Delegation und Durchführung gemäß Art. 290 und 291 AEUV [1 ed.] 9783428538751, 9783428138753

Die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen ist auch und im Besonderen auf europäischer Ebene ein vielgenutztes Mittel,

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 9783428538751, 9783428138753

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Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Band 96

Delegation und Durchführung gemäß Art. 290 und 291 AEUV

Von Cosima Haselmann

Duncker & Humblot · Berlin

COSIMA HASELMANN

Delegation und Durchführung gemäß Art. 290 und 291 AEUV

Tübinger Schriften zum internationalen und europäischen Recht Herausgegeben von M a r t i n Ne t t e s h e i m in Gemeinschaft mit He i n z -D i e t e r A s s m a n n K r i s t i a n K ü h l, H a n s v. M a n g o l d t We r n h a r d M ö s c h e l, Wo l f g a n g G r a f V i t z t hu m J o a c h i m Vo g e l sämtlich in Tübingen

Band 96

Delegation und Durchführung gemäß Art. 290 und 291 AEUV

Von Cosima Haselmann

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen hat diese Arbeit im Wintersemester 2011/2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 21 Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7654 ISBN 978-3-428-13875-3 (Print) ISBN 978-3-428-53875-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83875-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit lag der Juristischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen im Wintersemester 2011/2012 als Dissertation vor. Die Idee zu dieser Arbeit entstand an der Universität Cambridge während eines Seminars bei Prof. Dr. Catherine Barnard, bei der ich mich für diese Anregung herzlich bedanke. Ebenso bedanke ich mich bei der Konrad-Adenauer-Stiftung für die materielle und ideelle Förderung. Insbesondere das Seminar im wunderschönen Cadenabbia wird mir in guter Erinnerung bleiben. Besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Martin Nettesheim. Er hat die Arbeit durch seine kenntnisreiche und engagierte Kritik sehr bereichert. Dank gebührt auch meinem Zweitgutachter, Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Graf ­Vitzthum, für eine überaus zügige und zugleich gewissenhafte Erstellung des Zweitgut­ achtens. Der enormen Zuverlässigkeit beider Gutachter ist es zu verdanken, dass ich meine Dissertation ohne jede – vielerorts fast schon übliche – Verzögerung abschließen konnte. Schließlich danke ich meinen Eltern für ihre vorbehaltlose Unterstützung. Cosima Haselmann

Inhaltsverzeichnis Teil 1



Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa

15

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung: Durchführung gemäß Art. 202, 3. Spiegelstrich, 211, 4. Spiegelstrich EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 A. Überblick über Entstehung und Entwicklung der Durchführungsrechtsetzung und der Komitologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 B. Überblick über die einzelnen Komitologieverfahren im Komitologiebeschluss 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 C. Streitpunkte, Friktionen, Unklarheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 I. Reichweite der Übertragung von Durchführungsbefugnissen . . . . . . . . . . . . 26 II. Verfahren beim Erlass von Durchführungsbefugnissen: Komitologie . . . . . . 29 1. Legitimationsgewinne und Funktionen der Komitologie . . . . . . . . . . . . . 29 2. Friktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 a) Demokratische Verwerfungen und fehlende Transparenz . . . . . . . . . 32 b) Die Kommission und die Komitologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Das Europäische Parlament und die Komitologie . . . . . . . . . . . . . . . . 35 aa) Das Parlament und die Komitologie: Eine Geschichte des inter­ institutionellen Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 bb) Zur Berechtigung der Forderungen des Parlaments nach mehr Mitsprache bei der Durchführungsrechtsetzung . . . . . . . . . . . . . 40 (1) Originäre Durchführungszuständigkeit: Unionaler Gesetzgeber oder Mitgliedstaaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 (2) Gleichberechtigung von Parlament und Rat? . . . . . . . . . . . . 42 III. Durchführung durch den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 IV. Durchführung als Delegation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

8

Inhaltsverzeichnis Teil 2



Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag: Art. 290 und 291 AEUV und ihr Konzept

52

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV . . . . . . . . . . . 52 A. Überblick und Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 B. Parallelen zum Komitologiebeschluss 2006: Art. 290 AEUV als primärrechtliche Regelung der Übertragung quasi-legislativer Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 C. Die Bedeutung der Wesentlichkeit: Einführung eines Gesetzesvorbehalts . . . . . 56 I. Gesetzesvorbehalt im staatlichen Recht: Begriff, Funktionen und Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Funktionen eines formellen Gesetzesvorbehalts: Erhaltung des erforder­ lichen demokratischen Legitimationsniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2. Formeller Gesetzesvorbehalt als Delegationsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 3. Die Grenzen eines formellen Gesetzesvorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 4. Die Abhängigkeiten eines formellen Gesetzesvorbehalts: Verknüpfung mit Legitimationsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II. Zum Fehlen eines formellen Gesetzes im EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 1. Das „Ob“ und das „Wie“ eigener europäischer demokratischer Legiti­ mation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 a) Wachsendes Bedürfnis nach eigener demokratischer Legitimation . . 65 b) Duales Legitimationskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2. Die Erfüllung demokratischer Bedürfnisse in der Rechtsakttypologie des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 a) Ausprägungen des Legitimationskonzepts in den Verträgen . . . . . . . . 71 b) Fehlende Ausprägung des dualen Legitimationskonzepts in der Typo­ logie der Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 aa) Keine Verknüpfung des Legitimationskonzepts mit Handlungs­ formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 bb) Verknüpfung erhöhter Legitimationsleistung mit Basisrechtsakt? 74 c) Insbesondere: Die Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH . . . . . . 78 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 III. Der formelle Gesetzesvorbehalt im Lissabon-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Stärkung des Demokratieprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Verknüpfung der Legitimationsfaktoren des gestärkten ­Demokratiemodells mit Gesetzgebungsakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Handlungsformen und formelles Gesetz: Die Veränderungen im Vergleich zum Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 b) Verknüpfung mit der Hierarchieebene des Gesetzgebungsaktes . . . . . 90

Inhaltsverzeichnis

9

aa) Stützen des Demokratieprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 bb) Legitimationsfaktor: Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 cc) Legitimationsfaktor: Beteiligung nationaler Parlamente . . . . . . . 94 c) Legitimatorischer Hintergrund der rein formellen Definition des Gesetzgebungsakts: Betonung des Input-orientierten Legitimationsmodells 95 3. Delegation als Legitimationsverzicht und Wesentlichkeit als formeller Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 D. Neubestimmung der Wesentlichkeit: Respekt vor dem demokratischen Leistungsprofil des Gesetzgebungsaktes als Leitmotiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 I. Erfordernis der Neubestimmung des Wesentlichkeitskriteriums . . . . . . . . . . 100 1. Leistungsprofil des Gesetzgebungsaktes als formelles Gesetz: Herstellung politischer Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Leistungsprofil des abgeleiteten Rechtsaktes: Flexibilität und Entlastung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 II. Exkurs: Keine Kompensation durch nationalstaatliche formellgesetzliche Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 III. Fazit und Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 § 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 A. Delegation als Legitimationsverzicht: Erfordernis der Begrenzung und Kontrolle 109 B. Ex ante: Wesentlichkeit und Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 I. Wesentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 C. Ex Post: Einspruch und Widerruf der Befugnisübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 I. Die Kontrollrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. Einspruchsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Widerruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 4. Neue Reversibilität der Befugnisübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 5. Möglichkeit einer horizontalen Regelung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II. Kontrolle durch den Gesetzgeber: Parallelität von Eingriffsbetroffenheit und Kontrollberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. Motiv: Freisetzung der Delegationsbereitschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Gleichstellung von Rat und Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Abschließender Charakter der Kontrollrechte in Art. 290 Abs. 2 AEUV, insbesondere: Art. 290 Abs. 2 als Rechtsgrundlage für die Komitologie? 129 III. Zur Effektivität und Sachgerechtigkeit der Kontrollrechte . . . . . . . . . . . . . . 133 1. Zwingender Charakter der Kontrollrechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 2. Auswirkungen des Wegfalls der Komitologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

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Inhaltsverzeichnis a) Zur Intensität des Einschnitts durch den Wegfall der Komitologie i. R. d. Art. 290 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Auswirkungen auf die delegierte Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 aa) Auswirkungen auf die delegierte Rechtsetzung der Kommission 140 bb) Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 cc) Auswirkungen auf die Gesetzgeber, insbesondere ihre Kontrollrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 3. Faktische Abhängigkeiten: Information und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . 145 a) Information durch die Kommission (frühzeitige Unterrichtung) . . . . 145 b) Fähigkeit von Rat und Parlament zur Bewertung der Information . . . 146 4. Sachgerechtigkeit der Kontrollrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

§ 4 Das Konzept vertikaler Gewaltenteilung hinter Art. 291 AEUV . . . . . . . . . . . . . 152 A. Überblick und Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 B. Durchführung durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 I. Überblick über die vertikale Kompetenzordnung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Kompetenzgrundlage („Kann“): Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Kompetenz zur Gesetzgebung und zum Erlass verbindlicher Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Kompetenz zur „Durchführung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2. Kompetenzausübungsschranken („Ob“, „Wie“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 II. Der neue Durchführungsbegriff: Anwendbarmachen und Anwendung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 1. Implikationen für den Begriff der Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 2. Implikationen für den Grundsatz des indirekten Vollzugs . . . . . . . . . . . . 171 a) Die unsicheren Grenzen unionaler Verwaltungsmaßnahmen auf Grundlage des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 aa) Keine Begrenzung der Verbandskompetenz für Verwaltungsmaßnahmen durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung: Kein doppeltes Kompetenzerfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (1) Keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Rechtsetzungs- und Verwaltungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (2) Keine Zuweisung der Verwaltungskompetenz zu den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 bb) Unklare Grenzen der Subsidiarität und die Grenzen der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 b) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 3. Änderungen durch den Lissabon-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 III. Bewertung des Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhaltsverzeichnis

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1. Relativität des Begriffs der Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Blindheit gegenüber der Realität des Verwaltungsverbunds . . . . . . . . . . 198 3. Betonung des materiellen Rechts („Primat der materiellen Programmierung“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 C. Durchführung durch die Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 I. Verbandskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 1. Art. 291 Abs. 2 AEUV als Verbandskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. „Bedürfnis einheitlicher Bedingungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Kriterien: Einheitliche Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 b) Maßstabsbildung: Bedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 c) Das Verhältnis der Bedürfnisklausel zum Subsidiaritätsprinzip . . . . . 208 3. Ermessen oder Handlungsverpflichtung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 II. Möglicher Inhalt der Durchführungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Durchführungsrechtsakte als Mittel zur Vollzugshomogenisierung . . . . . 211 2. Mögliche Durchführungsrechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 a) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Handlungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 III. Grenzen der Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 1. Verhältnismäßigkeit (Rechtfertigungsstufen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 2. Morphologische Grenzen: Mögliche Handlungsformen des Basisrechtsakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 IV. Ausübung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission . . . . . . . . . 221 1. Organkompetenz: Ermächtigung/Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2. Subsidiarität/Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 D. Durchführung durch den Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 § 5 Kontrolle über Durchführungsrechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 A. Kontrolle durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 I. Parallelität von „Eingriffsbetroffenheit“ und Kontrollrechten . . . . . . . . . . . . 227 II. Die Komitologieverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 B. Zur Rolle von Rat und Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 I. Erlass der Komitologieverordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 II. Ex-ante-Kontrolle: Übertragung des Wesentlichkeitsvorbehalts? . . . . . . . . . 230 III. Weitergehende Kontrollrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234

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Inhaltsverzeichnis Teil 3



Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte in das System der Rechtsakte und Gesamtbewertung

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§ 6 Abschließende Gegenüberstellung und Bewertung der Konzepte . . . . . . . . . . . . 236 A. Die Unterscheidung zwischen Delegation und Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . 236 B. Delegation und Durchführung zwischen Gesetzgebung und Exekutive als Formen gubernativer Rechtsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 C. Abschließender Charakter von Art. 290 und 291 AEUV und soft law der Kom­ mission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 D. Engführung und Andersartigkeit der Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 § 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie 245 A. Gesetzgebungsakte und Rechtsakte ohne Gesetzescharakter: Gesetzgebungsakt als formelles Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 I. Grundlage der Hierarchisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 1. Unmaßgeblichkeit der Primärrechtsunmittelbarkeit der Gesetzgebungsakte 249 2. Verknüpfung des Gesetzgebungsaktes mit Legitimationsfaktoren . . . . . 249 II. Defizite: Entknüpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Existenz besonderer Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Existenz primärrechtsunmittelbarer Rechtsakte ohne Gesetzescharakter . 254 a) Keine Parallelität zwischen Basisrechtsakt und Gesetzgebungsakt (inter­ner Blick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Fehlende äußere Unterscheidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) Inkonsistenzen bei der primärrechtlichen Einordnung der Kompetenzen (externer Blick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3. Befugnis zur Änderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 III. Rechtsfolgen des Gesetzgebungsaktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 1. Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 2. Rechtsmacht zur Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 3. Gesetzesvorbehalte (Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes) . . . . . . . . . . . . . 272 a) Wesentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Allgemeiner Gesetzesvorbehalt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 aa) „Allgemeiner Gesetzesvorbehalt“ im Wettbewerbsrecht: Zum Leitlinien(un)wesen der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 (1) VO 1/2003 als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter: Zur konstitutiven Bedeutung der Bezeichnung als Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 (2) Keine Übertragbarkeit des Vorbehaltsgedankens aus Art. 290 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276

Inhaltsverzeichnis

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bb) Allgemeiner Gesetzesvorbehalt im Übrigen . . . . . . . . . . . . . . . . 278 (1) Allgemeiner Gesetzesvorbehalt und Regelungsdichte . . . . . 279 (2) Allgemeiner Gesetzesvorbehalt und primärrechtliche Wahlfreiheit zwischen legislativem und exekutivem Handeln durch Rat und Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 c) Der Gesetzesvorbehalt der Grundrechtecharta als Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 IV. Hierarchisierung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 B. Keine Hierarchie innerhalb der Rechtsakte ohne Gesetzescharakter . . . . . . . . . . 285 I. Unterscheidung exekutiver und quasi-legislativer Rechtsetzung als Grundlage einer Hierarchisierung des untergesetzlichen Rechts? . . . . . . . . . . . . . . 285 II. Primärrechtsunmittelbarkeit als Grundlage für eine Hierarchisierung der untergesetzlichen Rechtsakte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 § 8 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 A. Die Unklarheiten der bisherigen Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 B. Delegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 C. Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 D. Abgrenzungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 E. Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

Teil 1

Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa Der moderne Rechtsstaat generiert ein „gigantisches Normierungsbedürfnis“.1 Es bedarf mehrerer Normsetzer, die in Arbeitsteilung den Normbedarf decken. Schon auf staatlicher Ebene ist das Phänomen bekannt, dass die Legislative die Exekutive für den Normenerlass einspannt. Dies geschieht auch2 dadurch, dass der Gesetzgeber der Exekutive Befugnisse überträgt. Solange die Exekutive dabei einen vorgegebenen gesetzlichen Rahmen lediglich ausfüllt, entspricht dies sogar der ureigenen Aufgabe der Exekutive. Exekutive Tätigkeit bedeutet Normkonkretisierung. Die Normkonkretisierung beschränkt sich dabei nicht auf „richterähnliche“ Rechtsanwendung im Einzelfall. Sie vermittelt zwischen den beiden Polen exekutiver und judikativer Rechtserzeugung und deckt damit eine ganze Palette unterschiedlicher Formen der Rechtserzeugung ab.3 Je mehr die Exekutive aber selbst Recht setzt und nicht nur Recht anwendet, je mehr eigene Entscheidungsspielräume sie also hat, desto weniger unterliegt sie gesetzlichen Bindungen. Die Bindung der Verwaltung an die Gesetze ist aber aus demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen zwingend: Das Gesetz legitimiert und diszipliniert die Verwaltung.4 Wieweit darf also Rechtsetzung durch die Exekutive gehen, welchen Bindungen unterliegt sie? Auf europäischer Ebene ist jedenfalls die Ausgangslage dieselbe. Auch (oder erst recht) hier ist ein Normgeber allein nicht in der Lage, aus eigener Kraft die für das Gemeinwesen erforderlichen Regeln zu erlassen. Auch hier bedarf es mehrerer Normgeber. Konkret teilen sich Rat, Parlament und Kommission diese Aufgabe. Während das europäische Primärrecht, d. h. die Verträge, dem Rat und dem Parlament gewissermaßen unmittelbar gesetzgeberische5 Funktionen zuweisen, wird

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Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 61 Rn. 32. In manchen Staaten gibt es auch originäre Rechtsetzungsbefugnisse der Exekutive. In Deutschland wird zunehmend die Abhängigkeit der exekutiven Normsetzung von einer Ermächtigung angegriffen, s. dazu Möstl, DVBl 2011, 1076 (1078 f.). 3 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Kap. 1 Rn. 48; Möllers, Gewaltengliederung, S.  112 ff. Dabei ist wohl jeder Art der Rechtserzeugung, eben auch der Rechts­ anwendung, ein schöpferisches Element inhärent und damit eine gewisse Verwandtschaft mit der Rechtsetzung nie ganz zu negieren, s. die Ausführungen bei Dreier, Hierarchische Verwaltung, S. 165 ff. 4 Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Kap. 2 Rn. 7. 5 Der Begriff der Gesetzgebung wird hier untechnisch gebraucht. Zu einer genaueren Begriffsbestimmung, s. unten § 2 C.

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

die Kommission im Schwerpunkt rechtsetzend dann tätig, wenn Rat (und Parlament) ihr Rechtsetzungsbefugnisse übertragen haben. Es scheint ebenfalls um eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen zu gehen. Löst diese dieselben Frik­ tionen wie auf staatlicher Ebene aus? Oder stellen sich die Bruchlinien angesichts der Unterschiede, die die Europäische Union gegenüber Staaten aufweist, anders dar? Die Verträge befassten sich bisher mit dem Phänomen der Übertragung von Befugnissen auf die Kommission in der Vorschrift des Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV: Diese Vorschrift erlaubte dem Rat, der Kommission Durchführungsbefugnisse zu übertragen. Der Vertrag von Lissabon kennt nun zwei Normen, die sich mit der Übertragung von Befugnissen auf die Kommission beschäftigen: Art. 290 AEUV erlaubt, die Kommission mit der Befugnis zum Erlass „delegierter Rechtsakte“ auszustatten; Art. 291 AEUV bezieht sich wie schon Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV auf die Übertragung von „Durchführungsbefugnissen.“ Diese Änderungen sind Anlass, sich mit dem europäischen Konzept der Befugnisübertragung anhand einer dogmatischen Analyse der beiden neuen Vorschriften vor dem Hintergrund der bisherigen Durchführungsrechtsetzung auseinanderzusetzen.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung: Durchführung gemäß Art. 202, 3. Spiegelstrich, 211, 4. Spiegelstrich EGV A. Überblick über Entstehung und Entwicklung der Durchführungsrechtsetzung und der Komitologie Den Hintergrund abgeleiteter Rechtsetzung im Gemeinschaftsrecht bilden paradigmatisch diejenigen Gründe, die generell Delegationen befördern: Die Überforderung oder Überlastung des eigentlich für die Rechtsetzung zuständigen Organs. Überfordert sah sich zunächst Anfang der 60er Jahre der Rat als das eigentlich rechtsetzende Organ der Gemeinschaft.6 Im Agrarsektor entstand in den Jahren 1961/62 die erste Gemeinsame Marktorganisation. Diese Entwicklung erforderte den Erlass zahlreicher Detailregelungen, die bisweilen höchst technischer Natur waren.7 Der Rat konnte die technische Administrierung nicht alleine leisten. Er begann, Befugnisse zur Regelung dieser Details auf die Kommission zu übertragen.8 Als primärrechtliche Rechtsgrundlage für die Übertragung diente dem Rat

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Roller, KritV 2003, 249 (250 f.). Der Begriff der „Gemeinschaft“ und der „Union“ wird im Folgenden synonym gebraucht. 7 Demmke/Haibach, DÖV 2010, 710; Fuhrmann, DÖV 2007, 464. 8 Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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Art. 155, 4. Spiegelstrich EWGV (später: Art. 202, 3. Spiegelstrich, 211, 4. Spiegelstrich EGV).9 Ein weiterer Grund für die Übertragung von Durchführungsbefugnissen, der mit der Zeit an Gewicht zunahm, war die hierdurch erzielte höhere Entscheidungs­ fähigkeit des Rates.10 Aufgrund der Übertragung musste er sich nur noch über die Prinzipien und Hauptregelungen einig werden. Je weniger der Rat selbst zu entscheiden hatte, desto weniger konfliktträchtig versprach die Abstimmung zu verlaufen: Es liegt auf der Hand, dass die Einigung auf bestimmte Prinzipien leichter gelingt als eine Einigung noch über das letzte Detail.11 Den Mitgliedstaaten war es allerdings nicht geheuer, der Kommission bei der Regelung dieser „Details“ völlig freie Hand zu lassen.12 Es wurden Ausschüsse, sog. Komitees  – zunächst in der Form von Verwaltungsausschüssen13 – gebildet.14 Zusammengesetzt aus Vertretern der Mitgliedstaaten sollten sie die Durchführungsrechtsetzung der Kommission überwachen.15 Zwar ohne eigene Entscheidungsbefugnisse ausgestattet, musste die Kommission ihnen doch die Entwürfe zu den Durchführungsakten vorlegen. Die zustimmende oder ablehnende Stellungnahme des Ausschusses entschied dann über das weitere Schicksal des Durchführungsaktes. Im Übrigen jedoch war die Durchführungsrechtsetzung durch die Kommission frei von allen primärrechtlichen Beschränkungen, denen noch die Rechtsetzung durch den Rat unterworfen war. Insbesondere musste das Parlament vor dem Erlass der Durchführungsakte nicht nochmals angehört werden.16 Der EuGH billigte in der Grundsatzentscheidung „Köster“17, mit der er sich sowohl mit der Durchführungsrechtsetzung als solcher als auch mit der Komitologie befasste, beide Aspekte: Er erlaubte dem Rat zum einen, nicht alle Fragen eines 9 Wobei nicht von Beginn an anerkannt war, dass diese Vorschrift tatsächlich die Rechtsgrundlage für die Übertragung bildete. Bisweilen wurden insoweit auch Art. 155, 1. Spiegelstrich EWGV genannt, s. dazu Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, 5. Aufl., Art. 155 Rn. 70. Denn bis zur EEA enthielt Art. 155 EWGV, der eben noch nicht durch den entsprechenden Art. 145 EWGV ergänzt wurde, allenfalls eine „­oblique reference“ zu der Möglichkeit der Übertragung von Durchführungsbefugnissen, Bradley, CMLRev. 1992, 693 (699). 10 Roller, KritV 2003, 249 (251). 11 Craig, EU Administrative Law, S. 104. 12 Chambers, in: Joerges/Vos, EU Committees, S. 95 (100). 13 Zu den verschiedenen Ausschusstypen und Komitologieverfahren, s. noch unten § 1 B. 14 Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710; Craig, EU Administrative Law, S. 104; Kugelmann, in: Streinz, EUV/EGV, Art.  211 EGV Rn.  43; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 428; Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (124). 15 Die erste Verordnung, welche die Beteiligung eines Ausschusses vorsah, war VO 19/62 v. 4. April 1962 über die schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Getreide, s. Beer, EuZW 2010, 210; Bradley, CMLRev. 1992, 693 (694); Türk, in: Kadelbach, Europäische Integration und parlamentarische Demokratie, S. 131 (132). 16 Schmolke, EuR 2006, 432 (442). 17 EuGH, Rs. 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161; s. dazu Bradley, CMLRev. 1992, 693 (700).

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

Bereichs selbst zu regeln und Rechtsetzungsbefugnisse auf die Kommission zu übertragen; und er billigte zum anderen die „Modalitäten“, mit denen der Rat die Übertragung regelmäßig versah: Er befand also auch die Praxis der Komitologie für vereinbar mit dem institutionellen System der Gemeinschaft.18 Die „Entlastungsstrategie19“ des Rates, mit dem Erlass von ins Detail gehenden Regelungen die Kommission zu betrauen und diese dabei mit Hilfe von Ausschüssen zu kontrollieren, war erneut besonders gefragt im Zusammenhang mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA). Das dort formulierte Ziel eines Binnenmarktes bedeutete für den Rat, dass seine Arbeitsbelastung erheblich zunahm. Die EEA nahm das Erreichen dieser neuen Entwicklungsstufe der Integration zum Anlass, mit der Ergänzung von Art.  145 um einen 3.  Spiegelstrich die Übertragung von Durchführungsbefugnissen vom Rat auf die Kommission zum Regelfall zu er­klären.20 Außer in „spezifischen Fällen“ war der Rat von nun an verpflichtet, der Kommission Durchführungsbefugnisse zu übertragen.21 Der Rat musste somit stets zumindest genau begründen, warum ein solcher „spezifischer Fall“ seine Selbstermächtigung erforderlich machte.22 Darüber hinaus stellte die EEA klar, dass der Rat „bestimmte Modalitäten für die Ausübung dieser Befugnisse“ fest­ legen durfte (Art. 145, 3. Spiegelstrich, S. 2 EWGV).23

18 EuGH, Rs. 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161 Rn. 6 (Zulässigkeit der Übertragung), Rn. 9 (Zulässigkeit des Ausschusswesens). 19 Bruha/Münch, NJW 1987, 542; Riedel, EuR 2006, 512 (516). 20 Bruha/Münch, NJW 1987, 543 (543). Nicht durchsetzen konnte die Kommission hin­ gegen ihren Vorschlag, ihr eine originäre Durchführungskompetenz einzuräumen, die sie also grundsätzlich ohne eine entsprechende Ermächtigung des Rates hätte ausüben können, es sei denn, der Rat hätte sich durch einstimmigen Beschluss die Durchführungskompetenz vor­ behalten. 21 Diese Auslegung entspricht der h. M., wobei teilweise nur von einer „Regelzuständigkeit“ der Kommission zur Durchführung, teilweise aber sogar weitergehend von einer „Übertragungspflicht“ der Kommission gesprochen wurde: Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (711); Möllers, EuR 2002, 483; Hummer/Obwexer, in: Streinz, EUV/EGV, Art.  202 EGV Rn.  25; Bruha/Münch, NJW 1987, 543 (543); wenigstens von einem „préjugé zugunsten der Kommission“ spricht Timmermans, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 133 (139); Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 202 EGV Rn. 12. Zur Frage, ob tatsächlich eine Pflicht des Rates zur Übertragung anzunehmen ist, setzt sich Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 184 ausführlich auseinander. Zur Rechtsprechung s. EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457; EuGH, C-378/00 (Kommission/Rat und Parlament), Slg. 2003, I-937, Schlussantrag des Generalanwalts Geelhoed Rn. 74: „Die allgemeine Regel lautet, dass der Rat die Befugnis zur Durchführung der Kommission überlassen muss.“ 22 EuGH 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1988, 3457; aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-133/06 (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-3198, Rn. 47 ff. Es ist zweifelhaft, inwiefern über dieses Begründungserfordernis hinaus die Praxis der Selbstermächtigungen des Rates tatsächlich justiziabel war, s. dazu Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 202 EGV Rn. 12; Möllers, EuR 2002, 483 (491); Lenaerts, CMLR 1992, 23 (33). 23 So auch der EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457 Rn. 13.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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Auf dieser Grundlage erließ der Rat den sog. „Modalitäten-“ oder „Komito­ logiebeschluss“.24 Dieser formalisierte die bereits bisher gängige – und vom EuGH gebilligte – Praxis des Rates, der Kommission bei der Durchführungsrechtsetzung Komitees zur Seite zu stellen. Bis dato hatte der Rat nämlich in jedem Basisrechtsakt, mit dem er die Kommission zum Erlass von Durchführungsakten ermächtigte, die jeweiligen Modalitäten neu festlegen müssen. Diese Ad-hoc-Komitologie25 hatte zu der recht unbefriedigenden und einer effizienten Gesetzgebung eher abträglichen Situation geführt, dass die Beratung darüber, welches Ausschussverfahren Anwendung finden sollte, oftmals die eigentlichen inhaltlichen Fragen eines Kommissionsvorschlags überlagerte, die Entscheidungskraft des Rates unnötig schwächte und so die Gesetzgebung erheblich verzögerte.26 Der Komitologiebeschluss stellte dem Rat hingegen mehrere27 verschiedene Verfahrenstypen zur Verfügung, unter denen der Rat lediglich wählen musste.28 Insbesondere das Parlament war sowohl mit der Durchführungsrechtsetzung als solcher als auch mit der konkreten Umsetzung derselben durch den Komitologiebeschluss unzufrieden.29 Es sah seine Mitsprache- und Beteiligungsrechte übergangen. Eine Klage des Parlaments gegen den Komitologiebeschluss blieb ohne Erfolg; dem Parlament fehlte es nach Auffassung des EuGH aufgrund der damaligen Fassung von Art. 172 EWGV schon an der Klagebefugnis.30 Mehrere interinstitutionelle Vereinbarungen31 bemühten sich, die Stellung des Parlaments im 24 Beschluss zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse vom 13. Juli 1987, 87/373/EWG, „Komitologiebeschluss“, s. auch Bradley, CMLRev. 1992, 693 (695). 25 Hummer/Obwexer, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 202 EGV Rn. 28; Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (126). 26 Bergström, Comitology, S. 189; Bradley, in: FS Bieber, S. 286 (287); Timmermans, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 133 (140). 27 Die Zählweisen variieren. Von insgesamt sieben Varianten – vier Haupt- und drei Untervarianten – spricht Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (127); von fünf Varianten gehen Demmke/ Haibach, DÖV 1997, 710 (711) aus. 28 Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (711); Bergström, Comitology, S. 189; in diesem ersten Komitologiebeschluss waren noch keine Kriterien enthalten, die (zumindest) unverbindlich über die Wahl der jeweiligen Verfahrensart entschieden. Die Kommission konnte sich mit einem entsprechenden Vorschlag nicht durchsetzen. Kriterien wurden erst mit dem zweiten Komitologiebeschluss von 1999 eingeführt. 29 Bergström, Comitology, S. 203: „For the European Parliament … the Decision became an ‚alarm bell‘ for resistance“; Kietz/Maurer, ELJ 2007, 20 (28 ff.) zu dem schwierigen Verhältnis des Parlaments zur Komitologie s. ausführlich unten § 1 C. II. 2.  30 EuGH, Rs. 302/87 (Parlament/Rat), EuGH, Slg. 1988, 5615; jedoch bestätigte der EuGH später in einer Entscheidung implizit die Rechtmäßigkeit des ersten Komitologiebeschlusses, EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457. 31 Zu nennen sind die Plumb-Delors-Vereinbarung vom März 1988, in dem sich die Kommission verpflichtete, dem Parlament alle Vorschläge für Durchführungsakte „legislativer Art“ zur gleichen Zeit zuzuleiten wie dem Komitologieausschuss sowie der Modus vivendi, der dem Parlament für Basisrechtsakte, die im Mitentscheidungsverfahren ergingen, zusagt, Entwürfe zur gleichen Zeit zu erhalten, wie der Komitologieausschuss und weiter, dass der Rat einen Durchführungsakt von allgemeiner Bedeutung, der gemäß einem Durchführungsverfahren an

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

Hinblick auf die Durchführungsrechtsetzung zu verbessern.32 Überdies erging im Jahr 1999 als (verzögerte) Reaktion auf die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens im Vertrag von Maastricht33, bei dem das Parlament als gleichberechtigter Mitgesetzgeber tätig wird, ein zweiter Komitologiebeschluss34, der im Jahr 2006 durch einen weiteren Beschluss35 geändert wurde. Aber auch die Kommission sah das institutionelle Gleichgewicht durch den Einfluss der Komitologie gestört, und sich als „Regelexekutive“36 ihrer Bedeutung beraubt.37 Insbesondere das sog. contre-filet-Verfahren, bei dem der Rat mit (zunächst) einfacher Mehrheit einen Kommissionsvorschlag ablehnen konnte, stieß auf Widerstand.38 Den Forderungen der Kommission kamen die beiden neuen Komitologiebeschlüsse von 1999 und 2006 zumindest teilweise entgegen. So modifizierte etwa der Komitologiebeschluss von 1999 das contre-filet-Verfahren dergestalt, dass dem Rat eine Ablehnung des Kommissionsentwurfs von nun an nur noch mit qualifizierter Mehrheit möglich war.39 Weitere, stetig vorgetragene Kritikpunkte am Komitologieverfahren bezogen sich auf seine Intransparenz sowie seine Kostenträchtigkeit. Trotz aller Widerstände und Kritik zog das Komitologieverfahren in mehr und mehr Politikbereiche ein.40 Die Ausbreitung der Komitologieverfahren wurde dadurch befördert, dass der Rat, der anfangs in der Regel einstimmig zu entscheiden hatte41, in manchen ihn zurückverwiesen worden ist, erst verabschiedet, nachdem er das Parlament unterrichtet und ihm eine angemessene Frist zur Abgabe einer Stellungnahme eingeräumt hat sowie im Fall einer ablehnenden Stellungnahme unverzüglich und ordnungsgemäß von dem Standpunkt des Parlaments Kenntnis genommen hat, um „in angemessenem Rahmen eine Lösung herbeizuführen“. Die Kommission verpflichtete sich ebenfalls, die Ansicht des Parlaments möglichst weitgehend zu berücksichtigen, dazu s. Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (712) und Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (128 ff.). 32 Dazu s. ausführlich unten § 1 C. II. 2. c. 33 Bradley, FS Bieber, S. 286 (287). 34 Beschluss des Rates 99/468/EG vom 21.  Juni 1999. s.  dazu ausführlich Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 ff. (insbes. 666 ff.). 35 Beschluss des Rates 2006/512/EG vom 22 Juli 2006. 36 Möllers, EuR 2002, 483 (485). 37 Schütze, Shapening the Separation of Powers through a Hierarchy of Norms?, EIPA Working Paper 2005/W/01, S. 13; Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (711). 38 Der EuGH hat das Regelungsausschussverfahren hingegen gebilligt, s. EuGH, Rs. 5/77 (Tedeschi/Denkavit), Slg. 1977, 1555. Zwar erkannte der EuGH, dass das contre-filet-Verfahren dem Rat erlaubte, die Kommission am Erlass einer Durchführungsmaßnahme zu hindern, ohne eine eigene Lösung anzubieten. Er schloss aber eine aus diesem Umstand resultierende Handlungsunfähigkeit der Kommission aus; denn diese bleibe weiter berechtigt, die ihr ge­eignet erscheinenden Maßnahmen zu treffen, s. EuGH, ebd., Rn.  25/27. Krit. Bergström, Comitology, S. 306. 39 Bergström, Comitology, S. 268. 40 Riedel, EuR 2006, 512 (523); Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 1. 41 Dies änderte sich durch die Einheitliche Europäische Akte, die für den Bereich der Binnenmarktpolitiken regelmäßig Mehrheitentscheidungen durch den Rat vorsah.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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Zeiten nur unter Schwierigkeiten Beschlüsse zustande brachte. Das Bedürfnis, Entscheidungen über Rechtsakte auf eine andere, dem Kompromiss eher zugäng­liche Ebene zu verlagern, blieb daher bestehen.42 Später verlor das Einstimmigkeitserfordernis im Rat zwar an Bedeutung43; zugleich machten aber die zunehmenden Befugnisse des Parlaments das primärrechtliche Verfahren zur Annahme eines Rechtsaktes schwerfällig. Die Gründe, die für eine Übertragung von Befugnissen sprachen, behielten so über die Jahre hinweg ihre Gültigkeit. Von daher verwundert es trotz aller Krisen und Konflikte im Zusammenhang mit der Durchführungsrechtsetzung und der Komitologie nicht, dass mittlerweise die Durchführungsakte die Landschaft europäischer Rechtsakte sogar dominieren.44

B. Überblick über die einzelnen Komitologieverfahren im Komitologiebeschluss 2006 Der grundsätzliche Aufbau und die Grundzüge der Verfahrensweise der Komitees zeichnen sich seit den Anfängen des Komitologiewesens in den 60er Jahren des letzten Jahrhundert durch eine bemerkenswerte Kontinuität aus.45 Die Komitees setzen sich zusammen aus Vertretern der Mitgliedstaaten und einem Kommissionsvertreter, der den Vorsitz innehat, aber über kein Stimmrecht verfügt.46 Bevor die Kommission einen Durchführungsrechtsakt erlassen will, muss sie den Entwurf ihrer Durchführungsmaßnahme dem jeweiligen Ausschuss vorlegen. Dies ermöglicht den Komitees, im Vorfeld Einfluss auf den Durchführungsakt zu nehmen, ohne das alleinige Entscheidungsrecht der Kommission in Frage zu stellen.47 Der Ausschuss kontrolliert überdies das Ergebnis des Erlassverfahrens: Mit seiner Stellungnahme entscheidet er über das weitere Schicksal des Durchführungsaktes, insbesondere ob dieser – im Fall einer ablehnenden Stellungnahme – nochmals dem Rat (bzw. dem Parlament) vorgelegt werden muss.48 Welche Auswirkung 42 Die Kommission als „Motor der Integration“, die allein das Gemeinschaftsinteresse verkörpert, ist insoweit die richtige Adresse, s. zur Rolle der Kommission allgemein Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 17 EUV Rn. 2, 4.  43 Ziegenhorn, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, 43. EL 2011, Art. 16 EUV Rn. 40. 44 Bruha/Münch, NJW 1987, 542; Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710; Schusterschitz, ­Public Affairs Manager 2008, 1: Über 90 % der Vorschriften werden im Rahmen der Komitologie erlassen; von Bogdandy/Bast, ZaöRV 62 (2002), 77; s. auch die Übersicht über die Zahlen und die Entwicklung bei Bergström, Comitology, S.  12 f. sowie bei Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 1 sowie Roller, KritV 2003, 249 (252 ff.). Die Dominanz abgeleiteter Rechtsetzung ist dabei kein auf die EU beschränktes Phänomen, s. Pünder, ICLQ 58 (2009), 353 (354 f.). 45 Riedel, EuR 2006, 512 (523); Bradley, CMLRev. 1992, 693 (694). 46 Riedel, EuR 2006, 512 (523); Bradley, CMLRev. 1992, 693 (694). 47 Bergström, Comitology, S.  286; Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftliche Durch­ führungsrechtsetzung, S. 221 bezeichnet diese Form der Kontrolle daher in Abgrenzung zu den ex ante bzw. ex post wirkenden Mechanismen als eine Form normbegleitender Kontrolle. 48 Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, S. 227.

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

diese Stellungnahme des Ausschusses konkret hat, unterscheidet sich dabei nach dem jeweils anwendbaren Komitologieverfahren. Der „neue“ Komitologiebeschluss von 2006, der den 2. Komitologiebeschluss aus dem Jahr 1999 ändert, reduziert die Ausschussverfahren auf insgesamt vier Verfahrensvarianten49: Zur Wahl stehen nun das Beratungsverfahren, das Verwaltungsverfahren, das Regelungsverfahren sowie das Regelungsverfahren mit Kontrolle. Seit dem 2. Komitologiebeschluss werden Kriterien formuliert, die über das jeweils anwendbare Verfahren entscheiden. Dabei sind diese Kriterien allerdings unverbindlich, mit Ausnahme derjenigen Kriterien, welche über die Anwendung des Regelungsverfahrens mit Kontrolle befinden. Die Kriterien, die tatbestandlich über das anwendbare Verfahren entscheiden, umschreiben, grob gesagt, die politische Wichtigkeit einer Materie.50 Zwar wurde diese Intention bei Einführung der Kriterien 1999 nicht explizit geäußert. Aber die unterschwellige Logik bestand darin, zwischen eher legislativen, also politisch bedeutsameren Durchführungsmaßnahmen zu unterscheiden und solchen, die eher in einem exekutiven Verantwortungsbereich angesiedelt waren.51 Jedenfalls lässt sich eine entsprechende Tendenz erkennen, die besonders deutlich bei den tatbestandlichen Kriterien des Regelungsverfahrens zutage tritt. Es gilt: Während das Beratungsverfahren schlicht einschlägig sein soll bei Maßnahmen, bei denen dies für „zweckmäßig“ erachtet wird, diesem Verfahren mithin eine Auffangfunktion zukommt, und das Verwaltungsverfahren bei eher technischen „Verwaltungs­ maßnahmen“ vorgesehen ist, findet das Regelungsverfahren Anwendung bei Maßnahmen „von allgemeiner Tragweite52, mit denen wesentliche Bestimmungen des Basisrechtsakts angewandt werden sollen.“53 Das Regelungsausschussverfahren mit Kontrolle schließlich ist für die Durchführung von Basisrechtsakten vorgesehen, die im Mitentscheidungsverfahren ergangen sind und mit denen die Kommission ermächtigt wird, sogar eine Änderung von (nicht-wesentlichen) Vorschriften des betreffenden Basisrechtsakts zu bewirken. Das Regelungsausschussverfahren wurde denn auch mit einiger Berechtigung als Indiz für die politische Brisanz einer Materie aufgefasst.54 Die Rechtsfolgen der verschiedenen Verfahren orientieren sich an dieser tat­ bestandlich vorgezeichneten, abgestuften politischen Wichtigkeit. Es lässt sich folgende Tendenz erkennen: Je politisch wichtiger (je „legislativer“) die Materie, desto mehr Einfluss haben Rat und im Fall des Mitentscheidungsverfahrens auch 49 Dies war dem Zweck der Vereinfachung der Komitologie geschuldet, s. Erwägungsgrund 9 des Komitologiebeschlusses 2006. 50 Vgl. Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (668) zum zweiten Komitologiebeschluss. 51 Bergström, Comitology, S. 299. 52 Vielfach werden solche Maßnahmen als quasi-legislative Befugnisse der Kommission bezeichnet, s. etwa Nemitz, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 211 Rn. 40. 53 Erwägungsgrund Nr. 7 des Komitologiebeschlusses 2006. 54 Riedel, EuR 2006, 512 (523).

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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das Parlament. Und: Je mehr Einfluss das Parlament beim Erlass des Basisrechtsakts hatte, desto mehr kann es im Rahmen der Komitologie auf die Durchführungsrechtsetzung der Kommission einwirken. Aus diesen Leitlinien ergibt sich im Einzelnen: –– Im Beratungsverfahren ist die Kommission fast völlig frei.55 Zwar ist sie – wie immer  – verpflichtet, dem Beratungsausschuss den Entwurf vorzulegen. Die Kommission ist an eine ablehnende Stellungnahme des Ausschusses aber nicht gebunden. Sie muss die Stellungnahme lediglich so weit wie möglich „berücksichtigen“ (Art. 3 Abs. 3). –– Das Verwaltungsverfahren bindet die Kommission bereits erheblich stärker.56 Im Fall einer ablehnenden Stellungnahme des Ausschusses kann der Rat innerhalb einer im Basisrechtsakt genannten Zeit, die höchsten drei Monate beträgt, selbst einen anderslautenden Beschluss fassen.57 –– Das Regelungsverfahren bedeutet eine weitere stärkere Beschränkung der Kommission. Hier verliert die Kommission ihre Durchführungskompetenz – anders als beim Verwaltungsverfahren  – schon dann, wenn der Ausschuss die Maßnahme nicht mit qualifizierter Mehrheit annimmt (Art. 5 Abs. 458). Die Kommission muss dann dem Rat ihren Entwurf vorlegen und das Parlament darüber unterrichten. Wurde der zugrundeliegende Basisrechtsakt im Mitentscheidungsverfahren erlassen, darf das Parlament „ein bisschen mitreden“: Es darf dem Rat von seiner möglichen Auffassung in Kenntnis setzen, dass der vorgeschlagene Durchführungsakt der Kommission die Grenzen der ihr übertragenen Befugnisse sprengt. Im Übrigen liegt die weitere Entscheidungshoheit aber allein beim Rat: Der Rat kann den Entwurf der Kommission – konstruktiv – durch eine eigene Maßnahme ersetzen, über die er mit qualifizierter Mehrheit beschließen muss (Art. 5 Abs. 6 UAbs. 1). Kann er sich zu einer eigenen Maßnahme nicht entschließen, bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder bleibt er innerhalb einer im Basisrechtsakt festgelegten Frist völlig passiv; dann darf die Kommission ihren Vorschlag doch noch realisieren (filet-Verfahren, Art. 5 Abs. 6 UAbs. 3). Oder er fasst mit qualifizierter59 Mehrheit einen – rein destruktiven – Beschluss 55 Im Beratungsverfahren muss die Kommission dem zuständigen Komitee lediglich den Entwurf des Durchführungsrechtsaktes vorlegen. Die Stellungnahme des Ausschusses hat aber keine bindende Wirkung. Die Kommission trifft im Fall einer ablehnenden Stellungnahme nur die Verpflichtung, die Bedenken des Komitees soweit wie möglich zu berücksichtigen, s. Art. 3 Abs. 4 Komitologiebeschluss 2006. 56 Art. 4 EG/1999/468. 57 Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (711). 58 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 291 AEUV Rn. 17. 59 Im ersten Komitologiebeschluss konnte der Rat hier noch mit einfacher Mehrheit handeln. Dies wurde mit dem zweiten Komitologiebeschluss auf Drängen der Kommission und des Europäischen Parlaments geändert, s. Bergström, Comitology, S. 267 ff; Hausschild, ZG 1999, 248 (252).

