wie die Bewohner

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zwecks Arbeit und Vergnügen, als Produzenten und Konsumenten, in die Zentren entboten werden, so kristallisieren sich die Wohnzellen bruchlos zu wohlorganisierten Komplexen. Die augenfällige Einheit von Makrokosmos und Mikrokosmos demonstriert den Menschen das Modell ihrer Kultur: die falsche Identität von Allgemeinem und Besonderem. Alle Massenkultur unterm Monopol ist identisch, und ihr Skelett, das von jenem fabrizierte begriffliche Gerippe, beginnt sich abzuzeichnen.«4 In dieser Perspektive macht ein Kulturbegriff Sinn, nämlich als Ideologie, in Hinblick auf die These der kritischen Theorie, dass die von Marx festgestellte Ausbeutung im Ökonomischen heute gefasst werden muss als Unterdrückung, die sich weitgehend in ideologischen Verzerrungen des Kulturellen überhaupt erst ausdrückt und sich nicht unmittelbar äußert. Kulturindustrie ist nicht eine besondere Form der Kultur, sondern die Kultur selbst: als Gesellschaft. Dass es sehr wohl einzelne, industriell organisierte Unternehmen gibt, meint nicht mehr als eben auch vom Kapitalismus in der Doppelweise die Rede ist, dass unsere Gesellschaft eine kapitalistische ist, die weitgehend von kapitalistischen Unternehmen bestimmt wird. Solche Begriffsdialektik gehört zur kritischen Theorie. Freilich geht es um Kunst, um Künste, um populäre Kunstformen und kulturell-technische Entwicklungen wie etwa Radio und Film. Dieser Bereich wird aber nicht unter das Kulturelle subsumiert, was sehr entscheidend ist und deutlich wird, wenn man sich einmal ansieht, wie die Kulturindustriethematik sich aus den Artikeln der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ entwickelte, oder sich so rekonstruieren lässt. Ich möchte dafür die neun Jahrgänge einmal durchgehen. Horkheimer übernimmt 1931 den Posten des Direktors am Institut für Sozialforschung. 1932 erscheint erstmals die ›Zeitschrift für Sozialforschung‹. Im ersten Heft, ein Doppelheft, erläutert Horkheimer gewissermaßen das Forschungsprogramm: in den zehn ›Bemerkungen über Wissenschaft und Krise‹ kommt Horkheimer auf Kultur als Ideologie zu sprechen: »Alle Verhaltungsweisen [sic!] der Menschen, welche die wahre Natur der auf Gegensätze aufgebauten Gesellschaft verhüllen, sind ideologisch … An sich richtige Ansichten, theoretische und ästhetische Werke von unbestreitbar hoher Qualität können in bestimmten Zusammenhängen ideologisch wirken, und manche Illusionen sind dagegen keine Ideologie. Der ideologische Schein entsteht bei den Mitgliedern einer Gesellschaft notwendig auf Grund ihrer Stellung im Wirtschaftsleben; erst wenn die Verhältnisse so weit fortgeschritten sind, die Interessengegensätze eine solche Schärfe erreicht haben, daß auch ein durchschnittliches Auge den Schein durchdringen kann, pflegt sich ein eigener ideologischer Apparat mit selbstbewußten Tendenzen auszubilden. Mit der Gefährdung

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einer bestehenden Gesellschaft durch die ihr immanenten Spannungen wachsen die auf Erhaltung der Ideologie gerichteten Energien und werden schließlich die Mittel verschärft, sie gewaltsam zu stützen.«5 – Wir finden in diesem Zitat, insbesondere im abschließenden Hinweis auf die ideologische Apparatur meines Erachtens schon ein zentrales Element der Kulturindustrie. Gesellschaft gerät also in das Blickfeld der kritischen Theorie ob ihres Doppelcharakters als ökonomischer Zusammenhang und ideologischer, also kultureller Zusammenhang; mit Blick auf die ›Dialektik der Aufklärung‹ kann gesagt werden, Kulturindustrie ist die ideologische Apparatur der fordistischen Gesellschaft. In diesem ersten Heft der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹ veröffentlicht Adorno seinen Beitrag ›Zur gesellschaftlichen Lage der Musik‹, in dem sich die Kernthese des späteren Kulturindustriekonzepts findet, das Bindeglied zwischen ökonomischen und ideologischen Verhältnissen; dies ist eingelagert in der marxschen Theorie des Fetischcharakters der Ware.

Einverständnisse, Missverständnisse. Fünfzig Jahre Popdiskurs und zurück »Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.« Karl Marx und Friedrich Engels, ›Das Manifest der kommunistischen Partei‹ (in: MEW Bd. 4, S. 465) »Die minimalen Unterschiede vom Immergleichen, die ihm offen sind, vertreten, wie immer auch hilflos, den ums Ganze; in den Unterschied selber, die Abweichung, hat Hoffnung sich zusammengezogen.« Adorno, ›Kultur und Verwaltung‹ (in: GS Bd. 8, S. 146)

Einerseits: Die schließlich sich selbst überbietende Popkultur ist eine einzige Wiederholung ihrer alten Gesten, ohne jede Bedeutung, sinnlos, nichtig. Die großen Open-Air-Konzerte, ein Reflex der Massenkultur des späten 19. Jahrhunderts, sind Entertainment mit Hintergrundbeschallung. Es gibt Musik für Leute, die keine Musik mögen. Die Kulturindustrie kann nicht annähernd das bieten, was sie fortwährend verspricht; seit über fünfzig Jahren hinkt der Unterhaltungsbetrieb seinem eigenen Anspruch hinterher. – Die Veränderungen im letzten Jahrhundert, die von der Massenkultur zur Kulturindustrie, von der Kulturindustrie zur Popkultur führten, haben an der Oberfläche Spuren hinterlassen, die wie Narben verhärtet sind, an denen der Mechanismus sich immer wieder erprobte, bis er anfing, auf der Stelle zu rotieren. Dazu die Kritik; sie ist nur

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dialektisch zu begreifen – dass die Diagnose der Kritik der Kulturindustrie richtig ist, die Schlussfolgerungen allerdings falsch,6 gilt für die merkwürdig fortgeschrittene und nicht von der Stelle gekommene Popkultur rückwärts: Pop ist die richtige Schlussfolgerung einer falschen Einschätzung (der Funktion der Kultur, der Kunst, der Politik, der Subversion, der Dissidenz, der Macht etc.). So kann die Popkultur als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise beschrieben werden, die in der Kulturindustrie ihre symbolische Ordnung fand. Unterm Strich: Seit fünfzig Jahren derselbe Müll, mit dem versucht wird, die fünfzig oder einhundertfünzig Jahre zuvor vergessen zu machen. Eine Dialektik im Stillstand; sie formiert sich zwischen den Polen einer kritischen Theorie der Kultur. Das heißt: die Kulturindustriethese ist eine andere Perspektive auf das, was Benjamin als Ästhetisierung der Politik angesichts des Faschismus bezeichnete. Alles wird Kultur und alle Kultur wird Ware. Was im Nationalsozialismus zur totalen Ordnung des Alltagsleben wird, ist in der demokratischen Massenkultur die Mode. Die Popkultur ist einerseits ein dialektischer Aufhebungssprung der Massenkultur, andererseits die Fortsetzung einer Stagnation von Verhältnissen, deren Strukturen im 19. Jahrhundert ihren Ursprung haben. Diese Krise der Massenkultur, die wir euphorisch ›Pop‹ nennen, kann als Entropie der Kulturindustrie bezeichnet werden, als grenzenlose, selbstgefällige und schließlich sich verflüchtigende Expansion, deren Endstadium die Popkultur darstellt: ein Zustand der Entropie, der nach der Vernichtung des Raumes nun die Zeit okkupiert und Geschichte annulliert. Nachdem im 19. Jahrhundert der Kapitalismus wesentlich mit der politischen Kolonialisierung des Raumes beschäftigt war, geht es nun – nach einer Phase des Imperialismus, während der vorerst das letzte Mal die Möglichkeit verhandelt wurde, aus der Vorgeschichte herauszutreten – um die Globalisierung der Zeit, die Verwaltung von Geschichte im Namen der globalen Kultur des Kapitalismus (und das bedeutet eine Ästhetisierung der Katastrophe). Andererseits: Die Ästhetisierung der Katastrophe ist die Illusion der Subversion im Namen der Popkultur. Die Popkultur ist die verkürzte Rekapitulation der bürgerlichen Kultur. Das meint nicht nur, dass die Popkultur in der Entwicklung ihres Formenkanons auf technisch fortgeschrittenem Stand wiederholt, was das Bürgertum bereits im 19. Jahrhundert in der Spätromantik gipfeln lässt, sondern dass die Popkultur auch in ihren subversiven Unternehmungen sich an der Ideologie des bürgerlichen Kulturverständnisses orientiert und selbst in ihren radikalsten Forderungen nie über die Ziele der bürgerlichen Revolution hinausging. (Sofern die bürgerliche Kultur den Versuch darstellt, die realkapitalistischen Krisenlogik zu verdecken, findet dieses in der Popkultur seine Kulmination.) Auch eine linke Popkultur hat sich nie von den ideologischen Motiven der bürgerlichen Vorstellung von Kultur getrennt. Die mit Pop assoziierten Mo-

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mente der Befreiung verhinderten die Aufhebung von Kultur, indem sie die vermeintliche subversive Kultur verdinglichten und verabsolutierten. Widersprüche wurden nicht dialektisch – im ästhetischen und politischen Sinne – entfaltet, sondern festgeschrieben. Gerade in den neusten Ausformungen einer »linken«, »engagierten«, »kritischen« Kultur geriert sich das neueste Leitmodell des spätmodernen Subjekts. In der Kulturkritik findet es seinen Widerhall und seine Legitimation. »Was ist überhaupt Kulturkritik?«7 Kulturindustrie zeigt, wieviel Kritik sich die Gesellschaft leisten kann. Und Pop ist das Paradox, dies einerseits so zu zeigen, als gäbe es gar nichts zu kritisieren, andererseits die Kritik aber schon immer so weit zu überdrehen, dass sie sich die Gesellschaft eigentlich gerade eben nicht mehr leisten können dürfte. Pop zeigt, was ohnehin ist. Kritische Popkultur versucht dies nicht affirmativ zu tun. Pop korrespondiert je mit der Kulturindustrie, meint diese unter anderem Etikett; Pop ist immer schon Ware: eine Musik, die so sehr in der Krise ist wie die Gesellschaft, die sich in ihr ausdrückt. Die Differenzierungen zwischen Pop und Rock und andere vermeintlich stilistische Abgrenzungen lasse ich außen vor – Pop bezeichnet ein Gemeinsames der Musik von der Kelly Family bis Goodspeed You Black Emperor, von Rammstein bis Squarepusher, von Elton John bis Einstürzende Neubauten, von Radiohead bis Merzbow, von Atari Teenage Riot und Joe Zawinul, Gemeinsames von Sex Pistols, Steve Reich und Kristof Penderecki, heute auch Gemeinsames von Beethoven und Beatles. Dass über die Gesamtheit dieser Musik derselbe Diskurs geführt werden kann, hat mit den Produktionsund Rezeptionsverhältnissen zu tun, die sich, wenn auch sehr unterschiedlich, durchaus im musikalischen Material niederschlagen; es hat zu tun mit dem, was Kulturindustrie als Struktur- und Ausdruckszusammenhang ausmacht. Ungereimtheiten im Popbegriff spiegeln sich im Kulturindustriebegriff wider; andererseits ersetzt heute die inflationäre Rede vom Pop die Phrase der Kulturindustrie, wie sie in den achtziger Jahren noch gängig war. Pop, begrifflich insofern scheinbar bewusst unterbestimmt, ist eher ein Reklameetikett der Kulturindustrie, setzt seine terminologische Schwammigkeit und setzt derart seine Beliebigkeit schon voraus. Der Pop gestattet es also vor aller empirischen Ausmessung seines Terrains, scheinbar kritisch mit ihm zu kokettieren, um ihn im nächsten Moment zu verwerfen. Dagegen ist ›Kulturindustrie‹ als Reflexionsbegriff nicht von der Kulturindustrie selbst eingeführt worden – auch wenn ihre offiziellen Vertreter heute keine Skrupel mehr kennen, in ihrem Namen zu agieren (auch das kalkuliert die Kulturindustrie je schon ein). Der Begriff ist dem Rahmen der kritischen Theorie nicht zu entreißen, auch wenn er sich zur Floskel eignet – das provoziert etwa seinen Beiklang und wer von »Kulturindustrie« spricht, der demonstriert Bildung und Belesenheit (anders: der Begriff

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der Massenkultur). – Doch auch der Kulturindustriebegriff ist heute verschwommen, sowohl in seiner popdiskursiven Verwendungsweise wie auch im akademischen Diskurs. Der Begriff wird dem gleichnamigen Kapitel aus der ›Dialektik der Aufklärung‹ (1947, bzw. 1944) von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer zugeordnet. Gemeinhin kann angenommen werden, dass Adorno maßgeblich für das Kulturindustriekapitel verantwortlich zeichnet, weshalb es eigentlich sein Name und seine Philosophie ist, die mit der kritischen Theorie verbunden wird. Horkheimer benutzt in späteren Schriften den Begriff selten, während Adorno die Analyse bis zu einem »Résumé über Kulturindustrie«8 zuspitzt und fortsetzt (dazu gehört auch der Nachlasstext ›Das Schema der Massenkultur‹,9 der als Fortsetzung des Kulturindustriekapitels der ›Dialektik der Aufklärung‹ gedacht war). Kontrastiert werden die Argumente, oder das, was von ihnen zum Bildungsgut geworden ist, mit Walter Benjamins ›Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit‹ von 1936. Wie beim Pop sollte gefragt werden: Welcher Gegenstand verkörpert sich im Namen der Kulturindustrie? Michael Kausch hat in seiner Studie ›Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie der Massenmedien‹10 das Thema wesentlich auf Kommunikation und gegenwärtige Kultur im engeren Sinne gerichtet. Eckhard Tramsen hat auf der Berliner Adorno-Tagung 1989 die Theorie von Bourdieus ›Die feinen Unterschiede‹ abgegrenzt und vor allem Bezüge zu Adornos Astrologiekritik hergestellt;11 Detlev Claussen hat auf derselben Tagung die ›Aktualität der Kulturindustriekritik Adornos‹ an der allgemeinen Bestandsaufnahme von Massenkonsum festgemacht: »Autos, Möbel, Kühlschränke, Kleider« benennt er ebenso als Kulturindustrie wie die Zurichtung der kritischen Theorie zu einer Fernsehreihe.12 Sabine Horst hat mit ihrem Aufsatz ›Versuch, den populären Film zu verstehen. Kino, Kritik und Kulturindustrie heute‹ die in der Kulturindustriethese eingeschlossene Filmkritik luzide weitergeführt.13 Nicht zuletzt weil Adorno als Komponist tätig war und ein Großteil seiner Schriften zu Ästhetik und musikalischen Problemen Stellung beziehen, wird die Kulturindustriethese gerne mit Musikkritik in Zusammenhang gebracht – vor allem etwa mit seinen frühen Arbeiten ›Über Jazz‹14, ›On Popular Music‹15 und Adornos »Exkurs« zur ›Dialektik der Aufklärung‹, seiner ›Philosophie der neuen Musik‹. Die Debatte um Adornos fatale Jazzkritik wird hier fortgeführt; entscheidende Impulse hat Heinz Steinert mit ›Die Entdeckung der Kulturindustrie. Oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte‹ geliefert.16 Obgleich im Kulturindustriekapitel der ›Dialektik der Aufklärung‹ von Magazinen, Radio und dergleichen die Rede ist, konzentriert sich die Kritik hauptsächlich auf die Musik. Vor allem spricht für einen engen Gegenstandsbezug der Kulturindustriethese zur Musik, dass nicht nur Adorno und Hork-

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heimer diesen Begriff gebrauchten, sondern ebenso der Komponist Hanns Eisler.17 In diesem Zusammenhang ist auch auf Adornos und Eislers Gemeinschaftsarbeit ›Komposition für den Film‹18 zu verweisen, die in vielen Aspekten bezogen auf die Probleme der Filmmusik die Kritik der Kulturindustrie zu konkretisieren scheint (schließlich wäre auch auf die empirischen Unterschungen der damaligen Zeit zu verweisen wie etwa das ›Radio Research Project‹, an dem auch Adorno beteiligt war). Es geht keineswegs darum, im Namen der Kulturindustriekritik und des Popdiskurses sich bescheidwissend über die Dummheit der Massenkonsumenten herzumachen, denen die neue Kuschel-Rock-CD angedreht wird, sondern um die Kritik, dass die geschmähte Masse sich zunächst in sozialen Verhältnissen bewegt, die sich nur mit so einem Unfug wie Kuschel-Rock-CDs ertragen lassen. »Not und Druck« der Menschen, so lässt sich mit der ›Dialektik der Aufklärung‹ sagen, macht das Einklagen von »Ernst zum Hohn«; Menschen, »die froh sein müssen, wenn sie die Zeit, die sie nicht am Triebrad stehen, dazu benutzen können, sich treiben zu lassen.« Die Kuschel-Rock-CD ist das »gesellschaftlich schlechte Gewissen« von Musik, die dagegen als gehaltvoll gilt.19 Und Adorno und Eisler schreiben: »Im spätindustriellen Zeitalter bleibt den Massen nichts als der Zwang, sich zu zerstreuen und zu erholen, als ein Teil der Notwendigkeit, die Arbeitskraft wiederherzustellen, die sie in dem entfremdeten Arbeitsprozeß verausgabten.«20 – Falsch wäre demnach jede nostalgische Allianz mit dem Bildungsbürgertum, in dessen Namen gegen den kulturindustriellen Schund die hohe Kunst verteidigt wird: »Die Reinheit der bürgerlichen Kunst, die sich als Reich der Freiheit im Gegensatz zur materiellen Praxis hypostasierte, war von Anbeginn mit dem Ausschluß der Unterklasse erkauft …«21 Die autonome Kunst von ehedem ist heute nicht minder in die Kulturindustrie integriert; »die Massenkultur [lebt] gerade vom Ausverkauf der individualistischen« Kultur des 19. Jahrhunderts.22 Die Kritik der Kulturindustrie wird leicht als Massenfeindlichkeit fehlinterpretiert, in Überschätzung der eigenen Stellung, als wäre Kultur im unmittelbaren Vollzug kritisierbar, als hätte eine bewusst-affirmative Stellung zur Kulturindustrie einen qualitativen Vorteil den Betrogenen gegenüber. In den ›Minima Moralia‹ warnte Adorno vor diesem Missverständnis: »Für den, der nicht mitmacht, besteht die Gefahr, daß er sich für besser hält als die andern und seine Kritik der Gesellschaft mißbraucht als Ideologie für sein privates Interesse … Der Distanzierte bleibt so verstrickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die Einsicht in seine Verstricktheit und das Glück der winzigen Freiheit, die im Erkennen als solchem liegt.«23 Auf die Gefahr einer Überschätzung der Reichweite von Kulturkritik machte auch Horkheimer aufmerksam: »Kulturkritik muß sich hüten, daß sie nicht selber durch

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Denunziation der Kultur als Ablenkung von Themen wegführt, die dem Gedanken noch geblieben sind: von den krassen Unterschieden der Macht, die niemand wahrnimmt, weil sie offenkundig sind, vom Elend hinter den Mauern der Zucht- und Irrenhäuser, von radikal materiellen Bestimmungsgründen der Politik, gerade dort, wo sie besonders edel sich gibt.«24 Im Pop, wie ihn die Kulturlinke der neunziger Jahre verteidigte, fänden sich Subversionspotenziale; Pop sei dialektisch beides, »Teil des Problems« wie »Medium der Befreiung«, wie es Christoph Gurk sagt. Kulturindustriekritik wäre ebenso wie ihre Aktualität im Spiegel der Popkultur, mit einer modifizierten Lesart der Kulturindustrietheorie zu begründen. Vor allem ›Komposition für den Film‹ spricht dafür, dass mit dem Kulturindustriebegriff keine monolithische Theorie sozialer Aporie und Hermetik gedeckt werden sollte. Vielmehr finden sich erstaunlich Hinweise auf die Annahme einer gewissen Dynamik der Kulturindustrie, wenn es etwa in der mimeografierten Ausgabe der ›Dialektik der Aufklärung‹ von 1944 heißt: »Große Teile, längst ausgeführt, bedürfen nur noch der letzten Redaktion. In ihnen werden auch die positiven Aspekte der Massenkultur zur Sprache kommen.«25 Und Umberto Eco erinnerte sich an ein Gespräch mit Adorno in den sechziger Jahren, »in dessen Verlauf er mir sagte, wenn die ›Dialektik der Aufklärung‹ nicht in den USA der vierziger Jahre geschrieben worden wäre …, sondern im Nachkriegsdeutschland und anläßlich einer Analyse des Fernsehens, dann wären seine Urteile minder pessimistisch, weniger radikal ausgefallen.«26 – Adorno und Horkheimer schreiben entsprechend, dass der Abschnitt über Kulturindustrie »mehr noch als die anderen … fragmentarisch« ist.27 Entsprechend heißt es in der »Vorrede« von Eislers und Adornos ›Komposition für den Film‹: »Die Auseinandersetzung mit Massenkultur muß es sich zur Aufgabe setzen, die Verschränkung beider Elemente, der ästhetischen Potentialität der Massenkunst in einer freien Gesellschaft und ihres ideologischen Charakters in der gegenwärtigen, sichtbar zu machen.«28 Was Eisler und Adorno die »ästhetische Potentialität« nennen, ist selbst dialektisch nur als Spannung zu begreifen, die der Kunst immanent ist, zugleich als Ausdrucksvermögen, die Spannung auszutragen zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll.

Kulturindustrie – Anmerkungen zum Begriff und zur Rezeptionsgeschichte Die Kulturindustriethese ist dialektisch angelegt. Sie ist genauso widersprüchlich wie die Wirklichkeit, die sie kritisch zu analysieren versucht. Die theoretisch-philosophischen Grundlagen der kritischen Theorie, wie sie von Max Horkheimer im Forschungszusammenhang des (Frankfurter) Instituts für

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Sozialforschung projektiert wurden, decken sich mit dem Konstruktionsaufbau der Kulturindustriekritik. Ausgangspunkt war die Kritik der politischen Ökonomie von Marx; sie sollte erweitert werden um Elemente der kantischen Erkenntnistheorie, um eine materialistisch gedeutete hegelsche Geschichtsphilosophie und um die Psychoanalyse Freuds. Die Erweiterung der marxschen kritischen Theorie schien notwendig aufgrund der Diagnose, dass im Basis-Überbau-Zusammenhang der Überbau, also das Reich der Kultur, die Reproduktionssphäre, sofern nicht sowieso schon ökonomisch durchsetzt war, zunehmend eine gewisse Eigendynamik und Gewalt gegenüber der Basis zeigt, gleichwohl – wie Benjamin schreibt – »die Umwälzung des Überbaus … langsamer als die des Unterbaus vor sich geht«.29 Die Theorie der Kulturindustrie umfasst technologisch-technische, sozialpsychologische, ästhetische und ökonomisch-ideologische Aspekte. Sie sind keineswegs zu vereinseitigen und meinen für sich noch nicht die Erklärung des Gesamtzusammenhangs; viel mehr bildet eine auf herausgenommene Momente beschränkte Erklärung des Phänomens die Kulturindustrie bloß affirmativ ab. Allein vom technischen Stand der Gesellschaft ist noch nichts über ihren Strukturzusammenhang ableitbar. Nicht darf übersehen werden, wer über die Technologie verfügt und in wessen Dienst sie genommen ist. Relevant ist der Doppelaspekt des Technischen: Technik bezeichnet – so Adorno – in der Kunst innere Formgesetze, und sofern nicht etwa ästhetische Gestaltung gemeint ist (Zwölftontechnik), sondern tatsächlich technologische Neuerungen (Reproduktionsverfahren), begründet sich deren Einsatz künstlerisch gleichsam aus der Sache heraus – und das heißt immer, wie es Eisler und Adorno für die Filmmusik hervorheben: dass von einem Problem ausgegangen werden muss, das ästhetisch gelöst werden soll. Die Musik der Kulturindustrie ist heute technisch über Videos, CDs, Computersampling vermittelt; solche Technik wird kaum noch infrage gestellt; defensiv beurteilt man die Resultate und schiebt die Beurteilung solange hin und her, bis sie sich mit dem getroffenen Emotionen decken, mit dem Gefühl, auf das sich in letzter Instanz gerne berufen wird, dass und weshalb ›über Musik sowieso nicht geredet werden könne‹. Die Frage, wie in der Massenkultur Bedürfnis, Gefühl und Befriedigung gelöst werden, hat den Begriff der Kulturindustrie gegen andere Varianten zur Bezeichnung derselben Sache begründet: Adorno wollte nicht von Massenkultur sprechen, um auszuschließen, »daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst«.30 Auch der Begriff »Traumfabrik«, den Ernst Bloch verwendete, fasst das Phänomen nicht präzise, und mit Adorno wäre einzuwenden: »Die Vorstellung populärer Sozial-

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psychologen, der Film sei eine Traumfabrik und das happy end eine Wunscherfüllung, greift zu kurz. Das Ladenmädchen identifiziert sich nicht unmittelbar mit dem als Privatsekretärin kostümierten glamour girl, das den Chef heiratet. Aber im Angesicht jenes Glücks, von seiner Möglichkeit überwältigt, wagt es sich einzugestehen, was einzugestehen sonst die gesamte Einrichtung des Lebens verwehrt: dass es am Glück keinen Teil hat.«31 Die Kulturindustrie reduziert die Reaktionsweisen der Menschen auf Reizschemen, auf Stereotypen und Klischees: »Auf den Trick, einmal ziehe ein jeder das große Los, fallen längst die Dümmsten nicht mehr herein. In der temporären Freigabe der Ahnung, dass man sein Leben versäumte, besteht das Recht des Kitsches. Es erweist sich vorab an der Musik. Die meisten hören emotional: alles in Kategorien der Spätromantik und der von dieser derivierten Waren, die schon aufs emotionale Hören zugeschnitten sind.«32 Gleichwohl haben Eisler und Adorno einige Analysen darauf verwandt, die psychologischen Muster von Filmmusik im positiven oder sachlichen Sinne herauszuarbeiten: Wie etwa das Sehen vom Hören psychologisch und phänomenologisch zu unterscheiden wäre und sich Filmmusik überhaupt begründe, war eine Frage. Der Schock, dass das Leben versäumt werde, bricht sich emotional stets mit der Beruhigung, dass trotz Versäumnis alles seinen rechten Gang nehme. »Die Ersatzbefriedigung, die die Kulturindustrie den Massen bereitet, indem sie das Wohlgefühl erweckt, die Welt sei in eben der Ordnung, die sie ihnen suggerieren will, betrügt sie um das Glück, das sie ihnen vorschwindelt.«33 Wenn im Popdiskurs hedonistische Absichten verteidigt werden, so geschieht dies mit einem merkwürdigen Spagat, das emotional-subjektivistische Urteil als ästhetisch-objektivistisches Urteil zu verklären, gleichzeitig jedoch den Gegenstand der Beurteilung von einer ästhetischen Kritik freizumachen, als ob jede Deutung des Pop als Kunst schon verfehlt wäre. Wenn selbst in der Poplinken sich um die Frage der Kunst in der Popkultur merkwürdig herumgedrückt wird, heißt das freilich nicht, dass sich deren Interessen schon vollends mit denen der Kulturindustrie decken. Es fehlt, wenn man so will, eine linke Kulturpolitik, die nicht bloß auf die vorgefertigten kulturellen Produkte reagiert, sondern selbst Forderungen über den Charakter der Kunst formuliert. Strittig ist in diesem Punkt ja eben die Rolle der Unterhaltung, der Spaß. Bauchmusik versus Kopfmusik; Techno-Paraden pro und contra. Bedeuten die Techno-Raves dieselben körperlichen Degradierung wie einst der Jitterbug für Adorno, Bloch und andere? Ich glaube, wenn man wie Annette Weber in ihrem Aufsatz ›Miniaturstaat Rave-Nation‹ in ›Mainstream der Minderheiten‹ schreibt, »der Körper wird zur Sportmaschine und erzeugt das Produkt Tanz. Bei den klassischen Techno-Tänzen orientierte sich die Bildersprache der

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Armbewegungen an industriellen Arbeitsprozessen oder an den maschinellen gestischen Systemen, die wir etwa von Kraftwerk kennen«,34 dann ist das nicht Kritik, sondern Deskription von zur Normalität gewordenen Körperverhältnissen. Deshalb ist es verfehlt, wenn Günther Jacob in einer Besprechung zu ›Mainstream der Minderheiten‹ dieses Weber-Zitat mit anderen Zitaten ähnlichen Kalibers, aber anderer politischer Zielsetzung zusammenbringt;35 Jacob, der sich gerne auch bei Adorno und Horkheimer mit Zitaten bedient, hätte dort ebensolche Sätze finden können – die Kritik setzt woanders an, was Weber auch deutlich macht (aber Jacob stillschweigend übergeht), nämlich nicht beim Affront gegen Tanz allgemein, sondern beim ideologischen Zusammenhang wie bei der Verflechtung mit Ökonomie. Ich hoffe Annette Weber darin richtig zu verstehen, dass es eben nicht gegen Unterhaltung beim Tanzen geht, sondern letztlich um den Betrug um diese Unterhaltung, die fortwährend versprochen wird und sich lediglich in fetischistischen Surrogaten wiederfindet, in der Mode und der verordneten Club-Culture. Gerade in diesen Fragen darf Popkritik ihre Dialektik nicht verlassen. Weder kann von ästhetischen Binnendifferenzierungen gänzlich abgesehen werden, noch wären die Phänomene quasi soziologistisch, wie es oft bei Pierre Bourdieu scheint, auf den Günther Jacob sich maßgeblich beruft, gleichzusetzen, wo die Kulturindustrie selbst noch den Unterschied behauptet. Die Erkenntnis, dass etwa im Tanz Arbeitsprozesse nachgebildet werden, kann wohl kaum vorgeworfen werden. Das begründet kulturhistorisch den Tanz im Ritual, als Mimesis, begründet unter Umständen Kunst überhaupt im Kultus. Dass allerdings gerade im Technobereich, wenn nicht in der Popkultur insgesamt, von der Wiederkehr der Rituale in technisch vermittelter Gestalt profitiert wird, ist Bestandsaufnahme; rein sachlich ist fraglich, wieso die Unterdrückten sich in der Freizeit anders bewegen sollten als sie es im entfremdeten Arbeitsprozess gelernt haben – und unklar bleibt, was Jacob hier moniert.36 Mithin: Die Frage ist nicht, wie ästhetische Kategorien auf die Produkte der Kulturindustrie abgebildet werden können, sondern wie sie selbst sich im kulturindustriellen Einfluss wandeln, verändert oder vernichtet werden. Das betrifft primär allerdings solche Kategorien, die eben schon die Funktion der Kultur und Zugangsweisen zu ihr grundsätzlich ermöglichen. Bei der Frage nach Genuss und Unterhaltung stehen die Begriffe selbst zur Diskussion: »Das Recht auf Unterhaltung zu bestreiten und eine widerwillige Bevölkerung mit Kultur vollzustopfen, wäre schulmeisterliche Anmaßung. Dennoch tut Unterhaltung objektiv denen Unrecht, denen sie widerfährt und die subjektiv danach begehren … Den in Waren verwandelten Kulturgütern wird das Leben ausgetrieben.«37

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Wenn die Kulturindustriethese überhaupt an irgendetwas verbindlich festgemacht werden kann, dann an dem Satz, dass alle Kultur zur Ware wird. Das klingt nach einem Gemeinplatz und wird auch bisweilen so verhandelt, gleichwohl ist dieses nicht kulturpessimistisch als Verdammung von Kommerz und Ausverkauf der Kultur misszuverstehen. Insofern ist fraglich, ob eine Aktualisierung der Kulturindustriethese greift, wie sie Christoph Gurk im ›Mainstream der Minderheiten‹ vorgenommen hat,38 die maßgeblich auf den großökonomischen Rahmen von Majorlabel-Zusammenschlüssen und Verkaufsstatistiken zugeschnitten ist. Die Ökonomiekritik in der ›Dialektik der Aufklärung‹ ist heikel. Adorno und Horkheimer – im Übrigen auch Eisler – gehen vom Monopolkapitalismus aus, begreifen also die Kulturindustrie als zentral von wenigen ökonomisch Mächtigen gesteuert. Rolf Johannes hat darauf hingewiesen, inwiefern damit das ganze Gesellschaftsbild Adornos und Horkheimers in die Schräglage gerät.39 Die Deutung der Gesellschaft als monopolkapitalistisch ist allerdings problematischerweise dem Begriff von der Kulturindustrie immanent. In der Tat verhält es sich hier widersprüchlich: sowohl sind Kapitalkonzentrationen zu verzeichnen; gleichzeitig setzt sich eine Kulturindustrialisierung strukturell über die Köpfe der Menschen hinweg durch. Die Konsumenten arbeiten an ihrem eigenen Betrug mit, wollen ihn und verdammen ihn zugleich. Die Kulturindustrie lässt diese Doppellogik zu. Der ökonomiekritische Kern in der Kulturindustriethese betrifft allerdings auch nicht das Aufzählen und Markieren von Firmen- und Konzernverflechtungen, betrifft nicht die Rolle einzelner. Ökonomiekritik ist hier nur mit Ideologiekritik zusammen zu denken. Dass alle Kultur zur Ware wird, meint nicht primär ihre ökonomische Distribution, als wenn ein geschenkter Beethoven besser wäre als ein gekaufter, sondern das, was als Fetischcharakter der Ware sich manifestiert. »Kultur ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, dass sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind im Gebrauch auf, dass man sie nicht mehr gebrauchen kann. Daher verschmilzt sie mit der Reklame. Je sinnloser diese unterm Monopol scheint, um so allmächtiger wird sie. Die Motive sind ökonomisch genug. Zu gewiß könnte man ohne die ganze Kulturindustrie leben, zu viel Übersättigung und Apathie muß sie unter den Konsumenten erzeugen. Aus sich selbst vermag sie wenig dagegen. Reklame ist ihr Lebenselexier.«40 – Überhaupt mündet die ganze Kulturindustrie in Reklame: Popkultur ist der Zwischenschritt von der Kulturindustrie zur Reklame. In der Popkultur wird es schließlich möglich, radikal zu kritisieren und genau damit noch Werbung für die Welt zu machen, gegen die vorgegangen werden soll.

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»Die frühen Sachen, als sie noch nicht beim Majorlabel waren, sind eh viel besser.« Dass es einmal Zeiten gegeben hätte, wo die Kulturindustriethese zum festen Bestandteil linker Kritik gehörte, ist ein Trug. Vielmehr war sie von jeher Angriffen ausgesetzt, auch und gerade von linker Seite. Es ist gemeinhin bekannt, dass bis zu den Raubdrucken während der so genannten Studentenbewegung der sechziger Jahre die ›Dialektik der Aufklärung‹ nur in der 1947 in Amsterdam erschienenen Auflage von 3.000 Exemplare kursierte. Mit dem Buch ›Komposition für den Film‹ ist es ähnlich. Die Rezeption der These erfolgte zunächst philosophisch und soziologisch, nicht ästhetisch. Mehr Einfluss auf linke Kulturpolitik dürfte damals Marcuse gehabt haben, der mit weit größerer Sensibilität als Adorno und Horkheimer soziale Veränderungen beobachtete und bis zu Bob Dylan auch die Konsolidierung der Popkultur verfolgte.41 Adorno hatte einen schlechten Stand, weil seine kulturellen Ambitionen für die Schönberg-Schule als elitär galten, ebenso wie seine – zum Teil wirklich fatal-falsche – Jazzkritik. Stets hatten jene ein leichtes Spiel, die mit demokratischem Bewusstsein darauf pochten, kulturindustrielle Strukturen seien auch anders nutzbar, eben für kommunikative Zwecke. Jürgen Habermas’ ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹42 hat seinen Beitrag dazu geleistet. Oskar Negt und Alexander Kluge ergänzten dies mit dem Buch ›Öffentlichkeit und Erfahrung‹, auch auf die neue Mediensituation der späten sechziger Jahre reagierend.43 Nicht unwichtig ist der Hinweis, dass Adorno zusammen mit Alexander Kluge eine Erweiterung von ›Komposition für den Film‹ plante, beziehungsweise ein ähnliches Projekt, das dann auch Überlegungen des Autorenfilms einbezöge. Mit der Etablierung einer Rock- und Popkultur, die zunehmend auch für Akademiker den Sozialisationshintergrund bildete, versuchte man sich an ästhetischen Rezeptionen der Kulturindustrietheorie, um sie zu widerlegen. Adorno ahnte selbst: »Wer so durchaus unter Bedingungen der Kulturindustrie aufgewachsen ist, daß sie ihm zur zweiten Natur wurde, ist zunächst fähig und gewillt, Einsichten mit zu vollziehen, die ihrer Sozialstruktur und Funktion gelten. Reflexartig wird er derlei Einsichten abwehren, mit Vorliebe unter Berufung eben auf die szientifische Spielregel allgemeiner Nachvollziehbarkeit. Dreißig Jahre hat es gedauert, bis die kritische Theorie der Kulturindustrie durchdrang; zahlreiche Instanzen und Agenturen versuchen heute, sie zu ersticken, weil sie dem Geschäft schadet.«44 Vor allem über den Kunstdiskurs, der sich in den achtziger Jahren entwickelte, wurden mit der Popkultur gegen die Kulturindustrietheorie ästhetische Strategien aktualisiert: Der Pop erschien zum Teil unter dem Namen der

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künstlerischen Avantgarde. Punk wurde als historisch anschlussfähig an Dada, Surrealismus und die Situationisten interpretiert. Und Punk wurde als Teil der Popkultur erkannt, nicht als ihre Gegenbewegung. Während im Zuge der postmodernen Ästhetikrezeption, die auch eine Verflachung kritischer Sozialphilosophie darstellt, im universitären Bereich die Kulturindustrietheorie weitgehend ins Hintertreffen geriet, wird sie im halbakademischen Popdiskursbereich erneut diskutiert, und zwar nicht selten als Vorläufer von poststrukturalistischen Ansätzen. Das, was für die kritische Theorie damals noch ein großes Problem war, die Distanzlosigkeit zur Kulturindustrie, ist heute Programm: Wer nicht in der Popkultur mitmacht, darf nicht mitreden. Zum Hauptproblem wird allerdings, längerfristig subkulturell innerhalb der Popkultur einen politischen Anspruch zu verankern, der einerseits unmittelbar mit den kulturindustriellen Produkten selbst zu tun hat, andererseits sich aber auf den äußeren ökonomischen Rahmen schon längst verpflichtet hat. Wenn in einschlägigen Magazinen Monat für Monat bestimmte Tonträger als Meilensteine der Popgeschichte deklariert werden, um im nächsten Monat schon vergessen zu sein, ist es jedenfalls sehr merkwürdig. Obwohl werkästhetische Deutungen abgelehnt werden, wird weiterhin – vor allem im Bereich der Tanzmusik – selbst der Musik Ewigkeitswert bescheinigt, die bisweilen nicht einmal Musik zu sein beansprucht; diese Aufwertungsstrategie funktioniert bloß informativ, solange der eigentliche Inhalt solcher Urteile nicht sachlich ist. Schwierig ist es, in einem solchen Rezeptionsklima den Gehalt der Kulturindustriethese wiederzuerkennen: Wo einmal die Theorie zur Ästhetik gemodelt wurde, von der man gleichzeitig theoretisch nicht soviel wissen möchte, gerät die Kritik der Warenlogik, nach der Kultur heute funktioniert, in den Hintergrund – und reproduziert damit selbst ein Moment des Fetischismus, die Verhältnisse als naturgegeben anzuerkennen. Kulturindustriekritik verkürzt sich auf das unmittelbare Erlebnis, sie kehrt als Dancefloorversion wieder, als Remix einer neuen Innnerlichkeit, die sich ohnmächtig der Gesellschaft gegenüber sieht. Nötig wäre es, gegenüber der Kultur insgesamt eine offensive Position zurückzugewinnen. Andererseits macht es kaum Sinn, der Krise der Gesellschaft kulturell auszuweichen. So emotional man sich auch immer einzelner Popmusik verbunden fühlen mag, sie bleibt selbst Ausdruck der Krise bürgerlicher Musik, der Krise der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Deswegen ist die Frage verfehlt, am Technischen etwa festgemacht, wo Fortschritt in der Popmusik ist; vielmehr hat eine kritische Theorie der Popmusik die regressiven Tendenzen freizulegen, samt ihren Spannungen. Das ist dann auch eine neue Sachlichkeit der Kulturkritik, ebenso wie der Subkulturkritik.

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Jour Fixe; Auszüge eines fingierten Kneipengesprächs A: Interessant ist doch die Tendenz, dass – nachdem erkannt wurde, dass es zum Mainstream in der Popkultur kein Außen gibt – eine Art Hypermainstream verteidigt wird, eine Überaffirmation, basierend auf stereotype Minimalismen und Effekten oder auf Koketterie mit ›popistischen‹ Glamour. Das scheint mir die immanente Kritik zu sein, die Adorno doch forderte. B: Damit verbindet sich für mich die Frage nach dem ästhetischen Gehalt der Werke, was ja sozusagen Adornos Erkenntnisinteresse war, weshalb er eben immanent in der Kritik vorging. In der Popmusik müsste ebenso der Maßstab anzulegen sein, welche ästhetischen oder sozialen Probleme bestehen – und wie die dann musikalisch umgesetzt oder gar gelöst werden. Nur kann heute – das ist das Resultat der bürgerlichen Musikformensprache – nicht mehr auf eine gewisse Materialimmanenz im Pop zurückgegriffen werden. Fast willkürlich, da vom heutigen Standpunkt der geschichtlichen Logik enthoben, scheint mir im nachhinein doch Adornos Annahme, die freie Atonalität bilde sowohl utopische Freiheit der Menschen durch die Gleichberechtigung aller zwölf Töne ab, wie sie auch durch Dissonanzen und Brechung der Hörgewohnheiten im tonalen Feld die gegebenen sozialen Dissonanzen freilegt. Adorno hat dies Problem selbst später an der Beurteilungsfrage von Boulez, Cage oder Ligeti gesehen. – Ich sage nur, dass es ein Desiderat ist, nicht über die entsprechenden begrifflichen Werkzeuge zu verfügen, um die Popmusik anders als entweder emotional-subjektivistisch oder nach Maßgabe der kulturindustriellen Produktinformationen selbst zu beurteilen. C: Dass ist Kulturpessimismus, Musikerpolizei, bestenfalls Rockismus. Wo bleibt die konstruktive Kritik? Du sagst, wie es nicht geht, dass es nicht geht und was schlecht ist. Gleichzeitig verweist du auf die Objektivität im Pop ebenso wie du dich in einem Pluralismus der Formen bewegst. B: Konstruktive Kritik ist von der kritischen Theorie nicht zu erwarten: sie wäre affirmativ, vor allem dann, wenn keine politische ausreichend starke Kraft besteht, die selbst das konstruktive Ziel repräsentiert. Das heißt: Solange die Linke, also die Poplinke vor allem auch, nicht in der Lage ist, angeben zu können, warum sie sich – außer aus privatistischen Gründen des Hedonismus – mit Pop beschäftigt und die Musik selbst als ziellos wie intentionslos behandelt wird, käme es erst einmal darauf an, Musik in ihrer politischen Funktion neu zu bestimmen. Und das meint durchaus einen Formenreichtum – und Objektivität. Gerade in der Musik – man denke an die mathematische Formenstrenge und dergleichen – ist das Objektive stets historisch zu denken. A: Das ist doch abstrakter Popakademismus! Pop wird doch konkret als Medium der Befreiung praktiziert, gelebt.

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B: Ja, in der Immanenz der Unmittelbarkeit. Wo ist denn die Utopie einer freien Gesellschaft im Pop, die sich nicht blind mit der eigenen kleinen Nische identifiziert? Zwar ist von der Poplinken viel von Subversion, Widerständigem, Überaffirmation und dergleichen zu lesen, doch fehlen die Kategorien, die für den Kunstbegriff der kritischen Theorie so wichtig sind: Glück, Utopie, Freiheit und so weiter. A: Das muss ich doch nicht theoretisch ausweisen, wenn ich es praktiziere! Du gehst doch auch zum Tanzen und stehst auf den maschinenmäßigen Minimalismus: Pft pft pft … B: Ich geh auch Brot kaufen und lass es mir schmecken; dadurch wird der Kapitalismus aber nicht besser. Was soll die politische Überhöhung von körperlichen Bewegungen als subversiv? Andererseits geht es in der Kritik doch um den Betrug, um den ideologischen Schein von Unterhaltung und Spaß, oder sogar Rebellion. D: Auch das läuft auf einen defensiven Kompromiss hinaus. Ich würde da weiter gehen. Für mich sind die Produkte der Kulturindustrie nicht einfach nur schlecht, aber dennoch konsumierbar, sondern eben regelrecht regressiv. B: Warum sollten sie regressiver sein als die Gesellschaft eh schon ist, als das alltägliche Mitmachen, zu dem wir alle gezwungen sind. Außerdem löst sich eine musikalische Komposition und selbst ein krudes Arrangement immer in mehreren Schichten auf. Adorno hat in seiner Beurteilung von Strawinsky gezeigt, dass musikalischer (formaler) Fortschritt sich mit inhaltlichem Rückschritt decken kann, zum Beispiel im »Frühlingserwachen«. Wir verfügen einfach nicht über das Werkzeug, soetwas ähnliches, gerade auch in seiner Vielfalt mit Sicherheit über Popmusik sagen zu können. A: Aber Adorno stimme ich jedenfalls in seinem Satz nicht zu, dass man »detailliert herausfinden müsse, warum leichte Musik ausnahmslos schlecht« – und das meinte für ihn dann auch regressiv – ist. B: Ich könnte zum Beispiel einige Sachen von Yes nennen, ›Close to the Edge‹ oder ›The Gates of Delirium‹, die zwar schon älter sind, die aber musikalische Lösungen zu Problemen – Naturdarstellung, Naturbeherrschung, religiöse Gefühle etc. – geboten haben, die begründbar sind; unabhängig von den mitunter bloß surrealen und verklärenden Texten. D: Reaktionäre Scheiße! C: Nein, einfach schlechte Musik! A: Es ist schlechte Musik, weil sie völlig unzeitgemäß ist, dreißig Jahre zu spät! B: Aber genau dieser Maßstab bestätigt doch die Krise; tatsächlich hat sich meines Erachtens in den letzten dreißig Jahren kulturell nicht so viel getan. Dieser Stillstand der Kulturindustrie korrespondiert mit der Krise. Hanns Eis-

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ler hat von der Krise der Musik im Zusammenhang mit der Zwölftontechnik gesprochen: hochentwickeltes Material, was aber sozusagen sich schneller entwickelt als das Ohr des Publikums. Was in einer Beethoven-Sinfonie sich zuträgt, ist dem Publikum auch emotional noch zugänglich … A: Das ist keine Krise, sondern einfach langweilig. Wer interessiert sich denn heute noch für Beethoven! B: … Die Krise der Musik meint also den damit zusammenhängenden Verlust der Formensprache, was durchaus auch ins Gegenteil sich verkehren kann, nämlich zu einem bodenlosen Formenpluralismus. Wenn mir dazu ein Exkurs erlaubt sei … C: Kannst du diese ewigen Exkurse und das Verweisen auf Autoritäten endlich einmal sein lassen: Adorno hat gesagt, Eisler hat gesagt, Benjamin hat gesagt … Blablabla. Sei doch mal etwas konstruktiv … A: Bleib mal locker. Ich würde dir ja Recht geben: Mir scheint es das Problem der kritischen Theorie zu sein, immer nur Sowohl-als-Auch zu sagen und alles zu verurteilen, aber sich bei positiven Äußerungen zurückzuziehen. B: Adorno kocht doch auch nur mit Wasser. Und was wollt ihr? Euren scheiß Plattenschrank legitimieren, euren kleinbildungsbürgerlichen Popgeschmack oder andere Verhältnisse? D: Ihr seid der beste Beweis, dass man um Theorie nicht herum kommt. Klar: Wenn man zufrieden ist – bitte! Dann verstehe ich aber den Vorwurf nicht, der irgendwo zwischen Lieber-keine-Theorie und Das-ist-zuviel-Theorie steht; warum rede ich überhaupt mit euch? C: Weil es hier billig Bier gibt und wir ansonsten ganz nett sind. Apropos: Geh mal welches holen! A: Ich hätte nie geglaubt, einmal in die Situation zu kommen, die Kuschel-Rock-CD zu verteidigen, aber ich höre keinen Unterschied zu »besserer« Popmusik. Wir können doch sagen, Musik regt Emotionen an und befriedigt sie – und das ist doch in Ordnung, ob es nun die Kuschel-RockCD macht oder Squarepusher oder was-auch-immer; um mehr geht es doch gar nicht. B: Ich argumentiere doch gar nicht gegen das Emotionale. Es geht doch aber um den Betrug, um den Missbrauch solcher Emotionen. Es geht um den emotionalen Schematismus, der dazu dient, die Menschen bei der Stange zu halten. Freilich kann das mit der Kuschel-Rock-CD gegenüber einem bestimmten Publikum ebenso gemacht werden wie mit der Squarepusher-CD bei einem anderen Publikum. Ich möchte die Funktion von Popmusik ja gerade über diese Instrumentalisierung der Gefühle neu bestimmen. Es kann sich doch wirklich herausstellen, dass auf der Kuschel-Rock-CD »gute« Musik ist, meinetwegen. C: Ah, Frau Küchenpsychologin macht jetzt Musiktherapie!

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B: Ich zeig dir gleich mal meine Musiktherapie! D [mit Getränken zurück]: Der kriegt eh gleich auf die Schelle, angepasster Popspießer! Hippie! C: Schlaumischlau! A: Ey, was ist das eigentlich für eine Platte, die gerade läuft? B: Klingt nach Motorpsycho, oder? C: Ne, viel post-rockiger, Pinback oder sowas? D: Ich geh mal fragen … [Kommt wieder] … Das glaubt ihr nicht: wisst ihr wer das ist? Das ist die neue ***! Aufgaben: Um welche Platte handelt es sich, die A, B, C und D in der Kneipe gehört haben? – Welche von den vier Personen liest seit zwei Jahren in einem Lektüreseminar an der Uni die ›Tausend Plateaus‹? – Weshalb ist die Ökonomiekritik in der Kulturindustrietheorie ein Desiderat? – Welche der drei Musikrichtungen hätte Adorno gerade eben noch gut gefunden: Grindcore, Bossa Nova oder P-Funk? – Wer hat in diesem Kneipengespräch am meisten Distinktionsgewinne eingestrichen?

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Popkultur, Spezialfall der Ästhetisierung der Politik.

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Schwierigkeiten einer Philosophie der Popkultur Arroganz und Ignoranz zwischen Kulturphilosophie und der Massenkultur, die keine mehr ist; noch ein Versuch einer begrifflichen Annäherung Zwischen Theorie und Praxis der Kultur macht sich eine Differenz bemerkbar, die im allgemeinen Widerspruch von Kultur und Gesellschaft fundiert ist: die Dialektik der Krise der bestehenden Ordnung, die einmal die Welt in einem ungeheuren Reichtum und Fortschritt erscheinen lässt, dann aber dieselbe Welt im Zustand regungsloser Starre, im Stillstand. Die kulturelle Praxis der modernen, kapitalistischen Gesellschaft hat in den letzten einhundertfünfzig Jahren Änderungen erfahren, die – je genauer sie untersucht werden – im nächsten Moment schon als Stagnationen erscheinen, als Strukturphänomene, denen gewissermaßen wie in einer sozialen Unschärferelation entweder Wellen- oder Teilcheneigenschaften zugeordnet werden können. Heute kann sich niemand mehr der Massenkultur entziehen; die Massenmedien und die durch sie verbreiteten Produkte, Informationen, Nachrichten etc. sind mittlerweile so umfassend verbreitet, dass auch die kritische Forschung kaum noch Distanz zur Massenkultur bewahren kann; solche Distanz wäre aber dialektisch zu gewinnen. Wer nur das untersucht, was im Horizont der eigenen popkulturellen Alltagspraxis liegt, geht so leer und blind vorbei, wie derjenige, der sich als Forscher an Phänomenen heranwagt, die ihm in seinem kulturellen Alltag fremd, nichtssagend, verborgen bleiben. Der kalter Entzug des analytischen Blicks bleibt dem Material gegenüber so spröde wie der fröhliche Positivismus der Poptheorie. Die Kritik neuerer Kultur richtet sich wesentlich auf die Kritik der alten Gesellschaftsstruktur. Die Massenkultur steht heute für eine kulturelle Totalität und nicht mehr für den Gegenpol, den bloßen niedrigen und niederen Abhub der wahrhaft kultivierten Hochkultur; die Hierarchisierungen der einstigen ideologischen Deutungsmuster haben sich in einem vielschichtigen Feld von Bedeutungsüberlagerungen, aber auch Sinnbeliebigkeiten verflüchtigt. Jede Beschäftigung mit Kultur ist heute selbst schon Teil der Kultur. Die relative Entfernung des akademisch-universitären Interesses an der neuen Kultur ist nicht mehr zu haben. Bedeutete die kulturtheoretische Beschäftigung mit der Alltagskultur um die Jahrhundertwende

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zumeist noch ein Annäherungsversuch an eine kulturelle Sphäre, die von den eigenen hoch kulturellen Alltagsmustern, vor allem auch von den eigenen Bildungswerten, getrennt war, so hat sich dieser Komplex von gebildeter Kultur und kultureller Bildung mittlerweile in der Popkultur aufgelöst. Dies tangiert den Begriff von Kultur selbst und lässt so manchen gegenwärtigen kulturtheoretischen Ansatz, der im Vertrauen auf einen obsoleten kulturellen Wertekanon Massenkultur noch immer mit dem Gestus des Gebildeten ignoriert, ebenso grotesk und kurios erscheinen wie der Jargon der anderen, die es sich mit popjournalistischen Phrasen immer schon in der Kultur eingerichtet haben wollen. Hinzu kommt, dass Begriffe wie Massenkultur, Alltagskultur, populäre Kultur und dergleichen inzwischen selbst fraglich geworden sind; gerade die Totalität einer globalen Kulturindustrie erlaubt es, Konsumenteninteressen in vollständig inkompatiblen Gruppen zu organisieren, die in ihrer Erscheinungsweise nicht mehr als »Masse« beschreibbar sind. Gerade wenn es um die Analyse besonderer und konkreter alltagskultureller Phänomene geht, erweist sich die Rede von der Massenkultur als wenig plausibel. Allein nach Verkaufszahlen lässt sich ein Massenphänomen nicht mehr bestimmen. Selbst wenn heute Millionen an popkulturellen Ereignissen teilnehmen, bleiben von den Massenveranstaltungen fast keine Spuren zurück (jedenfalls nicht im kulturellen Gedächtnis). Längst haben Festivals die Größe von zum Beispiel Woodstock übertroffen; angeblich wichtige Schallplatten sind einmal Bestseller gewesen, heute kennt man nicht einmal mehr die Bands. Die meisten Bands, die gelegentlich die Chance haben in den Charts aufzutreten, bleiben, selbst wenn sie es auf die besseren Plätze schaffen, Nebensache in den Bilanzen der Kulturindustrie. Und fraglich ist, ob selbst von Millionenerfolgen, die einigen wenigen Produktionen vorbehalten bleiben, Rückschlüsse auf Massenstrukturen und Massenpublikum möglich sind: Die hysterische Masse verschwindet in der Belanglosigkeit wie zuvor das Individuum in der Masse – die Loveparade ist lediglich ökonomisch von Bedeutung, kulturell höchstens Gradmesser der Trostlosigkeit der Popkultur. Die größten Umsätze bleiben der Volksmusik vorbehalten. Aber ist Konsum überhaupt ein verlässlicher Indikator? Es wird immer mehr Musik gehört, obwohl immer weniger Tonträger verkauft werden. Auch betriebswirtschaftlich ist die Kulturindustrie längst in der Krise. Es handelt sich also um eine Massenkultur, die keine Massenkultur mehr ist; es geht um allgemeine Massenphänomene, die in ihrer Besonderheit jedoch keine Massencharakteristik mehr besitzen. Im Rückblick auf die letzten einhundertfünfzig Jahre lässt sich vielleicht die Massenkultur als doppelter Dissoziationsprozess darstellen, wobei die Masse in derselben Weise in Singularitäten und Randzonen sich verflüchtigt, wie gleichzeitig die Kultur sich in

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der ökonomischen Verwertungssphäre als Ware universalisiert. Adorno und Horkheimer haben sich schon in den vierziger Jahren gegen den Begriff der Massenkultur aus anderen Gründen entschieden: Sie versuchten, ihn deshalb zu vermeiden, weil er suggeriere, dass es sich um eine Kultur der Massen handelt, letztlich um eine quantitativ und technologisch erweiterte demokratisierte Kunst. Genau dies sei jedoch das leere Versprechen der Massenkultur, ihre Ideologie, die letztendlich die Massen verhöhnen würde: So fern sie den Massen stehe, so fern stehe sie schließlich auch der Kultur. Mit dem Begriff der Kulturindustrie sollte beschrieben werden, wie im Zuge der Durchkapitalisierung aller sozialen und menschlichen Verhältnisse auch die Kultur zur bloßen Ware wird. »Die Ausbreitung der Kulturindustrie ist ein negativ gewendeter Indikator für das Gemeinsame der Kulturen, von dem im Hinblick auf die humanisierende Intention von Kultur als ganzer die Rede war. Kulturindustrie ist für die kritische Theorie die Fratze der Idee einer universalen Menschheitskultur, also die verhöhnende Karikatur des Programms der Aufklärung, die sie aber selbst mit hervorgebracht hat«, wie Gerhard Schweppenhäuser schreibt.1 Schließlich wird Massenkultur dem ähnlich, was Adorno und Horkheimer schon als Ende der Kulturindustrie ahnten: Sie geht in Reklame über. Gerade die Universalisierung der Warenlogik, die alle Kultur rückstandslos verwertet, erlaubt es, die Konsumenten nicht länger in uniformen Massen zusammenzuschweißen. Die Menschen werden mit Spielweisen pseudo-individueller Bedürfnisse dafür belohnt, dass sie genügend Abstraktionsvermögen aufbringen, um sich vollständig als Warensubjekte zu affirmieren, wonach sie in Lohnarbeit und Geld höchste Befriedigung finden. Politische Meinungen, Wohnungseinrichtungen, Urlaubsziele, Lieblingsspeisen, Sternzeichen, Modestile, sexuelle Vorlieben, Lieblingsserien im Fernsehen und so weiter bilden heute das Ensemble individueller Verhältnisse, die aus jedem Menschen eine besondere gesellschaftliche Erscheinung machen.

Es ist nicht alles Pop, was glänzt. Ambivalenzen des Popdiskurses »Es ist nicht mehr klar, ob wir eine Kritik an der Sprache der Konsumgesellschaft hören, ob wir die Sprache der Konsumgesellschaft konsumieren, oder ob wir die Sprache der Kritik als Sprache der Konsumgesellschaft konsumieren.« Umberto Eco

Die Verunsicherung über die – nicht nur wissenschaftliche – Brauchbarkeit von Begriffen wie Alltags- oder Massenkultur drückt sich in einem neuen Schlagwort aus, das allmählich seine Spezifik verloren hat und nun zur relativ diffusen und allgemeinen Bezeichnung für verschiedene kulturelle, soziale und ästhetische Komplexe geworden ist: Popkultur, oder kurz ›Pop‹. Statt die

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Kultur in Hochkultur und Massenkultur zu unterscheiden, wird nunmehr Pop in Mainstream und Subkultur geschieden. Statt Homogenität der Massenkultur steht die Popkultur unter dem Vorzeichen der Heterogenität. ›Pop‹ ist dabei als Wort schon freundlicher, die ökonomische Verwertung der Kultur ist in den meisten Fällen zwar nicht begriffen, aber akzeptiert, weil man glaubt, innerhalb der Heterogenität der Popkultur genügend Nischen zu finden, in denen – wie es heißt – »Subversion« und »Dissidenz« ihren Ort haben können. Die Popsubkulturen werden so in den Kontext der alten künstlerischen Avantgarden der Hochkultur gebracht. In den letzten dreißig Jahren haben sich Strategien der Selbstreflexion der Massenkultur etablieren können. Bemerkenswert ist das Theorieverständnis und der Jargon, der hier gesprochen wird, weil sich offenbar ein neues Deutungsmuster von Kultur und Bildung durchzusetzen beginnt, welches vom universitären, hochkulturellen und humanistisch-bürgerlichen Ideal sich absetzt, hinterrücks allerdings den elitaristischen Kulturkonservatismus wieder aufnimmt. Zunächst ist die Theoriefeindlichkeit auffällig. »Kultur« wird mehr als »Gemeinschaft« denn als »Gesellschaft« verstanden; während die kritische Theorie Kulturkritik nur in Rückbezug auf Gesellschaftsanalyse für sinnvoll erachtete, gilt hier das Primat der Kultur – als je eigenes soziales Umfeld –, dem die Reflexion auf soziale Großstrukturen nachgeordnet ist. Eine Kulturalisierung, die ihre Affinität zum Vitalismus sowenig leugnet wie die Sympathie für den Kommunitarismus in der spätmodernen Fassung der Biografisierung. Auch insofern dient der Popdiskurs vorrangig der Selbstlegitimation; sein Hauptaugenmerk scheint darin zu liegen, der Popkultur beständig Phänomene zuzuordnen – alles kann Pop sein (als sei damit für die Gesellschaft und ihre Beschreibung schon etwas Positives gewonnen); und gleichzeitig sind die geschätzten Phänomene dem Pop so fern. Während die einen von WaltDisney-Freizeitparks, Bon Jovi und Boy-Groups sprechen, meinen andere Atari Teenage Riot, Sleater-Kinney oder The Crass. Im Popbegriff selbst fallen zwei koexistente, fast schon symbiotisch verschmolzene Bedeutungsvarianten von Pop zusammen. Die gegenwärtige kapitalistische Gesellschaft wird durch Pop sowohl infrage gestellt wie auch bestätigt. Dialektisch: Pop ist Teil des Problems, als dessen Lösung er sich anbietet. Für die Poptheorie gilt aber, dass das, was gemeinhin als Pop akzeptiert ist, im engeren Diskurs gar nicht vorkommt (Die Toten Hosen, Rammstein, Bon Jovi, Phil Collins), mithin das Subversive der Popkultur lediglich in der Beharrlichkeit gründet, mit der es behauptet wird. Das vermeintlich Subversive bleibt ohnehin in der Regel immer der nachträgliche Diskurs, der sich allein kraft der Stärke seiner Legitimationsstrategie (Sprecherposition, Performanz, Theorieschick und Beleidigungen) zu behaupten vermag.

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So vage wie die politischen Maßstäbe sind, so unklar bleiben auch die Kriterien ästhetischer Beurteilung. Hier kommt es immer wieder zu merkwürdigen Ereignissen, die sowohl von der meinungsprägenden Macht des Popdiskurses wie gleichzeitig von seiner Beliebigkeit und Belanglosigkeit Zeugnis ablegen. Beispielsweise wurde 1997 Mouse on Mars’ ›Autoditacker‹ »einhellig und ohne jegliche Absprache unter den Blättern in mehr als fünfzig Magazinen des Landes zur Platte des Jahres 1997 erklärt … Und dies, obwohl ›Autoditacker‹ nichts anderes als nett, freundlich, besinnlich, zart, ja vor Behaglichkeit triefend ist.«2 – Dass diese Musik allerdings ganz unfreiwillig zum Soundtrack der spätbürgerlichen Krisen-Behaglichkeit wurde, kann von einer Poptheorie, die um die Gesellschaft denselben Bogen macht wie um die Krisentheorie, nur ignoriert werden, um sich ganz auf das Geschmacksurteil zu verlassen. (Im Popdiskurs wird so getan, als könne aus dem Geschmacksurteil eine politische Kritik der Musik abgeleitet werden; das ist Unsinn. Vielmehr müsste aus der politischen Kritik sich ein Geschmacksurteil begründen lassen. Dass Mouse on Mars »gute Musik« machen, ist von ihrer strukturellen ideologischen Funktion nur vermittelt zu erfassen. Deswegen heißt ja auch eine Platte von ihnen ›Idiology‹) Neben der Legitimationsfunktion kommt dem Popdiskurs die Aufgabe zu, für das Konsumverhalten eine politische Kasuistik und Verhaltensregeln aufzustellen, die den Konsum (und damit den positiven Bezug zur Warengesellschaft) als eine gesellschaftlich relevante und bewusst steuerbare Handlung vorführen. Dies geschieht durch den Ausdruckszusammenhang im Zwischenfeld des Warentauschs und der Kulturwerte, etwa vermittels der Mode. Die Kriterien sind geschmäcklerisch und leicht steht jemand im Verdacht des Unzeitgemäßen und Konservativen, wenn eine Mode nicht mitgemacht oder die falsche, etwa »veraltete« Musik gehört wird. Auf diese Weise haben sich, mitunter quer zur Unterscheidung von Mainstream und Subkultur, auch im Popdiskurs Kriterien etabliert, nach denen »guter Pop« vom Schund abgegrenzt werden kann. Während in der alten Dichotomie von hoher und niederer Kultur die Massenkultur tendenziell als Schund oder bloßes Entertainment galt, auch wenn gelegentlich ihre demokratische Verfügbarkeit gepriesen wurde, reglementiert der Popdiskurs seine Bewertungen über das Diktum der Geschmacksautonomie. (Gewissermaßen lautet das aufklärerische Leitmotiv der Popkultur: »Ausgang aus der selbstverschuldeten Geschmacklosigkeit.«3) Die Popkultur hat ihren eigenen, von den klassischen kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Modellen weitgehend unabhängigen Diskurs in den neunziger Jahren entfaltet; dieser Diskurs verfügt nicht nur über eine eigene Sprache, sondern mittlerweile sogar über eine geschichtliche Logik. Auch wenn das theoretische Fundament dieses Popdiskurses, trotz gelegentlicher Anleihen bei poststrukturalen und postmodernen Philosophien, die Arbeit an

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den Begriffen ausspart: Wichtig ist an diesem »popistischen« Theorie-PraxisVerhältnis, inwiefern sich spezifische kulturelle Bildungswerte ausdifferenziert haben, die der Popkultur insgesamt eine diskursive Stärke und eine relative soziale Bedeutung verleihen, so dass sie nicht mehr in das klassische Muster von hoher und niederer Kultur passt beziehungsweise mit Mehrdeutigkeiten operiert, wonach dasselbe Popphänomen zugleich als banaler Schund wie auch elaborierte, avancierte Kunst gelten kann, und auch inhaltlich wie formal entsprechend allegorische Façetten zeigt – und dies ist nicht einfach nur eine Vieldeutigkeit der möglichen Interpretation, sondern bereits Vieldeutbarkeit im Material. Bei aller begrifflichen Unschärfe steht man also vor der Frage, ob die Popkultur bloße Unterhaltungskultur ist (vielleicht sogar die Unterhaltungskultur oder nur ein spielerischer Umgang mit der Unterhaltung), oder ob Pop eine neue Form der Hochkultur darstellt. – Bemerkenswert ist im Übrigen, dass dem Pop überhaupt diese legitimationsproblematische Reichweite zugesprochen wird; in der bürgerlichen Kulturgeschichte gab es das nicht einmal für die Romantik, höchstens für den Neoklassizismus und gelegentlich für den (Post-)Modernismus. Daran hängt freilich die Frage, ob Pop denn überhaupt ein systematischer Epochenbegriff ist (gibt es Pop auch als überzeitliches Phänomen?). Benjamin hat solchen Effekt für die Kunst der Jahrhundertwende diagnostiziert, bezeichnenderweise für die Literatur. Unterhaltungsliteratur habe es immer schon gegeben, also Kunst, »die keinerlei Verpflichtung der Zeit und den Ideen gegenüber, die sie bewegten, auf sich nahm als höchstens die, solche Ideen in einer angenehmen, modisch konfektionierten Form dem Konsum zuzuführen.« In der bürgerlichen Kultur hat dies durchaus seine Berechtigung. »Was aber noch nie geschah, in der bürgerlichen sowenig wie in einer anderen Gesellschaftsordnung, ist dass diese reine Konsumtions- und Genuss-Literatur identisch mit der Avantgarde, der technisch und artistisch vorgeschobensten, wurde.«4 War Massenkultur mit ihrer beständigen Abwertung konfrontiert, so drängt die Popkultur zur Aufwertung; sie repräsentiert das Bedürfnis einer neuen Elite, in der sich Besitz und Bildung warenfetischistisch verkettet haben: ihr kulturelles Kapital ist eine Ableitung ihres ökonomischen Eigentums (Generation Golf ). – Arnold Hauser hat Anfang der siebziger Jahre diesen Effekt als die Besonderheit der Popkultur festgehalten: »Die Produzenten und Konsumenten der Pop-Art stellen nichtsdestoweniger eine eigene, besonders zusammenfassbare … Bildungsschicht dar, die mit ihren künstlerischen Bedürfnissen und Wertkriterien einen mittleren, zwischen den Trägern der hohen und dem Anhang der volkstümlichen Kunst befindlichen Rang einnimmt.«5 In dieser Haltung einer neuen Bildungsschicht, die das Erbe der Jugendlichkeit weiterträgt, regt sich nicht nur der Versuch, mit der Popkultur

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jenseits von Klassenwidersprüchen einen verbindlich-verbindenden Sinnzusammenhang herzustellen.

Zur Genese der Popkultur. Ein Exkurs »Der ganze Trick der Rockmusik besteht darin, daß sie spiegelt, was ohnehin läuft.« Pete Townshend (The Who)

In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam es zu einer Osmose zwischen etablierter Kultur und Subkultur. Während die musikalische Moderne sich zunehmend in einer Expertenkultur isolierte, wurde die populäre Musik zu einer Kunstform, die sich durch vielfältige und breite Öffentlichkeit sowie ständige Präsenz im Alltag auszeichnet. Mit dem Ausbau des Rundfunknetzes, durch das Fernsehen und durch die Filmindustrie wurde immer mehr Musik benötigt, die bestimmte Stimmungen erzeugen konnte, ohne in ihrer Struktur die Hörgewohnheiten zu verunsichern. Auch die Ausweitung des Konsums durch Kaufhäuser, Schnellrestaurants und Supermärkte führte zu einer enormen Ausbreitung einfacher musikalischer Grundmuster (in diesem Fall wie auch bei Behörden, Flughäfen, Fahrstühlen etc. zur Hintergrundbeschallung und Berieselung), die nicht durch harmonische Abweichungen Wiedererkennungswert erlangten, sondern durch eine Vielfalt an Klängen – »Sounds« –, in denen die simplen Akkordfolgen immer wieder ertönen. Der Vorstoß der populären Musik in den Alltag gelang aber vor allem vermittels neuer Techniken: Wichtig sind hier die Einführung der Langspielplatte Anfang der fünfziger Jahre, die Audiokassette Ende der sechziger Jahre, die Verbesserung der Studio- und Aufnahmetechnik sowie die Entwicklung der Musikelektronik, die zum Beispiel die Beschallung großer Konzerthallen ermöglichte. Hier gab es auch Unterschiede zur Jazzmusik, die als Massenkultur nur rassistisch getrübt erschien: Schallplatten, auf denen Afroamerikaner abgebildet waren, verkauften sich schlechter, Radiostationen verweigerten, Jazzmusik zu spielen, die Instrumentierung war selbst für die europäische Tradition populärer Musik ungewöhnlich. Und vor allem war der Jazz eine abgegrenzte Kultur bestimmter Clubs, sehr großstädtisch, und er muss in seiner Leichtigkeit perfekter Beherrschung der Instrumente geradezu als Zynismus empfunden worden sein. Der Pop- und Rockmusik der sechziger und siebziger Jahre gelang es dann, den Gestus des gebildeten Musikers zu nutzen. In verschiedener Weise wurde versucht, auf Attitüden der bürgerlichen Kunstmusik zurückzugreifen. Rockmusik wurde in Form von Rockopern oder sinfonischen Werken geschrieben (The Who: ›Tommy‹, Yes: ›Tales from Topographic Oceans‹); Rockmusik arrangierte und adaptierte klassische Werke (The Nice; Emerson, Lake & Palmer), stellte die Musik in den Kontext solcher Werke (um zum

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Beispiel Konzerte zu eröffnen: Yes, Rolling Stones, Deep Purple) oder berief sich auf den Einfluss der ernsten Musik (Beatles und Stockhausen; Frank Zappa und Strawinsky oder Xenakis). Der Starkult und seine äußeren Formen – lange Haare, weite Gewänder – hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert und kehrte dann im Art-Rock (Rick Wakeman im silbernen Umgang inmitten seiner Keyboards) oder Glamrock (David Bowie, Roxy Music) wieder; das Virtuosentum mancher Rockmusiker ist durchaus einem Paganini oder Liszt vergleichbar (Jimi Hendrix, Led Zeppelin; Liszt ist in ›Liszt-o-Mania‹ sogar Thema eines Rockmusicals). Manche Tonträger wurden als programmmusikalische und konzeptuelle Werke angelegt (Pink Floyd: ›The Dark Side of The Moon‹, Genesis: ›The Lamb Lies Down on Broadway‹; The Who: ›Quadrophenia‹) oder als Mischformen von Band- und Orchestermusik arrangiert (Jon Lord: ›Concerto for Group and Orchestra‹, ›Gemini Suite‹, ›Windows‹, Rick Wakeman: ›Journey to The Centre of The Earth‹ und neuerdings: ›The Return to The Centre of The Earth‹). Von dieser vermittelten Popularisierung einiger Muster bürgerlicher Kunstmusik profitierte auch die bürgerliche Kunstmusik. Sie konnte nicht nur mit Vereinfachungen Erfolge erzielen (Gorecki, Orff-Euphorie, aber auch: Mahler-Renaissance), sondern fand ebenso in der Massenkultur – etwa als Filmmusik – Verwendung (Ligeti und Strauss in ›2001: A Space Odyssey‹, Beethovens 9. Sinfonie in ›A Clockwork Orange‹, das Adagio aus Mahlers 5. Sinfonie in ›Tod in Venedig‹, Ravels ›Bolero‹ in ›Zen – Die Traumfrau‹). Manche klassischen Musiker konnten wiederum Rockattitüden aufgreifen und damit berühmt werden (Nigel Kennedy, Vanessa-Mae, Apocalyptica). Die Öffentlichkeit der Rock- und Popmusik ist, sowohl im Gegensatz zum Jazz und zur Kunstmusik als auch im Gegensatz zu früheren Formen der populären Musik (Musical, Rock’n’Roll, obwohl – wie auch beim Jazz – Übergänge dann fließend sind) dadurch geprägt, dass ein und dasselbe Musikstück auf sehr unterschiedliche Weise rezipiert werden kann und geradezu allegorische Bedeutungsoffenheiten aufweist, die es ermöglichen, dass Menschen unterschiedlichster Klassen und mit unterschiedlicher Bildung, sowie mit unterschiedlichsten Interessen die Musik rezipieren können. Diese Entwicklung der populären Musik hatte Einfluss auf andere Künste: Andy Warhol kommt hier eine fast paradigmatische Rolle zu, denn er entwarf nicht nur Schallplattencover (Rolling Stones: ›Sticky Fingers‹), sondern realisierte mit der Band Velvet Underground eine konzeptuelle Künstlerästhetik. Die Musik von Velvet Underground konnte als Tanzmusik konsumiert werden, als Drogenmusik abgelehnt oder befürwortet werden, als Kunstereignis diskutiert werden, als klangliches Arrangement analysiert oder kontemplativ genossen werden und so weiter. Ähnliche Bezüge zwischen bildender Kunst und Musik gibt es auch heute noch, etwa bei Mike Kelley und

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Sonic Youth oder der Gruppe Laibach und der Neuen Slowenischen Kunst. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass die neuere Popmusik strukturell für bildende Künstler sehr attraktiv ist, weil sie viele Möglichkeiten zwischen Konzept- und Gebrauchskunst bietet, vom Plattencover über die Bühnenshow, von der Corporate Identity einer Band bis zur grafischen und typografischen Gestaltung der Popmagazine. Vermutlich kann auf diese Verbindung und Bezugnahme von bildender Kunst und populärer Musik zurückgeführt werden, dass sich im Verlauf der Siebziger und Achtziger, doch endgültig erst in den Neunzigern eine theoretische Reflexion auf die Popkultur entfaltet hat, die eher ästhetisch, wenn nicht ästhetizistisch ausgerichtet ist. Sie orientiert sich am Authentischen, das sie nicht selten durch einen Positivismus zu überwinden versucht, weniger durch begriffliche Reflexion und praktische Konkretion am Material. Auch deshalb dominiert vermutlich der Bezug auf die somatischen Elemente der Popkultur, auf Formen körperlicher Rituale und Praktiken wie Schmuck, Tanzen oder körperliche Gewalt. Nicht selten schlägt Poptheorie paradox in Theoriefeindlichkeit um, bis hin zu anti-intellektuellen Ressentiments. Das Interesse an Phänomenen der Popkultur bleibt weitgehend kulturell beziehungsweise kulturalistisch begründet und entspricht dem Wunsch nach einer Ästhetisierung als Aufwertung des eigenen Lebens.

Kritische Theorie der Popkultur Eine kritische Theorie der Popkultur hat sich der Frage zu stellen, warum und weshalb sich mit Popkultur beschäftigt wird. Es kann nicht darum gehen, sich in begriffslosen Grabenkämpfen zu verlieren oder geschmäcklerische Überzeugungen zu Momenten popkultureller Dissidenz und Subversion zu verklären. Zum Problem wird, ob überhaupt eine ästhetische Bewertung im Sinne von gut/schlecht oder richtig/falsch heute noch die Gegenstände angemessen zu erfassen vermag, ob sie die Kultur überhaupt berührt. So ist auch das Gegenteil des Geschmäcklerischen, nämlich das objektivistische Pauschalurteil, alle Massenkultur sei Schund und deshalb abzulehnen, Unfug. Das Problem ist eines von Widersprüchen: Einerseits lässt sich mit geschmäcklerischen Attributen, die allenthalben zu lesen sind, kaum eine Musik begreifen, die doch vor allem nach eben solchen Attributen rezipiert wird. Umgekehrt erscheint die moderne Popmusik, vom material-ästhetischen Standpunkt der europäischen Kunstmusiktradition her beurteilt, tatsächlich, bis auf wenige Ausnahmen, aus immer wiederkehrenden Stereotypen zusammengebastelt, mithin gibt es Gründe, hier von Schund zu sprechen. Dies scheint mir allerdings mitnichten ein Grund zu sein, Popmusik zu verurteilen, abzulehnen oder nicht

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zu mögen – einmal davon abgesehen, dass die Kriterien, nach denen der Pop Schund sein könnte, gleichfalls und allemal für die Reste bürgerlicher Kunstmusik gelten. Die Krise der Popkultur verweist gleichwohl auf eine Krise der bürgerlichen Kultur überhaupt. Was sie zu bieten hat, ist mitnichten ›besser‹, ›gehaltvoller‹ oder ›schöner‹. Wenn überhaupt heute noch etwas sich ereignet an Kunst oder in der Kunst, die auch nur annähernd vermag, die Gegenwart auf den Begriff zu bringen, dann ist es die der Popkultur. Eine kritische Theorie der Popkultur ist beides, eine notwendige Abstraktion wie eine fällige Konkretion. Sie abstrahiert vom Pop selbst und versucht den Gegenstand an einzelne Tendenzen sozialer Entwicklung rückzubinden: »Wir interpretieren [Kunst] als eine Art von Sprachkode für Prozesse, die in der Gesellschaft ablaufen, als einen Kode, der mit Hilfe der kritischen Analyse zu dechiffrieren ist.«6 So war es im Programm des Instituts für Sozialforschung vorgesehen. Es geht also um eine Analyse des Kitts wie um den Sprengstoff, der die Gesellschaft zusammenhält und ebenso ihre Strukturen zu durchbrechen vermag. Erst über diesen Rückbezug auf Gesellschaft erhält eine materialistische Analyse der Popkultur auch eine ästhetische Relevanz, wenn nämlich in der Kunst etwas Bedeutungsvolles für den sozialgeschichtlichen Prozess entschlüsselt werden kann, das durch andere Zeugnisse der Kultur nicht ablesbar wäre – auch für die Popkunst gilt, dass sie nicht einfach nur die menschliche Geschichte kommentierend begleitet, sondern selbst in den geschichtlichen Prozess eingreift; aber, wie gesagt: dies in Tendenzen, in Strömungen, in Segmentierungen innerhalb der sozialen Praxis. Es gibt kein Außen, nirgends; aber es gibt ein Abseits als sicheren Ort. Eine kritische Popkulturtheorie ist Konkretion, insofern sie allgemeine Erscheinungen des Pop und der Kulturindustrie sowohl am ästhetischen Material differenziert wie auch innerhalb der jeweiligen sozialen und kulturellen Felder expliziert. Die begrifflichen Widersprüche und sprachlichen Ambivalenzen der Popkultur versteht eine kritische Theorie nicht ausschließlich als bloßen Ausdruck kultureller Zerfallslogik, sondern gleichsam als Ansatzpunkt für die mögliche Begründung einer kulturellen Praxis. »Erst wenn man akzeptiert, daß die verschiedenen Niveaus komplementär betreten werden können (sollten), läßt sich ein Weg zur kulturellen Verbesserung der Massenmedien öffnen.«7 Und eine kulturelle Verbesserung der Massenmedien entbindet nicht von der Notwendigkeit einer Veränderung der bestehenden sozialen Ordnung; aber die kulturelle Verbesserung der Zustände, birgt sie auch die Gefahr der Ästhetisierung, bietet unter Umständen unterhaltsamere, tanzbarere und lustvollere Möglichkeiten, dieses Leben hier humaner zu gestalten. Man kann den Pop nicht aufheben, ohne ihn zu verwirklichen.

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Shoppen und Tanzen. Gegen den Technoremix der Cultural Studies Theoretische Mode Kulturelle Phänomene sind ein beliebtes Thema soziologischer Publikationen sowie ihres journalistischen und populärwissenschaftlichen Abklatsches. Von der theoretischen Mode der so genannten Cultural Studies profitieren Verlage ebenso wie Universitäten und Akademien. Der Begriff der Cultural Studies hat dabei neue Konturen gewonnen, gilt eher als allgemeiner Oberbegriff für die Beschäftigung mit Massen- und Alltagskultur – respektive populärer Kultur; auch innerhalb der Birminghamer Schule der Cultural Studies (die es als Centre for Contemporary Cultural Studies nicht mehr gibt) hat sich das Verständnis über das Forschungsprogramm und -profil von Cultural Studies bis hin zu diametral entgegengesetzten Positionen ausdifferenziert.

Simulation der Kritik Die begrifflichen Veränderungen sind als Akademisierung oder Institutionalisierung der Cultural Studies beschrieben worden; vielfach wird mit der Veränderung des Forschungsgegenstands, nämlich der Kultur selbst, argumentiert: Die Wandlungsprozesse einer eher minderwertigen Massenkultur zur pluralen Popkultur eröffnen vielfältige Bedeutungsperspektiven. Doch solche Erklärungen der Forschungsmode der Cultural Studies benennen Symptome; es zeigt sich etwa, dass sich die angebliche Bedeutungsvielfalt der alltagskulturellen Phänomene in der Forschung verselbstständigt hat. Vorrangiges Interesse der gegenwärtig unter dem Etikett ›Cultural Studies‹ Auftretenden scheint es zu sein, offenbar doch eher sekundären, unscheinbaren Phänomenen der Alltagskultur möglichst originelle Bedeutungen abzugewinnen. Vermittels einer sensationsorientierten Terminologie wird das Forschungsergebnis selbst als originell präsentiert; beliebt ist ein pseudoradikales Vokabular, welches die alten Begriffe der Gesellschaftskritik revitalisiert. Wenn dann von der Widerständigkeit oder der Ermächtigung einer kulturellen Gruppe die Rede ist, geht es kaum um ein tatsächliches Engagement für diese Gruppe. Die Cultural Studies dienen in diesem Fall dazu, die Forschung gänzlich von der praktischen Kritik frei zu halten, ohne aber den kritischen Gestus preiszugeben: Kritik wird simuliert.

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Entpolitisierung Simon Frith sieht diesen Prozess als »Entpolitisierung der Cultural Studies«; im Gegensatz zur bisherigen kulturwissenschaftlichen Ablehnung der Massenkultur habe sich nun »eine neue Haltung verbreitet: ›Wenn etwas populär ist, muß es gut sein!‹.«1 Als Beispiel für diese Haltung, die Frith als Populismus kritisiert, nennt er John Fiske. Darüber hinaus – so die hier verhandelte These – bilden die Schriften Fiskes den Nährboden für eine weitere Schwundstufe des Populismus, die eine theoretische Depotenzierung unterminiert und auch politisch Gefahr läuft, – unwillentlich – zum Baustein herrschender regressiver Kulturideologie zu werden, die nicht trotz, sondern wegen des subversiven Gestus funktioniert. Neben John Fiskes ›Lesarten des Populären‹ soll dies exemplarisch an Gabriele Kleins ›Electronic Vibration‹ ausgeführt werden. Beide Bücher repräsentieren mehr als nur einen Ausschnitt vom aktuellen Popdiskurs der Cultural Studies; sie offenbaren den Stand der so genannten akademischen Debatte – und verraten einiges über die herrschenden ideologischen Muster, die sich in den Pop-Individuen durchgesetzt haben. – Es geht in beiden Publikationen um Widerstand beziehungsweise um das Herbeireden von Widerständigkeit im Alltagsleben. John Fiske sieht etwa schon im Shoppen eine Widerstandspraxis von Frauen gegenüber dem patriarchal dominierten Kapitalismus, indem sie durch ihr Konsumverhalten aus vorgeschriebenen Rollen – beispielsweise die »sparsame Hausfrau« – ausbrechen.2 Und Gabriele Klein beschönt Techno als »eine Körper-Kultur, deren Revolte auf dem Tanzparkett stattfindet. Und dieses Tanzparkett ist nicht selten der öffentliche Raum, der, untermalt mit einem mager wirkenden politischen Programm, als politischer Ort in Szene gesetzt wird. Und es ist eben diese Vereinnahmung des Demonstrationsrechts für die Freiheit der Tanzekstasen, die dem herkömmlichen Links/Rechts-Diskurs widerstrebt und den Widerwillen der diskursgeschulten und diskursverwaltenden Elterngeneration entfacht.«3 Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass beide Autoren dazu beigetragen haben, die Beschäftigung mit Popkultur als Thema in den Universitäten zu etablieren. Sicherlich repräsentieren diese beiden Arbeiten inmitten der wachsenden Publikationen zum Pop ernst zu nehmende Auseinandersetzungen mit der Popkultur. Gleichwohl vertreten Fiske und Klein – so unterschiedlich ihre Motive und Forschungshintergründe sein mögen – einen Theorietypus postradikaler Sozialwissenschaft; gemeinsam ist ihnen ein eklektizistischer Zugriff auf Theorien und vermeintliche empirische Tatsachen, die der Leserschaft in der Manier des Selbst-Erlebten, des Erfahrungsberichts präsentiert werden. Die Begriffe bleiben positivistisch den Oberflächen der Phänomene verhaftet. Bemerkenswert ist darüber hinaus die politische Emphase, die sich gleichsam postpolitisch versteht:

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Fiskes Untersuchungen über das Shoppen, über Madonna, über Fernsehshows, über Strände, und Kleins Analyse der Technokultur haben offenbar über das Forschungsinteresse hinaus das Anliegen, an den jeweiligen Segmenten der populären Kultur Momente des Aufbegehrens, des Widerständigen, des Rebellischen, Nonkonformen als Unbedingtes darzustellen.

Populäre Bedeutungen – automatisiertes Widerstandsapriori So weit wäre das im klassischen Programm der Cultural Studies begründet: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich Formen der Massen- und Alltagskultur herausgebildet, die keineswegs nur Unterdrückung bedeuten, sondern den Konsumenten, Rezipienten und Produzenten in vielen Fällen eine subversive oder widerständige Praxis ermöglichen. Populäre Kultur erlaubt nicht nur auf der symbolischen Ebene diverse Bedeutungen, sondern macht diese durch Lebensstile real-konkret umsetzbar. Die Erforschung solcher Widerstandspotenziale geschieht jedoch nicht um ihrer selbst willen: Es geht einerseits um die theoretische Erweiterung einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik; andererseits geht es um praktische Ermächtigungsstrategien sozialer Bewegungen. Bei Fiske und auch bei Klein hat sich die Suche nach dem Widerständigen automatisiert; Fiske reicht allein die Tatsache, dass ein kulturelles Phänomen populär ist, um es als widerständig zu markieren. Auch wenn Fiske und Klein sich mitunter einer gesellschaftskritischen Terminologie bedienen, geht es ihnen weder um die Erweiterung und Stärkung einer kritischen Theorie, noch um die praktische Ermächtigung der (kulturell) Unterdrückten. Mitnichten geht es um die Abschaffung der bestehenden Verhältnisse – das steht freilich im Widerspruch zu der Emphase, mit der vom Widerstand gesprochen wird. Theoretische Ungereimtheiten lassen vielmehr den Schluss zu, dass es um eine Stärkung und Bejahung der bestehenden Verhältnisse geht. Fiskes und Kleins Welten der Quizsendungen und Technoparties sind jedenfalls keine der gesellschaftlichen Widersprüche: Hier gibt es kein Elend, keine Unterdrückung, keine Ausbeutung, keinen Rassismus, keinen Sexismus – es gibt gewissermaßen nur noch Kultur. Und wer es vermag, in dieser Kultur die Widerstandspotenziale zu nutzen, hat Chancen, zum Individuum zu werden, seinen Stil zu bilden und seine Biografie (neu) zu erfinden.