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

und verhindert so den Vorschlag der Kommission (contre-filet-Verfahren, Art. 5 UAbs. 2).60. –– Das Regelungsverfahren mit Kontrolle (PRAC61) legt der Kommission nochmals engere Fesseln an. Seine besondere Bedeutung besteht aber vor allem darin, dass das Parlament in die Kontrolle der Durchführungsrechtsetzung stärker eingebunden wird. Es findet daher nur Anwendung, wenn der Verantwortungsbereich des Parlaments durch die Übertragung von Durchführungsbefugnissen besonders empfindlich berührt wird. Dies bestimmt der Komitologiebeschluss anhand von zwei Kriterien: Anwendung findet das PRAC, wenn erstens der Basisrechtsakt die Kommission ermächtigt, Maßnahmen von allgemeiner Tragweite zu erlassen, die „eine Änderung von nicht-wesentlichen Bestimmungen“ des Basisrechtsakts bewirken62; und wenn zweitens der  – durch die Kommission änderbare – Basisrechtsakt im Mitentscheidungsverfahren gemäß Art. 251 EGV ergangen ist. Ist das PRAC demnach einschlägig, werden Rat und Parlament in jedem Fall beteiligt, also sogar im Fall einer zustimmenden Stellungnahme des zuständigen Ausschusses. Auch in diesem Fall können Rat oder Parlament den Erlass der vorgeschlagenen Durchführungsmaßnahme verhindern. Allerdings sind sie insoweit in ihren Ablehnungsgründen im Wesentlichen darauf beschränkt, Rechtsverstöße geltend zu machen.63 Im Fall einer ablehnenden Stellungnahme des Ausschusses gehen zumindest die Rechte des Rates über diese Rechtmäßigkeitsprüfung hinaus: Er kann dann den Vorschlag der Kommission aus beliebigen – eingeschlossen rein politischen – Gründen mit qualifizierter Mehrheit ablehnen. Spricht sich der Rat mit qualifizierter Mehrheit für die Maßnahme aus oder gibt keine Stellungnahme ab, kommt das Parlament ins Spiel. Es kann die Maßnahme innerhalb einer Frist von vier Monaten ablehnen, ist in seinen Ablehnungsgründen aber wie im Fall einer zustimmenden Stellungnahme des Ausschusses und damit anders als der Rat64 auf eine Rechtmäßig 60 Türk, in: Kadelbach, Europäische Integration und parlamentarische Demokratie, S. 131 (133); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 291 AEUV Rn. 17. 61 In Anlehnung an die französische Sprachfassung gebraucht diese Abkürzung die KOM (2009) 673, S. 3 endg., sie steht für: Procédure de réglementation avec contrôle. 62 Zur gleichberechtigten Rolle des Parlaments als Mit-Gesetzgeber neben dem Rat, s. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 94; Gellermann, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 251 Rn. 1; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 251 EGV Rn. 3; Craig/de Búrca, EU Law, S. 61. 63 Die Ablehnung muss damit begründet sein, dass der von der Kommission vorgelegte Entwurf von Maßnahmen über die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausgeht oder dass dieser Entwurf mit dem Ziel oder dem Inhalt des Basisrechtsakts unvereinbar ist oder gegen die Grundsätze der Subsidiarität oder Verhältnismäßigkeit verstößt, Art. 5a Abs. 3b) Komitologiebeschluss 2006; s. dazu auch Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 3. 64 Das Parlament hat somit in diesem Fall nicht dieselben Kontrollrechte wie der Rat, s. Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 5; krit. dazu Fuhrmann, DÖV 2007, 464 (468), die eine entsprechende Beschränkung des Rates in seinen Ablehnungsgründen befürwortet.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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keitskontrolle beschränkt.65 Es kann den Vorschlag somit nur ablehnen, wenn er die Grenzen des Basisrechtsakts sprengt oder gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit oder Subsidiarität verstößt. Art. 7 Abs.  3 des Komitologiebeschlusses verpflichtet die Kommission, das Europäische Parlament regelmäßig von der Arbeit der Ausschüsse zu unterrichten; auf dieser Grundlage wird das Parlament insbesondere über Entwürfe zu Durchführungsmaßnahmen informiert, die aufgrund eines im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Basisrechtsakts ergehen. Weiter erstreckt sich der Informationsanspruch auf die Tagesordnungen der Ausschüsse und ihre Kurzniederschriften. Interinstitutionelle Vereinbarungen regeln die Modalitäten des Informationsflusses zwischen den Organen.66 Um die obligatorische Unterrichtung praktisch umsetzen zu können, hat die Kommission ein elektronisches Register eingerichtet (das sog. Komitologieregister), zu dem das Parlament unmittelbaren Zugang hat.67 Gegen Durchführungsakte der Union, die auf im Mitentscheidungsverfahren ergangenen Rechtsakten beruhen, kann das Parlament – unabhängig von seinen Rechten in den jeweiligen Ausschussverfahren – allgemein den Einwand vorbringen, der Entwurf der Durchführungsmaßnahme überschreite die im Basisrechtsakt übertragenen Befugnisse (Art. 8 des Komitologiebeschlusses). Ein solches Vorbringen verpflichtet die Kommission zur Überprüfung ihrer Maßnahme; ein solcher Einwand zwingt die Kommission indes nicht dazu, ihren Basisrechtsakt anzupassen. Sie kann das Verfahren auch schlicht fortsetzen.

C. Streitpunkte, Friktionen, Unklarheiten Die Durchführungsrechtsetzung als solche wie auch die Praxis, hierbei Komitees einzusetzen, führten – trotz ihrer frühen Billigung durch den EuGH – zu zahlreichen Unklarheiten und Streitigkeiten zwischen den Organen.



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McDonnell, FS Bieber, S. 372 (384). s. insbesondere Vereinbarung zwischen dem Europäischem Parlament und der Kommission über die Modalitäten der Anwendung des Beschlusses 1999/468/EG des Rates zur Fest­ legung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, in der Fassung des Beschlusses 2006/512/EG (ABl. EU 2008/C 143/01 v. 10.6.2008); Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 8. 67 Darauf einigten sich Kommission und Parlament bereits in einer inter-institutionellen Vereinbarung zum zweiten Komitologiebeschluss (Fontaine-Prodi-Agreement, Art.  4), s. Berg­ ström, Comitology, S. 279 f. Im Zuge des Komitologiebeschlusses aus dem Jahre 2006 wurde dieses Register weiter mit Materialien angereichert, Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 8. s. Nr. 2 der Vereinbarung zwischen dem Europäischem Parlament und der Kommission über die Modalitäten der Anwendung des Beschlusses 1999/468/EG des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, in der Fassung des Beschlusses 2006/512/EG (ABl. EU 2008/C 143/01 v.10.6.2008).

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

I. Reichweite der Übertragung von Durchführungsbefugnissen Unklar war vor allem, in welchem Maß sich der Rat einer eigenen Regelung enthalten und Befugnisse auf die Kommission übertragen durfte. Der Vertragstext erwies sich diesbezüglich als wenig ergiebig. Lediglich der Begriff der Durchführungsbefugnisse taugte als Anhaltspunkt dafür, was der Rat an Befugnissen auf die Kommission positiv übertragen durfte: Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV ermächtigte den Rat nur, „Befugnisse zur Durchführung“ zu übertragen. Befugnisse, die nicht der Durchführung dienten, waren mithin von der Ermächtigung des Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV nicht erfasst. Leider eignete sich der Begriff der „Durchführung“ nur bedingt, um eine greifbare Grenze zwischen übertragbaren und nicht übertragbaren Befugnissen zu formulieren. Der Begriff der Durchführung ist weitgehend unbestimmt; sein potentieller Anwendungsbereich damit entsprechend groß.68 Der Begriff der Durchführung war (und ist) in den Verträgen nicht definiert. Zusätzliche Unklarheit bereitete der Umstand, dass der Begriff der Durchführung und insbesondere seine englischen (implementation) und französischen (exécution) Entsprechungen sehr allgemeine Begrifflichkeiten sind, die auch in anderen Zusammenhängen verwendet werden – so werden etwa Richtlinien durch die Mitgliedstaaten durchgeführt, die Gemeinschaft ist für die Durchführung der in Art. 3 und 4 genannten gemeinsamen Politiken und Maßnahmen zuständig.69 Überdies gebrauchte ein Großteil der Literatur den Begriff der Durchführung bzw. seine fremdsprachlichen Äquivalente für jedwede Form von gemeinschaftsrechtlichem Verwaltungsrecht, also auch für jede Art des Vollzugs.70 Besonders nachvollziehbar wird dieses weite Begriffsverständnis, betrachtet man etwa die französische Sprachversion: Dort wird Durchführung als „exécution“ bezeichnet; dies ließe sich gleichermaßen wie mit „Durchführung“ mit „Vollzug“ ins Deutsche übersetzen. Es war damit nicht möglich einen allgemeingültigen Begriff der Durchführung zu bilden, und zwar nicht einmal für den EGV.71 Der EuGH formulierte Delegationsgrenzen denn auch nur in begrenzter Weise ausgehend vom Begriff der Durchführung des Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV. Sofern er überhaupt seine Argumentation auf dem Begriff der Durchführung aufbaute, beschränkte sich der EuGH in der Regel darauf zu betonen, dass der Begriff der Durchführung weit zu verstehen sei.72 Dies ergebe sich aus dem Gesamtzusam

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Bergström, Comitology, S. 292. Zur Unergiebigkeit des Begriffs der Durchführung für die Begrenzung der Übertragbarkeit von Befugnissen, s. Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftliche Durchführungsrecht­ setzung, S. 189 f. 70 s. Möllers, EuR 2002, 483 (496), mit Nachweisen in Fn. 65. 71 Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 190. 72 EuGH Rs. 23/75 (Rey Soda), Slg. 1975, 1279 Rn. 10/14.

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menhang des Vertrages … sowie den Anforderungen der Praxis“. Nur die Kommission sei „in der Lage, die Entwicklung der Agrarmärkte ständig und aufmerksam zu verfolgen und mit der durch die Situation gebotenen Schnelligkeit zu handeln.“73 Ob eine Maßnahme „wichtig“ sei oder nicht, stelle dabei kein ausschlaggebendes Kriterium für ihren Charakter als „Durchführungs“-Maßnahme dar.74 Wenig erhellend war auch eine weitergehende Präzisierung, die der EuGH in einem Urteil aus dem Jahr 1989 vornahm. Dort führte der Gerichtshof aus, der Begriff der Durchführung erfasse „sowohl die Ausarbeitung von Durchführungsvorschriften als auch die Anwendung von Vorschriften auf den Einzelfall durch den Erlass individueller Rechtsakte.“75

Meistens wählte der EuGH als Ausgangspunkt für seine Argumentation nicht den textlich verankerten Begriff der Durchführung, fragte also nicht positiv, welche Materie als Durchführungsbefugnis zu qualifizieren und daher einer Über­ tragung zugänglich war, sondern überlegte negativ, welche Bereiche einer Übertragung entzogen seien. Schon früh hatte der EuGH insoweit klargestellt: „[Es] ist nicht zu fordern, dass der Rat alle Einzelheiten der Verordnungen über die gemeinsame Agrarpolitik nach dem Verfahren des Art. 43 regelt. Dieser Vorschrift ist vielmehr Genüge getan, wenn die wesentlichen Grundzüge der zu regelnden Materie nach diesem Verfahren festgelegt worden sind.“76

Eine negative Delegationsgrenze war somit mit dem Kriterium der „wesentlichen“ Grundzüge umschrieben. Die wesentlichen Grundzüge musste der Gesetzgeber im primärrechtlich vorgesehenen Verfahren, insbesondere mit der vorgeschriebenen parlamentarischen Beteiligung regeln; das Nicht-Wesentliche durfte er der Kommission überlassen, die über den betreffenden Regelungsgegenstand in einem vereinfachten Verfahren, also insbesondere: ohne parlamentarische Beteiligung, befinden durfte. Was aber genau so „wesentlich“ war, dass es der Möglichkeit einer Delegation entzogen war, und was nicht, blieb naturgemäß recht unbestimmt. Meistens stellte der EuGH nur fest, was nicht wesentlich war und deshalb auf die Kommission übertragen werden durfte. Für nicht wesentlich hielt der EuGH etwa die Einführung von Sanktionen.77 Die Kommission konnte mithin aufgrund einer Ermächtigung, „die Durchführungsbestimmungen …, insbesondere über die Beantragung und die Zahlung von

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EuGH Rs. 23/75 (Rey Soda), Slg. 1975, 1279 Rn. 10/14. EuGH Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma), Slg. 1970, 661 Rn. 63/67: „Da die Anhörung der Beteiligten im Grundsatz vom Rat vorgeschrieben ist, stellen die Vorschriften über das hierbei einzuhaltende Verfahren, so wichtig sie auch sein mögen, Durchführungsmaßnahmen im Sinne des erwähnten Art. 155 dar.“ 75 EuGH RS. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457 Rn. 11. 76 So der EuGH in der Leitentscheidung Rs. 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161 Rn. 6. 77 EuGH, Rs. C-240/90 (BRD/Kommission), Slg. 1992, I-5383 Rn. 37.

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Prämien“78, sogar Sanktionen einführen, welche das unrechtmäßige Beziehen von Prämien ahndeten.79 Ausdrücklich wandte sich der Gerichtshof dabei gegen die von der deutschen Bundesregierung vorgetragene Argumentationslinie, dass Vorschriften von eigenständiger Grundrechtsrelevanz immer als „wesentlicher Bestandteil“ einer Materie aufgefasst werden müssten. Für wesentlich, zumindest im Bereich der Landwirtschaft, hielt der EuGH hingegen nur „solche Bestimmungen, durch die die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitik umgesetzt werden.“80 Angesichts dieses großzügigen Maßstabs verwundert es nicht, dass, soweit ersichtlich, der EuGH nie eine Ermächtigung in einem Basisrechtsakt als zu weitgehend verworfen hat.81 Praktisch nochmals erweitert wurde die Reichweite der übertragbaren Befugnisse dadurch, dass der EuGH auch an die Auslegung der Ermächtigung durch die Kommission keine strengen Anforderungen stellte; weder auf Seite des Übertragenden, noch auf Seite des Befugnisempfängers legte er besonders strenge Maßstäbe an, wenn er formulierte: „Hat der Rat der Kommission eine weitreichende Zuständigkeit verliehen, so sind deren Grenzen nach den allgemeinen Hauptzielen der Marktorganisation und weniger nach dem Buchstaben der Ermächtigung zu beurteilen.“82

Die Kommission durfte also alle für die Durchführung der Grundregelung erforderlichen oder zweckmäßigen Maßnahmen ergreifen, soweit diese nicht gegen die Grundregelung verstießen.83 Immerhin hat der EuGH bisweilen bejaht, dass die Kommission die ihr übertragenen Befugnisse überschritten habe84; er legte damit an das Handeln der Kommission in Ausübung der ihr übertragenen Befugnisse tendenziell strengere Maßstäbe an als an den Übertragungsakt des Rates.85 Dieser verfügte über sehr weitgehendes Ermessen, wie viel seiner Befugnisse er der Kommission zur „Ergänzung“ oder gar zur „Änderung“ des ermächtigenden Basisrechtsaktes überlassen wollte. Solange er die „wesentlichen Grundzüge“86, die „allgemeinen Regeln87“ für eine Materie „im Grundsatz … vorgeschrieben88“

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Art. 5 Abs. 9, 3. Spiegelstrich VO (EWG) Nr. 3013/89 des Rates. Art. 6 der VO Nr. 3007/84 der Kommission. 80 EuGH, Rs. C-240/90 (BRD/Kommission), Slg. 1992, I-5383 Rn. 37; die Einschränkung, die der EuGH in der Rs 22/88 (Vreugdenhil), Slg. 1989, 2049 Rn. 17 vornahm, nämlich dass die weite Auslegung des Durchführungsbegriffs tatsächlich nur im Agrarbereich Gültigkeit beanspruche, hat der Gerichtshof nicht wiederholt. Die Einschränkung blieb daher ohne Folgen für die fortdauernd großzügige Haltung des EuGH, s. Möllers, EuR 2002, 483 (488). 81 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (49). 82 EuGH, Rs. 23/75 (Rey Soda), Slg. 1975, 1279 Rn. 10/14. 83 EuGH, RS. C-403/05 (EP/Kommission), Slg. 2007, I-9047 Rn.  51; EuGH, Rs. 121/83 (Zuckerfabrik Franken), Slg. 1984, 2039 Rn. 13. 84 EuGH Rs. 22/88 (Vreugdenhil), Slg. 1989, 2049 Rn. 20. 85 Vgl. Möllers, Gewaltengliederung, S. 283. 86 EuGH, Rs. 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161 Rn. 6. 87 EuGH, Rs. 121/83 (Zuckerfabrik Franken), Slg. 1984, 2039 Rn. 7. 88 EuGH, Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma), Slg. 1979, 661 Rn. 63/67.

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hatte, war er frei, die Kommission mit der Regelung „der Einzelheiten“ bzw. mit „dem Erlass der „Durchführungsbestimmungen89“ zu betrauen. Von daher verwundert es nicht, dass die Maßnahmen, welche die Kommission als Durchführungsakte erließ, von schillernder Vielfalt waren. Die Aufgaben der Kommission im Zusammenhang mit der Durchführung reichten vom Erlass von Einzelfallentscheidungen über die Anpassung von Richtlinien an den technischen Fortschritt bis hin zur Normkonkretisierung und gar der Ausfüllung von Generalklauseln, die in ihrer Offenheit an Blankettermächtigungen erinnerten.90 Bisweilen löste eine sehr weite Auslegung des Durchführungsbegriffs sogar die Grenze zwischen der Konkretisierung und der Änderung des Basisrechtsakts auf.91 Die Kommission hatte beim Erlass von Durchführungsakten bisweilen großen Gestaltungsspielraum, der sich von dem eines rechtlich nur in geringem Maße determinierten „Gesetzgebers“ kaum unterschied und auf nationaler Ebene wohl dem Aufgabengehalt der „Gubernative“ entsprechen würde92; in anderen Fällen wiederum, insbesondere beim Erlass von Einzelakten, ähnelte der Erlass von Durchführungs­akten verwaltender Tätigkeit. II. Verfahren beim Erlass von Durchführungsbefugnissen: Komitologie Zu Reibungspunkten zwischen den Organen kam es überdies vor allem im Zusammenhang mit der Komitologie. Die Äußerungen zum Wert dieser Praxis divergieren stark.93 Während manche Stimmen die Vorteile und wichtigen Funktionen der Komitologie betonen, weisen andere auf  – insbesondere: demokratische  – Defizite des Ausschusswesens hin. 1. Legitimationsgewinne und Funktionen der Komitologie Die primäre Funktion der Ausschüsse war die Kontrolle der Durchführungsrechtsetzung der Kommission. Diese Kontrolle wirkt dabei zweigleisig94: Zum einen beteiligte die Praxis der Komitologie die nationalen Verwaltungen an der Durchführungsrechtsetzung95;

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EuGH, Rs. 41/69 (ACF Chemiefarma), Slg. 1979, 661 Rn.  63/67; EuGH, Rs. 25/70 (­Köster), Slg. 1970, 1161 Rn. 6. 90 s. diese Kategorisierung bei Roller, KritV 2003, 249 (256 ff.). 91 Möllers, EuR 2002, 483 (490). 92 Möllers, EuR 2002, 483 (509). 93 Craig, Administrative Law, S. 121. 94 Vgl. Bergström, Comitology, S. 55; Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (117); Hofmann, Normenhierarchien, S. 175. 95 Bergström, Comitology, S. 140.

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zum anderen gab das Ausschusswesen auch dem Rat als primär delegierendem Organ gewisse Kontrollinstrumente an die Hand.96 Mit der Kontrollfunktion der Ausschüsse eng verbunden war ihre praktische Eigenschaft als „Alarmglocke97“ oder „Frühwarnsystem“: Stieß ein Vorschlag der Kommission in einem Ausschuss auf Widerstand, war dies in der Regel ein sicheres Zeichen für die politische Brisanz der betreffenden Durchführungsmaßnahme.98 Der Rat konnte sich damit relativ entspannt zurücklehnen. Ohne die Einzelheiten der aktuell debattierten Durchführungsmaßnahmen verfolgen und sich in die teilweise recht komplexen Materien einarbeiten zu müssen, konnte er darauf vertrauen, dass die Komitees ihn rechtzeitig auf konfliktträchtige Regelungen hinweisen würden. Die Ausschüsse waren aber nicht nur Ausdruck des Misstrauens der Mitgliedstaaten gegenüber zu weitgehenden Kompetenzen der Kommission und damit der Institution, die allein dem Gemeinschaftsinteresse verpflichtet ist. Neben der Kontrollfunktion erbrachte das Ausschusswesen weitere wichtige Dienste. So dürfte das Ausschusswesen für den Rat einen wesentlichen Anreiz dafür geschaffen haben, überhaupt Durchführungsbefugnisse auf die Kommission zu übertragen.99 Überrollt vom enormen Normierungsbedarf im Zuge der Schaffung einheitlicher Märkte, erkannte der Rat zwar die Notwendigkeit, Befugnisse auf die Kommission zu übertragen; zugleich wollten der Rat bzw. die Mitgliedstaaten der Kommission keinen Blankoscheck für die Durchführung ausstellen.100 Dies galt umso mehr, als die Durchführungsmaßnahmen, welche die Kommission erließ, auch für den Rat bindend waren.101 Erst das Ausschusswesen ermöglichte es dem Rat, sich guten Gewissens bestimmter Rechtsetzungsaufgaben zu entledi-



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Vgl. Bergström, Comitology, S. 55; Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710; Wolfram, Underground Law, S. 12 spricht sogar davon, dass die Ausschüsse „im Wesentlichen“ ein Kontroll­ instrument des Rates darstellten. Dies lege ihre Entstehungsgeschichte nahe. 97 Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 211 Rn. 79; Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (117). 98 Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 211 Rn. 79. 99 Für das Parlament wirkte dieser Anreiz angesichts seiner begrenzten Mitspracherechte in der Komitologie naturgemäß weniger. Gerade in Bereichen, in denen das Mitentscheidungsverfahren anwendbar war, tendierte der Gemeinschaftsgesetzgeber daher dazu, zu detaillierte Regelungen zu erlassen. Von daher verwundert es nicht, dass im Vertrag von Amsterdam in manchen Bereichen auf die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens aus Angst vor zu detaillierten gesetzlichen Regelungen verzichtet wurde, s. Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (661). 100 Craig, EU Administrative Law, S. 104. 101 Craig, EU Administrative Law, S.  104. Auch die Kommission erließ im Rahmen ihrer Durchführungsbefugnisse nämlich Verordnungen, Richtlinien usw., die sich in ihrer Wirkweise von den entsprechenden Rechtsakten des Rates nicht unterschieden. Deshalb hatte jede Befugnisübertragung weitreichende Folgen: Wollte der Rat die Ermächtigung rückgängig machen, musste er einen neuen Basisrechtsakt erlassen, der die Ermächtigung aufhob. Hierzu bedurfte er aber eines entsprechenden Initiativvorschlags der Kommission, s. dazu noch unten unter § 1 C. IV.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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gen. Die Komitologie förderte somit den eigentlichen Zweck, der hinter der Über­ tragung von Befugnissen auf die Kommission stand: Ohne die Kontrolle durch die Ausschüsse hätte sich der Rat u. U. weniger häufig bereit gefunden102, Befugnisse auf die Kommission zu übertragen – schließlich bedeutet die Übertragung einen Machtverzicht. Dies hätte möglicherweise dazu geführt, dass der Rat den Regelungsbedarf der Europäischen Gemeinschaft mit seinen Ressourcen nicht hätte decken können. Ebenfalls im Einklang mit den Gründen, die schon grundsätzlich für eine Übertragung von Durchführungsbefugnissen streiten, trug das System der Komitologie (grundsätzlich) zu effizienteren Entscheidungsstrukturen im Rat bei. Es ermöglichte den Vertretern der Mitgliedstaaten im Rat, sich auf die „wesentlichen Grundzüge“ einer Materie zu beschränken. Dieses Vorgehen vermied eine Überbeanspruchung mitgliedstaatlicher Kompromissbereitschaft. Kompromisse konnten besser auf Ebene der Ausschüsse erzielt werden, in denen meist ein gutes Arbeitsklima herrschte.103 Überdies wirkte sich das Ausschusswesen positiv im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten aus. Die Beteiligung nationaler Vertreter beim Erlass von Durchführungsbestimmungen förderte die Interaktion und Kooperation zwischen der Kommission und den nationalen Verwaltungen104, die für die Anwendung der Regeln auf nationaler Ebene schließlich zuständig sein würden.105 Damit verhalf die Komitologie zu einem effektiveren Vollzug des Gemeinschaftsrechts.106 Neben der tatsächlichen Umsetzbarkeit der von der Kommission erlassenen Regelungen war dieses System der Kooperation107 der Akzeptanz der von der Kommission erlassenen Regelungen in den Mitgliedstaaten zuträglich, was die Durchsetzbarkeit der Maßnahmen nochmals erleichterte.108 Schließlich unterstützte das System der Komitologie die Kommission beim Erlass der Durchführungsmaßnahmen. Die Ausschussmitglieder in den Ausschüssen zeichneten sich nämlich nicht nur durch ihre Eigenschaft als Vertreter mitgliedstaatlicher Interessen aus; sie verfügten auch über enormen Sachverstand.109 Die 102

Schusterschutz, Public Affairs Manager, 2008, S.  2; Bergström, Comitology, S.  55. Diese Bereitschaft drohte abzunehmen, als das Parlament zunehmend als Mitgesetzgeber tätig wurde, ohne dass ihm in gleicher Weise wie dem Rat Einfluss im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung zuerkannt wurde, s. dazu Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 50 f. 103 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 46. 104 Hofmann, ELJ 2009, 483 (499); Möllers, Gewaltengliederung, S.  347; Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 (256); Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (53 f.); Dann, ELJ 2003, 549 (565). 105 Craig, EU Administrative Law, S. 104; Vos, FS Kellermann, S. 111 (116); Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (663); Fuhrmann, DÖV 2007, 464 (467). 106 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (53); Roller, KritV 2003, 249 (250 f.). 107 Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 (269) sprechen von der Komitologie als einer Form „of integration of the Commission and the national experts“. 108 Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (715). 109 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 45.

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

sen vermochten sie in das Verfahren der Durchführungsrechtsetzung einzubringen und damit entscheidenden Einfluss auf die Durchführungsmaßnahmen der Kommission zu nehmen.110 Die Komitees waren demnach nicht (primär) eine Bastion mitgliedstaatlicher Egoismen, sondern ein Ort, an dem Fachleute ihr Wissen austauschen konnten und somit einen rationalen Diskurs ermöglichten.111 Insbesondere bei hochkomplexen technischen Regeln konnten sie der Kommission auf diese Weise wertvolle Hilfestellung leisten.112 2. Friktionen Mehr im Blickpunkt als die Legitimationsgewinne durch die Komitologie standen allerdings die mit ihr verbundenen Nachteile. Neben allgemeinen Kritikpunkten, die gegen die Komitologie vorgetragen wurden, führte das Ausschusswesen seit seiner Entstehung vor allem zu interinstitutionellen Reibungen. a) Demokratische Verwerfungen und fehlende Transparenz Häufig wurden Ausschüsse als schlimmster Fortsatz der ohnehin schon wenig durchschaubaren europäischen Bürokratie wahrgnommen. Die Ausschüsse tagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit; sie setzten sich aus von den Regierungen ernannten (nicht: gewählten) Technokraten zusammen. Wessels bezeichnet sie als „closed clubs“, die mit ihrer technischen Sprache und ihren schwer zugäng­ lichen informellen Regeln eine Art von „counter-bureaucracy“ bildeten und sich so einer politischen und damit demokratischen Kontrolle entzögen.113 Einer demokratischen Kontrolle wenig zuträglich war überdies der Umstand, dass nicht hinreichend geklärt war, wem gegenüber die Ausschüsse konkret verantwortlich sein sollten.114 Selbst wenn man die deliberativen Vorzüge des Ausschusswesens grundsätzlich anerkennen wollte, stellte sich doch die Frage, wer überhaupt Zugang zu diesem deliberativen Prozess hatte. Manche sahen schon in der zweifelhaften Gleichberechtigung im Zugang schwerwiegende demokratische Verwerfungen.115

110 Zur Arbeitsweise und zum Einfluss der Komitees auf die Kommission, s. ausführlicher Wolfram, Underground Law, S. 13. 111 So positiv sehen dies zumindest Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (663) und Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (54) m. w. Angaben zur skeptischeren Gegenmeinung in Fn. 72; differenzierend auch Craig, Administrative Law, S. 116, der daran erinnert, dass die Kommission das Komitologieverfahren wohl nicht ohne Grund los werden wollte. 112 Beer, EuZW 2010, 201. 113 So Wessels, in: Joerges/Vos, EU Committees, S. 259 (265); vgl. auch Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 47. 114 Craig, Administrative Law, S. 122 m. w. N. 115 Weiler, in: Jorges/Vos, EU Committees, S. 339 (349 ff.).

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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Schließlich wurde über Transparenzdefizite und die hohen Kosten des Ausschusswesens geklagt.116 b) Die Kommission und die Komitologie Obgleich die Kommission durch die Durchführungsrechtsetzung erhebliche Entscheidungsmacht erhält, zeigte auch sie sich unzufrieden mit der Praxis der Komitologie. Wenig auszusetzen hatte sie naturgemäß an der Neigung des Rates, ihr überhaupt Durchführungsbefugnisse zu übertragen; bedeutete dies doch schlicht einen Machtzuwachs für die Kommission. Kritisch stand die Kommission hingegen der  – zunächst gewohnheitsmäßigen, später im Komitologiebeschluss formalisierten  – Praxis des Rates gegenüber, sie bei ihrer Durchführungsrecht­ setzung der Kontrolle durch Ausschüsse zu unterwerfen.117 Nur auf den ersten Blick als besonders problematisch stellte sich die Rechtslage vor der EEA dar. Zur Erinnerung: Zwar setzten die Verträge damals voraus, dass der Rat der Kommission Durchführungsbefugnisse übertrug.118 Eine explizite Rechtsgrundlage für eine mitgliedstaatliche Kontrolle der Kommission durch die systematische Einschaltung von Komitees enthielten die Verträge hingegen nicht.119 Insofern schien die Einschaltung der Ausschüsse und die Beschränkung der Position der Kommission unter dem Gesichtspunkt des institutionellen Gleichgewichts problematisch.120 Dieser Grundsatz verlangt, dass die Organe ihre Befugnisse immer unter Berücksichtigung der Befugnisse der anderen Organe ausüben;121 er soll Aufgabenverschiebungen zwischen den Organen verhindern und auf diese Weise die in den Verträgen ausbalancierte Kompetenz- und Befugnisordnung wahren.122 Stand dieser Grundsatz nicht der Praxis entgegen, Befugnisse, die in Übereinstimmung mit dem Vertrag einmal auf die Kommission übertragen wurden, über die Ausschüsse wieder an den Rat zurückzukoppeln?123 Der EuGH überwand in der Köster-Entscheidung124 diese nur vermeintliche Hürde durch ein sim 116

Dazu Schäfer, in: Adenas/Türk, Delegated Legislation, S. 3 (22 f.). Schütze, Shapening the Separation of Powers through  a Hierarchy of Norms?, EIPA ­Working Paper 2005/W/01, S. 13. 118 Gemäß Art. 155, 4. Spiegelstrich EWGV übte die Kommission die Befugnisse aus, die ihr der Rat zur Durchführung übertrug. 119 Erst die Neufassung von Art. 145, 3. Spiegelstrich EWGV änderte diesen Zustand. 120 Zum institutionellen Gleichgewicht, auch im Vergleich zum Gewaltenteilungsgrundsatz, s. Conway, ELJ 2011, 304 (319 f.); Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 3 Rn. 26; entwickelt wurde dieser Grundsatz in der europäischen Rechtsprechung, s. etwa EuGH, Rs. C-70/88 (Tschernobyl I), Slg. 1990, I-2041, Rn. 21; Rs. 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161 Ls. 1; Rs. 138/79 (Roquette Frères), Slg. 1980, 3333, Ls. 4. 121 Dazu s. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV; 5. Aufl. 2011, Art. 13 EUV Rn. 9 ff. 122 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 131. 123 Vgl. dazu Jacqué, in: Joerges/Vos, EU Committees, S. 59 (60). 124 EuGH, Rs. 25/70 (Köster), Slg. 1970, 1161 Rn. 9. 117

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

ples und im Ergebnis überzeugendes Argument a maiore ad ­minus.125 Weil es dem Rat nach dem Primärrecht völlig freistehe, ob er der Kommission Durchführungsbefugnisse übertrage, könne er  – gewissermaßen als minus zu einer vollständigen Übertragung – die Kommission auch nur unter bestimmten Bedingungen oder „Modalitäten“ zur Durchführung ermächtigen. Dem Vertrag ließ sich vor der EEA somit gerade noch kein „institutionelles Gleichgewicht“ des Inhalts entnehmen, dass Übergriffe bzw. Beschränkungen der Kommission in ihrer Durchführungsrechtsetzung durch den Rat eine Verschiebung eines primärrechtlich zwischen den Organen angelegten Gleichgewichts bewirkt hätten. Die Möglichkeit eines solchen maiore-ad-minus-Arguments war mit dem Inkrafttreten der EEA obsolet: führte diese doch den Grundsatz der Regeldelegation ein; das „institutionelle Gleichgewicht“ hatte sich in Bezug auf die Durchführungsrechtsetzung zugunsten der Kommission verändert. Das indikativische, voraussetzungslose „Übertragen“ sowie die Tatsache, dass der Rat sich Durchführungsbefugnisse nur in „spezifischen Fällen“ vorbehalten darf, werden einhellig als Beleg dafür verstanden, dass die Kommission regelmäßig zur Durchführung berufen ist126 oder sogar weitergehend, dass den Rat grundsätzlich eine Pflicht zur Übertragung der Durchführungsbefugnisse auf die Kommission trifft127; jedenfalls stehe der Rat unter erhöhtem Rechtsfertigungsdruck, wenn er sich die Durch­führungsbefugnisse selbst vorbehalten wolle.128 Dem Rat stand es also gerade nicht mehr frei, der Kommission Durchführungsbefugnisse zu übertragen. Das maiore-ad-minus-Argument hatte somit an Berechtigung verloren. Stattdessen schuf die EEA aber eine ausdrückliche Rechtsgrundlage, die dem Rat erlaubte, im Voraus die Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Befugnisse festzulegen.129

125 Überzeugend finden dies Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (714); ablehnend jedoch Schindler, DVBl 1971, 356 (357). 126 Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art.  202 EG Rn.  12; Möllers, EuR 2002, 483; Hummer/Obwexer, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 202 EGV Rn. 25; EuGH, C 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457; EuGH, C-378/00 (Kommission/Rat und Parlament), Slg. 2003, I-937; Schlussantrag des Generalanwalts Geelhoed Rn. 74: „Die allgemeine Regel lautet, dass der Rat die Befugnis zur Durchführung der Kommission überlassen muss.“ EuGH (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-3189 Rn. 47. 127 Haibach, VerwArch 90 (1999), S. 98 (102); Möllers, EuR 2002, 483 (485); Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 202 EGV Rn. 12. 128 Bruha/Münch, NJW 1987, 543 (543); s. ausführlich Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 184. 129 Das genügt für eine zulässige „Durchbrechung“ des institutionellen Gleichgewichts. Denn dieses stellt sich letztlich nur als Reflex des im Primärrecht angelegten Gesamtkonzepts der Zuständigkeiten dar. Deshalb geht das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts nicht über die primärrechtliche Zuständigkeitsordnung hinaus. Die Zuständigkeitsordnung kann also – etwa durch eine weitere primärrechtliche Regelung wie die Ermächtigungsgrundlage in Art.  202, 3. Spiegelstrich EGV – durchaus modifiziert werden.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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Der auf dieser Grundlage ergangene Komitologiebeschluss stieß bei der Kommission jedoch ebenfalls auf Widerstand.130 Gerade im Hinblick auf die Regel­ zuständigkeit der Kommission und den Umstand, dass der Rat sich Durchführungsbefugnisse eigentlich nur in spezifischen Fällen vorbehalten durfte, erschien in der Tat die Einschaltung von Verwaltungs- und Regelungsausschüssen, in denen die Zuständigkeit zur Entscheidung unter Umständen auf den Rat zurückfallen konnte, nicht ohne Folgen für das institutionelle Gleichgewicht.131 Dies gilt im besonderen Maße für das contre-filet-Verfahren, in dem der Rat (zunächst) mit einfacher Mehrheit einen Durchführungsakt der Kommission ablehnen konnte.132 Die Friktionen, welche die Komitologie im Verhältnis zwischen Rat und Kommission hervorrief, dürfen aber nicht überschätzt werden. Schließlich verfügte die Kommission mit ihrem Initiativmonopol für Basisrechtsakte über erheblichen Einfluss darüber, welches Komitologieverfahren tatsächlich Anwendung finden sollte. So hielt sie sich etwa mit Vorschlägen für Rechtsakte, die eine Übertragung von Durchführungsbefugnissen im contre-filet-Verfahren vorsahen, sehr zurück.133 Dennoch drang die Kommission kontinuierlich auf eine Abschaffung oder zumindest Einschränkung der Komitologie.134 Diese Forderungen trugen im Lissabon-Vertrag teilweise Früchte. c) Das Europäische Parlament und die Komitologie Mehr noch als die Kommission war das Europäische Parlament ein „natür­ licher Gegner“ der Durchführungsrechtsetzung. Bedeutete diese und die Praxis der Komito­logie doch einen erheblichen Machtverlust für die europäische Volksvertretung. Die Mitspracherechte, die die Verträge dem Parlament einräumten, und die im Laufe der Entwicklung der Union beständig zunahmen, stellten Anforderungen nur an den Erlass der Basisrechtsakte, also des Sekundärrechts, galten jedoch nicht mehr für den Erlass des sog. Tertiärrechts: Die Kommission konnte also aufgrund der Ermächtigung im Basisrechtsakt und unter Kontrolle der Ausschüsse 130

Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (711). Dazu s. Bradley, CMLRev. 1992, 682 (713 ff.), der deshalb überlegt, die Beschränkung des Rates, Durchführungsbefugnisse nur in spezifischen Fällen auszuüben, auch auf die Fälle zu beziehen, in denen aufgrund eines Komitologieverfahrens auf den Rat die Durchführungskompetenz zurückfallen kann; ansonsten drohte die Begründungspflicht des Art. 145, 3. Spiegelstrich EGV (Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV) unterlaufen zu werden. 132 Hausschild, ZG 1999, 248 (249). 133 Die Kommission beschloss am 8. Juli 1987, in keinem Vorschlag für einen Basisrechtsakt das contre-filet-Verfahren vorzusehen, Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (711); Bergström, Comitology, S.  202: Indem die Kommission keine Vorschläge zur Durchführung im contrefilet-Verfahren machte, musste der Rat am Vorschlag der Kommission für den Basisrechtsakt Änderungen vornehmen, welche nur einstimmig ergehen konnten. 134 s. etwa Weißpapier Europäisches Regieren, KOM(2001) 428 endg., S.  40; Craig, in: ­Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (114). 131

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ohne diese parlamentarische Beteiligung Durchführungsakte – „Tertiärrecht“ – in einem vereinfachten Verfahren erlassen. Überdies sicherte das Ausschusswesen Kontrolle lediglich den Mitgliedstaaten und dem Rat, an den die Befugnis zum Erlass von Durchführungsrecht wieder zurückfallen konnte. Das Parlament blieb bei der Durchführungsrechtsetzung weitgehend außen vor. Es monierte schon in den Anfangszeiten der Komitologie die Tendenz, dass eine wachsende Zahl von An­ gelegenheiten mit „legislative bearing“ als Durchführungsmaßnahmen ergingen, um so die Beteiligungsrechte des Parlaments ins Leere laufen zu lassen.135 aa) Das Parlament und die Komitologie: Eine Geschichte des interinstitutionellen Konflikts Demnach war es durchaus nachvollziehbar, dass das Parlament sich aus­ geschlossen fühlte. Seitdem der Rat begonnen hatte, Durchführungsbefugnisse auf die Kommission zu übertragen, drängte es deshalb zum einen auf mehr Mitsprache- und Kontrollrechte. Zum anderen suchte es, die Reichweite dessen, was als „Durchführungsbefugnis“ einer Delegation überhaupt zugänglich war, zu begrenzen. Hierbei erfuhr es, wie bereits erwähnt, wenig Unterstützung durch den Gerichtshof, der in seiner Judikatur zu den Durchführungsbefugnissen eine kon­ sequente Linie verfolgte und stets betonte, der Begriff der Durchführung sei „weit“ auszulegen. Mehrmals ging das Parlament gegen seiner Ansicht nach zu weitgehende Befugnisübertragungen vor136; keinmal kippte der Gerichtshof eine Be­ fugnisübertragung als zu weitgehend.137 Eher schien der EuGH geneigt, weitestgehende Befugnisübertragungen zu befördern, und dies völlig unabhängig davon, welche Beteiligungsrechte dem Parlament primärrechtlich für den Erlass des Basisrechtsakts eigentlich zustanden.138 Gerade die primärrechtlichen Beteiligungsrechte des Parlaments beim Erlass des Basisrechtsakts gaben dem Parlament zur Unterstützung seiner Forderungen zunehmend argumentatives Material an die Hand. Alle Vertragsänderungen hatten eines gemein: Sie bauten die parlamentarischen Mitspracherechte aus.139 Spätestens als der Vertrag von Maastricht das Mitentscheidungsverfahren einführte, bei dem das Parlament neben dem Rat als gleichberechtigter Gesetzgeber tätig wird, wurde die Diskrepanz zwischen der primärrechtlich vorgesehenen parlamentarischen Beteiligung und dem Fehlen jeglichen parlamentarischen Einflusses im Verfahren der Durchführungsrechtsetzung besonders augenfällig: Während das Parla 135

Bergström, Comitology, S. 89. s. nur EuGH, Rs. C-156/93 (EP/Kommission), Slg. 1995, I-2019 und EuGH, Rs. C-417, 93 (EP/Rat), Slg. 1995, I-1185. 137 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (49). 138 Bergström, Comitology, S. 307. 139 Vor allem die Verträge von Maastricht und Amsterdam bedeuteten eine Aufwertung des Parlaments, s. etwa McDonnell, FS Bieber, S. 372 (377). 136

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ment beim Erlass des Basisrechtsakts auf einer Stufe mit dem Rat stand, spielte es beim Erlass des Durchführungsrechts schlicht keine Rolle mehr. Diese Diskrepanz nahm das Parlament zum Anlass, um nach der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens ganz grundlegend gegen die Praxis der Durchführung zu opponieren.140 Es äußerte die Ansicht, dass Art. 202 EGV, 3. Spiegelstrich (ex Art. 145) nur für solche Rechtsakte gelte, die allein vom Rat erlassen würden.141 Dies ergebe sich aus der Formulierung „in den von ihm erlassenen Rechts­akten“. Rechtsakte, die im Mitentscheidungsverfahren erlassen wurden, seien nicht „von ihm“, also dem Rat, erlassen und daher von der Regelung nicht erfasst. Für im Mitentscheidungsverfahren erlassene Rechtsakte finde Art. 202, 3 Spiegelstrich EGV (ex. Art. 145) somit keine Anwendung. Insoweit bestehe eine Regelungslücke. Freunde fand diese Auffassung des Parlaments allerdings kaum. Immerhin gelang es dem Parlament, einige seiner Forderungen, die durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens ja durchaus an Durchschlagskraft gewonnen hatten, in einer interinstitutionellen Vereinbarung zu verankern.142 Der modus ­vivendi143 vom 20.  Dezember 1994 enthielt allerdings nur unverbindliche „Guidelines“ für die Durchführungsrechtsetzung.144 Sie galten in denjenigen Fällen, in denen der Ausschluss des Parlaments von der Durchführungsrechtsetzung besonders schmerzlich zutage trat: Nämlich dann, wenn der ermächtigende Basisrechtsakt im Mitentscheidungsverfahren ergangen war und die Kommission zum Erlass von Durchführungsrechtsakten „von allgemeiner Bedeutung“ ermächtigte.145 Zu parlamentarischen Rechten enthielt der modus vivendi folgende Regelungen: So war die Kommission verpflichtet, jeden Entwurf eines Durchführungsrechtsakts von allgemeiner Bedeutung, der auf einem im Mitentscheidungsverfahren ergangenen Basisrechtsakt beruhte, dem Parlament zur gleichen Zeit zuzuleiten, wie dem jeweils zuständigen Komitee. Überdies sollte die Kommission das Parlament über jede abweichende Stellungnahme eines Komitees informieren. Ins­gesamt sollte die Kommission Stellungnahmen des Parlaments soweit wie möglich berücksichtigen. Den Rat trafen im Fall, dass die Durchführungskompetenz aufgrund einer ablehnenden Stellungnahme eines Komitees an ihn zurückfielen, ebenfalls Pflichten: Er musste das Parlament von dem „Rückfall“ der Durchführungskompetenz informieren und im Falle einer ablehnenden Stellungnahme des Parlaments die Ansicht des Parlaments zumindest angemessen berücksichtigen.