Oben/Unten – der Kapitalismus als kulturelles Modell Die geradezu emphatische Suche nach Widerstandspotenzialen im Populären prägt eine weitere Übereinstimmung zwischen Fiske und Klein: ihre Abgren-

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zung zu gesellschaftskritischen, marxistischen Positionen. – Man kann der marxistischen Theorie sicherlich einen großen Interpretationsspielraum einräumen; Fiskes und Kleins Abgrenzungen zu marxistischen Theorien beruhen allerdings auf Verallgemeinerungen, Mutmaßungen und Verdrehungen. Ausgangspunkt ist sowohl bei Fiske wie bei Klein die Meinung, vom Marxismus inspirierte Gesellschaftstheorie sei grundsätzlich gegen Massenkultur – und zwar nicht aus theoretischen Erwägungen, sondern aus einem Unbehagen gegenüber dem Populären. Bei John Fiske beruht die Abgrenzung zum Marxismus auf Behauptungen, die zumindest in ›Lesarten des Populären‹ nicht diskutiert oder belegt werden. »Die Frankfurter Schule hat in ihrem Szenario überhaupt keinen Platz für widerständige oder ausweichende Praktiken.«4 Oder: »Der Marxismus ist bemerkenswert schwach in seiner Fähigkeit, mit den populären Lüsten umzugehen, und tendierte folgerichtig dazu …, diesem Thema auszuweichen.«5 Und: »Popularkultur ist die Kultur der Unterdrückten, die sich gegen ihre Unterdrückung wehren.«6 Das bezeuge bereits ihre Widerständigkeit; eine Theorie der Massenkultur – zum Beispiel die »Frankfurter Schule« – sei allein »unzureichend«: »Keines der Argumente gestattet der Popularkultur, als ein Agent der Destabilisierung oder der Neuverteilung der Gewichtung von sozialer Macht zugunsten der Entmachteten zu wirken.«7 Weil: »Was diese Argumentationen aber nicht in Betracht ziehen, ist die Politik des Alltags, die eher auf der Mikro- als auf der Makroebene stattfindet; zugleich lassen sie die Differenzen und möglichen Verbindungen zwischen inneren semiotischen und gesellschaftspolitischen Widerständen außer acht, zwischen Bedeutungen und Verhaltensweisen, zwischen Fortschrittlichkeit und Radikalität, zwischen ausweichenden und offensiven Taktiken. Das sind die Fragen und Beziehungen, die für die Politik der Popularkultur zentral sind, und Theorien, die nicht in der Lage sind, diese Fragen anzusprechen, können uns keine adäquaten Einsichten verschaffen.«8 – Fiske operiert hier mit einem Bild der »Theorie der Massenkultur«, der »Frankfurter Schule« und des Marxismus, das wenig überzeugt und eher seine Unkenntnis verrät: Dass im Namen der Frankfurter Schule bereits Jürgen Habermas in den sechziger Jahren ähnlich gegen Adorno und Horkheimer die Subversionspotenziale der Alltagskultur stark machen wollte, weiß Fiske offenbar nicht. Er behauptet, referiert nicht einmal die vermeintlichen Positionen. Das Dialektische der materialistischen Kulturauffassung, die Dialektik von Regression und Emanzipation, die Autoren wie Adorno, Benjamin oder Marcuse deutlich hervorgehoben haben, scheint Fiske unbekannt zu sein. Ebenso Marcuses Auseinandersetzung mit der Rolle der Kultur und Kunst in der Revolte. Zum anderen bleibt Fiskes Drängen auf eine genaue Beobachtung und Analyse der Mikroebene, der

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semiotischen Strategien und des Widerständigen ein Versprechen; seine Theorie stützt sich hier auf zirkuläre Behauptungen. Wesentlich detaillierter setzt sich Gabriele Klein mit den Positionen marxistischer und gesellschaftskritischer Kulturtheorie auseinander, auch wenn sie aus ähnlichen, wenn nicht denselben Gründen wie Fiske diese ablehnt: Popkulturen, vor allem die von ihr untersuchte Technokultur, seien »ästhetische« oder »Körper-Kulturen«. In der Körperbezogenheit der Popkulturen läge auch das neue Politikverständnis, die Widerständigkeit. Der linke Popdiskurs, der noch nach alten Begriffen die Subversionspotenziale des Pop bewerte, gewönne nur ein undifferenziertes Bild der Technokultur: »Phänomene, die sich in diesen Kontext [i.e. linker Pop-Diskurs] nicht so recht einfügen lassen, werden dabei schnell der Gegenseite zugerechnet.«9 Während Fiske den Rahmen theoretischer Mutmaßungen nicht verlässt, findet sich bei Klein eine eingehende und vergleichende Diskussion von Kracauer, Adorno, Benjamin bis zur ›Testcard‹. Wo Fiske sich mit der bloßen Behauptung zufrieden gibt, riskiert Klein den Selbstwiderspruch: Sie referiert einmal die auch ihrer Meinung nach begründeten Argumente einer kritischen Theorie der Kulturindustrie, um schließlich mit einer affirmativen und naiven Poptheorie zu überraschen – die sie selbst zuvor in ihrem Buch widerlegte. Keineswegs resultiert daraus eine dialektische Theorie. Auch Klein supponiert, kritische Theorie wäre der Massenkultur gegenüber grundsätzlich feindlich gesonnen – mit Ausnahme Walter Benjamins; soweit der kultursoziologische Allgemeinplatz. Nun sind theoretische Differenzen in Hinblick auf die Beurteilung der Massenkultur zwischen Adorno und Benjamin nicht von der Hand zu weisen; ihre Bedeutung für eine kritische Theorie wird jedoch verzerrt, wenn Klein den Kontrahenten empiristisch Bescheid gegeben will: Die Tanz- und Körperkultur Techno zeige, dass Adorno mit seiner Diagnose unrecht habe, während Benjamin früh erkannt habe, »daß Massenkultur zur Demokratisierung beiträgt«.10 – »Techno hat die Musikproduktion demokratisiert – der Effekt, den Benjamin einst für die Massenmedien hervorgehoben hat, weil sie die Partizipation von immer mehr Menschen am öffentlichen Leben ermöglichen, ist Wirklichkeit geworden.«11 So verkürzt es ist, der marxistischen Kulturtheorie, Adorno oder der »Frankfurter Schule« eine grundsätzliche Ablehnung der Massenkultur oder der populären Kultur zu unterstellen, so falsch ist die – im Übrigen sich hartnäckig haltende – Ansicht, Benjamin habe einer Demokratisierung der Massenkultur das Wort geredet. Schon der empirische Befund Kleins ist äußerst fraglich; ihn im Namen Benjamins zu formulieren, ist eine schematische Depotenzierung der kritischen Theorie. Die Auseinandersetzungen zwischen Adorno und Benjamin aus den dreißiger Jahren auf die Frage einer Demokratisierungsmöglichkeit durch Massenkultur zu nivellieren, verrät sozialdemo-

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kratische Intentionen, die von Politik nichts wissen wollen. Klein glaubt sich radikal, indem sie keck auf Radikalität verzichtet: »In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Popkultur Techno jenseits des bewährten Rechts/Links- und Oben/Unten-Modells als eine Kultur vorzustellen, der es gelingt, etwas zu verbinden, was bislang nicht so recht zusammenzugehören schien: Technologie und Ästhetik, Computerisierung und Körperlichkeit, Professionalisierung und Spaß, Zukunftsweisendes und Leben im Hier und Jetzt.«12 – Der theoretische Legitimationsdiskurs der neuen Mitte. Solche Pseudoradikalität entspricht eben den ideologischen Mustern, die von Adorno und Horkheimer als Verblendung, von Marcuse als Eindimensionalität und repressive Toleranz analysiert wurden, die Klein so leichtfertig als unbrauchbar zu verwerfen glaubt – das verwundert umso mehr, als dass Klein noch bei Leo Kofler studiert hat, bei dem nun eine marxistische Debatte um den Begriff des Ideologischen ganz zentral ist.13

Politik der Symbole und die Semiotik des Banalen Fiske und Klein operieren mit einem ähnlichen Begriff der Kultur, der sich in die Bedeutungsschichten des »Symbolischen« (Klein) oder im »semiotischen Widerstand« (Fiske) verflüchtigt; soziale Verhältnisse, vor allem ökonomische, werden zunehmend ausgeblendet. Das Politische wird banalisiert und bagatellisiert: Politik – als kulturelle Subversionsstrategie – wird zum kulturimmanenten Spiel um Bedeutungen. Die neue Politik des Körpers, des Tanzens, des Shoppens ist die ästhetisierte Variante einer Politik, die sich von jeder Ideologie frei glaubt, obwohl sie nur noch Ideologie ist: reine Politik. In diesem Sinne spricht Frith von »Entpolitisierung der Cultural Studies«. Obwohl Fiske und Klein sich zum Teil vehement von einer kritischen Theorie der Massenkultur abgrenzen, geht es ihnen selbst auch um eine kritische Analyse des Populären. Diese Position hat Fiske in ›Politik. Die Linke und der Populismus‹ verdeutlicht: »Mein Interesse ist dem der Theoretiker der Massenkultur genau entgegengesetzt: Ich konzentriere mich auf jene Augenblicke, wo die Hegemonie versagt, wo die Ideologie schwächer ist als der Widerstand, wo soziale Kontrolle auf Entdisziplinierung trifft. Diese Augenblicke des Vergnügens und der Politik gehören zu den eigentlich wichtigen Elementen der Populärkultur, denn hier artikulieren sich die Interessen der Leute. Weil die Populärkultur immer ein progressives Potential besitzt, ist es theoretisch und politisch wichtig, die historischen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen dieses Potential realisiert werden kann, zu bestimmen … Es ist ein Fehler, von der Populärkultur Radikalität zu erwarten (und sie dann für den Mangel an derselben zu kritisieren). Radikale politische Bewe-

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gungen entstehen und operieren nicht auf der Ebene symbolischer Systeme oder Darstellungsformen … Theoretiker der Populärkultur stehen zwei Problemen gegenüber. Zum einen muß erforscht werden, ob die Formen der Populärkultur nach dem Grad ihrer Progressivität bewertet und eingestuft werden können … Dann wäre es notwendig, die Beschaffenheit des Widerstands … zu durchdenken.«14 Dahinter verbirgt sich allerdings keine emanzipatorische Perspektive des kulturellen Fortschritts, sondern eine schlichte Selbstverständlichkeit. »Eines der Merkmale, das die Popularkultur in den kapitalistischen Gesellschaften von der Volkskultur unterscheiden, ist die ständige Suche nach dem Neuen und Anderen.«15 Auch Klein setzt auf die Fortschrittlichkeit der Technokultur, spricht von der innovativen Ästhetik: »Die Kritik an der Techno-Szene, sie sei eine kommerzialisierte und politisch anspruchslose Jugendkultur, verliert nur zu leicht aus den Augen, daß diese Kulturpraxis im Bereich des Ästhetischen innovativ ist. Liest man die Clubund Rave-Kultur als eine ästhetische Kultur, die den Körper ins Zentrum gerückt hat, dann kommt in ihr nicht nur ein Wandel des Begriffs des Politischen zum Ausdruck, sie erscheint auch als kulturelles Feld, in dem sich eine umfassendere Veränderung der Kommunikationsformen abzeichnet, die dem Körperlichen und Sinnenhaften eine größere Bedeutung beimißt.«16 Hier, im Bewegungsfeld des Körpers, verortet Klein auch das vermeintliche Widerstandspotenzial: »Betrachtet man Techno als eine ästhetische, das heißt auf Sinnenhaftigkeit beruhende Kulturpraxis, ließe sich vielleicht doch ein subversives und widerständiges Potential ausmachen: Überführt sie nicht mit ihren allgemeinen und nichtssagenden Parolen die Bekenntniskultur in ihrer Beliebigkeit? Leistet sie nicht Widerstand, wenn sie die verbale Sinnvermittlung aufgibt, sich dem elaborierten Kode der Elterngeneration verweigert und Sinn in andere, ästhetische Medien verschiebt? … Und zuletzt: entgeht die Techno-Szene nicht auf diese Weise dem lückenlos gewordenen Legitimationsdiskurs, der selbst für Tanz akzeptable Gründe, moralische Absichten, sittliches Verhalten und politische Bekenntnisse erwartet und einfordert?«17 – Klein schmückt mit theoretischen Versatzstücken aus, was vor aller Theorie der Technokultur bereits feststand und in jeder Werbebroschüre der Sponsoren irgendwelcher Raves nachzulesen ist: Techno sei der Sound der Befreiung, Techno mache alle Körper gleich, die Techno-Generation sei aktiver als alle vorherigen.18 Zwar teilt Klein nicht unbedingt den Inhalt dieser Phrasen und Reklameslogans, doch hegt sie Bewunderung für ihre stilbildende Kraft: »Ihr Motto ist dabei Unterwanderung durch Kommerzialisierung.«19

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Scheinradikalität Zum Spektakel der Popkultur gehört die Scheinradikalität ihres Aktionismus: Sei’s die Behauptung der künstlerischen Innovation, sei’s die gewagte Mode, sei’s der Tabubruch sexueller Normen, sei’s die Club-Culture – die Popkultur differenziert sich in der Vielfalt ihres Subversionsangebots. Während der Kapitalismus realpolitisch in seiner neoliberalen Phase jede Nischenexistenz brutal ausmerzt, vertreibt und diszipliniert, kultiviert die Popkultur den Widerstand als Partygag. Die selbstinszenatorische Subversionsrhetorik hat mittlerweile auch die Stufe theoretischer Aufbereitung der Popkultur erreicht. Auch Fiske will sich das Widerstandsapriori der Popkultur nicht ausreden lassen: »Popularkultur arbeitet in den Zwischenräumen unserer beherrschten und kontrollierten Gesellschaft. Sie ist grundsätzlich defensiv, verweigert sich der Kontrolle der sozialen Ordnung, spielt zuweilen mit ihr mit, ist aber immer bereit, eine Gelegenheit für eine Guerillaaktion zu ergreifen, für ein Spiel des taktischen Widerstands, immer wachsam für Momente der Schwäche, die sich zu ihrem eigenen Vorteil nützen kann.«20 Fiskes Schwadronieren durch die Rhetorik des Widerstands ist selbstherrlich banal; Wissenschaft, die er mit dem symphatischen Gestus des Theoriepunks betreibt, ist für ihn selbst an den Maßgaben der Popkultur geschult – sie beruht weitgehend auf bloßer Spekulation, Begriffe werden geschätzt, Analysen geraten. Der Kapitalismus, schreibt John Fiske, »scheint viel verwundbarer für Guerillaanschläge zu sein als für offene strategische Angriffe – und genau hier müssen wir nach der Politik der Popularkultur suchen.«21 Zum Konsens dieser Subversionsrhetorik gehört, Widerstand sowohl von realer Unterdrückung als auch von jeder emanzipatorischer Perspektive konkreter Utopie zu entkoppeln. So wie Flexibilität und Individualität zu Tarnbegriffen für Konkurrenz und Leistungszwang geworden sind, wird Widerstand zur kulturellen Metapher des Entertainments, des Mitmachens. Keine Popkultur ist zu konform, um in ihr nicht doch noch die Sensation der neuen Widerständigkeit zu entdecken. Um ja keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dass Widerstand unter Umständen heißen könnte, diese Umstände umzuwälzen, spricht Fiske bewusst vom semiotischen Widerstand. »Semiotischer Widerstand ist die Macht der Leute, in ihren unterschiedlichen sozialen Formationen der Unterordnung und Entmachtung, der Kolonialisierung ihres Bewusstseins durch die Kräfte der sozialen Macht zu widerstehen.«22 In dieser Vorstellung von Widerstand, mit der freilich alle möglichen Handlungen wie zum Beispiel das Shoppen als irgendwie widerständig deklariert werden können, gibt es keine Dialektik der Befreiung; auch die Emanzipation verharrt im Semiotischen, Widerstand und Unterdrückung rekurrieren nicht mehr aufeinander. Und

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doch zeigt Fiskes populistische Kulturauffassung mehr Ähnlichkeit mit dem Marxismus, als ihm lieb sein dürfte: Er wiederholt den vulgären Marxismus der Arbeiterbewegung, der den Lauf der Welt dem Klassenbewusstsein anheim stellte und dem die ehrliche Arbeit die größte Tugend war, in einer kulturalistischen-konsumistischen Fassung: Die Sphäre der Produktion ist durch die der Reproduktion ersetzt, namentlich durch den Konsum. Die männlichen, arbeitenden Proletarier sind nun die weiblichen Konsumentinnen in den Einkaufszentren (bezeichnenderweise richtet sich ihr Widerstand gegen ihre Ehemänner, von denen Fiske offenbar die Vorstellung hat, es seien jene Proleten, auf die die Arbeiterbewegung zählte). Klassenbewusstsein ist nun Konsumentenbewusstsein. Kultureller »semiotischer« Widerstand als eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit: »In unseren Gesellschaften ist die Popularkultur, egal wie oppositionell oder ausweichend, immer die Popularkultur des Kapitalismus, und wie sehr der Kapitalismus die Leute auch immer beherrschen und unterdrücken mag, bietet er ihnen doch auch wirkliche Wohltaten und Belohnungen, wie unfair auch immer verteilt.«23 Im besten Fall ist das konsumistisch gemodelter Links-Keynesianismus. »Die Leute können mit solchen Widersprüchen gut umgehen; die Popularkultur in Industriegesellschaften ist großteils aus ihnen konstruiert, denn die soziale Erfahrung der Untergeordneten ist bis ins Mark widersprüchlich – das Sozialsystem, das sie hegt und belohnt, unterdrückt sie auch; sie spielen gleichzeitig mit ihm und widerstehen ihm in einer Form konstant gelebter Ironie.«24 Fiske scheint seine Lesarten des Populären selbst als solche konstant gelebte Ironie verstanden wissen zu wollen, will man ihm nicht schlichtweg Blödheit unterstellen; mag sein Kulturbegriff streitbar sein, so ist nahezu alles, was er über ökonomische Zusammenhänge preisgibt, barer Unfug. Mit Bravour bewegt er sich in begrifflichen Abteilungen, von denen er ganz offensichtlich nichts versteht. Dazu gehört der Begriff der Ware wie überhaupt die Kritik der politischen Ökonomie von Marx. So basiert für ihn etwa Kapitalismuskritik auf ein »Zerrbild des Kapitalismus, wonach das System nicht allein unfair in seiner Verteilung der Macht und Ressourcen ist …, sondern auch völlig unmenschlich in der Ausbeutung der Schwachen (was es im allgemeinen nicht ist …)«.25

Cultural Studies als Ökonomiekritik ohne Ökonomie Schlichtweg Unsinn sind Fiskes theoretischen Behauptungen über die Warentheorie. »Die Komplexität und Subtilität der Rollen, die Waren in unserer Kultur spielen, werden allzu schnell durch die Vorstellung von einer ›Konsumgesellschaft‹ abgetan. In gewisser Weise sind alle Gesellschaften Konsumgesellschaften, denn alle Gesellschaften schätzen Güter für kulturelle Bedeutungen,

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die weit über ihren Gebrauchswert hinausgehen.«26 Bis hierhin hätte man Fiske wenigstens noch zugestehen können, eine anerkannte, wenn auch unreflektierte bürgerliche Theorie der Güterökonomie zu vertreten – mit Marxens Analyse der Warenlogik hat das nichts zu tun. Das ahnt Fiske offenbar selbst: »In diesem Kontext ist die Marxsche Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert nicht im geringsten hilfreich, da sie unterstellt, es gäbe einen Unterschied zwischen einem ›realen‹ Wert, das in Gütern enthaltene Material und die menschliche Arbeitskraft, und einen ›falschen‹ Wert, den die Gesellschaft den Waren gibt, wenn sie sie austauscht.«27 Das ist, mit Verlaub, kompletter Nonsens (es gibt bei Marx keinen »realen« und erst recht keinen »falschen« Wert; die Gesellschaft gibt der Ware keinen Wert, der Wert erzeugt sich auch nicht im Tausch etc.). Gleichwohl bleibt dies die Grundlage für Fiskes Vorstellung der ökonomischen Zusammenhänge namens Kapitalismus: »Konsumation wird so zu einer Methode der Nutzung des Warensystems, das dem Konsumenten einen gewissen Grad an Kontrolle über die Bedeutungen gestattet, die es ermöglicht. Waren sind nicht nur Objekte des ökonomischen Austausches; sie sind Gegenstände, mit denen man denkt, mit denen man spricht.«28 So kann Fiske wiederum behaupten: »Die aktive semiotische Nutzung von Waren verwischt den Unterschied zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, und die zwischen im Materiellen begründeten und sozial produzierten Waren, da alle Werte arbiträr sind. Die Werte der Waren können durch die Praktiken ihrer Nutzer verändert werden, ebenso wie jene der Sprache, denn so wie die Sprache keinen festen Referenzpunkt in einer universellen Realität haben kann, können auch die Waren keine endgültigen Werte in ihrer Materialität fixiert haben.«29 – Das ist so plausibel wie falsch; jedenfalls keine Diskussion irgendwelcher Analysen von Marx. Da Fiske keinen Begriff des Fetischcharakters kennt (bzw. keinen Begriff der Verdinglichung, der Phantasmagorie, der Entfremdung etc.), kann er sich freilich nicht vorstellen, dass ein nichtmaterieller Strukturzusammenhang, eine naturhafte Logik wie die von Wert und Ware, dennoch vom Mensch nicht einfach durchs Denken oder die Sprache oder wie die Sprache beeinflussbar ist. Der Kapitalismus und seine sozialen wie ökonomischen Verhältnisse werden als primär kulturelle Phänomene dargestellt. Nach diesem Deutungsmuster erscheinen auch in Kleins soziologischem Blick auf die populäre Kultur ökonomische Zusammenhänge – bezeichnender Weise diskutiert sie kritische Theorie als Kulturkritik, lässt die Kritik der politischen Ökonomie mit expliziten Hinweis auf Marx gänzlich außen vor. Kleins Variante einer Kritik der politischen Ökonomie ist Kulturkritik: »Geld ist in der Spaßkultur Techno ein zentrales Distinktionsmittel; es ist das Medium, das den Spaß überhaupt erst ermöglicht. Denn mit einem hippen Outfit ist es nicht getan: Ein Club-

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oder Rave-Wochenende kann durchaus 200-500 DM kosten. Geld ist aber nicht nur die Eintrittskarte in die Szene: Im Unterschied beispielsweise zum Punk ist Geld – neben Kreativität, Schönheit und Fitness – auch der Platzanweiser für die soziale Position in der Szene. Über Geld regelt sich im wesentlichen die soziale Ein- und Ausschlußpraxis, egal ob es sich um Underground oder Overground, Subkultur oder Mainstream handelt.«30 Das erbärmliche und angstmachende Maß der Verdinglichung der Konsumenten, die dem gesunden Menschenverstand bislang als letzte Einspruchsinstanz galt, wird zum Amalgam der Widerstandsphantasie, Warenfetisch, total: »In dem Maße, in dem der Körper ins Zentrum der außengeleiteten Selbstvergewisserung rückt, ist auch die Aneignung der von den Kulturindustrien angebotenen Waren zu einer für die Selbstgewissheit und die Selbstgestaltung zentralen Aufgabe geworden.«31 Das wird dann auch, wie bei Fiske, unter das Stichwort »Kreativität in der Aneignung«32 subsummiert. Da macht es auch nichts, wenn dieser naive Befund über die Rolle des Geldes – »das Medium, das den Spaß überhaupt erst ermöglicht« – der »zentralen These« von Klein diametral entgegenläuft: »Aneignung von Kultur, so meine zentrale These, ist ein ästhetischer, sinnenhafter Vorgang. Er erfolgt primär über Genuß und nicht über den Willen zur Distinktion, primär über den Leib und nicht über kognitive Prozesse, vor allem nicht auf der Basis von instrumenteller Vernunft und zweckrationalem Handeln.«33 Zugleich möchte Klein allerdings »mimetische Aneignung von Kultur« als einen »Akt der Produktion« verstanden wissen,34 als ob es Hegels Problematisierung von Herr und Knecht, von Genuss und Arbeit so wenig gegeben hätte wie schon zuvor die gesamte Debatte um den Spieltrieb, die bürgerliche Arbeits- und Kulturkritik, die von Rousseau, Schiller, Freud bis Arendt wenigstens ein Bewusstsein davon schuf, dass der Prozess der Kultur (und in dieser Weise auch die Vergesellschaftung des Menschen) ein Verhältnis von Widersprüchen darstellt, dass Befriedigung und Genuss nur durch Verdrängung und Verzicht durchsetzbar sind. Geld ist der fetischistische Ausdruck dessen, mitnichten sein Mittel. Klein bietet schließlich ein Technoremix einer relativ banalen Gesellschaftstheorie, reicht kulturalistisch nach, was in der affirmativen Ideologie der Selbstbiografie-Apologeten als ›life-politics‹ (Anthony Giddens) bezeichnet wird. »Die moderne Dienstleistungs- und Mediengesellschaft konfrontiert uns – und die Jugendlichen natürlich in noch höherem Maße als die Erwachsenen – mit einem hochkomplexen und teils in sich widersprüchlichen Geflecht von Anforderungen, die der Einzelne für eine gelingende Biografie bestehen muss.«35 Die gesellschaftlichen Zwangsmechanismen – Kontrolle, Leistung, Sublimierung, Unterdrückung, Ausbeutung – erscheinen, transformiert in das Raster des Kulturalismus, als Wahlfreiheit der Stilbildung. »Ich will so sein, wie ich bin und

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mich nicht an jemand anderem orientieren.«36 Solche Eins-zu-eins-Wiedergaben von Reklametexten sind die empirische Grundlage für den Befund der 13. Shell Jugendstudie, »angesichts der immer kürzeren Halbwertzeit für Ruhm, Publizität und Geistesideen scheinen die Zeiten stabiler Leitbilder und homogener Wertstrukturen vorbei zu sein«.37 Auch Klein kann auf solche empirischen Erhebungen zurückgreifen; sie wählt zum Beispiel diese Äußerung aus: »Ich mein’, früher, war ich ein Autonomer, hab’ mal Steine geschmissen … Also mein politisches Engagement, das hat nachgelassen. Aber jetzt zum Beispiel organisier’ ich ‘ne Party, ne’ Benefizparty für die Rote Flora.«38 Für Klein dienen solche Äußerungen als Beleg für die mögliche Nivellierung der Technobewegung, von der Roten Flora bis zur Berliner Loveparade. »Das mimetische Vermögen befähigt die einzelnen Menschen also, quasi leiblichen Widerstand gegen die mit den Kulturindustrien verbundenen Prozesse der Standardisierung und Homogenisierung zu entwickeln.«39 Am Ende steht also tatsächlich »der Triumph der Reklame in der Kulturindustrie, die zwanghafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.«40

Pleonasmus von Pop und Politik Differenziert wird, wo es keine Differenzen gibt; gleichgemacht wird, wo Unterschiede sich aufdrängen. Ob es zwischen der Roten Flora und irgendeinem Move oder Rave wenn nicht politische, so doch musikalische Differenzen gibt, ignoriert Klein, um eine These über die Popkultur zu präsentieren, die plötzlich nicht einmal mehr vom Great Rock ’n’ Roll Swindle etwas wissen möchte: »Lust am Sinnenrausch als Ethik dieser Gemeinschaft.«41 Das klingt nach einer trefflichen Illustration der Diagnose Adornos und Horkheimers: »Je weniger die Kulturindustrie zu versprechen hat, je weniger sie das Leben als sinnvoll erklären kann, um so leerer wird notwendig die Ideologie, die sie verbreitet.«42 Fiske möchte zum Beispiel mit seiner Untersuchung zum Shoppen ebenso wie Klein mit ihrer Studie zur Technokultur darlegen, was je schon als Argumentationsstütze vorausgesetzt ist: den Pleonasmus von Pop und Politik. »Es geht mir um das politische Potential der Populärkultur, weil ich der Auffassung bin, daß eine solche Kultur in ihrem Kern immer politisch ist.«43 Und bei Klein heißt es ähnlich: »Kultur soll hier auch nicht in einem marxistischen Sinne verstanden werden – weder als ein ökonomisches Kreislauf- oder Steuerungssystem noch als bloßes Überbau-Phänomen … Kultur bezeichnet demnach nicht nur kulturelle Felder, sondern auch kulturelle Praktiken … Kultur ist ein sozialer Prozeß … In der Verzahnung zwischen Sozialsystem und alltäglicher sozialer Praxis ist Kultur fundamental politisch.«44 Damit bestätigen Klein und Fiske das ideologische Grundmuster einer Gesellschaft von Konsumenten, die das Ganze

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so akzeptieren wie es ist. »Die ursprüngliche Affinität aber von Geschäft und Amusement zeigt sich in dessen eigenem Sinn: der Apologie der Gesellschaft. Vergnügtsein heißt Einverstandensein. Es ist möglich nur, indem es sich gegenüber dem Ganzen des gesellschaftlichen Prozesses abdichtet, dumm macht und von Anbeginn den unentrinnbaren Anspruch jedes Werks, selbst des nichtigsten, widersinnig preisgibt: in seiner Beschränkung das Ganze zu reflektieren. Vergnügen heißt allemal: nicht daran denken müssen, das Leiden vergessen, noch wo es gezeigt wird. Ohnmacht liegt ihm zugrunde.«45 Fiske und Klein opponieren gegen die gerne deklarierte Genussunfähigkeit Adornos, indem sie den berüchtigten Satz »Vergnügtsein heißt Einverstandensein« als Sinnspruch populistisch verkehren: Vergnügtsein, Einverstandensein bedeute Widerstand. Dieser Widerstand, der in letzter Instanz eben noch das Einverstandensein als Subversion ausgibt (etwa im Sinne der Camp-Strategie).46 Die Kritik an einer kritischen Theorie der Populärkultur, sie differenziere nicht ausreichend die kulturellen Phänomene, ist allerdings selber fundiert in einem Populismus der Gleichmacherei, auf dem Frith aufmerksam gemacht hat: »Die populistische Annahme lautet, daß der Wert aller populärkulturellen Güter und Dienstleistungen gleich ist (wie er es hinsichtlich ihres Tauschwertes ist), und wir das Lesen von Groschenromanen mit dem Star-Trek-Schauen, Madonnamit Heavy-Metal-Fans, die Shopper mit den Surfern gleichsetzen können, und alle ihre eigenen Widerstandsformen haben. Die ästhetischen Unterscheidungen und die in ihnen enthaltenen Bewertungen, die einen wesentlichen Bestandteil des kulturellen Konsums ausmachen, werden dabei ignoriert.«47

Theorie als Redundanz-Effekt Eine besondere Variante dieses Populismus bietet Klein mit ihrer Studie. Sie mag für sich reklamieren, durch ihre Beschränkung auf die Technokultur sehr wohl differenzierte ästhetische Argumente zu liefern. Prinzipiell vermag sie Adorno zum Beispiel in seiner musik-ästhetisch fundierten Kritik der Kulturindustrie zustimmen, wenn er etwa die Stereotypen des »Evergreens« kritisiert; ernsthaft behauptet Klein dagegen das Avantgardistische der Technomusik: Sie kenne keine »Evergreens«. »Ob Tanz, Mode oder die Gestaltung der Flyer und Locations – alle diese Bereiche prägen das kulturelle Feld Techno und sind Teil einer ästhetischen Praxis, welche die Verortung von Techno als einer rein eskapistischen Freizeitkultur verkürzt erscheinen läßt. Die Produktivität und Kreativität zeigt sich vor allem in der DJ-Musik: Die computergenerierten Tracks sind heute Avantgarde, insofern als sie sich auf keinerlei musikalische Tradition beziehen.«48 Das ist schlichtweg falsch, Unfug, der Kleins ästhetischen Argumente als begriffslose Naivität diskreditiert, die sich bereits

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anbahnt, wenn sie »verschiedene Varianten elektronischer Musik … alle – ob Ambient, Trance, TripHop, Drum’n’ Bass, House, Goa oder Gabber – unter dem Decknamen ›Techno‹« nivelliert.49 Keine Differenz zwischen Sven Väth und Kemistry & Storm, kein Unterschied zwischen Westbam und Squarepusher, keine Problematisierung des Avantgardebegriffs, keine Retrogarde, kein Minimaltechno, nicht einmal Kraftwerk, Can, Breakbeat und Raga, kein Geschlechterverhältnis in der DJ-Kultur, keine Tradition der elektronischen Musik, kein Hinweis auf provozierte und provozierende Auseinandersetzung durch Evergreen-Samples versus Kirmes-Techno, keine Entgegensetzung von Gabber-Raves mit Hooligans versus Sound-Clash und Silly-Walks, kein Unterschied zwischen Hanin Elias und Blümchen, kein »Kill the nation with a groove« versus »Friede, Freude, Eierkuchen« – Scheinbar muss Klein auf jede Differenzierung verzichten, um die Selbstverständlichkeit ihrer These von der Kultur als sozialen und leiblichen Prozess nicht preiszugeben: Der Nachfrage, die beständig auf der Hand liegt, ob das, was sie behauptet, nicht ebenso für Heavy Metal, Gothic oder Schlagermusik gelte, weicht sie in gleichsam durch die Theorie tanzender Weise mit dem Verweis auf die ästhetische Innovationskraft der elektronischen Musik aus. So wie vom Gabber bis Drum’n’Bass alles unter Techno verbucht wird, kulminieren die Begriffe zu Synonymen ihres eigenen Arguments: Körperpraxis wird nicht durch Ästhetik begründet, sondern ›ist‹ Ästhetik; Ästhetik wird nicht durch Kreativität begründet, sondern ›ist‹ Kreativität; Kreativität wird nicht als widerständige und produktive Aneignungform begründet, sondern ›ist‹ sie. Theorie wird zum Effekt einer These, in derselben Weise, wie Klein ihr Buch mit Fotografien illustriert: alles zirkuliert im Tautologischen der redundanten Repräsentations-Präsenz; Klein schreibt im letzten Absatz ihres Buches: »Wenn Kultur als sozialer und als leiblicher Prozeß beschreibbar ist, dann kann sich eine Kulturanalyse nicht auf eine Analyse von Symbolen – ihrer Konstitution, ihren Bedeutungs- und Sinngehalten – beschränken. Bedeutungszuweisungen vollziehen sich immer in Verbindung mit sozialen Kontexten.«50 Dazu zeigt das letzte Foto eine tanzende Frau mit Schmollmund; sie hat ihre Jacke geöffnet und zeigt ein knappes T-Shirt, auf dem im Pepsi-Schriftzug das Wort »sexy« zu lesen ist. Dazu die Bildunterschrift »Leibliche Präsenz: Raverin, 1996«. Vom sozialen Kontext, von sozialen Beziehungen keine Spur; statt dessen Symbolisierung des Symbolischen – »leibliche Präsenz« ohne Hinweis auf das, was präsentiert wird; Redundanz. Cultural Studies in dieser Variante vermögen nicht mehr als zu bestätigen, was ohnehin ist.

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»Alles geht kaputt … und ich lach, ha, ha, ha!« Humor in der Kulturindustrie Der Humor als Kulturschatten der Moderne »Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.« Friedrich Schiller

Die befreiende Wirkung des Lachens ist bekannt: Es gilt das Sprichwort, was daneben geht, was nicht gelingt, soll mit Humor genommen werden. Mit etwas Distanz über sich selbst lachen zu können, verweist auf ein menschliches Selbstbewusstsein, das frei ist von Arroganz und Überheblichkeit. Auch das meinte früher die Doppelbedeutung von Witz und Geist, die in der naiven Albernheit der Kulturindustrie fast ganz verschwunden ist. Humor, Lachen, Witz und vor allem Ironie markieren Grunderfahrungen bürgerlicher Subjektivität, sind das Eingedenken, dass eben diese Subjektivität in dieser Welt glatt und reibungslos nicht zu haben ist. Und das nicht erst seitdem die Postmoderne ausgerufen und in ihrem Namen der Tod des Subjekts proklamiert wurde, womit durchaus fröhlich ein Subjekt gemeint war, dass sich totgelacht haben könnte über seine eigene Selbstüberschätzung; nach der Postmoderne hat sich dies als die Fortsetzung einer Dialektik des Individuums erwiesen, die zur Moderne gehört, die das Subjekt immer schon als sterbend, zumindest aber scheiternd dachte:1 Während die bürgerliche Geschichtsschreibung die Neuzeit zwar mit dem Zweifel beginnen lässt, der sich aber im cartesianischen cogito zur widerspruchsfreien Selbstgewissheit stabilisiert, setzt die kritische Theorie vorher an und sieht die Neuzeit und ihr subjektives Ideal bereits im Ursprung vom Lachen des Misslingens gekennzeichnet; ja, es scheint fast, als sei die Behauptung der Linearität und Widerspruchsfreiheit der Individuation selbst der beste Witz der Moderne. Es sind die frühmodernen Ketzer, die zugleich die Wahrheit der Moderne ausgesprochen haben: Philosophisch machten sich Giordano Bruno oder Erasmus von Rotterdam über das Ideal des neuen Menschen lustig, das sie doch zugleich postulierten; William Shakespeare und Miguel de Cervantes stellten mit ihren Figuren eben nicht die erst viel später auftretenden, vermeintlich ich-starken Prototypen des Bürgertums vor, sondern literarische Helden der Lächerlichkeit, Don Quichotes, ironische Subjekte.2

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Zur bürgerlichen Gesellschaft gehören konstitutiv die Widersprüche, nicht nur die ökonomischen, die sich dann in der kapitalistischen Ordnung verfestigen: Der moderne Mensch ist nur als Monade der Widersprüche zu denken. Und wer diese Widersprüche verleugnet, lebt die konstitutiven Gegensätze in Zuständen der Schizophrenie oder Depression, macht sich lächerlich in der Unfähigkeit, über sich selbst lachen zu können, ist ein Idiot. Um so schlimmer und armseliger wird es, wenn äußerer, gesellschaftlicher Druck diese Widersprüche verschärft; und es kommt nicht von ungefähr, dass die Helden der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, die nämlich oft als widerspruchslose Idealtypen vorgeführt wurden, heute so lächerlich erscheinen, ohne dass sie witzig wären. Durchaus könnte das die späte Rache oder wenigstens die fröhliche Wahrheit in Hegels These vom Ende der Kunst sein: Gerade der vermeintliche Ernst der Hochkultur, diese seriöse Gewalt der bürgerlichen Selbstbehauptung des 19. Jahrhunderts, hat nun die gesellschaftliche Funktion vollends eingebüßt und ist damit so obsolet wie die Hochkultur insgesamt – nicht nur, weil sie überflüssig wurde im Sinne einer historischen Erneuerung und Weiterentwicklung, sondern weil ihr vorgeblicher Ernst so antiquiert und albern erscheint, so grotesk und absurd, und zwar gerade, weil das alltägliche Leben heute weitaus ernster und gefährlicher ist, als mit hochkulturellem Seriösitätsblick, ein moralischer Blick, jemals auch nur annähernd erahnbar gewesen wäre (zu denken ist hier an den Bildungsroman, dessen Niedergang schon Georg Lukács in seiner ›Theorie des Romans‹ verfolgte; exemplarisch sind dann Werke wie Adalbert Stifters ›Nachsommer‹, das Arno Schmidt in seiner Unwitzigkeit bloßstellte, weil etwa auf den tausend Seiten kein einziges mal gelacht wird!). Die Hochkultur, die sich im 19. Jahrhundert vor allem in Deutschland als verbindliche Nationalkultur behauptete, in deren Namen Ideal und Kanon von Bildung, Sittlichkeit und Kunst festgelegt wurden, konnte nur mit der Glaubwürdigkeit ihres Ernstes rechnen, indem sie zugleich das Lachen verbannte, oder in krude zivilisierte Formen brachte: »Sie belieben zu scherzen, Fräulein!« Fortan wird nur noch geschmunzelt, Frauen zudem mit vorgehaltener Hand vorm Mund, als könnten durch den plötzlichen Lachanfall – schon ein medizinisches Wort – Krankheiten verbreitet werden (und dass das Lachen ansteckend ist, weiß man ja längst). Das Proletariat hatte indes in dieser Zeit sowieso nichts zu lachen; auch deshalb erschien ein Bürgertum, das sich das Lachen versagte, den Unterjochten gegenüber glaubwürdiger, seriöser. Nichtsdestotrotz ist ein sowieso schon freud- und spaßloses Leben, ob Unten gezwungener Maßen, ob Oben in asketischer Selbstbehauptung, wenig erbaulich und überzeugt nicht wirklicht als Leitbild und Deutungsmuster für die humanistische oder human sich gerierende Epoche.

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Der Humor muss wieder her, und zwar mit programmatischer Sicherheit der guten Unterhaltung. Die heute vielfach zitierte und ebenso vielfach zu ihrem Ende gekommene Spaßgesellschaft hat hier, inmitten des un- wie urkomischen 19. Jahrhunderts ihren Urspung: Während sich die Hochkultur des Lachens entsagt, erwächst mit höhnischen Gelächter in ihrem Schatten die Massenkultur. Wenigstens in theoretischer Distanz wird diese neue, fast überdrehte Fröhlichkeit der industriellen Revolution beobachtet, und um diese Zeit finden sich zahlreiche Abhandlungen über Witz und Humor, von Goethe bis Freud, von Jean Paul bis Bergson, von Schopenhauer bis Nietzsche etc. Das kollektive Gelächter, dessen Spuren weit zur mittelalterlichen Festkultur zurückreichen, wird stets in Zeiten der Elends und der Entbehrungen lauter. Und seit dem 19. Jahrhundert ist es nun eine Masse. Ihre fast zynische Fröhlichkeit, die immer dann überdreht und jubelnd wird, wenn es besonders schlecht geht, erscheint beruhigend und gefährlich zugleich. Das kollektive Lachen ist kaum kontrollierbar, aber worüber gelacht wird, vermag die neue Industrie der Massenkultur wenigens vorzugeben. Und sie entdeckt in den Varietés, in den Kneipen und Music Halls auch bald das Grundprinzip der Spaßgesellschaft: Je ernster die Lage, umso dümmer muss der Witz sein, damit es lustig zugeht. – Diese Logik reüssiert im Übrigen in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts vollends, wenn in der postfaschistischen Spätrestaurationsperiode der Bundesrepublik, die von Wirtschaftskrise und sozialen Bewegungen bestimmt wird, eine neue Ära der Unterhaltungsshows anbricht und Otto Walkes, Mike Krüger, Didi Hallervorden, Helga Feddersen, Gottlieb Wendehals, Vater Abraham und die Schlümpfe, Loriot und schließlich auch Entertainer wie Rudi Carell und Hans Rosenthal den Feierabend zum Karneval erklären, während Tony Marshall, Roberto Blanco und James Last immer wieder beschwören, dass a) ein bisschen Spaß sein müsse, und b) die Party jetzt erst richtig losgehe.

»Humor ist, wenn man trotzdem lacht.« Die Erfindung der Spaßgesellschaft »Schadenfreude ist die beste Freude.« Spruch

Im 19. Jahrhundert wird in Deutschland das Regime der Arbeit errichtet; die Menschen werden darauf verpflichtet, den Großteil des Tages mit Tätigkeiten zu verbringen, die vor allem eines nicht sind: amüsant, unterhaltsam, lustig. Die Fröhlichkeit und die Gelassenheit, mit der die Menschen ihr mühsames Tagwerk verrichteten, wie es noch auf den Bildern der niederländischen Landschaftsmaler zu sehen war, das Lachen bei der Arbeit, das auf vielen spätmittelalterlichen Stichen oder in den Stundenbüchern zu erkennen ist, das Erzählen, nämlich das Spinnen bei der Arbeit – all das verstummt im Rau-

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schen der großen Industrie. Mit der kapitalistischen Arbeit verschwindet das Lachen aus der menschlichen Praxis, fast. Die protestantische Ethik setzt sich in den Fabriken durch: Arbeit heißt Schweigen; in den bürgerlichen Disziplinaranstalten, den Schulen, Hospitälern und Kasernen wird das Lachen nicht nur zum Schweigen gebracht, sondern diese Ruhe und Ordnung, die jeden Witz unterbindet, zum pädagogischen Prinzip erhoben. ›Stillarbeit‹ heißt es in der Erziehung: und selbst das Spiel der Kinder soll die schweigsame Antizipation der sie erwartenden, lebenslangen Beschäftigungstherapie sein. Doch ein schweigsamer Kapitalismus ist auf Dauer nicht aufrecht zu erhalten; längst wird die Ruhe und Ordnung in der Karikatur durchbrochen und in den Kneipen und Kellern stürmt bereits das große Gelächter los. Der beste Witz ist das moderne Leben selbst, in dem es nichts mehr zu lachen gibt: Ein subversives Lachen, das bedrohlich Spaß und Freude zurückfordert. Zugleich ist es aber auch ein affirmatives Lachen, das schnell nach dem alten Prinzip von Brot und Spiele zufrieden zu stellen ist. Das bisschen Freizeit wird zum Spektakel, und die Sinnlichkeit, die der kapitalistischen Lohnarbeit fehlt, kommt hier als Rausch der Sinne wieder. Auf den Bühnen der Varietés und Music Halls wird alles gezeigt, solange es die Massen amüsiert. Wer zuletzt lacht, lacht am besten; nur über sich selbst zu lachen ist schwer, wenn es wenig zu lachen gibt. Deshalb lenkt sich der Spaß auf die Schadenfreude, den Witz über andere: Über Frauen, Juden, Krüppel, Freaks, Nichtweiße wird sich lustig gemacht, freilich nach ökonomischer Logik, auf Kosten der Anderen. Stammtisch, Herrenwitz und Zoten mischen sich hier mit den ins Lächerliche gebrachte Surrogaten der Hochkultur. Die Entrechteten und Entstellten werden als Witzfiguren vorgeführt, die Niedrigsten dürfen für eine Nacht Stars sein, bringen schiefe Arien zum Besten oder zeigen irgendwelche nicht gelingenden Kunststückchen; statt Solidarität ernten sie Spott – und je lauter gelacht wird, umso weniger fällt auf, dass hier die Masse eigentlich über sich selbst lacht, ohne einen wirklichen Grund zum Lachen zu haben. Sie erschafft sich mit der populären Kultur eine Bühne, auf der sie sich selbst vorführt; und die sichere Distanz zwischen dem Geschehen auf der Bühne und dem Publikum, die nur im Kollektiv funktioniert, spiegelt die Unfähigkeit der Einzelnen zur Selbstdistanz. Das ist der trockene Humor, die Situationskomik eines ganzen Zeitalters, das eben bar jeder Ironie bleibt – zunächst. Der Humor des Kapitalismus ist die Schadenfreude für seine Opfer – an ihrem Unglück erfreuen sich neben den Oberen die Unterdrückten selbst, die mit ihrer Schadenfreude das Konkurrenzverhältnis bezeugen: Der Rassismus, Antisemitismus, Neid und Hass gründen nicht nur in der offenen Aggression und zynischen Sachlichkeit, sondern auch im »speziellen Humor« des Ressentiments: Das Borkumlied3, der Judenwitz, die Darstellung des »Jazznegers« als

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Clown, der Blondinenwitz und das hämische Gelächter der Skinheads, die um den erschlagenen Obdachlosen herum stehen, das hämische Gelächter der Männer, die gerade ein Mädchen vergewaltigt haben. Dieses Lachen markiert die größtmögliche Distanz zum Opfer und definiert das, was in den Zeiten der Kulturindustrie als Spaßgesellschaft proklamiert wird. Die Spaßgesellschaft hat ihren Ursprung gegen Ende des 19. Jahrhunderts – im Lachen über das Scheitern des bürgerlichen Ideals namens Hochkultur. Die Musik, die vergleichsweise spätentwickelte Kunst des bürgerlichen Zeitalters, wagt ihre ersten Späße schon mit dem Gestus des Stars, der den Konkurrenten verspottet. Schlammschlachten, die durchaus ob ihres Unterhaltungswertes inszeniert werden, die heute zwischen Madonna und Britney Spears oder Oasis und Blur ausgetragen werden (und je schon albern und lächerlich sind), gehören zum Musikleben des 19. Jahrhunderts; Beethoven gegen Rossini, Wagner gegen Brahms. Anders als im Barock, der das Lachen und das Lustige streng nach Affektenlehre darstellte, gerierte der romantische Humor oftmals eine unfreiwillige Komik. Und solchen Witz selbst nicht zu bemerken, ist die schönste Ironie, mit der die alberne Dummheit, die den Massen als Spaß serviert wird, eben zum lustigen, wenn auch »schlechten Gewissen der Hochkultur« (Adorno und Horkheimer) wird: Den Anwälten der Hochkultur entgeht noch heute, dass das, was sie an der Unterhaltungskultur, am Pop, als Schund klassifizieren, oft nur die reinste Karrikatur der vermeintlich höheren und seriöseren Kultur ist – von den schwarzen Bigbands bis zur Verleihung der Goldenen Venus wird der Hochkultur der Spiegel ihrer Lächerlichkeit vorgehalten (freilich einschließlich aller sich selbst übertreffenden und überschlagenden Dialektik, wenn nach solchem Muster eben auch Mtv zum globalen Fernseh-Bayreuth der Popkultur werden möchte). Die Schadenfreude, mit der die Massen abgespeist werden sollen, wird zum längsten Witz, der seit über einhundert Jahren über den bürgerlichen Kulturbetrieb im Umlauf ist. Dass die Hochkultur, die ernste, die auch ernst genommen werden will, bereits mit ihren frühen Allüren gar nicht ernst zu nehmen ist, sondern gerade in der Komik ihrer vermeintlichen Seriösität sich mit großem Unterhaltungswert präsentiert, wusste dann Jacques Offenbach zu nutzen. Offenbach ist eigenlich der Erfinder des musikalischen Humors; er hat die komische Oper mit erschaffen, legte den Grundstein für die Operette und bot so eine Unterhaltung, die nicht den Elitarismus einer esoterischen Kultstätte im Sinne Bayreuths brauchte, sondern auf den weltlichen Kult der Sachlichkeit der Verhältnisse vertraute. Mit der Operette steigt die Hochkultur zur Unterwelt der Unterhaltung hinab; ›Orpheus‹ heißt ihr erster Held, eben nur ein Halbgott. Die Revolution von 1848 war gescheitert, im Dezember des Jahres wurde Louis Bonaparte – ein Neffe Kaiser Napoleons I. – zum Präsidenten gewählt, 1852 ließ Bonaparte sich, durch eine Volksabstimmung legitimiert,

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zum Kaiser krönen, forcierte den ökonomischen Liberalismus und konnten durch den großen Wirtschaftsaufschwung Ende der fünfziger Jahre die Massen für sich gewinnen. »Offenbach ist mit dem Zweiten Kaiserreich unzertrennlich verknüpft. Kaum hat sich Napoleon III. zur Diktatur aufgeschwungen, so baut Offenbach das Genre der Operette aus, und die Operetten, die er zwischen den beiden Weltausstellungen von 1855 und 1867 komponiert, sind nicht allein der repräsentativste Ausdruck der kaiserlichen Ära, sondern greifen zugleich mit verwandelnder Kraft in das Regime ein. Sie spiegeln ihre Epoche und helfen zu sprengen, – zweideutige Produkte eines Künstlers, der auch durch seine Person die Phantasie der Zeitgenossen erregt.«4 – ›Orpheus aus der Unterwelt‹ wird am 21. Oktober 1858 uraufgeführt und läuft dann über Jahre hinweg Abend für Abend im ausverkauften Bouffes-Parisiens. Im Paris des Second Empire, für das Napoleon III. die Devise »Freude und Glanz« ausgab, fällt die »Blütezeit des Kapitals« (Eric Hobsbawm) mit der Entstehung der bürgerlichen Vergnügungskultur zusammen, schlägt die »Geburtsstunde der kapitalistischen Kulturindustrie«.5 Offenbach hat sich mit seinen Operetten nicht nur zum Geburtshelfer der Kulturindustrie gemacht, sondern sie vielleicht wie kein anderer antizipiert: Als Komponist beherrschte Offenbach die grandiosen Tricks und Effekte, musikalisch ebenso wie in der Ausstattung der Bühne, mit denen er sein Publikum verzauberte, und als Geschäftsmann leitete er seine Theater als profitable Unternehmen. Die auf Spaß abgestimmte Massenkultur zeigt sich hier erstmals verwertungslogisch, und damit den Kapitalismus von seiner lustigen, fröhlichen, vergnüglichen Seite. – In seinem Aufsatz ›Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts‹ notiert Walter Benjamin über die Weltausstellungen: »Die Weltausstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie erleichtert ihm das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt.«6 Wenn Benjamin hier von »Phantasmagorie« spricht, so zitiert er nicht nur das marxsche Wort aus dem Kapitel des ›Kapitals‹ über den Fetischcharakter der Ware,7 sondern ebenso einen allegorischen Begriff von Phantasmagorie, mit dem ursprünglich eine »Illusionsmaschine« des 19. Jahrhunderts bezeichnet wurde, aber auch phantastische Szenen auf der Theaterbühne.8 – Anfang Mai 1855 wird die erste Pariser Weltausstellung eröffnet; Offenbach eröffnet am 5. Juli desselben Jahres sein erstes eigenes, kleines Theater, die Bouffes-Parisiens, liebevoll von den Parisern ›Bonbonnière‹ genannt, in unmittelbarer Nähe zum großen Industriepalast der Weltausstellung und bringt mit seinen Operetten nichts anderes auf die Bühne, als phantasmagorische Inszenierungen oder inszenierte Phantasmagorien: Das Phantasmagorische ist freilich der Humor, mit dem Offenbach auf den

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Ernst der Hochkultur rekurriert, den er nun im Can-Can antreten lässt; der Spaß wird zum Kitt von Politik, Ware und Sexualität – im Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll im 20. Jahrhundert wird dies das massenkulturelle Leitmotiv.

Das lächerliche Jahrhundert – Witzbuch für Jungen »Die Absicht ist recht gut; aber wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen als zum Gähnen übergehen.« Lessing, ›Hamburgische Dramaturgie‹ (Berlin und Weimar 1975, S. 77)

Die Massenkultur hat schon ihr Publikum, jedoch noch nicht ihre wirklichen Konsumenten; es braucht noch einige Jahre bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, bis die Jugend erwacht, die für sich jede Mode des nächsten Vergnügens reklamiert. Das Rebellische der Jugend, mit dem sie seither herumprahlt, ist vor allem die Respektlosigkeit, mit der sie sich über die jeweilige Kultur der Erwachsenen lustig macht; jede Jugend versucht die ihr vorausgegangene mit Zynismus, Lustigkeit, Partystimmung zu überbieten. Reaktionär wird dies, wenn die Jugend genau darin versucht, ihren Ernst zu behaupten und sich dem Humor der Kulturindustrie nur andient. »Der Grab des Witzes ist gewiß seine gewerbliche Anfertigung, wie sie heute betrieben wird«, schreibt Kurt Tucholsky 1918 polemisch gegen die Zeitschrift, in der die juvenal-fixierte Popkultur ihren ideologischen Ursprung hat, die ›Jugend‹: »Der Hort des gut bürgerlichen deutschen Witzes ist die ›Jugend‹. Die ›Jugend‹-Witze sind vorher so genau zu berechnen wie eine Algebra-Aufgabe. Da haben wir den Witz, der gutmütig-holperig über die Dummheit eines Bäuerleins oder eines Soldaten spottet, der irgendeine Verfassung nicht kennt, der Rammel … Man sollte der alten ›Jugend‹ endlich einmal den Kindermund stopfen.«9 Abermals erfährt der Witz über die Schwachen seine Begründung, und es bleibt nicht beim Lachen der geselligen Burschenschaft, sondern es funktioniert ebenso mit Scooter und den meisten Hiphop-Cliquen: Das Lachen der kulturell Stärkeren ist ein männliches Lachen, und wahrscheinlich das sexuelle Synonym zur – angeblich – hysterischen Frau. Wenn es stimmt, dass Kultur – nach Sigmund Freud – die enorme Leistung des Realitätsprinzips darstellt, die Libido zu regulieren und die Lust zu sublimieren, dann ist das Lachen der Jugend die letzte Regression ihrer pubertären Inszenierung von Männlichkeit: Die sexuelle Freizügigkeit, die die Spaßgesellschaft der Jugend zugesteht, erstickt im Lachen sexueller Diskriminierung (Schwulenwitze, Witze über Potenz/Impotenz, über frigide Frauen; die Kopfzeile des »Männermagazins« ›Playboy‹ lautet »Alles, was Männern Spaß macht« – auf der Rückseite der in der Heftmitte ausklappbaren »Playmate des Monats« finden sich die Witze, jeweils durch eine gezeichnete Frau im Hasenkostüm getrennt).

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Es gibt keine lustigen Pornofilme;10 und gleich ob Howard Stern, Bootsy Collins oder Tutti Frutti – das Lachen männlicher Selbstbehauptung, dass die Popkultur prägt, ist in seiner Humorlosigkeit höchstens lächerlich und eigentlich »schamlos und prüde … Das ist das Geheimnis der ästhetischen Sublimierung: Erfüllung als gebrochene darzustellen. Kulturindustrie sublimiert nicht, sondern unterdrückt … Gelacht wird darüber, daß es nichts zu lachen gibt … Fun ist ein Stahlbad. Die Vergnügungsindustrie verordnet es unablässig. Lachen in ihr wird zum Instrument des Betrugs am Glück …«11 Die Witze der Kulturindustrie muss man nicht verstehen, um über sie lachen zu können; im Gegenteil, sie rechnen mit der Dummheit der Konsumenten, und je weniger Humor sie haben, umso lauter wird über sie gelacht. Das diskriminierende Gelächter erzählt dann schließlich überhaupt keine Witze mehr, sondern führt sie nur noch als Stereotypen, als Witzfiguren vor: Charlie Chaplin, ›Dick und Doof‹, der Tollpatsch, Jerry Lewis an der Seite von Dean Martin … Aber das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass eben diese Stereotypen oft genug durch ihre narrative und reflektierte Binnenstruktur gesprengt werden, was auch für Doris Day oder Marilyn Monroe gilt – bis zu Woody Allen, Leslie Nielsen, gelegentlich Harald Schmidt oder Verona Feldbusch; sie gehen im stereotypen Witz gerade deshalb nicht unmittelbar auf, weil sie bereits die Unmittelbarkeit ihre Rolle ironisch überzeichnen. Doch die Konsumenten wollen, dass die Witzigkeit der Stars echt ist; fliegt auf, dass der Witz nur ironische Distanz war und letztendlich ein Eulenspiegel gegen das Publikum, verstehen sie keinen Spaß mehr – die Konsumenten werden um die Identifikation mit ihrem Star betrogen und versuchen sich zu rächen, indem dem Star seinerseits die Identität genommen wird, schließlich die Würde, wenn Verona Feldbusch ihre Seele blank legen muss. Erst über die Inquisition der Ironiker und Abtrünnigen triumphiert die Spaßgesellschaft mit ihrem besonderen Witz: der Menschenverachtung, die von Julius Streicher bis zu den heutigen Spaßterroristen strukturell dieselbe ist, und in den Talkshows, in denen die Schwächsten sich zu Witzfiguren machen, ihre Exemplare finden. Schließlich sollen im Popzeitalter die vorgeführten Witzfiguren mehr und mehr real existierende Außenseiter sein, die wirklich gescheitert sind, die wenigstens die neueste Mode verpasst haben, wenn nicht schon die letzte, die dem kulturellen Code nicht entsprechen; Distinktionsgewinne werden mit höhnischem Gelächter quittiert …

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Ohne Worte, ohne Pointe »Korf erfindet eine Art von Witzen, die erst viele Stunden später wirken. Jeder hört sie an mit langer Weile. Doch als hätt’ ein Zunder still geglommen, wird man nachts im Bette plötzlich munter, selig lächelnd wie ein satter Säugling.« Christian Morgenstern, ›Die Galgenlieder‹ (Zürich 2000, S. 138)

SICH LUSTIG MACHEN. – Die Kulturindustrie: »Was grinst du denn so blöd? Ist irgendwas? Willst du Ärger?« Sigmund Freud: »Es ist Zeit, daß wir uns mit einigen Charakteren des Humors vertraut machen. Der Humor hat nicht nur etwas Befreiendes wie der Witz und die Komik, sondern auch etwas Großartiges und Erhabenes, welche Züge an den beiden anderen Arten des Lustgewinns aus intellektueller Tätigkeit nicht gefunden werden. Das Großartige liegt offenbar im Triumph des Narzißmus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs.«12 DAS LACHEN DER SELBSTERMÄCHTIGUNG. – Zum Humor und seiner strategischen Bedeutung für das moderne Alltagsleben, wie es von den Cultural Studies untersucht wird, gehört die Problematik der allegorischen Sinndimension, die Metaphysik des Lachens (wir finden sie bei den Surrealisten, den Lettristen und den Situationisten; wir finden sie aber auch im Klatsch und Tratsch, als Flüsterwitz und Treppenwitz). TRÄNEN LACHEN. – Die Kultivierung des Humors drückt sich auch in der Lautstärke des Lachens aus; – es ist nicht immer klar, ob jemand weint oder lacht. Wie laut ist ein guter Witz, wie laut muss Humor, muss Scherz, darf Ironie sein? Diese Frage hat in abgewandelter, nämlich auf den Schmerz bezogener Weise die Kulturwissenschaften von Lessing bis Warburg interessiert: Schreit Laokoon oder hat er nur seinen Mund geöffnet, um gerade so den Schrei tapfer zu unterdrücken? Im 20. Jahrhundert verschmelzen Schmerz und Schrei im Lachen vor lauter Angst: zum Beispiel auf Edvard Munchs ›Der Schrei‹, zum Beispiel beim Zeitungsjungen, der die Schlagzeile – etwa über einen Kriegsausbruch – als Reklame für die Zeitung ausruft; zum Beispiel das Gegenteil: Auschwitz und das Schweigen, versus Trillerpfeifen auf der Loveparade, schreiende Männer im Metal, ›Scary Movie‹ und ›Scream‹. Die lauten Affekte: Verschwinden sie oder verschieben sie sich nur? »ACH, UND WARUM HABT IHR PLÖTZLICH SO GELACHT?« – Eine Frage der Leidenschaft: »Humor ist eine willkührlich angenommene Manier. Das Will-

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kührliche ist das Pikante daran: Humor ist Resultat einer freyen Vermischung des Bedingten und Unbedingten. Durch Humor wird das eigenthümlich Bedingte allgemein interessant, und erhält objektiven Werth. Wo Fantasie und Urtheilskraft sich berühren, entsteht Witz; wo sich Vernunft und Willkühr paaren, Humor. Persifflage gehört zum Humor, ist aber um einen Grad geringer: es ist nicht mehr rein artistisch, und viel beschränkter. Was Fr. Schlegel als Ironie karakterisiert, ist meines Bedünken nach nichts anderes als die Folge, der Karakter der Besonnenheit, der, der wahrhaften Gegenwart des Geistes. Schlegels Ironie scheint mir ächter Humor zu seyn … Den stärcksten Witz hat die Leidenschaft. Ächt geselliger Witz ist ohne Knall.«13

Lachen verboten »Habe ich das Publikum recht weinen gemacht, so lache ich hernach, weil ich Geld einnehme; habe ich sie aber lachen gemacht, so muß ich selbst weinen, weil ich das Geld einbüße.« Platon, ›Ion‹ (535e)

Schon Platon wollte in seinem Idealstaat das Lachen verbieten; Lachen gäbe die Verhältnisse der Lächerlichkeit preis, es entspringe dem Dionysischen, verweigere sich der Konvention, der Ordnung und befördere die Ekstase, die Rebellion, die Revolution: »Wenn sich jemand in heftigem Lachen gehen läßt, so sucht dergleichen auch immer wieder eine heftige Umwendung.«14 Gegen den letztlich totalitären Ernst des Idealismus Platons hob Aristoteles allerdings die Bedeutung der Rührung hervor, die wir in der Kunst erfahren; sie ist Reinigung, Katharsis und führt zu einer »angenehmen Erleichterung«15. Diese Reinigung ist keineswegs bloß Vergnügen und Seelenkur; sie ist, wie Dieter Prokop bemerkt, »Befreiung« – »Rührung und Schrecken bewirken Veränderungen: Tränen fließen; man kriegt eine Gänsehaut. Beim Lachen wird das Zwerchfell geschüttelt. Durch Rührung und Schrecken, Vergnügen und Gelächter lebt man Situationen des Lebens nach und bearbeitet sie.«16 So hat das Lachen in der Komödie seine kathartische Funktion: »Die Komödie ist, wie wir sagten, Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Häßlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske häßlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz.«17 – Es ist dieselbe Lächerlichkeit, die dem totalitären Staat ein Charlie Chaplin so gefährlich erscheinen lässt; es ist die Karikatur des Schreckens, das Häßliche der ›Modernen Zeiten‹, die Lächerlichkeit des ›Großen Diktators‹. Doch ist Hitler noch lächerlich, so das, wofür er steht, nicht. Und das ist das Problem des Humors, nachdem von der Vergnügungsindustrie nur noch die Spaßkultur

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übrig bleibt, die das geschichtliche Verbrechen geflissentlich ignoriert. »Kunst, die anders als reflektiert gar nicht mehr möglich ist, muß von sich aus auf Heiterkeit verzichten. Dazu nötigt sie vor allem anderen, was jüngst geschah. Der Satz, nach Auschwitz lasse kein Gedicht mehr sich schreiben, gilt nicht blank, gewiß aber, daß danach, weil es möglich war und bis ins Unabsehbare möglich bleibt, keine heitere Kunst mehr vorgestellt werden kann.«18 – Gerade aber, weil die Sachlichkeit des Massenmordes sich den Spaß an der Terrorarbeit nicht verbieten lassen wollte und ja auch bekannt ist, dass der deutsche Alltag im Dritten Reich durchaus vergnüglich war und ›Kraft durch Freude‹ ein wesentliches Motiv nationalsozialistischer Befindlichkeit darstellte, gilt Adornos Diktum mit der paradoxen Korrektur, dass gegen die Diktatur der Spaßgesellschaft nicht nur auf Heiterkeitsverzicht zu insistieren ist, sondern gleichzeitig eine kritische Ironie und ein widerständiger Humor geübt werden müssten. Das wäre eine melancholische, eine objektive Ironie; ein Humor verzweifelter Fröhlichkeit, ein Tropikalismus des Lachens. »›Keiner darf hungern und frieren; wer’s doch tut, kommt ins Konzentrationslager‹: der Witz aus Hitlers Deutschland könnte als Maxime über allen Portalen der Kulturindustrie leuchten.«19 Der verordnete Spaß gehört zur krudesten Ideologie der Kulturindustrie wie das Lachen über sie zum schönsten Widerstand. So wie der Spaß suggerieren soll, dass alles in Ordnung sei, für alle gesorgt ist, versucht Humor wenigstens dieser Dummheit des Konformismus zu widerstehen; und Ironie durchbricht ihn. Die Konsumenten glauben sich in ihrem Lachen so schlau wie der ›Bild‹-Zeitungsleser: Natürlich müsse niemand wirklich ins Lager, sowenig wie die amüsante Geschichte mit der durch den Fleischwolf gedrehten Ehefrau tatsächlich stimme (aber irgendwas muss ja dran sein).20 – Es braucht Ironie und Humor, um die Wahrheit auszuhalten, dass der Witz eben doch ernst ist wie der brutale Mord. Aus diesem tragischen Bewusstsein, dass vermutlich alles noch viel schlimmer ist, nährt sich der widerständige Humor. In dieser Weise war gemeint, was Benjamin dem Lachen noch gutschreiben wollte: dessen Erkenntnischarakter. »Und insbesondere bietet die Erschütterung des Zwerchfells dem Gedanken gewöhnlich bessere Chancen dar als die der Seele.«21 – Doch je weniger eine Gesellschaft mit der Ich-Stärke ihrer Mitglieder rechnen kann, zu umso weniger Humor ist sie fähig; fast gar nicht kennt sie die Ironie, die Selbstdistanz. Auch für die Kultur gilt, was Marx in Ergänzung hegelscher Geschichtstheorie festhielt: Nichts wiederhole sich zweimal, wenn doch, dann das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce – wohlgemerkt: die eigentlich fällige Komödie bleibt aus. Will Humor, dass der Mensch, auch nach Marx, heiter von seiner Vergangenheit scheide, so weiß die Ironie, dass diese Vergangenheit schon längst verloren war, bevor sie überhaupt Spuren im kollektiven Gelächter der Befreiung hinterlassen konnte.

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Pop als musikalischer Witz »Übertreibend ließe sich sagen, dass alle Filmmusik prinzipiell etwas vom Witz enthalte und der schlechten Naivität verfalle, sobald sie sich ungebrochen buchstäblich als das nimmt, wofür sie sich gibt. Es ist kaum zufällig, daß in den Filmen, in denen die Idee der Technifizierung am weitesten in die Funktion der Musik hereinreicht, den Cartoons, die Musik fast allemal durch die Zwischeninstanz des Geräuscheffekts in den Witz hinüberspielt. In der Arbeit des Filmmusikprojekts hat sich ergeben, daß fast alle neuen und unkonventionellen Lösungen auf Einfällen basieren, denen das Element des Witzigen zumindest naheliegt. Das ist nicht mißzuverstehen. Weder handelt es sich darum, daß die Musik als solche witzigen Charakters sei; im Gegenteil, die ganze Ausdrucksskala steht ihr zu Gebote. Noch ist es so, als ob die Musik über den Bildvorgang sich mokierte oder notwendig Pointen dazu setzte, obwohl ein aus der Sache kommender Zug zum Pointieren unverkennbar ist. Vielmehr besteht das ›Witzige‹ im formalen Verhältnis der Musik zu ihrem Gegenstand und ihrer Funktion. Musik macht etwa um auf einen Fall des Projekts zurückzugreifen – Vorsicht nach. Im eigentlichen Sinn ist das unmöglich: Vorsicht ist ein viel zu bestimmtes menschliches Verhalten, als daß es von Musik genau, und von ähnlichen Regungen ohne Mithilfe des Begriffs scharf unterschieden, ausgedrückt werden könnte. Die Musik weiß das und übertreibt sich selbst, um die Assoziation des ihr eigentlich Versagten, eben der Vorsicht, zu erzwingen. Eben damit hört sie auf, sich in ihrer Unmittelbarkeit wörtlich zu nehmen; sie macht etwas ›zum Spaß‹, was sie ›im Ernst‹ nicht vermöchte.« Adorno und Eisler, ›Komposition für den Film‹ (GS Bd. 15, S. 140 f.)

Die Fröhlichkeit, mit der sich die Massenkultur im 19. Jahrhundert feiert, kaschiert die Misere der Gegenwart; die Spaßgesellschaft der Kulturindustrie verdrängt im Gelächter die Spuren ihrer Vergangenheit. Das Problem der Historiografie des Pop ist mehr als nur ein ästhetisches; die Massenkultur hat die Zeit aus der Geschichte genommen und sie durch Moden ersetzt. So kommt aus der Massenkultur, später dann der Popkultur der Schatten der Geschichtslosigkeit, der die Spaßgesellschaft wie ein Unwetter überzieht. Das Kontinuum der Moden, als das nunmehr Geschichte von Saison zu Saison fortschreitet, wird auch durch den Humor aufgesprengt. So sehr Adorno recht hat darin, dass nach Auschwitz der Kultur die Heiterkeit versagt ist, so sehr gehört sie zur Erinnerung an das, was war; Ironie und Humor sind zwei Methoden einer kulturellen Didaktik, die Vergangenheit zitierbar zu machen: im Klezmer und selbst noch in John Zorns ›Kristallnacht‹ wird das hörbar, was sich zuvor schon der Jazz angeeignet hat: Die Fähigkeit, sich unter lautem Gelächter und mit ironischer Brechung die verlorene Zeit anzueignen (man denke im Übrigen an das jüdische Purim).

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Jazz ist insgesamt von der Ironie bestimmt, im Zitat und der Montage des Gewesenen heimlich und schweigend eine Geschichte der Unterdrückung zu schreiben, mit dem lauten und keineswegs bescheidenen Humor, schließlich genau mit den Elementen, die stets als Schund abgestempelt wurden, sich historisch begriffen zu haben. Gegen die Hochkultur und bürgerliche Kunstmusik, für die das gängige Ullstein Musiklexikon noch eilfertig behauptet, es gäbe keine musikalische Ironie. Humor, klar: Bach kannte ihn (zum Beispiel ›Kaffeesonate‹), auch und vor allem Mozart (in den Opern und in den Sinfonien, etwa ›Jupiter‹), Beethoven (der feine Humor: ›Die Wut über den verlorenen Groschen‹), selbst Franz Schubert, Robert Schumann – die Humoreske. Ironie hat aber viel mit Popelementen in der E-Musik zu tun, mit ihrem Jazz: Offenbach wurde bereits erwähnt, aber ebenso ist Berlioz zu nennen; Prokowjeff komponiert als junger Mensch seine ›klassische Sinfonie‹ mit ironischer Leichtigkeit, Mahler seine tragischen sinfonischen Dichtungen, die gerade im Augenblick größter Not vor Ironie überquellen (so in den ›Kindertotenliedern‹ und den ›Rückertliedern‹). Dass mit Ironie eine Zeit zu gewinnen ist, haben dann nicht nur Weill (›Mahagonny‹) und Eisler erkannt, sondern vor allem Schostakowitsch (›Jazz-Suite‹). Im Jazz gibt es die ersten Schallplatten, auf denen gelacht wird (Dizzy Gillespie, Nina Simone, Herbie Hancock und dergleichen; später dann sogar – bei Emerson, Lake & Palmer). Das ist das Surreale, mithin Dadaistische, das als Subversionsstrategie in der Kulturindustrie sich eingenistet hat und gegen den schlechten Witz des Mainstreams, gegen die Unterhaltung der Spaßgesellschaft, ganz andere Stimmungen des Lachens zeigt: Das Gegenteil von E-Musik wäre nämlich nicht U-Musik, sondern I-Musik, ironische Musik. Ihr Humor lacht über die Absurdität und verfremdet den Ernst der Spaßgesellschaft, indem sie ihn übertreibt, beschleunigt, übersetzt. Die Ästhetisierung der Politik kulminiert in der Vergnügungsindustrie und ihrem Spaßterrorismus (»Kraft durch Freude«, die witzigen Showeinlagen der Popkultur, Loveparade als Mainstream und Ballermann Sechs). Die Ironie einer fröhlichen Avantgarde entlarvt durch Montage- und Verfremdungsverfahren den aufdringlichen Witz mit einem versteckten, fast verschwiegenen Humor als lächerlich: Ihre Ironie ist der Humor verpasster Möglichkeiten, die mit jedem schlechten Witz der Wirklichkeit annulliert werden. Die Spaßgesellschaft verspricht mit ihren Witzen das Glück, während die Ironie hinter der Illusion des Glücks das reale Unglück herausstellt; Humor ist das Lachen der Hoffnung auf zukünftiges Glück. Diese Utopie bleibt bilderlos, ist mal politisch, mal künstlerisch; sie hat keine Strömung, keinen Stil, keine Mode und ihre Geschichte besteht aus den Beispielen der Unterbrechung: Politische Ironie und künstlerischer Humor schreiben eine Subgeschichte der Musik, in Fragmenten: Conlon Nancarrow, Glenn Gould, Wendy Carlos, Jannis Xenakis, John Cage (der

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späte), Lydia Lunch (die frühe) haben an der Technik das Komische gezeigt; Devo, Talking Heads, B52’s, Parliament, KLF, Lassie Singers den Humor bewiesen, sich um die ästhetischen Probleme der Technik gar nicht erst zu kümmern; »and the forests will echo with laughter … Does anybody remember laughter?« – Frank Zappas Version von ›Stairway to Heaven‹, Gilberto Gils Adaption von ›No Woman, No Cry‹, Laibachs Übersetzung ›Leben heißt Leben‹ und DJ Kozes Remix von ›Tausend Tränen tief‹ sind als ironische Wendungen hörbar. Wie es mit Insterburg & Co ist, weiß ich nicht; Heinz-Rudolf Kunze: nicht komisch. Jan Delay: komisch. Und Ingo Metzmacher? Bernadette Hengst? Erobique? Fettes Brot? Parole Trixi? – Zur Ironie gehört wie zum Humor gerade im Pop die subjektive Allgemeinheit des Geschmacksurteils und die objektive Allgemeinheit der kritischen Erkenntnis …

»Stammheim-Babel. Kennst Du den schon?« Die besten Witze der Kulturindustrie »Kindermund tut Wahrheit kund.« Spruch

EIN GUTER WITZ DER KULTURINDUSTRIE. – Das jüngst in die Neue-MitteHauptstadt Berlin umgezogene Unternehmen ›Universal‹ wirbt mit grellen Plakaten, auf denen zwei Personen, Mann und Frau, als Nerds mit Pullunder und dicken Brillen vorgeführt werden. »Das ist Kate, das Bob; und das ist ihr neuer Job … Hol’ dir den besten Job im Popgeschäft …« In der Kulturindustrie, schreibt Adorno, wird »der Scherz zur grinsenden Fratze von Reklame …«22 SCHERZ BEISEITE (1). – Ich, der ich in den Siebzigern meine Kindheit erlebt habe, erinnere mich an noch sehr unbeholfene rassistische Witze: Häschenwitze (»Haddu Möhrn?«) und Ostfriesenwitze, die sich auch sprachlich auf restingiertem Niveau bewegten; der erste »echte« rassistische Witz ging so: »Kommt ein Neger in eine Bar, kommt wieder raus, hat er den Bus verpasst.« Ende der Siebziger kulminiert der deutsche Humor in den Türkenwitzen. SCHERZ BEISEITE (2). – Zur deutschen Spaßkultur der Siebziger gehört eine restaurierte Fassung des Clowns (der im Zerrbild Nazideutschlands immer beides war, Schwarzer und Jude); die ehemaligen Opfer des Terrors werden jetzt als Gastarbeiter der Kulturindustrie rehabilitiert, das Lachen über sie wird zur Entschuldigung für den Massenmord: Roberto Blanco, Tony Marshall, Bill Ramsey, Rudi Carell sind die lustigen Ausländer, deren gebrochenes Deutsch komisch ist. Vater Abraham, ebenfalls Ausländer, ist der lustige Rabbiner, Hans Rosenthal – »Und Sie sind der Meinung: ›Das war spitze!‹« – der Jude, der den Deutschen nichts übelnimmt, und selbst im Künstlernamen

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und Kostüm von Gottlieb Wendehals steckt eine komische Variation des stereotypen Juden. SCHERZ BEISEITE (3). – Die deutsche Spaßkultur der Siebziger und nachfolgender Jahrzehnte ist nicht nur durch von der Dummheit des Witzes gekennzeichnet, sondern auch von einer fast surrealen Qualität des Unsinns (»Nonstop Nonsens«): Von »Sie müssen erst den Nippel durch die Lasche ziehn …«, »Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse« bis »Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei« … Bis zu Künstlern wie Trio oder Helge Schneider könnte gezeigt werden, dass in diesen Nonsenswitzen und Humor der Sinnlosigkeit zugleich eine Wendung gegen die typisch deutsche Innerlich- wie Eigentlichkeit und Befindlichkeit steckt. Und hat diese Form der Spaßkultur nicht wenigstens den Wahrheits- und Wahrhaftigkeitsanspruch herrschender Ideologie aufgebrochen, ihre sinnlose Bedeutungsüberhöhung? DIE BOMBENSTIMMUNG DER SPASSKANONEN. – Die Kulturindustrie arbeitet nach Methoden des Volksgerichtshofs: Wer einmal Opfer des diskriminierenden Witzes wird, muss fortan beweisen, eben die Eigenschaften der Belustigung nicht zu haben. Der Sexismus des Blondinenwitzes basiert auf der unterstellten Dummheit blonder Frauen, die sich zudem in der Männerfantasie erotischer Naivität äußert; ausgerechnet gegen den Stumpfsinn des Herrenwitzes müssen die Frauen nun unablässig sich als irgendwie doch schlau bewähren (so wie zu Zeiten des Türkenwitzes der Ausländer als nicht-stinkend, fleißig etc.). – Den besten Herrenwitz erzählt übrigens Fanny Müller mit der Geschichte, wie sie in der Sauna Hausverbot bekam, weil sie zu ihrer Bekannten über einen Vorbeigehenden sagte: »Guck mal, sieht aus wie ein Penis, nur kleiner.« Was sie nicht wussten: das war der Bademeister. FLÜSTERWITZE. – Wer hat eigenlich in den fünfziger Jahren, in den sechziger Jahren, in den siebziger und achtziger Jahren über Hitler gelacht? Es gibt – gelungene und weniger gelungene – Ausnahmen, zum Beispiel Wolfgang Neuss, ›Ekel-Alfred‹, Monty Python’s Flying Circus und Albert Oehlen / Rainald Goetz … Es hat den Flüsterwitz im Dritten Reich gegeben, aber nie den guten Naziwitz (jedenfalls nicht in Deutschland; in Israel gibt es einige und in den Vereinigten Staaten … und es gibt Woody Allen). Es wurde nicht gelernt, sich über Nazideutschland lustig zu machen. Etwa darüber: Weil es eine Verunglimpfung deutscher und nationalsozialistischer Symbole darstelle, war es verboten, Bratwürste in Hakenkreuzform zu grillen.

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»Der Witz ist das Epigramm auf den Tod eines Gefühls.« Friedrich Nietzsche

JETZT IST SCHLUSS MIT SPASS! – Die Untertreibung des Humors als Widerstand gegen die übertriebene Fröhlichkeit. Edgar Allan Poe erzählt in ›The Jester‹ die Geschichte eines Krüppels, der als Narr für die vergnüglichen Feste einer feinen Gesellschaft verantwortlich ist, wobei er und seine ebenfalls entstellte Freundin je schon als lebende Witze fungieren. Sein letzter Spaß wird die Rache für das erduldete Leiden – er gibt vor, mit den Festgästen ein Spiel zu machen, indem er einige in ein großes Netz einsperrt und am Kronleuchter hochzieht. Die Hilflosen fangen unter dem Gelächter der anderen Gäste Feuer und brennend stürzen sie in die Menge: Ein Inferno bricht los. – In den Siebzigern und Achtzigern versuchte eine Spaßguerilla die Vergnügungskultur zu irritieren; vor allem gegen den Spaßterrorismus der Yuppies wendeten sich die Störungen: »Die Party machen wir!« Die Punk-Industrialband Missing Foundation benutzte als Zeichen ein stilisiertes, umgedrehtes Sektglass, dessen Sprudel durchgestrichen ist. Und Hans-A-Plast sangen: »Alles geht kaputt, alles geht in Schutt, und ich lach: Ha, ha, ha, ha, ha.«

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Versuch einer kritischen Theorie des Glücks Für Katrin und Gerd

Glück und Unglück in Entenhausen »Das Glück ist qualitativ unendlich vielfältig, das Unglück nur quantitativ.« Max Horkheimer, ›Notizen und Dämmerung‹ (Frankfurt am Main 1974, S. 46)

»Na ja, der Gustav Gans, jaja, der kann’s, doch unser Schwein ist auch nicht klein!«, singen Donald Duck und seine Neffen Tick, Trick und Track, als sie nach einem langen Abenteuer, das in Seenot endete, von einem Schiff gerettet werden. – Mit einem Freudentanz und diesen fröhlichen Worten, die Erika Fuchs den Comicfiguren in den Sprechblase legte, beschließt Carl Barks seine Geschichte ›Familie Duck auf Nordpolfahrt‹, die 1967 in den Vereinigten Staaten zuerst veröffentlicht wurde.1 Sie erzählt vom Glück und Unglück, personifiziert in Gustav Gans und Donald Duck. »Man nennt mich nicht umsonst ›das Schoßkind des Glücks‹«, sagt Gustav Gans,2 der im amerikanischen Original Gladstone Gander heißt, wohl in Anspielung auf Goethes Stein des Glücks. Er trägt blonde, lockige Haare, was nicht nur galanten Charme verrät, sondern auch eine gewisse Verwandtschaft zu den Frisuren griechischer und römischer Mamorstatuen hat; er ist die männliche Variante zur Glücksgöttin Fortuna, aber mit einem entscheidenden Unterschied: Er behält sein Glück zumeist für sich, und was ihm Glück bringt, kann für andere nur allzu leicht Unglück bedeuten. Er ist ein Egomane des Glücks, ein Narzisst, der sich in der Bequemlichkeit, mit der ihm alles zufällt, inszeniert. Gustav Gans gewinnt alle Lotterien, findet Brieftaschen, muss nie arbeiten, bekommt laufend und zufällig Geschenke. Doch nicht allein aus dem Glück bezieht er seine Überheblichkeit, sondern vor allem aus der Abwesenheit des Unglücks; das ist das entscheidende Geheimnis, welches auf die sozialen Bedingungen des ihm zuteil werdenden Schicksals verweist: Nur weil andere kein Glück haben, hat er Glück. Verlassen kann Gustav Gans sich hier vor allem auf seinen Vetter Donald Duck, den ewigen Pechvogel – Donald verliert immer, weil andere immer gewinnen. Glück und Unglück sind auf diese beiden Figuren als charismatische Eigenschaften und Wesenszüge verteilt; das macht sie zu Stereotypen eines ebenso stereotyp aufgefassten modernen Individuums, das sich mit seinen gesellschaftlichen Bedingungen abgefunden hat und Glück wie Unglück nun

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dem Schicksal, dem Sternzeichen oder dem lieben Gott überlässt. Jeder Zustand des Glücksempfindens, für den das Individuum sich selbst verantwortlich weiß, ist dem entgegen an den Warenfetisch gebunden, an den Konsum, sei’s das Schnäppchen, sei’s der lang gehegte Wunsch nach dem Traumauto, sei’s der Jahresurlaub mit Vollpension. Glück, sich glücklich fühlen, Glück haben – das gelingende Leben, das jenseits der wertlogischen Befriedigung von Bedürfnissen liegt, die Idylle und Idee von Liebe, Freude, Zufriedenheit, Spiel oder einfach nur die schöne Erfahrung – alles das, was mit den »metaphysischen Grillen« des Kapitalismus nicht gekauft werden kann, wird solcher Metaphysik selbst überlassen. Zum Fetischcharakter der Ware, als »sinnlich-übersinnliches Ding«,3 tritt der Aberglaube, die sinnlich-übersinnliche Fügung des Schicksals. Glück haben, Pech haben – das werden Eigenschaften wie Haarfarbe, Schuhgröße und, eben in der warenförmigen Gesellschaft, »Reichtum«, Besitz, Erfolg. Zugleich sind Glück, Reichtum und Erfolg die Dreieinigkeit des modernen Subjekts. Auch deshalb trifft die Glücklichen oft »Neid und Missgunst«,4 und wo den Glücklichen sowieso schon die Diskriminierung trifft, stärkt sich der Antisemit und Rassist, indem er im Glück des Fremden sein Vorurteil bestätigt findet: Wer Glück hat, macht sich schuldig. Das ist die mythische Figur des Ressentiments gegen diejenigen, die vermeintlich mehr Glück haben als man selbst, obwohl – und das ist entscheidend – man es doch selbst viel mehr verdient hätte (eine dem tüchtigen, antisemitischen Deutschen sehr vertraute Denkweise); nah liegt solchen Ressentiments das Verschwörungstheoretische.5 So vermutet Grobian Gans, der Anfang der Siebziger seinen ironischen Forschungsbericht über ›Die Ducks‹ schrieb, hinter dem Glück von Gustav Gans den CIA. Der CIA erpresse Gustav Gans, weshalb er heimlich als Agent für ihn tätig sein müsse: »Er muß vor der Öffentlichkeit etwas verbergen, was der Geheimdienst weiß. Denn Gustav Gans ist homosexuell.«6 Seine »Kavaliersrolle« sei vorgespielt, folge »nur dem Diktat des gesunden Volksempfindens«.7 Schließlich gilt sein Begehren Donald Duck: »Gustav steht unter der Spannung einer latenten homosexuellen Beziehung zu Donald.«8 So wird Gustav Gans zur einzigen Figur in diesem Psychogram, die noch eine zweite, geheime Identität besitzt; Gustav Gans »scheint Entenhausens großer Außenseiter zu sein, der sich dem Leistungsprinzip verweigert und sorglos in den Tag hineinlebt«.9 – Das macht Donald Duck allerdings auch, nur mit weniger Erfolg; während Gustav Gans sich sehr wohl um sein Glück sorgt und den ganzen Tag nach verlorenen Brieftaschen sucht, verfällt Donald eher einer defätistischen Variante einer unfreiwilligen Askese und verbringt seine Tage lieber schlafend auf dem Sofa. Der glücklosen Leserschaft bleibt Gustav Gans unsympathisch; keineswegs nur aufgrund seines Glücks. Er repräsentiert das schleimige Arschloch, das zu

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VERSUCH

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allem Überfluss ›auch noch‹ Glück hat. Der Neid, den man gegenüber Personen wie Gustav Gans empfinden mag, schlägt bei Donald Duck in Hass um. Aber auch Gustav ist neidisch auf Donald, hasst ihn gelegentlich und gibt damit die Nichtigkeit seines augenscheinlichen Glückes preis: Beide sind Konkurrenten in Sachen Liebe, buhlen um die Gunst Daisy Ducks. Dabei ist bemerkenswert, dass Gustavs Glück offenbar mitnichten für die Liebe gilt; er ist Junggeselle ebenso wie Donald, der wenigstens – trotz seiner Erfolglosigkeit – eine Art lockere Affäre mit Daisy Duck zu haben scheint. Gelingt es Gustav Gans mitunter, Daisy Duck zu beeindrucken und für sich zu gewinnen (abends mal ausgehen, mehr ist nicht drin), dann wird dies nicht als Glück dargestellt, sondern sein Glück hat ihm nur zum kleinen Rendezvous verholfen. Gustavs Glück scheint also irgendwie nicht glücklich zu machen – genauso, wie sich der ewige Pechvogel Donald schlussendlich auch von seinem Pech nicht wirklich bezwingen lässt, und oft genug als Sieger hervorgeht (wenn auch gelegentlich als eben Konformist seines Schicksals). Gustavs Daisy vorgeführtes Glück soll imponieren; das Donald vorgeführte Glück erzeugt es überhaupt erst, oder zumindest die Illusion davon. Nur indem es permanent benannt und dem Pech kontrastiert wird, ist es Glück. Es verkörpert sich meistens als Geld, finanzieller Segen. Mit Donald teilt Gustav die Eigenart, einmal gewonnenes Geld sofort zu verschwenden. Anders als etwa bei Dagobert Duck, dessen unermesslicher Reichtum ebenfalls auf Glück, nämlich auf seinem ersten, selbst verdienten »Glückstaler« basiert, ist Gustavs Glück nicht akkumulativ. Zudem: Das Glück Gustavs hat keine Substanz; es kann zwar immer mehr werden, ist aber – weil es keine Qualität hat – nie genug. Keine Figur in Barks Comics hat in diesem Sinne paradox wahrscheinlich weniger Glück als Gustav Gans, wenn zum Glück auch das sinnliche Vermögen gehört, eben dieses Glück genießen zu können; doch Gustav ist unfähig, sein angebliches Glück zu genießen – er genießt ja nicht einmal im hegelschen Sinne als Herr den Ertrag der Arbeit des Knechts, so wie Dagobert seinen Reichtum genießt; er genießt auch nicht die Faulheit, die Flucht vor der Arbeit, wie Donald; er genießt offenbar nur den Neid, den sein Glück provoziert, und hasst, wer darauf nicht neidisch wird.10 Der Konkurrenzkampf zwischen Donald und Gustav soll den Menschen in der Kulturindustrie versichern, »daß sie gar nicht anders zu sein brauchen, als sie sind, und es ihnen ebensogut gelingen könnte, ohne daß ihnen zugemutet würde, wozu sie sich unfähig wissen. Aber zugleich wird ihnen der Wink erteilt, daß die Anstrengung auch zu gar nichts helfe, weil selbst das bürgerliche Glück keinen Zusammenhang mit dem berechenbaren Effekt ihrer eigenen Arbeit mehr hat. Sie verstehen den Wink. Im Grunde erkennen alle den Zufall, durch den einer sein Glück macht, als die andere Seite der Planung.«11 Wenn