140

Bergström, Comitology, S. 219 ff.; Jacqué, in: Joerges/Vos, EU Committees, S. 59 (67). Craig, EU Administrative Law, S. 109; Bergström, Comitology, S. 295; Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (128). 142 Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (712); Bergström, Comitology, S. 227. 143 ABl. C 293 vom 8.11.1995, S. 1. 144 Bergström, Comitology, S. 227; Hausschild, ZG 1999, 248 (249). 145 Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (712); Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (128 ff.); Bergström, Comitology, S. 227 ff. 141

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

Letztlich brachte der modus vivendi nur einen vorübergehenden Waffenstillstand.146 Das Parlament kämpfte weiter. Der nächste Schritt in der Reihe der Zwischenerfolge des Parlaments war der zweite Komitologiebeschluss vom 28. Juni 1999.147 Die zuvor im modus vivendi nur unverbindlich formulierten Informationsrechte148 des Parlaments fanden im zweiten Komitologiebeschluss eine verbind­ liche Verankerung.149 Zudem erhielt das Parlament ein Recht auf Stellungnahme150: Es konnte einen Beschluss fassen und äußern, dass ein Entwurf für einen Durchführungsakt die im Mitentscheidungsverfahren übertragenen Durchführungsbefugnisse überschreite.151 Rechtsfolgen hatte eine solche Stellungnahme des Parlaments aber kaum: Die Kommission musste in einem solchen Fall das Parlament lediglich über ihr weiteres Vorgehen unterrichten, war aber in keiner Weise an die Stellungnahme des Parlaments gebunden, ja musste sie nicht einmal in besonderer Weise berücksichtigen.152 Im Übrigen hingen die Mitspracherechte des Parlaments von der Art des einschlägigen Komitologieverfahrens ab. Am weitestgehenden bezog das Regelungsverfahren das Parlament mit ein. Da die Auswahl des einschlägigen Ausschussverfahrens somit ausschlaggebend für den Umfang der parlamentarischen Mitsprache war, konnte das Parlament als Fortschritt verbuchen, dass der zweite Komitologiebeschluss erstmals eine Liste von Kriterien enthielt, die über das anwendbare Verfahren entscheiden sollten.153 Wehrmutstropfen insoweit allerdings: Die Kriterien waren unverbindlich.154 Auch der Neuerlass des Komitologiebeschlusses wurde den Forderungen des Parlaments somit nur teilweise gerecht. Entsprechend zwiespältig fiel die Bewertung dieser Errungenschaften durch die beteiligten Organe selbst und die Wissenschaft aus.155 146

Bergström, Comitology, S. 229. Beschluss des Rates vom 28. Juni 1999 (1999/468/EG) zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der Durchführungsbefugnisse, ABl. L 184/23. 148 Zum Zwecke der Information des Parlaments (und der Öffentlichkeit) hat die Kommission das sog. Komitologieregister eingeführt, s. Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated ­Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 8. 149 Allerdings wurden nicht alle Elemente des modus vivendi Bestandteil des Komitologie­ beschlusses; die Mehrzahl dieser Elemente waren eher unbedeutend, andere wiederum wurden in einer weiteren inter-institutionellen Vereinbarung verankert, in der Fontaine-Prodi-Verein­ barung (ABl. C 121/126 vom 24.4.2001), s. dazu Bergström, Comitology, S. 279. 150 Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working ­Papers, RSCAS 2010/85, S. 1. 151 Art. 8 des Komitologiebeschlusses (1999/468/EG); Bergström, S. 270 f.; Bradley, in: FS Bieber, S. 286 (292); Hummer, FS Fischer, S. 121 (129). 152 s. dazu Bradley, in: FS Bieber, S. 286 (292). 153 Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (668); Kietz/Maurer, ELJ 2007, 20 (36). 154 Erwägungsgrund 5 des Komitologiebeschlusses (1999/468/EG). 155 Zu einer ausführlichen Bewertung des neuen Komitologiebeschluss s. Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 248 ff; zur Uneinigkeit in der Bewertung auch innerhalb des Parlaments, s. Bergström, Comitology, S.  282 ff.; als bloßen „lip service“ gegenüber den Forderungen des Parlaments bezeichnet den zweiten Komitologie­ beschluss Bradley, in: FS Bieber, S.  286 (288); Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (679): „significantly improves the involvement of the European Parliament.“ 147

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Eine letzte Änderung156 erfuhr der Komitologiebeschluss 2006157, also zu einer Zeit, in der die Verfassung für Europa bereits unterzeichnet war. Gedacht war der neue Komitologiebeschluss als Übergangslösung, die bis zum Inkrafttreten der Neuregelungen im Verfassungsvertrag gelten sollte.158 Für das Parlament bedeutete dieser letzte Komitologiebeschluss einen erheblichen Fortschritt. Der geänderte Komitologiebeschluss schuf eine neue Verfahrensart, das Regelungsverfahren mit Kontrolle (PRAC159). Das PRAC wertete die Position des Parlaments spürbar auf und sicherte sie besonders ab. Anders als die übrigen Kriterien, welche die Entscheidung über das anwendbare Komitologieverfahren steuern, waren die PRAC-Kriterien verbindlich.160 Die Beteiligungs- und echten Mitspracherechte, die das PRAC dem Parlament einräumte, erfuhren hierdurch eine normative Absicherung. Die dergestalt abgesicherten Mitspracherechte des Parlaments waren nicht unbeträchtlich. Das Parlament konnte den Erlass einer Durchführungsmaßnahme nun erstmals – zumindest aus rechtlichen Gründen – verhindern. Eine rein politisch begründete Ablehnung einer Durchführungsaktes blieb dem Parlament allerdings versagt161, was eine Schlechterstellung gegenüber dem Rat bedeutete, der seine Ablehnung unter bestimmten Umständen mit rein politischen Gründen versehen durfte. Weil das PRAC die Stellung des Parlaments in der Komitologie im Vergleich zu den anderen Ausschussverfahren insgesamt so aufwertete, fand es nur in denjenigen Bereichen Anwendung, in denen das Parlament eine solche herausgehobene Stellung besonders „verdiente“: Der die Kommission ermächtigende Basisrechtsakt musste im Mitentscheidungsverfahren ergangen sein, und er musste die Kommission sogar zur Änderung von nicht-wesentlichen Vorschriften dieses Basisrechtsaktes ermächtigen. In diesen Fällen war nämlich die Gefahr eines Unterlaufens der primärrechtlich vorgesehenen, weitreichenden Beteiligungsrechte des Parlaments besonders virulent.

156 Aus primär politischen Gründen wurde der zweite Komitologiebeschluss nicht wie noch der erste ersetzt, sondern lediglich geändert: Man befürchtete wohl, dass eine Ersetzung manchen skeptischen Mitgliedstaaten die Möglichkeit eines grundsätzlicheren Angriffs auf das Komitologiesystem eröffnen würde, s. Bradley, in: FS Fischer, S. 286 (295 m. Fn. 31). 157 Beschluss des Rates vom 17.  Juli 2006 zur Änderung des Beschlusses 1999/468/EG, ABl. L 200/11. 158 Kietz/Maurer, ELJ 2007, 20 (39). 159 PRAC steht für die französische Version: Procédure de réglementation avec contrôle. 160 Erwägungsgrund 5 des Komitologiebeschlusses in der Fassung von 2006. 161 McDougell, in: FS Bieber, S. 372 (384); s. aber Bradley, FS Bieber, S. 286 (296), der davon ausgeht, dass die theoretisch begrenzte Position des Parlaments praktisch eine gewisse politische Kontrolle über den Inhalt des Durchführungsaktes durch das Parlament nicht ausschließt.

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bb) Zur Berechtigung der Forderungen des Parlaments nach mehr Mitsprache bei der Durchführungsrechtsetzung Eigentlich vorrangig zu der Frage, ob das Parlament an der Durchführungsrechtsetzung mehr beteiligt werden müsste, ist die  – erstaunlich wenig explizit thematisierte162 – Frage nach einer normativen Grundlage für solche Änderungen: Waren die Forderungen des Parlaments, an der Durchführungsrechtsetzung mehr beteiligt zu werden und eine dem Rat gleichberechtigte Rolle einzunehmen, vor dem Hintergrund der Verträge überhaupt berechtigt? Häufig wurde die Berechtigung der parlamentarischen Forderung nach mehr Teilhabe bei der Komitologie mehr oder weniger schlicht vorausgesetzt: Bei der Durchführungsrechtsetzung handele es sich um aus dem nationalen Recht bekannte Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen, also um Befugnisse, die „eigentlich“ dem Gesetzgeber zustünden. Mit der zunehmend gleichberechtigten Stellung des Parlaments als unionaler Gesetzgeber sei es nicht zu vereinbaren, dass allein der Rat „Durchführungsbefugnisse“ übertrage und sie im Fall einer ablehnenden Stellungnahme des zuständigen Ausschusses im Verwaltungs- und Regelungsverfahren sogar selbst ausüben könne.163 Das Argument stützte sich damit auf die  – zweifellos richtige  – zunehmende legislative Potenz des Parlaments. Aus diesem Befund wurde die Forderung ab­ geleitet, dass sich diese zunehmende Gleichberechtigung bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen fortsetzen müsste. Das Argument setzte damit zweierlei voraus: Erstens, dass es sich bei den übertragenen Durchführungsbefugnissen tatsächlich um legislative Befugnisse handelte; und zweitens, dass die Rolle des Rates bei der Durchführungsrechtsetzung auf seiner Funktion als gesetzgebendem Organ beruhte. Beides wurde aber durchaus mit berechtigten Argumenten in Zweifel gezogen. (1) Originäre Durchführungszuständigkeit: Unionaler Gesetzgeber oder Mitgliedstaaten? Zunächst war der legislative Charakter der Durchführungsbefugnisse keinesfalls unstreitig. Die Einordnung der Durchführung als legislative Tätigkeit verlangte, dass für die Durchführung „eigentlich“, d. h. ohne die Übertragung, der Gesetzgeber zuständig wäre164. 162

Bradley, FS Bieber, S. 286 (287). s. Art. 4 Abs. 4 und 5 Abs. 6 des Komitologiebeschlusses in der Fassung von 2006. 164 Vgl. auch die Differenzierung bei Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt. S. 226, der hinsichtlich der Übertragung von „normalerweise“ dem Gesetzgeber zustehenden Befugnissen von Übertragungen mit konstitutivem (d. h. eine Ausnahmezuständigkeit begründenden) Charakter spricht und davon die Möglichkeit unterscheidet, der Kommission lediglich deklaratorisch ihre Kompetenz zuzuweisen. 163

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Diese „eigentliche“ Zuständigkeit des Gesetzgebers für den Erlass der Durchführungsrechtsakte wurde ausgehend von Art. 10 EGV (jetzt: Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUVn) bestritten. Aus dieser Vorschrift ergebe sich, dass grundsätzlich den Mitgliedstaaten die Durchführung des Gemeinschaftsrechts obliege.165 Deshalb sei es nur konsequent, dass schon Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV nur den Rat als dasjenige Organ nenne, das die Durchführungsbefugnisse überträgt und die Mitgliedstaaten im Fall, dass ausnahmsweise die Union durch die Kommission Gemeinschaftsrecht durchführe, über die Komitees Einfluss üben könnten. In der Tat galt ohne eine Übertragung von Befugnissen auf die Kommission, dass die Mitgliedstaaten „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder beson­ derer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus … den Handlungen der Organe ergeben“, ergreifen mussten (Art.  4 Abs.  3 UAbs. 2 EUVn; ex Art.  10 EGV). Ohne eine Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission blieb es auf unionaler Ebene also beim Basisrechtsakt. Die nächsten Konkretisierungsschritte – bis hin zum Vollzug des Basisrechtsaktes – erfolgten dann auf mitgliedstaatlicher Ebene. Machte hingegen der Rat von der Möglichkeit des Art.  202, 3.  Spiegelstrich EGV Gebrauch und übertrug Durchführungsbefugnisse auf die Kommission, wurde die  – ohne diese Übertragung  – eingreifende mitgliedstaatliche Konkretisierungs- (bzw. Vollzugs-)Kompetenz derogiert.166 Letztlich aus diesem Zusammenspiel zwischen Basisrechtsakt und ohne Übertragung eingreifender mitgliedstaatlicher Konkretisierungskompetenz wurde gefolgert, dass die Übertragung von Durchführungsbefugnissen allein in die mitgliedstaatliche Verantwortungssphäre eingreife, nicht aber in diejenige des unionalen Gesetzgebers. Dessen legislative Potenz habe sich schon mit dem Erlass des Basisrechtsakts erschöpft. Forderungen des Parlaments, in seiner Eigenschaft als Legislative an der der darauffolgenden Regelung beteiligt zu werden, seien daher unberechtigt. Die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ seien offensichtlich davon ausgegangen, dass es sich bei der Durchführung um einen Akt des Vollzugs handelte.167 Zwar traf es sicher zu, dass die Frage, ob der unionale Gesetzgeber Durchführungsbefugnisse auf die Kommission übetrug, Auswirkungen auf das vertikale Kompetenzgefüge hatte. Dies galt schon deshalb, weil von dieser Frage abhing, 165

Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, 6. Aufl. 2004, Art. 202 EGV Rn. 38; ders., in: Joerges/Vos, EU Committees, S.  59 (60); Kortenberg, RTDE 1998, 317; sehr krit. Bradley, FS Bieber, S. 286 (288 ff.); Kietz/Maurer, ELJ 2007, 20 (28 f.); Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (647); instruktiv zu den Unklarheiten und Missverständnissen bei der Auslegung von Art. 202, 3. Spiegelstrich, s. Hummer, Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon zu Reform der EU, S. 19 (60 f.). 166 So auch Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, 643 (651). 167 So erklärt Hummer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon zu Reform der EU, S. 19 (60 f). den Hintergrund der Konzentration des Art. 202 EGV auf den Rat als Übertragungsorgan. Er weist aber darauf hin, dass „dieser vermeintliche Vollzugsakt“ der Kommission in Wirklichkeit ein Akt der (Sekundär)Rechtsetzung ist.

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welchen Rechtsakt die Mitgliedstaaten nun genau anzuwenden hatten: den Basisrechtsakt oder (auch) den Durchführungsrechtsakt. Diese faktischen Auswirkungen entschieden aber noch nicht unbedingt darüber, ob es sich bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission um die Übertragung von legislativen oder exekutiven Befugnissen handelte. Denn obiges Argument setzt voraus, dass die Durchführung durch die Kommission und die „Durchführung“ durch die Mitgliedstaaten dasselbe seien.168 Das traf aber nicht (unbedingt) zu. Besonders augenfällig wurde dies in denjenigen Fällen, in denen die Kommission gemäß Art.  202, 3.  Spiegelstrich EGV zu Entscheidungen ermächtigt wurde, bestimmte Anhänge von Verordnungen des Rates zu ändern.169 Schon wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts war den Mitgliedstaaten die Änderung von Gemeinschaftsrechtsakten versagt. In einem solchen Fall konnte die Übertragung von Durchführungsbefugnissen per se nicht in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten übergreifen. Stattdessen stellte sich die Ermächtigung zur Änderung des Basisrechtsakts als ein Eingriff in den Verantwortungsbereichs desjenigen dar, der den Basisrechtsakt ursprünglich im Rahmen seiner Zuständigkeit erlassen hatte. Und das waren – jedenfalls im Mitentscheidungsverfahren, das zunehmend Anwendung fand – Rat und Parlament. Ähnlich lag es bei den zahlreichen „Durchführungsmaßnahmen“, die Richtlinien und Verordnungen aktualisierten sowie eigene politische Entscheidungen innerhalb des durch den Basisrechtsakt vorgegebenen Rahmens enthielten.170 Hier erschien es ebenfalls wenig einleuchtend, diese Maßnahmen als bloße Vollzugsakte dem eigentlichen Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten zuzuordnen.171 Es lag näher, derartige Rechtsakte einem „legislativen“ Bereich zuzuschreiben, so schwer bestimmbar seine Grenze im Einzelnen sein mochten. Aus diesem Blickwinkel erschienen parlamentarische Mitspracherechte bei der Durchführungsrechtsetzung also doch begründet. (2) Gleichberechtigung von Parlament und Rat? Vorwiegend wurde die Forderung nach mehr parlamentarischer Mitsprache an der Diskrepanz festgemacht, die in puncto parlamentarischer Beteiligung am Basisrechtsakt und  – der fast vollständig fehlenden  – Mitsprache des Parlaments in Bezug auf den Durchführungsakt bestand. Insbesondere seit dem Vertrag von Maastricht hatte das Parlament erheblich an Bedeutung zugenommen. Dort war

168

Krit. auch Bradley, in: FS Bieber, S. 286 (288 ff.). So aus jüngerer beispielsweise Art. 29 der Richtlinie 2009/31/EG vom 23. April 2009 über die geologische Speicherung von Kohlendioxid. 170 Hausschild, ZG 1999, 248; Fuhrmann, DÖV 2007, 464 (466). 171 Überdies ist fraglich, ob selbst die Einordnung der Durchführungsmaßnahmen als Vollzugsakte zugleich die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten bedeuten würde, dazu ausführlich s. unten § 4.  169

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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das Mitentscheidungsverfahren eingeführt worden, das dem Parlament erheblichen Einfluss beim Erlass von Basisrechtsakten einräumte172: Ohne seine Zustimmung konnte in diesem Verfahren ein Rechtsakt nicht in Kraft treten. Das Mitentscheidungsverfahren sicherte dem Parlament neben dem Rat eine gleichberechtigte Rolle im Gesetzgebungsverfahren und wies ihm die Rolle eines echten Mitgesetzgebers zu.173 Während anfangs nur wenige Felder der Gemeinschaftspolitiken vom Mitentscheidungsverfahren beherrscht worden waren – vornehmlich solche mit Bezug zur Verwirklichung des Binnenmarktes – und die Rechtsakte daher nur wenig parlamentarische Einflussnahme erfuhren, wiesen sowohl der Vertrag von Amsterdam als auch der Vertrag von Maastricht hinsichtlich der Beteiligung des Europäischen Parlaments in dieselbe Richtung und weiteten die vom Mitentscheidungsverfahren erfassten Regelungsmaterien aus.174 Auf Ebene des Basisrechtsakts war das Parlament also vielfach dem Rat gleichgestellt. Von daher verwundert es nicht, dass das Parlament diese Gleichstellung auf Ebene der abgeleiteten Rechtsetzung fortwirken lassen wollte.175 Indes bot schon das Primärrecht wenig Anknüpfungspunkte für eine Gleichberechtigung des Parlaments mit dem Rat bei der Durchführungsrechtsetzung. Art.  203, 3.  Spiegelstrich EGV nannte allein den Rat als übertragendes Organ („der Rat überträgt … in den von ihm erlassenen Rechtsakten“). Das Primärrecht sah das Parlament also – trotz dessen Mitspracherechten beim Erlass des Basisrechtsakts – nicht als Akteur bei der Durchführungsrechtsetzung vor.176 Die Befürworter einer größeren parlamentarischen Beteiligung bei der Durchführungsrechtsetzung verkannten diese primärrechtliche Hürde für ihr Anliegen nicht.177 Konsequent vertraten sie, dass Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV umformuliert oder so doch jedenfalls „anders“ gelesen werden sollte, nämlich so, dass Rat und Parlament zumindest im Mitentscheidungsverfahren gemeinsam als Delegatar

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Gellermann, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 251 Rn. 2; Craig/de Búrca, EU Law, S. 61; allerdings konnte sich das Parlament im Vertrag von Maastricht noch nicht mit seiner Forderung nach einer Ausdehnung des Mitentscheidungsverfahrens auf alle Legislativakte durchsetzen, s. dazu Schoo, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 251 EGV Rn. 4 ff. und die in ABl. 1992 C 125/81 zum Ausdruck gebrachte Enttäuschung des Parlaments, im Gesetzgebungsverfahren noch keine Gleichstellung mit dem Rat erreicht zu haben. 173 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S.  94; Gellermann, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 251 Rn. 1; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 251 EGV Rn. 3; Craig/ de Búrca, EU Law, S. 61; Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (647). 174 Reiterer, SZIER/RSDIE, 2011, 115 (119); Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Aufl. 2010 Rn. 25, 26; Craig/de Búrca, EU Law, S. 61 „the position of the EP has become consid­ erably stronger over time.“ 175 Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (647); Roller, KritV 2003, 249 (273) hält diesen Schluss aus demokratietheoretischen Gründen für zwingend; ebenso Fuhrmann, DÖV 2007, 464 (467); Haibach, VerwArch. 90 (1999), 98 (109). 176 Roller, KritV 2003, 249 (273). 177 Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, S. 158 ff.

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in Erscheinung treten sollten.178 Mit dieser Auslegung wäre der Widerspruch zwischen dem Wortlaut und den tatsächlichen Umständen im Mitentscheidungs­ verfahren beim Erlass des Basisrechts ausgeräumt worden: Durchführungsbefugnisse wurden im Basisrechtsakt und daher von denjenigen Organen übertragen, die über den Basisrechtsakt befanden, und im Mitentscheidungsverfahren waren dies eben Rat und Parlament. Überdies hätte diese Auslegung dem Demokratieprinzip Rechnung getragen.179 Eine solche Auslegung von Art. 202, 3. Spiegelstrich erwies sich jedoch schon deshalb als problematisch, weil eine entsprechende Änderung der Vorschrift bei den Vertragsverhandlungen von Maastricht und Amsterdam durchaus auf der Agenda gestanden hatte, aber schlicht nicht aufgegriffen worden war.180 Gegen eine solche Auslegung sprach weiter, dass der EuGH die demokra­tische Bedeutung parlamentarischer Beteiligung zwar anerkennt181, diese Erkenntnis aber nicht rechtsfortbildend einsetzt und insbesondere nicht dazu nutzt, die Beteiligungsrechte des Parlaments über das im Primärrecht vorgesehene Maß auszuweiten.182 Zudem war die Rolle des Rates bei der Durchführungsrechtsetzung wenig eindeutig. Dies war (und ist) im Wesentlichen seiner Eigenschaft als „intergouvernementales Kopplungsorgan183“ geschuldet: Der Rat war zwar Organ der Europäischen Gemeinschaft; zugleich konstituierte er sich aber aus Vertretern der Mitgliedstaaten. Diese Ambiguität wurde gerade im Zusammenhang mit der Komitologie besonders deutlich. Vielfach wurde die Tatsache, dass Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV nur den Rat als übertragendes Organ konzipierte und die Kontrolle über die Durchführungsrechtsetzung durch Ausschüsse erfolgte, die sich  – wie 178

Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn.  3; Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 177; Bergström, Comitology, S. 325 hält Art. 202, 3. Spiegelstrich nach der Einführung des Mitentscheidungsverfahrens für „outdated“; Roller, KritV 2003, 249 (273) für „überholt“. 179 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 3. 180 Dies bedauernd: Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (647).; Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, S. 158 m. Fn. 718; Hausschild, ZG 1999, 248 (249). Insbesondere das Parlament hatte solche Vorschläge gemacht, s. Bergström, Comitology, S. 220 und S. 248. Da die Anregungen des Parlaments zu einer Neuformulierung von Art. 202 EGV nicht aufgegriffen wurden, argumentierte es später, Art. 202, 3. Spiegelstrich sei für die Übertragung von Durchführungsbefugnissen aufgrund von im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Rechtsakten nicht anwendbar. 181 EuGH; Rs. 138/79 (Roquettes Frères), Slg. 1980, 333; EuGH, Rs. 139/79 (Maizena), Slg. 1980, 3393; EuGH, Rs. C-300/89 (Titandioxid), Slg. 1991, I-2867 Rn. 20. 182 Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 37 (2000), 645; Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (51) m. Nachw. zur Rechtsprechung; s. aber das wohl abweichende Verständnis des EuG, Rs. T-135/96 (UEAPME/Rat), Slg. 1998, II-2335 Rn.  89 ff., das das Demokratieprinzip als autonomes Prinzip und nicht nur als Reflex bestimmter Vertragsbestimmungen (wie etwa angeordnete parlamentarische Beteiligung) heranzieht, s. dazu Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 3 Rn. 19. 183 Dazu Möllers, Gewaltengliederung, S. 233 ff.

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der Rat – aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammensetzten, als Beleg dafür ge­ sehen, dass die Durchführung als eigentlich mitgliedstaatliche Zuständigkeit konzipiert war.184 Wenn diese Umstände als Beleg für die mitgliedstaatliche Durchführungszuständigkeit gedeutet wurden und die Rolle des Rates hierzu nicht im Widerspruch stand, bedeutete dies zugleich, dass der Rat im Zusammenhang mit der Durchführungsrechtsetzung weniger als legislatives Unionsorgan, sondern vielmehr in seiner Eigenschaft als „Kollektiv der Mitgliedstaaten“ gesehen ­wurde.185 Auf eine juristische genaue Trennung zwischen dem „Rat als aus den Mitgliedstaaten zusammengesetztes Unionsorgan“ und den Mitgliedstaaten wurde also verzichtet.186 Ein solches Verständnis warf ein anderes Licht auf die Rolle des Rates in der Komitologie. Der Rat hätte im Zusammenhang mit der Komitologie nicht in seiner Eigenschaft als gemeinschaftliches Legislativorgan, sondern eben nur als Vertreter der Mitgliedstaaten gehandelt.187 Die Betonung hätte mehr auf seiner Zusammensetzung und weniger auf seiner Eigenschaft als Institution der Gemeinschaft gelegen. Von dieser Warte aus wären Forderungen des – unzweifelhaft ausschließlich als unionales Legislativorgan konzipierten Parlaments – nach Gleichberechtigung mit dem Rat unbegründet gewesen.188 Dann wäre es bei der Komitologie gerade nicht um eine legislative Kontrolle über die Rechtsetzung der Exekutive gegangen.189 Allerdings bestach dieses Argument nicht gerade durch juristische Präzision: Wurde so doch die Eigenschaft des Rates als rechtsetzendes Unionsorgan durch seine Zusammensetzung überspielt. Während dies in einem früheren, primär intergouvernementalen Entwicklungsstadium der Europäischen Gemeinschaft noch hinnehmbar gewesen sein mag, verliert ein solches Argument jedoch umso mehr an Plausibilität als der Rat als supranationaler Gesetzgeber in die gemeinschaft­ liche Gesetzgebung gemeinsam mit dem Parlament in einer Weise eingebunden ist, die an ein klassisches Zweikammersystem erinnert.190. So ließ sich die Rolle des Rates eben auch anders lesen: Nämlich als die eines Legislativorgans, das sich mit Hilfe der Ausschüsse eine gewisse Kontrolle über die abgeleitete Rechtsetzung eines Exekutivorgans – der Kommission – sicherte. Dann aber gewannen Forderungen des Parlaments nach fortwirkender Gleichberechtigung mit dem Rat bei der Durchführungsrechtsetzung wieder an Über 184

s. dazu oben § 1 C. II. 2. c) bb) (2). So deutet auch Bradley, in: FS Bieber, S. 286 (290) diese Argumentation. 186 Sehr kritisch Bradley, in: FS Bieber, S. 286 (290). 187 So v. a. Kortenberg, RTDE (1998), 317 (319). 188 Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, 6. Aufl. 2004, Art. 202 EGV Rn. 38. 189 So Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, 6.  Aufl. 2004, Art.  202 EGV Rn. 38. 190 Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (647); vgl. auch die Unterscheidung vom Rat und den im „Rat vereinigten Vertretern der Mitgliedstaaten“ bei Huber, EuR 2003, 574 (577). 185

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zeugungskraft. Die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens bedeutete unter diesem Blickwinkel eine Zäsur.191 Der Rat war seitdem nicht mehr das alleinige Legislativorgan. Damit genügte es nicht mehr, die abgeleitete Rechtsetzung nur mehr durch seine Kontrollmechanismen, sprich durch die aus Vertretern der Mitgliedstaaten bestehenden Ausschüsse und Rückfall-Kompetenzen des Rates, zu sichern; vielmehr musste dann auch das Parlament als zweites Legislativorgan Zugriff auf entsprechende Überwachungsmechanismen erhalten und Einfluss nehmen dürfen. III. Durchführung durch den Rat Friktionen waren überdies dann zu beobachten, wenn der Rat sich Durchführungsbefugnisse selbst vorbehielt. Im Verhältnis zur Kommission war eine Selbstermächtigung des Rates problematisch, weil Art. 202 EGV seit den Änderungen durch die EEA192 die Kommission als dasjenige Organ konzipierte, das regelmäßig für die Durchführung zuständig sein sollte. Ausdrückliches Ziel der Reform der Vorschrift war, die Rolle der Kommission als vertraglich gewollter Regelexekutive stärker zu betonen.193 Gemäß Art.  202 EGV durfte sich seither der Rat nur in spezifischen Fällen die Durchführung selbst vorbehalten. Der EuGH leitete aus dieser Formulierung die grundsätzliche Pflicht des Rates zur Delegation ab und sicherte diese verfahrensrechtlich durch eine Begründungspflicht: Wollte der Rat sich einmal die Durchführung selbst vorbehalten, so musste er dies ausführlich begründen.194 Insgesamt zog der Gerichtshof der „Autodelegation“ vom Rat auf den Rat deutliche Grenzen.195 Auch im Verhältnis zum Parlament erzeugten Autodelegationen Konfliktpotential. Der Rat war bei der Wahrnehmung von Durchführungsbefugnissen, (ebenso wenig wie die sonst durchführende Kommission) nicht an das eigentlich einschlägige Gesetzgebungsverfahren gebunden196; der Rat als Gesetzgeber konnte also außerhalb des Gesetzgebungsverfahrens mit seinen Beschränkungen und Anforderungen Regelungen erlassen.197 Damit konnte er Durchführungsrechtsakte erlassen, ohne etwa zuvor das Parlament anhören zu müssen. Von dieser Möglichkeit 191 Bradley, in: FS Bieber, S.  286 (291); Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (647): „new dimension“; Kietz/Maurer, ELJ 2007, 20 (32). 192 Möllers, EuR 2002, 483 (485); Bruha/Münch, NJW 1987, 542 (543 f.). 193 Möllers, EuR 2002, 483 (485); Bruha/Münch, NJW 1987, 542 (543 f.). 194 s. z. B. aus jüngerer Zeit EuGH, C-133/06 (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-3198. 195 Möllers, EuR 2002, 483 (491). 196 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 20. 197 EuGH, C-303/94 (Parlament/Rat), Slg. 1996, I-2943 Rn. 23. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 6; Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 179.

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machte der Rat insbesondere im Agrarbereich Gebrauch.198 Diese Möglichkeit, ohne parlamentarische Beteiligung Durchführungsakte zu erlassen, rieb sich naturgemäß mit der primärrechtlichen Kompetenzordnung besonders, seitdem das Parlament im Mitentscheidungsverfahren eine dem Rat ebenbürtige Rolle einnimmt und dieses Rechtsetzungsverfahren immer mehr Sachbereiche des Gemeinschaftsrechts abdeckt. Durch eine Autodelegation war es dem Rat möglich, trotz der primärrechtlich gleichberechtigen Rolle des Parlaments beim Erlass des Basisrechtsakts Regelungen am Parlament vorbei zu treffen. Potenziert wurden diese Friktionen im institutionellen Gleichgewicht, wenn der Rat sich  – wie im Fall der Durchführungsrichtlinie 94/43/EG  – zur Durch­ führung selbst ermächtigte und in der Durchführungsrichtlinie die Vorschriften der Grundrichtlinie – nun ohne Einbeziehung des für die Grundrichtlinie mitverantwortlichen Parlaments – abänderte. Hier hat jedoch der EuGH dem Rat durchaus Grenzen aufgezeigt und ihm auf eine Klage des Parlaments hin verboten, die gemeinsam mit dem Parlament erlassene sekundärrechtliche Richtlinie ohne Beteiligung des Parlaments durch eine Durchführungsregelung zu ändern.199 Damit scheint der EuGH einer im Rahmen einer Autodelegation durch den Rat vorgenommenen Änderungen kritischer gegenüber gestanden zu haben als einer Modifizierung, welche die Kommission aufgrund einer (weitgehaltenen) Ermächtigung vornimmt.200 Damit hatte die Selbstbefassung des Rates stets einen verdächtigen Beigeschmack. Bestand doch die Gefahr, dass der Rat durch die Selbstermächtigung die hinderlichen Ketten des Gesetzgebungsverfahrens abschüttelte und seine Befugnisse unter vereinfachten Bedingungen ausübte.201 Dass diese Befürchtung nicht ganz unbegründet war, zeigt sich darin, dass insbesondere in Fällen, in denen es zu keiner Einigung über den Inhalt bestimmter Rahmenvorschriften im Legislativ­ verfahren kam, der Rat bevorzugt zum Mittel der Selbstermächtigung griff. Der Rat tendierte naturgemäß dazu, Regelungsinhalte als „Durchführung“ einzustufen und außerhalb des Legislativverfahrens über sie zu entscheiden, obwohl sie eigentlich als legislative Akte zu qualifizieren gewesen wären und über sie deshalb im primärrechtlichen Gesetzgebungsverfahren hätte befunden werden sollte.202 198 Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art.  202 EGV Rn.  12. Dieses Vor­ gehen wurde vom EuGH mehrfach anerkannt. Vgl. insbesondere EuGH, C-63/90 und C 67/90 (Portugiesische Republik und Königreich Spanien/Rat), Slg. 1992, I-5073. 199 EuGH, Rs. C-303/94 (Parlament/Rat), Slg. 1996, I-2943 Rn.  23: „Jedoch muss eine Durchführungsrichtlinie wie die streitige Richtlinie, die ohne Anhörung des Parlaments erlassen worden ist, die in der Grundrichtlinie nach Anhörung des Parlaments erlassenen Bestimmungen beachten.“ 200 Hier löste die oben angesprochene „weite Auslegung des Durchführungsbegriffs die Unterscheidung zwischen der Konkretisierung und der Änderung von Basisrechtsakten“ weit­ gehend auf, so Möllers, EuR 2002, 483 (490). 201 Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 181. 202 Lenaerts, CMLRev. 1993, 23 (35).

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Aus einem Blickwinkel, der die Durchführung als eher exekutiven Charakters begreift, war die Eigendurchführung durch den Rat ebenfalls nicht unproblematisch. Der Rat hätte dann die Normen nicht nur erlassen, sondern auch selbst angewendet.203 Legislative und exekutive Rechtserzeugung wären im Rat zusammengefallen.204 Unter dem Aspekt der Trennung der staatlichen Gewalten war dies bedenklich.205 Obgleich in der europäischen Rechtsordnung das klassische Ideal der Gewaltenteilung nicht so verwirklicht ist wie auf nationalstaatlicher Ebene206, bewahrt dieser Gedanke als Vorgabe an die Verteilung von Befugnissen Gültigkeit. Schließlich besagt das Mantra, auf europäischer Ebene gebe es keine „richtige“ Gewaltenteilung, doch letztlich nur, dass die allgemeinen Funktionen von Gesetzgebung und Rechtsetzung nicht so eindeutig wie im nationalstaatlichen Recht einem bestimmten Organ zuzuordnen waren.207 Dennoch galten selbstverständlich auch auf europäischer Ebene die Vorgaben der Aufgabenklarheit und Transparenz der wahrgenommenen Befugnisse und damit das Ideal der Trennung der Rechtsetzung und der Rechtsanwendung208: Den Vorschriften zur Gesetzgebung in den Europäischen Verträgen war ebenfalls ein System der „checks and balances“ inhärent.209 Diesen Vorgaben ist am besten genügt, wenn einzelne Kompetenzen klar einem bestimmten Organ zugeordnet sind. Nur auf dieser Grundlage ist eine effektive Kontrolle der Ausübung der Befugnisse möglich. Diesen Leitlinien lief es aber zuwider, dass der Rat und die Kommission für ein und dieselbe Materie zuständig sein konnten und der Rat in derselben Angelegenheit sowohl Recht setzen als auch sein gesetztes Recht durchführen konnte. Entsprechend bedeutsam scheint die Frage, wann ausnahmsweise diese Bedenken zurücktreten und sich der Rat die Durchführungsbefugnisse vorbehalten darf. Angesichts des oben beschriebenen Befundes verwundert es, dass weitgehend eine Klärung fehlte.210 In der Regel beschränkte man sich auf die Aussage, dass es sich um eine politische Entscheidung handele.211 Falls einmal Kriterien für das Vorliegen eines „spezifischen Falles“ genannt wurden, so lief die Grenzziehung zumeist 203 Die Zuordnung der Aufgaben der Rechtsetzung und Rechtsanwendung ist dabei auch wesentliche Triebfeder des Konzepts des Gesetzesvorbehalts, vgl. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 24. 204 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 2. 205 Schütze, Shapening the Separation of Powers through a Hierarchy of Norms?, EIPA Work­ ing Paper 2005/W/01, S. 13; Lenaerts, ELR 1992, 23 (34). 206 Vielmehr hat der EuGH das Bestehen eines Grundsatzes der Gewaltenteilung im Gemeinschaftsrecht ausdrücklich abgelehnt, s. EuGH, verb. Rs. 188–190/80 (Frankreich u. a./Kommission), Slg. 1982, 2545, und stattdessen das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts etabliert. 207 Vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 23. 208 Vgl. auch die selbstverständliche Formulierung dieses Ideals Working Document 16 der Working Group IX des Europäischen Konvents, v. 7.11.2002, S. 2; Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (712); Huber, EuR 2003, 574 (576 ff.). 209 Lenaerts, CMLR 1993, 23 (34). 210 Vgl. Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 183. 211 Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 202 EGV Rn. 12.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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anhand der politischen Relevanz einer Materie.212 Angesichts der geringen Schärfe dieses Kriteriums beschränkte sich der EuGH weithin auf die Überprüfung der Frage, ob der Rat das Vorliegen eines spezifischen Falles und die Selbstermächtigung hinreichend begründet habe.213 Damit war der Fall der „Eigendurchführung“ durch den Rat aber zumindest einem erhöhten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. IV. Durchführung als Delegation? Vielfach wurde das Phänomen der Durchführung unter dem Label der „Delegation“ geführt.214 In der Tat schien es um eine solche zu gehen, übertrug doch ein Organ Befugnisse auf ein anderes.215 Betrachtet man die bekannten Phänomene der Delegation genauer, so erscheint die auf den ersten Blick so naheliegende Annahme, Durchführung unter die Überschrift der Delegation zu fassen, jedoch in einem zweifelhafteren Licht. Die auf staatlicher Ebene bekannten Formen der Delegation zeichnen sich durch zwei Eigenschaften aus, die im Rahmen der Durchführung, wenn überhaupt, nur schwer identifizierbar waren. Zunächst geht es bei Delegationen um Sachverhalte, in denen ein Organ eigene Befugnisse abgibt und auf ein anderes Organ überträgt. Damit einher geht – weil die übertragenen Befugnisse von einem anderen Organ ausgeübt werden sollen als vom eigentlich zuständigen – der Ausnahmecharakter der übertragenen Befugnisse: Die Ausübung der Befugnisse durch das übertragende Organ ist die Regel, die Wahrnehmung der Befugnisse durch den Delegationsempfänger ist der demgegenüber rechtfertigungsbedürftige Ausnahmefall. Eine Delegation ändert eine eigentlich bestehende Zuständigkeitsordnung ab und ruft deshalb die Frage nach der Vereinbarkeit dieser Delegation mit der bestehenden Kompetenzordnung auf den Plan.216 Die Kommission war aber jedenfalls seit der Einheitlichen Europäischen Akte nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig für die Durchführung zuständig.217 Unter diesem Blickwinkel ließ sich schwerlich von einer Delegation von Befugnissen vom Rat auf die Kommission sprechen. Die Übertragung von Durch 212 Vgl. dazu Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 185 m. w. N. 213 Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 202 EGV Rn. 12; vgl. auch Möllers, EuR 2002, 483 (491); Lenaerts, CMLR 1992, 23 (33); vgl. EuGH, Rs. C-133/06 (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-3198 Rn. 47 ff. 214 s. etwa die Begriffsverwendung bei Schweitzer, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. EL 2009, Art. 202 EGV Rn. 26; Wichard, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 202 EGV Rn. 5; zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit dieser Annahme Knemeyer, Das Europäische Parlament und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 166 ff. Krit. zur Auffassung, Durchführung sei eine Form der Delegation, Möllers, EuR 2002, 483 (492 ff.); Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 227 f. 215 Vgl. zum klassischen Delegationsverständnis Triepel, Delegation und Mandat, S. 23 ff., S. 80 ff. 216 Röhl, Akkreditierung, S. 35. 217 Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (653).

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Teil 1: Gründe und Praxis abgeleiteter Rechtsetzung in Europa 

führungsbefugnissen stellte sich weniger als Ausnahme und als Delegation dar, denn als Organisationsakt, mit dem der Rat diejenigen Fälle bestimmte, in denen die Kommission in ihrer Kapazität als Durchführungsorgan tätig werden sollte.218 Zudem zeichnen sich Delegationen auf staatlicher Ebene durch ihre Reversibilität aus.219 Diese grundsätzliche Rücknehmbarkeit einer Befugnisübertragung hängt eng mit dem ersten Gesichtspunkt zusammen: Weil das übertragende Organ (die Legislative) eigentlich zuständig ist und die Übertragung daher Friktionen (typischerweise vor allem mit dem Demokratieprinzip, jedenfalls aber mit der bestehenden Kompetenzordnung) auslöst, soll es noch nach der Übertragung die Letztentscheidung über die Ausübung der Befugnisse behalten.220 Beispiel für eine solche rücknehmbare Delegation ist Art. 80 GG.221 Auch an dieser Reversibilität fehlte es dem Phänomen der Durchführung. Die Kommission wurde durch einen Basisrechtsakt zum Erlass von Durchführungsakten ermächtigt. Die Ermächtigung war mithin Bestandteil des Basisrechtsaktes. Ein Basisrechtsakt konnte (wie jeder Rechtsakt) nach allgemeinen Regeln grundsätzlich nur durch einen actus contrarius geändert werden. Um die Ermächtigung in einem Basisrechtsakt zu beseitigen – dies ist eine Änderung des Basisrechtsakts –, bedurfte es daher eines neuen Basisrechtsaktes.222 Und der Erlass eines neuen Basisrechtsaktes bedurfte eines entsprechenden Initiativvorschlages der Kommission. Ohne einen solchen Vorschlag des Delegationsempfängers – der Kommission – konnte die Ermächtigung nicht rückgängig gemacht werden.223 Für die übertragenden Organe war damit die Befugnisübertragung nicht reversibel. V. Fazit Es erweist sich als schwierig, allgemeine Strukturen der Durchführung sichtbar zu machen. Der urwüchsige Begriff der Durchführung umfasste viel Unterschiedliches und ließ sich in die gängigen Kategorien von Legislative und Exekutive, von Rechtsetzung und Rechtsanwendung, nur bedingt einordnen. Damit war 218

Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (653); s. auch Triantafyllou, Vom Vertragszum Gesetzesvorbehalt, S. 227 ff., der fragt, ob die „Übertragung“ vom Rat auf die Kommission lediglich deklaratorischen Charakter hatte. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Delegationsbegriffen und ihrer Bedeutung für Art.  202 EGV findet sich bei ­Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung S. 168 ff. 219 Möllers, Gewaltengliederung, S. 180. 220 Zudem entspricht es der Funktion der Legislative, relativ frei von Beschränkungen zukunftsbezogen Recht zu setzen. Dem würde es widersprechen, wenn sich Delegationsstrukturen verfestigten, so dass die Legislative auf die delegierten Materien nicht mehr zurückgreifen könnte. Dazu Möllers, Gewaltengliederung, S. 180. 221 F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, S. 382. 222 Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 211 EG Rn. 77; Härtel, Handbuch Europäischer Gesetzgebung, § 11 Rn. 50; Schmolke, EuR 2006, 432 (442). 223 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 7 u. 118; Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 211 EG Rn. 77.

§ 1 Das bisherige Konzept abgeleiteter Rechtsetzung

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weder klar, ob der Durchführung eher legislativer oder eher exekutiver Charakter zukam. Noch bestand Einigkeit, in wessen Verantwortungssphäre  – des Gesetzgebers? der Mitgliedstaaten?  – die Übertragung von Durchführungsbefugnissen übergriff. Vielmehr „flossen Aspekte der horizontalen und der vertikalen Gewaltenteilung undeutlich ineinander.“224 Entsprechend schwierig war es, einheitliche Maßstäbe für die Zulässigkeit der Übertragung von Durchführungsbefugnissen zu entwickeln. In der Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH kam zwar zum Ausdruck, dass die Übertragung von Durchführungsbefugnissen bestimmten Grenzen unterliegen sollte. Welchen Grund diese Grenzen haben sollten, war indes weit weniger klar. Ging es um die Mitspracherechte des Parlaments? Wenn ja, ging es nur um die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Organen oder vielleicht doch um die Beseitigung eines vielfach wahrgenommenen Demokratie- und Transparenzdefizits bei der Komitologie? Oder betraf in Wirklichkeit die Durchführung gar nicht den Rechtskreis des Parlaments, so dass vielmehr die Mitgliedstaaten bei Grund und Grenzen die maßgebliche Instanz sein müssten? All diese Gedanken können Argumente für sich beanspruchen. Schon deshalb war eine gewisse Klärung des Konzepts der abgeleiteten Rechtsetzung im Europarecht angezeigt. Der Lissabon-Vertrag hat offenbar versucht, sich dieser Herausforderung anzunehmen, und die abgeleitete Rechtsetzung einem neuen Regime unterstellt. Statt einer einheitlichen Regelung der abgeleiteten Rechtsetzung kennt der Vertrag nun deren zwei: Art. 290 und Art. 291 AEUV befassen sich beide mit der Übertragung von Befugnissen auf die Kommission. Welche Konzepte hinter beiden Vorschriften stehen, ist Gegenstand der folgenden Analyse.

224

Möstl, DVBl 2011, 1076 (1077).

Teil 2

Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag: Art. 290 und 291 AEUV und ihr Konzept § 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV A. Überblick und Problemaufriss Der Lissabon-Vertrag schafft mit Art. 290 AEUV eine Rechtsgrundlage für „delegierte“ Rechtsakte. „Gesetzgebungsakte“ können die Kommission zum Erlass delegierter Rechtsakte ermächtigen. Die Kommission ist aufgrund einer solchen Ermächtigung in der Lage, „Rechtsakte ohne Gesetzescharakter“225 mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsaktes zu erlassen. Die Regelung darf sich also nur auf „nicht Wesentliches“ beziehen; „das Wesentliche“ muss hingegen im Gesetzgebungsakt selbst geregelt sein. Der Gesetzgeber kann die Kommission dafür nicht nur ermächtigen, den Gesetzgebungsakt zu ergänzen, sondern sogar zu ändern – allerdings müssen sich Ergänzung wie Änderung ebenfalls auf die „nicht wesentlichen“ Aspekte des Gesetzgebungsaktes beschränken. Aufgrund der Ermächtigung erlässt die Kommission nur Rechtsakte „mit allgemeiner Geltung“. Diese Formulierung entspricht dem bisher in Art. 249 EGV genannten Merkmal einer Verordnung: Es schließt aus, dass die Kommission konkret-individuelle Entscheidungen in Form eines delegierten Rechtsaktes erlässt.226 Im Gegensatz zu Art. 291 AEUV, der große Ähnlichkeiten mit dem vormaligen Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV aufweist227, hat Art. 290 AEUV keinen unmittelbaren Vorgänger im Primärrecht. Dennoch knüpft die neue Vorschrift an alte Traditionen an. 225

Krit. zu diesem Begriff Craig, in: Tridimas/Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 75 (80 f.). 226 s. zur Auslegung des Merkmals „allgemeine Geltung“ nach bisherigem Recht Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der EU, Art. 249 EGV Rn. 119; zur Beschränkung der delegierten Rechtsakte auf „normes de portée générale“, Jacqué, SZIER/RSDIE 2011, 29 (68). 227 Schütze, Shapening the Separation of Powers through  a Hierarchy of Norms?, EIPA ­Working Paper 2005/W/01, S. 15.

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV 

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Dies gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen tauchte das Kriterium der Wesentlichkeit, das jetzt Art. 290 AEUV ausdrücklich als Kriterium in das Primärrecht einführt, bereits in der früheren Rechtsprechung des EuGH im Zusammenhang mit den auf die Kommission übertragbaren Durchführungsbefugnissen auf. Dort diente es zur Bestimmung derjenigen Aspekte, die vom Rat (ggfs. gemeinsam mit dem Parlament) im Basisrechtsakt zu regeln waren. Eine ähnliche Funktion kommt dem Kriterium der Wesentlichkeit in Art.  290 AEUV zu: Es bezeichnet jetzt diejenigen Regelungsmaterien, die dem Gesetzgebungsakt vorbehalten sind. Vor dem Hintergrund der Änderungen der Europäischen Verträge, die mit dem Verfassungsvertrag eingeläutet und im Lissabon-Vertrag zu großen Teilen verwirklicht wurden (dazu s. C.), stellt sich aber die Frage, ob diese Traditionen unverändert übertragen werden können.228 Zum anderen weist Art. 290 AEUV deutliche Parallelen zu Art. 2 Abs. 2 des Komitologiebeschlusses 2006 auf; die Vorschrift ähnelt also in ihrem Anwendungsbereich dem Regelungsverfahren mit Kontrolle (dazu s. B.).229 Diese beiden Reminiszenzen an das alte Recht tragen maßgeblich zum Verständnis der neuen Vorschrift des Art. 290 AEUV bei.

B. Parallelen zum Komitologiebeschluss 2006: Art. 290 AEUV als primärrechtliche Regelung der Übertragung quasi-legislativer Befugnisse Ein ständiger interinstitutioneller Reibungspunkt im Zusammenhang mit den Durchführungsbefugnissen war der Umstand, dass sich die zunehmend gleichberechtigte Rolle des Parlaments bei der (Basis-)Rechtsetzung im Rahmen der Durchführung nicht fortsetzte. Einen Fortschritt brachte insoweit der neue Komitologiebeschluss aus dem Jahr 2006. Dieser fügte dem alten Komitologiebeschluss einen neuen Art. 5 a an. Diese Vorschrift regelte das Verfahren für den Erlass von solchen Durchführungsrechtsakten neu, bei denen die Rolle des Parlaments besonders sensibel berührt wurde: Gemäß Art. 2 Abs. 2 des Komitologiebeschlusses von 2006 sollte das neue Regelungsverfahren mit Kontrolle (PRAC) Anwendung finden für Durchführungsakte von allgemeiner Tragweite, die auf einem im Mitentscheidungsverfahren ergangenen Basisrechtsakt beruhten und mit denen die Kommission den Basisrechtsakt sogar ändern durfte. Die Änderung des Basisrechtsakt ist eine Tätigkeit, die in den Bestand des vom Gesetzgeber230 gesetzten Rechts eingreift und daher nach allgemeinen Grundsätzen nur durch einen actus contrarius möglich ist.231 Sie obliegt daher eigentlich allein dem Gesetzgeber selbst: Das neue 228

Zur Neubestimmung des Wesentlichkeitskriteriums, s. ausführlich unten unter § 2 D. I. Jacqué, SZIER/RSDIE 2011, 29 (75). 230 Mit „Gesetzgeber“ bezeichne ich an dieser Stelle zunächst nur das Organ bzw. die Organe, die den Basisrechtsakt erlassen. Mit diesem Begriff wird an dieser Stelle nicht auf „Gesetz­ gebung“ als Funktion der Gewaltenteilung Bezug genommen. 231 Scharf, BZTW, Heft 101 (12/2010), S. 17. 229

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

Regelungsverfahren mit Kontrolle erfasste also die Übertragung legislativer Befugnisse.232 Die Kommission handelte quasi-legislativ, wenn sie von diesen Befugnissen Gebrauch machte.233 Der Erlass solcher quasi-legislativen Vorschriften durch die Kommission wurde einer gesteigerten Kontrolle durch den Gesetzgeber unterstellt: Und als Gesetzgeber, hier zunächst nur verstanden als das den Basisrechtsakt erlassende Organ, fungierte  – zumal im Mitentscheidungsverfahren  – eben auch das Parlament, das durch das Regelungsverfahren mit Kontrolle erstmals die Möglichkeit erhielt, einen Durchführungsrechtsakt der Kommission zu verhindern. Das Primärrecht spiegelte die Erkenntnis, dass im Anwendungsbereich des PRAC-Verfahrens tatsächlich quasi-legislative Befugnisse übertragen werden konnten, nicht wider. Nach wie vor ging Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV davon aus, dass allein der Rat Durchführungsbefugnisse übertrug; das Parlament spielte im Primärrecht im Zusammenhang von Durchführungsbefugnissen nach wie vor keine Rolle. Hier schafft Art. 290 AEUV schon primärrechtlich Klarheit.234 Art. 290 AEUV sondert jedenfalls235 diejenigen Durchführungsbefugnisse, die ehemals dem Regelungsverfahren mit Kontrolle unterworfen waren  – sprich: die quasi-legislativen Befugnisse – aus dem bisherigen Einheitsbrei der Durchführungsbefugnisse aus und unterstellt sie schon im Primärecht einem neuen Regime. Dieses neue Regime unterstreicht den legislativen Charakter der übertragenen Befugnisse, indem es zum einen die Übertragungszuständigkeit (Delegation) und zum anderen die Kontrollzuständigkeit eindeutiger gestaltet: Art. 290 Abs. 1 AEUV ordnet an, dass nur in Gesetzgebungsakten Befugnisse delegiert werden können. Gesetzgebungsakte sind Rechtsakte, die in einem Gesetzgebungsverfahren ergangen sind (so die Definition in Art. 289 Abs. 3 AEUV). Die Zuständigkeit für den Erlass des Basisrechtsaktes  – der nur ein Gesetzgebungsakt sein kann – und die Zuständigkeit für die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen können nicht mehr auseinanderfallen. Und: Am Erlass eines Gesetzgebungsaktes sind stets Rat und Parlament beteiligt (s. Art.  289 Abs.  1 und 2 AEUV).236 Die unglückliche Regelung des Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV, nach der allein der Rat die Befugnisse übertrug, ist nun – fast 20 Jahre nach Einführung 232

Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (217). s. aber den andersartigen Gebrauch des Begriffs „quasi-legislativ“ im britischen Recht bei von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 230. 234 Hummer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 19 (61). 235 Ob die Anwendungsbereiche des ehemaligen Regelungsverfahren mit Kontrolle und des Art. Art. 290 AEUV völlig deckungsgleich sind, ist nicht ganz klar. Für eine Deckungsgleichheit Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 10; gegen eine automatische Übernahme und völlige Deckungsgleichheit aber Bericht des Europäischen Parlaments über die Über­ tragung legislativer Zuständigkeiten, (2010/2021(INI)), S.  8 sowie die Kommission, die vor einer „automatischen Übernahme“ der Kriterien, die im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle maßgeblich waren, s. KOM(2009) 673, S. 3. 236 Ausführlich zum Konzept des Gesetzgebungsaktes s. unten unter § 2 C. III. 2. und § 7.  233

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV 

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des Mitentscheidungsverfahrens – einer Bestimmung gewichen, die die veränderte Rolle des Parlaments beim Erlass von Basisrechtsakten nicht mehr ignoriert. Zudem verankert Art. 290 Abs. 2 AEUV die Kontrolle über die Ausübung der delegierten Befugnisse schon primärrechtlich folgerichtig bei Rat und Parlament. Art. 290 Abs. AEUV nennt allein diese beiden Organe als Kontrollinstanzen. Die Rolle des Parlaments erfährt hierdurch eine erhebliche Aufwertung. Anders als noch im Regelungsverfahren mit Kontrolle ist es dem Rat jetzt gleichgestellt.237 Der Rat wird zugleich von der Ambiguität befreit, die seine Rolle bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen bisher prägte: Er ist im Rahmen des Art. 290 AEUV ausschließlich als legislatives Organ konzipiert. Auf dieser Linie liegt es, dass Art. 290 AEUV nur das Exekutivorgan Kommission als Empfänger von Rechtsetzungsbefugnissen vorsieht. Abgeleitete Rechtsetzungsbefugnisse können hingegen nicht auf den Rat übertragen werden, und zwar auch nicht, wie noch in Art. 202 EGV (und auch in Art. 291 AEUV!) der Fall, „in spezifischen Fällen“. Der Rat als Legislativorgan spielt im Prozess der abgeleiteten (quasi-legislativen) Rechtsetzung keine Rolle mehr238; diese obliegt allein dem Exekutivorgan. Dies korrespondiert mit der allgemeinen Bestimmung des Art. 16 EUVn, die den Rat gemeinsam mit dem europäischen Parlament mit der Aufgabe der Gesetzgebung betraut. Die Verankerung der Kontrollzuständigkeit bei Rat und Parlament führt indes zugleich die Unterschiede zum bisherigen Regelungsverfahren mit Kontrolle vor Augen: Dieses war – obgleich es den Gesetzgebern weitergehende Kontrollrechte einräumte – immer noch Bestandteil des Komitologieverfahrens und bewirkte damit schwerpunktmäßig eine Kontrolle durch die Mitgliedstaaten. Diese fällt nun weg, was – wie noch zu untersuchen sein wird – nicht unmaßgebliche Auswirkungen auf die abgeleitete Rechtsetzung unter dem Regime des Art. 290 AEUV haben wird.239 Die ausschließliche Zuweisung der Kontrollrechte zu den Gesetzgebern verdeutlicht im Vergleich zum Regelungsverfahren mit Kontrolle den quasi-legislativen Charakter der von Art. 290 AEUV betroffenen Befugnisse.

237

Dazu s. noch ausführlich unten unter § 2 C. II. 2. Allgemein zur legitimatorisch problematischen Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen von der Legislative auf die Legislative Möllers, Gewaltengliederung, S. 197 ff.; im Fall der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf den Rat waren die Friktionen potenziert: Denn auf diese Weise wurde die abgeleitete Rechtsetzungsbefugnis sogar nur von einem von insgesamt zwei Legislativorganen ausgeübt. Dies ermöglichte es dem Rat, in einem vereinfachten Verfahren ohne Beteiligung des Parlaments Basisrechtsakte zu ändern. 239 Zu den Auswirkungen des Wegfalls der Komitologie, s. unten ausführlich § 3 C. II. 3. 238

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

C. Die Bedeutung der Wesentlichkeit: Einführung eines Gesetzesvorbehalts Mit der Klarstellung, dass Art. 290 AEUV die Übertragung von legislativen Befugnissen betrifft, wird der Blick zugleich auf einen weiteren Aspekt gelenkt, der mit der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen zusammenhängt: Zumal im nationalstaatlichen Kontext bedeutet die Übertragung von Gesetzgebungsbefugnissen einen Verzicht auf demokratische Legitimation. Schließlich wird eine legislative Regelung in nicht-legislativer Form getroffen. Auf europäischer Ebene war bisher die Unterscheidung von Legislative und ­ xekutive kaum möglich. Anstelle einer echten Gliederung der Gewalten, bei E der bestimmte Staatsfunktionen bestimmten Organen zugeordnet sind, stand das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts.240 Dieses Prinzip verweist lediglich auf den primärrechtlichen Bestand an Aufgaben, die den jeweiligen Organen zu­ geordnet sind, ohne ihn durch übergeordnete Prinzipien zu strukturieren.241 Dementsprechend war bisher auch die Aufgabe der Gesetzgebung nicht einem Organ zugeordnet und nicht als solche erkennbar. Vielmehr waren an der Aufgabe der Rechtsetzung viele Organe in wenig systematisierter Weise beteiligt. Mit der Zeit hat sich auf europäischer Ebene aber die Funktion der Gesetzgebung immer mehr herauskristallisiert. Es zeichnete sich ab, dass unter Beteiligung von Rat und Parlament erlassene Basisrechtsakte eine andere Qualität hatten als abgeleitete Rechtsätze. Bisher fand die faktisch zunehmende besondere Qualität der Basisrechtsakte keinen Niederschlag im Primärrecht.242 Anstatt eine Ermächtigung der Kommission zum Erlass von Durchführungsrechtsakten als Ausnahme zu konzipieren, sah es die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission als systematischen Regelfall.243 Den Verträgen ließ sich keine besondere Wertschätzung gegenüber den Basisrechtsakten entnehmen (dazu s. II.). Art. 290 AEUV begrenzt nun die Delegationsmöglichkeit. Er gibt vor, dass „die wesentlichen Aspekte“ eines Bereichs „dem Gesetzgebungsakt vorbehalten“ sind und „eine Befugnisübertragung für sie deshalb ausgeschlossen“ ist. Der Vertrag von Lissabon ordnet also an, dass bestimmte Regelungsbestandteile einer bestimmten Rechtsaktform  – dem Gesetzgebungsakt  – vorbehalten sein sollen. Er normiert einen Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes. Aus dem staatlichen Recht kennt man ähnlich Klingendes244: Den Gesetzesvorbehalt. Auch dieses aus staat 240

Dazu s. schon oben unter § 1 C. II. 2. b) m. Nachw. in Fn. 120. Vgl. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 3 Rn.  26: institutionelles Gleich­ gewicht als „Reflex der zwischen den Organen der Gemeinschaft bestehenden Zuständigkeitsordnung“. 242 Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte, S. 154. 243 s. schon oben, Möllers, EuR 2002, 483. 244 Differenziert zur Übernahme von Begrifflichkeiten aus dem Staatsrecht, Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, S. 444 ff. 241

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV 

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lichem Zusammenhang bekannte Phänomen begrenzt zu weitgehende Befugnisübertragungen. Führt Art. 290 AEUV einen solchen Gesetzesvorbehalt auf europäischer Ebene ein (dazu III.)? Hierzu lohnt zunächst (I.) ein Blick auf Funktionen und Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts, wie er auf nationaler Ebene bekannt ist. Hierbei wird vornehmlich durch die „deutsche Brille“ geschaut. Was in anderen Fällen verfehlt ist, erscheint hier begründet. Art. 290 AEUV weist erkennbare Ähnlichkeit mit Art. 80 GG auf, der für das deutsche Recht ebenfalls einen formellen Gesetzesvorbehalt formuliert.245 Diese Vorgehensweise ist auch deshalb gerechtfertigt, weil die Dogmatik zum Gesetzesvorbehalt nirgends so vertieft wurde wie in Deutschland; in anderen Mitgliedstaaten hat man sich mit Fragen des Gesetzesvorbehalts erheblich weniger befasst.246 Gleichwohl bewahren auch für diese Staaten die folgenden Ausführung Gültigkeit, weil auch dort das Konzept eines „formellen“ Gesetzes bekannt ist und diese Regelungsform für bestimmte Bereiche als die einzig angemessene erachtet wird; auch das grundsätzliche Konzept eines Gesetzesvorbehalts ist also, obgleich in unterschiedlichen Ausprägungen, auch in anderen Ländern beheimatet.247 I. Gesetzesvorbehalt im staatlichen Recht: Begriff, Funktionen und Voraussetzungen Der Begriff des Gesetzesvorbehaltes wird nicht einheitlich gebraucht. Zur Vorbeugung von Missverständnissen soll klargestellt werden, in welchem Sinne hier die Begriffe verwendet werden. Um die spezifischen Probleme im Zusammenhang mit Art. 290 AEUV herauszuarbeiten, soll im Wesentlichen nur eine Unterscheidung zwischen einem Rechtssatzvorbehalt auf der einen und einem Vorbehalt des formellen Gesetzes auf der anderen Seite getroffen werden.

245

Möstl, DVBl 2011, 1076 (1080); Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 40 spricht davon, dass gerade bei der Delegationsproblematik deutsche Regelungen dem Gemeinschaftsrecht als Vorbild zu dienen scheinen. 246 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 40 f. 247 In Italien wird etwa zwischen „absoluten“ und „relativen“ Gesetzesvorbehalten unterschieden; absolute Gesetzesvorbehalte verlangen eine parlamentarische Regelung. Ebenso ist dem spanischen Recht die Unterscheidung zwischen organischen (formellen) Gesetzen und untergesetzlichem Recht bekannt, wobei dem organischen Gesetz bestimmte Regelungsmaterien vorbehalten werden, s. dazu von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 178 ff. Auch in diesen anderen Ländern beruht die Zuweisung bestimmter Regelungsmaterien zum Parlament (oder einem entsprechenden Organ, dem die Aufgabe demokratischer Legitimation zugeordnet ist) auf der demokratischen Bedeutung der von diesem erlassenen Gesetze, s. dazu umfassend Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 12 ff. Selbst in Frankreich, wo das Parlament nach dem Grundsatz der Einzelzuweisung nur dann tätig wird und formelle Gesetze erlässt, wenn es auf eine entsprechende Kompetenzzuweisung zurückgreifen kann, liegt der Grund für diese Kompetenzzuweisung in der besonderen Qualität der vom Parlament erlassenen „formellen“ Gesetze, vgl. dazu nochmals Rieckhoff, a. a. O., S. 27 ff.

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

In seiner einfachsten Form ist der Gesetzesvorbehalt ein Rechtssatzvorbehalt bzw. ein rein materieller Gesetzesvorbehalt248. Ein solcher verlangt lediglich, dass es irgendeine abstrakt-generelle Regelung mit Außenwirkung gibt, auf deren Grundlage die Verwaltung tätig wird. Unerheblich für einen solchen „einfachen“ oder „materiellen“ Gesetzesvorbehalt ist die Frage, welches Organ die abstraktgenerelle Regelung erlassen hat.249 Bei einem einfachen, nur materiellen Gesetzesvorbehalt kann somit sowohl der eigentliche „Gesetzgeber“ die Norm erlassen haben, als auch – i. d. R. nach einem Übertragungsakt – die Exekutive. Wenn darüber hinaus Anforderungen hinsichtlich des „Wie“ und/oder des „Wer“ der Regelung gestellt werden, verdichtet sich der materielle Rechtssatzvorbehalt zu einem Vorbehalt des formellen oder legislativen Gesetzes. Entscheidend ist nicht mehr nur, dass eine abstrakt-generelle Regelung das staatliche Handeln legitimiert; entscheidend ist dann darüber hinaus, dass ein bestimmtes Organ  – der „Gesetzgeber“  – die Regelung in einem bestimmten Verfahren erlassen hat. Der zur Ausfüllung des formellen Gesetzesvorbehalts erforderliche Rechtsatz wird nach bestimmten Kriterien qualifiziert und aus dem Kreis „einfacher“ Rechtssätze herausgehoben; taugliche Qualifikationskriterien sind insbesondere das Erlassorgan oder das anzuwendende Verfahren.250 Sind diese Kriterien erfüllt, handelt es sich um legislative in Abgrenzung zu nur materieller (in der Regel exekutiver) Rechtsetzung. Im deutschen Verfassungsrecht, das die Funktion des Gesetzgebers dem Parlament zuweist, bezeichnet man die personell/verfahrensrechtlich qualifizierte Form des Gesetzesvorbehalts als Parlamentsvorbehalt.251 Da der Begriff des Parlamentsvorbehalts dem Modell des nationalstaatlichen Parlamentarismus verhaftet ist, soll im Folgenden für dieses Konzept des Gesetzesvorbehalts der für andere Verfassungsstrukturen offenere Begriff des „formellen“ oder „legislativen“ Gesetzesvorbehalts“ gebraucht werden.252

248 Hilf/Classen, in: FS Selmer, S. 73; Kloepfer, JZ 1984, 685 (693); vgl. Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 232. 249 Ein solcher Rechtsatzvorbehalt schließt also (in Anwendung auf das deutsche Recht) eine Regelung durch Rechtsverordnung i. S. d. Art. 80 Abs. 1 GG nicht aus, Cremer, AöR 122 (1997), 248 (251). Die Frage, inwiefern sich ein exekutiv erzeugter Rechtsatz seinerseits auf eine „echte“ gesetzliche (legislative) Grundlage zurückführen lassen muss, kann im vorliegenden Zusammenhang offen bleiben. 250 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 28. 251 Nicht verheimlicht werden soll, dass dieser Begriff uneinheitlich gebraucht wird. Bisweilen wird der Begriff des Parlamentsvorbehalts als Erforderlichkeit irgendeines Parlamentsbeschlusses verstanden, so dass beispielsweise auch konstitutive Parlamentsbeschlüsse (z. B. Zustimmung zu Bundeswehreinsatz) hiervon umfasst wären. Vgl. dazu Hilf/Classen, in: FS Selmer, S. 72; Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 14; Hofmann-Riem, AöR 130 (2005), 5 (7) setzt Parlamentsvorbehalt und Legislativvorbehalt auf Grundlage des deutschen Rechts in eins; F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Norm­ setzung, S. 377. 252 Vgl. Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 232.

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1. Funktionen eines formellen Gesetzesvorbehalts: Erhaltung des erforderlichen demokratischen Legitimationsniveaus Schon das Erfordernis irgendeines Rechtsatzes erfüllt wichtige rechtsstaat­liche Funktionen. Für den Bürger bedeutet eine, am besten: dauerhafte, Regelung Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Handelns. Für die Verwaltung enthält eine rechtsatzförmige Regelung eine Anleitung zum Handeln; sie begrenzt damit willkürliche Machtausübung. Und für die Gerichte liefert der außenwirksame Rechtsatz den Maßstab für die Überprüfung des Verwaltungshandelns im Einzelfall.253 Zu voller Blüte gelangt der Gesetzesvorbehalts im Falle des Vorbehalts eines formellen Gesetzes.254 Diese Form des Gesetzesvorbehalts behält bestimmte Regelungsmaterien legislativer Rechtsetzung vor. Diese Form der Rechtserzeugung obliegt demjenigen Organ, das die höchste demokratische Legitimation im Staat genießt.255 Überdies zeichnet sie sich durch ein demokratisch repräsentatives, inhaltsoffenes Verfahren aus.256 Das formelle Gesetz bündelt demnach wesentliche demokratische Legitimationsfaktoren.257 Der formelle Gesetzesvorbehalt knüpft daran an und stellt sicher, dass das jeweils erforderlich Legitimationsniveau258 in sachlich-inhaltlicher Weise besteht: Grundvoraussetzung demokratischer Legitimation ist die personelle demo­ kratische Legitimation der die Herrschaft ausübenden Staatsorgane. Weil das Volk nicht über alle Staatsorgane in Wahlen bestimmen kann, muss nicht jedes Staatsorgan unmittelbar aus Wahlen hervorgegangen sein; auch eine Legitimationskette259 vom Volk zu den mit den staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern generiert in gewissem Maß personelle Legitimation.260 Die Qualität der personellen Legitimation nimmt jedoch in der personellen Legitimationskette vom unmittelbaren Repräsentationsorgan261 hin zur Verwaltung ab. Diesen Verlust an 253

Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 24. Viele Autoren verwenden lediglich den Begriff „Gesetz“, wenn sie einen nach Erlassorgan und Erlassverfahren qualifizierten Rechtsatz meinen, s. z. B. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 377 ff.; diese Arbeit verwendet den Begriff des formellen Gesetzes ohne damit eine Aussage über die richtige Begriffsverwendung führen zu wollen. Das Adjektiv „formell“ wird allein aus Gründen der Klarstellung und zur Vermeidung von Missverständnissen herangezogen. 255 Im nationalstaatlichen Kontext ist dies zumeist allein das Parlament, das sich in allgemeinen, freien und/möglichst) gleichen Wahlen rekrutiert. 256 Möllers, Gewaltengliederung, S. 434. 257 von Komorowski, Das Demokratieprinzip und die EU, S. 416 ff. spricht sogar vom legitimatorischen Mehrwert der sachlich-inhaltlichen, bzw. in seinen Worten materiell-direktiven Legitimation, weil diese im Unterschied zur personellen Legitimation koerzitiv und nicht lediglich inzitativ wirke. 258 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 II Rn. 126; Jestaedt, JuS 2004, 649 (650). 259 Zum Modell der Legitimationskette s. Böckenförde, HStR II, § 24 Rn. 11 ff. 260 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 II Rn. 121. 261 I. d. R.: das Parlament. 254

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demokratischer Legitimation gilt es auszugleichen.262 Dies geschieht primär auf zwei Wegen263: Zum einen durch Kontrollrechte, die in die Hände des personell am meisten legitimierten Organs gelegt werden. Zum anderen bewirken formelle Gesetze die erforderliche Rückbindung staatlichen Handelns an den Willen des Volkes264. Der Vorbehalt des formellen Gesetzes sichert diese Funktion ab, indem es bestimmte – für das Gemeinwesen besonders wichtige – Entscheidungen ausschließlich in die Hände der Legislative legt. Diese steuert mit ihren formellen Gesetzen die Exekutive und stellt so das erforderliche Legitimationsniveau her. Weiter verstärkt ein formeller Gesetzesvorbehalt die bereits einem einfachen Gesetzesvorbehalt eigenen rechtsstaatlichen Funktionen. Er gewährleistet, dass die in geringerem Maße demokratisch legitimierte Exekutive nur aufgrund und im Rahmen der Gesetze handeln darf, die ein anderes Organ, nämlich die demokratisch höherwertige Legislative erlassen hat.265 Der formelle Gesetzesvorbehalt beschreibt die Kompetenzgrenze zwischen Legislative und Exekutive und wirkt damit als entscheidendes Element der Gewaltenteilung.266 Jenseits des formellen Gesetzesvorbehalts darf die Exekutive tätig werden; diesseits gilt die Exklusivität der Legislative. Diese Machtabgrenzung bewirkt zugleich eine stärkere Machtbegrenzung, als sie ein einfacher Rechtsatz bewirken könnte: Die gesetzliche Steuerung der Exekutive  – verwirklicht mittels der Bindung an das Gesetz  – durch eine andere Gewalt, nämlich die Legislative, begrenzt Willkür und Machtmissbrauch des hoheitlichen Rechtsanwenders besonders wirksam.267 Das formelle Gesetz bildet so die Klammer, die Demokratie und Rechtsstaat zum demokratischen Rechtsstaat verbindet.268

262 Zur Kompensierbarkeit der verschiedenen demokratischen Legitimationsformen, von Komorowski, S. 490 ff. 263 Jestaedt, JuS 2004, 649 (650). 264 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  20 II Rn.  135; Rumler-Korinek, EuR 2003, 327 (334 f.). 265 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rn.  32; von Bogdandy, ­Gubernative Rechtsetzung, S.  191 findet sogar das Prinzip des Gesetzesvorbehalts fast nur noch im Hinblick auf das demokratische Prinzip bedeutsam und sieht seine rechtsstaatlichen Funktionen kritisch. So werden Gesetze gerade zur Einschränkung von Freiheiten gebraucht (z. B. in Italien oder i. R. d. Aufschwungs Ost), sie sind darüber hinaus meist von höherer Bestandskraft als exekutive Normgebung, weshalb sie für den Freiheitsschutz gefährlicher seien. Im Folgenden konzentriert sich die Arbeit auf die demokratischen Aspekte. 266 Hilf/Classen, in: FS Selmer, S. 71 (76). 267 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rn. 1. 268 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 61 Rn. 19, 20 sieht daher im formellen Gesetz die wesentlichen Grundzüge der Demokratie und des Rechtsstaates verwirklicht; Möllers, Gewaltengliederung, S. 180 ff.; s. auch Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 381: Gesetz als „zentraler Baustein demokratischer Verfassungsstruktur“.

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2. Formeller Gesetzesvorbehalt als Delegationsverbot Seine praktische Bedeutung entfaltet der formelle Gesetzesvorbehalt vor allem269 als Delegationsverbot. Die Legislative muss bestimmte Regelungen selbst treffen, damit das erforderliche Legitimationsniveau besteht. Jede Regelung in anderer als legislativer Form, beispielsweise durch die Exekutive, bewirkt einen Verlust an sachlich-inhaltlicher Legitimation; die Entscheidung des Gesetzgebers, eine Regelung einem anderen Organ zu überlassen, bedeutet entsprechend einen Legitimationsverzicht, der möglichst durch andere Legitimationsfaktoren, etwa funktioneller Art, auszugleichen ist. Der formelle Gesetzesvorbehalts beschränkt den (grundsätzlich weiten) Spielraum des Gesetzgebers, indem er dem gesetzgeberischen Legitimationsverzicht Grenzen setzt und bestimmte Regelungsbereiche von der Möglichkeit einer Delegation ausnimmt. 3. Die Grenzen eines formellen Gesetzesvorbehalts Die Aufgabe des formellen Gesetzes, demokratische Legitimation zu vermitteln, bedeutet nicht, dass im Idealfall sämtliche hoheitliche Entscheidungen als Gesetz ergehen müssen.270 Vielmehr hat das formelle Gesetz funktionale Grenzen. Diese sind nicht erst dann erreicht, wenn es um die Regelung von Einzel­fällen geht. Hier treten die Grenzen aber besonders deutlich zutage: Die Funktion des Gesetzes zur Begrenzung hoheitlicher Macht und damit zum Schutz des einzelnen vor hoheitlichen Übergriffen fiele völlig weg, wenn der Gesetzgeber selbst in jedem Einzelfall über die Freiheitssphäre des Einzelnen neu disponieren könnte. Regelungen, auf die der einzelne vertrauen könnte und die ihm für sein Handeln die nötige Orientierung bieten, gäbe es dann gerade nicht mehr.271 Auch über das (grundsätzliche) Verbot des Einzelfallgesetzes hinaus kann der Vorbehalt des formellen Gesetzes kein Totalvorbehalt sein. Demokratische Legitimation ist eine wichtige Quelle staatlicher Legitimität, aber eben nicht die einzige. Ein (staatlich oder analog) organisiertes Gemeinwesen ist kein Selbstzweck, sondern eine Institution, der die Aufgabe anvertraut ist, das alltägliche Zusammenleben ihrer Mitglieder zu regeln. Hoheitliche Gewalt ist nur legitim, wenn sie diese Ordnungs- und Steuerungsaufgaben erfüllen kann.272 Bisweilen ist die demokratisch vorzugswürdige Entscheidungsfindung durch formelles Gesetz nicht geeignet, diesen Herausforderungen gerecht zu werden.273 Dies gilt zum einen, 269 Sofern die Möglichkeit originärer Rechtsetzung durch die Exekutive besteht, kann einem formeller Gesetzesvorbehalt auch insoweit Bedeutung zukommen. 270 F. Becker, Kooperative und konsensuale Strukturen in der Normsetzung, S. 377. 271 Zu den im Einzelnen umstrittenen Gründen für das Verbot des Einzelfallgesetzes in Art. 19 Abs. 1 S. 1. GG, s. Remmert, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 1 Rn. 13. 272 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 35. 273 s. ausführlich Hofmann-Riem, AöR 130 (2005), 5 ff.

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weil der moderne, insbesondere soziale Rechtsstaat einen enormen Normenhunger generiert,274 den legislative Rechtserzeugung allein nicht stillen kann.275 Das Gesetzgebungsverfahren ist, da es „Recht als variabel“ betrachtet, inhaltlich also wenig verrechtlicht ist, von hoher Komplexität.276 Es ist deshalb aufwendig und tendenziell langwierig, zumal es als „demokratisches“ Verfahren beansprucht, einen allgemeinen demokratischen Willen zu bilden.277 Ein Mehr an demokratischer Beteiligung kann also zu einer insgesamt geringeren Steuerungsleistung führen.278 Zum anderen würde ein „Totalvorbehalt“ den spezifischen (funktionalen) Legitimationsgewinn exekutiven Handelns vernachlässigen. Wegen seiner Öffentlichkeitswirksamkeit, aus dem das legislative Verfahren seine besondere demokratische Dignität saugt, und wegen des geringen Grads seiner Verrechtlichung ist legislative Rechtserzeugung politisch; das heißt, sie ist bestimmten Einflüssen ausgesetzt und auf Kompromisse angewiesen. Von solchen Bezügen sollte man den Prozess der Rechtskonkretisierung, der mehr sein kann als die Anwendung von Gesetzen auf den Einzelfall, möglichst freihalten, und zwar mit dem Grad der Verrechtlichung in zunehmendem Maße. Nur so lassen sich durch das Recht Rationalisierungsgewinne, insbesondere durch den Abbau legislativer Komplexität, einfahren; nur so kann Gleichbehandlungserfordernissen genügt werden.279 Auch aus funktionalen und gewaltenteilenden Gründen kann der Vorbehalt des formellen Gesetzes somit kein Totalvorbehalt sein.280 Letztlich sind es paradoxerweise sogar demokratische Gründe, die dem legislativen Vorbehaltsbereich Grenzen setzen: Müsste sich der Gesetzgeber mit allen Fragen befassen, würde ihn das schlicht überfordern. Ihm bleibt mehr Zeit, sich mit den wichtigen Fragen des Gemeinwesens zu befassen und diese sachgerecht zu lösen, wenn er sich nicht um alle Details kümmern muss.281 Auch würde sich der deliberative Mehrwert282 legislativer Rechtserzeugung schnell abnutzen, wenn alle Regelungsmaterien an dem möglichst öffentlichen legislativen Verfahren teilnähmen: In dem Wust an öffentlich verhandelten Fragen würde der Bürger als Souverän schnell den Überblick verlieren; die Verantwortlichkeit für die einzelnen Regeln verschwämme zunehmend. Aus diesen Gründen ist es unerlässlich, dass der Regelungsbedarf nicht allein von der Legislative gedeckt wird.283 Die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen an die Exekutive ist ein viel genutztes Mittel, um 274

Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 64 Rn. 2. von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 36. 276 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 199; Möllers, Gewaltengliederung, S. 105 ff. 277 Möllers, Gewaltengliederung, S. 107. 278 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 36. 279 s. umfassend zu den Vorteilen „funktionaler Differenzierung“ von Politik und Verwaltung, Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 203 ff., 242 ff. 280 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 61 Rn. 32. 281 Vgl. zu diesem Aspekt als Gesichtspunkt der Input-Legitimation abgeleiteter Rechtsetzung Möllers/von Achenbach EuR 2011, 39 (53). 282 Dazu s. Hermes, Der Bereich des Parlamentsgesetzes, S. 53. 283 Vgl. dazu Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 61 Rn. 32. 275

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dieser Erkenntnis Rechnung zu tragen. Die Aufgabe des Vorbehalts des formellen Gesetzes ist es, in diesem – zugegebenermaßen komplexen – Spannungsfeld von demokratischer Legitimation und Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens angemessene Grenzen zu finden, auch wenn sich die eine angemessene Grenze abstrakt wohl nicht bestimmen lässt. 4. Die Abhängigkeiten eines formellen Gesetzesvorbehalts: Verknüpfung mit Legitimationsfaktoren Der rein rechtsstaatliche Gesetzesvorbehalt lässt sich bereits durch irgendeine (außenwirksame normative) Regelung realisieren. Ihm wird bereits dadurch Genüge getan, dass sich die staatliche Macht durch die Formulierung allgemein gültiger Rechtssätze (selbst) bindet. Schon auf diese Weise ist die Begrenzung und Vorhersehbarkeit staatlicher Macht gewährleistet.284 Der formelle Gesetzesvorbehalt, der überdies noch demokratische Legitimation vermitteln soll, bedarf naturgemäß einer qualifizierten Regelung. Der formelle Gesetzesvorbehalt zielt wegen seiner Bedeutung für die Verfassungsprinzipien Rechtsstaat und Demokratie auf eine bestimmte Stufe der Rechtsetzung, die über ihren Charakter als außenwirksame normative Regelung hinaus durch bestimmte Qualitäten gekennzeichnet ist und sich dadurch gegenüber untergesetz­ lichen Rechtsetzungsformen auszeichnet, eben: das formelle Gesetz.285 Erforderlich ist damit zunächst die Möglichkeit, überhaupt verschiedene Kategorien von Rechtsakten unterscheiden zu können. Dabei muss sich eine Kategorie von Rechtsätzen, das „formelle Gesetz“, gegenüber den anderen besonders auszeichnen. Diese besondere Qualität des formellen Gesetzes muss auf seiner besonderen demokratischen Dignität beruhen. Demokratische Dignität generieren dabei vor allem zwei Kriterien: Die personelle demokratische Legitimation der Erzeugungsorgane und das Verfahren der Rechtsetzung.286 Die Abstufung von formellgesetzlicher Regelung und nur materieller Norm muss parallel zu der Legitimationsleistung verlaufen, die diese beiden Faktoren (Erlassorgane und -verfahren) hervorbringen. Die höhere Legitimationsleistung muss der qualifizierten Handlungsform – dem formellen Gesetz – zugeordnet sein.287 Ist dies der Fall, bedeutet die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen, die Rechtsetzung durch ein anderes Organ in einem vereinfachten Verfahren ermöglicht, einen Legitimationsverzicht. 284 Allerdings ist die Machtbegrenzung naturgemäß dann besonders wirksam, wenn die machtbegrenzende Regelung von einer anderen Stelle erlassen wird als derjenigen, die später durch die Regelung in ihrer Machtausübung gebunden wird. 285 Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 399; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 61 Rn. 5. 286 s. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 28. 287 Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rn. 37.

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Diese Erkenntnis bedeutet zugleich, dass der formelle Gesetzesvorbehalt von einem Minimum an Gewaltenteilung abhängig ist: Einem bestimmten, demokratisch besonders abgesichertem Organ muss die Aufgabe der legislativen Gesetzgebung zugewiesen sein; Rechtsetzung durch ein anderes Organ muss sich von der Gesetzgebung durch jenes Organ qualitativ unterscheiden. Das andere Organ darf nicht die gleiche Art von Recht setzen wie das Legislativorgan. An diesen Voraussetzungen fehlte es weitgehend im EGV. Der Vertrag von Lissabon hat hier Fortschritte gebracht. Die Veränderungen, die der Vertrag von Lissabon in diesem Zusammenhang gebracht hat, lassen sich am bestem aufzeigen, wenn man die Rechtslage nach dem EGV und dem AEUV einander gegenüberstellt und die Veränderungen als (vorläufiges?) Ergebnis einer Entwicklung begreift. II. Zum Fehlen eines formellen Gesetzes im EGV Das Konzept eines formellen Gesetzes ist Voraussetzung für die Sinnhaftigkeit eines formellen Gesetzesvorbehalts: Nur wenn es eine Art von Rechtsetzung gibt, die mehr als andere Formen der Rechtsetzung sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation zu vermitteln geeignet ist, ergibt es Sinn, dieser Rechtsatzform aus demokratischen Gründen bestimmte Regelungsbereiche vorzubehalten. Ein Vorbehalt des formellen Gesetzes verlangt die Existenz einer besonderen Kategorie von Rechtsakten – mit staatsrechtlicher Terminologie gesprochen: dem formellen Gesetz –, dem die Rechtsordnung die Aufgabe der Vermittlung sachlich-inhalt­licher Legitimation zuerkannt hat; eine Regelung die aufgrund einer Befugnisübertragung statt in dieser herausgehobenen in einer vereinfachten Form stattfindet, bedeutet dann einen Verzicht auf demokratische Legitimation. Das Konzept eines „formellen Gesetzes“ sah (und sieht?) sich auf europäischer Ebene besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt. Schon das Erfordernis eigener demokratischer Legitimation der Europäischen Gemeinschaften war nicht von Anfang an Gemeingut; unklarer noch war die Frage nach dem „Wie“ europäischer Legitimation (dazu 1.). Zudem tauchte bis zum Vertrag von Lissabon die Kategorie der Gesetzgebung und des Gesetzes nicht auf. Nur an einer Stelle, und das erst seit Kurzem, fiel der Begriff des Gesetzgebers und bezog sich auf Rechtsetzung durch den Rat.288 Stattdessen gab es ganz unterschiedliche Formen der Rechtsetzung, die sich hauptsächlich nach Handlungsformen (Verordnung, Richtlinie, Beschluss) gliedern ließen und die sich primär in ihrem Wirkmodus, aber nicht in ihrem demokratisch-legitimatorischen Leistungspotential unterschieden; vielmehr partizipierten drei Organe, nämlich Rat, Kommission und Parlament in unterschiedlicher Intensität und in wenig systematisierter Weise am Erlass der Rechtsakte.289 Wer primärrechtlich für den Erlass von Rechtsakten zuständig war, bestimmte allein 288

In Art. 207 EGV. Timmermans, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 133 (139).

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das Primärrecht, das dabei keinen erkennbaren Leitlinien folgte. Dies machte es schwierig, den bisherigen Verträgen ein, wenn auch nur implizites, Anerkenntnis der Funktion der Gesetzgebung und ihrer demokratischen Bedeutung zu entnehmen (dazu 2.), zumal auch die Rechtsprechung diesen Weg nicht mit letzter Konsequenz beschritt. 1. Das „Ob“ und das „Wie“ eigener europäischer demokratischer Legitimation a) Wachsendes Bedürfnis nach eigener demokratischer Legitimation Der Gedanke, dass die europäischen Gemeinschaften demokratisch verfasst sein sollten, war keineswegs selbstverständlich.290 Ursprünglich bildete die demokratische Verfasstheit keine Leitidee für das Projekt der Europäischen Gemeinschaften.291 Zu sehr wurde das Konzept der Demokratie mit staatlich verfassten und souveränen Völkern in Verbindung gebracht. Die Europäische Union292 wurde als eine internationale Organisation wahrgenommen, deren Legitimität auf dem Willen und der Zustimmung ihrer Mitglieder – den Staaten – beruhte.293 Unter diesem Blickwinkel ließ schon die Schaffung einer „Gemeinsamen Versammlung“ als Vorgängerin des Europäischen Parlaments eine gewisse Neu- und Andersartigkeit der Union im Kreis der internationalen Organisationen erahnen.294 Über die Bedeutung einer solchen Versammlung auf internationaler Ebene war man sich bewusst: Man nahm an, dass zunehmende Beteiligungsrechte eines Parlaments den Integrationsprozess, möglicherweise gar bis hin zu einem Bundesstaat, beschleunigen würden.295 Zu Beginn fehlten dieser Versammlung indes noch weitgehend Entscheidungsbefugnisse. Der  – im Grunde natürlich vorhandene  – demokratische Legitima­ tionsbedarf der Union wurde noch ganz traditionell nach dem Vorbild internationaler Organisationen von den Mitgliedstaaten selbst gedeckt. Diese trafen die politischen Entscheidungen; den europäischen Organen blieb im Wesentlichen nur der „zweckrationale Nachvollzug“, das „Abspulen eines intergouvernementalpolitisch vorgegebenen Integrationsprogramms“.296

290

s. zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Begriffe allgemein und des Demokratieprinzips im Besonderen Mangold, Europäisches Recht und Gemeinschaftsrecht, S. 443 ff.; von Bogdandy, in: FS Badura, S. 1033 (1043); Wahl, JZ 2005, 916 (922 ff.). 291 Bieber, SZIER/RSDIE 2011, 99 (102). 292 Der Begriff „Europäische Union“ wird hier schlicht als Oberbegriff gebraucht. 293 Nettesheim, BerkeleyJIL 2005, 358 (362). 294 Bieber, SZIER/RSDIE 2011, 99 (102). 295 Nettesheim, BerkeleyJIL 2005, 358 (362); Bieber, SZIER/RSDIE 2011, 99 (102). 296 von Komorowski, Demokratieprinzip und EU, S. 175; Nettesheim, in: FS Häberle, S. 193.

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Die Aufgaben der Europäischen Union änderten sich jedoch zunehmend. Der Kompetenzkatalog der Union wurde umfangreicher. Die Wirkungen europäischer Entscheidungen reichten bis in die innerstaatliche Lebenswelt hinein und betrafen die einzelnen Bürger unmittelbar.297 Dieser Prozess wurde begleitet von institutionellen Änderungen. Ein einschneidendes Moment war die Einführung der Mehrheitsentscheidung im Rat durch die Einheitliche Europäische Akte.298 Die Mitgliedstaaten können seither überstimmt werden; die Union konnte seitdem die Staaten gegen ihren Willen binden. Spätestens ab diesem Zeitpunkt stellte sich die Union nicht mehr nur als „Instrument mitgliedstaatlicher Kooperation“299 dar. Auch die Aufwertung des Parlaments in den europäischen Entscheidungsprozessen spiegelte die Entwicklung der Union hin zu einem eigenständigen politischen Akteur mit supranationaler Gewalt wider. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass das traditionelle Legitimationsmodell internationaler Organisationen für die Union nicht mehr funktionieren konnte. Die Union hatte sich zu einem genuin politischen Verband entwickelt.300 Sie war deshalb auf eigene demokratische Legitimation angewiesen. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass in der Wahrnehmung vieler die Europäische Union ein Demokratiedefizit aufwies, während solche vermeintlichen oder wirklichen Demokratiedefizite im Zusammenhang mit internationalen Organisation weniger thematisiert werden.301 Die Verträge und die Wissenschaft reflektierten diese Entwicklung: Nachdem bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein das Erfordernis eigener demokratischer Legitimation der Europäischen Gemeinschaft bisweilen noch bezweifelt wurde302, steht es nun außer Frage303: Auch die europäische Union muss demokratisch verfasst sein. Die Verträge passten sich der Entwicklung in gewissem Umfang an. Erstmals vertraglich verankert wurde der Begriff der Demokratie in der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte (1986). Zehn Jahre später, im Vertrag von Amsterdam, stieg das Demokratieprinzip von der Präambel in den eigentlichen Vertragstext auf und beansprucht spätestens seitdem eine die Union verpflichtende Wirkung.304 Seither beruht die Union ausdrücklich nicht nur auf den

297 Nettesheim, in: FS Häberle, S. 193 (194); s. auch die Abschichtung der Entwicklung der Demokratiediskussion in drei Stufen bei dems., BerkeleyJIL 2005, 358 (362 ff.); von ­Bogdandy, in: FS Badura, S. 1033 (1038). Schon im Jahr 1963 stellt der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts auch für die Bürger in den Mitgliedstaaten fest, s. EuGH, Rs. C-26/62 (van Gend & Loos), Slg. 1963, 3.  298 Nettesheim, BerkeleyJIL 2005, 358 (362 f.). 299 Nettesheim, FS Häberle, S. 193 (195). 300 Nettesheim, in: FS Häberle, S. 193 (194). 301 Pointiert Wahl, JZ 2005, 916 (922). 302 Dazu s. insbesondere Ipsen, FS für Lerche, S. 425 (428 ff.). 303 Vgl. Möllers, Gewaltengliederung, S. 235 f. 304 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art.  10 EUV Rn.  6; Bieber, SZIER/RSDIE 2011, 99 (104); von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 13 (62).