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Adorno und Horkheimer diagnostizieren, dass Glück und Unglück ihre ökonomische Bedeutung verlören, weil Zufall und Planung in eins fallen, dann sind die Geschichten von Gustav Gans und Donald Duck der Beweis dafür: Beide sind ungelernt, können Alles und Nichts, und das Glück des einen wie die Anstrengungen des anderen führt keineswegs zum ökonomischen Erfolg; und wenn doch, dann von ihren Strategien jeweils ganz unabhängig. Gustav und Donald repräsentieren zwei Formen des Glücksversprechens, zwei Weisen des ohnmächtigen Glücks. – Barks Geschichte ›Familie Duck auf Nordpolfahrt‹ beginnt mit der klassischen Situation: »Ah, grüß Gott, Vetter Donald! Ich hab’ dich ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen!« – »Kunststück! Ich bin dir absichtlich aus dem Weg gegangen, Vetter Gustav.« – »Ganz falsch! Du solltest meine Gesellschaft suchen. Dann würdest du lernen, wie man es zu etwas bringt im Leben.« – »Von dir kann ich gar nichts lernen, du alter Angeber! Außerdem gehst du mir auf den Wecker. Leb wohl!« Gustav lässt nicht locker, provoziert Donald und setzt seine ganze unangenehme Aufdringlichkeit ein. Er zwingt Donald zuzuhören, wie er sein Horoskop vorliest: »Ich bin unter einem Glücksstern geboren … Alles, was ich unternehme, muß mir glücken.« Und heute sei ein besonders günstiger Tag: »Kann sein, daß ich das große Los gewinne … Ich zeige dir, wie mein Glück sich bezahlt macht.« Gustav spricht vom »Unternehmen« und »Bezahlen«, will sein Glück als finanzielles präsentieren und sich damit Donald gegenüber als ökonomisch überlegen beweisen. So kommt es: Das Geld fällt ihm förmlich vom Himmel in die Hände. »Das ist doch nicht normal«, kommentiert Donald das Geschehen, der von Gustavs Glück fasziniert ist, wenn auch diese Faszination schnell umschlägt: »Du ödest mich an!« Doch unablässig gewinnt Gustav Gans, findet Brieftaschen und gewinnt wieder: »Der glückliche Gewinner der Glückswelle ist diesmal Gustav Gans. Der Gewinn ist steuerfrei und beträgt 200 Taler.« – Jetzt nimmt die Geschichte eine Wendung, und das eigentliche Abenteuer beginnt: »Gustav treibt mich noch zum Wahnsinn. Neben ihm kommt man sich vor wie ein Depp.« Donald will Gustav loswerden und überlegt sich eine List: Er fälscht eine Karte eines stillgelegten Uranbergwerks in der Nähe des Nordpols und lässt sie Gustav vor die Füße fallen, als spiele dessen Glück ihm die zu. Während dessen hat Gustav »noch zwei Brieftaschen gefunden und noch mal in der Lotterie gewonnen! Herz, was begehrst du mehr? Jetzt zu Donald und berichten! Er wird platzen vor Neid.« Er findet die Karte, will sie aber vor Donald geheim halten, »sonst will er was abhaben« (das ist bemerkenswert: Donald wollte von den bisherigen Gewinnen auch nichts abhaben). So reist Gustav Richtung Nordpol, auf der Suche nach den nicht existierenden Uranvorkommen, und Donald ist – ›glücklich‹: »Soll er doch versuchen, auf den Eisbergen Brieftaschen zu finden!« Doch die Ruhe vor Gustav währt nicht

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lang: Donald fängt an, sich Sorgen um Gustav zu machen: »Eisberge und Eisbären! Ob Eisbären Menschen fressen? … Wir müssen Onkel Gustav einholen, bevor ihm etwas Schreckliches zustößt.« Schnell sind die Koffer gepackt, denn Donald glaubt eben nicht, dass Gustavs Glück ihn wirklich in der Eiswüste überleben lässt; Brieftaschen machen nicht satt. Tatsächlich ist Gustav in der Klemme: »Uff, wenn ich je in meinem Leben Glück nötig gehabt hab’, dann jetzt!« Doch das Glück verlässt ihn nicht. Donald, mit den Neffen Tick, Trick und Track unterwegs, holt Gustav ein. Sie sind schließlich an der Stelle, an der vermeintlich die Uranvorkommen sein sollen. Statt dessen finden sich alle auf einem Eisberg wieder. Gustav gelingt es, mit dem einzigen Boot – auch durch sein Glück – den Eisberg zu verlassen. Dabei entdeckt er, dass hier doch ein Schatz zu finden ist: im Eisberg ist ein Wikingerschiff eingefroren. Der Berg zerbricht, das Schiff kommt frei, Donald und die Neffen finden sich an Deck des mittelalterlichen Holzbootes wieder. Schilde und Waffen sind aus Gold, und im Rumpf lagern – natürlich tiefgekühlt – Schweinekoteletts, Zwieback und Käse. Während dessen hat Gustav Gans Hilfe geholt, die in erster Linie darin besteht, sich als rechtmäßigen Besitzer des Goldschatzes vorzustellen: »Gemäß § 32, römisch zwei des Seenotgesetzes bin ich Eigentümer des Schiffes und seiner gesamten Ladung.« – »Ach, ich bin und bleibe ein Unglücksrabe! Warum? Warum?« – »Warum? Weil du eine Karte gefälscht hast!«, weiß Gustav seinen Vetter zu belehren. Gustav nimmt das Gold, lässt Donald und die Kinder zurück auf dem »altomodischen, verfaulten Kahn«. Während Gustav wohl längst wieder in Entenhausen weilt und sein Goldglück genießt, geraten Donald, Trick, Tick und Track in einen Sturm, erleiden Schiffbruch – und finden in den Trümmern des Schiffes »eine alte Wikingerkarte von Nordamerika. Viele hundert Jahre früher gezeichnet, ehe Kolumbus Amerika entdeckt hat!«, wissen die Neffen.12 Und noch mehr: »Diese Karte ist eins der wertvollsten historischen Dokumente auf der ganzen Welt … Viel, viel kostbarer als der Goldschatz, den Gustav mitgenommen hat.«

Hans im Glück – Alle Sorgen los sein »Fortuna vitrea est, tum, quum splendet, frangitur.« Publilius Syrus (Das Glück ist wie Glas, denn, nachdem es geglänzt hat, zerspringt es.) »Das Glück ist mit die Doofen.« Sinnspruch

Zum Schluss der Geschichte scheint sich das Blatt gewendet zu haben: Donald hat Glück; angesichts dessen, dass er aus einer schwierigen Notlage samt der Neffen gerettet wurde, ist es sogar ein Glück, das mehr ist als das langweile Zufallsglück Gustavs. Auch der Neid ist verflogen. Zwar erscheint das späte

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Glück als Happy End, doch weiß man bereits, welches Pech Donald Duck in seinem nächsten Abenteuer widerfahren wird. So bleibt auch dieses Glück ein Versprechen (wie oft hat Donald auch schon mitten in seinen Geschichten Glück gehabt, das er auf schmerzvolle Weise im nächsten Moment schon wieder verlor). Gerade weil Donald in seinem ewigen Scheitern aber sympathisch bleibt, kann er auch auf die Sympathie der Leserinnen und Leser zählen; er ist der »fall guy« und als solcher »Abbild und Identifikationsgestalt für die erwachsenen Leser. Diese stereotype Funktion erklärt Donalds Beliebtheit bei den Lesern im fortgeschrittenem Alter … Wer über Donald lacht, wer ihn bemitleidet, sich zu ihm hingezogen fühlt, meint immer nur sich selbst.«13 – Adorno und Horkheimer gehen in der ›Dialektik der Aufklärung‹ noch weiter: »Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen.«14 Strittig, ob hier die unmittelbare Wirkung des Zeichentricks nicht überschätzt wird und die Ambivalenzen, die sich gerade in den Bildergeschichten von Barks und seinen Figuren finden, nicht unterschätzt werden. Warum soll ausgerechnet das Lebenspech Donalds auf das real erfahrene Unglück geradewegs einstimmen, aber zum Beispiel das Scheitern eines Josef K. in Franz Kafkas ›Schloss‹-Roman nicht? Adorno und Horkheimer haben wenig Gespür für das, was Umberto Eco das »offene Kunstwerk« nennt: für die Allegorien der Massenkultur.15 Ohne die kritische Diagnose der strukturellen Dynamik der Kulturindustrie schmälern zu wollen, vermögen Adorno und Horkheimer nicht das Surreale der Duck-Comics zu erkennen, die nun alles andere als dazu einladen, sich unmittelbar mit den Figuren zu identifizieren.16 Surreal ist zum Beispiel, wie Donald in der Geschichte ›Familie Duck auf Nordpolfahrt‹ plötzlich moralische Gewissensbisse bekommt; surreal ist, wieso die Neffen mit auf die Reise gehen, die ja – da es ja eine Rettungsaktion aus einer vermeintlichen Notlage ist – beileibe nicht ungefährlich ist; surreal ist, mit welcher Selbstverständlichkeit aber angenommen wird, dass Gustav Gans, der ewige Glückliche, überhaupt in Schwierigkeiten kommen könnte, surreal ist der Verlauf der Reise, surreal ist auch das Glück Gustavs (er fängt an einer Stelle mit einem Hufeisenmagneten einen Walfisch, der an Land springt) … Die Sympathie, die Donald zuteil wird, beruht keineswegs nur auf dem Mitleid für den ›fall guy‹, der man selbst ist, sondern vor allem in der Distanz zu den listreichen, aber immer absurden und ironischen Verstrickungen, zum Lustigen und Lächerlichen der Geschichten. Adorno und Horkheimer entwerfen in ihrem ersten Exkurs in der ›Dialektik der Aufklärung‹ den Odysseus als prototypischen Bürger, der kraft Vernunft und List den Mythos bezwingt. Was Odysseus als symbolischen Vorgriff auf das Subjekt der bürgerlichen Hochkultur darstellt, ist Donald als allegorischer Rückgriff des Subjekts spätkapitalistischer Massenkultur – der

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Mythos, den er mit seiner bescheidenen und nicht immer durch Klugheit glänzenden List zu bewältigen hat, ist nicht die Gewalt göttlicher Ordnung, sondern die Gewalt alltäglicher Normalität. Jedes Abenteuer gerät zur Flucht, zur Odyssee – Reiseziel: Nordpol, bloß »weit weg«. Adorno und Horkheimer schreiben von dem »Glück ›an den Rändern der Welt‹«,17 das auch Odysseus zur Fahrt bewegt haben mag. Am Nordpol stoßen die Ducks auf vergangene Kulturzeugnisse, auf das Wikingerschiff, für sie Urgeschichte: »Gleichgültig, welche Fülle der Qual den Menschen in ihr widerfuhr, sie vermögen doch kein Glück zu denken, das nicht vom Bilde jener Urgeschichte zehrte: ›Also steurten wir fürder hinweg, schwermütigen Herzens‹.«18 – Es heißt dies, wie Barks Episode zeigt, dass Donalds bescheidenem Glück Wahrheit zukommt, die Gustavs ewigem Glück fehlt. In anderen Sprache wird sein zufälliges Glück (zum Beispiel engl. ›luck‹, franz. ›fortune‹, port. ›sorte‹) vom Glück des gelingenden Lebens unterschieden (zum Beispiel engl. ›happiness‹, franz. ›béatitude‹, port. ›felicidade‹); zwar geht es für beide um das Glück der günstigen Umstände, doch Gustav ist der, dem das Glück zufällt – er ist ein Glückspilz, wie man im 18. Jahrhundert, als das Wort aufkam, den Emporkömmling, den Parvenü bezeichnete. Bei Gustav ist es »die Absenz des Bewußtseins von Unglück«, repräsentiert durch Donald. »Glück aber enthält Wahrheit in sich. Es ist wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen Leid.«19 Dieses Leid, ebenso wie dann auch das Glück, scheint gegen die klassische philosophische Diskussion ums Glück quer zu stehen. Die europäische Philosophie stellt seit der Antike die Frage, welche Weise des Lebens die glücklichere ist: die des aktiven Lebens (vita activa) oder die des betrachtenden, kontemplativen Lebens (vita contemplativa). Der Widerspruch dazwischen, der überhaupt die lebendige Prozessualität der menschlichen Praxis zeitigt, ist in dieser Unterscheidung eliminiert, ausgelöscht wie das mögliche Glück der Versöhnung dieses Widerspruchs. Das wirkliche (i. e. wirkende als das mögliche)20 Glück gilt als unwirklich, irreal; die Unterscheidung ist reale Differenz, manifestes Leiden; im Kapitalismus heißen die Sphären dann Arbeit und Genuss, Schuften in der Fabrik und Ruhe des Feierabends, Realität der bürgerlichen Gesellschaft und kulturelles Idealreich. Dass zwischen aktivem und kontemplativem Leben die Grenzen fließend werden, gilt dann spätestens seit Neuer Mitte, Neuem Markt und New Economy, wo einerseits Tätigkeit zunehmend zur Pseudoaktivität wird, zur Beschäftigung, wo andererseits Genuss, das Kontemplative, die Ruhezone verlässt, die Langsamkeit der Muße sich in rotierende Geschäftigkeit verwandelt, selbst Scheinpraxis wird. (»Pseudo-Aktivität ist generell der Versuch, inmitten einer durch und durch vermittelten und verhärteten Gesellschaft sich Enklaven der Unmittelbarkeit zu retten«, heißt es bei Adorno.21 – Dem entspricht das Motto »Do it yours-

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elf!« ebenso wie das Sprichwort »Jeder ist seines Glückes Schmied«; dem entspricht auch die Ideologie der nazideutschen Lager, wie sie der Torspruch des KZ Buchenwald propagiert: »Jedem das Seine«.) War Glück früher wenigstens noch beigebogen als der richtige Beruf, so kann Glück heute schon mal bloß der tolle Job sein, der wie Freizeit aussieht, weil vorher die Freizeitaktivitäten schon wie Arbeit unternommen wurden. Und zweifellos kann sich jeder über dieses bisschen Glück auch freuen. Was aber ganz verschwunden ist, und von der Philosophie auch kaum bemerkt wurde, das ist das Glück, das auf den ersten Blick wie Dummheit daher kommt. Es ist das hedonistische Glück, das weder die Askese heiligt, noch die Muße in den Stand der betriebsamen Arbeit erhebt; vielmehr wird hier auf spielerische Weise die ›Arbeit‹ zur Ruhe, zur Kunst, zur ästhetischen Produktion. Das Märchen von ›Hans im Glück‹ ist dafür ein schönes Beispiel. Hans darf, nachdem er sieben Jahre »bei seinem Herrn gedient« hat, nach Hause zu seiner Mutter und erhält als Lohn »ein Stück Gold, das so groß als Hansens Kopf war.«22 Auf dem Nachhauseweg zu seiner Mutter tauscht Hans nun das Gold gegen ein Pferd, das er nicht reiten kann, gegen eine Kuh, die er nicht melken kann, gegen ein Schwein, dass er nicht essen kann, gegen eine Gans, diese gegen zwei Schleifsteine, die ihm schließlich in einen Brunnen fallen. Dem Burschen, der ihm das Schwein gegen die Gans tauscht, erzählt Hans »von seinem Glück … und wie er immer so vorteilhaft getauscht hätte.« Und als er mit seinen Schleifsteinen loszieht, sagt er zu sich selbst: »Ich muss in einer Glückshaut geboren sein … Alles was ich wünsche, trifft mir ein wie einem Sonntagskind.« Als ihm dann die Steine in den Brunnen fallen aus dem er trinken wollte, endet das Märchen: »Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freude auf, …dankte Gott mit Tränen in den Augen« und war »von den schweren Steinen befreit …, die ihm allein doch hinderlich gewesen wären. ›So glücklich wie ich‹, rief er aus, ›gibt es keinen Menschen unter der Sonne.‹ Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war.« Glück ist für Hans: frei zu sein von aller Last, alle Sorgen los zu sein, »aufgehobenes Leid.« Die Brüder Grimm führen Hans als den Idioten vor, der sich beschummeln und sich um den teuren Lohn seiner siebenjährigen Arbeit bringen lässt: Hans hätte mit dem Gold so glücklich werden können; und nun gibt er am Ende seine dumm verlorene Habe noch als Glück aus, glaubt in jedem Tausch zudem seine Geschicklichkeit bewiesen zu haben! Ein Taugenichts, wie ihn auch Joseph von Eichendorff beschrieben hat – und eben Carl Barks: Donald ist dem Protagonisten aus dem grimmschen Märchen nicht unverwandt, gewissermaßen Hansens negatives Abziehbild, ein Hans im Unglück, weil die Verhältnisse mittlerweile keinen Spielraum mehr dafür lassen, sich in der

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Besitzlosigkeit wohl zu fühlen. War Hans in der Märchenzeit noch der Spinner, den man auslacht, ist Donald der Versager und Nichtsnutz, den man belächelt. In einer Gesellschaft, in der der Arbeitszwang und jede fröhliche Affirmation der Plackerei als Lebensinhalt aller und von allen deklariert wird, erwecken Hans wie Donald Mitleid; gerade aufgrund ihrer je besonderen sozialen Umgebungsverhältnisse können sie aber mit Solidarität nicht rechnen. Hans ist alle Sorgen los, Donald bekommt sie erst durch seine Sorglosigkeit. Donald, der die Arbeit stets flieht und auf sein Recht auf Faulheit besteht, wird – in der Regel von Onkel Dagobert – zur Arbeit gezwungen, bekommt einen sowieso schon nicht sonderlich »gerechten« Lohn versprochen, und wird schließlich selbst um diesen noch betrogen (häufig taucht hier ein Belohnungssystem der Mythologie auf: Als Lohn für eine erledigte Aufgabe bekommt Donald soviel er tragen kann an Geld oder Gold versprochen; der Trick ist, dass er in dem Moment, wo es um die Einlösung des Versprechens geht, aus irgendwelchen Gründen gar nichts tragen kann). Und wie Hans bewahrt sich Donald nichtsdestotrotz eine Idee von Glück, eine Zufriedenheit, die mit keinem Gold und Geld aufzuwiegen ist: Jedes noch so unwegsame Abenteuer, in dem – nachdem es bestanden ist – Donald wieder als der Verlierer hervorgehen mag, verweist auf das Glück gelingender Praxis, auf das aktive Leben, aber gerade in der Spannung des Abenteuers, sich stets in einer kontemplativen Außenperspektive selbst zu beobachten.23 Kinder empfinden noch dieses Glück, schreiben in die Poesiealben den in ihrer Welt nur zu wahren Spruch: »Das größte Glück der Erde, liegt auf dem Rücken der Pferde.« Irgendwann werden die Pferdeposter von der Wand genommen, die Reitstunden eingestellt. In die Kulturindustrie geht diese Utopie von Glück als Versprechen ein, manifestiert ein ohnmächtiges Glück: Einerseits werden die Protagonisten der massenkulturellen Produktion infantilisiert, um sie so zu Trägern des Glücksversprechens24 zu machen – auch hier begegnet uns Donald wieder –, andererseits sollen die Menschen daran gewöhnt werden, dass dieses Glück ein Versprechen bleiben muss, weil es naiv ist, sich mit dem glücklichen Star zu identifizieren; und doch bleibt das Glücksversprechen identisch mit der Figur des Stars, werden die Konsumenten sogar auf naive Identifikation mit den Star eingeschworen: In ihr lebt die kindliche Vorstellung vom Glück (oder die eigene Kindheitserinnerung ans Glück) und bestätigt schließlich die naive Identifikation mit dem, was man hat und selber ist. »Nicht zu jedem soll das Glück einmal kommen, sondern zu dem, der das Los zieht, vielmehr zu dem, der von einer höheren Macht – meist der Vergnügungsindustrie selber, die unablässig auf der Suche vorgestellt wird – dazu designiert ist. Die von den Talentjägern aufgespürten und dann vom Studio groß herausgebrachten Figuren sind Idealtypen des neuen abhängigen Mittel-

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stands. Das weibliche starlet soll die Angestellte symbolisieren, so freilich, dass ihm im Unterschied von der wirklichen der große Abendmantel schon zubestimmt scheint.«25 – Früher repräsentierten die Stars das Mädchen von der Straße; tatsächlich wurden zwar einige Berühmtheiten »auf der Straße entdeckt«, doch war mit ihrem Erfolg häufig noch eine strenge Auswahl und Ausbildung verbunden. Das ist heute nicht anders, nur dass die in die Krise geratene Kulturindustrie in ihren letzten Zügen noch einmal versucht, ihr Modell von Identifikation nicht länger als schönen Schein zu verkaufen, sondern als knallharte Realität: Angeblich repräsentieren die Stars niemanden mehr, sondern sind die Menschen selbst. Die Selektionsverfahren, nach denen die kulturell Erfolglosen aussortiert werden, werden zur Show gemodelt: Kaschiert wird nichts mehr, das Ganze heißt schon ›Popstars‹. Die Kandidaten werden als Stars entdeckt, als seien sie es als Angestellte schon längst: nie dürfen sie, einmal zum kurzlebigen Erfolg gekommen, anders werden als sie je schon waren. Ausgewählt wird von einer Jury, deren Kompetenz bereits dieselbe Qualität aufweist, die hier gefragt ist, nämlich Konformität mit den krudesten Mechanismen von Disziplin, Normierung und Kontrolle: Am Ende stehen die Schönsten da, die sich mit Stolz prostituiert haben, die Glatten und Vorzeigbaren, deren Selbstbewusstsein gelobt wird, die keine Schwäche zeigten und mit den häßlichen Verlierern weinten. Ihr Selbstbewusstsein allerdings erschöpft sich in dem aufrichtigen Glauben, dass alle dieselbe Chance hatten, es ein faires Verfahren war, und leider doch nicht alle gewinnen konnten – so soll doch das Glück entschieden haben, ein Glück des Zufalls. Es bleibt zugleich ein ohnmächtiges Glück, weil es sowieso nur in dem Maße besteht, wie sich in ihm die Macht bestätigt. Es ist das fetischistische wie fetischisierte Glück des Geldes. – Bereits auf antiken Münzen ist die Glücksgöttin Tyche geprägt (als Schutzherrin der Städte gewährleistet sie diesen Schutz durch das Geld, auf dem sie abgebildet ist).

Exkurs: Tyche, Glücksversprechen Die griechische Göttin Tyche entspricht der römischen Fortuna, die aus dem Füllhorn des Glücks ihre Gaben verteilt. In den Darstellungen seit dem Mittelalter trägt sie häufig einen Globus bei sich und ein Glücksrad. In zwei Stichen Dürers ist Tyche »als nackte, auf der Kugel balancierende Frau« dargestellt. Auf ›Das kleine Glück‹ (um 1496) hält sie eine Blüte als »Symbol des Liebesglücks« in der Hand, auf dem anderen Stich, ›Das große Glück‹ (um 1501/02), ist Tyche »in Wahrheit eine Darstellung der Nemesis, der Göttin der Vergeltung und göttlichen Gerechtigkeit …: Geflügelt schwebt die Göttin über der Menschenwelt, den Pokal, der Ehre und Reichtum enthält, und Zaumzeug als Zügel

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der Maßlosen und Unbeherrschten in den Händen«.26 Nicht selten wird Tyche/Fortuna mit Augenbinde als Zeichen ihrer Blindheit dargestellt. – Das Glücksrad war im Mittelalter das allegorische »Zeichen der Instabilität, des Aufund Abstiegs im Schicksal der Menschen«.27 Heute ist das Glücksrad ein Gerät des Hasardspiels; wie beim Roulett wird es gedreht, und eine zuvor bestimmte Position entscheidet über den Gewinn oder Verlust. Im Fernsehen taucht es in Spielshows wieder auf, wo es um das richtige Raten von Preisen verschiedenster Waren geht. Das Glücksrad dreht sich jetzt anders herum. Dass auch in den Shows, in denen der Mensch spielerisch mit dem Fetischcharakter der Ware vertraut gemacht wird, etwas benutzt wird, was Glücksrad heißt, ist keine bloße Analogie; mit der Übersetzung des Symbols wird auch der Glücksbegriff übersetzt. Fast unmerklich verwandelt sich das sozialpsychologische Moment von Glück, die Glücksfähigkeit, die Sinnlichkeit und Bedürfnisse, die an das Vermögen geknüpft sind, Glück als Erfahrung von Lust zu empfinden – oder es zum bloßen Erlebnis eines triebsublimierten Surrogats werden zu lassen. – Das Glückshorn Tyches ist leer; leer sind auch die Glücksversprechen, die es im Überfluss gibt: Jeder soll sein eigenes Glück finden und der Kleinbürger will auch nur »persönliche Zufriedenheit«,28 seine Ruhe, seinen Jägerzaun und die Gartenzwerge, oder das Erlebnis, das wilde Wochenende. Das große Los verheißt zudem Traumhaus, Traumauto, Traumurlaub – das Glücksrad verwandelt sich zur Glücksspirale, die mit hypnotischer Wirkung den Menschen auf den Warenfetisch fixiert. In der Zeit, wo das Individuum nur noch Exemplar ist, wird das Versprechen subjektiven Glücks zur vergeblichen Garantie, dass doch jeder Mensch besonders ist. Der Kapitalismus hebt die Glücklichen in den Stand der machtlosen Herrscher, adelt sie anachronistisch, macht den Gewinner zum Lottokönig; nun darf die Masse zusehen, wie der Neureiche sein Geld wieder verspielt und verprasst, bis er als verarmter Adel den versprochenen Platz an der Sonne dem nächsten König räumen muss. (Dieser Adel lebt eben nicht von »ehrlicher Arbeit«; nicht umsonst finden sich solche Könige, Barone und Prinzen ansonsten im Showgeschäft, in der kriminellen Schattenwirtschaft oder der als verbrecherisch geltenden Öl- und Schwerindustrie.)

Glücklich sind die Glücklichen »Die Autoren dieser Ausgabe sagen: ›Glücklich sind die glücklich Glücklichen. Die Gefühle liegen so ‘rum, man könnt’ sie aufheben: Einzeln oder ein Paar auf einmal. Härter ist jetzt härter.‹ Und die Bilder haben die Nase voll« Kristof Schreuf, ›Laufe blau‹ (auf: Brüllen, ›Schatzitude‹, Buback / Kitty-yo 1997)

Dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei, und folglich alle Bestimmungen oder gar Definitionen von Glück subjektiv bleiben, ist schon Ideologie

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der Wahrheit des Glücks, das in gelingender Subjektivität läge. Solange aber Subjektivität verstellt bleibt, nur als Surrogat eines Subjektivismus zu haben ist, bleibt auch erfahrenes Glück ein Augenblick, eine Vorahnung, eine Täuschung. – Die Philosophie behandelte das Glücksproblem, wie schon erwähnt, als Frage nach vita activa oder vita contemplativa, Praxis oder Theorie; zudem wird seit der Antike Eutychia, die Gunst der Umstände und des Schicksals, von Eudaimonia, dem Empfinden dieser Gunst, unterschieden. Darüber hinaus scheint der allgemeine Begriff von Glück wenig greifbar zu sein. Und gerade die idealistische Philosophie kommt über die Allgemeinheit des Glücks – nämlich Glück sei das, was jeder dafür hält – nicht hinaus. Bis in die Moderne wird das Glücksproblem allgemein aufgefasst, aber zugleich vom allgemeinen Glück abstrahiert. Freilich ahnt man, dass die Gesellschaft nicht für jeden Glück bereit hält; gegen die soziale Wirklichkeit wird ein Hedonismus verteidigt; Epikur nennt ein glückliches Leben das naturgemäße.29 Der Schmerz verhindert Glück. Auch das weiß der Hedonismus, weshalb – so wie Aristipp rät – die sinnliche Lust der geistigen vorzuziehen sei, da intensiver (weil auch körperlicher Schmerz schlimmer ist als seelischer);30 doch »die Hedonisten sind außerstande, über ihren Relativismus hinauszugelangen und das Glücksproblem gesamtgesellschaftlich: unter der Kategorie objektiver Wahrheit zu betrachten«.31 Mit der Neuzeit entwickelt sich dann langsam das Bewusstsein gesellschaftlicher Widersprüche, einhergehend mit der Aufklärung der Begriffe von Theorie und Praxis. »Glück besteht im Triumph über reale Widerstände.«32 Und, wie dann der Liberalismus ergänzt: Jeder trägt, individuelles Glück anstrebend, unbewusst oder bewusst, zum Glück aller bei. Doch Subjektives und Objektives ließen sich nicht lange derart vermitteln, gerade weil der Liberalismus hier ökonomisch Schranken setzte; nunmehr wurde das Glück mit dem Besitz identifiziert. Das Glück als Zustand vollkommener Befriedigung und Wunschlosigkeit wurde zusehends zum Ideal, zu dessen Beförderung weder Theorie und Praxis etwas beitragen könne, sondern wofür allein Zufall und Schicksal verantwortlich seien. Die Figuren solcher ideologisch zugebogenen Glücksformen finden sich dann später etwa bei Dagobert Duck, Gustav Gans und Donald Duck wieder, der ganz im Sinne feuerbachschen Materialismus preisgibt, dass dasjenige, was Glück ermöglicht, auch Glück schmälert – kein Leben ohne Leiden.33 Diese Negativität des Glücks ist die Spur zur Möglichkeit, Glück objektiv zu fassen: Als subjektives Moment der Emanzipation. Dafür braucht es aber einen materialistischen Begriff von Praxis; ansonsten bleibt solcher Standpunkt einer der Partikularität des Daseins, das sich »so in seinem Dasein sich selbst genießt«.34 Dagegen: »Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr; denn sie sind die Perioden der Zusam-

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menstimmung, des fehlenden Gegensatzes.« Vielmehr ist die Weltgeschichte »der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben«.35 Erst mit der materialistischen Wende denkt kritische Theorie diese Freiheit wieder mit Glück zusammen, nimmt den verborgenen Hedonismus Hegels (i.e. das Sich-selbst-Genießen) mit der Geschichtsidee der Emanzipation zusammen: »Alle Freude und alles Glück entspringen der Fähigkeit, die Natur zu transzendieren – eine Transzendenz, bei der die Naturbeherrschung selbst der Befreiung und Befriedung des Daseins untergeordnet ist.«36 Diese Glücksvorstellung akzentuiert gerade die Genussfähigkeit des Menschen, und sucht in dem Streben nach Genuss, Lust, Zufriedenheit die Sinnlichkeit und Erfahrung des Glücks mit Praxis und Theorie zu verbinden. So gerät Glück in die Nähe der Kunst, ja, findet in der Kunst einen Ort, wo es sein kann und aufgehoben wird: »Das Dasein gleicht immer mehr bloß sich selber. Kunst kann darum immer weniger ihm gleichen. Weil alles Glück am Bestehenden und in ihm Ersatz und falsch ist, muss sie das Versprechen brechen, um ihm die Treue zu halten.«37 Nicht nur Glück und Freiheit werden hier zusammen gedacht, sondern ebenfalls Glück und Hoffnung, Glück und Emanzipation. Hat Feuerbach das Glück auf die Sinnlichkeit gebracht, so rettet Marx »das Wahrheitsmoment aus der antiken und mittelalterlichen Ineinssetzung von Glück und Kontemplation«.38 – Bei ihm finden sich die »Umrisse eines qualitativ neuen – für sein Verständnis der Glücksproblematik entscheidenden – Begriff menschlicher Praxis«.39

Exkurs: Bitte Ruhe, hier wird gearbeitet! – Glück als »normale Portion von Arbeit« »So war z. B. die epikureische, stoische Philosophie das Glück ihrer Zeit; so sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist, das Lampenlicht des Privaten.« Karl Marx, ›Epikureische Philosophie‹ (in: MEW Erg.-Bd. 1, S. 299 f.)

Praxis hat hier Züge des freien, künstlerischen Gestaltens. Zu ihr gehören die in der Ästhetik aufgehobenen Begriffe von Kreativität und Phantasie; dies ist durch den gesellschaftlichen Charakter möglich, den Praxis hat; sie ist »nicht Anstrengung des Menschen als bestimmt dressierter Naturkraft, sondern als Subjekt, das in dem Produktionsprozess nicht in bloß natürlicher, naturwüchsiger Form, sondern als Naturkräfte regelnde Tätigkeit erscheint«.40 Ein derart in der Praxis fundierter Glücksbegriff kann also mit Freiheit zusammengebracht werden, gerade weil er vita activa und vita contemplativa als nicht getrennte Seinsweisen nimmt, sondern als Formen der Praxis begreift: Eine kritische Praxis, in der der Mensch nicht nur seine Wirklichkeit erfährt, son-

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dern insbesondere seine Möglichkeiten. »Jegliche Befreiung, wie sinnlich und radikal sie auch immer sein mag, muß der kruden Tatsache Tribut zollen, dass der Mensch ein rationales Wesen ist, daß seine Freiheit und sein Glück vom Bewußtsein dessen abhängen, was ist gegenüber dem, was sein kann, und dass die Ruhe der reinen Sinnlichkeit transitorisch ist.«41 Ruhe wird hier als transitorische Praxis gedacht, weil der Mensch – wie Marx schon in den Feuerbachthesen formulierte – als sinnlich-praktischer Mensch aufzufassen ist. In den ›Grundrissen‹ thematisiert Marx dieses Verhältnis von Kontemplation und Praxis als das von Ruhe und Arbeit. »Du sollst arbeiten im Schweiß deines Angesichts! war Jehovas Fluch, den er Adam mitgab. Und so als Fluch nimmt A. Smith die Arbeit. Die ›Ruhe‹ erscheint als der adäquate Zustand, als identisch mit ›Freiheit‹ und ›Glück‹. Daß das Individuum ›in seinem normalen Zustand von Gesundheit, Kraft, Tätigkeit, Geschicklichkeit, Gewandtheit‹ auch das Bedürfnis einer normalen Portion von Arbeit hat, und von Aufhebung der Ruhe, scheint A. Smith ganz fernzuliegen … Allerdings hat er Recht, daß in den historischen Formen der Arbeit als Sklaven-, Fronde-, Lohnarbeit die Arbeit stets repulsiv, stets als äußre Zwangsarbeit erscheint und ihr gegenüber die Nichtarbeit als ›Freiheit, und Glück‹.«42 Arbeit kann aber auch »Selbstverwirklichung des Individuums sein«, travail attractif, aber nicht als bloßes Spiel, nicht als private Unternehmung, als Feierabendglück. »Wirklich freies Arbeiten, z. B. Komponieren ist gerade zugleich verdammtester Ernst, intensivste Anstrengung«.43 Das ist die transitorische Arbeit, die produktive Ruhe, die Kunst. So argumentiert Marx auch gegen das vermeintliche Glück der Ruhe, die nur als Verzicht auf Genuss, als Opfer erscheint: Dieses Glück der Untätigkeit versagt sich der produktiven Lust: »Die Negation der Ruhe, als bloße Negation, als ascetisches Opfer schafft nichts … Was als Opfer der Ruhe, kann auch Opfer der Faulheit, der Unfreiheit, des Unglücks genannt werden, d.h. Negation eines negativen Zustandes.«44 Marx setzt dagegen das Glück der Kunst, die »positive, schaffende Tätigkeit«.45 Es ist die glückliche Praxis, die eben nicht in der bürgerlichen Vorstellung vom Zufallsglück aufgeht, das nur denen zuteil wird, die eben sowieso schon im Vorteil sind. Die liberalistische, utilitaristische oder moderne kulturindustrielle Auffassung von Arbeit und Glück schließt den Unglücklichen immer aus; den Kranken, Behinderten, Alten und Gebrechlichen ist ihr Schicksal eingeschrieben, sie dürfen und können gar nicht glücklich sein: Ihr Glück ist ihre Beseitigung, der Tod (die Vernichtung »lebensunwerten Lebens« in Nazideutschland lief unter dem griechischen Wort der Euthanasie, glücklicher Tod). Marx setzt dagegen ein Glück gesellschaftlicher Praxis: »A. Smith betrachtet die Arbeit psychologisch, in Bezug auf den Spaß oder Unfreude, die sie dem Individuum macht. Aber außer dieser gemütlichen Beziehung zu seiner Tätigkeit ist sie doch noch etwas andres

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– erstens für andre, da das bloße Opfer von A) B) nichts nützen würde; zweitens ein bestimmtes Verhalten seiner selbst zur Sache, die es bearbeitet, und zu seinen eigenen Arbeitsanlagen.«46 Die produktive Anstrengung des bereits ertaubten Komponisten Beethoven produziert Glück: Freude schöner Götterfunken, Freunde.

Euphorie und Euphobie »Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit bei der Mutter. Darum aber kann kein Glücklicher je wissen, dass er es ist. Um das Glück zu sehen, müsste er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener. Wer sagt, er sei glücklich, lügt, indem er es beschwört, und sündigt so an dem Glück. Treue hält ihm bloß, der spricht: ich war glücklich. Das einzige Verhältnis des Bewusstseins zum Glück ist der Dank: das macht dessen unvergleichliche Würde aus.« Adorno, ›Minima Moralia‹ (GS Bd. 4, S. 126)

ZWISCHENNOTIZ: – Im ›Marxistisch-Leninistischen Wörterbuch der Philosophie‹ gibt es kein Stichwort ›Glück‹. – In einer Bierwerbung sitzen junge Leute auf einer Couch; sie reden nicht, haben sich aneinander geschmiegt. Einer trinkt Bier. Wie im Comic sind die Trinkgeräusche zu lesen – und zu hören, doch statt »gluck, gluck, gluck« verspricht der Genuss dieser Biersorte: »Glück, Glück, Glück ist ein frisches Diebels«. Glück, so Sigmund Freud, entspringt der Befriedigung höchst aufgestauter Bedürfnisse und ist nur als episodisches Phänomen möglich. Dies gilt umso mehr, als die Bedürfnisse dem Warenfetischismus der Wertlogik entspringen; das Glück der Befriedigung falscher Bedürfnisse bleibt leer. So schreibt Marcuse: »Wir können wahre und falsche Bedürfnisse unterscheiden. ›Falsch‹ sind diejenigen, die dem Individuum durch partikuläre gesellschaftliche Mächte, die an seiner Unterdrückung interessiert sind, auferlegt werden: diejenigen Bedürfnisse, die harte Arbeit, Aggressivität, Elend und Ungerechtigkeit verewigen. Ihre Befriedigung mag für das Individuum höchst erfreulich sein, aber dieses Glück ist kein Zustand, der aufrecht erhalten [wird] … Das Ergebnis ist dann Euphorie im Unglück.«47 Das ist die Unfähigkeit, glücklich zu sein, die Ohnmacht des Glücks. Diese Euphorie im Unglück benennt die Dialektik des Glücks; es schlägt unter gegebenen Bedingungen nur zu leicht ins Gegenteil um. Der Psychoanalyse stellt sich als bemerkenswertes Problem, »daß Menschen gelegentlich gerade dann erkranken, wenn ihnen ein tief begründeter und lange gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Es sieht dann so aus, als ob sie ihr Glück nicht vertragen würden, …«48 – Jochen Distelmeyer (Blum-

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feld) singt: »Anders als glücklich / jetzt heißt es tapfer sein / ich bin untröstlich / einfach zu schwach zum Glücklichsein … Anders als glücklich / ich melde Zweifel an / irgendwas stimmt nicht / und das solang ich denken kann / Irren ist menschlich / jeder geht seinen Weg / anders als glücklich / solang bis nichts mehr geht … ich will Gewissheit haben / ich hab Angst davor wie’s weitergeht / und vorm Alleinesein.«49 Zu schwach zum Glücklichsein verweist darauf, dass im Zustand der bloß noch sporadisch gelingenden und fragmentierten Subjektivität selbst im glücklich-gelingenden Augenblick Glück nur Glück im Unglück bleibt: Glück im Spiel, Pech in der Liebe, oder umgekehrt; das »Ganze bleibt das Unwahre«, weil es »kein richtiges Leben im falschen« gibt.50 – Wenn Glück die Lüge über die Beharrlichkeit des Unglücks ist, ein Schönmachen und Schöntrinken51 des bescheidenen und beschissenen Lebens, dann ist das Gegenteil von Glück nicht Unglück, sondern Angst, eben auch Angst vorm Glück, Euphobie. Und manches Glück geht auf in seinem Gegenteil: vorgetäuschtes Glück, die Lebenslüge. In ›Das Unbehagen in der Kultur‹ nennt Freud drei Quellen des menschlichen Leidens, die Glück verhindern: Es sind erstens die Übermacht der Natur, zweitens die Hinfälligkeit unserer Körper, drittens die sozialen Unzulänglichkeiten (Familie, Staat, Gesellschaft). Sind wir weitgehend – trotz wissenschaftlichtechnischer Fortschritte – unseren somatisch-natürlichen Unwegsamkeiten ausgeliefert, also von medizinisch-technologischen Rückschritten, die im Namen der Zivilisation manches Leiden eher verewigen, statt es aufzuheben, so kann nach Freud soziales Leiden abgestellt, zumindest gelindert werden: Auch dafür soll Kultur tauglich sein. Zugleich sind es die Spannungen und unheilvollen Beziehungen, die zwischen den Formen des Leidens bestehen, die das Leben noch unangenehmer, schmerzvoller machen können: Benachteiligung durch Behinderung oder Krankheit, selbst alltägliches psychisches Leiden wird sozial verstärkt, betont. Zwar ist Leiden, das Glück verhindert oder hemmt, primär physisch zu begreifen, wie es die materialistische Tradition begreift, die den geknechteten und versklavten Menschen vor Augen hatte – und insofern ist Glück auch an Abwesenheit von Schmerz, an gelingende Erfüllung körperlicher Bedürfnisse gebunden; doch sind die Empfindungszustände des Körpers sinnlich, schließlich psychisch vermittelt, und damit noch einmal dialektisch an ihre jeweilige gesellschaftliche Konstitution gebunden.52 Deswegen ist spätestens seit Feuerbach die Sinnlichkeit Grundlage des Glücks,53 wobei diese Sinnlichkeit nicht den Ästhetizismus des idealistisch verklärten Geistes meint, die Überhöhung des gesellschaftlich sowieso schon überhöhten und hegemonial herausgestellten Geschmacks und Genusses von Kultur, sondern den klaren Blick auf die sozialen Entstellungen der Sinnlichkeit und das durch sie vermittelte mögliche Glück: Die Nüchternheit des Materialisten verweist auf die Durchschnitt-

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lichkeit des Lebens der Meisten; Banalität, Gleichgültigkeit, Respektlosigkeit und Sinnlosigkeit sind Ursachen des Leidens der kapitalistischen Subjekte, Schnittstellen ihrer körperlichen und seelischen Verfassung, ihrer Selbstwahrnehmung und ihres Selbstbewusstseins. Es bleibt als körperliche Kondition des Menschen: ihr Glücksstreben, ihr Handeln, das – positiv wie negativ – auf die Abwesenheit von Schmerz und Unlust ausgerichtet ist, andererseits sich um das Erleben starker Lustgefühle bemüht.54 So kann allein, nach Freud, die Vermeidung von Unlust als Glück empfunden werden, in diesem Fall: die Ruhe. Solches Glück ist aber nur zu oft das Unglück der Vermeidung der Lust, das Aufstauen und Aufschieben der Bedürfnisse, die mit Begehren, Wünschen und Trieben zu tun haben – eben oft sehr widersprüchliche Bedürfnisse, die im selben Maße die Unlust wie die Lust in sich einschließen. Ohnehin bleibt dies Glück das rein subjektive, individualisierte; es riskiert keine Gefahr, will nicht enttäuscht werden, weil es sich letzthin ohnmächtig und alleine weiß: die Konturen dieses Glücks sind sein Gegenteil, die Angst und der Verzicht. Dieser »Standpunkt des Glücks und Unglücks«, dieses Glück der »Zusammenstimmung« und »des fehlenden Gegensatzes«,55 ist das private, das in der Leistungsgesellschaft als Tugend der Bescheidenheit gelobt wird; es reproduziert in seiner Enthaltsamkeit und Beherrschtheit die Langweiligkeit und Selbstkontrolle, die das Leben der Individuen bestimmen. Ausgespart wie schon der Gedanke an Emanzipation ist auch die Utopie des Glücks der Emanzipation. Das Glück der Selbstbeherrschung wie das Unglück des Geduckten ist die Affirmation der abstrakten Macht realer Herrschaft des ökonomischen Zusammenhangs. Sie, die den Menschen eben als seine zweite Natur erscheint, ist dieselbe abstrakte, metaphysische Gewalt, die er sein Schicksal nennt, seine erste Natur, sein Charakter, seine Persönlichkeit, seine Mentalität; müssen sich die Durchschnittlichen mit dem Glück der Ruhe zu Frieden geben, steht den geborenen Glückskindern das aktive Leben offen: Sie werden bei Bewerbungen ausgewählt, sie machen stets das Schnäppchen, sind die ökonomisch Erfolgreichen. Gleichwohl, indem alles, was ihnen gelingt, auf ein Glück reduziert wird, das gänzlich mit Schicksal und Zufall identifiziert wird, erfahren tatsächliche Talente, sollten sie vorhanden sein, ihre Entwertung. Erfolg wird Glück, indem Glück zum Erfolg wird. Das fesselt alles Glück an die Macht, die Glück zugleich beschädigt: so wie Angst das Gegenteil von Glück, sind Ressentiments, Wut auf die Glücklichen, das Gegenteil von Unglück: »Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil er überhaupt erst Glück wäre … Noch als Möglichkeit, als Idee müssen sie den Gedanken an jenes Glück immer aufs neue verdrängen, sie verleugnen ihn um so wilder, je mehr er an der Zeit ist.«56 – Der Verdrängung der Möglichkeit von solchem Glück ohne Macht entspricht die Gewöhnung an die Normalität glückloser Macht, das Bewusstsein, dass Glück je

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die Ausnahme bleibt und auf wenige Momente im Leben Weniger verteilt wird. So soll das Glück auch seine Schattenseiten haben: Die Stars, die es geschafft haben, denen das Glück auf den Fotografien, die vom großen Galaabend gemacht wurden, förmlich ins Gesicht geschlagen wurde, haben auch ihr Elend, ihre Trennungen, Verletzungen und Krankheiten. Wenigstens das Unglück sollen sie mit der Masse teilen; das schmälert ihr Glück. Wer in der eigenen Ohnmacht sich eingerichtet hat, könnte deren Glück sowieso nicht ertragen. So ahmt die Kulturindustrie die Klassengesellschaft, die sie ökonomisch nivelliert haben will – alle seien gleich –, im System der Stars nach; zugleich bestätigt sie damit das idealistische Glück des Individuums. Die kritische Theorie des Glücks geht darüber hinaus, indem sie diesen Glücksbegriff gegen seine falsche Verwirklichung durchs individuelle Schicksal in der emanzipatorischen Praxis aufhebt: »Glück wäre die verwirklichte Idee der Menschheit.«57 – Gustav Gans ist das Individuum, die Lüge vom Schicksal des gelingenden Lebens; Donald Duck hingegen repräsentiert den Individualismus des realen Unglücks: Was ihm widerfährt, gilt für alle. Deshalb entdecken wir in ihm uns wieder und ahnen: »Die Welt in der wir leben / wird vor die Hunde gehen / wir haben nichts mehr zu verlier’n / nur das Glück und das sagt wir.«58 ZUSATZ: Seiner neunten These ›Über den Begriff der Geschichte‹ über Paul Klees Bild »Angelus Novus« hat Benjamin ein kleines Gedicht von Gershom Scholem vorangestellt: »Mein Flügel ist zum Schwung bereit / ich kehrte gern zurück / denn blieb’ ich auch lebendige Zeit / ich hätte wenig Glück.«59

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»Jede ist Expertin!« Identität und Verweigerung in der Diktatur der Angepassten; notwendiger und möglicher Umbau der Welt »Die Bedingungen sind heute durchaus gegeben, daß die im Arbeitsprozeß und daher auch im Ausbildungsprozeß isolierten und zerstückelten Elemente naturwissenschaftlich-technischen und gesellschaftlich-organisatorischen Wissens zu einem bewußten Durchschauen der gesellschaftlichen Produktionszusammenhänge umgewendet werden könnten, um so gerade über sie eine universelle Aneignung der gesellschaftlichen Praxis durch die sie tragenden Subjekte zu ermöglichen.« Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, ›Bildung, Emanzipation und Sittlichkeit. Philosophische und pädagogische Klärungsversuche‹ (Weinheim 1993, S. 183)

»FEUER LÖSCHEN? SO EIN UNSINN.« – In dem Science-Fiction-Roman ›Fahrenheit 451‹ von Ray Bradbury gibt es die Feuerwehr, die nicht Brände löscht, sondern Brände legt; sie wehrt sich mit der Kraft des Feuers gegen die Macht des Wissens, indem sie Bücher verbrennt. Diese Rhetorik ist dieselbe Demagogik, die wir heute erleben, wenn im Namen von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit Kriege geführt werden, wenn Zustände des Elends befestigt werden, wenn Möglichkeiten der Befriedung des Daseins nicht genutzt und Ungleichheiten und Unrecht bloß retuschiert werden. Die globale Politik des Krieges und des Neoliberalismus ist die Fortsetzung der nationalen Politik mit anderen und eigentlich denselben Mitteln, und vice versa, weil – wie Michel Foucault darlegte – die bürgerliche-neuzeitliche Politik die Fortsetzung des Krieges ist.1 Krieg und Freiheit schließen sich nach dieser Logik aus, eine Politik des Krieges kann keine der Freiheit sein. Die verteidigte Freiheit, die der Propaganda dient, mit der die massive Einschränkung von Freiheitsrechten innen- wie außenpolitisch legitimiert wird, ist keine des politischen Rechts, sondern eine Ideologie der Freiheit, die sich im ökonomischen Neoliberalismus und der globalkapitalistischen Ausweitung der Konsumsphäre manifestiert. Dass einer der neuesten Kriege, der gegen Afghanistan, zunächst unter der Parole »ewiger Gerechtigkeit« und dann »andauernder Freiheit« geführt wurde, lässt erahnen, dass es nicht um Gleichheit

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geht, sondern um die Festsetzung einer Hierarchisierung, in der Freiheit die Fähigkeit meint, sich freiwillig oder wenigstens scheinbar freiwillig zu den bestehenden Ordnung zu verhalten: Damit wiederholt sich in den Kriegen die allgemeine Struktur des Spätkapitalismus, die politisch Züge des Voraufklärerischen trägt, aber durchsetzt ist von postmodernen Subjektivitäten. – In der heutigen Welt, so diagnostizierte jüngst Christoph Spehr, werden wir kaum eine Gesellschaft finden, »in der Freiheit oder Gleichheit auch nur annähernd verwirklicht wären, ja in der sie überhaupt als grundlegender politischer oder sozialer Wert angesehen werden – es sei denn, wir akzeptieren die kümmerlichen Definitionen von Freiheit und Gleichheit, die uns vorgesetzt werden«.2 Nun zeigt die Legitimation des Krieges als berechtigtes Mittel der Politik, dass gerade die aggressive Einschränkung von Freiheit und Gleichheit noch als deren Verteidigung reklamiert werden kann, weil offenbar die Subjekte bei einem Höchstmaß an Einschränkungen bereit sind, die bestehende Ordnung zu bejahen. Sinnbild der Freiheit ist paradoxer Weise die Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung; paradox, weil die öffentliche Meinung zum Instrument geworden ist, das die »Akklamationsbereitschaft« vergrößert und »nicht mehr durch Diskussion, Argumentation und Kritik vermittelt«.3 – Das Feuer wird von der Feuerwehr gelegt; der Krieg wird von Friedenstruppen geführt; die Abschiebeknäste heißen Ausreisezentren; die Abschaffung des Sozialstaats heißt Reform; und es dominieren Ansichten, wonach die Elenden für ihr Elend selbst verantwortlich sind, ihr Schicksal frei gewählt und gewollt haben etc. Hannah Arendt hat das einmal treffend als »Wahr-Lügen« bezeichnet.