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Grundsätzen der Freiheit und der Achtung der Menschenrechte, sondern auch auf den Grundsätzen der Demokratie. Positiv geregelt war bisher aber nur das „Ob“ europäischer Demokratie, nicht das „Wie.“ b) Duales Legitimationskonzept Die Frage, um die sich seither eine lebhafte Diskussion entsponnen hat, geht dahin, wie ein spezifisch europäisches Modell demokratischer Legitimation zu entwickeln ist. Weil die Union dabei (nach wie vor) kein Staat ist305, können nationale Modelle nicht schlicht übertragen werden.306 Dabei steht zunächst außer Frage, dass demokratische Legitimation auf Gemeinschaftsebene der Rückkopplung an die mitgliedstaatliche Ebene bedarf.307 Schließlich ist die Union zuvörderst ein Zusammenschluss ihrer Mitgliedstaaten; dies war ihr historischer Ausgangspunkt. Die Aufgabe mitgliedstaatlicher Rückkoppelung ist institutionell beim Rat verankert. Zwar stellt dieses Organ nur eine  – sogar: doppelt  – mittelbare demokratische Rückbindung an die Bürger her. Der Rat kann keine unmittelbare, eigenständige Legitimation für die Europäische Union bewirken, weil er sich nur aus Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten zusammensetzt. Die Vertreter der Mitgliedstaaten verdanken ihre Position ebenfalls nicht einer unmittelbaren Volkswahl, sondern leiten ihre Stellung von den jeweiligen nationalen Parlamenten ab.308 Dafür stellt sich der Rat als unmittelbarer Repräsentant der europäischen Mitgliedstaaten dar309: Solange sich eine eigene europäische Identität noch nicht voll herausgebildet hat, bleibt dieses im Rat verkörperte intergouvernementale Element unverzichtbar310; umgekehrt gilt: Je deutlicher sich eine Identitätsbildung auf der höheren Ebene abzeichnet, desto zweifelhafter wird die Legitimation eines intergouvernemental besetzten Legislativorgans, desto schwerer wiegt also der Umstand, dass sich die Mitglieder des Rates unmittelbar nur auf den Willen der Mitgliedstaaten, aber nur sehr mittelbar auf den Willen der einzelnen 305

Und die EU darf nach Ansicht des deutschen BVerfG vorerst auch kein Staat werden, s. BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 = BVerfGE 123, 267 (371), denn nur weil die Union gerade nicht staatsanalog aufgebaut ist, entspricht sie nach Ansicht des BVerfG (gerade noch) demokratischen Grundsätzen. 306 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 10 EUV Rn. 22; Bieber, SZIER/RSDIE 2011, 99 (106); Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 6 EUV Rn.  15; s. ausführlich zu dem gemäß den Anforderungen des Grundgesetzes erforder­ lichen Legitimationsniveau der EU Brosius-Gersdorf, EuR 1999, 133 ff. 307 Dreier, in: Dreier, GG, Art. 20 (Demokratie) Rn. 55. 308 Dieser Faktor sorgt nach Ansicht des BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 = BVerfGE 123, 267 fast im Alleingang für die erforderliche demokratische Legitimation der Union; zur Rolle der nationalen Parlamente für die Legitimation der EU s. auch Cygan, in: Tridimas/ Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 153 ff. 309 Vgl. dazu „democracy among nations“, Magnette, in: Barnard, The Fundamentals of EU Law Revisited, S. 13 ff. 310 Vgl. Oeter, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 73 (97 f.).

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Bürger rückführen lassen.311 Die oben gezeichnete Entwicklung zeigt, dass schon seit einiger Zeit der Rat als Repräsentant der Mitgliedstaaten die Legitimationslast nicht mehr alleine tragen kann. Die europäischen Entscheidungsbefugnisse wirken sich nicht mehr nur gegenüber den Mitgliedstaaten aus, sondern beeinflussen unmittelbar den Rechtskreis aller Bürger; hier kann der intergouvernementale Legitimationsstrang nur sehr begrenzt die erforderliche Legitimität einer Entscheidung gegenüber den Bürgern erzeugen. Wird ein Mitgliedstaat im Rat überstimmt, funktioniert das Konzept einer intergouvernemental über den Rat vermittelten Legitimation für die Bürger des überstimmten Mitgliedstaates schließlich überhaupt nicht mehr. Zudem ist der tatsächliche Einfluss der nationalen Parlamente auf die europäischen Entscheidungsprozesse eher gering: Im Hinblick auf europäische Entscheidungsprozesse sind sie naturgemäß mediatisiert.312 Schon von daher erscheint die demokratische Rückbindung über den Rat allein als unzureichend. Unverzichtbar ist deshalb ein zweites Element demokratischer Legitimation, so dass von einem Prinzip dualer Legitimation gesprochen werden kann.313 Dieses muss konsequenterweise dort ansetzen, wo – etwa im Fall der Überstimmung eines Mitgliedstaates im Rat – die intergouvernemental vermittelte Legitimation versagt; das heißt, erforderlich ist ein legitimatorischer Durchgriff unmittelbar auf den europäischen Bürger. Diese Aufgabe kann allein das Europäische Parlament wahrnehmen. Allerdings weist das Europäische Parlament hinsichtlich seiner unmittelbar auf den europäischen Bürger bezogenen Legitimationskraft Defizite auf.314 Diese Defizite wurzeln vorwiegend in der fehlenden eigenständigen europäischen Identität.315 Dieser Umstand erschwert es, die Staatsgewalt unmittelbar einem europäischen Volk oder wenigstens einer Gesamtheit der Unionsbürger zuzuordnen.316 Der EGV bildete dieses Defizit noch deutlich ab, indem er 311 Zum je-desto-Verhältnis zwischen der Ausprägung eigener supranationaler demokra­ tischer Identität auf europäischer Ebene und der Notwendigkeit eines „intergouvernementalen Kopplungsorgans“ wie dem Rat, s. Möllers, Gewaltengliederung, S. 247; vgl. auch Stein, ZaöRV 2004, 563 (567): „Kommunizierende Röhren“; Huber, EuR 2003, 574 (595). 312 Hofmann, Normenhierarchien, S. 48. 313 von Bogdandy, in: FS Badura, S. 1033 (1047). 314 Wie weit dieses oft beklagte Defizit reicht, ist Gegenstand zahlloser Abhandlungen und im Ergebnis streitig, s. für eine skeptische Haltung gegenüber der Legitimationslast des Europäischen Parlaments, BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 = BVerfGE 123, 267 (373 f.); zum fehlenden europaweiten Kommunikationssystem als Grundvoraussetzung für ein Forum demokratischer Willensbildung, Grimm, JZ 1995, 581 (587 ff.); sehr kritisch auch Ipsen, in: FS Lerche, S. 425 (439 ff.); offener, weil die strukturellen Eigenheiten der Union berücksichtigend Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 10 EUV Rn. 5. 315 Vgl. Lenaerts/Smijter, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 173 (178). 316 Zur Frage, ob deshalb eine Demokratisierung der Europäischen Union wegen fehlenden prä-existenten Volkes als Träger der Souveränität ausgeschlossen sei (verneinend)  Oeter, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 73 (99 ff.) m. Nachw. und Zusammenfassung zur „mythologischen“ Gegenansicht; s. auch Wahl, JZ 2005, 916 (923); Bleckmann, JZ 2001, 53 (58); zur Identität der Unionsbürger als „politische Gemeinschaft“, s. Nettesheim, in: FS Häberle, S. 193 ff.

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die Abgeordneten des Europäischen Parlaments als „Vertreter der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Mitgliedstaaten“317 bezeichnete und damit nicht auf eine mitgliedstaatliche Anknüpfung der Repräsentation verzichtete. In die gleiche Richtung weist die Bemerkung, dass nach wie vor ein „nationales Selbstverständnis“ die Arbeit des Europäischen Parlaments präge.318 Letztlich resultieren aus der unzureichend ausgeprägten europäischen Identität die einzelnen konkreten Defizite; an dieser Stelle sei beispielhaft nur die fehlende Wahlrechtsgleichheit genannt.319 Neben seiner Funktion, die Lücken einer rein intergouvernementalen Legitimation zu stopfen, zeichnet sich das Parlament noch durch weitere demokratische Vorzüge aus: Schließlich handelt es sich beim Europäischen Parlament um ein von den europäischen Bürgern direkt gewähltes Organ, das schon kraft dieser Nähe zum Wähler unmittelbar demokratische Legitimation mit auf den Weg bekommt320: Das Europäische Parlament muss sich für seine Entscheidungen gegenüber seinen Wählern verantworten. Die anderen Organe erzeugen selbst keine personelle demokratische Legitimation, sondern sind nachgeordnete Glieder der Legitimationskette. Mit jeder weiteren Stufe demokratischer Vermitteltheit wird die Rückkopplung an den „Volks­ willen“ vermindert.321 Diese Erkenntnis gilt zumal für die Kommission.322 Die Qualität ihrer demokratischen Legitimation ist angreifbar: Besteht sie doch aus Vertretern, die sich weder durch eine direkte Wahl durch die Bürger wie das Parlament, 317

s. auch die Entscheidung des EuG, Rs. T-353/00 (Le Pen), Slg. 2003, II-1729; dazu Nettesheim, BerkeleyJIL 2005, 358 (383): In diesem Urteil legte das EuG ein Verständnis zugrunde, in dem die Mitglieder des Europäischen Parlaments als Vertreter der Mitgliedstaaten und nicht als Vertreter einer europäischen Wählerschaft fungieren. Zu den Änderungen durch den Vertrag von Lissabon, der abweichend davon nun formuliert, dass die Bürgerinnen und Bürger der Union im Europäischen Parlament unmittelbar vertreten sind, s. § 2 C. III. 1. 318 Möllers, Gewaltengliederung, 266; Ipsen, in: FS Lerche, S.  425 (436); s. aber die Bemerkung des ansonsten EP-skeptischen BVerfG im Urteil zur 5 %-Hürde bei Europawahlen BVerfG, Urt. v. 9.11.2011, 2 BvC 4/10, 2 BvC 6/10, 2 BvC 8/10, Rn. 128 (juris): „Unabhängig von der Frage, ob die Wahrung nationaler Interessen im Rahmen von Europawahlen überhaupt einen legitimen Ansatz für Differenzierungen darstellen kann, liegt es auf der Hand, dass damit kein tragfähiger Grund für eine wahlrechtliche Ungleichbehandlung benannt ist.“ 319 Vgl. dazu Kirsch, Demokratie und Legitimation in der Europäischen Union, S. 50 f.; differenzierend Bieber, SZIER/RSDIE 2011, 99 (107). 320 Hilf/Classen, in: FS Selmer, S.  78: „ungleich höhere demokratische Legitimation“ als der Rat. 321 von Komorowski, Demokratieprinzip und EU, S.  413; ausführlich zur Problematik langer Legitimationsketten, Henke, EuR 2010, 118 (124); allerdings ist denkbar, dass auch Exekutivorgane wie die Kommission trotz ihrer Stellung als nachgeordnete Glieder in der Legitimationskette eigene Legitimation erzeugen; insbesondere ein transparentes Verfahren und die Möglichkeit direkter Bürgerbeteiligung könnten eine solche Eigenlegitimation generieren; bisher fehlt es aber jenseits der Minimalgarantien (z. B. Art. 255 EGV, Art. 42 GrCh; Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten) an einem allgemeinen Konzept der Eigenlegitimation: Transparenz und Partizipation werden „inkremental, aber nicht systematisch“ gewährleistet, dazu Winter, EuR 205, 255 (268 ff., 272). 322 Roller, KritV 2003, 249 (260 f.).

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noch durch ihre Eigenschaft als Vertreter der Mitgliedstaaten wie der Rat auszeichnen.323 Die Legitimation der Kommission speist sich lediglich aus der personellen Legitimation der anderen Organe.324 Die Kommission ist also nicht Bestandteil des demokratischen Legitimationskonzepts der EU.325 Ihre Rechtfertigung bezieht sie aus anderen Faktoren. Sie ist ein Gremium, das sich durch größere Sachnähe und Fachkenntnisse auszeichnet („technokratische Exekutivgewalt“).326 Zudem fungiert die Kommission als Motor der Integration. Deshalb ist sie als unabhängige, dem europäischen Gemeinwohl verpflichtete Institution ohne unmittelbare demokratische Legitimation konzipiert. Diese Konstruktion ist die con­ditio sine qua non für ihre Fähigkeit, die Politik der Gemeinschaft zu versachlichen und zu verstetigen und so die Integration zu fördern.327 Die Kommission bezieht ihre Rechtfertigung weniger aus ihren besonderen demokratischen, als vielmehr aus funktionell-institutionellen Qualitäten;328 manche sprechen von einer „expertokratischen Rechtfertigung“ der Kommission.329 Dementsprechend zeichnet sich Rechtsetzung durch die Kommission durch Zweckrationalität, und nicht primär durch demokratische Vorzüge aus.330 Je nachdem, wie erheblich man die Defizite des europäischen Parlaments einschätzt, desto mehr wird man den Schwerpunkt demokratischer Legitimation beim Rat verorten.331 Umgekehrt gilt: Je größer man das eigenständige Legitimations­ bedürfnis der Union einschätzt, desto geringer wird man auf die Legitimations 323

Kirsch, Demokratie und Legitimation in der EU, S. 162. Möllers, Gewaltengliederung, S. 272; vgl. auch Kirsch, Demokratie und Legitimation in der EU, S. 164. 325 Zur Möglichkeit einer „Eigenlegitimation der Verwaltung“, nämlich durch transparente und Partizipation gewährleistende Verwaltungsverfahren, s. Winter, EuR 2005, 255 (268 ff.). 326 Oeter, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 73 (112); vgl. Hofmann, A critical analysis of Acts in the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, EIoP Vol. 7 (2003), No. 9, S. 4. 327 Oeter, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 73 (111 f.). 328 Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, S. 171. 329 Möllers, Gewaltengliederung, S. 256 m. w. N. 330 Vgl. von Komorowski, Demokratieprinzip und EU, S. 174; vgl. auch Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 10; auch die Einbindung der Ausschüsse im Rahmen der Komitologie vermag nur sehr bedingt Legitimation zu vermitteln, s. dazu ­Roller, KritV 2003, 249 (261 f.): Die Ausschussmitglieder haben nur eine schwache Rückbindung an die nationale Exekutive. Zudem würden etwaige Legitimationsgewinne durch die Komitees durch ihre Intransparenz „überkompensiert“. 331 Sehr wenig Zutrauen zum Europäischen Parlament und seinem Legitimationspotential hat das BVerfG, BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 = BVerfGE 123, 267 (373 f.); von Bogdandy, in: FS Badura, S. 1033 (1046): „deutliches Übergewicht beim Rat“; s. allgemein zur herausgehobenen Bedeutung sog. intergouvernementaler Kopplungsorgane für die demokratische Legitimation in Mehrebenen-Rechtsordnungen Möllers, Gewaltengliederung, S. 234 sowie zu dem grundsätzlich defizitären demokratisch-legitimatorischen Leistungsprofil der intergouverne­mentalen Kopplungsorgane, S. 236 ff. 324

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kraft des Rates hoffen, zumal dessen Entscheidungsstrukturen den Idealen demokratischer Öffentlichkeit nicht unbedingt entsprechen und das Parlament insoweit vorzugswürdig ist.332 Nach gegenwärtigem Entwicklungsstand sind aber weder Rat noch Parlament allein in der Lage, die Legitimationslast zu stemmen. Das europäische Modell demokratischer Legitimation beruht daher auf zwei Strängen, auf Rat und Parlament. Während von diesen beiden Strängen der Rat als das intergouvernementale Element der Legitimation von Anfang an vorhanden und anerkannt war, musste der parlamentarische Legitimationsstrang erst noch entwickelt werden. Deshalb brach sich das Bedürfnis nach Beseitigung der wahrgenommenen Legitimationslücke vornehmlich in Forderungen nach einem Ausbau der parlamentarischen Beteiligungsrechte Bahn. Das bedeutet aber nicht, dass das europäische Modell demokratischer Modell ausschließlich durch das Parlament zu verwirklichen sei.333 Vielmehr ist auch das durch den Rat verkörperte Element intergouvernementaler Legitimation unerlässlich. 2. Die Erfüllung demokratischer Bedürfnisse in der Rechtsakttypologie des EGV a) Ausprägungen des Legitimationskonzepts in den Verträgen Das zunehmende Bedürfnis nach eigener demokratischer Legitimation der Union wurde von den Verträgen durchaus aufgefangen. Es äußerte sich angesichts des ursprünglich bestehenden starken Übergewichts intergouvernementaler Legitimation primär in einer stetigen Aufwertung des Europäischen Parlaments. Eine Zäsur war die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens im Vertrag von Maastricht, bei dem das Parlament neben dem Rat als gleichberechtigter Gesetzgeber tätig wird und das damit das duale Legitimationsmodell konsequent abbildet. Mit dem Ausbau der parlamentarischen Mitspracherechte beruhten mehr und mehr Entscheidungen der Union auf dem Konzept dualer Legitimation. Insoweit kann man von einer Wechselwirkung sprechen: Der allen Vertragsänderungen gemeine Ausbau der parlamentarischen Mitentscheidungsrechte ist Ausdruck der Wandlung der Union zu einem eigenständigen politischen Akteur; zugleich diente diese Stärkung des Europäischen Parlaments dazu, das durch eben diesen Wandel gewachsene Demokratiebedürfnis zu stillen (wobei Uneinigkeit bestand wie weit das Parlament angesichts seiner „Defizite“ hierzu in der Lage war). Wichtig ist es in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass auch der Charakter der Unionsunmittelbarkeit des Parlaments zumindest ansatzweise untermauert wurde.334 So 332 So tagte der Rat (bisher) noch nicht einmal öffentlich. Art. 5 Abs. 1 GO Rat; Wichard, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 205 EGV Rn. 10. Zu den Änderungen durch den Lissabon-Vertrag, s. unten § 2 C. III. 2. b) aa). 333 Möllers/Achenbach, EuR 2011, 37 (51 Fn. 60). 334 Vgl. zum zunehmenden „personalen Aspekt“ der Integration von Bogdandy, in: FS ­Badura, S. 1033 (1037 f.).

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wurde im Jahr 1976 die Direktwahl zum Europäischen Parlament eingeführt.335 Seit dem Vertrag von Maastricht gibt es die Unionsbürgerschaft336. Wichtig sind diese Schritte deshalb, weil die legitimatorische Funktion des Parlaments schließlich – unter anderem337 – darin besteht, den rein intergouvernementalen und daher im Laufe der Entwicklung unzureichenden Charakter der Legitimation durch den Rat zu kompensieren, und es diese Funktion nur dann erfüllen kann, wenn es sich tatsächlich „auf die Bürger“ und nicht primär auf die Mitgliedstaaten bezieht.338 b) Fehlende Ausprägung des dualen Legitimationskonzepts in der Typologie der Rechtsakte Die Verträge hatten also durchaus an vielen Stellen dem gewandelten Charakter der Union Rechnung getragen; bei der Verteilung der Entscheidungsbefugnisse orientierten sie sich vielfach an einem Modell dualer Legitimation. Indes fehlte es bisher an einer Übersetzung dieser Erkenntnisse in die Typologie der Rechtsakte. Das Konzept eines formellen Gesetzes ebenso wie das eines Gesetzgebers war den Verträgen unbekannt. Nur an einer Stelle fiel der Begriff des Gesetzgebers und bezog sich dabei auf Rechtsetzung durch den Rat. Art. 207 Abs. 3 UAbs. 2 EGV, eingeführt durch den Vertrag von Amsterdam339, erhöhte die Anforderungen an die Transparenz der Beschlussfassung im Rat in den Fällen, in denen davon auszugehen war, „dass er [der Rat] als Gesetzgeber tätig wird“. Dabei fehlte es allerdings an einer genaueren Präzisierung, was denn unter einem Tätigwerden als Gesetzgeber zu verstehen sei.340 Immerhin anerkannte der EGV damit zum ersten Mal explizit die Funktion der Gesetzgebung. Zugleich verknüpfte er mit dieser Funktion den wichtigen Legitimationsfaktor der Transparenz und brachte damit zumindest ansatzweise zum Ausdruck, dass sich Gesetzgebung vor anderen

335 ABl. EG L 278, S. 5, letzte Änderung Abl 283/2003, S. 1; Lenaerts/Smijter, in: Winter/ Curtin/Kellerman/de Witte, S. 173 (177 f.): „significant step towards democratic legitimacy of the exercise of public authority by the European Union.“ 336 Hilf, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. EL 2009, Art. 17 EGV Rn. 2. 337 Daneben zeichnet sich das Parlament natürlich auch durch seine Eigenschaft als Parlament durch besondere Offenheit aus und ist schon deshalb demokratisch wertvoll. 338 Dass hierbei nach wie vor noch Defizite bestehen, wurde bereits angesprochen. 339 McDonnell, in: FS Bieber, S. 373 (378). 340 Der Rat fasste die Fälle, in denen er als Gesetzgeber tätig wurde, recht weit: Erfasst sein sollten alle Fälle, in denen „er auf der Grundlage der einschlägigen Bestimmungen der Verträge im Wege von Verordnungen, Richtlinien, Rahmenbeschlüssen oder Entscheidungen und Beschlüssen Vorschriften erlässt, die in den Mitgliedstaaten oder für die Mitgliedstaaten rechtlich bindend sind“. s. Art. 7 der Verfahrensordnung des Rates, Beschluss des Rates 2002/682/ EG. Diese Definition war nicht sonderlich weiterführend, s. McDonnell, in: FS Bieber, S. 373 (378).

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Staatsfunktionen durch gewisse demokratische Qualitäten auszeichnen sollte.341 Im Übrigen orientierten sich aber weder die verschiedenen Handlungsformen noch die sog. Basisrechtsakte am oben beschriebenen dualen Legitimationsmodell. Das Maß an „gewachsener Unordnung“ verhinderte dabei sogar, dass wenigstens implizit einer Kategorie von Rechtsakten die Aufgabe eines formellen Gesetzes und damit die Vermittlung sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation zugeordnet werden konnte. Der tatsächliche demokratische Mehrwert bestimmter Rechtsakte konnte damit nicht systematisch fruchtbar gemacht werden. Dies zeigte sich nicht zuletzt in der Rechtsprechung des EuGH zur Übertragung von Durchführungsbefugnissen. aa) Keine Verknüpfung des Legitimationskonzepts mit Handlungsformen Der EGV kannte verschiedene Handlungsformen.342 Die (nicht abschließende) Aufzählung in Art.  249 EGV unterschied zwischen Verordnung, Richtlinie und Entscheidung als Formen materieller Rechtserzeugung mit Außenwirkung.343 Die verschiedenen Handlungsformen boten (und bieten) jedoch keine Kategorie auf, welche die Funktionen eines formellen Gesetzes ausfüllen könnte. Die verschiedenen Handlungsformen spiegelten keine unterschiedlichen Legitimationsniveaus wider. Die Unterscheidung zwischen den Handlungsformen verlief völlig unabhängig von ihrem jeweiligen demokratischen Leistungsprofil: Allen Organen stand das gleiche Tableau an Handlungsformen zur Verfügung.344 Eine Verordnung hieß Verordnung und hatte deren Wirkung, unabhängig davon, ob der Rat allein, der Rat gemeinsam mit dem Parlament oder gar die Kommission die Regelung erlassen hatte.345 Der EuGH hatte sich überdies ausdrücklich dagegen gewandt, Verordnungen der Kommission eine andere Wirkung beizulegen als Verordnungen des Rates oder des Parlaments.346 Ebenso wenig gab es Vorschriften, 341

Krit. Möllers, Gewaltengliederung, S. 267: Die nur schrittweise wachsende Transparenz erinnert immer noch eher an exekutives Handeln als an die Erzeugung einer legislativen Öffentlichkeit. 342 Dazu umfassend Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 62 (2002), 77 ff. 343 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 70 ff. 344 Bast, Grundbegriffe der Handlungsformen der EU, S. 13; Schönberger, EuR 2003, 600 (625). 345 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S.  530; Klamert, ELRev. 2010, 497: „menage à trois“ von Kommission, Rat und Parlament in Bezug auf ihre legislativen Kompetenzen; Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 8; Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (654). 346 EuGH, Rs. 188 bis 190/80 (Frankreich, Italien und Vereinigtes Königreich/Kommission), Slg. 1982, 2545 Rn. 6 ff.; EuGH, Rs. C-202/88 (Frankreich/Kommission), Slg. 1991, I-1223 Rn. 14, 23 ff.; EuGH, Rs. 226/87 (Kommission/Griechenland) Slg. 1988, 3611 Rn. 11; EuGH, Rs. C-271/90, C-281/90 und C-289/90 (Spanien, Belgien und Italien/Kommission), Slg. 1992,

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die exklusiv das Verfahren für den Erlass einer Handlungsform regelten. Es fehlte damit jede Parallelität von Erzeugungsorgan bzw. Verfahren  – als den wesentlichen demokratischen Legitimationsfaktoren  – und den Handlungsformen. Die Zuständigkeit für den Erlass der verschiedenen Handlungsformen ordnete schlicht das Primärrecht an, ohne sich dabei erkennbar an übergeordneten Erwägungen, wie etwa dem Demokratieprinzip, zu orientieren. Dies verhinderte es, einer bestimmten Handlungsform eine besondere demokratische und rechtsstaatliche Dignität zuzuschreiben und machte eine Unterscheidung von gesetzlichem und untergesetzlichem Recht im Regime der Handlungsformen obsolet.347 bb) Verknüpfung erhöhter Legitimationsleistung mit Basisrechtsakt? Auf Grundlage der alten Verträge ließen sich die Rechtsakte konstruktiv außer nach den unterschiedlichen Handlungsformen noch nach einem anderen Gesichtspunkt kategorisieren: Nach ihrer Rechtsgrundlage.348 Unterscheiden konnte man Rechtsakte, die ihre Rechtsgrundlage im Primärrecht fanden – sie bildeten das Sekundärrecht – und solche, die auf einer Ermächtigung im Sekundärrecht basierten und von der Kommission als Durchführungsakte gemäß Art.  202 EGV erlassen wurden. Bei letzteren Rechtsakten war der Begriff des Tertiärrechts, des Durchführungsrechts oder des abgeleiteten Rechts gebräuchlich. Rein tatsächlich unterschieden sich Basisrechtsakt und abgeleiteter Durchführungsakt regelmäßig in ihrer Legitimationsleistung. Dies galt für beide Legitimationsfaktoren: Zum einen konnte Durchführungsrecht in einem vereinfachten Verfahren ergehen. Der Erlass von Durchführungsakten war nicht mehr an die Beschränkungen des Primärrechts gebunden und bedurfte insbesondere keiner Beteiligung des Parlaments. Zum anderen zeichneten sich die Organe, die für den Erlass des Basisrechtsakts zuständig waren, regelmäßig durch ein höheres Maß an demokratischer Legitimation aus: Basisrechtsakte wurden häufig vom Rat und vom Parlament, also den beiden Strängen des Legitimationsmodells, erlassen. Damit war es gewissermaßen „wahrscheinlicher“, dass ein Basisrechtsakt mit Beteiligung des Parlaments und damit in Umsetzung des europäischen Demokratiemodells erging, als dies für den Erlass eines Durchführungsaktes der Fall war. Diese „höhere Wahrscheinlichkeit“ parlamentarischer Beteiligung und damit größerer demokratischer Dignität nahm überdies im Laufe der Zeit mit der wachsenden primärrechtlichen Anordnung des Mitentscheidungsverfahrens zu; mehr und mehr Basisrechtsakte ergingen in konsequenter Umsetzung des dualen Legitimations­ 5833 Rn. 12; dazu Wölker, EuR 2007, 32 (34); Lenaerts/van Nuffel, Constitutional Law of the EU, S. 261 f. 347 Bieber/Salomé, CMLRev. 33 (1996), 907 (919); Nettesheim, EuR 2006, 737 (760, 762 ff.). 348 s. schon EuGH, Rs. 25/79 (Köster), Slg. 1970, 1161 Rn. 6; s. auch Craig, in: Tridimas/ Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 75 (93).

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modells. Während also ein Basisrechtsakt – zumindest manchmal und im Laufe der Vertragsentwicklung in zunehmendem Maße – nur mit einer gewissen parlamentarischen Beteiligung erging, konnte das Parlament auf den Erlass der Durchführungsakte regelmäßig praktisch gar keinen Einfluss nehmen349; allenfalls der neue Komitologiebeschluss verbesserte die Situation zugunsten des Parlaments ein wenig, indem es das Parlament mit einem Vetorecht ausstattete (s. o. insbesondere Art. 5a 1999/468/EG – Regelungsverfahren mit Kontrolle). Aus dieser Erkenntnis lässt sich aber allenfalls herleiten, dass jedenfalls die Durchführungsakte nicht die Funktion herausgehobener demokratischer Legitimationsvermittlung erfüllen konnten. Diese Erkenntnis ist aber nicht geeignet, zugleich eine herausgehobene demokratische Dignität des Basisrechtsaktes zu begründen. Gegen einen solchen Schluss von der „Geringwertigkeit“ des Durchführungsaktes auf die generelle Höherwertigkeit des Basisrechtsaktes spricht die Vielgestaltigkeit der Basisrechtsakte. Ebenso wie das Primärrecht die Handlungsformen des Art.  249 EGV nicht klar den einzelnen Organen und Verfahren zuordnete, fehlte auch im Hinblick auf Basisrechtsakt und abgeleitetem Akt die Parallelität zwischen Handlungsform (Basis- oder Durchführungsrechtsakt) und Ursprungsorgan bzw. Verfahren: Das Primärrecht sah kein einheitliches Verfahren für den Erlass von Basisrechtsakten vor. Und es gab keinen „Gesetzgeber“, der wenigstens grundsätzlich für den Erlass von Basisrechtsakten verantwortlich gewesen wäre.350 Rat und Europäisches Parlament waren gerade nicht stets für den Erlass von Basisrechtsakten zuständig. Vielmehr konnten Basisrechtsakte vom Rat allein oder vom Rat und vom Parlament gemeinsam und das auch noch mit jeweils unterschiedlichem Grad parlamentarischer Mitwirkung erlassen werden. Zudem konnte die Kommission „Basisrechtsakte“, also Rechtsakte mit primärrechtlicher Grundlage, erlassen. Die demokratische Legitimationsleistung der verschiedenen Basisrechtsakte variierte damit erheblich. Die Verträge wiesen „den Basisrechtsakten“ keinen gleichmäßigen Grad bzw. wenigstens ein Mindestmaß an demokratischer Würde zu. Dies machte es schwierig, dem Basisrechtsakt die Aufgabe der Legitimationsvermittlung, also die Funktion eines formellen Gesetzes, zuzuschreiben und in der Übertragung von Durchführungsbefugnissen dementsprechend einen Legitimationsverzicht zu erkennen.351 Hinzukommt, dass der EGV darauf verzichtete, die tatsächlich zumindest regelmäßig höhere Legitimationsleistung irgendwie rechtlich in der Vertragssystematik zu verankern. Er bedachte schon die Rechtsform der Basisrechtsakte nicht mit einem eigenen „Label“.352 Die höhere Legitimationsleistung war lediglich Reflex des primärrechtlich „zufällig“ angeordneten Erlassverfahrens, ohne dass die Ver 349

Rieckhoff, Der Gesetzesvorbehalt im Europarecht, S. 83. Vgl. B. Becker, JÖR 39 (1990), 67 (90). 351 Vgl. auch Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 8. 352 Craig, in: Tridimas/Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 75 (93). 350

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träge die primärrechtliche Anordnung des jeweiligen Erlassverfahrens in eine Beziehung zum Demokratieprinzip stellten: Das Mitentscheidungsverfahren für den Erlass eines bestimmten Basisrechtsakt galt schlicht, weil es die jeweilige Ermächtigung so vorsah, nicht hingegen weil diese Regelung das duale Legitimationskonzept umsetzen sollte.353 Die regelmäßig höhere demokratische Legitimation des Basisrechtsakts stellte sich vertragssystematisch als reiner „Zufall“ dar. Dabei gelang es gleichfalls nicht, Basisrechtsakte, die im Mitentscheidungs­ verfahren erlassen wurden, aus der Vielgestaltigkeit der übrigen Basisrechtsakte herauszugreifen und ihnen die Aufgabe des formellen Gesetzes zuzuschreiben. Zwar wiesen diese Rechtsakte einen einheitlich hohen Grad an demokratischer Legitimation auf, weil sie sich auf die beiden Pfeiler der europäischen Demokratie, nämlich Rat und Parlament, stützten. Der Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens wurde zudem für den Erlass von Basisrechtsakten zunehmend ausgebaut. Damit wurde es immer wahrscheinlicher, dass sich rein tatsächlich der Basisrechtsakt gegenüber Durchführungsrechtsakten durch ein legitimatorisches Plus auszeichnete. Der Vertrag (und auch der EuGH, dazu sogleich) nahm diese Veränderung aber nicht zum Anlass, die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Rechtsakte als Teilbereich der Basisrechtsakte auch rechtlich aus dem Pool der übrigen Rechtsakte auszusondern und in eine besondere Position zu heben, die ihrer tatsächlichen demokratischen Bedeutung entsprochen hätte354: Es fehlte schon an einer entsprechenden Kategorisierung; der Vertrag sah keine „Schublade“ vor, in die im Mitentscheidungsverfahren erlassene Basisrechtsakte in Abgrenzung zu anderen Basisrechtsakten einzuordnen gewesen wären. Die im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Rechtsakte fügten sich vielmehr ohne weiteres in die Pluralität der anderen Basisrechtsakte ein. Der einzige Punkt, in dem sich diese Art von Rechtsakten von anderen unterschied, war die Bezeichnung des anwendbaren Verfahrens selbst. Es fällt aber schwer, diese Unterscheidbarkeit zur Grundlage einer Unterscheidung zwischen legitimatorisch höherwertigem formellen und nur materiellem Gesetz zu machen. Diese Kategorisierung ginge dann nicht über die durch die Anordnung des Mitentscheidungsverfahrens selbst geschaffene Differenzierung hinaus. Nur weil es verschiedene Verfahren gab, die in ihrem demokratischen Wert rein tatsächlich differierten, bedeutete das nicht, dass der EGV an die Rechtsakte, die aus den verschiedenen Verfahren hervorgingen, unterschiedliche Rechtsfolgen knüpfen wollte.355 Vielmehr beweist der Vertrag, indem er darauf verzichtete, die verschiedenen Verfahren in verschiedene Kategorien von Rechtsakten zu 353 Dies hat sich durch den Vertrag von Lissabon geändert. Er verankert nicht nur ausdrücklich das duale Legitimationsmodell, sondern sieht auch das Mitentscheidungsverfahren, das das duale Legitimationsmodell umsetzt, als Allgemeines Gesetzgebungsverfahren vor. 354 Vgl. Schönberger, EuR 2003, 600 (625 f.): Alle Normen sind den gleichen Kontrollstandards unterworfen. Dies ist ein Grund für die insgesamt schwach ausgeprägte Kontrolle des gesamten Sekundärrechts am Maßstab des Primärrechts: Das Kontrollregime richtet sich in einer heterogenen Gemeinschaft wie der EU am wenigsten intensiven Maßstab aus. 355 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 532, 512.

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übersetzen, seine Indifferenz gegenüber im Mitentscheidungsverfahren erlassenen Rechtsakten und ihrer größeren demokratischen Dignität. Vereinzelt schien zumindest der EuGH an die Tatsache, dass ein Rechtsakt mit parlamentarischer Beteiligung zu ergehen hatte, gewisse Rechtsfolgen knüpfen zu wollen. So scheint sich der Rechtsprechung des EuGH356 seit der Entscheidung Titan­dioxid, entnehmen zu lassen, dass bei der Wahl zwischen zwei mög­ licherweise einschlägigen Kompetenzgrundlagen, die in derselben Weise dasselbe Ziel verfolgen, diejenige Bestimmung vorzuziehen ist, die eine stärkere Beteiligung des Parlaments vorsieht.357 Ein solches Vorgehen ginge in der Tat in die Richtung, eine gewisse prozedurale und damit demokratisch begründete Hierarchie zu etablieren358: Der EuGH hätte so zumindest eine Rechtsfolge an die Tatsache geknüpft, dass sich parlamentarisch mit verantwortete Rechtsakte durch eine höhere demokratische Dignität auszeichnen. Abgesehen davon, dass viele diese Interpretation der Rechtsprechung nicht teilen359 und die Rechtsprechung in Titandioxid überdies für „logisch defizitär“360 halten361, wäre diese Rechtsfolge wohl nicht geeignet, um eine Aufwertung des in Umsetzung des dualen Legitimationskonzepts ergangenen Rechtsaktes hin zu einem formellen Gesetz zu begründen. Die parlamentarische Beteiligung diente ja allenfalls als Kriterium dafür, welche Rechtsgrundlage im konkreten Fall einschlägig war. Sie würde also nur im Vorfeld des Erlasses eines Rechtsaktes relevant. Ist aber der unter parlamentarischer Beteiligung ergangene Rechtsakt einmal in der Welt, ist damit immer noch nichts über sein Verhältnis zu „parlamentsfreien“ Rechtsakten gesagt. Der Rechtsprechung des EuGH ließ sich damit ebenso wenig wie den Verträgen eine besondere Wertschätzung der von Parlament und Rat mitverantworteten Rechtsakte entnehmen: Die Rechtsakte der verschiedenen Organe konnten schlicht nicht nach prozeduralen oder institutionellen Gesichtspunkten kategorisiert werden. Sie waren vertragssystematisch nicht mit einer unterschiedlichen Wertigkeit verknüpft.362 Vielmehr war die Legitimationsvermittlung durch Basisrechtsakte stets nur eine Frage des „zufällig“ in der Kompetenzgrundlage angeordneten Verfahrens.

356 EuGH, Rs. C-300/89 (Titandioxid), Slg. 1991, I-2867 Rn.  20, 21; ähnlich wohl EuGH C-155/07 (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-8103 Rn. 77 bis 83. 357 So interpretiert etwa GA Maduro die Rechtsprechung des EuGH, GA Maduro, Rs. C-411/ 06, Slg. 2009, I-7588 Rn. 6; ebenso verstehen den EuGH in diese Richtung Bieber/Salomé, CMLRev. 1996, 907 (919) Bleckmann, JZ 2001, 53 (55); anders interpretiert die Rechtsprechung Klamert, ELRev. 2010, 497 (499, 507). 358 Bieber/Salomé, CMLRev. 1996, 907 (919); a. A. Klamert, ELRev. 2010, 497 (507). 359 Klamert ELRev. 2010, 497 (499, 507); von Bogdandy, in: FS Badura, S. 1033 (1047). 360 Nettesheim, EuR 1993, 243 (249). 361 Krit. auch GA Maduro, Rs. C-411/06, Slg. 2009, I-7588, Fn. 5: Diese Haltung der Rechtsprechung findet im Vertrag keine Grundlage. 362 Nettesheim, EuR 2006, 737 (763 f.).

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c) Insbesondere: Die Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf muss die sog. Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH mit Vorsicht beurteilt werden. Vorschnelle Parallelen zum deutschen Wesentlichkeitskriterium im Zusammenhang mit Art. 80 GG sind zu vermeiden. Die bisherige Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH dürfte kaum mehr gewesen sein als ein Namensvetter der aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten Wesentlichkeitsrechtsprechung.363 Während bei Art. 80 GG das Anlegen des Wesentlichkeitsmaßstab verhindern soll, dass das erforderliche Legitimationsniveau, das auf dem formellen Parlamentsgesetz gründet, unterlaufen wird, diese Judikatur damit ganz wesentlich auf dem Demokratie- und Rechtstaatsprinzip fußt364, stand hinter dem europäischen Wesentlichkeitskriterium ein bescheidenerer Ansatz: Lediglich die primärrechtlich vorgesehene Zuständigkeitsverteilung sollte nicht durch zu weitgehende Übertragungen ausgehöhlt werden.365 Auf den ersten Blick zwar ähnlich wie bei Art. 80 GG, zog der EuGH das Kriterium der Wesentlichkeit heran, um den minimalen Regelungsgehalt eines Rechtsakts (des Basisrechtsakts) und die zulässigerweise übertragbaren Regelungsbestandteile zu bestimmen. Hierzu unterschied der EuGH zwischen Vorschriften, die für die zu regelnde Materie wesentlich waren und daher dem Basisrechtsakt vorbehalten sein müssten und Vorschriften, die nur der Durchführung dienten und deren Erlass daher der Kommission überlassen werden durfte.366 Die Funktion dieser Wesentlichkeitsrechtsprechung war damit in der Tat, einen Bereich zu definieren, der dem Basisrechtsakt „vorbehalten“ sein sollte. Die Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH bewirkte unter diesem Blickwinkel also durchaus ein Delegations­verbot. Darin einen Vorbehalt des formellen Gesetzes, also des Basisrechtsakts zu erkennen, wäre aber nur möglich, wenn der EuGH die Abgrenzung zwischen Basisrechtsakt und Durchführungsakt unter Berücksichtigung einer etwaigen höheren Legitimationsleistung des (eventuell unter parlamentarischer Beteiligung ergangenen) Basisrechtsakts, also aus demokratischen Gründen, vorgenommen hätte. Dies war aber (ganz überwiegend) nicht der Fall. Ausgangspunkt der Erwägungen war die primärrechtliche Zuständigkeitsordnung, hingegen kein gleichsam übergeordnetes Demokratieprinzip. Entsprechend dieser begrenzten, nur relativen, an der konkreten Vertragsgestaltung orientierten 363

Möllers, EuR 2002, 483 (489). Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 177 f. 365 Schon EuGH, Rs. 25/79 (Köster), Slg. 1970, 1161 Rn. 5 prüfte die Übertragung von Zuständigkeiten auf die Kommission unter dem Aspekt, ob die primärrechtlich angeordnete Zuständigkeitsverteilung verletzt wurde: „Zunächst wird geltend gemacht, die Zuständigkeit zum Erlass der umstrittenen Regelung habe beim Rat gelegen, der nach Artikel 43 Absatz 2 Unterabsatz 3 auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung der Versammlung hätte entscheiden müssen, das eingeschlagene Verfahren sei also von den Verfahrens- und Zuständigkeitsvorschriften dieser Vertragsbestimmung abgewichen.“ 366 Dazu s. schon oben § 1 C. I. 364

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Zielsetzung begrenzte der EuGH fast immer367 die „wesentlichen Bestandteile“ auf diejenigen Regelungsmaterien, durch die die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitik umgesetzt werden sollten.368 Entsprechend weit legte er den Begriff der übertragbaren Durchführungsbefugnisse aus.369 Eine Verbindung zwischen „Wesentlichkeit“ und Demokratieprinzip unterblieb; sogar ausdrücklich wandte sich der EuGH gegen einen Brückenschlag zwischen „Wesentlichkeit“ und Grundrechtsrelevanz.370 Im Vordergrund der Abgrenzung zwischen Basisrechtsakt und Durchführungsbestimmung stand zumeist der Wunsch nach funktionsgerechter Zuweisung der Entscheidungsgewalt sowie nach effektiver Umsetzung des Gemeinschaftsrechts.371 Ein wiederkehrender Topos war die allein der Kommission zugeschriebene Fähigkeit, die jeweiligen Sachgebiete, insbesondere die Agrarmärkte, zu beobachten und auf Änderungen flexibel zu reagieren.372 Diese demokratische Erwägungen vermeidende Sichtweise des EuGH war Folge des vertraglichen Unterlassens, das zunehmende Bedürfnis nach demokratischer Legitimation auf europäischer Ebene getroffener Entscheidungen aufzugreifen und in das System der Rechtsakte zu übersetzen. Die Systematik des EGV brachte die Kategorie des Basisrechtsakts, der unter Beteiligung beider Legitimationsstränge ergangen war, in keine Beziehung zum Demokratieprinzip. Strengere, an Demokratie und Rechtsstaatsprinzip orientierte Delegationsgrenzen waren in der Systematik des Vertrages schlicht nicht angelegt: Die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission war nicht als Legitimationsverzicht konzipiert. Deshalb konnte die Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH nicht die Funktion erfüllen, die sie im deutschen Verfassungsrecht innehat, nämlich bestimmte wichtige Regelungsmaterien durch ein demokratisch fundiertes Delegationsverbot einer verfassungsrechtlich wertvollen Regelungsform, im deutschen Recht dem Parlamentsgesetz, zuzuordnen.373 Mit einer abgrenzbaren, demokratisch und rechtsstaatlich vorzugswürdigen Handlungsform fehlte in den europäischen Verträgen das Objekt, das diese Funktion hätte erfüllen können. Deshalb stand die sach- und funktionsgerechte Verteilung von Kompetenzen und nicht das Demokratieprinzip im Vordergrund. 367 Zu anderen Ansätzen in der neueren Rechtsprechung, s. EuGH, Rs. C-66/04 (Rauch­ aromen), Slg. 2005, I-10553. Dazu sogleich. 368 EuGH, Rs. C-356/97 (Molkereigenossenschaft Wiedergeltingen), Slg. 2000, I-5461 Rn. 21; EuGH, Rs. C-240/90 (Deutschland/Kommission), Slg. 1992, I-5383 Rn. 36 f. 369 EuGH, Rs. C-159/96 (Portugal/Kommission), Slg. 1998, I-7379 Rn. 40; Rs. 23/75 (Rey Soda), Slg. 1975, 1279 Rn. 10. 370 Gärditz, DÖV 2010, 453 (455); Roller, KritV 2003, 249 (250 f.). Zum Zusammenhang zwischen demokratisch hochwertiger Regelung und Grundrechtsrelevanz, s. noch unten unter § 2 C. D. I. 1.  371 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Gemeinschaft, S. 178; der „effet utile“ stand im Vordergrund, s. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, S. 215. 372 EuGH, verb. Rs. C-9/95 und C-156/95 (Belgien und Deutschland/Kommission), Slg. 1997, I-645 Rn. 36; EuGH, Rs. C-159/96 (Portugal/Kommission), Slg. 1998, I-7379 Rn. 40 f.; Rs. 23/75 (Rey Soda), Slg. 1975, 1279 Rn. 10, 14; s. auch Bradley, CMLRev. 1992, 693 (701). 373 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 55.

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Angesichts dessen verwundert es nicht, dass der EuGH bis dato noch keine Ermächtigung für zu weit gefasst hielt. Hob er bisweilen einen Durchführungsakt der Kommission auf, beruhte dies nicht auf einer zu weit gefassten Ermächtigungsgrundlage, sondern auf einer den Rahmen der Befugnisse sprengenden Befugnisausübung durch die Kommission.374 Forderungen, der EuGH solle strengere Delegationsgrenzen formulieren und angesichts der (häufigen) faktischen demokratischen Bedeutung des Basisrechtsakts insbesondere das Kriterium der Grundrechtsrelevanz bei der Abgrenzung der übertragbaren Befugnisse berücksichtigen375, gab der EuGH zumindest nicht explizit nach. Allerdings formulierte er in einer neueren Entscheidung deutlich strengere Delegationsgrenzen als in früheren Urteilen.376 Großbritannien und Irland wandten sich im der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt gegen eine Verordnung, die Rat und Parlament auf Grundlage von Art. 95 EGV erlassen hatten. Die Verordnung ermächtigte die Kommission, die materiellen Kriterien für die Einordnung von Raucharomen zu regeln. Die Kläger sahen mit dieser Ermächtigung die Grenzen einer zulässigen Delegation nach Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV überschritten. Der EuGH knüpft in seinem Urteil an seine „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ an; er führt aus, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber verpflichtet sei, die wesentlichen Elemente der betreffenden Maßnahme im Basisrechtsakt festzulegen. Anders als in früheren Urteilen fügt der EuGH hinzu, dass die Befugnisse, die der Kommission „als der Instanz zustehen, die die endgültige Entscheidung zu treffen hat, genau bestimmt und eingegrenzt“ sein müssten. Er bezeichnet Rat und Parlament ausdrücklich als Gesetzgeber und scheidet davon die Zuständigkeit der Kommission, die diese Vorgaben vollzieht. Der EuGH zeichnet damit eine wesentlich deutlichere Grenze zwischen legislativen und exekutiven Zuständigkeiten und ordnet diese Staatsfunktionen bestimmten Organen klarer zu als in früheren Entscheidungen. Dort hatte der EuGH es etwa für unbedenklich gehalten hatte, der Kommission die Zuständigkeit zum Erlass „aller zur Durchführung erforderlichen Maßnahmen“ zu übertragen. Allerdings unterließ der EuGH in Raucharomen den ausdrück­ lichen Brückenschlag zum Demokratieprinzip.377 Diesen Schritt wagte allerdings die Generalanwältin Kokott in ihren Schlussanträgen zu Raucharomen:378 Sie betont die herausgehobene demokratische Legitimität des im Mitentscheidungsverfahren ergangenen Basisrechtsaktes und nimmt diese Erkenntnis zum Ausgangspunkt und Kriterium der Auslegung desjenigen Bereiches, der als „wesentlich“ dem Basisrechtsakt vorbehalten sein solle. Wie erwähnt, wird ein solches demo 374

Dazu Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 9. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 195; Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte, S. 154 ff.; Möllers, Gewaltengliederung, S. 283. 376 s. Ludwigs, DVBl 2011, 61 (66 f.), der dabei sogar davon ausgeht, dass der EuGH damit nicht nur dem institutionellen Gleichgewicht, sondern auch dem Demokratieprinzip verstärkt Rechnung getragen habe. 377 Gärditz, DÖV 2010, 453 (454). 378 GA Kokott, Schlussanträge zu Rs. C-66/04 (Raucharomen), Slg. 2005, I-10553, Rn. 56. 375

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kratisch motiviertes Vorgehen umso erforderlicher, als sich die europäische Rechtsetzung nicht mehr nur als „zweckrationaler Nachvollzug“ der primärrechtlich niedergelegten Gemeinschaftsaufgaben und -zwecke darstellt, sich also nicht mehr nur auf das Abspulen eines intergouvernemental-politisch vorgegebenen Integra­ tionsprogramms beschränkt, sondern es bei der Rechtsetzung selbst um Antworten auf kontroverse politische Fragen geht.379 Dies war in Raucharomen beispielhaft der Fall: Wie die Generalanwältin ausführte, stand im Vordergrund eine Abwägung zwischen der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit von Unternehmern und dem Schutz von Gesundheit und Verbrauchern im Binnenmarkt. Diese Abwägung verlangte nicht Flexibilität und Schnelligkeit, sondern eine sorgfältige Bewertung aller Informationen. Die Generalanwältin nahm damit die beiden Gesichtspunkte, die bei der Abgrenzung des legislativen Vorbehaltsbereichs die entscheidende Rolle spielen müssen, vorweg: Auf der einen Seite das demokratische Leistungsprofil eines unter parlamentarischer Beteiligung ergangenen Rechtsaktes, auf der anderen das Bedürfnis nach Rechtsetzung, die ihren Steuerungszwecken aufgrund hoher Flexibilität und Anpassungsfähigkeit nachkommen kann. 3. Fazit Erlassverfahren und Erlassorgane als Faktoren, die die demokratische Dignität eines Rechtsaktes ausmachen, waren keiner Handlungsform konsequent zugeordnet. Ebenso fehlte es an einer konsequenten Zuordnung dieser Faktoren zur Handlungsebene des Basisrechtsakts. Die im Mitentscheidungsverfahren ergangenen und daher besonders demokratischen Rechtsakte bildeten hingegen schlicht schon keine eigene Kategorie. Keine Art von Rechtsakt konnte die Funktionen eines formellen Gesetzesvorbehalts ausfüllen. Die Funktion der Gesetzgebung war nicht als solche erkennbar und von anderen Formen der Rechtserzeugung nicht systematisch zu unterscheiden.380 „Gesetzgebung“, oder besser: schlichte Rechtsetzung, fand in vielerlei Form statt. Die Verträge konzipierten keine Rechtsaktform, die die Funktion eines Gesetzes wahrnehmen konnte, obwohl sich faktisch die Funktion der Gesetzgebung immer stärker herauskristallisierte. Während die EU anfangs primär funktional381 konzipiert war, Rechtsetzung sich als das „Abspulen eines Integrationsprogramms“ darstellte382, entwickelte sie sich infolge der Ergänzung durch genuin politische Ziel 379

von Komorowski, Demokratieprinzip und EU, S. 175. Vgl. auch prägnant Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S.  643 (649): „Im Gemeinschaftsrecht fehlt es an der für die Mitgliedstaaten typischen Verknüpfung von Staatsfunktion, Organ und Handlungsform (Gesetzgebung – Parlament – Gesetz).“ 381 Hofmann, ELJ 2009, 482 (484). 382 von Komorowski, Demokratieprinzip und EU, S. 175; Hofmann, A critical analysis of Acts in the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, EIoP Vol. 7 (2003), No. 9, S. 1 f.; Nettesheim, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 389 (393). 380

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setzungen seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend zu einem Gebilde, das Hoheitsgewalt für ein bestimmtes Territorium und eine bestimmte Bürgerschaft ausübt und damit Einfluss auf fast alle Lebensbereiche übt.383 Die Verträge trugen dieser Entwicklung schrittweise Rechnung, insbesondere indem sie die Beteiligungsrechte des Parlaments ausbauten. Jedoch verankerten sie diese Entwicklungen nicht im System der Rechtsakte. Das Fehlen eines formellen Gesetzes führte dazu, dass der tatsächlich vorhandene und notwendige demokratische Mehrwert bestimmter Rechtsakte nicht fruchtbar gemacht werden konnte. Gerade bei der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen wirkte sich dies aus. Mangels einer Rechtsaktkategorie, die man mit der Aufgabe eines formellen Gesetzes hätte betrauen können, war die Übertragung von Durchführungsbefugnissen nicht als Legitimationsverzicht konzipiert. Den Übertragungsakt demokratisch fundierten Grenzen zu unterwerfen, war deshalb schwierig. Dies führte spätestens dann zu Friktionen, als sich tatsächlich der Basisrechtsakt vielfach als konsequentes Abbild des dualen Legitimationsmodells durch besondere demokratische Dignität auszeichnete. III. Der formelle Gesetzesvorbehalt im Lissabon-Vertrag Der Vertrag von Lissabon führt nun eine neue Kategorie von Rechtsakten ein: Den Gesetzgebungsakt (Art. 289 Abs. 3 AEUV). Zugleich bestimmt er, dass allein in Gesetzgebungsakten Befugnisse auf die Kommission delegiert werden dürfen (Art. 290 Abs. 1 AEUV). Übernimmt die Kategorie des Gesetzgebungsaktes zumindest insoweit die Funktion des formellen Gesetzes?384 Ist dementsprechend die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen gemäß Art.  290 AEUV, die ausschließlich aufgrund eines solchen Gesetzgebungsaktes erfolgen darf und die zum Erlass von „Rechtsakten ohne Gesetzescharakter“ führt, als systematischer Legitimationsverzicht konzipiert? Meines Erachtens sind diese Fragen zu bejahen. Ausgehend vom allgemeinen Bestreben des Lissabon-Vertrags, für mehr Demokratie und Transparenz zu sorgen, lässt sich gerade die Einführung des Gesetzgebungsaktes, in dem wesentliche demokratische Legitimationsfaktoren gebündelt werden, als (wenn auch defizitäres385) Instrument zur Verbesserung der sachlich-inhaltlichen Legitimation auf europäischer Ebene verstehen.

383

von Bogdandy, in: FS Badura, S. 1038. Wenn im Folgenden in diesem Teil vom Gesetzgebungsakt als „formellem Gesetz“ gesprochen wird, so wird hiermit zunächst nur auf seine relative Stellung zu den abgeleiteten delegierten Rechtsakten der Kommission Bezug genommen. Die Frage, ob der Gesetzgebungsakt absolut die Stellung eines formellen Gesetzes als Spitze einer neuen Normenhierarchie behaupten kann, wird erst in § 7 behandelt. 385 Zu den Defiziten, s. noch unten unter § 7 A. II. 384

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1. Stärkung des Demokratieprinzips Die Klage über das (tatsächliche oder vermeintliche) Demokratiedefizit ist spätestens seit der expliziten Einführung des Demokratieprinzips als Grundlage der Europäischen Gemeinschaften ein wiederkehrender Topos in der europarechtswissenschaftlichen Diskussion.386 Das Mandat des Europäischen Rates für die Gestaltung des Vertrags von Lissabon knüpfte daran an: Ausweislich seiner Prä­ambel will der Reformvertrag „Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe“ weiter stärken.387 Die Fassung der Verträge nach Lissabon läutet eine neue Stufe in der Entwicklung des europäischen Demokratieprinzips ein.388 Der Lissabon-Vertrag entwirft zwingende389 Maßstäbe für das europäische Demokratieprinzip und betont in hervorgehobener Weise die demokratischen Grundlagen der Europäischen Union. Das Demokratieprinzip wird nicht, wie noch nach den Verträgen von Amsterdam und Nizza, nur als ein Prinzip unter vielen genannt. Vielmehr erhält es im EUVn390 erstmals seinen eigenen Titel391: Die unter Titel II (Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze)  des EUVn aufgeführten Art.  9–12 EUVn befassen sich ausschließlich mit der unionalen Umsetzung des Demokratieprinzips. Zudem enthält der Vertrag nicht nur die Feststellung, dass Demokratie die Basis der EU bildet, sondern in Art. 10 Abs. 1 EUVn wird erstmals ausdrücklich ein demokratietheoretisches Konzept verankert:392 Der Arbeitsweise der Union liegt das Prinzip der repräsentativen393 Demokratie zugrunde. Vor allem regelt der Lissabon-Vertrag nun ausdrücklich das Modell demokratischer Legitimation auf europäischer Ebene. Art.  10 Abs.  2 EUVn verteilt die Aufgabe, die demokratische Legitimation entsprechend dem Prinzip der repräsentativen Demokratie zu vermitteln, auf den zwei Schultern, denen schon zuvor von der Wissenschaft diese Aufgabe zugedacht wurde: Unionsunmittelbares Re 386 s. zu der Entwicklung des demokratischen Gedankens in Europa oben § 2 C. II. 1. Sowie Bieber, SZIER/RSDIE 2011, 99 (103 f.); Rumler-Korinek, EuR 2003, 327 ff.; Überblick bei Nettesheim, in: Bauer/Huber/Sommermann, Demokratie in Europa, S. 143 ff. 387 Präambel zum EUV Punkt 6.  388 von Bogdandy, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 13 (63): „großer Schritt“. 389 Craig, ELRev. 2008, 137 (160) plädiert deshalb dafür, diese Änderungen nicht lediglich als rhetorical flourishes zu begreifen, sondern bei der Bewertung des Gesamteindrucks des europäischen Demokratieprinzips zu berücksichtigen; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 10 EUV Rn. 10: „durchaus mit normativem Anspruch“. 390 EUVn bezeichnet in Abgrenzung zum „alten“ EUV die neue Fassung des Vertrages nach Lissabon. 391 Bredt, ELJ 2011, 35 ff.; Piris, The Lisbon Treaty, S. 112 f.; Papier, in: Pernice, Europa neu verfasst ohne Verfassung, S. 35 (28 f.). 392 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 10 EUV; Rn. 8. 393 Angesichts des Fehlens eines abgrenzbaren, einheitlichen Legitimationssubjekts krit. zu diesem Konzept Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art.  10 EUV Rn. 21: „undurchdachte Reminiszenz“.

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präsentativorgan ist das Parlament; der Rat schafft demokratische Legitimation über seine Mitglieder, die Staats- oder Regierungschefs, die ihrerseits in demokra­ tischer Weise gegenüber ihrem nationalen Parlament oder gegenüber den Bürgern Rechenschaft ablegen müssen. Der Vertrag formuliert explizit394 das schon früher herrschende Konzept der doppelten395 oder dualen396 Legitimation durch Rat und Parlament. Das unionale Demokratieprinzip beruht auf der Gesamtheit der Unionsbürger und den mitgliedstaatlich verfassten Völkern.397 Anders als die früheren Verträge verzichtet der Lissabon-Vertrag nicht mehr auf eine Stellungnahme zur relativen „Wertigkeit“398 seiner Organe; er anerkennt das relativ hohe demokra­ tische Legitimationspotential von Rat und vor allem Parlament. Insbesondere stärkt der Vertrag von Lissabon die Rolle des Europäischen Parlaments.399 Der Reformvertrag bringt hierdurch zugleich den Gedanken der unionseigenen demokratischen Legitimation besser zur Geltung und nähert die Union einem traditionellen Bild einer repräsentativen Demokratie an.400 Das Parlament wird in Art. 10 EUV an erster Stelle genannt, wenn es darum geht, diejenigen Organe zu bezeichnen, die das erforderliche Legitimationsniveau der Union generieren. Dabei ist die Legitimationsleistung des Parlaments nicht mehr nur mitgliedstaatlich vermittelt: Das Europäische Parlament setzt sich nicht länger, wie noch in Art. 189 EGV formuliert, aus „Vertretern der Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Mitgliedstaaten“ zusammen. Vielmehr fungieren seine Mitglieder nun als Vertreter „der Unionsbürger“ (Art. 14 Abs. 2 S. 1 EUVn). Dementsprechend betont Art. 10 Abs. 2 EUVn, dass die Bürgerinnen und Bürger unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten sind. Die demokratische Legitimation ist nicht mehr nur eine abgeleitete, sondern eine spezifisch europäische; die Union emanzipiert sich (zumindest vertragssystematisch401) von ihren Mitgliedstaaten.402 Wenn zwar aufgrund des ungleichen Wahlrechts weiter Defizite hinsichtlich der Einheitlichkeit des Legitimationssubjekts bleiben403  – insbesondere ist weiter zweifelhaft, ob man von einem „europäischen Volk“ sprechen kann404 –, so ist dieses Bekenntnis zu den Unionsbürgern als demokratisch legitimatorischer 394

Dazu Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 10 EUV; Rn. 11. Calliess, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, EGV Art. 6 Rn. 15. 396 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 10 EUV Rn. 8. 397 von Bogdandy, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 13 (64). 398 So noch zum alten Recht Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (536). 399 Bredt, ELJ 2011, 35 (38); Craig, ELRev. 2008, 137 (156): „The EP emerges as an ‚institutional winner‘ … from the Treaty of Lisbon.“ 400 Bredt, ELJ 2011, 35 (38). 401 Inwiefern die Mitglieder des europäischen Parlaments sich tatsächlich als Vertreter der Unionsbürger sehen und nicht primär als Vertreter ihrer jeweiligen Nationalstaaten, ist indes überaus zweifelhaft. Diese Arbeit verzichtet aber auf eine empirische Analyse, sondern legt nur die Konzeption des Vertrages dar. 402 Vgl. Isak, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 133 (136). 403 Ruffert, EuR 2009, Beiheft 1, 31 (40). 404 Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761 (1766). 395

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Bezugspunkt doch mehr als ein symbolischer Schritt. Die legitimierende Kraft des Parlaments steigt überdies proportional mit dem Kompetenzzuwachs des Europäischen Parlaments, der mit dem Vertrag von Lissabon eine weitere Stufe erreicht.405 Der Reformvertrag bleibt nicht bei diesen in Teilen nur klarstellenden Neuerungen stehen.406 Er wartet mit weiteren Legitimationsfaktoren auf, die neben die bereits zuvor in der Europarechtswissenschaft erarbeiteten dualen Legitimationsstränge von Rat und Parlament treten.407 Titel II des EUVn (Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze)  befasst sich mit der Möglichkeit der Bürgerbeteiligung (Art. 11 EUVn) sowie der Beteiligung der nationalen Parlamente.408 Während Art. 11 EUVn mit Regeln zur Bürgerbeteiligung die repräsentative Demokratie um partizipativ- und assoziativ-demokratische sowie deliberative Elemente ergänzt409, wertet Art. 12 EUVn die Rolle der nationalen Parlamente erheblich auf.410 Diese stecken in einem föderalen System wie der EU naturgemäß in einem Dilemma411: Ihre Rolle ist mediatisiert.412 Sie kontrollieren die im Rat vertretenen Regierungen nach den jeweiligen nationalen Regelungen. In Bezug auf die europäischen Entscheidungsstrukturen sind sie jedoch erstmals „prozedurale Außenseiter“.413 Der Vertrag von Lissabon versucht, die nationalen Parlamente wenigstens in Ansätzen zu „Insidern“ zu machen. Art. 12 EUVn nennt die nationalen Parlamente als selbständige Akteure in der europäischen Entscheidungsfindung. Durch einen „Frühwarnmechanismus“ werden sie unmittelbar am Rechtsetzungsverfahren beteiligt: Die mitgliedstaatlichen Parlamente können mit diesem Instrument ihre Bedenken bezüglich eines Rechtsetzungsvorschlags der Kommission im Vorfeld geltend machen.414 Art. 12 EUVn weist insofern einen besonderen Gehalt auf: Er lässt die nationalen Parlamente erstmals unmittelbar legitimierend zum Zuge kommen.415 Die verbesserte Einbindung der nationalen Parlamente ist 405

Kirsch, Demokratie und Legitimation in der EU, S. 142. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 10 EUV Rn. 55. 407 In „kluger Selbstbeschränkung“ verzichtet der Vertrag darauf, „ein ‚radikales Demokratiemodell‘ festzuschreiben, das sich bei der Suche nach Legitimation auf ein Element beschränkt.“ Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 10 EUV Rn. 11 und 20.  408 s. dazu Semmler, ZEuS 2010, 529 ff. 409 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 11 EUV Rn. 2, 5.  410 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 11 EUV Rn. 1 ff.; Bredt, ELJ 2011, 25 (39). 411 Zum Ganzen Dann, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S.  335 (378 f.). 412 Hofmann, Normenhierarchien, S. 48. 413 Dann, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 335 (379). 414 s. die beiden Protokolle über die Einbindung der nationalen Parlamente: Protokoll (Nr. 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union, und Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. 415 Semmler, ZEuS 2010, 529 (530); Huber, EuR 2003, 574 (597) zum Verfassungsvertrag; vgl. auch Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art 12 Rn. 2; zu der tatsächlich immer noch mediatisierten Rolle der nationalen Parlamente, die daraus resultiert, dass die Parlamente Ressourcen in politische Vorgänge investieren müssen, die nicht die ihren sind, s. Dann, in: von Bogdany/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 335 (381). 406

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(zumindest konstruktiv416) bedeutsam: Wegen der – im Einzelnen in ihren Auswirkungen umstrittenen417 – Defizite des Europäischen Parlaments bei der Repräsentation der Unionsbürger halten viele diese legitimatorische Rückbindung für den entscheidenden Legitimationsfaktor der Europäischen Union. Diese Sichtweise dominierte nicht zuletzt die beiden Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht- und zum Lissabon-Vertrag.418. Schließlich bleibt kurz zu erwähnen, dass auch gewisse Verbesserungen der demokratischen Rückbindung der Kommission verwirklicht wurden. Zwar entspricht das Ernennungsverfahren der Kommission in den Grundzügen der bisherigen Regelung in Art. 214 EGV.419 Geändert hat sich aber die Einsetzung des Kommissionspräsidenten. Dieser muss sich nun gemäß Art. 17 Abs. 7 S. 2 EUVn der Wahl durch das Europäische Parlament stellen. Den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten schlägt der Europäische Rat vor, der dabei das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament „berücksichtigt“. Im historischen Vergleich wird der wachsende Einfluss des Parlaments besonders augenfällig: Während bis zum Vertrag von Maastricht das Europäische Parlament bei der Besetzung des Parlaments gar nicht mitwirkte420, bedurfte es später der Zustimmung des Parlaments. Der Vertrag von Lissabon, der zumindest den Kommissionspräsidenten vom Parlament wählen lässt, stellt den bisherigen Höhepunkt dieser Entwicklung dar, die dem europäischen Parlament immer mehr Einfluss einräumte. Die übrigen Mitglieder der Kommission werden nach dem bisher geltenden Verfahren bestellt.421

416 Die praktische Wirksamkeit der Einbindung der parlamentarischen Instrumente ist zweifelhaft. Die Subsidiaritätsrüge greift nur bei einem Quorum von einem Drittel der den nationalen Parlamenten zugewiesenen Stimmen; nur dann muss der Entwurf überprüft werden. Die nationalen Parlamente müssen sich also gegenseitig abstimmen und gemeinsam tätig werden, um eine Überprüfung zu erzwingen. Bisher sind die Informationskanäle zwischen den einzelnen mitgliedstaatlichen Parlamenten aber nur unzureichend ausgeprägt. s. aber Art. 9 Protokoll Nr. 1, nach dem das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente gemeinsam fest­ legen, wie eine effiziente und regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den Parlamenten erreicht werden kann. 417 Uneinig ist man sich insoweit insbesondere darüber, inwiefern ein einheitliches „Unionsvolk“ als Legitimationssubjekt unabdingbare Voraussetzung für eine demokratische Volksvertretung auf europäischer Ebene ist. Zur Diskussion s. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 10 EUV Rn. 26: Parlament muss sich nicht zwangsläufig auf einen einheitlichen „Volkskörper“ stützen; sehr streng hingegen das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil: BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, BVerfGE 123, 267 (370 ff.): EP keine Volksvertretung, sondern Vertretung der Völker der Mitgliedstaaten, die zwischen dem völkerrechtlichen Prinzip der Staatengleichheit und dem demokratischen Gebot der Wahlrechtsgleichheit steht. 418 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993, 2 BvR 2134/92 = BVerfGE 89, 155 (185 f.); BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 = BVerfGE 123, 267 (371). 419 Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 17 EUV Rn. 103. 420 Die Mitglieder der Kommission wurden damals im gegenseitigen Einvernehmen der Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmt, s. Schmitt von Sydow, von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 214 EGV Rn. 7. 421 Isak, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 135 (163).

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV 

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Insgesamt bringt der Vertrag von Lissabon nicht nur eine stärkere Akzentuierung und Ausdifferenzierung des europäischen Demokratiemodells, sondern versucht auch, das demokratische Legitimationsniveau durch verschiedene Mechanismen besser abzusichern. 2. Verknüpfung der Legitimationsfaktoren des gestärkten Demokratiemodells mit Gesetzgebungsakt Der Vertrag von Lissabon hat nicht nur abstrakt die allgemeinen Grundlagen des europäischen Demokratiemodells stärker akzentuiert und ausdrücklich verschiedene Legitimationsfaktoren in den Verträgen verankert. Der Reformvertrag verwirklicht sein Demokratiemodell konkret im System der Rechtsakte: Er verknüpft das Legitimationsmodell und die einzelnen Legitimationsfaktoren mit einer bestimmten Kategorie von Rechtsakten – den Gesetzgebungsakten. Gesetzgebungsakte werden damit vertragssystematisch als Instrument konzipiert, sachlich-inhaltliche Legitimation zu vermitteln. Sie sind daher in der Lage, die Funktion eines formellen Gesetzes – zumindest im Zusammenhang mit Art. 290 AEUV422 – wahrzunehmen. a) Handlungsformen und formelles Gesetz: Die Veränderungen im Vergleich zum Verfassungsvertrag Allerdings verpasst es der Vertrag von Lissabon, im System der Handlungsformen die Kategorie eines formellen Gesetzes zu verankern. Anknüpfungspunkt für eine legitimationsbezogene Hierarchie kann auf Grundlage des Vertrags von Lissabon nur noch die Unterscheidung zwischen den Hierarchieebenen Gesetzgebungsakt und Rechtsakt ohne Gesetzescharakter sein. Der Verfassungsvertrag noch war den Schritt zur Hierarchisierung konsequenter gegangen. Er sah zum einen verschiedene Hierarchieebenen vor. So kannte er Gesetzgebungsakte und Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. Diese grundlegende Unterscheidung verschiedener Hierarchieebenen setzte sich in den Handlungsformen fort. Gesetzgebungsakte konnten entweder als Europäisches Gesetz (Art. I-33 Abs.  2 VVE) oder als Europäisches Rahmengesetz (Art.  I-33 Abs.  2 VVE) ergehen; die Rechtsakte ohne Gesetzescharakter waren den Handlungsformen Europäischer Beschluss, Empfehlung und Stellungnahme vorbehalten (Art.  I-33 Abs. 5 und 6 VVE). Schon an den Handlungsformen ließ sich also die Hierarchieebene ablesen.

422 Ob der Gesetzgebungsakt die Funktion des formellen Gesetzes als die Spitze einer Normenhierarchie auch im Gesamtsystem der Rechtsakte wahrnehmen kann, s. unten unter § 7.

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Der Lissabon-Vertrag bringt eine Abkehr von diesem „semantischen Quanten­ sprung“.423 Angesichts des Widerstands, dem der Verfassungsvertrag in den Referenden in den Niederlanden und in Frankreich begegnet war, und dessen Ur­sache allgemein (unter anderem) in seiner allzu großen „Verfassungsähnlichkeit“ und dem zunehmendem Charakter der EU als „Bundesstaat“ verortet worden war424, mussten notgedrungen alle Begriffe, die Assoziationen zu einer „Staatswerdung“ der Union wecken konnten, aus dem Reformvertrag getilgt werden.425 Dies bedeutete das „Aus“ für das Europäische Gesetz und das Europäische Rahmengesetz; waren diese Begriffe doch (vermeintlich) Ausdruck einer nun tabuisierten „staatsnahen“ Terminologie.426 Stattdessen kehrte man zu den bekannten Bezeichnungen Verordnung, Richtlinie, Empfehlung und Stellungnahme zurück; allein die Einführung des Beschlusses als neue explizite Handlungsform brachte hinsichtlich der Instrumente europäischen Handelns eine Änderung im Vergleich zum Katalog des Art. 249 EGV.427 Ganz verzichtete man auf den Begriff des Gesetzes aber nicht: Der Begriff des Gesetzgebungsaktes bleibt in den Verträgen (Art.  289 Abs.  3 AEUV) er­halten und bezeichnet das Gegenstück zum Rechtsakt ohne Gesetzescharakter.428 Die altbekannten Handlungsformen (Verordnungen, Richtlinien usw.) können jedoch sowohl Gesetzgebungsakt als auch Rechtsakt ohne Gesetzescharakter sein. Die beiden Kategorien (Rechtsakt ohne Gesetzescharakter und Gesetzgebungsakt) werden also nicht mehr in unterschiedliche Handlungsformen übersetzt. Bedeutet dies, dass die Frage nach der normhierarchischen Abstufung auf Grundlage des Verfassungsvertrags anders zu beantworten ist als auf Grundlage des Vertrags von Lissabon? Aus meiner Sicht spricht nichts dafür, dass der Vertrag von Lissabon durch diese Änderung eine substantielle Abkehr von seinem Konzept des Gesetzgebungsaktes herbeiführen wollte. Entscheidend ist, dass der Vertrag von Lissabon die grundlegende Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter beibehält. Er verzichtet lediglich darauf, die auf den verschiedenen Ebenen ergehenden Rechtsakte unterschiedlich zu bezeichnen. Nun gibt es also Verordnungen 423

Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (546). Hummer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 19 (40); Pijpers, integration 2007, 449 (452); Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, S. 15. 425 Hummer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 19 (33); auch das Mandat der Regierungskonferenz (Rat der EU Dok 11218/07 vom 26.6.2007) gibt das Konzept einer Verfassung für Europa ausdrücklich auf: „Der EU-Vertrag und der Vertrag über die Arbeitsweise der Union werden keinen Verfassungscharakter haben.“ 426 s. das Mandat für die Regierungskonferenz unter Z 19 lit. v.; dazu A. C. Becker, in: Pernice, Der Vertrag von Lissabon, S. 145 (146 f.). 427 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, S.  91 f.; A. C. ­Becker, in: Pernice, Der Vertrag von Lissabon, S. 145. 428 Vgl. Bast, in: Franzius/Mayer/Neyer, Strukturfragen, S.  173 (178); zudem führen die Verträge zum ersten Mal die übergreifende Funktion der Gesetzgebung in die Verträge ein, s. Art. 14 und 16 EUVn. 424

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV 

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als Gesetzgebungsakte und Verordnungen ohne Gesetzescharakter. Der Umstand, dass der Kategorisierung nicht bestimmte, unterschiedliche Handlungsformen entsprechen, mag bedauert werden. Es ist aber letztlich eine rein begriffliche Frage.429 Schon der Verfassungsvertrag hätte die grundsätzliche Unterscheidung zwischen formellem und untergesetzlichem Recht nicht an die verschiedenen Handlungsformen, sondern nur an die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakt und Rechtsakt ohne Gesetzescharakter geknüpft. Diese grundlegende Unterscheidung trifft aber auch der Vertrag von Lissabon. Das Mandat der Regierungskonferenz enthält keinerlei Anzeichen dafür, dass die Abschaffung der Begriffe des Gesetzes und des Rahmengesetzes auf irgendwelche substanziellen Änderungen im System der Rechtsakte, so wie schon im Verfassungsvertrag konzipiert, zielte. Im Gegenteil: Das Mandat beschränkte die vorzunehmenden Änderungen darauf, die maßgeblichen Bestimmungen an den Verzicht auf die Begriffe „Gesetz“ und „Rahmengesetz“ anzupassen und stellt sogar ausdrücklich klar, dass „… die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzes­ charakter und die Folgen daraus beibehalten werden.“430 (Hervorhebung durch Verf.)

Diesem Satz lässt sich zweierlei entnehmen: Zum einen sollte der Vertrag von Lissabon keine substanziellen Änderungen im Hinblick auf die Rechtsakte herbeiführen und zum anderen ging die Regierungskonferenz selbst davon aus, dass an die Unterscheidung von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter und Gesetzgebungsakten in der Tat Folgen geknüpft waren. Das bedeutet: Die Frage danach, ob das Konzept eines formellen Gesetzes eingeführt wurde, muss für den Verfassungsvertrag und den Lissabon-Vertrag einheitlich beantwortet werden. Ausschlaggebend ist daher nur, ob der Vertrag mit der Kategorie des Gesetzgebungsaktes eine hinreichende Zahl von Legitimationsfaktoren verknüpft, die es rechtfertigen, diese Kategorie von Rechtsakten (zumindest im Rahmen von Art. 290 AEUV) als formelles Gesetz zu begreifen. Die Inten­tion der Vertragsautoren ist dabei klar: Die verantwortliche Working Group IX wollte mit der Unterscheidung der beiden Kategorien von Rechtsakten eine Normen­

429

A. A. wohl Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (547). s. Mandat der Regierungskonferenz Z 19 lit. v; s. zum Mandat der Regierungskonferenz, Mayer, ZaöRV 67 (2007), 1141 (1172 f.): Dass im Grundsatz keine inhaltlichen Änderungen gewollt waren, wurde ausdrücklich ausgesprochen, s. das Mandat: „Was die inhaltlichen Änderungen an den bestehenden Verträgen anbelangt, so werden die auf die RK 2004 zurückgehenden Neuerungen so, wie es in diesem Mandat angegeben ist, in den EUV und den Vertrag über die Arbeitsweise der Union eingearbeitet. Änderungen an diesen Neuerungen, die sich aufgrund der in den vergangenen sechs Monaten mit den Mitgliedstaaten geführten Konsultationen ergeben, sind nachstehend eindeutig angegeben.“ Ziff. 4 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes der Tagung des Europäischen Rates in Brüssel am 21. und 22. Juni 2007, Ratsdokument 11177/07 (CONCL 2); zweifelnd, ob diese „Quadratur des Kreises“ gelingen kann Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (547). 430

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hierarchie begründen.431 Und die Regierungskonferenz im Vorfeld des Vertrags von Lissabon scheint diese Intention geteilt zu haben, wenn auch sie die „Folgen“ dieser Unterscheidung bewahren wollte. b) Verknüpfung mit der Hierarchieebene des Gesetzgebungsaktes Welche Legitimationsfaktoren verknüpft der Vertrag von Lissabon mit der neuen Kategorie des Gesetzgebungsaktes? Es wird gezeigt werden, dass der Vertrag von Lissabon durch derartige Verknüpfungen das Konzept eines formellen Gesetzes432 – den Gesetzgebungsakt – in den bisher einheitlichen Korpus des Sekundärrechts einführt. Die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission, die nur in legitimatorisch hochwertigen Gesetzgebungsakten geschehen kann und die die Kommission nur zum Erlass eines legitimatorisch geringerwertigen Rechtsakts ohne Gesetzescharakter ermächtigt, bedeutet damit stets einen Legitimationsverlust. Während dies nach bisheriger Rechtslage wenigstens in der Regel der Fall war, konzipiert der Vertrag von Lissabon die Delegation mit Hilfe der Hierarchieebene des Gesetzgebungsaktes nun als automatischen Legitimationsverlust und versieht ihn deshalb mit besonderen Sicherungen. aa) Stützen des Demokratieprinzips Besonders deutlich tritt die Verknüpfung von institutionellen Legitimationsfaktoren mit der Kategorie des Gesetzgebungsaktes zutage. In Anbetracht des Ziels des Lissabonner Reformvertrags, sämtliche Reminiszenzen an eine „Staatlichkeit“ der Union zu tilgen, erstaunt, dass der Vertrag dennoch zum ersten Mal die Funktion der Gesetzgebung ausdrücklich anerkennt; evoziert doch der Begriff der Gesetzgebung auf staatlicher Ebene gerade die Vorstellung staatlicher, insbesondere parlamentarisch mitverantworteter Rechtserzeugung.433 Während bisher nur an einer Stelle – in Art. 207 EGV – der Begriff der Gesetzgebung fiel, wird die Gesetzgebung nun als eigenständige Funktion unionaler Rechtsetzung konzipiert: Art. 14 Abs. 1 und 16 Abs. 1 EUVn sprechen davon, dass Rat und Parlament gemeinsam als Gesetzgeber tätig werden; zugleich schließt der Vertrag den Euro­ päischen Rat von gesetzgeberischen Tätigkeiten aus und verpflichtet die Kommission (u. a.) auf verwaltende Tätigkeiten. 431

CONV 424/02 S.  8 ff.; von der erstmaligen Einführung einer Normenhierarchie spricht auch das Europäische Parlament im Bericht zur Übertragung legislativer Zuständigkeiten (2010/2021(INI)), S. 3; davon ist auch in der Gesetzesbegründung zum Zustimmungsgesetz für den Lissabon-Vertrag die Rede, s. BT-Drucks. 16/8300, S. 189. 432 Hier, in § 2, wird zunächst nur das Verhältnis des Gesetzgebungsaktes zu den abgeleiteten delegierten Rechtsakten beleuchtet. Zur Frage, ob der Gesetzgebungsakt auch insgesamt die Spitze einer Normenhierarchie bildet, s. unten § 7.  433 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 67 f.

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV 

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Diese unterschiedlichen, den Organen zugeordneten Staatsfunktionen können im Regime der Rechtsaktkategorien entsprechend abgebildet werden: Rat und Parlament erlassen Gesetzgebungsakte434; die Kommission ist nur in der Lage Rechtsakte ohne Gesetzescharakter zu erlassen.435 Diese Beschränkung der Kommission auf Rechtsakte ohne Gesetzescharakter ist zwar nicht ausdrücklich angeordnet, folgt aber zwingend aus der Definition des Gesetzgebungsaktes: Gesetzgebungsakte sind nur solche, die in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen werden (Art. 289 Abs. 3 AEUV). In einem Gesetzgebungsverfahren werden die Rechtsakte aber stets nur von Rat und Parlament erlassen.436 Das gilt für das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, in dem Rat und Parlament als gleichberechtigte Gesetzgeber tätig werden (Art. 289 Abs. 1 AEUV), ebenso wie für die besonderen Gesetzgebungsverfahren, für die Art. 282 Abs. 2 AEUV bestimmt, dass „die Annahme [eines Rechtsakts] durch das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates oder durch den Rat mit Beteiligung des Europäischen Parlaments erfolgt.“ Für in ordentlichen wie für in besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassene Gesetzgebungsakte folgt daraus: Stets sind Rat und Parlament in irgendeiner437 Weise am Erlass der Gesetzgebungsakte beteiligt. Und weil Rat und Parlament die Aufgabe zukommt, auf europäischer Ebene demokratische Legitimation zu vermitteln, gilt damit zugleich: An allen Gesetzgebungsakten partizipieren zwingend die beiden Pfeiler des europäischen Demokratiemodells. Gerade in ihrer Funktion als Gesetzgeber wirken Rat und Parlament damit als „sich ergänzende Legitimationsträger438“. Der Lissabon-Vertrag verwirklicht eine Zuordnung von Funktion (Gesetzgebung) zu Organ (Rat und Parlament) und Handlungsebene (Gesetzgebungsakt)439, wie sie bisher nur aus dem Staatsrecht bekannt war. Diese Verknüpfung ist der bedeutendste Anhaltspunkt für die herausgehobene Position des Gesetzgebungsaktes als „formellem Gesetz“ des Unionsrechts. Der Vertrag von Lissabon ordnet überdies an, dass Gesetzgebungsakte regelmäßig im Mitentscheidungsverfahren ergehen: Dieses Verfahren wird im Lissabon 434

Allerdings kann der Rat auch Rechtsakte ohne Gesetzescharakter erlassen, z. B. Art. 74 AEUV, s. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, S. 97. Dies fügt der relativen demokratischen Hochwertigkeit aber erstmal keinen Schaden zu: Wichtig ist insoweit nur, dass nur Rat und Parlament Gesetzgebungsakte erlassen und nur diese delegieren können und Organe, die keine Legitimationsträger sind, hiervon ausgeschlossen sind. Zu der Problematik primärrechtsunmittelbarer Rechtsakte ohne Gesetzescharakter und zu den Implikationen ins­ besondere für die Normenhierarchie s. unten § 7 A. II. 2.  435 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, S.  94; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 289 Rn. 2 ff. 436 Die Kommission ist am Gesetzgebungsverfahren nur durch ihre Gesetzesinitiative be­teiligt. 437 Dass ihre Beteiligung nicht immer gleichmäßig ist, ist ein Defizit des Konzept des Gesetzgebungsaktes und der Normenhierarchie, dazu s. unten § 7 A. II. 1. 438 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007,Art. 6 EUV Rn.  15; Bieber, in: Fastenrath/Nowak, Der Lissabonner Reformvertrag, S. 47 (53); vgl. auch Dougan, CMLRev. 2008, 617 (640); Lenaerts, EuConst 1 (2005), 57 (58). 439 Zu dieser Gleichung s. Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (649).

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Vertrag zum „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“.440 Rat und Parlament agieren hier als gleichberechtigte Gesetzgeber441. Schon nach alter Rechtslage wurde das Mitentscheidungsverfahren als „wesentliche Säule der demokratischen Verfasstheit der Union“ bezeichnet.442 Diese Erkenntnis gilt umso mehr nach neuer Rechtslage, nach der ausdrücklich Rat und Parlament mit der Aufgabe, demokratische Legitimation zu vermitteln, betraut sind.443 Die Bezeichnung „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ verdient das Mitentscheidungsverfahren nicht nur auf dem Papier. Der Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens wurde auf weitere mehrere Dutzend Fälle ausgeweitet, in denen zuvor ein anderes Verfahren mit geringerer parlamentarischer Beteiligung Anwendung gefunden hatte.444 Statt wie bisher etwas pejorativ als störende „Abänderungen“ bezeichnet der AEUV nun den inhaltlichen Input des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren konstruktiver als „Standpunkt“ und wählt damit den gleichen Begriff wie für Vorschläge des Rates.445 Diese Änderungen verbessern die demokratische Legitimation der europäischen Gesetzgebung.446 Das Primärrecht bekennt sich mit der Einsetzung des Mitentscheidungsverfahrens als ordentliches Gesetzgebungsverfahren zur demokratischen Bedeutung europäischer Rechtsetzung und damit zur Funktion demokratischer Gesetzgebung.447

440

Das in Art. 249 AEUV geregelte Verfahren entspricht im Wesentlichen dem bisherigen Mitentscheidungsverfahren, s. Bieber, SZIER/RSDIE 2011, 99 (109); Schoo, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 63 (65 f.). 441 s. etwa Papier, in: Pernice, Europa neu verfasst ohne Verfassung, S. 35 (28 f.). Allerdings meldet etwa Oeter, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 109, Zweifel an, ob die Gleichberechtigung des Europäischen Parlaments sich auch in der Praxis als solche erweisen wird. Er ist der Auffassung, dass der Rat gegenüber dem Europäischen Parlament ein höhere Drohpotential hat als umgekehrt. 442 von Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 62 (2002), 77 (137). 443 Vgl. Dougan, CMLRev. 2008, 617 (639 f.): „that dual democratic basis is best reflected in the ‚ordinary‘ legislative procedure – co-decision – since it is based on an equal say between the European Parliament and the Council“; ebenso Lenaerts, EuConst 1 (2005), 57 (58). 444 Die genauen Berechnungen schwanken, s. Kaeding/Hardacre, The Execution of ­Delegated Powers after Lisbon, A EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 1: „extended to 45 policy areas“; Piris, The Lisbon Treaty, S.  118: „about thirty“; Kirsch, Demokratie und Legitimation in der EU, S. 153; schon zum Verfassungsvertrag Schoo, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 63 (66); nach den Berechnungen von Maurer, in: Lieb/ Maurer/von Ondarza, Der Vertrag von Lissabon, Kurzkommentar (Diskussionspapier der FG 1, 2008/07, SWP Berlin), 36 gelangt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren in nunmehr 85 Rechtsgrundlagen zur Anwendung, während nach dem EGV das Mitentscheidungsverfahren nur für 45 Fälle gegolten habe; Dougan, ELRev. 2003, 763 (772). 445 Vgl. Schoo, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S.  63 (66). 446 Craig, ELRev. 2008, 137 (157); differenzierend dazu, ob eine zunehmende Beteiligung des europäischen Parlaments an der Gesetzgebung tatsächlich zu einer Verbesserung des Demokratieniveaus führen kann oder ob die Besonderheiten des EPs und der EU dies ausschließen, s. Hofmann, Normenhierarchien, S. 50 ff. 447 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (47).

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Der Lissabon-Vertrag setzt damit einen Trend fort, den bereits die vorhergehenden Reformverträge eingeschlagen hatten: Nämlich eine kontinuierliche Ausweitung der Befugnisse des Parlaments, mit dem Ziel, die Union weiter zu demokratisieren.448 Anders als die bisherigen Vertragsänderungen begnügt sich der Vertrag von Lissabon aber nicht damit, die Mitwirkungsrechte des Parlaments am Erlass von Basisrechtsakten schlicht „zufällig“ auszuweiten, sondern er macht die gleichberechtigte Mitbestimmung des Parlaments zum systematischen (und tatsächlichen) Regelfall für den Erlass eines Gesetzgebungsaktes.449 bb) Legitimationsfaktor: Transparenz Überdies gestaltet der Vertrag die Entscheidungsverfahren innerhalb der Organe, sofern es um die Annahme eines Gesetzgebungsaktes geht, besonders transparent aus und verknüpft so einen weiteren Legitimationsfaktor mit der Kategorie der Gesetz­gebungsakte. Während das Parlament, eben weil es ein Parlament ist, sich schon immer durch verhältnismäßig transparente und öffentliche Entscheidungsstrukturen auszeichnete, war das Entscheidungsverfahren im Rat bislang insofern defizitär. Bis in die jüngste Vergangenheit war der Ausschluss der Öffentlichkeit bei Ratsentscheidungen die Regel, die Möglichkeit offener Sitzungen hingegen nur als Ausnahme vorgesehen.450 Lediglich Art. 207 EGV schuf eine gewisse Transparenz im Entscheidungsverfahren des Rates, wenn dieser gesetzgeberisch tätig wurde. Der Lissabon-Vertrag ist dieses Defizit angegangen. Art. 16 Abs. 8 EUVn bestimmt, dass der Rat öffentlich tagt, wenn er Entwürfe zu Gesetzgebungsakten berät und abstimmt.451 Diese Änderung ist im Hinblick auf ihr Potential, die bisher teilweise praktizierte „völlige Verwischung der Verantwortlichkeit“ zu vermeiden, nicht zu unterschätzen: Müssen die nationalen Regierungen in Zukunft doch für ihr Stimmverhalten im Rat geradestehen. Das ermöglicht überhaupt erst die demokratische Kontrolle in den Mitgliedstaaten.452 Wichtig ist, dass diese Absicherung demokratischer Legitimation wiederum an die Kategorie des Gesetzgebungsaktes geknüpft ist.