Biedermann als Brandstifter. Zur fortschreitenden Regression des Individuums »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.«

Eine Feuerwehr, die Feuer legt, nicht Brände löscht; eine Feuerwehr, die sich mit Feuer wehrt gegen die Kritik der Schrift (Kunst), die also Bücher verbrennt, besteht nur in einem System der Konformität, das die Selbstkontrolle zur ersten Pflicht und Tugend erhoben hat. Dieses System bewährt sich in der Dialektik von Biedermännern und Brandstiftern, von Anpassung, Denunziation und Gehorsam. Wie bei Max Frisch der Gottlieb Biedermann als heuchlerischer Spießer noch bis zuletzt von der Unschuld seiner Gäste und seiner eigenen Mitmenschlichkeit überzeugt ist, so steht auch das konformistische Individuum weniger unter dem Druck unmittelbarer autoritärer Gewalt und körperlichem Zwang, sondern handelt nach dem kollektiven Bewusstsein frei und selbstständig zu sein, wenn es sich seiner eigenen Beherrschung unterwirft, die es paradox als Freiheit entäußert. Dass die Subjekte real zerrissen,

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entzweit und entfremdet sind, reflektiert der Konformist ideologisch als Vorsatz, seine Angst, die ihn beharrlich begleitet, dadurch zu überwinden, dass er sich unauffällig gibt: schon den rebellischen Kindern wird befohlen, sich gefälligst zusammenzureißen – aus eigener Gewalt soll sich das fragmentierte Subjekt wieder zur Einheit formieren. Das konformistische Bewusstsein kulminiert in der gegenwärtigen Gesellschaft in der Ideologie, nach der die Welt im Prinzip, so wie sie nun einmal sei, grundsätzlich als in Ordnung erscheint. Zur Kritik der Ideologie gehört nicht nur ihre Aufklärung, die Aufhebung der Unmündigkeit, die mit dem konkreten, eben nicht ideologischen Interesse der Menschen an einem besseren Leben rechnet; der reale Humanismus der kritischen Theorie beharrt auf den konkreten Möglichkeiten des besseren Lebens: Durchaus wäre eine emanzipierte Gesellschaft realisierbar, in der die Individuen frei und selbstbestimmt leben könnten, in der sie überhaupt sich als Individuen vergesellschafteten. Dennoch bleibt dies das kritische Menetekel: die Ideologie und die mit ihr verbundene Aktivität der Menschen, sich mit dem Bestehenden so weit zu identifizieren, dass alles so bleibt wie es ist. Im Zuge einer technologischen Entwicklung, letzthin der mikroelektronischen, steht das Wissen zur Verfügung, wie die Welt ohne Weiteres in eine bessere verwandelt werden könnte; der technische Fortschritt und latent auch der soziale könnten längst garantieren, dass niemand mehr hungern müsste, selbst über Grundbedürfnisse hinausgehende Wünsche aufs Mehrfache befriedigt werden könnten. Zudem steht wenigstens in den Industrienationen, den demokratischen, den Menschen mehr Zeit zur Verfügung; der Kapitalismus ist noch immer die Verwertung menschlicher Arbeitskraft, die Arbeit selber wird aber tendenziell überflüssig, und es scheint weit über den Zustand der Massenarbeitslosigkeit hinaus, dass, nach Adornos einmal gebrachter Formulierung, die Menschheit zu ihrer eigenen industriellen Reservearmee geworden ist: Auch die konkrete Utopie, unter gegebenen Bedingungen Lohnarbeit auf ein nötiges Minimum zu reduzieren, zum Wächter der Maschinen zu werden, statt von deren Mechanismen sich befehligen zu lassen, die objektiv-möglich ist, heute, erscheint als Alptraum, mit dem Leben nichts anzufangen zu wissen. Wenn es schon keine Arbeit gibt, dann wenigstens die Beschäftigung; und als wenn in dem Wort ›Beschäftigung‹ nicht schon der bloße Zeitvertreib mitklingen würde, regiert heute, als Scheinlösung des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital, die Beschäftigungspolitik der Neuen Mitte. Hatte Marx noch in seinen Frühschriften, den Pariser Manuskripten, die Entfremdung der Arbeit markiert, wonach sie »wie eine Pest« geflohen wird, dem dann sein Verwandter Paul Lafargue das ›Recht auf Faulheit‹ beigab, so gehört zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft die kulminierte Entfremdung, die Marcuse für die eindimensionale Gesell-

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schaft bereits in den sechziger Jahren des vorherigen Jahrhunderts feststellte: dass die Faulheit, das Nichtstun, die Langeweile als neue Betriebskrankheit erscheint. Aus der alten Ökonomie fallen die Arbeitslosen als nutz- und wertlos heraus – wer seinen Arbeitsplatz verliert, droht seinen Platz in der Gesellschaft zu verlieren. Die Doppelbedeutung von Existenz, die philosophische des Daseins und die gesellschaftliche der wirtschaftlichen Existenz, die in der Neuzeit zusammen gefallen sind, drückt das aus. Kein Wunder, dass das Wort der Existenz – durchaus auch im populistischen Verständnis des Existenzialismus – in den Zeiten der New Economy einen neuen Aufguss bekam mit altem Wasser: Alle, die hier mitmischten in der IT-Branche, den Internet- und WerbeAgenturen, am Aktienboom ihren Anteil sichern wollten, rangierten als Existenzgründer; eilfertig wurden Ego-Branding, die Ich-Marke, das Self-Management, der Unternehmer seiner selbst zu ideologischen Plaketten, mit denen sich die neuen Angestellten schmückten. Womit nur wenige Jahre zuvor noch die Verdinglichung beschrieben wurde, die bedingungslose Identifikation der Einzelnen mit der gesellschaftlichen Totalität, der Konformismus, wurde nun zum Gradmesser vermeintlicher Flexibilität, sogar Non-Konformismus. Die Ideologie der Persönlichkeit wurde gleichsam von der alten Ökonomie geborgt: Leitungsqualitäten, Ehrgeiz, Fleiß, Leistung, Menschenführung, Durchsetzungsvermögen – früher die Charaktereigenschaften der oberen Etagen, werden in Zeiten des Self-Managements demokratisiert. Tatsächlich muss man schon sein eigener Chef sein, die Selbstkontrolle soweit internalisiert haben, um überhaupt noch als Selbst zu bestehen: als Individuum. Das scheint paradox, insofern schon die kritische Theorie der Gesellschaft angesichts der Katastrophen des letzten Jahrhunderts den Zerfall des Individuums analysierte. Auflösen lässt sich das Paradox, wenn der Begriff des Individuums als dialektische Kategorie verstanden wird: In der gegenwärtigen Gesellschaft individuiert sich das Subjekt, allerdings nicht als Individuum, sondern als dessen Hohlform. Die Psychoanalyse hat dies als Problem der Ich-Schwäche diagnostiziert und dafür den Begriff des Narzissmus eingeführt. Die Wirtschaft des Neuen Marktes und seine ideologische Ausschmückung basiert auf der Psychologie des narzisstischen Individuums; die Parole heißt: Erfinde dich selbst, freilich ohne die ironische Spur, die der ähnliche Satz Nietzsches hatte – werde, der du bist. Die Individuen funktionieren hier wie die Unternehmen und ihre Kapitalblasen: virtuell. Das virtuelle Individuum beschäftigt sich auch nur noch virtuell. Arbeit und Freizeit sind nicht länger die getrennten Sphären von Produktion und Reproduktion; sie werden nivelliert, womit Produktion wie Reproduktion selbst annulliert werden: Das Insistieren auf Kreativität, wenn man an einem Bildschirm Pixel hin und her schiebt oder über Aktienkursverläufe fabuliert, gebiert sich tatsächlich als creatio ex nihilo – man spielt Gott, aber in einem

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System, dem nichts mehr heilig ist. Das religiöse Motiv ist nicht zu unterschätzen: Die modernen Unternehmen, auch führende Konzerne, arrangieren den Arbeitstag gewissermaßen wie denn Kirchgang, lassen die Mitarbeiter zum Morgengebet für die Firma antreten; manche treiben es bis zum Geheimbündlerischen, arbeiten mit Zeichen und Signes, mit Esoterik; und der Erfolg von ökonomischen Kirchensekten wie Scientology spricht für sich. Marx hat die Kritik der Politischen Ökonomie aus der Religionskritik entwickelt; in den Zeiten der virtuellen Verwertung des Werts schlägt Kapitalismus wieder in Religion um. Man muss schon an seine Heilwirkung glauben, um sein überzeugter Anhänger zu sein. Opium des Volkes; und wie alle Drogenkonsumenten wissen auch diese mit der Droge umzugehen, um in ihrem Rausch nicht unterzugehen. Sich selbst erfinden, sich selbst entwerfen – mit diesen Zauberformeln verpflichtet sich das virtuelle Individuum auf die Gegenwart. Es gilt, ad hoc Lösungen zu finden. Das kann für den neuen Auftrag sein, die Werbekampagne für ein völlig neues Produkt, der Internetauftritt für den Großkonzern, die neue Software, das im Kurs fallende Aktienpaket, oder einfach die Kündigung. Weder kann sich das virtuelle Individuum auf die versprochenen Sicherheiten der Zukunft verlassen, darf für den in Börsenverlusten verflossenen Lohn in Aktien, den es nie bekam, nur ein zynisches Achselzucken übrig haben, um dann mit frischem Kaffee ebenso zynisch weiter zu machen; noch kann es sich auf Erfahrungen, Gelerntes aus der Vergangenheit stützen. So ist auch seine Biografie eine virtuelle. Und der Bedarf, sich wenigstens auf kollektive Kindheits- und Jugenderinnerungen zu einigen, scheint groß; die biografische Mode, die einmal den Unteren Leitbilder vermitteln sollte, wie Leo Löwenthal herausgearbeitet hat, ist nun verkehrt, indem sich die Leitbilder ihre Vergangenheit rekonstruieren lassen – als so genannte Popliteratur überschwemmt eine Belletristik den Buchmarkt, die es darauf anlegt, ihrem Publikum zu sagen, wie es in seiner Jugend in den Siebzigern und Achtzigern aussah: Florian Illies hat mit ›Generation Golf‹ einen Bestseller geschrieben, in dem eigentlich nichts anderes geschieht, als dass Warenmarken aufgezählt werden und an der einzigen gesellschaftlich relevanten Stelle im Buch nach Art Martin Walsers moniert wird, vom Nationalsozialismus deshalb nichts mehr wissen zu wollen, weil man in der Schule damit übersättigt wurde. So wird die Gedächtnislosigkeit des virtuellen Individuums, das sich lediglich an die Markennamen zu erinnern braucht, besiegelt. Erfahrungen reduzieren sich auf Erlebnisse, die man im Freibad mit bestimmten Eissorten hatte. Das virtuelle Individuum hat seine Praxis nicht in Erfahrungen, sondern in Soft-Skills, deren Palette von den alten Tugenden und Pflichten – Pünktlichkeit, Ordentlichkeit etc. – bis zu neueren Phrasen wie Team-Fähigkeit reicht. Die Eignung für den Job besteht zunächst mehr oder weniger in Eigenschaften, die eigentlich grundlegend sind für das, was gemeinhin Gesellschaft genannt wird:

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seinen Nachbarn nicht gleich in die Pfanne zu hauen. Die Klassengesellschaft wurde eskamotiert; Konflikte sind die heute zwischenmenschlich genannten. Nunmehr wird auch das Angestelltenverhältnis als Beziehung oder Partnerschaft deklariert. Dass Menschen sich nicht nur im Privatleben gegenseitig fertig machen, sondern auch im Betrieb, ist schlimm genug und verweist auf den fortgeschrittenen Konkurrenzkampf; wenn dies nun in der neueren Betriebspsychologie als Mobbing beschrieben wird, verweist das darauf, wie sehr das Privatleben der Menschen mittlerweile in die Beschäftigungsverhältnisse integriert wurde. Das virtuelle Individuum kritisiert seine Kollegen nicht aus Motiven des Klasseninteresses, schließt sich mit ihnen auch nicht aus Solidarität zusammen, wählt statt dessen nach Sympathie; eine Sympathie freilich, die nicht im Mitleiden besteht, sondern in der Identifikation mit dem, was zu tun ist. Der Kapitalismus wird menschlich, weil in ihm die Menschen sich nicht mehr in Klassen gegenüber stehen; jedenfalls kann sich daran niemand mehr erinnern. Alle sitzen im selben Büro, und zwar bis in die tiefe Nacht hinein. Die Jobs erträglich einzurichten, heißt nicht, ihren ökonomischen Charakter freizulegen, Produktionsverhältnisse infrage zu stellen, sondern heißt simpel: den Job überhaupt zu erledigen, gemeinsam. In den sechziger Jahren entschied sich an der Frage, ob die bestehende Gesellschaft noch eine von Klassen sei, inwiefern überhaupt das ökonomische System Kapitalismus ist; die Gesellschaft beim Namen zu nennen, hatte etwas entlarvendes – schon wer vom Kapitalismus sprach, galt als sein Kritiker. Heute gilt als kritisch, wer überhaupt erst einmal anerkennt, dass es eben nichts besseres als Kapitalismus gäbe. Das Klassenverhältnis ist im Schichtenmodell aufgelöst worden, und das Schichtenmodell in den privaten Konflikten, die jeder mit sich selbst zu klären hat. Damit gelten systemimmanente Widersprüche des Kapitalismus einfach als obsolet und es ist reinste Demagogie, wenn etwa der Meinungsführer Matthias Horx einen ›Smart Capitalism‹ propagiert, der das »Ende der Ausbeutung« einläute. Allein, dieses demagogische Motiv ist entscheidend für den Unterschied zwischen der liberalen Phase des Kapitalismus und dem gegenwärtigen Neoliberalismus. Seit jeher setzt sich das Individuum in der Verleugnung seines Klassencharakters. Erst in der neoliberalen Ära manifestiert es sich aber vollends bewusst als kapitalistisches. »Individualität setzt das freiwillige Opfer unmittelbarer Befriedigung voraus zugunsten von Sicherheit, materieller und geistiger Erhaltung der eigenen Existenz. Sind die Wege zu einem solchen Leben versperrt, so hat einer wenig Anreiz, sich momentane Freuden zu versagen. Die Individualität ist demzufolge bei den Massen weit weniger integriert und beständig als bei der sogenannten Elite. Freilich ist die Elite stets schon mehr von der Strategie in Anspruch genommen worden, Macht zu erwerben und zu behalten. Gesellschaftliche Macht ist heute mehr denn je durch Macht über Dinge vermittelt. Je intensiver

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das Interesse eines Individuums an der Macht über Dinge ist, desto mehr werden die Dinge es beherrschen, desto mehr werden ihm wirklich individuelle Züge fehlen, desto mehr wird sein Geist sich in einen Automaten der formalisierten Vernunft verwandeln.«4 Was gegenwärtig zu verzeichnen ist, kann als Konvergenz der Elite in die Masse bezeichnet werden. So gilt mehr noch im Neoliberalismus, was Horkheimer für die liberale Epoche beschreibt: »In der Ära des freien Unternehmens, der sogenannten Ära des Individualismus, war die Individualität fast gänzlich der selbsterhaltenden Vernunft untergeordnet … Der Individualismus ist der innerste Kern der Theorie und Praxis des bürgerlichen Liberalismus, der das Fortschreiten der Gesellschaft in der automatisierten Wechselwirkung der divergierenden Interessen auf einem freien Markt sieht. Das Individuum konnte sich als ein gesellschaftliches Wesen nur erhalten, wenn es seine langfristigen Interessen auf Kosten der ephemeren, unmittelbaren Vergnügungen verfolgte … Das bürgerliche Individuum sah sich nicht notwendig im Gegensatz zum Kollektiv, sondern glaubte – oder wurde gelehrt zu glauben –, es gehöre einer Gesellschaft an, die den höchsten Grad von Harmonie einzig durch die unbeschränkte Konkurrenz individueller Interessen erreichen könne.«5 In dieser unbeschränkten Konkurrenz operiert das virtuelle Individuum nunmehr selbst; das einzige Interesse, welches es verfolgt, ist das mit seinem – flexiblen – Selbstentwurf verbundene. Die Bereitschaft, sich permanent zu ändern, anzupassen, konterkariert das Bestreben, an den eigentlichen Bedingungen der Existenz nichts zu ändern. Dass die Bemühungen , die bestehenden Strukturen zu erhalten, größer sind als das Wagnis, mit ihnen zu brechen und die Möglichkeiten einer humanen Gesellschaft umzusetzen, ist nicht krude auf Dummheit zurück zu führen. Der Wunsch und die Sicherheit, alles möge so bleiben wie es ist, gehört bereits zur Dialektik des Individuums. Der Zerfall des Individuums manifestiert sich in der Krise der Gesellschaft. Die Lage ist ernst, aber so ernst nun auch wieder nicht.

»Natürlich war das gefährlich, aber es hat Spaß gemacht« (sagt Pippi Langstrumpf ) »Es bleibt, was mein politisches Verhältnis zur Welt angeht, immer ein Rest, eine Unruhezone des nie ganz Begriffenen; eine der nicht-artikulierten Bewußtseinslagen, von denen man daran gehindert wird, sich häuslich einzurichten. Es blieb der Zweifel am Überlebenswert von ›Ordnung‹, von ›Rechtschaffenheit‹, von Karriere, und auch die Abneigung gegen unsere strafende Gesellschaft hat mich nie wieder ganz verlassen. Auch nicht das Mißtrauen gegen alle glatten, harmonischen Darstellungen gesellschaftlicher Beziehungen.« Peter Brückner, ›Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945‹ (Berlin 1980, S. 88)

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Diejenigen Kräfte, die sich theoretisch wie praktisch um eine fundamentale Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse bemühen und die überhaupt davon ausgehen, dass diese Gesellschaft grundlegend änderbar ist, haben sich im 20. Jahrhundert auf eine umfassende Transformation einstellen müssen: Im vergangenen Jahrhundert hat der Kapitalismus sich als globales und scheinbar naturwüchsiges System etablieren können – vermittels einer Gegenbewegung, die nach wie vor von gewaltvollen Instabilitäten und Krisen gekennzeichnet ist. Die ökonomischen Verdichtungen und Verfestigungen des Systems vollzogen sich vor dem Hintergrund einer Zerstreuung der einmal mit dem Überbau bezeichneten Strukturen des Politischen und Kulturellen; in marxistischen Termini: der Stillstand der Produktionsbasis wird durch einen ungehemmte Dynamik der Verhältnisse innerhalb der Reproduktionssphäre konterkariert. Für die radikale Linke haben sich neue Felder ergeben, die überhaupt erst praktisch erschlossen werden mussten: der Feminismus, die Ökologiebewegung, der Antimilitarismus und Antinationalismus, der Antirassismus, der Antifaschismus. Das politische Konzept des alten revolutionären Subjekts Proletariat ist heute nicht mehr haltbar und eine Neubestimmung des revolutionären Subjekts muss sich, seit der Erfahrung von Nationalsozialismus und Stalinismus, jenseits von Zwangskollektivismus finden lassen; damit gewinnt der Begriff Widerstand eine neue Dimension, wonach es eben nicht nur um Gegenöffentlichkeiten, sondern auch die Konstitution neuer Öffentlichkeitsformen geht, um neue soziale Räume, also um Strategien, einer radikalen Vergesellschaftung einen ebenso radikalen Ort der Praxis zu geben. Die gegenwärtig notwendigen Solidaritäten sind also keine klassenmäßige Bündnispragmatik, sondern erfordern ein »Patchwork der Minderheiten« (JeanFrançois Lyotard), bei gleichzeitiger Reflexion auf den eigenen Subjektstatus. So auch in der Hinsicht, dass es nicht mehr nur um Aufklärung über Ideologie als falsches Bewusstsein geht, sondern falsches Bewusstsein eben notwendig in die Prozesse der Selbstwahrnehmung der Subjekte eingelagert ist und Ideologie sich auch strukturell und konkret in den Repräsentationsstrategien des Alltagslebens der Subjekte vollzieht. Das veränderte jedoch Gegenstrategien, weil es längst nicht mehr um die Freiheit innerhalb der Definitionen geht, sondern um die Freiheit, Definitionen zu verschieben, zu erweitern, zu rekonstruieren – in dem Maße, wie der »realexistierende Zynismus demokratischer Herrschaftspraxis« zunehmend zur Repräsentationspolitik wird, muss eben diese zum Ort linker, radikaler Praxis werden; Praxis ist dabei emphatisch zu begreifen (als Haltung). Der Verflüchtigung und Verdichtung von Herrschaft in Machtstrukturen im Sinne einer Repräsentationspolitik führt nicht nur zu einer zunehmenden Verdinglichung des Bewusstseins, welches sich in immer feineren Zwischenstufen zwischen virtuellem Individuum und pseudokonkreter Gesellschaft ein-

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schreibt; die Repräsentation dieser Macht findet strukturell im und am Körper statt. Der Körper, an dem sich die Repräsentationen von Geschlecht, Rasse und Klasse vollziehen, stellt eine manifestierbare und konkretisierbare Sicherheit inmitten der kulturellen, sozialen und politischen Segmentierungen und Verunsicherungen dar. Zugleich ist die über solche Repräsentationen des Selbst geleistet Identität nicht unbedingt von Dauer und kann beständigen Erschütterungen unterworfen sein. Die Auflösung klarer Muster der Selbstwahrnehmung bietet den Subjekten einerseits einen einfacheren Zugang zu neuen Identitäten, bedeutet andererseits aber auch höheren Druck, sich innerhalb der sozialen Felder angemessen darzustellen, ohne sich auf essenzielle Zuschreibungen des Selbst, auf subjektive Fähigkeiten und Bedürfnisse verlassen zu können. Daraus ergeben sich auch für eine radikale Linke Konsequenzen, die Walter Benjamin vor siebzig Jahren schon vorgezeichnet hat: »In diesen Tagen darf sich niemand auf das versteifen, was er ›kann‹. In der Improvisation liegt die Stärke. Alle entscheidenden Schläge werden mit der linken Hand ausgeführt.«6 – Emanzipation meint heute nicht nur die Befreiung von den als äußerliche Gewalt wahrgenommenen Zuständen, sondern eine Dekonstruktion der Selbstverhältnisse; Emanzipation ist erweitert worden durch eine widerständige Praxis der Subversion und Dissidenz. Die Identitätspolitik einer radikalen Linken ist bestimmt durch das Experimentieren mit neuen Identitäten und die Verweigerung bestehender Identitätsmuster. Das ist vielleicht der wesentliche Unterschied zu einer Politik des Klassenbewusstseins, die nach dem Modell größtmöglicher Identifikation mit dem männlichen, weißen Arbeiterideal funktionierte. Dagegen operiert die »quere Politik«, die Queer Politics. – Das heißt: sich selber ausprobieren, sich reflektieren als beständige Verortung und Bereitschaft, mit neuen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu spielen; sich »weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht … dumm machen zu lassen.«7 Im Rahmen des realpolitischen Abschaffung des Asylrechts gab es den Versuch, Ausländer in benötigte Computerspezialisten und überflüssige Arbeitskräfte zu unterscheiden; die radikale Linke hat dem die Parole »Jede ist Expertin« (bzw. »Jeder ist Experte«) entgegen gesetzt. Es kommt nicht auf das Können an, sondern es geht um die politische Fantasie, ein spezifisches und vielleicht zunächst unbrauchbar erscheinendes Können einzusetzen, ein neues Feld der Subversion zu eröffnen, zu improvisieren (Jazz). – Entgegen den postmodernen Versprechen, dass es sich bei diesen Widerstandsformen der Subversion und Dekonstruktion um Spielweisen handelt; entgegen der Illusion, dass die Politik sich aufgelöst hat in ein sowieso nur noch virtuelles Verhältnis des Immateriellen, erinnert die gegenwärtige Situation allerdings an den Ernst der Lage, an ihre reale Bedrohung. Die Praxis der neuen Expertinnen ist keine leichte Übung. So wichtig es ist, eine Kultur der Verweigerung mit der nötigen ironischen Distanz zu sich selbst zu

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etablieren, so sehr erinnern die Randzonen dieser Kultur an die Brutalität der Konfrontation, die das Leben für die meisten Menschen dieser Welt immer noch bedeutet. Dass die sozialen Repressionsverhältnisse sich heute in Formen der symbolischen Gewalt manifestieren, heißt nicht, dass es lediglich um die Besetzung, Aneignung oder Zerstörung dieser Symbole geht. Die schwierigste Aufgabe für die Expertinnen ist es, hinter der symbolischen Ordnung die substanziellen Gewaltverhältnisse freizulegen: als solche von Widersprüchen, die ausgehalten werden müssen, die aber nicht länger aushaltbar sind. Dafür braucht es eine kritische Theorie der Solidarität, eine kritische Theorie einer Praxis der Zuneigung, das heißt mehr als Sympathie, nämlich: Liebe (»Gemeinsam eine neue Welt aufbauen«).

Matrix Reloaded: The City of God »Wimmelnde Zwillingsherden werden in der Retorte bereitet, ein Alptraum endlosen Doppelgängertums, wie er vom genormten Lächeln der von der charm school gelieferten Anmut bis zum standardisierten, in den Bahnen der communication industry verlaufenden Bewußtsein Ungezählter mit der jüngsten Phase des Kapitalismus in den wachen Alltag einbricht. Das Jetzt und Hier spontaner Erfahrung, längst angefressen, wird entmächtigt – die Menschen sind nicht mehr bloß Abnehmer der von den Konzernen gelieferten Serienprodukte, sondern scheinen selber von deren Allherrschaft hervorgebracht und der Individuation verlustig. Der panische Blick, dem unassimilierbare Beobachtungen zu Allegorien der Katastrophe versteinern, durchschlägt die Illusion des harmlos Alltäglichen. Ihm wird das Verkaufslächeln der Modelle zu dem, was es ist, dem verzerrten Grinsen des Opfers. Die fünfundzwanzig Jahre seit dem Erscheinen des Buches haben mehr als genug verifiziert: kleine Greuel, wie daß Eignungsprüfungen für den Beruf des Liftjungen die Dümmsten ermitteln, und Schreckensvisionen wie die rationelle Verwertung der Leichen. Die Brave New World ist ein einziges Konzentrationslager, das, seines Gegensatzes ledig, sich fürs Paradies hält.« Adorno, ›Aldous Huxley und die Utopie‹ (in: GS Bd. 10·1, S. 98 f.)

Favela; in meinem ›Langenscheidt Taschenwörterbuch‹, siebente Auflage von 1988, steht: »Favela bras. f Negersiedlung f; Elendsviertel n, ›Slum‹ m.« – Favelas sind »spontane, illegale Aneignung« von urbanem Raum. Die brasilianische Architekturtheoretikerin Silke Kapp korrigiert und präzisiert: »Der Ausdruck ›Favela‹ ist mit dem Wort ›Armenviertel‹ schlecht übersetzt, denn es gibt sehr arme Viertel, die keine Favelas sind, und andererseits relativ wohlhabende Leute, die in Favelas wohnen. Favelas sind in erster Linie Stadtteile, in denen sich die Menschen unabhängig von Planung und Besitz ansiedeln. Sie sind im Grunde durch das definiert, was sie nicht sind, oder was sie ignorie-

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ren, eben die geplante Stadt.«8 Gleichwohl sind Favelas ein urbanistisches Resultat des modernen Rassismus, der in Brasilien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auch die Baupolitik bestimmte. So blieb nach der Abschaffung der Sklaverei, die es in Brasilien noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts gab, den Schwarzen, die vorher als Leibeigene leben mussten, oft nur der schlechte Baugrund in den Hügeln und städtischen Randzonen. Die Cidade de Deus, die in den frühen sechziger Jahren als sozialbauliches Projekt entstand, ist im Zentrum Rio de Janeiros zu einer der größten Favelas gewachsen. In Brasiliens Favelas sterben jährlich 40.000 Menschen durch Mord; diese Zahl reicht, um von Krieg zu sprechen (und Brasilien hat, bis auf einen Grenzzwischenfall mit Uruguay noch keinen Krieg geführt, war bislang an keinem Krieg beteiligt). In Brasilien herrscht Krieg, vom paramilitärischen Kampf gegen den Widerstand der Landlosenbewegung einmal abgesehen, in den Städten, herrscht eben auch Krieg in jener Stadt, die ansonsten für Zuckerhut und Copacabana, für Karneval und Samba bekannt sein soll. Nach dem autobiografischen Roman von Paulo Lins erzählt Fernando Meirelles in dem Film ›Cidade de Deus‹ (Brasilien 2002) die Geschichte der Favelas von den Sechzigern bis in die Achtziger: es ist zugleich die Rekonstruktion von Biografien, die hier von Drogen, Gewalt, dort von Fluchtversuchen, Liebe, Angst gekennzeichnet sind. Dass Meirelles Werbefilmer ist, prägt die Bilder, Schnitte, Farben, Einstellungen von ›Cidade de Deus‹. Der Film erzeugt eine Realität, die dem europäischen, weißen Auge durchaus von der Reklamesprache des Musikfernsehens bekannt ist. Ohne dass der Film mit aufwändiger Tricktechnik arbeitet, ist seine Konstruktion von Authentizität stark an der spektakulären Inszenierung ausgerichtet, wie man sie von der neueren Tricktechnik her kennt. – Es geht nicht so sehr darum, was der Film zeigt, und auch nicht so sehr darum, was er nicht zeigt. Es geht um das, was der Film zu zeigen beansprucht und mehr noch darum, in welcher Weise der Film rezipiert wird. Live and let die in den Favelas in Rio, davon handelt ›Cidade de Deus‹; allein darin ist der Film so unverfänglich, authentisch und unterhaltsam wie ein James-Bond-Film, oder – wie Tobias Nagl in der ›Jungle World‹ anmerkte – wie der Film, den Martin Scorsese gerne gedreht hätte (›Gangs of New York‹, 2002). Andererseits könnte Meirelles’ Film Zynismus vorgeworfen werden, und zwar in dem Maße, wie dieser Film allerdings eine »wahre Geschichte« zu erzählen vorgibt – nicht nur wegen der Romanvorlage Lins’, an die sich Meirelles sehr genau orientiert hat, sondern auch wegen der Schauspieler, die zum Großteil aus Favelas und sozialen Theaterprojekten stammen. Was dem Film auf der Produktionsebene gelungen sein mag, das soziale Engagement, droht auf ästhetischer Ebene in eine Ornamentalisierung des Elends umzuschlagen. Soll dieser Film halbdokumentarisch zwischen seinen schnellen Bildfolgen

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etwa pädagogisch verstanden werden, oder – schlimmer – wird er unfreiwillig derart wahrgenommen, als Geschichte der Favelas, so droht er die Ideologie der Gewalt, mit deren Bildern hier gearbeitet wird, zu affirmieren. Dass die Menschen in den Favelas ein Recht auf eine radikale Veränderung ihres Lebens haben, spart der Film aus; von der Militärregierung der siebziger Jahre erfährt man sowenig wie über die sozialen Bedingungen des Alltags. In den Kritiken hieß es gelegentlich, der Film sei »episch«. Im brechtschen Sinne könnte das meinen, dass die Jugendlichen im Film sich selber spielen. Sie spielen sich selber, wie wir sie sehen wollen; sie spielen sich selber, wie sie sich sehen wollen, weil sie wissen, wie wir sie sehen; sie spielen sich selber, glauben aber, sich nicht selbst zu spielen (sie glauben an die Karriere als Schauspieler). Gleichwohl arbeitet der Film gerade in seiner Bildästhetik und Ästhetisierung der Bilder die Dialektik der Inszenierung von Ordnung und Fortschritt heraus; die Bilder werden mithin zum sozialen Kommentar, dem der Film sich allerdings politisch enthält. Es geht um das Gesetz von Leben und Tod; Buscapé versucht dem zu entkommen, indem er die Kritik der Waffe, die das Alltagsleben bestimmt, übersetzt in eine Waffe der Kritik: er fotografiert; er schießt Fotos. Damit wird sein fotografischer Blick zur Schnittstelle zwischen der tödlichen Realität in der Cidade de Deus und der Inszenierung der Gewalt im Kinos. Am Ende ist die Kulturindustrie – die im Übrigen in Brasilien sowieso eine besondere Entwicklung erlebte – nur noch Reklame für sich und die Welt, wie sie ist (gleichsam ist sie die Welt); und mehr noch: die Kulturindustrie ist genau die Strategie des Kapitalismus, mit der eine Aufhebung des Kapitalismus verhindert wird, mit der die politische Revolution zur ästhetischen Revolte des Privaten verschoben wird. Damit erübrigt sich eigentlich die Diskussion um virtuelle Realität, die von der Kulturindustrie überhaupt erst angeregt wird. Jeder will wissen, dass die Bilder, die die Kulturindustrie liefert, ideologischer Schein seien; und nun wird ausgerechnet mit den technischen Verfahren dieses Scheins gefragt, ob denn die Bilder, die wir für unsere Wirklichkeit halten, nicht auch bloß virtuelle seien, ob denn nicht der Schein der Kinorealität der realen Illusion eigentlich voraus sei, gerade weil das Kino die technischen Mittel zur bewussten Erzeugung von Schein, Illusion, Virtualität, Irrealität oder Surrealität beherrscht. »Die ganze Welt wird durch das Filter der Kulturindustrie geleitet. Die alte Erfahrung des Kinobesuchers, der die Straße draußen als Fortsetzung des gerade verlassenen Lichtspiels wahrnimmt, weil dieses selber streng die alltägliche Wahrnehmungswelt wiedergeben will, ist zur Richtschnur der Produktion geworden. Je dichter und lückenloser ihre Techniken die empirischen Gegenstände verdoppeln, um so leichter gelingt heute die Täuschung, daß die Welt draußen die bruchlose Verlängerung derer sei, die man im Lichtspiel kennenlernt.«9

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Die gegenwärtige Gesellschaft hat die Katastrophe, auf die sie unaufhaltsam zusteuert, in die Extreme verlagert, zwischen denen die Widersprüche als Krise kulminieren; in der Krise schreiben sich die Katastrophen, die hinter uns liegen fort. Die Kulturindustrie gibt vor zu wissen, wie die Geschichte ausgeht; ihre Utopie ist die, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung eine Zukunft hat. Genau das hat Benjamin als den Traum der Epoche beschrieben. In der Vorstudie zum ›Passagen-Werk‹, den ›Pariser Passagen I‹ heißt es: »Das träumende Kollektiv kennt keine Geschichte. Ihm fließt der Verlauf des Geschehens als immer nämlicher und immer neuester dahin. Die Sensation des Neuesten, Modernsten ist nämlich ebenso Traumform des Geschehens wie die ewige Wiederkehr alles gleichen. Die Raumwahrnehmung, die dieser Zeitwahrnehmung entspricht, ist die Superposition. Wie sich nun diese Formen auflösen im erhellten Bewußtsein, treten an ihrer statt politisch-theologische Kategorien zu tage. Und erst unter diesen Kategorien, die den Fluß des Geschehens erstarren lassen, bildet sich in dessen Innerm als kristallinische Konstellation Geschichte. – Die ökonomischen Bedingungen, unter denen die Gesellschaft existiert, bestimmen sie nicht nur im materiellen Dasein und im ideologischen Überbau: sie kommen auch zum Ausdruck. Genau so, wie beim Schläfer ein übervoller Magen im Trauminhalt nicht seinen ideologischen Überbau findet, genau so mit den ökonomischen Lebensbedingungen das Kollektiv. Es deutet sie, es legt sie aus, sie finden im Traum ihren Ausdruck und im Erwachen ihre Deutung.«10 In den Notizen ›Pariser Passagen II‹ führt Benjamin aus: »Und Erwachen ist der exemplarische Fall des Erinnerns. Jener Fall, in dem es uns gelingt, des Nächsten, Naheliegendsten (des Ich) uns zu erinnern … Es gibt ›noch nicht bewusstes Wissen‹ vom Gewesenen, dessen Förderung die Struktur des Erwachens hat.«11 Und: »Dialektische Struktur des Erwachens: Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens. Es ist ein eminent durchkomponierter Umschlag der Welt des Träumers in die Welt der Wachen.«12 Wie Benjamin, der als eine Möglichkeit der Flucht vor den Nazis auch das Exil in Brasilien in Betracht zog, konstatiert der brasilianische Philosoph Flusser die Krise der bürgerlichen linearen Geschichtsschreibung: »Das historische Denken ist in einer Krise. Es handelt sich um ein Denken, das auf einem bestimmten Zeitmodell basiert, demzufolge die Zeit ein gleichlaufender Fluß von Ereignissen ist, die aus der Vergangenheit kommen und die Zukunft zu erreichen versuchen.«13 – Aus der Cidade de Deus gibt es zwei Ausgänge:14 Es sind die Kinder, die die Stadt Gottes beleben, das in das Schicksal zurückgestoßene Elend: der indische Ausgang.15 Der andere Ausgang ist der Durchbruch durch die ästhetische Oberfläche der Matrix beziehungsweise in die

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Matrix. Freilich sind es vollständig verschiedene Genres, doch in der übertragenen Perspektive vermeintlicher gesellschaftskritischer Implikationen funktionieren die Filme ›Cidade de Deus‹ und ›Matrix: Reloaded‹ sehr ähnlich. Beide Filme operieren mit einer durchaus ähnlichen Kamera- und Schnitttechnik, auch wenn in ›Matrix‹ von Larry und Andy Wachowski der Schwerpunkt auf das Spektakel der Technik, in ‹Cidade de Deus‹ das Gewicht auf die Ästhetisierung der Politik gelegt wird; beide Filme realisieren im Film bereits die Möglichkeit des Perspektivenwechsels und erlauben dem Betrachter scheinbar, die verschiedenen Seiten der Realität auf einmal zu sehen; es ist aber nicht die Konstruktion eines kubistischen Bildes, sondern nur eine Verschiebung des Blickwinkels (wie es in der DVD-Technik genannt wird) des Betrachters, der letztendlich im selben Raum bleibt, dessen Geometrie nicht verändert wird, der in derselben Zeit bleibt, dessen metrische Struktur ebenfalls nicht verändert wird. Benjamin spricht im ›Kunstwerk‹-Aufsatz vom Optisch-Unbewussten, das durch die moderne Technik der Vergrößerung und Verkleinerung, der Zeitlupe und des Zeitraffers sichtbar gemacht werden kann. In den Vergrößerungstechniken, den Verkleinerungstechniken, dem Zeitraffer und der Zeitlupe, die tief in die Bilder eindringen und schließlich die Matrix freilegen, ist die Sichtbarkeit allerdings um den Preis der Erinnerung, des Eingedenkens erschlichen: Sichtbarkeit hieße im dialektischen Sinne die Freilegung, Durchbrechung und Aufhebung der Ästhetik; in ›Matrix‹ ist es jedoch die Verdinglichung und Verabsolutierung der Technik, die Verdichtung der Ästhetisierung, indem nämlich sichtbar gemacht wird, dass die technische Simulation der Realität nun von der Realität im Kino nicht mehr zu unterscheiden sei. Wir sehen die Matrix, aber wir sehen nicht, was die Matrix zusammenhält. Deshalb ist ›Matrix‹ kein materialistischer Film. Es geht um die Realität, die in der Kulturindustrie mit Wahrheit übersetzt wird, nicht mit Wirklichkeit = Möglichkeit. Deshalb wird die Matrix zum Computerspiel (wie das Überleben in der Cidade de Deus). Tatsächlich hängt das Überleben aber von politischen Veränderungen ab: von der praktischen Kritik der politischen Ökonomie. Die Wahrheit der Matrix wird sichtbar gemacht (der Film zeigt: so leben die Menschen als Energiefutter für die Maschinen, so ist die Matrix strukturiert, so kann die Matrix dechiffriert werden, so sieht Zion aus etc.); aber die Wirklichkeit abstrakter Tauschbeziehungen, die wirkliche symbolische Ordnung der Welt – ob sie nun Matrix ist oder nicht –, bleibt verborgen. Die Kulturindustrie ist zur Fortsetzung nicht in der Lage; sie ist unfruchtbar. Sie mündet im zweiten Teil der Matrix-Trilogie bereits in dem Versuch, durch Effekte die Tot bringende Langeweile zu überspielen (»Hatten wir nicht den Film irgendwann mal auf Video aufgenommen?« – »Oh, ich glaube ich habe ihn überspielt.«) Die Kulturindustrie schreibt keine Geschichte, aber sie

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tut so als ob, und das mit umso mehr Eifer und Ehrgeiz. Das Phänomen ist aus der Popmusik bekannt; genau das ist das Zusammentreffen von Kitsch und Mode. War der erste Teil von ›Matrix‹ angeblich, obwohl erst 1999 erschienen, in Sachen Tricktechnik und Debatten um virtuelle Realität einer der wichtigsten Filme der Neunziger, so ist ›Matrix: Reloaded‹ in jeder Hinsicht bedeutungslos. ›Matrix‹ ist die Ontologisierung der virtuellen Realität, der positivistisch eine authentische, aber grausame wirkliche Welt untergeschoben wird: Das Leben in den Brutwannen scheint nicht schlimmer als das Exil im Erdinnern; die Menschen sind in die Höhle zurückgekehrt, nur dass sich in dieser postmodernen Variante des Höhlengleichnisses Platons Schein und Wirklichkeit vertauscht haben. Die Utopie, die in ›Matrix‹ der Scheinwelt entgegengesetzt wird, ist eine Regression auf vorgesellschaftliche Gemeinschaft; Zion ist keine historische Konsequenz der Matrixwelt, sondern der Ausbruch aus der Geschichte.16 Insofern gibt es in ›Matrix‹ auch keine soziale Utopie – im zweiten Teil ist die Rede davon, wie eine erste Fassung der Matrix den Menschen eine glückliche, humane, harmonische Welt bot – die Menschen hätten sie zerstört; sie funktionierte nicht, und das meint ja: Die Software dieser Idealgesellschaft funktionierte nicht. Es ist die Hippisierung des Vitalismus, aus dem die Kulturindustrie ihre Kraft zu schöpfen glaubt, ihre Kreativität (der Vitalismus ist ihr Bestand an Gefühlen und Affekten). Als Negativutopie, als Schreckbild der Zukunft, die eben gar keine Zukunft sei, scheint ›Matrix‹ durchaus an die düsteren Versionen angelehnt zu sein, die in der Literatur des 20. Jahrhunderts als literarischer Reflex auf das geschichtliche Grauen geschrieben wurden und zu lesen sind, etwa George Orwells ›1984‹ oder Aldous Huxleys ›Schöne neue Welt‹. In diesem Sinne lässt sich das, was Adorno an Huxleys dunklen Entwurf kritisch entwickelt, für eine Kritik an ›Matrix‹ übersetzen – und in gewisser Hinsicht auch an ›Cidade de Deus‹, wenn es zum Beispiel heißt: »Die Alternative läuft darauf hinaus, daß die Menschheit nicht aus dem Unheil sich herausarbeiten soll. Sie wird vor die Wahl gestellt zwischen dem Rückfall in eine selbst bei Huxley fragwürdige Mythologie und dem Fortschritt zur lückenlosen Unfreiheit des Bewusstseins. Kein Raum bleibt einem Begriff vom Menschen, der weder im kollektiven Systemzwang noch im kontingenten Einzelnen aufginge. Die Konstruktion, die den totalitären Weltstaat denunziert und den Individualismus, der es dahin brachte, retrospektiv verklärt, ist selber totalitär. Der Gedanke, der keinen Ausweg läßt, impliziert bereits die Liquidation alles nicht Aufgehenden, vor der Huxley mit Grund schaudert. Die praktische Konsequenz des bürgerlichen ›Man kann nichts machen‹, wie es als Echo des Romans nachhallt, ist genau das perfide ›Du mußt dich fügen‹ in totalitären Brave New Worlds. Die Eindeutigkeit der Tendenz, die Geradlinigkeit des Fortschrittsbegriffs, wie er

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im Roman gehandhabt wird, leitet von der beschränkten Form der Entfaltung der Produktivkräfte in der ›Vorgeschichte‹ sich her. Unausweichlichkeit kommt in der negativen Utopie dadurch zustande, daß jene Beschränktheit der Produktionsverhältnisse, die profitbedingte Inthronisierung des Produktionsapparats als Eigenschaft der technischen und menschlichen Produktivkräfte an sich zurückgespiegelt wird. In seiner Prophezeiung der Entropie der Geschichte folgt Huxley dem Schein, den die Gesellschaft notwendig verbreitet, gegen die er eifert.«17 – Die Fortsetzung einer kritischen Theorie der Kulturindustrie bleibt aktuell, weil die Kulturindustrie als einzige Fortsetzung dieses »Man kann nichts machen« kennt. »To be continued …« ist eine Lüge.