448

Piris, The Lisbon Treaty, S. 114 f., 118. Oeter, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 107; das relative Ausmaß der Nichtbeteiligung des Parlaments nimmt erheblich ab: Maurer, integration 2003, 440 (451). 450 Vgl. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 109. 451 Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761 (1766). 452 Oeter, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 73 (110), allerdings mit dem Hinweis darauf, dass hierdurch zugleich die Kompromissfindung im Rat erschwert werden könnte. 449

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cc) Legitimationsfaktor: Beteiligung nationaler Parlamente Die demokratische Dignität des Gesetzgebungsaktes wird zuletzt durch die Beteiligung eines weiteren Demokratieträgers unterstrichen: Die nationalen Parlamente nehmen, wie nicht zuletzt das BVerfG in seinem Lissabon-Urteil betont hat453, eine wichtige Rolle bei der Herstellung des erforderlichen demokratischen Niveaus wahr. Der Lissabon-Vertrag hat die Rolle der nationalen Parlamente gestärkt.454 Sie werden jetzt erstmals in das Verfahren der Rechtserzeugung in formalisierter Weise mit einbezogen. Und wiederum knüpft die formalisierte Beteiligung der nationalen Parlamente an den Erlass von Gesetzgebungsakten an und gilt nicht für Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. Gemäß Art. 12 lit. a EUVn werden den Parlamenten die Entwürfe zu Gesetzgebungsakten zugeleitet.455 Auch Art.  12 lit.  b bzw. das diese Bestimmung umsetzende Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit kommt nur zu Anwendung, wenn es um Gesetzgebungsakte geht.456 Die durch den Lissabon-Vertrag bewirkte bessere Einbindung der nationalen Parlamente setzt somit ebenfalls dort an, wo demokratische sachlich-inhaltliche Legitimation das entscheidende Qualitätsmerkmal des Unionshandelns ist: Beim Erlass von Gesetzgebungsakten. Auch insoweit werden Gesetzgebungsakte in besonderem Maß mit demokratischen Legitimationsfaktoren verknüpft.457

453

BVerfG, Urt. v. 30.6.2009, 2 BvE 2/08 = BVerfGE 123, 267(371). Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art 12 Rn. 2 f.; krit. Mayer, ­ZaöRV 67 (2007), 1141 (1173 f.), der die bessere Einbindung der nationalen Parlamente weniger als Mittel zur verbesserten demokratischen Abstützung als vielmehr als „zusätzliche Blockademöglichkeit“ sieht. 455 Ergänzt wird diese Vorschrift durch das Protokoll (Nr. 1) über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union, s. Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 12 EUV Rn. 13. De facto hat die Kommission bereits seit September 2006 von sich aus Entwürfe über Rechtsakte an die nationalen Parlamente weitergeleitet, Groh, in: Fastenrath/Nowak, Der Lissabonner Reformvertrag, S. (77), 81 f.  456 Art. 3 und 4 Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit; s. dazu Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (551); zusammenfassend zum Frühwarnsystem, das nun auch eine ex ante Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips ermöglicht, Papier, in: Pernice, Europa neu verfasst ohne Verfassung, S. 35 (30 f.): „wenig praktikabel“. Krit. zur Beschränkung des Protokolls auf Gesetzgebungsakte, zumal angesichts ihres engen Konzepts aufgrund der neuen rein formalen Definition, ­Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 36. 457 Dies gilt unabhängig davon, dass die Effizienz der Kontrolle, die die Parlamente realistischerweise leisten können, wohl weiterhin begrenzt sein wird, vgl. Dann, in: von Bogdandy/ Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 335 (381 f.). 454

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c) Legitimatorischer Hintergrund der rein formellen Definition des Gesetzgebungsakts: Betonung des Input-orientierten Legitimationsmodells Bei der Definition des Gesetzgebungsakts springt dessen formaler Charakter ins Auge. Art.  289 Abs.  3 AEUV bestimmt, dass Rechtsakte, die gemäß einem Gesetzgebungsverfahren angenommen werden, Gesetzgebungsakte sind. Weitere Definitionsmerkmale formuliert die Vorschrift nicht. Die Definition des Gesetz­ gebungsaktes beschränkt sich damit auf das einschlägige Verfahren und mittelbar auf die zuständigen Erlassorgane als Kriterien dafür, ob eine Handlung als Gesetzgebungsakt zu qualifizieren ist. Der Verfassungsvertrag hatte noch ein subtiles materielles Element zur Definition des Gesetzgebungsaktes enthalten.458 Indem er die Handlungsformen, in denen ein Gesetzgebungsakt ergehen konnte, auf Gesetz und Rahmengesetz beschränkte, war den Gesetzgebungsorganen der Erlass eines konkret-individuellen Rechtsaktes versagt: Gesetz und Rahmengesetz waren als Handlungsformen auf Regelungen mit allgemeiner Geltung festgelegt (s. Art. I-33 Abs. 1 UAbs. 2 und 3). Für individuelle Rechtsakte war die Handlungsform des Beschlusses vorgesehen; der Beschluss war jedoch der Kategorie der Rechtsakte ohne Gesetzescharakter vorbehalten (Art. I-33 Abs. 1 UAbs. 5). Der Vertrag von Lissabon, der darauf verzichtet, den beiden Ebenen des Gesetzgebungsaktes und des Rechts­aktes ohne Gesetzescharakter jeweils verschiedene Handlungsformen ausschließlich zuzuweisen, enthält diese subtile materielle Komponente hingegen nicht mehr.459 Ein eher unscheinbares Merkmal könnte im Vertrag von Lissabon so verstanden werden, als beschränke es die Definition des Gesetzgebungsaktes auch nach materiellen Kriterien. Art. 290 AEUV gestattet nur, die Kommission zum Erlass eines delegierten Rechtsaktes mit allgemeiner Geltung zu ermächtigen.460 Man könnte versucht sein zu folgern, dass der ermächtigende Gesetzgebungsakt dann erst recht von allgemeiner Geltung sein müsse und daher auf materielle Gesetzgebung beschränkt sei. Es ist indes zweifelhaft, ob dieses Argument für die Gesamtheit aller Gesetzgebungsakte, also auch solcher, die nicht gemäß Art. 290 AEUV Befugnisse an die Kommission delegieren, fruchtbar gemacht werden kann. Es liegt näher, die Bedeutung dieser Beschränkung in Art. 290 AEUV auf Rechtsakte mit allgemeiner Geltung im Verhältnis von Art. 290 und Art. 291 AEUV zu suchen461: Während Art. 291 AEUV den Erlass konkret-individueller Regelungen ebenso wie Maßnah 458

Schütze, Shapening the Separation of Powers through  a Hierarchy of Norms?, EIPA ­Working Paper 2005/W/01, S.11. 459 Nach dem Lissabonner Vertrag haben die Rechtsetzungsorgane also insbesondere die Möglichkeit, adressatenlose Beschlüsse mit Gesetzescharakter zu erlassen, „eine nützliche Option, die ihnen der Verfassungsvertrag noch versagten wollte“, Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (547). 460 Hofmann, ELJ 2009, 482 (488). 461 Hofmann, ELJ 2009, 482 (488).

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men von allgemeiner Natur erfasst462, sind delegierte Rechtsakte als quasi-legislative Rechtsakte auf allgemeine Regelungen beschränkt. Eine Ermächtigung der Kommission zum Erlass eines Einzelaktes ist demnach nur auf der Grundlage von Art. 291 AEUV möglich. Die Formulierung, dass die wesentlichen Aspekte eines Bereichs dem Gesetzgebungsakt vorbehalten sein müssen, bedeutet ebenfalls nicht, dass einem Rechtsakt, der in einem Gesetzgebungsverfahren ergangen ist, aber nur Unwesentliches regelt, die Bezeichnung als Gesetzgebungsakt versagt werden müsste. Die Bezeichnung „Gesetzgebungsakt“ verdient sich ein Rechtsakt nicht aufgrund seines ausschließlich „wesentlichen“ Inhalts. Die begrenzende Wirkung des Wesentlichkeitskriteriums greift nur in eine Richtung: Der Gesetzgebungsakt darf sich der Regelung des Wesentlichen nicht durch eine Delegation entziehen.463 Das Wesentlichkeitskriterium bedeutet aber nicht umgekehrt, dass Rat und Parlament Unwesentliches nicht regeln dürften, und hinsichtlich unwesentlicher Elemente eines Bereichs stets zum Mittel der Delegation greifen müssten.464 Die Wesentlichkeit statuiert nur einen Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes, erlaubt aber nicht den Umkehrschluss hin zu einem Vorbehalt des delegierten Rechtsaktes für unwesent­liche Aspekte.465 Der Verzicht auf ein materielles Kriterium entsprach nicht von Anfang an dem allgemeinen Stimmungsbild.466 Koen Lenaerts, der als Sachverständiger zur Frage der Neuregelung der Rechtsakte in der Working Group IX angehört wurde, sprach

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s. unten § 4 C. II. Das Wesentlichkeitskriterium wird nur dann zu einem materiellen Merkmal der Defi­ nition des Gesetzgebungsaktes, wenn man es als Minimuminhalt eines jeden Gesetzgebungsaktes versteht, vgl. Hofmann, ELJ 2009, 482 (488). Präziser ist es aber insoweit, dies nicht als Bestandteil der Definition des Gesetzgebungsaktes zu bezeichnen: Vielmehr handelt es sich um eine Rechtmäßigkeitsanforderung im Zusammenhang mit der Delegation. Ein Gesetzgebungsakt, der zuviel delegiert und damit nicht „das Wesentliche“ regelt, ist rechtswidrig. Ein Gesetzgebungsakt, der nichts delegiert, aber dennoch nur Unwesentliches regelt, ist nicht rechtswidrig, aber ggfs. wenig zweckmäßig. 464 Vgl. auch Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 8 f. 465 Im deutschen Verfassungsrecht vertritt etwa Ossenbühl, HStR III, 2.  Aufl. 1996, § 64 Rn. 16 ausgehend von der Wesentlichkeitstheorie, dass die Exekutive das Nicht-Wesentliche auch ohne eine Ermächtigung des Gesetzgebers regeln dürfe. Auch diese Ansicht schließt daraus aber nicht, dass die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers auf die wesentlichen Elemente einer Materie beschränkt sei. 466 Einen Überblick über die – seit Jahren geführte – Diskussion über formelle oder materielle Kriterien für das Konzept eines gemeinschaftsrechtlichen Gesetzes, s. Hofmann, Normenhierarchien, S. 120 ff. So plädierte das EP eher für eine rein formale Definition, während die Kommission auch dafür eintrat, durch materielle Kriterien einen grundsätzlich maximal zu­lässigen Regelungsgehalt des Gesetzes festzulegen. Zu Argumenten gegen eine materielle Definition des Gesetzes, die das Gesetz auf die Regelung von „Grundsätzen und Leitlinien“ beschränken will, s. Hofmann, a. a. O., S. 159 ff. 463

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sich für eine zweigliedrige, an materiellen und formellen Gesichtspunkten orientierte Definition des Gesetzgebungsaktes aus: Gesetzgebungsakte sollten solche Rechtsakte sein, welche die „basic policy choices“ enthalten und im Verfahren der Mitentscheidung ergehen.467 Der Gesetzgeber sollte also auf die wesentlichen Aspekte beschränkt werden und im Übrigen delegieren müssen. Mit Details sollte sich der Gesetzgeber also gar nicht beschäftigen dürfen468. Dies hätte zugleich eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips zur Folge: Da nur die basic policy choices einer Maßnahme durch den Gesetzgebungsakt erfolgen, wäre der Bereich der nationalen Durchführungskompetenzen automatisch erweitert.469 In der Folge teilte die Mehrzahl der Mitglieder der Working Group IX diesen Standpunkt und befürwortete „that the concept of legislation should be defined by content and not by adoption procedure.“470 Dennoch wurde letztendlich doch eine rein formale Definition des Gesetz­ gebungsaktes gewählt. Welche Bedeutung ist dem beizumessen? Die rein formale Definition des Gesetzgebungsaktes betont das oben dargestellte Legitimationskonzept der Union. Es versteht demokratische Legitimation als eine Form staatlicher Legitimation zu recht primär als Frage des legitimationsstiftenden Inputs, also der hinreichenden Einflussmöglichkeiten der regierten Bürger auf die Entscheidungsfindung.471 Der Gedanke der Output-Legitimation wird dem­ gegenüber weniger betont. Die analytische Unterscheidung zwischen Input- und dem Gegenbegriff der Output-Legitimation hat auf europäischer Ebene Scharpf eingeführt.472 Sie lässt sich mit dem Bonmot Lincolns grob umreißen: Input-Legitimation bedeutet „government by the people“, Output-Legitimation „government for the people“. Ähnlich bekannt sind die von der Lehre Rousseaus geprägten Gegenstücke des „volonté de tous“ und „volonté générale“. Während bisweilen versucht wurde, beide Kategorien lediglich als unterschiedliche Facetten demokratischer Legitimation zu deuten473, setzt demokratische Legitimation richtigerweise 467 CONV 363/02, S. 3. Lenaerts stand zu dieser Meinung auch außerhalb des Konvents, s. Lenaerts/Desomer, in: de Witte, Ten Reflections on the Constitutional Treaty, S. 110–1 (Abrufbar unter http://www.iue.it/RSCAS/e-texts/200304–10RefConsTreaty.pdf); s. auch die Darstellung bei Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 13 f. 468 Vgl. schon zu solchen Erwägungen auf Grundlage von Art. 202 EGV Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (661). 469 Vgl. Hofmann, Normenhierarchien, S. 45 mit Kritik auf S. 159 ff. 470 Europäisches Konvent, WD 13 vom 6. November 2002; s. dazu Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 14. 471 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 10 EUV Rn. 11. 472 Scharpf, Governing in Europe, S. 7 ff. (input), 10 ff. (output); s. die kritische Zusammenfassung und Auseinandersetzung mit der Theorie Scharpfs bei Rumler-Korinek, EuR 2003, 327(328 ff.); s. auch Verbruggen, ELJ 2009. 425 (431 f.); Nettesheim, in: Bauer/Huber/Sommermann, Demokratie in Europa, S. 143 (180 ff.). 473 Ähnliche Kritik bei Möllers, Gewaltengliederung, S. 37 f.

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erst einmal ausschließlich demokratischen Input voraus. Das Staatsmodell der Demokratie ist gerade der Erkenntnis geschuldet, dass sich „das Gemeinwohl“ nicht nach objektiven Kriterien abstrakt bestimmen lässt.474 Die Vorstellung eines richtigen und unpolitischen Expertenwissens ist mit Recht in der Wissenschaftstheorie deutlich auf dem Rückzug.475 Gemeinwohlorientiertes Regieren (Output) lässt sich nur gewährleisten durch einen demokratischen Input.476 Es besteht ein Primat der Input-orientierten Legitimation. Input-Legitimation ist gewährleistet, wenn die Regierten hinreichende Einflussmöglichkeiten auf die Entscheidungsfindung haben. Dies lässt sich naturgemäß primär durch entsprechende Verfahrensvorkehrungen erreichen. Der Input-Legitimation ist deshalb eine gewisse Formalität immanent. Die formale Definition des Gesetzgebungsakts des Art. 289 AEUV setzt diese Erkenntnis um. Seinen Zweck, demokratische Legitimation zu vermitteln, kann der Gesetzgebungsakt am besten durch seine formalen Eigenschaften erfüllen. Deshalb bündelt die Definition des Art. 289 Abs. 3 AEUV verschiedenen Legitimationsfaktoren, deshalb beschränkt sie sich auf formelle Kriterien: Die beiden Träger des europäischen Legitimationsmodells sind immer (zumindest in irgendeiner Weise477) am Erlass eines Gesetzgebungsaktes beteiligt, darüber hinaus sind weitere formale Legitimationsfaktoren an den Erlass eines Gesetzgebungsaktes geknüpft.478 Der Verzicht auf ein materielles Kriterium bringt demgegenüber die kritische Distanz des Vertrages gegenüber anderen, eher Output-orientierten Legitimations­ faktoren zum Ausdruck: Der Vertrag konzentriert sich auf die Input-Legitimation. Er anerkennt zwar in gewissem Umfang die legitimatorischen Vorzüge der Rechtsetzung durch die Kommission und lässt sie deshalb zu. Rechtsetzung durch die Kommission zeichnet sich weniger durch ihren Input, als durch ihren Output aus. Sie ist schneller, flexibler, sachnäher.479 Dafür bestehen aber nur geringe Einflussmöglichkeiten für die Bürger. Der Vertrag erlaubt der Kommissionsrechtsetzung, aufgrund einer entsprechenden Ermächtigung durch den Gesetzgeber die „unwesentliche Aspekte“ eines Bereiches zu regeln. Der Vertrag verpflichtet die Kommission aber nicht, das Unwesentliche zu regeln, und er verbietet es dem Gesetzgeber nicht, sich mit Unwesentlichem zu befassen und von der Delegationsmöglichkeit keinen Gebrauch zu machen. Die Delegation ist immer freiwillig. Neben dem „kann“ in Art. 290 Abs. 1 AEUV, das die Delegation ersichtlich in das Ermessen des Gesetzgebers stellt, beweist gerade der Verzicht auf ein materielles Kriterium, dass der Gesetzgeber grundsätzlich frei ist, auch das Unwesent­ 474

Vgl. Bleckmann, JZ 2001, 53 (57); Verbruggen, ELJ 2009, 425 (431 f.). So ausdrücklich Möllers, Gewaltengliederung, S. 122, m. w. N. in Fn. 154. 476 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der EU, Art. 10 Rn. 11. 477 Zu Defiziten aufgrund der bisweilen einschlägigen besonderen Gesetzgebungsverfahren, s. unten § 7 A. II. 1. 478 Dazu s. schon oben § 2 C. III. 2. b). 479 Zum Leistungsprofil der abgeleiteten Rechtsetzung der Kommission s. noch unten § 2 D. I. 2.  475

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liche selbst zu regeln. Verstünde der Vertrag Rechtsakte als Gesetzgebungsakte, die das Wesentliche regeln, so lägen Regelungen zum „Unwesentlichen“ außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Gesetzgeber. Es bestünde dann (wohl) eine Pflicht zur Delegation bzw. eine originäre Zuständigkeit der Kommission zur Regelung des Unwesentlichen. Demgegenüber ist der Gesetzgeber aufgrund der tatsächlich gewählten Regelung völlig frei, ob und in welchem Umfang er von der Möglichkeit der Delegation Gebrauch machen möchte oder ob er Unwesentliches lieber selbst regeln möchte. Damit erfährt das europäische Demokratiemodell, wie es in Art. 10 EUVn nun ausdrücklich konzipiert ist, eine Bestätigung. Als Quellen demokratischer Legitimation erkennt der Vertrag von Lissabon nur Rat und Parlament an. Weitere Legitimationsfaktoren sind die Bürgerbeteiligung (Art. 11 EUVn) und die Beteiligung der nationalen Parlamente (Art. 12 EUVn), die nur für den Erlass von Gesetzgebungsakten vorgesehen ist. Die Gesetzgebung durch Rat und Parlament ist damit getragen durch das europäische Legitimationskonzept. Dieses gilt nicht für die abgeleitete, Output-betonte Rechtsetzung durch die Kommission: Sie ist nicht Bestandteil des europäischen Konzepts demokratischer Legitimation.480 Deshalb folgt die Zulässigkeit abgeleiteter Kommissionsrechtsetzung allein aus ihrer Zulassung in den Verträgen. Delegierte Rechtsetzung durch die Kommission ist hingegen kein Gebot des allgemeinen europäischen Demokratieprinzips.481 Dessen Schwerpunkt liegt damit deutlich auf dem Gedanken der Input-Legitimation. Deshalb beschränkt sich der Vertrag darauf, einen bestimmten delegations­festen Bereich zu bestimmen, dessen sich der Gesetzgeber annehmen muss; verzichtet aber zugleich darauf, einen Bereich zu normieren, der einer Regelung durch den Gesetzgeber entzogen ist und in dem etwa eine Pflicht zur Delegation besteht. 3. Delegation als Legitimationsverzicht und Wesentlichkeit als formeller Gesetzesvorbehalt Der Gesetzgebungsakt ist als Träger sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation konzipiert: Sein Erlass ist zwingend mit unterschiedlichen Legitimationsfaktoren verknüpft und zeichnet sich daher – unbeschadet aller noch zu behandelnden Defizite  – zumindest durch ein garantiertes Mindestmaß an demokratischer Legitimation vor allen anderen Rechtsakten aus. Diese Legitimationsfaktoren zielen auf die Herstellung eines erhöhten Maßes an demokratischer Öffentlichkeit und Transparenz.482 Sie greifen nicht, wenn die Kommission aufgrund einer Ermächti 480

Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (55). Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (55). 482 Diese Funktion erhöhter öffentlicher Kontrolle gesteht dem Gesetzgebungsakt auch zu der im Übrigen gegenüber dem Konzept des Gesetzgebungsakts kritisch eingestellte Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (551 f.). 481

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gung nach Art. 290 AEUV einen delegierten Rechtsakt erlässt. Die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen gemäß Art.  290 AEUV, die nur in Gesetzgebungsakten ausgesprochen werden darf, bewirkt deshalb zwingend ein Absinken des sachlich-inhaltlichen demokratischen Legitimationsniveaus; die Delegation ist als Legitimationsverzicht konzipiert.483 Das Kriterium der Wesentlichkeit beschreibt die Grenze zwischen delegationsfesten Materien und solchen, bei denen die Gesetzgeber durch die Delegation auf das gesetzgeberische Legitimationsniveau verzichten können. Es übernimmt damit die Funktion, den konkreten Bereich zu benennen, der dem Gesetzgebungsakt vorbehalten ist und spricht für diesen Bereich aus demokratisch-legitimatorischen Gründen ein Delegationsverbot aus: Die Wesentlichkeit übernimmt damit die Funktionen eines formellen Gesetzesvorbehalts.

D. Neubestimmung der Wesentlichkeit: Respekt vor dem demokratischen Leistungsprofil des Gesetzgebungsaktes als Leitmotiv I. Erfordernis der Neubestimmung des Wesentlichkeitskriteriums Der EuGH arbeitete schon vor Lissabon mit dem Kriterium der Wesentlichkeit, um die Kompetenzen des Rates von den Durchführungsbefugnissen der Kommission abzugrenzen.484 Diese Abgrenzung verlief aber nicht parallel zu der Grenze zwischen  – aus demokratischen Gründen zwingend  – legislativer und exekutiver Rechtsetzung. Schlichtweg weil es keine „legislativen“ Rechtsakte von höherer demokratischer Dignität gab. Der Durchführungsbefugnisse übertragende Basisrechtsakt war nicht als Träger sachlich-inhaltlicher Legitimation konzipiert und konnte nicht die Funktion eines formellen Gesetzes einnehmen. Zweck des Wesentlichkeitskriteriums konnte daher nicht sein, aus demokratischen Gründen den Regelungsbereich des Basisrechtsaktes und den Aufgabenbestand der „gesetzgebenden Organe“ besonders zu schützen: Die den Basisrechtsakt erlassenden Organe waren vom Vertrag nicht als gesetzgebende Organe eingesetzt wie auf staatlicher Ebene; die Verträge bis Lissabon verlangten nicht, dem Basisrechtsakt demokratisch veranlassten Respekt entgegenzubringen.485 Zweck des Wesentlich 483 Das Legitimationskonzept, von dem der Gesetzgebungsakt getragen wird, leidet an Defiziten. Diese ändern indes nichts daran, dass die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen gemäß Art. 290 AEUV als ein Absinken im Legitimationsniveau konzipiert ist. Nur darum geht es an dieser Stelle. Ob der Gesetzgebungsakt insgesamt seine Stellung als „formelles Gesetz“ im Gefüge der unionalen Rechtsakte behaupten kann oder ob Inkonsistenzen das Konzept zu sehr verwischen, wird ausführlich unten unter § 7 behandelt. 484 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 196 sieht zumindest in Ansätzen einen richterrechtlich geprägten Gesetzesvorbehalt durch die Entscheidung EuGH Rs. C-66/04 (Raucharomen), Slg. 2005, I-10553 m. Anm. Ohler, JZ 2006, 359 (361 f.). 485 Möllers, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 293 (301).

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keitskriteriums war demnach nur zu vermeiden, dass das primärrechtlich vorgesehene Verfahren unterlaufen und durch zu weitreichende Befugnisübertragungen ausgehöhlt wurde.486 Anders gewendet: Hinter der Unterscheidung Basisrechtsakt – Durchführungsakt stand nicht das Demokratieprinzip, sondern der Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts sowie Gesichtspunkte der Funktionalität. Daher konnten vor allem funktionelle Kriterien zur Abgrenzung zwischen „legislativem“ Vorbehalts- und delegierbarem Regelungsbereich herangezogen werden. Entsprechenden Inhalt hatte das von der Rechtsprechung entwickelte Wesentlichkeitskriterium: Es war keine demokratisch fundierte Delegationsgrenze.487 Aus dem Blickwinkel des Gemeinschaftsrecht stellte eine Regelung durch die Kommission keine Durchbrechung eines – so auf europäischer Ebene nicht verwirklichten – Gewaltentrennungsgebots dar; vielmehr fanden weitgehende Regelungen durch die Kommission Zuspruch: Ist doch die Kommission aus einer Integrationsperspektive „vertrauenswürdiger“ als der Rat.488 Die Rolle der Kommission als Motor der Integration (und damit ein Gesichtspunkt institutionell-funktioneller Legitimität) stand daher eher im Vordergrund als die – bis Lissabon eben noch nicht hinreichend ausgeprägte Rolle – von Rat und Europäischem Parlament als Gesetzgeber und Vermittler demokratischer Legitimation. Der EuGH verwendete das Wesentlichkeitskriterium daher vorzugsweise, um eine funktionsgerechte Zuweisung der Entscheidungsgewalt an die Organe sowie die effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.489 Dieser verfassungsrechtliche Hintergrund hat sich geändert; entsprechend ist das Scharnier der Wesentlichkeit neu auszurichten. Die Ebene der Gesetzgebungsakte ist systematisch mit bestimmten Legitimationsfaktoren verknüpft. Weil nur Gesetzgebungsakte eine Delegation anordnen können, bewirkt jede Delegation einen Legitimationsverzicht. An diesem automatisch durch eine Delegation bewirkten Legitimationsverzicht muss sich das Kriterium der Wesentlichkeit (zumindest auch490) orientieren. Die Grenzen des Vorbehaltsbereichs müssen unter Berücksichtigung der neuen besonderen Legitimationsleistung des Gesetzgebungs­aktes 486

Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 11. Der EuGH hob keinen Sekundärrechtsakt wegen eines zu weiten, der Kommission zu großen Spielraum gebenden Ermächtigungstatbestandes auf, Möllers, Gewaltengliederung, S. 283; das galt bis einschließlich 2010, s. Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (49). 488 Möllers, Gewaltengliederung S. 283. 489 Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 178 f. 490 Damit ist nicht gesagt, dass die demokratische Dignität des Gesetzgebungsakts die einzige Leitschnur für die Bestimmung des Wesentlichkeitsvorbehalts ist, krit. zu einer solchen „bi­ polaren Skala“ Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 290 Rn. 26. Vielmehr wird hier dafür plädiert, in den Strauß von Kriterien, der für die Bestimmung des wesentlichen Bereiches heranzuziehen ist, die demokratische Bedeutung, die die Verträge dem Gesetzgebungsakt positiv beimessen, aufzunehmen. Daraus folgt nicht, dass die delegierten Rechtsakte der Kommission gegenüber Gesetzgebungsakten grundsätzlich „defizitär“ seien. Sie sind nur  – anders als die Gesetzgebungsakte  – nicht Ausfluss des konzeptionell Inputorientierten Demokratiemodells der EU, wie es der Lissabon-Vertrag positiviert hat. 487

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neu gezogen werden.491 Deshalb geht es fehl, für die Definition des Wesentlichen alte Entscheidungen des EuGH heranzuziehen492 und dementsprechend für „unwesentlich“ nur solche Bestimmungen zu halten, mit denen nicht „grundsätzliche Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitik umgesetzt werden493“. Das Kriterium der Wesentlichkeit bedarf vielmehr einer Neubestimmung; das – entscheidende – Kriterium bei der Bestimmung dessen, was wesentlich ist, muss der Respekt vor dem demokratischen Leistungsprofil des Gesetzgebungsakts im Verhältnis zum de­legierten Rechtsakt sein.494 1. Leistungsprofil des Gesetzgebungsaktes als formelles Gesetz: Herstellung politischer Öffentlichkeit Ausgangspunkt der Bestimmung des Bereichs der Wesentlichkeit ist deshalb die Frage danach, welchen Sachbereichen die nur an den Erlass eines Gesetz­ gebungsaktes geknüpften Legitimationsfaktoren besonders nutzen. Die demokratischen Legitimationsfaktoren stellen ein besonderes Maß an politischer Öffentlichkeit her. In diesem so geschaffenen Lichte der Öffentlichkeit sollten politische Fragen diskutiert werden, die den Betätigungen des Einzelnen den Rahmen setzen; rein technische Fragen hingegen profitieren von allzu großer Öffentlichkeit nicht.495 Ganz grundsätzlich hat Möllers überzeugend herausgearbeitet, dass politische Fragen solche sind, bei denen die Abgrenzung individueller Freiheitssphären zur Entscheidung steht: Allein der Gesetzgeber ist zu dieser Abgrenzung von Freiheitssphären legitimiert; dies ist seine „zentrale Funktion“.496 Die Wertschätzung gegenüber der demokratischen Dignität des formellen Gesetzes führt damit ironischerweise zu einem grundrechtsbezogenen Gesetzesvorbehalt.497 Im deutschen 491 Gärditz, DÖV 2010, 453 7456); Nettesheim, EuR 2006, 737 (772) äußerte die Erwartung, dass der Gesichtspunkt des Respekts vor der parlamentarisch-demokratischen Entscheidung an Gewicht gewinnen wird, im Hinblick auf den Verfassungsvertrag. s. auch Hofmann, A Critical Analysis of the new Typology of Acts in the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, EIoP Vol. 7 (2003) No. 9, S. 9. (ebenfalls für den Verfassungsvertrag). 492 Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (212); wohl auch Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 47 (48); Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 195, äußert die Erwartung, dass der EuGH an seine alte Rechtsprechung wird anknüpfen wollen, plädiert aber dennoch für eine Neubestimmung der Wesentlichkeit unter Berücksichtigung der Grundrechtsrelevanz. 493 So die Definition in EuGH, Rs. C-240/90 (Deutschland/Kommission), Slg. 2002, I-5383. 494 Krit. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 290 AEUV Rn. 26. 495 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 202 f.; Schmolke, EuR 2006, 432 (444). 496 Möllers, Gewaltengliederung, S.  181 ff.; ders., Die drei Gewalten, S.  128 und S.  71 ff. mit Verweis auf BVerfG 20, 150 (158), wo es heißt: „Der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Gewaltenteilung … gebietet, daß der Gesetzgeber im Bereich der Grundrechtsausübung die der staatlichen Eingriffsmöglichkeit offenliegende Rechtssphäre selbst abgrenzt und dies nicht dem Ermessen der Verwaltungsbehörde überläßt.“ (Hervorhebung durch Verf.) 497 Möllers, Gewaltengliederung, S. 188.

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Recht wird deshalb die „Wesentlichkeit“ im Zusammenhang mit Art.  80 Abs. 1 GG, die ebenfalls über die Zuordnung von wichtigen Regelungsmaterien zu einer demokratisch hochwertigen Regelungsform bestimmt, primär als „wesentlich für die Grundrechtsausübung“ verstanden.498 Die Delegationsgrenze des Art.  290 AEUV baut nun gleichfalls auf dem Respekt vor einer demokratisch-legitimatorisch höherwertigen Regelungsform auf. Der Wesentlichkeitsvorbehalt des Art. 290 AEUV ist demokratisch fundiert, weil er wichtige Regelungen nicht irgendeinem Basisrechtsakt vorbehält, sondern dem Gesetzgebungsakt, der nach der Konzeption des Vertrages systematisch mit Legitimationsfaktoren verknüpft ist. Für den Wesentlichkeitsvorbehalt muss daher anders als früher gelten: Fragen des Grundrechtsschutzes, also der Ausgleich verschiedener individueller Grundrechtspositionen, müssen zum sicheren Bestand des als „wesentlich“ dem Gesetzgeber vorbehaltenen Regelungsbereich gehören.499 Das Kriterium der Grundrechtsrelevanz entspricht dabei nicht nur dem legitimatorischen Leistungsprofil der Legislative, die jedenfalls im Rahmen des Art. 290 AEUV nun klar als solche konzipiert ist500, sondern bietet innerhalb des insgesamt unsicheren Konzepts der Wesentlichkeit ein immerhin einigermaßen griffiges Abgrenzungskriterium. Demnach ist – jedenfalls für die Rechtslage nach Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags501 – zu fordern, dass in Zukunft angesichts der Rolle des Gesetzgebungsakts als Träger demokratischer Legitimation die Grundrechtsrelevanz ein entscheidendes Kriterium für die Bestimmung des legislativen Vorbehaltsbereichs spielen sollte.502 Dieses Ergebnis lässt sich überdies in die bereits angedeutete Entwicklung einfügen, die das Europarecht seit einigen Jahren zunehmend eingeschlagen hat. Während früher die politischen Grundentscheidungen schon primärrechtlich vorgezeichnet waren und die Gemeinschaftsorgane lediglich den vorwiegend rein öko-

498 Zum „deutschen“ Wesentlichkeitsvorbehalt s. grundlegend Möllers, Gewaltengliederung, S. 186 ff. mit Nachweisen auf die Literatur und Rechtsprechung, die hier leider nicht umfassend wiedergegeben werden kann. 499 Für die Grundrechtsrelevanz als Kriterium für die Bestimmung des als wesentlich dem Gesetzgeber vorbehaltenen Bereichs wohl auch Hetmeier, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 290 Rn. 14; vgl. auch zu dieser Funktion eines europäischen Gesetzesvorbehalts auch Hofmann, Normenhierarchien, S. 157. 500 Ob die Funktion der Gesetzgebung und des Gesetzgebungsaktes als Träger sachlich-inhaltlicher Legitimation auch in der Gesamtsystematik der Verträge hinreichend konsequent verwirklicht ist, wird unten in § 7 behandelt. 501 GA Kokott versuchte diesen Gedanken im Urteil Raucharomen bereits vor Lissabon fruchtbar zu machen, s. GA Kokott, Schlussanträge in der Rs. C-66/04 (Raucharomen), Slg. 2005, I-10553 Rn.  54 ff.; dazu Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 183 f. 502 Ebenso Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 64; schon vor dem Lissabon-Vertrag war diese Forderung verbreitet, s. Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 195; Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte, S. 154 ff.; Möllers, Gewaltengliederung, S. 283.

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nomischen Verbandszielen verpflichtet waren503, legten die Verträge spätestens seit Beginn der neunziger Jahre politische Richtungsentscheidungen in die Hände der europäischen Organe. Anstatt vorrangig politisch bereits vorgegebene Zielvorstellungen lediglich nachzuzeichnen, mussten die rechtsetzenden Organe zunehmend eigene politische Konzepte entwerfen. Zugleich wurde (spätestens nach Maastricht und Amsterdam) die „ökonomische Engführung der Verfassungsziele“504 verlassen; die Gemeinschaftsziele wurden um individuelle Aspekte wie Gleichberechtigung und sozialen Schutz ergänzt. Diese Entwicklungen veränderten den Bezugspunkt der Entscheidungen der europäischen Organe. Als Organe einer nun politischen und nicht mehr nur ökonomischen Gemeinschaft musste es ihnen zunehmend (auch) darum gehen, verschiedenartige kollidierende Ziele und Interessen zu einem Ausgleich zu bringen. Weil die Union dabei immer mehr Entscheidungen treffen durfte, die den Einzelnen unmittelbar berührten, musste der Einzelne bei der Entscheidungsfindung immer mehr in den Blick genommen werden.505 Dieser (zunehmenden) Ausrichtung der europäischen Gesetzgebung auf den Einzelnen entspricht im Rahmen des Art. 290 AEUV ein primär an der Freiheitssphäre des Individuums orientierter Vorbehaltsbereich.506 2. Leistungsprofil des abgeleiteten Rechtsaktes: Flexibilität und Entlastung des Gesetzgebers Ein zweites Kriterium zur Bestimmung des als wesentlich dem Gesetzgebungs­ akt vorbehaltenen Bereichs lässt sich aus dem davon zu unterscheidenden Leistungsprofil der exekutiven Rechtsetzung durch die Kommission ableiten.507 Die untergesetzliche Gesetzgebung verfügt über eigene „originäre Legitimationsres­ sourcen“508, die den Verlust an demokratischer Legitimation jedenfalls in gewissem Maße ausgleichen können. Sie ist keine „minderwertige Form“ der Rechtsetzung, sondern stillt bestimmte Bedürfnisse, welche die formelle Gesetzgebung allein nicht befriedigen könnte. Primärer Zweck abgeleiteter Rechtsetzung und so der delegierten Rechtsetzung gemäß Art. 290 AEUV ist ihre Fähigkeit, Recht flexibel zur Geltung zu bringen. Die Komplexität der politischen und gesellschaft­lichen 503 Hummer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 19 (46 f.): Das Verbandsrecht der Europäischen Gemeinschaft war primär als Funktionenordnung zur Verwirklichung der ökonomischen Verbandsziele konzipiert und nicht als eine Ordnung, die dem Marktbürger den größtmöglichen individuellen Freiraum verschaffen wollte. 504 von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 24. 505 Vgl. dazu und zum Vorangegangenen Nettesheim, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 389 (394). 506 Vgl. Hofmann, Normenhierarchien, S. 157; dies passt auch gut zum Umstand, dass insgesamt der Vertrag von Lissabon den Einzelnen verstärkt in den Blick genommen hat und seine Position stärkt, s. Terhechte, EuR 2008, 143 (185 f.). 507 Dazu auch Schmolke, EuR 2006, 432 (444); Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, S. 154 ff. 508 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (53).

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV 

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Fragen erfordert es, bestimmte Entscheidungen aus dem eigentlichen Gesetzgebungsverfahren auszugliedern und in einem vereinfachten Verfahren zu treffen. Vereinfachte Entscheidungen lassen sich im Rahmen von delegierter Rechtsetzung, in der Regel durch die Exekutive, bewerkstelligen. Auf europäischer Ebene ist hierzu die Kommission berufen, die mit der Sachnähe ihrer Kommissare und ihren einfachen Entscheidungsstrukturen im Kollegium über beachtliches Flexibilitätspotential verfügt. Delegierte Rechtsetzung bietet neben größerer Flexibilität und der Möglichkeit, insbesondere technische Vorgaben an sich schnell ändernde Umstände anzupassen, die Chance, politisch bereits entschiedene Fragen vor dem wiederholten – grundsätzlich wichtigen, aber langwierigen und im Detail nur ermüdenden  – politischen Grabenkampf zu bewahren.509 „Detailfragen“ werden nicht mehr coram publico geklärt mit der Gefahr, dass bei jeder noch so kleinen Frage der politische Konflikt wieder aufbricht, sondern sie werden abseits vom politischen Prozess im Rahmen der in Gesetzesgebungsform getroffenen politischen Grundentscheidung entschieden. Dies entspricht der Rolle der Kommission als „Motor der Integration“, die allein dem Gemeinschaftsinteresse verpflichtet ist. Zudem weist die Kommission als tendenziell stärker expertokratisches Organ510 einen höheren Grad an Sachkenntnissen auf und kann sich aufgrund ihres Apparats besser in Spezialmaterien einarbeiten als Rat und Parlament. Sie ist damit eher geeignet, technische Details näher zu bestimmen. Diese Legitimations­ ressourcen abgeleiteter Rechtsetzung werden vielfach als Formen der OutputLegitimation beschrieben.511 Allerdings fungieren sie bei genauer Betrachtung nicht nur unter diesem Gesichtspunkt als Legitimationsressource. Paradoxerweise führt gerade der Weg, bestimmte Fragen dem demokratischen, aber gerade deshalb so komplizierten Gesetzgebungsverfahren zu entziehen, zu einer langfristig verbesserten Input-Legitimation512, die nach hier vertretener Ansicht allein über demokratische Entscheidungsverfahren zu erreichen ist: Nur weil der Gesetz­ geber sich nicht allen Fragen des Gemeinwesens widmen muss, ist er überhaupt in der Lage, seiner eigentlichen und unverzichtbaren Aufgabe, die gesellschaft­ lichen Grundentscheidungen zu treffen, tatsächlich nachzukommen. Indem man dem Gesetzgeber bestimmte Entscheidungsbefugnisse nimmt oder ihm zumindest gestattet, diese auf andere Stellen zu delegieren, bewahrt man insgesamt seine Handlungs­fähigkeit und schafft damit die Grundvoraussetzung dafür, dass 509 Vgl. schon Craig, Administrative Law, S. 104, der schon die frühere Durchführungsrechtsetzung als ein Mittel bezeichnet, um Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten zu verringern: Denn während die Mitgliedstaaten sich im Großen vielleicht noch einigen können, mag die detaillierte Ausarbeitung der vereinbarten Prinzipien wiederum Anlass zu Uneinigkeit geben. 510 Die einzelnen Kommissare werden zwar nur nach ihrer „allgemeinen Befähigung“ ausgewählt, fachspezifische Kenntnisse sind damit keine unabdingbare Voraussetzung für die Ernennung. In den Anhörungen vor dem EP wird aber zunehmend Wert auch auf fachspezifische Kenntnisse gelegt, s. Martenczuk, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 17 Rn. 70. 511 Zum Folgenden s. Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (53). 512 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (53).

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sich Input-Legitimation realisieren kann. Dennoch ist die abgeleitete Rechtsetzung durch die Kommission nicht Bestandteil des unionalen Demokratieprinzips: Art.  10 EUV anerkennt allein Rat und Europäisches Parlament als Quellen demokratischer Legitimation.513 Deshalb sind nur Rat und Parlament als die europäischen Gesetzgeber dazu berufen zu entscheiden, ob sie von der Möglichkeit der Delegation Gebrauch machen und sich auf diese Weise entlasten wollen oder nicht. Die Entscheidung, das Instrument der Delegation zur Verwirklichung bestimmter Regelungsmaterien zu benutzen, partizipiert deshalb – wie die übrige gesetzgeberische Entscheidung – an dem durch die beteiligten Gesetzgebungsorgane und das Gesetzgebungsverfahren bewirkten insgesamt hohen Legitimationsniveau des Gesetzgebungsaktes.514 Das Kriterium der Wesentlichkeit bietet die nötige Flexibilität, um all diese Aspekte zur Geltung zu bringen. So bedeutsam eine demokratisch hochwertige Regelung, so wichtig ist auch, dass das Recht die tatsächlichen Gegebenheiten des Gemeinwesens aufgreift und aktuelle Probleme angemessen löst.515 In vielen Bereichen, die naturgemäß schnellen Veränderungen unterworfen sind, stößt das formelle Gesetzgebungsverfahren an seine Grenzen; hier ist Raum für die originären Legitimationsressourcen der delegierten Rechtsetzung. Überdies ist in Erinnerung zu rufen, dass die Entscheidung zur Delegation – wie der Rest des Gesetzgebungsaktes auch – Ergebnis eines demokratischen Entscheidungsprozesses ist; dem Gesetzgeber bei dieser Entscheidung übermäßige Fesseln anzulegen, würde der demokratischen Idee und der Offenheit des gesetzgeberischen Prozesses gleichfalls Schaden zufügen. Eine zu offene gesetzliche Regelung schafft zwar das oben beschriebene Delegationsproblem in Form des Legitimationsverzichts; eine zu genaue Regelung ist aber ihrerseits mit der Idealform der Legislative, die der Exekutive einen eigenen Konkretisierungsspielraum lässt, nicht zu vereinbaren.516 In diesem Spannungsfeld ist es Aufgabe des Kriteriums der Wesentlichkeit, flexible Grenzen zu ziehen.