Schöne neue Welt oder die hässliche alte? Epilog zur Diktatur der Angepassten »Vom Stundenzeiger des Lebens. – Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns bestenfalls Schattenbilder jener Momente umschweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer – alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben jene Momente gar nicht und sind selber nur Intervalle und Pausen in der Sinfonie des wirklichen Lebens.« Friedrich Nietzsche, ›Menschliches, Allzumenschliches‹, Band 1 (München o. J., S. 330 [586])

»Es wird immer so weitergehen«, heißt es in Blumfelds ›Die Diktatur der Angepassten‹. Doch: Wird es immer so weitergehen? War es schon immer so? Oder ist die Vorstellung der Wiederkehr des ewig Gleichen, die ewige Wiederkehr des Neuen selbst schon Teil der Ideologie der Diktatur der Angepassten? Gehört nicht zur Diktatur der Angepassten jene Aporie, dass auch diejenigen, die sie bezeichnen, namhaft machen, anklagen und verurteilen, kritisieren und ihr widerstehen wollen, bereits integriert sind, ja sein müssen, um sich überhaupt einen Begriff vom herrschenden Konformismus zu machen? Die kritische Theorie ist im 20. Jahrhundert als Flaschenpost geschrieben worden; sie ist ein Hilferuf, der an jeden adressiert ist und an keinen: »Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.«18 Sind der Fotograf Buscapé in ›Cidade de Deus‹ und der messianische Held Neo in ›Matrix‹ solche eingebildeten Zeugen? Mit dem Engel der Geschichte gibt Benjamin diesem eingebildeten Zeugen ein Bild; er steht rückwärts zur Zukunft der jüngsten Vergangenheit zugewandt, die als Trümmerhaufen vor ihm liegt; er möchte verweilen und die Trümmer zusammenfügen, doch ein

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Sturm, der vom Paradies her weht, hat sich in seinen Flügeln verfangen und treibt ihn weiter. Die Vorstellung, dass die Wirklichkeit zu retten ist, wenn Trümmer, Splitter, Fragmente zusammengefügt werden, wenn die Zeichen in eine bestimmte Konstellation gebracht und lesbar gemacht werden, ist als messianische Idee ins Kino eingegangen. Es geht um die Teile eines Amuletts, die so aneinander gesetzt werden müssen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt die Sonne die Wahrheit ans Licht bringt: das ist die Aufgabe vom Engel der Geschichte; Lara Croft ist Tomb Rider. Wenigstens im Kino hat der Engel der Geschichte gelernt, sich umzudrehen, dem Sturm zu widerstehen. Die Experten reparieren die Welt; sie heilen, und zwar genau in der Weise, in der Benjamin den Chirurgen vom Magier unterscheidet (Benjamins Angelus Novus ist mehr Magier, während Lara Croft Chirurgin ist, die operativ in das Innere eindringt).19 Nur durch solche Eingriffe kann die Schrift sichtbar gemacht werden, wird die Welt lesbar; Expertinnen der Sinnlichkeit, gegen den Zauber der Ästhetik – Tikkun olam.20

»Er will das Glück: den Widerstreit, in dem die Verzückung des einmaligen, Neuen, noch Ungelebten mit jener Seligkeit des Nocheinmal, des Wiederhabens, des Gelebten liegt. Darum hat er auf keinem Wege Neues zu hoffen als auf dem der Heimkehr, wenn er einen neuen Menschen mit sich nimmt.« Walter Benjamin, ›Agesilaus Santander {Zweite Fassung}‹ (GS Bd. VI, S. 523)

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Anmerkungen Theodor W. Adorno wird zitiert nach: Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden (= GS plus Bandangabe), hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt am Main 1997. Theodor W. Adornos und Max Horkheimers ›Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente‹ wird zitiert nach: Adorno, GS Bd. 3. Walter Benjamin wird zitiert nach: Gesammelte Schriften (= GS plus Bandangabe), hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1991. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, wird zitiert nach: Werke. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845, neu editierte Ausgabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1970. Max Horkheimers Schriften werden – wenn nicht in Einzelausgaben – zitiert nach: Gesammelte Schriften (= GS plus Bandangabe), hg. von Gunzelin Schmid Noerr und Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1985 ff. Karl Marx und Friedrich Engels werden zitiert nach: Marx-Engels-Werke (= MEW plus Bandangabe), hg. von ZK der SED, Berlin 1957 ff.

Willkommen zu Hause. Prolog zur Diktatur der Angepassten 1 2 3 4

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Blumfeld / Jochen Distelmeyer, Die Diktatur der Angepassten, auf: ›Testament der Angst‹, ZickZack / Eastwest 2001. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: GS Bd. I·2, S. 454. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: GS Bd. I·2, S. 455. Umarbeitung des Abschnitts ›Faschisierung und Politisierung‹, aus: Behrens, Ton Klang Gewalt. Texte zu Musik, Gesellschaft und Subkultur, Mainz 1998, S. 19 ff. Der Abschnitt mündete in ›Möglichen Konsequenzen und Thesen (zur Diskussion)‹: »Die Forderung nach einer Politisierung der Kunst hat mit ›Pop und Politik‹ nichts zu tun. – Eine linke Kultur müsste, um politisch zu sein, entpolitisiert werden. – Das heißt Politisierung der Kunst, Entpolitisierung der Kultur. – Wenn es keine linke Bewegung gibt, ist am Pop sowieso nichts links zu drehen. – Die Frage der Bestimmung einer linken Kultur kann doch gar nicht in der Poplinken beantwortet werden, wenn a) die Poplinke gar nicht poplinks ist, b) gar nicht poplinks sein will, c) im Höchstfall der radikalen Kritik sich gegenseitig die kulturellen Distinktionsgewinne vorgerechnet werden.« (S. 21) Marcuse, Feindanalysen. Über die Deutschen, hg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 1998, S. 24.

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Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: GS Bd. 10·2, S. 555 f. Leo Löwenthal, Adorno und seine Kritiker, in: Schriften Bd. 4, Frankfurt am Main 1990, S. 61. 8 Vgl. Jungle World Nr. 7, 5. Februar 2003, S. 22. 9 Marcuse, Feindanalysen, a.a.O., S. 104 ff. 10 Marcuse, Feindanalysen, a.a.O., S. 111. 11 Jean Baudrillard [u.a.], Der Tod der Moderne. Eine Diskussion, Tübingen 1983, S. 103.

Stichworte zur Diktatur der Angepassten 1 2

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Vgl. Benjamin, Einbahnstraße, GS Bd. IV·1, S. 87: »Überzeugen ist unfruchtbar.« Adorno, Eingriffe, in: GS Bd. 10·2, S. 457: »Wird zu den Eingriffen schon einmal das Verbot assoziiert, so sollen Erwägungen, die eingreifen wollen, metaphorisch wenigstens daran sich erinnern, Tabu und Einverständnis verletzen.« Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 594 f. Vgl. Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 1995, S. 14: »In allen drei Fällen erlauben es unendlich feine Spuren, eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen. Spuren, genauer gesagt: Symptome (bei Freud), Indizien (bei Sherlock Holmes) und malerische Details (bei Morelli).« Ernst Bloch, Philosophische Ansicht des Detektivromans, in: Ders., Verfremdungen I, Frankfurt am Main1970, S. 37. Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Darmstadt und Neuwied 1979, S. 14. Das heißt nicht, dass in der total verwalteten Welt kein Widerstand möglich ist, der den Verblendungszusammenhang durchreißt; doch die Beispiele, die seitens der Poptheorie gerne gewählt werden, sind allerdings von der fantasielosen Eindeutigkeit des Fetischismus besetzt und sollen gewissermaßen an der Ware nachweisen, dass sie nicht Ware ist. Als sollte ausgerechnet am Supermarkt gezeigt werden, dass es beim kapitalistischen Warentausch nicht um den kapitalistischen Warentausch geht. Dagegen Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Ders. et al., Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt und Neuwied 1976, S. 127: »Totalität ist in den demokratisch verwalteten Ländern der industriellen Gesellschaft eine Kategorie der Vermittlung, keine unmittelbarer Herrschaft und Unterwerfung. Das schließt ein, dass in der industriellen Tauschgesellschaft keineswegs alles Gesellschaftliche ohne weiteres aus ihrem Prinzip zu deduzieren ist. Sie enthält in sich unzählige nicht-kapitalistische Enklaven. Zur Erwägung steht, ob sie nicht unter den gegenwärtigen Produktionsverhältnissen solcher Enklaven, wie etwa der der Familie, zur eigenen Perpetuierung notwendig bedarf.« Totalität »produziert und reproduziert sich durch ihre einzelnen Momente hindurch. Viele von diesen bewahren eine relative Selbstständigkeit …«

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Vgl. Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 166. Es geht um Allegorien der Bewegung; doch das Automobil ist schon wesentlich langsamer als die Eisenbahn. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Bewegungsbilder der Poptheorie eigentlich den Stillstand bedeuten, in der Bewegung nicht von der Stelle zu kommen: Internet, virtuelle Realität, Schallplatte, Tanzen etc. Der Kapitalismus hatte bisher den Raum erobert; dafür musste er beweglich sein. Nun dehnt er sich in der Zeit aus; alle technischen Erfindungen der Popkultur, vor allem im Bereich der Musik (Zeitkunst), sind Zeitmaschinen. Vgl. Moishe Postone, Time, Labor, and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory, Cambridge 1992. Vgl. die Kritik von Johannes Ullmaier, Pop Shoot Pop. Über Historisierung und Kanonbildung in der Popmusik, Rüsselsheim (und Mainz) 1995. Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt am Main 1974, S. 15 f.: »Ein Hunger nach Unmittelbarkeit, der ohne Zweifel die Folge der Unterernäherung durch den deutschen Idealismus ist. Die Abstraktheit des idealistischen Denkens, das sich durch keine Vermittlung der Realität zu nähern weiß, wird die Reportage als Selbstanzeige konkreten Daseins entgegengesetzt. Aber das Dasein ist nicht dadurch gebannt, dass man es in einer Reportage bestenfalls noch einmal hat.« Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, a.a.O., S. 173 f. Vgl. Max Horkheimer, Zur Tätigkeit des Instituts. Forschungsprojekt über den Antisemitismus, in: GS Bd. 4, S. 373 ff. Horkheimer, Zur Tätigkeit des Instituts. Forschungsprojekt über den Antisemitismus, in: GS Bd. 4, S. 373 f. Horkheimer, Zur Tätigkeit des Instituts. Forschungsprojekt über den Antisemitismus, in: GS Bd. 4, S. 375. Horkheimer, Zur Tätigkeit des Instituts. Forschungsprojekt über den Antisemitismus, in: GS Bd. 4, S. 375 f. Horkheimer, Zur Tätigkeit des Instituts. Forschungsprojekt über den Antisemitismus, in: GS Bd. 4, S. 376. Horkheimer, Ideen, Aktivität und Programm des Instituts 1938, in: GS Bd. 12, 1985, S. 137 f. Adorno und Horkheimer, Soziologische Exkurse, Hamburg 1991, S. 22. Adorno, Gesellschaft, in: GS Bd. 8, S. 13. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 591. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1028: »Durchdringung als Prinzip im Film, in neuer Baukunst, in der Kolportage.« – Vor dieser Unschärferelation der neuen Kultur und Technik kann der Poststrukturalismus, der die Dialektik glaubt dadurch überwunden zu haben, dass er sie nicht versteht, nur kapitulieren. Die Theorie wird banal. Zum Beispiel: Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 62: »Es heißt zu Unrecht (vor allem im Marxis-

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mus), dass eine Gesellschaft durch ihre Widersprüche definiert wird. Das stimmt nur im Großen und Ganzen. Aus der Sicht der Mikropolitik wird eine Gesellschaft durch ihre Fluchtlinien definiert, die molekular sind. Immer fließt oder flüchtet etwas, das den binären Organisationen entflieht.« – Es gibt aber keine kritische Theorie, die vom Standpunkt »aus der Sicht von« argumentiert; aus der Sicht des Theologen erscheint die Welt schließlich in Gottes Hand … So what? Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main 1986, S. 54. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (erste Fassung), in: GS Bd. I·2, S. 435. Karl Marx, Grundrisse zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 640. Marx, Grundrisse, a.a.O., S. 641. Marx, Grundrisse, a.a.O., S. 642. Adorno, Negative Dialektik, GS Bd. 6, S. 359. Adorno, Ästhetische Theorie, GS Bd. 7, S. 459. Georg Lukács, Alte Kultur und neue Kultur, in: Ders., Taktik und Ethik. Politische Aufsätze I, Darmstadt u. Neuwied 1975, S. 149 f. Adorno, Aldous Huxley und die Utopie, in: GS Bd. 10·1, S. 100 f. Entfremdung ist kein Gefühl, sondern ein Zustand, der sich vielmehr darin ausdrückt, dass er nicht gefühlt wird, unauffällig ist. Marx unterscheidet Entfremdung vom Akt der Produktion, Entfremdung vom Produkt, Selbstentfremdung, Entfremdung zwischen den Produzenten, Entfremdung vom Gattungswesen Mensch, Entfremdung von der Natur; vgl. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW Erg.-Bd. 1, S. 510 ff. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: GS Bd. 8, S. 44 f. Gilles Deleuze und Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main 1977, S. 7. Das System ficken, auf den Staat scheißen, oder ihn wenigstens bescheißen … Die Popkultur hat auch hier ihr subversives Potenzial preisgegeben; die Kulturrevolution ist damit im Stadium der infantilen Pseudoprovokation hängen geblieben. Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973, S. 97: »Die Verwendung von Ausdrücken aus dem genitalen und analen Bereich, die zum Ritual linksradikalen Sprachgebrauchs geworden ist (die ›obligatorische‹ Verwendung von ›fuck‹, ›shit‹), ist eine Herabsetzung der Sexualität … In dieser (völlig unbewußten) Abwertung der Sexualität scheint sich der Radikale für seine Ohnmacht zu bestrafen; seine Sprache verliert ihre politische Pointe. Nur noch als Schibboleth der Identität (der Zugehörigkeit zu den radikalen Nonkonformisten) dienend, beeinträchtigt die auf bloße Verbalisierung kleinbürgerlicher Tabus beschränkte sprachliche Rebellion die politische Identität.«

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35 Bloch, Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Werke Bd. 10, Frankfurt am Main 1985, S. 155.

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Vgl. den Bericht: Jochen Bittner, Deutschland: Wo jeder sich vor jedem fürchtet, in: Die Zeit Nr. 46 (7. November 2002), S. 10 f. Vgl. auch zum Beispiel: Micha Brumlik, In der Arena. Missverstandene Pietät wäre das falsche Signal: Denn Jürgen W. Möllemanns Antisemitismus war kein bürgerliches Kavaliersdelikt, in: Frankfurter Rundschau, 17. Juni 2003, S. 10: »Einer anderthalb Jahre alten Expertise des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, verfasst von dem am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung wirkenden Wissenschaftlern Michael Bromba und Wolfgang Edelstein ist unmissverständlich zu entnehmen, dass 1998 etwa 26 Prozent der West- und beinahe 47 Prozent der Ostdeutschen unzufrieden mit der Demokratie waren, und dass im gleichen Jahr 55 Prozent der West- sowie 61 Prozent der Ostdeutschen ›Ausländer ablehnten‹. Schließlich bezeichneten sich 6,7 Prozent der West- und 5,8 Prozent der Ostdeutschen als ›rechtsorientiert‹. Nimmt man zu diesen Ergebnissen die im letzten Jahr deutlich gestiegene Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten sowie die vor einem Jahr erschienene Untersuchung der Erziehungswissenschaftler Ahlheim und Heger hinzu, die unter Studenten einen Anteil von 13 Prozent Antisemiten nachgewiesen haben, gewinnt dieses Potenzial an Konturen.« Wolfgang Pohrt, Elemente des Massenbewusstseins; die Studie erschien im Jahrgang 1990 der ›konkret‹. Zusammen mit Else Frenkel-Brunswik, Daniel J. Levinson, und R. Nevitt Sanford legte Theodor W. Adorno die Studie ›The Authoritarian Personality‹ vor, die zu den von Horkheimer und Samuel H. Flowerman geleiteten ›Studies in Prejudice‹ gehörte. Vgl. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt am Main 1982. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, a.a.O., S. 10; GS Bd. 9·1, S. 158. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, a.a.O., S. 1; GS Bd. 9·1, S. 149. In diesem Kontext galt die besondere Aufmerksamkeit der in den USA durchgeführten Untersuchungen dem Antisemitismus, der aus zwei Gründen die »autoritäre Persönlichkeit« kennzeichnet, weil »der Antisemitismus wahrscheinlich keine spezifische oder isolierte Erscheinung ist, sondern Teil eines breiteren ideologischen Systems« (Adorno, Studien zum autoritären Charakter, a.a.O., S. 3; GS Bd. 9·1, S. 151). Auch Adorno benutzt den Begriff mit Verweis auf Benjamin, vgl. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: GS Bd. 8, S. 69. Erich Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht, in: Ders., Die Gesellschaft als Gegenstand der Psychoanalyse. Frühe Schriften zur Analytischen Sozialpsychologie, hg. von Rainer Funk, Frankfurt am Main 1993, S. 133.

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Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht, a.a.O., S. 135. Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht, a.a.O., S. 136. Fromm, Zum Gefühl der Ohnmacht, a.a.O., S. 143. Horkheimer, Autorität und Familie, [Raubdruck] 1935/1936, S. 55. Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt am Main 1974, S. 72. Kracauer, Die Angestellten, a.a.O., S. 24. Kracauer, Die Angestellten, a.a.O., S. 83. Thomas Barfuss, Konformität und bizarres Bewusstsein. Zur Verallgemeinerung und Veraltung von Lebensweisen in der Kultur des 20. Jahrhundert, Hamburg 2002, S. 11. Barfuss, Konformität und bizarres Bewusstsein, a.a.O., S. 18 Barfuss, Konformität und bizarres Bewusstsein, a.a.O., S. 183. Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin 2000, S. 172. Illies, Generation Golf, a.a.O., S. 174. Otto Karl Werckmeister, Zitadellenkultur. Die schöne Kunst des Untergangs in der Kultur der achtziger Jahre, München und Wien 1989, S. 11. Vgl. Werckmeister, Zitadellenkultur, a.a.O., S. 14. Werckmeister, Zitadellenkultur, a.a.O., S. 17. Werckmeister, Zitadellenkultur, a.a.O., S. 21. Werckmeister, Zitadellenkultur, a.a.O., S. 22. Werckmeister, Zitadellenkultur, a.a.O., S. 25. Antonio Gramsci, Gefängnishefte Bd. 7 (12. bis 15. Heft), hg. von Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug und Peter Jehle, Hamburg und Berlin 1996, S. 1578 (§ 23). Gramsci, Gefängnishefte Bd. 7, a.a.O., S. 1578 (§ 23). Gramsci schreibt über den Fall der Lösung der Hegemoniekrise in einem faschistischen System, Gefängnishefte Bd. 7, a.a.O., S. 1579 (§ 23): »Wenn die Krise nicht diese organische Lösung [i.e. die Aufrechterhaltung der herrschenden hegemonialen Ordnung, Anm. R.B.], sondern die des charismatischen Führers findet, bedeutet dies, daß ein statisches Gleichgewicht besteht, … das zu überwinden keine Gruppe, weder die konservative noch die fortschrittliche, die für den Sieg erforderliche Kraft hat.« Gramsci verweist auf den ›18. Brumaire des Louis Bonaparte‹ von Marx. Die Herausgeber verweisen auf eine möglicherweise von Gramsci gemeinte Passage, in der Marx von der »Despotie eines Individuums« spricht, einer »Autorität eines Individuums ohne Autorität. Der Kampf scheint so geschlichtet, daß alle Klassen gleich machtlos und gleich lautlos vor dem Kolben niederknien.« (MEW Bd. 8, S. 196) Herbert Marcuse, Die neue deutsche Mentalität, in: Ders., Feindanalysen. Über die Deutschen, hg. von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 1998, S. 24. Gramsci, Gefängnishefte Bd. 7, a.a.O., S. 1578 (§ 23).

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32 Kracauer, Die Angestellten, a.a.O., S. 65. 33 Nach diesem Krieg werden die Karten neu gemischt. Rüdiger Safranski über Immanuel Kants Aktualität und die Chance des ›alten Europas‹, im Gespräch mit Burkhard Baltzer in: Kunst & Kultur, 3 (2003), S. 9. 34 Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Reinbek bei Hamburg 1994. 35 Puhdys, Stars, auf: zufrieden?, BMG 2001. 36 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 154. 37 Andrea Späth, Kampagne Diesel, Photo Technik International, Heft 1 (2003), S. 66 ff. 38 Späth, Kampagne Diesel, a.a.O., S. 67.

Hieroglyphen im Hohlraum der Kulturindustrie 1 2

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Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 574. John Fiske, Lesarten des Populären, aus dem Englischen von Christina Lutter und Markus Reisenleitner, Wien 2000, S. 11. Fiske spricht ebenso bezeichnend von seinen »europäischen Augen«, mit denen er die Popular Culture untersucht, vgl. S. 12. »Wie ein Ethnologie« meint hier die Nähe vor allem zu Claude Lévi-Strauss, von dem die Cultural Studies insbesondere hinsichtlich des Stil-und HomologieKonzepts geprägt sind. Lévi-Strauss’ Fotografien aus dem Amazonas sind berühmt; allerdings problematisierte der Ethnologe, was dem kulturalistischen Schnappschuss-Theoretiker Fiske abgeht, wenn er über seine brasilianischen Bilder nämlich schreibt: »Die Klischees sind kein physisch und wie durch ein Wunder erhalten gebliebener Bestandteil von Erfahrungen, an denen alle Sinne, die Muskeln und das Gehirn beteiligt waren: Sie sind lediglich Indizes … Die fotografischen Dokumente beweisen mir ihre Existenz, ohne Zeugnis von Ihnen zu geben oder sie mir sinnlich erfahrbar zu machen … Heute erneut betrachtet, hinterlassen diese Fotografien bei mir den Eindruck einer Leere, eines Mangels an dem, was das Kameraobjektiv zu erfassen schlechterdings unfähig ist.« Claude Lévi-Strauss, Brasilianisches Album, München und Wien 1995, S. 9. Bislang war Simon Frith meines Wissens der Einzige, der aus dem frühen Forschungszusammenhang auf die Bedeutung der explizit akustischen Kultur des Pop und Rock aufmerksam gemacht hat (vgl. Simon Frith, Jugendkultur und Rockmusik. Soziologie der englischen Musikszene, Reinbek bei Hamburg 1981). Im Zuge einer (mehr als nötigen) Radikalisierung der Cultural Studies hat schließlich Kodwo Eshun als erster den Versuch unternommen, eine Wissenschaft des Popsounds zu entwickeln, die er Sonic Fiction nennt (beziehungsweise geht es dabei um das Sonische, von der Soundwirklichkeit bis zur Virtualisierung der Breakbeats …). »Technotheorie, Cultural Studies und Co. verlieren ihre wabblige Wampe, ihre faule, aufgeblasene, fettärschige, hierarchische Dominanz und werden zu einer

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einzelnen Komponente in einem Gedankensynthesizer, der sich auf mehreren Ebenen zugleich bewegt und dort den Kraftfeldlinien der Maschinenmusik nachgeht.« Kodwo Eshun, Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction, aus dem Englischen von Dietmar Dath, Berlin 1999, S. -004. Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 14 f. Vgl. Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 195. Vgl. Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 115. Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 116. »Rassismus ist eine Struktur des Diskurses und der Repräsentation, die den Anderen symbolisch zu vertreiben versucht – ihn auslöschen, ihn da drüben in die Dritte Welt setzen, an den Rand.« Stuart Hall, Ethnizität: Identität und Differenz, in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-Reader, Frankfurt am Main und New York 1999, S. 93. Die Rassismusforschung gehört neben der kritischen Auseinandersetzung mit dem Feminismus zu den entscheidenden Impulsen der kritischen Theorie der Cultural Studies, wobei mit Stuart Hall nur ein Name erwähnt sei; welchen Einfluss gerade dieses Moment der Cultural Studies auch auf die politische Praxis des Antirassismus der letzten Jahrzehnte hatte, ist gar nicht zu unterschätzen und geht über die poptheoretische Mode freilich weit hinaus. Das von Engelmann herausgegebene Buch verdeutlicht diese praktischen und politischen Konsequenzen ebenso wie ihre Reichweite, die nicht unterschlagen werden darf und auch nicht in den Schatten der depotenzierten Cultural Studies, wie sie von John Fiske vertreten werden, zu stellen ist. Hier geht es nur um den exemplarischen Verweis auf die Dimensionen des Bildlichen für die moderne Kulturtheorie; gemeint ist die von Judith Butler inspirierte Körperphilosophie. Hall und Christian Höller, »Ein Gefüge von Einschränkungen«, in: Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede, a.a.O., S. 122. Ideologie ist buchstäblich das Zusammentreten von Eidolon und Logos, von Bild und Wort. Bacon spricht von Idolen als Trugbildern und Vorurteilen, welche die empirische Erkenntnis verzerren und behindern. Es kommt demnach wohl auch nicht von Ungefähr, dass die Schlüsseltexte zur Ideologie-Hegemonie-Problematik zugänglich gemacht wurden unter dem Titel ›Die Camera Obscura der Ideologie‹, hg. vom Projekt Ideologie-Theorie, Hamburg und Berlin 1984. Darin findet sich auch: Hall, Ideologie und Ökonomie – Marxismus ohne Gewähr, a.a.O., S. 97 ff. – Die Metapher der Camera Obscura haben Marx und Engels benutzt, vgl. Die Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 26 (siehe auch oben, Anm. 44) Martin Jay verwendet den von Christian Metz geprägten Begriff des »scopischen Regimes«; Jay, Scopic Regimes of Modernity, in: Ders., Force Fields. Between Intellectual History and Cultural Critique, New York und London 1993, S. 114.

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14 Ulrich Sonnemann, Das fatale Perfektfutur und das Andersartige in Noahs konterfatalem oder Die Fuge der Zeit. Zu Günther Anders’ ›Die beweinte Zukunft‹, in: Konrad Paul Liessmann (Hg.), Günther Anders kontrovers, München 1992, S. 243. 15 Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1989, S. 251 ff. 16 Foucault hat dies in ›Die Ordnung der Dinge‹ am Beispiel von Velasquez’ ›Die Hoffräulein‹ dargestellt: »Um die Szene herum sind die Zeichen und die sukzessiven Zeichen der Repräsentation angebracht, aber die doppelte Beziehung der Repräsentation zu ihrem Modell und zu ihrem Souverän, zu ihrem Autor wie zu dem, dem man sie bietet, diese Beziehung ist notwendig unterbrochen. Nie kann sie ohne Rest präsent sein, selbst nicht in einer Repräsentation, die sich selbst als Schauspiel gibt.« Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt am Main 1993, S. 45. 17 Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, München 1973, S. 210. 18 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 16. 19 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 185. 20 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 191. 21 Adorno, Das Schema der Massenkultur, Kulturindustrie (Fortsetzung), in: GS Bd. 3, S. 334. Der Text schließt an das Kulturindustriekapitel mit dem Satz an: »Im Reklamecharakter der Kultur geht deren Differenz vom praktischen Leben unter. Der ästhetische Schein wird zum Glanz, den Reklame an die Waren zediert, die ihn absorbieren; jenes Moment der Selbständigkeit jedoch, das Philosophie eben unterm ästhetischen Schein begriff, wird verloren.« a.a.O., S. 300. 22 Adorno, Das Schema der Massenkultur, in: GS Bd. 3, S. 333 f. 23 Das Primat der Praxis ist dabei mit dem Sinnlichen vermittelt. In diesen Komplex gehört auch die erste Feuerbachthese, in der Marx formuliert: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv.« Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, S. 5. 24 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 88. 25 Vgl. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 189: »Das blinde und rapid sich ausbreitende Wiederholen designierter Worte verbindet die Reklame mit der totalitären Parole. Die Schicht der Erfahrung, welche die Worte zu denen der Menschen machte, die sie sprachen, ist abgegraben, und in der prompten Aneignung nimmt die Sprache jene Kälte an, die ihr bislang nur an Litfaßsäulen und im Annoncenteil der Zeitungen eigen war.« 26 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 33. Zum Mythi-

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schen und Archetypischen dieses Sachverhalts heißt es dann in ›Das Schema der Massenkultur‹, in: GS Bd. 3, S. 332: »Als Zentralstelle für Regression besorgt Massenkultur fleißig die Herstellung jener Archetypen, in deren Überleben die faschistische Psychologie das zuverlässigste Mittel zur Fixierung der modernen Herrschaftsverhältnisse sieht. Urzeitliche Symbole werden am laufenden Band zusammengesetzt. Die Traumfabrik fabriziert nicht sowohl die Träume der Kunden, als daß sie den Traum der Lieferanten unter die Leute bringt. Er ist das tausendjährige Reich eines industriellen Kastensystems endloser Dynastien. Im Traum der Lenker von der Mumifizierung der Welt ist Massenkultur die priesterliche Hieroglyphenschrift, die ihre Bilder den Unterjochten zukehrt, nicht damit man sie genießt, sondern damit man sie liest. Die eigentlichen des Films, aber auch uneigentliche wie Schlagermelodien und Textwendungen, erscheinen so starr und oft, daß sie nicht mehr als solche, sondern als Wiederholungen wahrgenommen werden, deren Immergleichheit identischen Sinn ausdrückt. Je loser der Zusammenhang in Handlung und Verlauf, um so mehr wird das abgesprengte Bild zum allegorischen Sigel. Optisch selbst nähern die aufblitzenden, vorübergleitenden Bilder im Kino der Schrift sich an. Sie werden aufgefaßt, nicht betrachtet. Der Filmstreifen zieht das Auge mit wie die Zeile und im sanften Ruck des Szenenwechsels blättert die Seite sich um. Gelegentlich haben kunstgewerbliche Filme wie Guitrys Perles de la couronne den Lesecharakter des Films als Rahmen hervorgehoben. So wird der Übergang von Bild in Schrift, in dem die Absorption der Kunst durch die monopolistische Praxis kulminiert, von der Technik des Massenkunstwerks vollzogen. Die übermittelte Geheimlehre aber ist Botschaft vom Kapital.« Im Übrigen ist das angesprochene Motiv des Lesens, der Lesbarkeit nicht nur mit Blick auf etwa Fiskes Lesarten des Populären zu verstehen, sondern vor allem hinsichtlich Benjamins Konzept der Lektüre, auf das unten eingegangen wird. In Marxens Systemfigur des historischen und dialektischen Materialismus ist auch die Sinnlichkeit des Menschen ein Resultat historischer Entwicklungen, ein dialektischer Prozess. Vgl. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, MEW Erg.Bd. 1, S. 541 f.: »Die Bildung der 5 Sinne ist eine Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte.« Vgl. dazu: Leo Löwenthal, Adorno und seine Kritiker, in: Ders., Judaica. Vorträge. Briefe, Schriften Bd. 4, hg. von Helmut Dubiel, Frankfurt am Main 1990, S. 61: »Es erfüllt mich mit Stolz und Genugtuung, daß Adorno meiner Kurzdefinition der ›faschistischen Agitation‹ und der ›Kulturindustrie‹ als ›umgekehrter Psychoanalyse‹ zustimmte und sie übernahm.« Adorno, Prolog zum Fernsehen, in: GS Bd. 10·1, S. 513. Adorno, Prolog zum Fernsehen, in: GS Bd. 10·1, S. 513 (Fußnote). Susan Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das PassagenWerk, S. 212; das Benjamin-Zitat ist aus: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: GS Bd. I·1, S. 346.

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32 Buck-Morss, Dialektik des Sehens, a.a.O., S. 214. 33 Vgl. zur Kritik der Cultural Studies: Andreas Hepp und Carsten Winter (Hg.), Die Cultural Studies Kontroverse, Lüneburg 2003, insbesondere deren Einleitung: ›Cultural Studies als Projekt. Kontroversen und Diskussionsfelder‹, S. 9 ff. 34 Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: GS Bd. I·2, S. 660. 35 Benjamin, Charles Baudelaire, in: GS Bd. I·2, S. 681 und 686. 36 Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, in: GS Bd. 10·1, S. 245. 37 Adorno, Charakteristik Walter Benjamins, in: GS Bd. 10·1, S. 239. 38 Vielmehr bezeichnet die Konzeption des dialektischen Bildes die Abkehr von der bisherigen kontemplativen Ästhetik. Das dialektische Bild findet seinen vorläufigen technischen Ausdruck im Film. Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: GS Bd. I·2, S. 464: »Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das Bild auf der einen verändert sich, das Bild auf der anderen nicht. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie in Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden, weder wie ein Gemälde noch wie etwas Wirkliches. Der Assoziationsablauf dessen, der sie betrachtet, wird sofort durch ihre Veränderung unterbrochen. Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will.« 39 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1037 f. 40 Vgl. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 570 ff. 41 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 591 f. 42 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 595. 43 Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 86. 44 Marx und Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 26. 45 Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, GS Bd. V·1, S. 50. 46 Womit der Bogen zu den Feerien zu schlagen wäre: Benjamin nannte seine Passagen-Arbeit zunächst eine »dialektische Feerie«; Feerien sind Feenmärchen, Ausstattungsstücke, wie etwa die späteren Operetten Jacques Offenbachs, vgl. Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt am Main 1994, S. 307 ff. 47 Buck-Morss, Dialektik des Sehens, a.a.O., S. 108 f. 48 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 575. Die Passage lautet vollständig: »Ein zentrales Problem des historischen Materialismus, das endlich gesehen werden sollte: Ob das marxistische Verständnis der Geschichte unbedingt mit ihrer Anschaulichkeit erkauft werden muß? Oder: auf welchem Wege es möglich ist, gesteigerte Anschaulichkeit mit der Durchführung der marxistischen Methode zu verbinden.

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Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu erreichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. Also mit dem historischen Vulgärnaturalismus zu brechen. Die Konstruktion der Geschichte als solche zu erfassen. In Kommentarstruktur. • Abfall der Geschichte •« Vgl. Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, GS Bd. II·1, S. 383 f. Benjamin zitiert Bertolt Brecht, Der Dreigroschenprozeß, in: Gesammelte Werke Bd. 18, Frankfurt am Main 1967, S. 161 f.: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. Eine Fotografie der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ›etwas aufzubauen‹, etwas ›Künstliches‹, ›Gestelltes‹. Es ist also ebenso tatsächlich Kunst nötig. Aber der alte Begriff der Kunst, von Erlebnis her, fällt eben aus. Denn auch wer von der Realität nur das von ihr Erlebbare gibt, gibt sie selbst nicht wieder. Sie ist längst nicht mehr im Totalen erlebbar.« Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: GS Bd. V·1, S. 46 f. Benjamin, Aufzeichnungen zu Über den Begriff der Geschichte, in: GS Bd. I·3, S. 1236. Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: GS Bd. V·1, S. 55. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1035. Vgl. auch hier Fußnote 48, das Zitat GS Bd. V·1, S. 575. Vgl. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 570: »In den Gebieten, mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Der Text ist der langnachrollende Donner.« Antonio Gramsci, Kulturprobleme. Fetischismus, § 13 (Fünfzehntes Heft), Gefängnishefte Bd. 7 (12. bis 15. Heft), hg. von Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug und Peter Jehle, Hamburg und Berlin 1996, S. 1730. Gramsci, Kulturprobleme. Fetischismus, § 13 (15. Heft), Gefängnishefte Bd. 7, a.a.O., S. 1731. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 87. Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 86 f. Aus: Allegra, Heft 5, Mai 2003 S. 100. Aus: Intro, Nr. 87, September 2001, S. 16. Hermann Schweppenhäuser, Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens, Lüneburg 1992, S. 24 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1255 f. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 574.

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Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 573 f. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 495 f. Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: GS Bd. V·1, S. 59. Vgl. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1058: »Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wendung des Eingedenkens. Es ist ein eminent durchkomponierter Umschlag der Welt des Träumers in die Welt der Wachen.« Benjamin, Notizen zu den Thesen über den Begriff der Geschichte, in: GS Bd. I·3, S. 1233. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main 1974, S. 169. Arthur C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1984, S. 207. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen, a.a.O., S. 315. Diedrich Diederichsen, Die Simpsons der Gesellschaft, in: Michael Gruteser, Thomas Klein und Andreas Rauscher (Hg.), Subversion zur Prime-Time. Die Simpsons und die Mythen der Gesellschaft, Marburg 2002, S. 18 f. Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, a.a.O., S. 176. Bourdieu, Roger Chartier u.a., Das Lesen: eine kulturelle Praxis, in: Bourdieu, Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Politik. Schriften zu Politik und Kultur Bd. 4, Hamburg 2001, S. 136. Bourdieu, Chartier u.a., Das Lesen: eine kulturelle Praxis, a.a.O., S. 138. P. Terni, Memorandum, zitiert nach: Hall, Kodieren/Dekodieren, in: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 104. Hall, Kodieren/Dekodieren, a.a.O., S. 110. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: GS Bd. I·2, S. 703. Vgl. dazu: Wolfgang Bock, Walter Benjamin – Die Rettung der Nacht. Sterne, Melancholie und Messianismus, Bielefeld 2000. Benjamin, Lehre vom Ähnlichen, in: GS II·1, S. 208 f. Michael Opitz, Ähnlichkeit, in: Ders. und Erdmut Wizisla (Hg.), Benjamins Begriffe, Frankfurt am Main 2000, S. 41: »Das Lesen von sprachlichen Zeichen basiert für Benjamin auf einem vergleichbaren Verfahren. Denn erst aus dem, was die Zeichen mitteilen, eröffnet sich, was sie als Vexierbilder verwahren, ohne im Gemeinten der Mitteilung aufzugehen.« Benjamin, Das dialektische Bild, in: GS I·3, S. 1238. A) Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW Bd. 3, S. 7: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« B) Susan Sontag, Gegen Interpretation, in: Dies., Kunst und Antikunst, Frankfurt am Main 1991, S. 22: »Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst.« Benjamin, Das Passagen-Werk, GS V·1, S. 578.

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84 Vgl. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 560. »In der Spur werden wir der Sache habhaft.« 85 Georg Simmel, Das Abenteuer, in: Ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne, Berlin 1998, S. 27. 86 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 527. 87 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1981, S. 178 f. 88 Bloch, Erbschaft dieser Zeit, a.a.O., S. 374 f. 89 Bloch, Erbschaft dieser Zeit, a.a.O., S. 20. 90 Bloch, Erbschaft dieser Zeit, a.a.O., S. 375 f. 91 Olaph-Dante Marx, Die Auflösung der Welt, in: Ders., Diedrich Diederichsen, Dick Hebdige, Schocker. Stile und Moden der Subkultur, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 168. 92 Marx, Die Auflösung der Welt, a.a.O., S. 166 f. 93 John Clarke, Stil, in: Ders., Phil Cohen, Paul Corrigan et al., Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokation, Frankfurt am Main 1981, S. 138. 94 Alle nachfolgenden Zitate aus: Hebdige, [Abschnitt 7], in: Ders., Marx, Diederichsen, Schocker, a.a.O., S. 92 ff. 95 Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main S. 130. 96 Man beachte hier die Nähe zur Metaphorik, die Marx zur Erklärung des Fetischcharakters der Ware benutzt: Licht, Auge, Sehnerv. Es handelt sich hier um die sinnlich-praktische Dialektik von Eindruck und Ausdruck. 97 Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, a.a.O., S. 131. 98 Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, a.a.O., S. 131 f. 99 Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, a.a.O., S. 133. 100 Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, a.a.O., S. 133. 101 Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, a.a.O., S. 134. 102 Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, a.a.O., S. 134 f. 103 Vgl. Bloch, Wieder dunkles Jetzt, aber darin anschlagendes neues Licht, in: Philosophische Aufsätze zu objektiven Phantasie, Frankfurt am Main 1985, S. 81 f.: »Wie die Netzhaut an der Stelle, wo der Sehnerv in sie eintritt, zur Lichtwahrnehmung unfähig ist, den blinden Fleck hat, so liegen das erlebende Subjekt und das von ihm Erlebte während des Erlebens selber in Nacht.« 104 Bernadette la Hengst, Der beste Augenblick in deinem Leben ist gerade eben jetzt gewesen, Trikont 2002. 105 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1032.

Pop Mythos Pop. Zur Konstruktion von Subversion (Eine gekürzte, erste Fassung erschien in: testcard #12, Mainz 2003, S. 154–159.) 1 Heinz Paetzold, Cassirer zur Einführung, Hamburg 1993, S. 43. 2 Ernst Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, Darmstadt 1994, S. 175.

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Cassirer, Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, a.a.O., S. 175 f. Paetzold, Cassirer zur Einführung, a.a.O., S. 47. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910, S. 371. Cassirer, Mythus des Staates. Philosophische Grundlagen politischen Verhaltens, Frankfurt am Main 1985, S. 49. Heinz Geuen und Michael Rappe (Hg.), Pop & Mythos. Pop-Kultur · Pop-Ästhetik · Pop-Musik, Schliengen 2001, S. 8. Vgl. Peter Wicke, Von Mozart zu Madonna. Eine Kulturgeschichte der Popmusik, Frankfurt am Main 2001. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 270. Noch schärfer formuliert es Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz: »Der von ihm [i.e. dem ›Filmkapital‹] geförderte Starkultus konserviert nicht allein jenen Zauber der Persönlichkeit, welcher schon längst im fauligen Schimmer ihres Warencharakters besteht, sondern sein Komplement, der Kultus des Publikums, befördert zugleich die korrupte Verfassung der Masse, die der Faschismus an die Stelle ihrer klassenbewußten zu setzen sucht.« (GS Bd. I·2, S. 452) Und in der dritten Fassung des Aufsatzes heißt es dann: »Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im faulen Zauber ihres Warencharakters besteht. Solange das Filmkapital den Ton angibt, läßt sich dem heutigen Film im allgemeinen kein anderes revolutionäres Verdienst zuschreiben, als eine revolutionäre Kritik der überkommenen Vorstellung von Kunst zu befördern.« (GS Bd. I·2, S. 492) Leo Löwenthal, Falsche Propheten. Studien zum Autoritarismus, Schriften Bd. 3, Frankfurt am Main 1990, S. 126 f. Auch darin dürfte der Doppelcharakter des bürgerlichen Kulturbegriffs liegen, einerseits Kunst (= geistig) zu sein, andererseits eine Form der Alltagspraxis (= körperlich). Spätestens die Pop-Art überschreitet dies durch die Einlösung des Avantgardekonzepts, Kunst in den Alltag zu überführen und das alltägliche Leben zur Kunst zu erklären (= Ornamentalisierung und Ästhetisierung). Susan Buck-Morss, Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das PassagenWerk, Frankfurt am Main 1993, S. 104. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 150. Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 92. Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 96 ff. Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 130. Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 131. Diedrich Diederichsen, Die Auflösung der Welt – Vom Ende und Anfang, in: Ders., Dick Hebdige und Olaph-Dante Marx, Schocker. Stile und Moden der Subkultur, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 167 f. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 55.

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Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1217. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1233. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1223. In dieser Hinsicht lässt sich sagen, wenn Massenkultur nach Löwenthal die Psychoanalyse verkehrt herum ist, dann ist Pop die Psychotherapie rückwärts. Vgl. Bertolt Brecht, Der Rundfunk als Kommunikationsapparat, in: Gesammelte Werke Bd. 18, hg. v. Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1967, S. 128: »Nicht die Öffentlichkeit hatte auf den Rundfunk gewartet, sondern der Rundfunk wartete auf die Öffentlichkeit … Man hatte plötzlich die Möglichkeit, allen alles zu sagen, aber man hatte, wenn man es sich überlegte, nichts zu sagen.« Claude Lévi-Strauss, Mythologica IV. Der nackte Mensch Bd. 2, Frankfurt am Main 1975, S. 755 f. Lévi-Strauss, Mythologica IV, a.a.O., S. 756. Lévi-Strauss, Mythologica IV, a.a.O., S. 757. Vgl. dazu auch den Abschnitt »Stil als Homologie« in: Dick Hebdige, Subculture – Die Bedeutung von Stil, in: Ders., Diederichsen und Marx, Schocker, a.a.O., S. 105 ff. Lévi-Strauss, Mythologica IV, a.a.O., S. 758. Lévi-Strauss, Mythologica IV, a.a.O., S. 759. Lévi-Strauss, Mythologica IV, a.a.O., S. 767. Burghart Schmidt, Postmoderne – Strategien des Vergessens. Ein kritischer Bericht, Frankfurt am Main 1994, S. 118. Georg Wilhelm Friedrich Hegel [Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Hölderlin], Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Hegel, Werke Bd. 1, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt am Main 1971, S. 236. Pierre Bourdieu, Interventionen 1961-2001. Band 1: 1961-1980, Hamburg 2003, S. 100. Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 135. Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 134 f. Barthes, Mythen des Alltags, a.a.O., S. 138. Vgl. dazu Ernst Blochs Versuch einer Rettung des Mythos durch surrealistische Kolportage, in: Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt am Main 1981, S. 367 ff.; sowie Benjamin, Der Sürrealismus, in: GS Bd. II·1, S. 295 ff. Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973, S. 126. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt am Main 1968, S. 160 f. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O., S. 168. Marcuse, Konterrevolution und Revolte, a.a.O., S. 126. Kodwo Eshun, Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction, aus dem Englischen von Dietmar Dath, Berlin 1999, S. 37 f., 40 f., 53 f., 144 f. und 189 f.

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43 Marcuse, Musik von anderen Planeten, in: Ders., Nachgelassene Schriften Bd. 2: Kunst und Befreiung, hg. und mit einem Nachwort von Peter-Erwin Jansen, Lüneburg 2000, S. 93 f. 44 Benjamin, Agesilaus Santander [Erste Fassung], in: GS Bd. VI, S. 521. 45 Wolfgang Bock, Walter Benjamin – Die Rettung der Nacht. Sterne, Melancholie und Messianismus, Bielefeld 2000, S. 131. 46 Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·2, S. 1014. 47 Vgl. noch einmal Buck-Morss, Dialektik des Sehens, a.a.O., S. 308 ff. Die beiden Stücke ›Saturday Night‹ und ›Stars in your Eyes‹ finden sich auf: Herbie Hancock, Monster, Sony 1980 48 Eshun, Heller als die Sonne, a.a.O., S. 80; Holsts ›Planeten‹ kommen in ›2001‹ nicht vor; interessant in diesem Zusammenhang: während im Film die Forschungsreise der Discovery zum Jupiter geht, führt sie im später geschriebenen Roman von Arthur C. Clarke zum Saturn. 49 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O., S. 195. 50 Vgl. Eshun, Heller als die Sonne, a.a.O., S. 7 ff. 51 »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nichtanschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt. Hier handelt es sich nicht um bloß ›perzeptive‹ Gegebenheiten, denen später irgendwelche ›apperzeptive‹ Akte aufgepropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden. Vielmehr ist es die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört. In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie zugleich ein Leben ›im‹ Sinn. Sie wird nicht erst nachträglich in diese Sphäre aufgenommen, sondern sie erscheint gewissermaßen als in sie hineingeboren. Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinn-Ganzes, soll der Ausdruck ›Prägnanz‹ bezeichnen.« (Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis, Darmstadt 1994, S. 235) Das Konzept der Prägnanz, buchstäblich Schwangerschaft, entlehnt Cassirer der Geschichtstheorie Leibniz’. 52 Diedrich Diederichsen, Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt, Köln 1999, S. 272 ff. 53 Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 779. 54 Diederichsen, Der lange Weg nach Mitte, a.a.O., S. 68. 55 Diederichsen, Der lange Weg nach Mitte, a.a.O., S. 64. 56 Diederichsen, Der lange Weg nach Mitte, a.a.O., S. 65. 57 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 11. 58 Vgl. Fredric Jameson, Spätmarxismus. Adorno oder Die Beharrlichkeit der Dialek-

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tik, übers. von Michael Haupt, Hamburg und Berlin 1991, S. 155 ff., insbesondere S. 182. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 52, 53, 54. Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, in: Ders., Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, München 1984, S. 152 (6. Brief ). Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 158 f. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 86. Diederichsen, Der lange Weg nach Mitte, a.a.O., S. 72. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 78. Robert Ranke-Graves, Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 681. Benjamin, Das Passagen-Werk, GS Bd. V·1, S. 612. In dieser Hinsicht wäre sowieso auf die Konvergenz von Kultur- und Sexindustrie zu verweisen. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O., S. 194. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, a.a.O., S. 192. Vgl. {Walt Disney}, Phantomias contra Schwarze Maske, in: Lustiges Taschenbuch Nr. 83, Adolf Kabatek (Hg.), Redaktion: Dorit Kinkel, S. 15 ff. Mark Terkessidis und Tom Holert, Einführung in den Mainstream der Minderheiten, in: Dieselben (Hg.), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin und Amsterdam 1996, S. 5. Terkessidis und Holert, Einführung in den Mainstream der Minderheiten, a.a.O., S. 19. Terkessidis und Holert, Einführung in den Mainstream der Minderheiten, a.a.O., S. 17. Terkessidis und Holert, Einführung in den Mainstream der Minderheiten, a.a.O., S. 18. Diederichsen, Der Boden der Freundlichkeit, in: Die Beute. Neue Folge – Politik und Kunst, Heft 1 (1998), S. 50 f. Diederichsen, Der Boden der Freundlichkeit, a.a.O., S. 51. Diederichsen, Der Boden der Freundlichkeit, a.a.O., S. 51. Diederichsen, Der Boden der Freundlichkeit, a.a.O., S. 53.

»Regt Euch jetzt bitte nicht künstlich auf!« Anmerkungen zur Poplinken – Maxiversion & Remixe 1 2

Benjamin, Der Autor als Produzent, in: GS Bd. II·2, S. 684. Andreas Fanizadeh, Bowling in Patagonien, Kegeln in Berlin. Antifaschismus, Kunst, Alltagspraxis, in: Die Beute. Neue Folge – Politik und Kunst, Heft I (1998), S. 122 f.

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Fanizadeh, Bowling in Patagonien, Kegeln in Berlin, a.a.O., S. 125. Adorno, Résumé über Kulturindustrie, in: GS Bd. 10·1, Frankfurt am Main 1997, S. 341 f. Christoph Gurk, Wem gehört die Popmusik?, in: Tom Holert und Mark Terkessidis (Hg.), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin 1996, S. 22. Gurk ordnet der Kulturindustrie-Analyse Adornos und Horkheimers schematisch einige Grundthesen zu, die allerdings den dialektischen Charakter der kritischen Theorie der Kulturindustrie wegstreichen; zudem sind die Unterschiede zwischen dem, was Gurk »Passivitätsthese«, »Manipulationsthese«, Konformitätsthese« und »Kulturimperialismusthese« nennt, keineswegs so groß; die »Thesen« verweisen vielmehr auf den strukturell widersprüchlichen Zusammenhang der Kulturindustrie selbst. Dieter Prokop, Der Kampf um die Medien. Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung, Hamburg 2001, S. 436. Prokop, Der Kampf um die Medien, a.a.O., S. 438. Prokop, Der Kampf um die Medien, a.a.O., S. 439. Prokop, Der Kampf um die Medien, a.a.O., S. 439. Johann Heinrich Pestalozzi, Figuren zu meinem ABC-Buch, in: Ders., Auswahl aus seinen Schriften, hg. von A. Brühlmeier, Bd. 1, Bern und Stuttgart 1977, S. 286. Leo Löwenthal, Literatur und Massenkultur, Schriften Bd. 1, Frankfurt am Main 1990, S. 30. Löwenthal, Literatur und Massenkultur, a.a.O., S. 32. Löwenthal, Literatur und Massenkultur, a.a.O., S. 32. Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Leipzig o.J., S. 6 ff. Löwenthal, Literatur und Massenkultur, a.a.O., S. 33. Bertolt Brecht, Zur Theorie des Lehrstücks, in: Werke Bd. 17, Frankfurt am Main 1967, S. 1024. Brecht, Zu ›Die Rundköpfe und die Spitzköpfe‹, in: Werke Bd. 17, a.a.O., S. 1083. Brecht, Kleines Privatissimum für meinen Freund Max Gorelik, in: Werke Bd. 15, a.a.O., S. 469 f. Brecht, Kleines Privatissimum für meinen Freund Max Gorelik, a.a.O., S. 471. Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: Werke Bd. 16, S. 677. Mercedes Bunz, Ein Kuchen für Monsieur Foucault, in: De:Bug 64, Oktober 2002, S. 43. Sven Opitz, Judith Butler. Das Subjekt und die Macht, in: Intro, November 2001, S. 58 Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996, S. 168 f. Ingrid Beyer, Neue Kunstbedürfnisse und neue Anforderungen an die bildschaffende Phantasie des Künstlers, in: Dies. und Klaus Jarmatz (Hg.), Der Fortschritt in der Kunst des sozialistischen Realismus. Analysen und Aufsätze, Berlin (Ost) 1974, S. 114.

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25 Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt am Main 1984, S. 31. 26 Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, a.a.O., S. 134. 27 Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, a.a.O., S. 251. 28 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt am Main 1985, S. 381. Habermas kann allerdings dieser Ontologie der gesellschaftlichen Praxis nicht folgen, weil er Tätigkeit nur als kommunikatives Handeln (Sprechen) oder strategisches Handeln (Arbeiten) kennt. 29 Peter Brückner, Das Abseits als sicherer Ort. Kindheit und Jugend zwischen 1933 und 1945, Berlin 1980, S. 88 (Fußnote). 30 Brückner, Das Abseits als sicherer Ort, a.a.O., S. 125. 31 Brückner, Das Abseits als sicherer Ort, a.a.O., S. 125. 32 Gerd Ueding, Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage, Frankfurt am Main 1973, S. 63. 33 Ueding, Glanzvolles Elend, a.a.O., S. 64. 34 Vgl. Fredric Jameson, Lust und Schrecken der unaufhörlichen Verwandlung aller Dinge: Brecht und die Zukunft, Berlin und Hamburg 1999, S. 36 f. 35 Vgl. Jameson, Lust und Schrecken der unaufhörlichen Verwandlung aller Dinge, a.a.O., S. 79. 36 Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: Werke Bd. 16, a.a.O., S. 680 f. 37 Gabriele Klein und Malte Friedrich, Globalisierung und die Performanz des Pop, in: Klaus Neumann-Braun, Axel Schmidt und Manfred Mai (Hg.), Popvisionen. Links in die Zukunft, Frankfurt am Main 2003, S. 83. 38 Klein, Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie, Hamburg 1999, S. 283. 39 Klein und Friedrich, Globalisierung und die Performanz des Pop, a.a.O., S. 85. 40 Klein und Friedrich, Globalisierung und die Performanz des Pop, a.a.O., S. 98. 41 Klein und Friedrich, Globalisierung und die Performanz des Pop, a.a.O., S. 99. 42 Klein und Friedrich, Globalisierung und die Performanz des Pop, a.a.O., S. 99. 43 Herbert Marcuse, Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, in: Ders., Kultur und Gesellschaft 2, Frankfurt am Main 1970, S. 154 f. 44 Marcuse, Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, a.a.O., S. 155. 45 Marcuse, Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, a.a.O., S. 155. 46 Marcuse, Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, a.a.O., S. 158. 47 Marcuse, Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, a.a.O., S. 159 f. 48 Marcuse, Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, a.a.O., S. 159. 49 Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973, S. 126. 50 Marcuse, Konterrevolution und Revolte, a.a.O., S. 127. 51 Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik II. Adorno – Marcuse, Düsseldorf 1974, S. 133. 52 Zit. n.: Gert Selle, Ideologie und Utopie des Designs, Köln 1973, S. 91. Selle

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macht hier auf die grundsätzliche ästhetisch-politische, revolutionäre Affinität zwischen Mondrian, van Doesburg (de Stijl) und Marcuse aufmerksam, a.a.O., S. 90 ff. Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt am Main 1969, S. 46 f. Marcuse, Versuch über die Befreiung, a.a.O., S. 54. Paetzold, Neomarxistische Ästhetik II. Adorno – Marcuse, a.a.O., S. 135. Paetzold, Neomarxistische Ästhetik II. Adorno – Marcuse, a.a.O., S. 136. Dieses Motiv einer radikalen materialistischen Ästhetik oder eines revolutionären ästhetischen Materialismus ist im Übrigen, gerade in der Version der kritischen Theorie Marcuses, auf die Paetzold hier rekurriert, bereits bei Schiller angelegt. Eine Kulturlinke müsste an ein antiautoritäres Konzept ästhetischer Erziehung anschließen. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW Bd. 1, S. 385.

Die Rückkehr der Kulturindustriethese als Dancefloorversion. Episode I (Vollständig überarbeitete und ergänzte Fassung meines Beitrags in: jour-fixe-initiative berlin (Hg.), Kritische Theorie und Poststrukturalismus, Hamburg 1999, S. 53–62.) 1 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 11. 2 Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW Bd. 13, S. 9. 3 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 16. 4 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 141 f. – Man vergleiche Marxens Bild von der »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft« in der ›Kritik der Politischen Ökonomie‹. 5 Horkheimer, Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 1 (1932), S. 5. 6 Das ist im Prinzip die Grundthese meiner Auseinandersetzung mit der Kulturindustriekritik Adornos und Horkheimers in: Behrens, Pop Kultur Industrie. Zur Philosophie der populären Musik, Würzburg 1996. 7 Siegfried Kracauer, Brief an Leo Löwenthal, 27. Oktober 1958, in: Löwenthal und Kracauer, In steter Freundschaft. Briefwechsel, 1921-1966, Springe 2003, S. 212. 8 Vgl. Adorno, Résumé über Kulturindustrie, in: GS Bd. 10·1, S. 337 ff. 9 Vgl. Adorno, Das Schema der Massenkultur, in: GS Bd. 3, S. 299 ff. 10 Vgl. Michael Kausch, Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie der Massenmedien, Frankfurt am Main 1988. 11 Vgl. Eckhard Tramsen, Massenkultur, what’s that?, in: Frithjof Hager und Hermann Pfütze (Hg.), Das unerhört Moderne. Berliner Adorno-Tagung, Lüneburg 1990, S. 123 ff. 12 Vgl. Detlev Claussen, Fortzusetzen. Die Aktualität der Kulturindustriekritik Ador-

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nos, in: Hager und Pfütze (Hg.), Das unerhört Moderne. Berliner Adorno-Tagung, a.a.O., S. 134 ff. Vgl. Sabine Horst, Versuch, den populären Film zu verstehen. Kino, Kritik und Kulturindustrie heute, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 2. Jg., Heft 3 (1996), S. 53 ff. Vgl. Adorno (Pseudonym: Hektor Rottweiler), Über Jazz, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 5 (1936), S. 235 ff. Vgl. Adorno (unter Mitarbeit von mit George Simpson), On Popular Music, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 9 (1941), S. 17 ff. Vgl. Heinz Steinert, Die Entdeckung der Kulturindustrie. Oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik nicht ausstehen konnte, Wien 1992. Vgl. Hanns Eisler, Gesellschaftliche Grundfragen der modernen Musik, in: Ders., Materialien zu einer Dialektik der Musik, Leipzig 1976, S. 171 ff. Adorno und Eisler, Komposition für den Film, in: Adorno, GS Bd. 15. Zu dieser wahrscheinlich 1944 fertig gestellten Schrift einige Bemerkungen: Adorno verleugnet bei der Herausgabe des Buches 1947 in englischer Sprache seine Mitautorenschaft, »weil Eisler wegen seines kommunistischen Bruders in eine politische Affäre verwickelt war.« (Rolf Wiggershaus, Th. W. Adorno, Frankfurt am Main 1987, S. 23) 1945 bemühte sich Adorno bei dem Verleger Guggenheimer um die Neuherausgabe der ›Zeitschrift für Sozialforschung‹; ebenfalls sollten in diesem Rahmen das Wagner-Buch, ›Komposition für den Film‹ und die ›Philosophischen Fragmente‹ (›Dialektik der Aufklärung‹) erscheinen. In ›Zum Erstdruck der Originalfassung‹ heißt es: »Ich hatte mit jenen [politischen] Aktivitäten nichts zu tun und wußte nichts von ihnen. Eisler und ich hegten keine Illusionen über unsere politischen Meinungsverschiedenheiten. Wir … vermieden es, Politisches zu diskutieren. Keinen Anlaß hatte ich, Märtyrer einer Sache zu werden, die nicht die meine war und nicht die meine ist … Damals schon zur Rückkehr nach Europa entschlossen, fürchtete ich alles, was sie hätte behindern können. Hanns Eisler zeigte dafür volles Verständnis.« (Komposition für den Film, GS Bd. 15, S. 144) Die Herausgeber der Eisler-Schriften gehen davon aus, dass sich die Fertigstellung – vor allem die Übersetzungsarbeit – des Buches über 1944 hinauszog, nämlich bis 1946 andauerte; Adorno hatte sich zu dieser Zeit schon von seiner Autorenschaft zurückgezogen. Eisler, der 1962 starb, erlebte die Neuausgabe durch Adorno, die 1967 erschien, nicht mehr. (Vgl. Eisler, Schriften Addenda, Leipzig 1983, S. 134 ff. und passim.) Vgl. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 157. Adorno und Eisler, Komposition für den Film, GS Bd. 15, S. 11. Vgl. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 157. Adorno und Eisler, Komposition für den Film, GS Bd. 15, S. 12. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, GS Bd. 4, S. 27. Horkheimer, Philosophie als Kulturkritik, in: Ders., Sozialphilosophische Studien.

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Aufsätze, Reden und Vorträge 1930 - 1972, hg. von Werner Brede, Frankfurt am Main 1981, S. 107. Zit. n. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 1988, S. 360. Dieser Satz ist in der Buchausgabe der ›Dialektik der Aufklärung‹ gestrichen. Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main 1986, S. 11. Vgl. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 17. Adorno und Eisler, Komposition für den Film, in: GS Bd. 15, S. 13. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Erste Fassung), in: GS Bd. I·2, S. 435. Adorno, Résumé über Kulturindustrie, in: GS Bd. 10·1, S. 337. Adorno, Musikalische Warenanalysen, in: GS Bd. 16, S. 295. Adorno, Musikalische Warenanalysen, in: GS Bd. 16, S. 295. Adorno, Résumé über Kulturindustrie, in: GS Bd. 10·1, S. 345. Annette Weber, Miniaturstaat Rave-Nation, in: Tom Holert und Mark Terkessidis (Hg.), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin und Amsterdam 1996, S. 52. Vgl. Günther Jacob, Eiszeit. Anmerkungen zu dem Buch ›Mainstream der Minderheiten‹ …, in: testcard. beiträge zur popgeschichte, Heft 4 (1997), S. 210. Jacob brachte denselben Vorwurf übrigens auch schon gegen Ebermann und Trampert in seinem Beitrag: Self-Fulfilling Prophecy. Popmoderne Politik, RetroModen und radikale Politik, in: Spezial Heft 103 (1996), S. 26. Adorno, Orpheus in der Unterwelt, in: GS Bd. 19, S. 554. Vgl. Christoph Gurk, Wem gehört die Popmusik? Die Kulturindustriethese unter den Bedingungen postmoderner Ökonomie, in: Holert und Terkessidis, Mainstream der Minderheiten, a.a.O., S. 20 ff. Vgl. Rolf Johannes, Das ausgesparte Zentrum. Adornos Verhältnis zur Ökonomie, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt 1995, S. 41 ff. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 185. Vgl. Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte, Frankfurt am Main 1973, S. 137 u. 140. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt und Neuwied 1974. Vgl. Oskar Negt und Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 1972. Adorno, Einleitung zum ›Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie‹, in: GS Bd. 8, S. 327.

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Schwierigkeiten einer Philosophie der Popkultur 1 2 3 4 5 6

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Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung, Hamburg 1996, S. 148 f. Martin Büsser, Sozialambient, in: Testcard. Beiträge zur Popgeschichte, Heft 5 (1998), S. 243. Was wir wollen: Genuss statt Geschmack; Ficken statt Erotik etc. Benjamin, Zur Literaturkritik. Programm der literarischen Kritik, in: GS Bd. VI·1, S. 168. Arnold Hauser, Soziologie der Kunst, München 1983, S. 684. Ten Years on Morningside Heights: A Report on the Institute’s History, 19341944, zit. n. Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923 - 1950, Frankfurt am Main 1985, S. 213. Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main 1986, S. 55.

Shoppen und Tanzen. Gegen den Technoremix der Cultural Studies 1

Simon Frith, Das Gute, das Schlechte und das Mittelmäßige. Zur Verteidigung der Populärkultur gegen den Populismus, in: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg 1999, S. 195. 2 John Fiske, Lesarten des Populären. Cultural Studies Bd. 1, aus dem Engl. von Christina Lutter, Markus Reisenleitner und Stefan Erdei, Wien 2000, S. 26 ff. 3 Gabriele Klein, Electronic Vibration. Pop Kultur Theorie, Hamburg 1999, S. 76. Zusatz 2003: Heute, wo die Loveparade sich vollends als das offenbart, was sie schon immer war, nämlich der peinlichste Ausdruck des popkulturellen Konformismus, ist freilich die Kritik an Klein einfacher zu haben. Bemerkenswert ist allerdings, dass Klein noch immer daran festhält, die »Techno-Szene« als »Beispiel für [eine] Art von Politik im Feld des Lokalen« zu deuten. Vgl. Klein und Malte Friedrich, Globalisierung und die Performanz des Pop, in: Klaus Neumann-Braun, Axel Schmidt und Manfred Mai, Popvisionen. Links in die Zukunft, Frankfurt am Main 2003, S. 98. 4 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 201. 5 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 152. 6 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 20. 7 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 21. 8 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 22. 9 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 123. 10 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 136.

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11 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 202. 12 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 9. 13 Vgl. Behrens und Klein, ›Sprechen über Pop, darum geht es‹, in: [sic]korski Nr. 4/1999, S. 52. 14 Fiske, Politik. Die Linke und der Populismus, in: Roger Bromley, Udo Göttlich, Carsten Winter (Hg.), Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, a.a.O., S. 259 und S. 271 f. 15 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 236. 16 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 76. 17 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 76. 18 Vgl. Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 41. 19 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 41. 20 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 155. 21 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 25. 22 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 196. 23 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 233. 24 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 213. 25 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 24. 26 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 42. 27 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 42. 28 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 43. 29 Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., S. 44. 30 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 203. 31 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 298. 32 Vgl. Fiske, Lesarten des Populären, S. 236 ff. 33 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 282. 34 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 283. 35 Yvonne Fritzsche, Moderne Orientierungsmuster: Inflation am ›Wertehimmel‹, in: Arthur Fischer et al. (Hg.), 13. Shell Jugendstudie, Opladen 2000, S. 93. 36 Zit. n. Fischer et al. (Hg.), 13. Shell Jugendstudie, a.a.O., S. 216. 37 Fritzsche, Moderne Orientierungsmuster: Inflation am ›Wertehimmel‹, a.a.O., S. 94. Und bei Tocotronic heißt es deshalb: »1 zu 1 ist jetzt vorbei«. 38 Zit. n. Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 73. 39 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 283. 40 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 191. 41 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 164. 42 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 169. 43 Fiske, Politik. Die Linke und der Populismus, a.a.O., S. 237. 44 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 284 ff. 45 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 166 f.

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46 Vgl. Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 120; zahlreiche Beispiele bei Fiske, Lesarten des Populären, a.a.O., zum Beispiel seine Untersuchung über den Strand, S. 56 ff. 47 Frith, Das Gute, das Schlechte und das Mittelmäßige, a.a.O., S. 197. 48 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 200. 49 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 139. 50 Klein, Electronic Vibration, a.a.O., S. 300.

»Alles geht kaputt … und ich lach, ha, ha, ha!« Humor in der Kulturindustrie (Erste Fassung in: testcard #11, Mainz 2002, S. 6–15; überarbeitet und ergänzt.) 1 In diesem Sinne sprach Wolfgang Welsch mit etwas übertriebener freier Assoziation davon, dass im Wort der »Moderne« ja auch »Moder« stecke; vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1988, S. 179. 2 Arnold Hauser sieht in Shakespeare den Beginn der modernen Tragödie, in Cervantes die Entstehung des Humors. »Erst der Manierismus lacht unter Tränen und vernichtet nicht alles, was er lächerlich macht. Erst jetzt gewinnt das Bild des Lebens eine Komplexität und innere Gegensätzlichkeit, an die man nicht anders als mit den paradoxen Ausdrucksformen der Tragödie und des Humors heranzukommen vermag … Der Humor kann die ärgsten Unzulänglichkeiten eines Menschen enthüllen und ihn trotzdem entschuldigen, ja erlauben, ihn zu lieben, womöglich zu rühmen und zu preisen.« (Hauser, Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance, München 1979, S. 140 f.) Sowohl die moderne Tragödie als auch den Humor deutet Hauser als Ausdrucksformen der Entfremdung des neuzeitlichen Subjekts: »Der Humor findet sich mit der Entfremdung ab, die die Tragödie zu akzeptieren außerstande ist, ist aber nicht weniger abhängig von ihr, und drückt, ebenso wie die Tragödie, das Lebensgefühl einer von ihr beherrschten Generation aus.« (A.a.O., S. 140) 3 Das so genannte Borkumlied ist ein antisemitisches Lied deutscher Urlauber in der Weimarer Republik. Vgl. dazu Michael Wildt, »Der muß hinaus! Der muß hinaus!« Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern, in: Mittelweg 36, Heft 4 (August/September 2001), 10. Jg., S. 2 ff. sowie: Frank Bajohr, »Unser Hotel ist judenfrei«. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003. 4 Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, Frankfurt am Main 1994, S. 10. 5 Norbert Nagler, Jacques Offenbachs musikalische Utopie, in: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hg.), Musikkonzepte Bd. 13: Jacques Offenbach, München 1980, S. 100. 6 Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, in: GS Bd. V·1, S. 50.

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Vgl. Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, S. 86. Vgl. dazu: Martin Jay, Downcast Eyes. The Denigration of Vision in TwentiethCentury French Tought, Berkeley, Los Angeles und London 1994, S. 115; Jay rekurriert auf einen Beitrag von Terry Castle, Phantasmagoria: Spectral Technology and the Metaphorics of Modern Reverie, in: Critical Inquiry 15, 1 (Herbst 1988), S. 26 ff. Vgl. ferner meine Ausführungen in: Das unbewußte Sehen und das Unbewußte sichtbar machen, in: Behrens, Die Ungleichzeitigkeit des realen Humanismus. Konsequenzen, Experimente und Montagen in kritischer Theorie, Dartford und Cuxhaven 1996, S. 121. Neuerdings: Esther Leslie, Hollywood Flatlands. Animation, Critical Theory and The Avant-Garde, London und New York 2002, S. 1 ff. Sie beginnt ihre kritische Theorie des Trickfilms mit dem Cartoon ›Fantasmagorie‹ von Emile Cohl: »The name of Cohl’s cartoon – ›Fantasmagorie‹ – invoked a type of optical amusement that was just then slipping into obsolescence, as film displaced it. Phantasmagoric machineries were popular nineteenth-century spectacles that projected a cortège of spectral bodies before spectators’ believingdisbelieving eyes. Phantasmagoric representations revelled in their technologically enabled ability to contrive a fraudulent presence.« (S. 2 f.) Kurt Tucholsky, Witze, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 307 f. Tucholsky meint die 1896 gegründete Zeitschrift ›Jugend‹, Namengeberin des Jugendstils. Es gibt allerdings Filme (aus den siebziger und achtziger Jahren, die Jodelsexfilme), die pornografisch und lustig sein wollen; sie sind beides nicht. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: GS Bd. 3, S. 162 f. Sigmund Freud, Der Humor, in: Ders., Studienausgabe Bd. IV, Frankfurt am Main 2000, S. 278. Novalis, Blüthenstaub, Schriften Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. v. Hans-Joachim Mähl, Darmstadt 1999, S. 239 f. Platon, Der Staat III, 388e; Übersetzung Schleiermacher, Reinbek bei Hamburg 1980. Aristoteles, Politik, 8. Buch, 1342a. Dieter Prokop, Der Kampf um die Medien. Das Geschichtsbuch der neuen kritischen Medienforschung, Hamburg 2001, S. 22. Aristoteles, Poetik, 1449a. Adorno, Ist die Kunst heiter?, in: GS Bd. 11, S. 603. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 172. Diese Logik verlängert sich im paranoiden Ressentiment: Freilich habe man nichts gegen Juden, aber etwas von den Zuschreibungen müsse ja wahr sein, sonst wären sie ja nicht so verfolgt worden, hätten nicht diesen Hass auf sich gezogen. Und: noch immer seien die Juden unbeliebt. – Um diese Logik des Rassismus und Antisemitismus zu durchbrechen, hat die Linke versucht, mit einer ironischen Überaf-

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firmation die Stereotypen auf die Spitze zu treiben; in ähnlicher Weise operiert der jüdische Humor; in der neueren Kunst: Martin Kippenberger. 21 Benjamin, Der Autor als Produzent, in: GS Bd. II·2, S. 699. 22 Adorno, Ist die Kunst heiter?, in: GS Bd. 11, S. 602.

Versuch einer kritischen Theorie des Glücks (Erste Fassung in: Krisis, Heft 26, Bad Honnef 2003, S. 84–104.) 1 Zuerst in Donald Duck Heft 8 (1967); hier zitiere ich nach der Übersetzung von Erika Fuchs: Donald Duck, Familie Duck auf Nordpolfahrt, in: Klassik Album Nr. 5, Stuttgart 1985, S. 3 ff. Alle nicht weiter nachgewiesenen Zitate sind aus dieser Geschichte. 2 Gustav Gans in: Weihnachten in Kummersdorf, Klassik Album Nr. 5, a.a.O., S. 22. 3 Karl Marx, Das Kapital, MEW Bd. 23, Berlin 1986, S. 85. 4 Neid und Missgunst nennt Christian Smukal die beiden Haupteigenschaften des Menschen in der vermeintlich hedonistischen Popkultur. 5 Vgl. Max Horkheimer, Forschungsprojekt über Antisemitismus, in: GS Bd. 4, insbesondere die »Typologie heutiger Antisemiten«, S. 394 ff.; sowie: ders., [Zur Psychologie des Antisemitismus], in: GS Bd. 12, S. 172 ff. 6 Grobian Gans, Die Ducks. Psychogramm einer Sippe, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 68. 7 Gans, Die Ducks, a.a.O., S. 68. 8 Gans, Die Ducks, a.a.O., S. 68. 9 Gans, Die Ducks, a.a.O., S. 66. Gustav Gans sei »in Wahrheit eine bedauernswerte Marionette, mit deren plötzlichem und endgültigem Verschwinden aus Entenhausen leider gerechnet werden muss.« (A.a.O., S. 69.) 10 Ich teile nicht die Ansicht von Gans, Die Ducks, a.a.O., S. 69, dass Gustav in der unablässigen Demonstration seines Glücks um Donald werbe. 11 Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno, GS Bd. 3, S. 168. 12 Da Donald ja in die ganze Misere geraten ist, weil er Gustav die Schatzkarte gefälscht hat, kann er sich wenig über das Fundstück freuen: »Ich hasse Karten!« 13 Wolfgang J. Fuchs und Reinhold C. Reitberger, Comics. Anatomie eines Massenmediums, Reinbek bei Hamburg 1973, S. 60. 14 Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 160. 15 Vgl. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt am Main 1972; ders., Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main 1984. Vgl. ferner meinen Beitrag: Tragische Zeichen. Zum Materialismus der symbolischen Formen – Konturen einer kritischen Kulturphilosophie, in: Roger Behrens, Kai Kresse und Ronnie Peplow (Hg.), Symbolisches Flanieren.

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Kulturphilosophische Streifzüge, Hannover 2001, S. 26 ff.; ergänzt und überarbeitet auch in: Behrens, Krise und Illusion. Beiträge zur kritischen Theorie der Massenkultur, Münster et al. 2003, S. 12 ff. Hier ist nicht der Ort, um diese Problematik zu diskutieren. Verwiesen sei auf den Sammelband: Dieter Hoß und Heinz Steinert (Hg.), Vernunft und Subversion. Die Erbschaft von Surrealismus und Kritischer Theorie, Münster 1997. Benjamin schätzt, als Kritiker des Surrealismus, gerade die Rolle des Lachens über die Comicfiguren anders, nämlich als Moment möglicher Befreiung ein. Sein Beispiel ist Micky Maus, vgl. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (erste Fassung), in: GS Bd. I·2, S. 462. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 82. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 82 f. (Das Zitat ist aus Homers ›Odyssee‹.) Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 81 f. Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis (und Poesis) hat allerdings materialistisch die Prozesshaftigkeit und das Leiden (Pathos) mitgedacht; implizit ist dies auch im dynamischen Verhältnis von Wirklichkeit als Möglichkeit. Vgl. zu diesem Komplex: Ernst Bloch, Subjekt – Objekt. Erläuterungen zur Hegel, Frankfurt am Main 1971, S. 438. Adorno, Resignation, in: GS Bd. 10·2, S. 796. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Hans im Glück, in: Dies., Kinder- und Hausmärchen Bd. 1, Stuttgart 1980, S. 407 ff. (alle nachfolgenden Zitate des Märchens aus dieser Ausgabe.) Viele der Duck-Geschichten sind gewissermaßen Familienerinnerungen, Erzählungen einer eigenen Mythologie, die bemerkenswerter Weise Donald selbst berichtet. Erstaunlich ist dabei die Freude mit der Donald eben auch von seinem Scheitern erzählt und es gelegentlich, auch wenn er leer ausgeht, zu seinem Vorteil auslegt. Die Formulierung eines »promesse de bonheur« geht auf Stendhal zurück und wird durch die ästhetische Theorie und Kritik der Kulturindustrie bei Adorno radikalisiert: Es geht um Schönheit als Glücksversprechen; Kunst ist Statthalter des Glücks, und dies umso radikaler, je mehr Glück im Kapitalismus zum bloßen Surrogat wird (vgl. Konrad Lotter, Schönheit als Glücksversprechen, Köln 2000). Eine dialektische Figur: einerseits bleibt in der Warentauschgesellschaft das Glücksversprechen unerfüllt, leer; andererseits ist es aber gerade dieses Versprechen von Glück, das – bei Adorno eben in der Kunst aufgehoben – auf die utopische Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft verweist. Kulturindustrie appelliert allerdings an die fantasielose Regression, die schon das Glücksversprechen fürs Glück selber nimmt und sich mit den Surrogaten, und sei’s der schnöde Rausch, zufrieden gibt. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 167.

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26 Irène Aghion, Claire Barbillon und François Lissarrague, Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst, Stuttgart 2000, S. 308. 27 Aghion, Barbillon und Lissarrague, Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst, a.a.O, S. 308. 28 Vgl. Alfred Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, in: ders., Drei Studien über Materialismus, München und Wien 1977, S. 183. 29 Vgl. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 147. 30 Vgl. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 149. 31 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 179; vgl. auch: Herbert Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 7 (1938), München 1980 (Reprint), S. 55 ff. 32 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 150. 33 Vgl. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 172. Dieses theoretische Reduktion des subjektiven Glücks findet sich schließlich nicht von ungefähr auch in der Liebe wieder – es heißt ebenso: Keine Liebe ohne Leiden. 34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, Frankfurt am Main 1970, S. 41 f. 35 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, S. 32. 36 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Neuwied und Berlin 1969, S. 248. 37 Adorno, Ästhetische Theorie, GS Bd. 7, S. 461. 38 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 190. 39 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 189. 40 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 512. 41 Marcuse, Kulturrevolution, in: ders., Nachgelassene Schriften Band 1: Das Schicksal der bürgerlichen Demokratie, Lüneburg 1999, S. 117. 42 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 512. 43 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 512. 44 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 514. 45 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 514. 46 Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, MEW Bd. 42, S. 514. 47 Marcuse, Der eindimensionale Mensch, a.a.O., S. 25. 48 Sigmund Freud, Die am Erfolg scheitern, in: Studienausgabe Bd. X, Frankfurt am Main 2000, S. 236. 49 Blumfeld, Anders als glücklich, auf: Testament der Angst, East/West / ZickZack

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2001. Die titelgebende Zeile geht auf eine Formulierung beziehungsweise einen Song von Kristof Schreuf (Brüllen) zurück. Vgl. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: GS Bd. 4, S. 55 und S. 43. »Das Ganze ist das Unwahre« paraphrasiert Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, S. 24: »Das Wahre ist das Ganze.« Das Glück im Unglück der Ohnmächtigen bleibt der Rausch. In der ›Dialektik der Aufklärung‹ schreiben Adorno und Horkheimer vom »Glück der Rauschgifte …, mit deren Hilfe in verhärteten Gesellschaftsordnungen unterworfene Schichten Unerträgliches zu ertragen fähig gemacht wurden«. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 81. Auf das Glück als Lustempfinden durch Drogen und chemische Stoffe verweist auch Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe Bd. X, S. 210. Vgl. dazu auch Walter Benjamin, Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, GS Bd. II·1, S. 297: »Die wahre, schöpferische Überwindung religiöser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaft nicht bei den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, einer materialistischen, anthropologischen Inspiration, zu der Haschisch, Opium und was immer sonst die Vorschule abgeben können.« Die Medizin problematisiert dies als Psychosomatik; wir treffen auf Magersucht, Essstörungen im Allgemeinen, Nervenkrankheiten, vor allem auch durch Arbeitszwang bedingte Krankheiten, ebenso Krebs, schließlich Alkoholismus und dergleichen. Vgl. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 141. Vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Studienausgabe Band IX, a.a.O., S. 208 ff. Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke Bd. 12, S. 41 f. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 196. Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a.a.O., S. 195. Blumfeld, Eintragung ins Nichts, auf: Testament der Angst, East/West / ZickZack 2001. Zit. n. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: GS Bd. I·2, S. 697.

»Jede ist Expertin!« – Identität und Verweigerung in der Diktatur der Angepassten; notwendiger und möglicher Umbau der Welt 1

Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76), aus dem Französischen von Michaela Ott, Frankfurt am Main 1999. Der Krisentheoretiker Robert Kurz hat in neueren Schriften darauf hingewiesen, dass die technisch-sozialen Bedingung des Kapitalismus historisch

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auf die Entwicklung des Soldatentums und die Erfindung der Handfeuerwaffe zurückzuführen sind. Vgl. bündig den Beitrag von Robert Kurz, in: Norbert Trenkle u.a., Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit, Hamburg 1999. Christoph Spehr, Gleicher als andere, mittlerweile in: Ders. (Hg.), Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation, Berlin 2003, S. 24. Oskar Negt, Zum Verhältnis von Provokation und Öffentlichkeit, in: ders., Keine Demokratie ohne Sozialismus. Über den Zusammenhang von Politik, Geschichte und Moral, Frankfurt am Main 1977, S. 349. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende, hg. v. Alfred Schmidt, Frankfurt am Main 1985, S. 125. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a.a.O., S. 133. Benjamin, Einbahnstraße, in: GS Bd. IV·1, S. 89. Adorno, Minima Moralia, GS Bd. 4, S. 63. Silke Kapp, Abenteuer der Körper in ungemütlichen Städten, in: Urban Bodies, 7. Jg. (Heft 1), September 2002. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 147. Benjamin, Pariser Passagen I, in: GS V·2, S. 1023. Benjamin, Pariser Passagen II, in: GS V·2, S. 1057 f. Benjamin, Pariser Passagen II, in: GS V·2, S. 1058. Vilém Flusser, Nachdenken über Collage: Wert und Abfall, in: Ders., Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung, Bensheim und Düsseldorf 1993, S. 238. Kant definiert bekanntlich, Aufklärung sei der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit; vgl. Behrens, Aufklärung als Ausgang (im Erscheinen). Mahatma Gandhi nannte die Unberührbaren die Kinder Gottes Harijans; sie selbst nennen sich gelegentlich Dalits, nach Dr Ambedkar. Vgl. V. S. Naipaul, India. A Million Mutinies Now, London 1990, S. 3 ff. Matrix ist die Dialektik der Aufklärung; die Matrix, Ausdruck der totalen Instrumentalisierung der Vernunft, nach der die ganze Welt in logische Operationen aufgeht, wird durch den Rückfall in den Mythos gesprengt; der Schleier dieser Scheinwirklichkeit wird zerrissen nicht durch Aufklärung, sondern durch Rituale, Tänze, Kraftproben, Hippietum, womit die in die Höhle zurückgekehrten sich selbst ihre Echtheit und Authentizität beweisen wollen. Zion ist nicht das gelobte Land, sondern die Hölle, die Regression in die Politik der Senatoren, Krieger und weisen Männer; von Platons Höhlengleichnis lebt der Film ebenso wie etwa von H. G. Wells ›Krieg der Welten‹. Zion ist Disneys nie realisierte Stadt EPCOT: Experimental Prototype Community of Tomorrow. EPCOT sollte, wie Zion, in einer riesigen Berghöhle Katastrophen überstehen können; ein Rom der Zukunft.

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Vgl. Mark Morris, Build a Better Mousetrap. Images of American Utopia, in: Gerd Zimmermann (Hg.), Als Ob. Fiktion in der Architektur / As If. Fiction in architecture, Verso (Bauhaus-Universität Weimar), Weimar 1996, S. 78 – Morris sieht zwischen Disneys EPCOT und der Hohlweltlehre, die J. Cleves Symmes zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte, eine Verbindung; – ›Matrix‹ ist die kinegrafische Umsetzung der Hohlwelt. Adorno, Aldous Huxley und die Utopie, in: GS Bd. 10·1, S. 118. Adorno und Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, GS Bd. 3, S. 294. Vgl. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: GS Bd. I·2, S. 458 f. Tikkun olam, hebräisch: das Bestreben, die Welt zu heilen (zu reparieren). Ernst Bloch spricht am Ende seines Hauptwerks ›Das Prinzip Hoffnung‹ vom Umbau der Welt zur Heimat: »Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.« (Frankfurt am Main 1973, S. 1628) Beim Propheten Jesaja 56.5 steht: »Ich will ihnen in meinem Haus und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben.« – »We-natati lehem be-Wejti uw-Chomati Jad wa-Schem.«

Abbildungen: S. 14: Von einem Schulheft aus der DDR. – S. 68: Foto R.B. – S. 100: Fotomontage R.B. – S. 132: Foto R.B. – S. 188: Foto R.B. – S. 263: Angelus Novus aus: Wolfgang Bock, Walter Benjamin – Die Rettung der Nacht. Sterne, Melancholie und Messianismus, Bielefeld 2000, S. 347; Lara Croft (Angelina Jolie): Pressefoto (Ausschnitt), www.tombraidermovie.com.