513

Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (55) und s. oben § 2 C. III. 2. c). Sie darf daher  – wie auch die übrigen Entscheidungen des Gesetzgebers  – nur eingeschränkt gerichtlicher Kontrolle unterworfen sein. 515 Schmolke, EuR 2006, 432 (444). 516 Zum Ganzen s. Möllers, Die drei Gewalten, S. 124 ff. 514

§ 2 Das Konzept horizontaler Gewaltenteilung hinter Art. 290 AEUV 

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II. Exkurs: Keine Kompensation durch nationalstaatliche formellgesetzliche Regelung Nur kurz soll darauf hingewiesen werden, dass der durch die Delegation aus­ gelöste Legitimationsverzicht nicht dadurch kompensiert werden kann, dass auf nationalstaatlicher Ebene der Akt der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts seinerseits in formellgesetzlicher Form erfolgen kann.517 Zwar trifft es zu  – Paradebeispiel ist die Richtlinie  –, dass ein mitgliedstaat­ liches Parlament mit der Umsetzung von unionsrechtlichen Regelungen befasst und damit die Regelung doch noch in eine demokratisch hochwertige Form gegossen wird. Hiermit den auf unionaler Ebene eingetretenen Legitimationsverlust als kompensiert zu betrachten, würde den wirklichen Charakter dieser parlamentarischen Gesetzgebung zur Umsetzung des Unionsrechts jedoch verkennen. Formell erweist sich das zur Umsetzung einer Richtlinie ergangene Gesetz zwar tatsächlich als legislative Handlung. Materiell steht es einer Form nur konkretisierender exekutiver Recht­setzung aber näher518: Die Entscheidung wurde bereits auf anderer, auf europäischer Ebene getroffen. Dem nationalen Gesetzgeber bleibt in Anbetracht seiner Umsetzungspflicht nur, diese Entscheidung in nationales Recht zu übersetzen. Kompensierende Wirkung kann die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers daher nicht entfalten, weil es sich eben nicht um eine inhaltsoffene, eigene demokratische Entscheidung handelt. Das heißt: Sieht die europäische Ebene einen Grundrechtseingriff vor, muss auch auf dieser Ebene das hierfür erforderliche Legitimationsniveau bestehen, d. h. durch Gesetzgebungsakt entschieden werden. Denn der nationale Gesetzgeber ist dann schon nicht mehr frei, über den Eingriff zu disponieren; seine „Entscheidung“ taugt daher auch nicht als Mittel zur Kompensation eines auf europäischer Ebene durch Delegation herbeigeführten Legitimationsverzichts. III. Fazit und Zusammenfassung Art. 290 AEUV eröffnet dem Gesetzgeber die Möglichkeit der Delegation: Rat und Parlament dürfen sich bestimmter Regelungen enthalten und diese der Kommission überlassen. Ein bestimmtes Regelungsminimum ist indes von der Delegationsmöglichkeit ausgenommen. Die wesentlichen Aspekte eines Bereichs müssen im Gesetzgebungsakt geregelt werden. Dieser „Vorbehalt des Gesetzgebungsakts“ gründet dabei auf den besonderen Eigenschaften dieser Rechtsaktkategorie. Der 517 Problematisch daher Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S.  128 f.: „Die weitgehende Verkopplung der Gemeinschaftsrechtsordnung und der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gebietet für das Erfordernis einer Rechtsgrundlage eine Gesamtschau gemeinschaftsrechtlicher und nationaler Rechtsgrundlagen.“ 518 Möllers, EuR 2002, 483 (507); s. noch zur Durchführung durch die Mitgliedstaaten unten § 4 B.

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Vertrag von Lissabon verknüpft die Ebene des Gesetzgebungsaktes mit verschiedenen Legitimationsfaktoren. Anders als bisher ist die besondere demokratische Dignität eines Rechtsaktes deshalb nicht mehr „zufälliger Reflex“ des Primärrechts, das etwa die Beteiligung des Parlaments anordnet. Vielmehr zeichnet sich ein Gesetzgebungsakt immer durch ein bestimmtes Legitimationsminimum gegenüber anderen Rechtsakten aus. Diese anderen Rechtsakte ohne Gesetzescharakter mögen „zufälligerweise“ rein tatsächlich demokratisch ähnlich wertvoll sein wie ein Gesetzgebungsakt519; ihnen fehlt aber das systematische Verknüpftsein mit demokratischen Legitimationsfaktoren. Ausgehend von dieser Bedeutung des Gesetzgebungsaktes bewirkt die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen an die Kommission gemäß Art. 290 AEUV einen automatischen Verlust an sachlich-inhaltlicher Legitimation: Rat und Parlament können die Kommission nur in einem Gesetzgebungsakt zum Erlass de­ legierter Rechtsakte ermächtigen. Die Delegation führt dazu, dass anstatt der  – als Pfeiler der europäischen Demokratie positiv konzipierten – Gesetzgeber „nur“ die Kommission die Regelung trifft, und zwar nicht in einem Gesetzgebungsakt, der zwingend von einem bestimmten Legitimationsniveau getragen ist, sondern nach einem vereinfachten Verfahren in einem Rechtsakt ohne Gesetzescharakter. Indem Art. 290 AEUV eine Delegationssperre formuliert, anerkennt er diesen durch die Delegation automatisch bewirkten Legitimationsverzicht der Unionsorgane. Der Bereich, der dem Gesetzgebungsakt vorbehalten ist, wird nun umschrieben mit dem Kriterium der Wesentlichkeit. Obgleich dieser Begriff bereits Bestandteil der bisherigen Rechtsprechung des EuGH war, bedarf er einer Neubestimmung: Das Kriterium soll nicht mehr nur die Grenze ziehen zwischen (irgend­ einem beliebigen) Basis- und dem abgeleiteten Durchführungsrechtsakt. Vielmehr besteht seine Funktion darin, eine Regelungsmaterie einer demokratisch-legitimatorisch vorzugswürdigen Rechtsaktform – dem Gesetzgebungsakt – vorzubehalten. Er stellt ein bestimmtes Niveau an sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation sicher. Dies ist ein bedeutender Unterschied zur alten Rechtslage: Dort war die Über­ tragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission vertraglich nicht als Legitimationsverzicht konzipiert. Die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission war vielmehr systematischer Regelfall. Und systematisch bewirkte die Übertragung in der Tat keinen automatischen Legitimationsverlust: Der Basisrechtsakt zeichnete sich gegenüber dem Durchführungsakt der Kommission eben nicht automatisch durch ein höheres demokratisches Legitimationsniveau aus. Der Vertrag anerkannte eine solche legitimationsvermittelnde Funktion der „Basisrechtsakte“ nicht. Dies erwies sich in dem Maße zunehmend als problematisch, als tatsächlich der Basisrechtsakt an demokratischer Würde hinzugewann: Die stetig steigende Beteiligung des Europäischen Parlaments am Erlass von Basisrechtsakten führte dazu, dass (gemessen am europäischen Demo 519

Zu dem bisweilen geringen Legitimationsvorsprung der Gesetzgebungsakte, § 7 A. II. 2.

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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kratiemodell) Basisrechtsakte in der Regel wesentlich legitimatorisch wertvoller waren als Durchführungsakte der Kommission und rein tatsächlich die Über­ tragung deshalb durchaus auch nach alter Rechtslage einen Legitimationsverlust bedeutete. Diese Änderungen haben nicht nur unwesentliche Auswirkungen auf die Verfassungsstruktur und die Integrationstiefe der europäischen Union.520 Durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens als ordentliches Gesetzgebungsverfahren, durch den Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes in Art. 290 AEUV und die generelle Investitur von Rat und Parlament als Gesetzgeber bekennt sich der Vertrag von Lissabon zur Funktion der Gesetzgebung und ihrer demokratischen Bedeutung.521 Damit geht einher, dass sich das Verhältnis von Organen und Funktionen nicht mehr „zufällig“ nach den jeweiligen Einzelermächtigungen im Sinne eines „institutionellen Gleichgewichts“ bestimmt. Vielmehr ist die Aufgabe der Gesetzgebung ausdrücklich bestimmten Organen zugeordnet (die zugleich von den Verträgen als Stützen des europäischen Demokratiemodells konzipiert sind). Aus dem institutionellen Gleichgewicht wird damit mehr und mehr das, was man in staatlichem Kontext Gewaltenteilung nennt.522 Gerade in Art. 290 AEUV spiegelt sich also die von den Verträgen vorgenommene stärkere Betonung des Demokratieprinzips und der Funktionentrennung wider; die Vorschrift zeigt, dass der Vertrag einen weiteren Schritt in Richtung nationalstaatlicher Mechanismen der Legitimationsvermittlung gegangen ist.523

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte A. Delegation als Legitimationsverzicht: Erfordernis der Begrenzung und Kontrolle Weil der Gesetzgebungsakt als Träger sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation konzipiert ist, bedeutet jede Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen einen entsprechenden Verlust an sachlich-inhaltlicher Legitimation, der durch andere Legitimationsfaktoren kompensiert sein will.524 Die Delegation gemäß Art.  290 AEUV bewirkt nun auch einen solchen Legitimationsverzicht. Die delegierten Rechtsakte befassen sich mit legislativen Angelegenheiten – es geht um 520

Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 290 AEUV Rn. 17: „deutlich integrationstheoretischer Subtext“. 521 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (47). 522 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 290 AEUV Rn. 17. 523 In Bezug auf die Rechtsetzung „wohl am wenigsten berechtigte Scheu vor zu großer Anlehnung an die staatliche Ebene Ruffert, EuR 2009, Beiheft 1, 31 (39); Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 290 AEUV Rn. 17: „Schritt in Richtung einer ‚Verstaat­ lichung‘ der Union“. 524 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 37.

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den Erlass von Regelungen „mit allgemeiner Geltung“  – jedoch in nicht legislativer Form.525 Der Vertrag von Lissabon kennt zwei Arten, den Legitimationsverzicht zu begrenzen und einen endgültigen Legitimationsverlust zu vermeiden. Zum einen verbietet er dem Gesetzgeber zu weitgehende Befugnisübertragungen (B.); zum anderen sieht er Instrumente vor, mit denen die Gesetzgeber die delegierte Rechtsetzung überwachen können (C.).

B. Ex ante: Wesentlichkeit und Bestimmtheit I. Wesentlichkeit Eine erste Möglichkeit, diesen Kompensationsverlust zu begrenzen und das erforderliche sachlich-inhaltliche Legitimationsniveau526 zu erhalten, ist die Normierung eines Bereichs, welcher der legislativen und damit demokratisch hochwertigen Regelung vorbehalten sein muss. Ein solcher Vorbehaltsbereich begrenzt den Verzicht auf die demokratische Legitimationsleistung ex ante und garantiert damit ein gewisses Maß an sachlich-inhaltlicher Legitimation.527 Wie bereits behandelt, benutzt der Vertrag von Lissabon hierzu das Kriterium der Wesentlichkeit. Der Gesetzgebungsakt muss das Wesentliche regeln und darf nur Unwesentliches der Kommission überlassen. Das Kriterium der Wesentlichkeit zieht dabei die Grenze zwischen den Regelungen, die als wichtig dem demokratisch-legitimatorischen Instrument des Gesetzgebungsaktes vorbehalten bleiben müssen und solchen, die sich das flexiblere Leistungsprofil der delegierten Rechtsetzung durch die Kommission nutzbar machen dürfen.528 II. Bestimmtheit Während das Kriterium der Wesentlichkeit seine Bedeutung im Hinblick auf die eigentliche Regelung im Gesetzgebungsakt entfaltet und die Grenze dessen formuliert, was überhaupt übertragen werden darf („Ob“), bezieht sich das in Art. 290 AEUV eingeführte Bestimmtheitsgebot auf die Übertragungsklausel und regelt

525

Hofmann, ELJ 2009, 482 (491); krit. Craig, in: Tridimas/Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 75 (80 f.), der den Begriff des Rechtsaktes ohne Gesetzescharakter kritisiert, weil er den wahren legislativen Charakter der delegierten Rechtsakte verschleiere. 526 Dazu s. grundlegend Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof, HStR II, 3.  Aufl. 2004, § 24 Rn. 1 ff. 527 Er ist damit einer von zwei Mechanismen zur Kompensation für den durch die Delegation bewirkten Legitimationsverzicht, s. Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (52): Der andere Mechanismus operiert ex post und prozedural über die Kontrolle der abgeleiteten Rechtsetzung, dazu auch sogleich § 3 C. 528 Dazu ausführlich oben § 2 C. und D.

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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das „Wie“ der Übertragung529. Insoweit sind die wesentlichen Parameter der Delegation im ermächtigenden Gesetzgebungsakt festzulegen.530 Eine Pauschalermächtigung dürfte demnach anders als früher ausgeschlossen sein.531 Neben dem Ziel der Befugnisübertragung, muss der Gesetzgeber den Inhalt und den Geltungsbereich der übertragenen Befugnisse angeben. Konkret bedeutet dies, dass er bestimmen muss, welche Vorschriften ergänzt und geändert werden dürfen.532 Gerade im Hinblick auf eine Ermächtigung zur Änderung des Gesetzgebungsaktes ist eine klare Grenzziehung von besonderer Bedeutung, um zu verhindern, dass die Kommission mit ihrer Regelung in den „wesentlichen“ und daher dem demokratischen Gesetzgeber vorbehaltenen Bereich übergreift. Darüber hinaus sind sonstige inhaltliche Beschränkungen denkbar. So sollte der Gesetzgeber präzisieren, unter welchen Umständen die Kommission von ihrer Befugnis zur Änderung oder Ergänzung Gebrauch machen darf. Denkbar ist beispielsweise eine Bedingung, dass die Kommission dann tätig werden darf und soll, wenn bestimmte wissenschaftliche oder technische Fortschritte erzielt werden, oder schlicht nach Ablauf einer gewissen Periode.533 Mit der Vorgabe, dass der „Inhalt“ im Gesetzgebungsakt bestimmt sein muss, verlangt das Primärrecht jedoch nicht, dass der Gesetzgeber den Inhalt des delegierten Rechtsaktes bestimmen müsste – dies ließe sich mit der Befugnis zur Änderung des Gesetzgebungsaktes kaum in Einklang bringen; klar determiniert sein muss lediglich der Inhalt der Befugnisübertragung.534 Es muss deutlich werden, in welchem (nicht-wesentlichen!) Bereich die Kommission die Rechtsmacht erhalten soll, Recht zu setzen und mit welchem Ziel die Kommission von ihrer Befugnis Gebrauch machen soll.535 Zuletzt muss im Gesetzgebungsakt die Dauer der Befugnisübertragung ausdrücklich festgelegt sein. Insoweit weicht die Vorschrift von Art.  80 Abs. 1 GG ab, dessen Bestimmtheitstrias von „Inhalt, Zweck und Ausmaß“ im Übrigen für die Anforderungen, die Art. 290 AEUV an die Bestimmung von „Ziel, Inhalt, Geltungsbereich“ stellt, Pate gestanden zu haben scheint.536 Art. 290 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV verlangt, dass die Dauer der Befugnisübertragung ebenso wie die übrigen Parameter im Gesetzgebungsakt festgelegt werden müssen. Während sich der zwingende Charakter bei den anderen Parametern bereits aus ihrer Funktion ergibt – sie sollen sicherstellen, dass sich der demokratisch legitimierte Gesetzgeber seiner Verantwortung nicht begibt, und so das erforderliche Niveau an sachlich-inhaltlicher Legitimation aufrecht erhalten –, liegt der zwingende Charakter für die Bestimmung der Dauer unter diesem teleologischen Blickwinkel weniger 529

Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 88. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 290 AEUV Rn. 11. 531 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 290 AEUV Rn. 46 f. 532 Weiß, EWS 2010, 257. 533 So schlägt dies die Kommission selbst vor: KOM(2009) 673 endg., S. 5. 534 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 290 AEUV Rn. 12. 535 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 85. 536 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 83.

530

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offen auf der Hand: Ein hinreichender Grad an sachlich-inhaltlicher Legitimation besteht auch dann, wenn die Befugnisübertragung unbefristet ist, der Gesetzgeber aber, wie in Art. 290 Abs. 2 lit. a AEUV vorgesehen, die Befugnisübertragung widerrufen kann. Erst eine systematische Auslegung führt zu dem zwingenden Charakter der Bestimmtheitsklausel im Hinblick auf die „Dauer“: Der Umstand, dass sich die Dauer in die die Reihe der anderen – zwingenden – Bestimmtheitsparameter nahtlos und ohne differenzierenden Vermerk einfügt, spricht dafür, sie wie die anderen Parameter zu behandeln mit der Folge, dass sich der Gesetzgebungsakt einer Aussage zur Dauer der Befugnisübertragung nie enthalten darf.537 Hintergrund für diese Regelung dürften romanische Traditionen sein.538 Für die Delegation gemäß Art. 290 AEUV bedeutet dies, dass sich der Gesetzgeber stets über die Dauer der Befugnisübertragung Gedanken machen muss. Dabei kann er sich auch für eine unbefristete Geltung der Befugnisübertragung entscheiden. Art. 290 AEUV lässt sich nicht entnehmen, dass eine Befristung zwingend wäre.539 „Dauer“ meint eben auch unbegrenzte Dauer. Überdies wäre es im Hinblick auf den eigentlichen Zweck der Delegation kontraproduktiv, stets eine Befristung der Befugnisübertragung vorzusehen. Denn dann müsste die Kommission, um weiter in einem bestimmten Bereich u. U. äußerst notwendiges Recht setzen zu können, in regelmäßigen Abständen neue Legislativvorschläge unterbreiten, um so die Ermächtigung wieder aufleben zu lassen.540 Hingegen mag es in „sensiblen Bereichen“ durchaus angebracht sein, die Befugnisübertragung mit einer sog. „sunset-clause“ zu versehen.541 Dies gilt umso mehr, als die Ausübung der sogleich zu behandelnden ex post Kontrollrechte darauf angewiesen ist, dass die Gesetzgebungsorgane einen Überblick über die erfolgten Befugnisübertragungen und die Rechtsetzungstätigkeit der Kommission behalten.

C. Ex Post: Einspruch und Widerruf der Befugnisübertragung Das Wesentlichkeitskriterium ist nur bedingt handhabbar. Schon abstrakt lassen sich seine Grenzen nur schwer ziehen. Im konkreten Fall besteht überdies die Gefahr, dass sich ex ante, also bei Erlass des delegierenden Gesetzgebungsaktes, die „wesentlichen“ Fragen nicht sicher von den unwesentlichen Fragen scheiden lassen.542 Deutlich wurde diese Schwierigkeit etwa im Laufe der BSE 537

Diese Vorgabe beachtet Art. 76 Abs. 1 der Richtlinie 2010/75/EU vom 24. November 2010 über Industrieemissionen. Dort wird die Übertragung der Befugnis auf einen Zeitraum von fünf Jahren begrenzt. 538 Dazu s. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 92 ff. 539 Hetmeier, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, Art. 290 Rn. 14. 540 Krit. gegenüber regelmäßigen Befristungen deshalb die Kommission KOM(2009)673, S. 5. 541 Dies betonen Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 16. 542 Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftliche Durchführungsrechtsetzung, S. 133.

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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Krise.543 Überdies steht zu befürchten, dass der EuGH – trotz der neuen herausgehobenen demokratischen Bedeutung des Gesetzgebungsaktes – schlicht an seine bisherige Rechtsprechung zur Wesentlichkeit anknüpfen wird: In Anbetracht des identischen Begriffs der „Wesentlichkeit“ scheint es zu verlockend, die alte Großzügigkeit im Umgang mit den Delegationsgrenzen auch noch in der Zukunft walten zu lassen. Vielfach werden die Grenzen, die Art. 290 AEUV der Delegation mit dem Kriterium der Wesentlichkeit setzt, schon jetzt als bloße Kodifizierung der alten Wesentlichkeitsrechtsprechung verstanden.544 Ebenso schwierig dürfte es sich erweisen, durch Bestimmung von Ziel, Inhalt usw. der Befugnisübertragung der Kommission eine klare Richtschnur an die Hand zu geben: Rat und Parlament werden häufig nicht das Wissen oder die Zeit haben, im Gesetzgebungsakt die Parameter zur Ausübung der durch die Kommission zu treffenden Entscheidung festzulegen; häufig kristallisieren sich die neuralgischen Punkte erst bei genauerer Beschäftigung und Analyse heraus, eine Tätigkeit, die – aufgrund der Delegation und entsprechend dem eigentlichen Zweck der Delegation – allein der Kommission obliegt.545 Angesichts dieses Befundes umso bedeutsamer werden andere Instrumente zur Bewahrung des sachlich-inhaltlichen Legitimationsniveaus.546 Diese anderen Instrumente stehen dabei immer in einem Spannungsverhältnis zu dem eigentlichen Zweck der Delegation, der darin liegt, schnell und flexibel Recht zu setzen: Die Kontrollrechte dürfen nicht dazu führen, dass verfahrensrechtliche Anforderungen die delegierte Rechtsetzung in einer Weise überladen, die den eigentlichen Zweck der Delegation – Schnelligkeit und Flexibilität – zunichtemacht.547 I. Die Kontrollrechte 1. Überblick Der AEUV kennt zweierlei Mechanismen, welche den durch die Delegation bewirkten Legitimationsverlust ex post steuern und kontrollieren sollen.548 Zum einen können das Europäische Parlament oder der Rat beschließen, die Über­ 543

Chambers, in: Joerges/Vos, EU Committees, S. 95 ff. Die im Rahmen der BSE-Krise als Durchführungsmaßnahme beschlossenen Exportverbote hatten erhebliche praktische und politische Bedeutung, s. Gerken/Holtz/Schick, Wirtschaftsdienst 10 (2003), S. 662 (664). 544 So etwa Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (48 f.). 545 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (116); ähnlichen Problemen begegnet das deutsche Recht im Hinblick auf das Wesentlichkeitskriterium und die Bestimmtheitstrias des Art. 80 GG, s. Pünder, ICLQ 58 (2009), 353 (364). 546 Hofmann, Normenhierarchien, S. 170 f.; vgl. zu der viel diskutierten Frage im deutschen und amerikanischen Recht, inwiefern die ex-ante-Steuerung durch den Gesetzgeber überhaupt möglich und ausreichend ist, Pünder, ICLQ 58 (2009), 353 (367 f.) m. w. N.; Sommermann, JZ 1997, 434 (438 ff.). 547 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (56). 548 Die beiden Formen der ex-post-Kontrolle stammen aus dem englischen Recht, Hofmann, ELJ 2009, 482 (492).

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

tragung zu widerrufen (Art.  290 Abs.  2 lit.  a AEUV). Die Kommission verliert dann die Rechtsmacht zur Änderung oder zu Ergänzung des betreffenden Gesetzgebungsaktes. Zum anderen besteht die Möglichkeit, dass das Europäische Parlament oder der Rat innerhalb einer bestimmten, im Gesetzgebungsakt festzulegenden Frist Einwände erheben und so das Inkrafttreten des delegierten Rechtsaktes verhindern (Art. 290 Abs. 2 lit. b AEUV). Während das Parlament diese Rechte mit der Mehrheit seiner Mitglieder ausüben kann, muss der Rat eine „qualifizierte Mehrheit549“ mobilisieren. In gewisser Weise anerkennt das Primärrecht damit die legitimatorische Bedeutung der delegierten Rechtsetzung durch die Kommission. Indem es die Kontrollrechte an die vorgestellten qualifizierten Mehrheits­ erfordernisse koppelt, feit es die Rechtsakte der Kommission vor allzu leichter Aufhebung.550 Allerdings ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass Art. 290 AEUV die Gründe, die Rat oder Parlament zu Einspruch oder Widerruf bewegen, nicht beschränkt. Die Ausübung der Kontrollrechte verlangt nicht einmal die Angabe von Gründen.551 Dieser Aspekt relativiert die durch die Mehrheitserfordernisse bewirkte Bestandskraft der delegierten Rechtsakte wieder. Die Entscheidung darüber, welcher Kontrollmechanismus Anwendung finden soll, treffen die gesetzgebenden Organe jeweils „in Gesetzgebungsakten“. Eine sekundärrechtliche Regelung, die die Ausübung der Kontrollrechte festlegt, ist damit nicht unbedingt notwendig.552 Bedeutsamer noch ist Folgendes: Was in Art. 290 AEUV anders als in Art. 291 AEUV und im alten Art. 202 EGV fehlt, ist die Möglichkeit zu normbegleitender Kontrolle553: Eine Grundlage für die Komitologie enthält Art. 290 AEUV nicht. Dieser Verzicht auf das Ausschusswesen im Rahmen

549 Was das genau heißt, ist wegen Uneinigkeit zwischen den Mitgliedstaaten (Stichworte: Polen! Quadratwurzel!) bis zum 31.  Oktober 2010 im Protokoll zu den Übergangsbestimmungen in Art.  3 festgelegt. Danach entfällt auf jedes Land ein bestimmtes Stimmgewicht. Für die qualifizierte Mehrheit im Fall des Art. 290 Abs. 2 AEUV, in dem der Ratsbeschluss nicht auf einem Vorschlag der Kommission beruht, bedarf es eines Quorums von 255 Stimmen, das überdies die Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Rates umfasst, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 S. 1 ÜbBestProt. Danach gilt – sofern es hier nicht zu weiteren Unstimmigkeiten kommt – Art. 16 Abs. 4, der eine doppelte Mehrheit von Bevölkerung und Ratsmitgliedern verlangt. 550 So Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art.  290 Rn.  16. Dennoch steht hinter der delegierten Rechtsetzung durch die Kommission nicht das unionale Demokratieprinzip, dazu s. oben § 2 C. III. 2. c). 551 Die Kommission plädiert aber – schon aus Zweckmäßigkeitsgründen – dafür, dass Rat und Parlament die Gründe darlegen müssen, um zu verhindern, dass die Kommission weiter einen Ansatz verfolgt, der wahrscheinlich wiederum auf Widerspruch der Legislativorgane stößt, s. KOM(2009), 673, S. 10. 552 Dazu s. ausführlich unten§ 3 C. I. 5.  553 So bezeichnet Knemeyer, Das EP und die gemeinschaftsrechtliche Durchführungsrechtsetzung, S. 221 die Praxis der Komitologie, weil die Kontrolle im Rahmen der Komitologie vor dem Inkrafttreten der Maßnahmen Wirkung entfaltet, aber zugleich erst nach erfolgter Ermächtigung einsetzt, und überdies Input beim Entstehen der Norm erlaubt, s. auch Craig, in: Griller/ Ziller, S. 109 (115 f.).

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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der delegierten Rechtsetzung erweist sich als bemerkenswerter „shift in thought“ gegenüber der bisherigen Rechtslage.554 2. Einspruchsrecht Das Recht, das Inkrafttreten eines delegierten Rechtsaktes durch Einspruch zu verhindern, wirft keine besonderen Auslegungsprobleme auf. Erwähnenswert ist insoweit lediglich die Fristenproblematik. Der Verfassungsvertrag selbst sieht keine Höchst- oder Mindestfrist vor; sie ist daher im jeweiligen Gesetzgebungsakt festzulegen und liegt grundsätzlich im Ermessen des Gesetzgebers.555 Innerhalb dieser Frist ist der delegierte Rechtsakt der Kommission schwebend unwirksam556; erst mit Ablauf der Frist verliert der Rechtsakt diesen Status und kann in Kraft treten. Die Frist muss angemessen sein: Ist sie zu kurz bemessen, wird es Rat und Parlament kaum gelingen, die erforderliche Bewertung des Kommissionsentwurfs vorzunehmen und innerhalb der Frist eine angemessene und eigene Reaktion auf den vorgeschlagenen delegierten Rechtsakt zu finden.557 Folge wäre, dass entweder die Frist ungenutzt verstreicht und der Rechtsakt letztlich ohne eingehende parlamentarische Kontrolle in Kraft tritt; oder das umgekehrte Szenario geschieht: Rat oder Parlament verhindern mit ihrem Einspruch „sicherheitshalber“ das Inkrafttreten eines Rechtsaktes, den sie vielleicht noch nicht zur Genüge durchdrungen haben. Beides ist den Zwecken der Delegation abträglich, die Bestimmung einer angemessenen Frist damit von entscheidender Bedeutung. Ist wiederum die Frist zu lang bemessen, drohen Verzögerungen, die den eigentlichen Zweck der Delegation zu unterlaufen drohen. Erste Orientierungswerte für die Fristbemessung bietet der bisherige Komitolo­ giebeschluss.558 Für das in seinem Anwendungsbereich Art. 290 AEUV weitgehend entsprechende Reglungsverfahren mit Kontrolle sah der Komitologiebeschluss zwei verschiedene Fristen vor, innerhalb derer das Parlament einen Kommissionsentwurf ablehnen konnte: Im Fall, dass der Kommissionsvorschlag die Zustimmung des Komitologieausschusses fand, konnten Rat oder Parlament innerhalb von drei Monaten eine ablehnende Stellungnahme abgeben. Bei ablehnender

554

Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (124); zur Begründung dieser Interpretation und den Folgen des Wegfalls der Komitologie i. R. d. Art. 290 AEUV, s. noch ausführlich unten § 3 C. III. 2.  555 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 11; zu Grenzen, die das hinter den Kontrollrechten stehende Demokratieprinzip diesem Ermessen setzen kann, s. Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 ff. und sogleich. 556 Ob auflösend bedingt unwirksam oder aufschiebend bedingt wirksam, kann hier dahinstehen. Von einer aufschiebenden Bedingung geht wohl die Kommission aus, KOM (2009)673 endg., S. 9. 557 Relativ kurze Fristen befürchtet Craig, in: Ziller/Griller, The Lisbon Treaty, S. 109 (118). 558 Hieran orientieren sich auch Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (58).

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Stellungnahme des Komitees zum Kommissionsvorschlag konnte sich das Parlament vier Monate mit einer Ablehnung des dann vom Rat zuvor zu billigenden Vorschlags Zeit lassen. In diesem Rahmen bewegen sich annäherungsweise die Vorstellungen von mit der Frage befassten Autoren559 und den beteiligten Organe von einer angemessenen Frist. Dabei hält die Kommission allerdings die Fristen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle für etwas zu lang: Die Erfahrung habe gezeigt, dass die übliche Frist von drei Monaten für die Ausübung des Einspruchsrechts länger sei als notwendig; diese Frist führe lediglich zu Verzögerungen, ohne dass ihr eine große Bedeutung für das Erkennen von mit dem Kommissionsentwurf verbundenen Schwierigkeiten zukomme. Deshalb plädiert die Kommission für eine Frist von grundsätzlich zwei Monaten, die aber auf Initiative des Europäischen Parlaments „automatisch“ um einen Monat verlängert werden kann.560 Das Europäische Parlament hält eine Mindestfrist von zwei Monaten für sinnvoll.561 Festgehalten werden sollte: Angemessen ist die Frist, wenn sie eine sachlichinhaltliche Auseinandersetzung der gesetzgebenden Organe mit den Vorschlägen der Kommission zu den delegierten Rechtsakten erlaubt.562 Ob vor allem das Parlament563 diese Anforderungen innerhalb von zwei Monaten, insbesondere angesichts seiner zunehmenden Arbeitsbelastung durch die größere Zahl von im Mitentscheidungsverfahren zu erlassenen Rechtsakten, bewältigen kann, bleibt abzuwarten.564 Bei Bemessung der Frist auf Grundlage der Erfahrungen im Zusammenhang mit den alten Komitologieverfahren ist außerdem zu berücksichtigen, dass bisher das Parlament bereits über die Tagesordnungen der Komitees in Kenntnis gesetzt wurde.565 Schon ab diesem Zeitpunkt hatte das Parlament also Zeit, sich mit der betreffenden Materie zu beschäftigen. Die Frist, innerhalb derer das

559 Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 22 plädieren für eine Frist von drei Monaten; Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (58) argumentieren ebenso ausgehend von der Dreimonatsfrist. 560 Krit. hierzu Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 22. 561 Bericht des Europäischen Parlaments über die Übertragung legislativer Zuständigkeiten, (2010/2021(INI)), S. 7. s. auch die Uneinigkeit über die Frist im Annahmeverfahren der Richtlinie 2010/75/EU. Die Kommission plädierte für eine zweimonatige, Rat und Parlament für eine dreimonatige Frist, s. KOM(2010) 67, S. 9. 562 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (58). 563 Der Rat könnte hierzu u. U auf die Ressourcen der ihn unterstützenden COREPER-Ausschüsse zurückgreifen, vgl. Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (118). 564 Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 10 hielten schon die unter dem Regelungsverfahren mit Kontrolle geltende Frist von 3 Monaten für relativ kurz bemessen. 565 Art. 7 Abs. 3 Komitologiebeschluss 2006 und Nr. 1 der Vereinbarung zwischen dem Europäischem Parlament und der Kommission über die Modalitäten der Anwendung des Beschlusses 1999/468/EG des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, in der Fassung des Beschlusses 2006/512/EG (ABl. EU 2008/C 143/01 v.10.6.2008).

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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Parlament Einwände gegen den Durchführungsakt der Kommission geltend machen konnte, war deshalb de facto länger.566 Sollten sich bei der Bemessung der Fristen Defizite herauskristallisieren, wäre die angemessene sachlich-inhaltliche Legitimation und damit das angemessene Demokratieniveau gefährdet. Hieraus würde dann eine Verpflichtung der beteiligten Organe resultieren, die Fristen entsprechend anzupassen und zu verlängern.567 Als problematisch könnte sich weiter erweisen, dass Art.  290 Abs.  2 AEUV nicht explizit vorsieht, eine horizontale, für alle Einspruchsfälle geltende Regelung zur Frist zu erlassen. Insofern besteht – in Parallele zu der „Ad-hoc-Komitologie“  – die Gefahr, dass Konflikte über die angemessene Frist (und andere Modalitäten der Kontrollrechte)  in den Vordergrund treten und die eigentlichen inhaltlichen Fragen überlagern.568 Der erhöhte Verhandlungsaufwand könnte zu Verzögerungen im Gesetzgebungsverfahren führen.569 Während das Parlament die primärrechtlich angelegte Flexibilität des Gesetzgebers in jedem Einzelfall befürwortet570, hält die Kommission zumindest für erstrebenswert, für die einzelnen Bereiche nicht vollständig unterschiedliche Fristen vorzusehen. Sie plädiert für grundsätzlich einheitliche Fristen; Ausnahmen sollten lediglich dann gelten, wenn die besondere Dringlichkeit der zu treffenden Maßnahmen verkürzte Fristen rechtfertigt oder – umgekehrt – eine außergewöhnliche Komplexität des avisierten delegierten Rechtsaktes einen längeren Prüfungszeitraum verlangt.571 3. Widerruf Die Möglichkeit der gesetzgebenden Organe, die Übertragung von Befugnissen auf die Kommission zu widerrufen, ist ebenfalls ein neues Element der Kontrolle. Durch den Widerruf verliert die Kommission die Rechtsmacht zum Erlass delegierter Rechtsakte auf Grundlage der widerrufenen Ermächtigung. Unproblematisch ist die Situation, wenn die Kommission von der Ermächtigung noch keinen Gebrauch gemacht hatte und es schlicht keinen delegierten Rechtsakt auf Grundlage der widerrufenen Befugnisübertragung gibt. Rechtsfolge des Widerrufs ist dann nur, dass die Kommission auch in Zukunft keinen delegierten Rechtsakt auf Grundlage der widerrufenen Ermächtigung erlassen darf.572

566

Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 22. Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (58). 568 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (58). 569 Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, S. 209 (232). 570 Entschließung des EP v. 7.5.2009 zu den Auswirkungen des Vertrags von Lissabon auf die Entwicklung des institutionellen Gleichgewichts der EU (2008/2073/INI), Punkt 5.  571 KOM(2009) 673 endg., S. 9. 572 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 120, auch zur Frage, was passiert, wenn die Kommission dennoch von der Ermächtigung Gebrauch macht. 567

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Wie wirkt sich der Widerruf aber auf eine bereits erlassene Rechtsvorschrift der Kommission aus? Es empfiehlt sich, die Wirkungen des Widerrufs gemeinsam mit der Einrichtung des Widerrufs als Kontrollinstrument im Gesetzgebungsakt zu regeln.573 Insbesondere kann so geklärt werden, ob bereits erlassene delegierte Rechtsakte aufrecht erhalten bleiben und sich die Wirkungen des Widerrufs nur auf die Zukunft beziehen sollen, oder ob auch bereits existierenden delegierten Rechtsakten mit dem Widerruf die erforderliche Rechtsgrundlage abhandenkommen soll. Anderenfalls könnte es zu erheblicher Rechtsunsicherheit über den Bestand des abgeleiteten Kommissionsrechts kommen.574 Fehlt eine ausdrückliche Festlegung, welche Wirkung ein Widerruf auf bereits ergangene delegierte Verordnungen haben soll, ist diese durch Auslegung zu ermitteln. Indiz für eine intendierte Rückwirkung des Widerrufs ist beispielsweise, dass der Widerruf in Reaktion auf den Erlass eines bestimmten delegierten Rechtsakts der Kommission ergeht, der Rat oder Parlament nicht gefällt oder der nach Auf­ fassung der gesetzgebenden Organe sogar die Grenzen der Ermächtigung überschreitet. Gegen eine ex-tunc-Wirkung kann wiederum der Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes sprechen.575 Ergeben die Auslegung oder gar der Gesetzgebungsakt explizit, dass der Widerruf zurückwirken soll, fehlt einer bereits ergangenen delegierten Verordnung die Rechtsgrundlage. Ohne Rechtsgrundlage kann die Kommission keine delegierten Rechtsetzungsbefugnisse ausüben; der delegierte Rechtsakt, den sie erlassen hat, ist deshalb rechtswidrig. Die Rechtswidrigkeit eines Rechts­ aktes zieht aber nicht zwangsläufig seine Nichtigkeit nach sich. Fraglich ist deshalb, welche Wirkungen eine aufgrund eines Widerrufs nachträglich rechtswidrig gewordene delegierte Verordnung noch entfaltet: Ist sie weiter wirksam, wenn auch rechtswidrig, und bedarf der Aufhebung, oder aber verliert sie auto­matisch mit dem Widerruf und der daraus folgenden Rechtswidrigkeit ihre Wirksamkeit? Für das Erfordernis, dass die Kommission den delegierten Rechtsakt förmlich aufheben muss, spricht in jedem Fall der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und 573 Dies fordert auch die KOM(2009) 673 endg., S. 9. Diese Empfehlung hat Art. 77 Abs. 3 der Richtlinie 2010/75/EU vom 24. November 2010 über Industrieemissionen beherzigt. Dort ist ausdrücklich festgelegt, dass die Gültigkeit von bereits erlassenen delegierten Rechtsakten von einem Widerruf nicht berührt wird. 574 Dies scheint vor allem problematisch im Zusammenhang Auto-Subdelegationen, s. dazu Hofmann, ELJ 2009, 482 (503): Wirkt ein Widerruf nur ex nunc, so bleiben frühere delegierte Rechtsakte in Kraft. Hat die Kommission sich selbst in einem delegierten Rechtsakt mit Durchführungsbefugnissen ausgestattet, behält sie auch diese Durchführungsbefugnisse, die die Kommission, so befürchtet Hofmann, völlig jenseits politischer Kontrolle ausüben kann. Der Gesetzgeber ist daher gehalten, solche Rechtsfolgen zu berücksichtigen. 575 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 123.

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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-klarheit.576 Aus der zu befürwortenden Pflicht der Kommission zu einem förm­ lichen Aufhebungsschluss kann indes jedenfalls nicht zwingend abgeleitet werden, dass der rückwirkende Widerruf nicht unmittelbar zur Nichtigkeit führen könnte: Auch ein lediglich klarstellender Aufhebungsbeschluss könnte dem Gebot der Rechtssicherheit genügen. Jedoch sprechen weitere Gründe dafür, dass der rückwirkende Widerruf einer Befugnisübertragung nicht automatisch die Nichtigkeit eines auf ihr beruhenden Rechtsakts zur Folge hat. Dies ergibt zunächst ein systematischer Vergleich mit dem zweiten Kontrollmechanismus des Art. 290 AEUV: Das Instrument, das sich unmittelbar auf einen delegierten Rechtsakt der Kommission bezieht, ist der Einspruch. Der Widerruf knüpft hingegen nur an den ermächtigenden Gesetzgebungsakt an. Demnach ist es stimmig, die unmittelbaren Wirkungen eines Widerrufs erst einmal nur auf den betreffenden Gesetzgebungsakt zu beziehen. Gewichtiger ist das Argument, dass der Widerruf – also ein bloßer Beschluss – keinen delegierten Rechtsakt aufheben dürfe.577 Wie gezeigt, verfügt ein delegierter Rechtsakt ebenfalls über ein gewisses Legitimationspotential.578 Dies anerkennt in Ansätzen das Primärrecht, das die Kontrollrechte durch Rat oder Parlament qualifizierten Mehrheitserfordernissen unterwirft und damit die delegierten Rechtsakte der Kommission vor schrankenloser Aufhebbarkeit feit. Delegierte Rechtsakte der Kommission sollten damit nur durch einen zumindest gleichwertigen Rechtsakt wieder aufgehoben werden können. Dem delegierten Rechtsakt zumindest gleichwertig ist ein Aufhebungsbeschluss der Kommission als Erlassorgan („actus contrarius“) oder aber ein neuer Gesetzgebungsakt, nicht aber ein Beschluss nur eines von zwei Gesetzgebungsorganen wie der Widerruf. Schließlich können schon Rat oder Parlament jeweils selbständig den Widerruf aussprechen.579 Der Widerruf beruht dann nicht einmal auf dem Zusammenwirken beider Stützen des Demokratieprinzips. Überdies ergeht der Beschluss zum Widerruf nicht in einem legitimatorisch besonders wertvollen Verfahren. Da es sich um einen bloßen Beschluss handelt, müsste der Rat hierbei nicht einmal öffentlich tagen; die Pflicht zur öffentlichen Verhandlung gemäß Art. 16 Abs. 8 S. 1 EUV bezieht sich nur auf Entwürfe zu Gesetzgebungsakten. Aus diesem Grund wäre es bedenklich, schon durch den Widerruf selbst dem delegierten Rechtsakt seine Wirksamkeit zu entziehen.

576

Aus diesem Grund verlangten einige Konventsmitglieder auch, die Widerrufsklausel um folgenden Passus zu ergänzen: „… bereits erlassene Verordnungen sind daraufhin durch die Kommission unverzüglich aufzuheben.“ Dazu Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 127. 577 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 128. 578 s. oben § 2 D. I. 2. 579 Art. 290 Abs. 2 AEUV: „Das Europäische Parlament oder der Ministerrat“; s. dazu die Intention des Präsidiums, CONV 724/93, Anlage 2, S. 93; sowie Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 111; zu dem darin liegenden „Systembruch“, s. unten § 3 C. II. 2. 

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

Rechtsfolge des Widerrufs ist daher nur die Pflicht der Kommission580, bereits ergangene delegierte Rechtsakte sowie weiter hiervon abgeleitetes Durchführungsrecht aufzuheben, nicht aber deren automatische Nichtigkeit. Diese Lösung entspricht zudem am besten dem oben erwähnten Gebot der Rechtssicherheit und -klarheit.581 4. Neue Reversibilität der Befugnisübertragung Während das Einspruchsrecht sich auf einen konkreten Vorschlag der Kommission über einen delegierten Rechtsakt bezieht, also unmittelbar auf der Ebene des abgeleiteten Rechts ansetzt, zielt der Widerruf nicht auf die Beseitigung bzw. Verhinderung des abgeleiteten Rechtsaktes, sondern direkt auf die „Wurzel“, sprich auf die Ermächtigungsgrundlage für den Erlass delegierter Rechtsakte im Gesetzgebungsakt. Die Rechtsmacht zum Erlass eines „delegierten Rechtsaktes“ kann der Kommission dabei einseitig durch die gesetzgebenden Organe entzogen werden. Hierzu genügt ein bloßer Beschluss von Rat bzw. Parlament. Das Gesetzgebungsverfahren muss nicht neu durchlaufen werden, obwohl der Widerruf den Gesetzgebungsakt ändert und um die Delegationsermächtigung bereinigt: Die Befugnisübertragung ist reversibel. Dies ist eine bedeutsame Neuerung im Vergleich zur alten Rechtslage. Dort konnte der Kommission die Ermächtigung zum Erlass eines Durchführungsaktes nur nach allgemeinen Regeln wieder entzogen werden. Weil die Ermächtigung Bestandteil des Basisrechtsaktes war, musste der Gesetzgeber – damals in der Regel nur der Rat – grundsätzlich einen neuen Basisrechtsakt erlassen, um den ermächtigenden Basisrechtsakt zu verändern.582 Das bedeutete, dass das gesamte primärrechtliche Gesetzgebungsverfahren nochmals durchlaufen werden musste; insbesondere bedurfte es eines Vorschlags der Kommission, die das Initiativmonopol innehatte. Ohne die Mitwirkung der Kommission war es dem Gesetzgeber mithin nicht möglich, der Kommission einmal übertragene Durchführungsbefugnisse wieder zu entziehen.583 Die nun durch den Lissabon-Vertrag bewirkten Änderungen dürften bedeutsame theoretische wie praktische Implikationen haben: Zum einen dürften Rat und Parlament aufgrund der Möglichkeit zum einseitigen call back praktisch eher geneigt sein, erst einmal Befugnisse gemäß Art. 290 AEUV auf die Kommission zu delegieren, wenn diese Übertragung für sie wieder 580

Diese Pflicht der Kommission lässt sich auch ohne die ursprünglich avisierte Klarstellung in Art. 290 Abs. 2 AEUV dem Grundsatz der Organtreue entnehmen, s. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 130. 581 A. A. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art.  290 AEUV Rn.  64: Wider­ruf der Ermächtigung führt ex nunc zur Unwirksamkeit der delegierten Rechtsakte. 582 Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 211 EG Rn. 77; Härtel, Handbuch Europäischer Gesetzgebung, § 11 Rn. 50; Schmolke, EuR 2006, 432 (442). 583 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn.  7 u. 118; Jacqué, in: von der ­Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 211 EG Rn. 77.

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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rückgängig zu machen ist. Dies entspricht dem Motiv der Neuregelung, Delegationen für den Rat und vor allem für das Parlament attraktiver zu machen.584 In theoretischer Hinsicht ist zu bemerken, dass die neue Reversibilität der Übertragung bestätigt, dass sich der Charakter der Befugnisübertragung gewandelt hat. Bisher war fraglich, ob die Übertragung gemäß Art. 202 EGV als klassischer Fall einer Delegation begriffen werden konnte oder sie lediglich eine Art deklaratorischer Zuständigkeitszuweisung an die eigentlich sowieso zuständige Kommission darstellte.585 Gegen den Charakter der Durchführung als Delegation sprach zweierlei: Zum einen der Umstand, dass es bei den Durchführungsbefugnissen nicht sicher um „eigene“ Befugnisse des Gesetzgebers ging, sondern die Kommission regelmäßig zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts berufen war. Zum anderen die fehlende Reversibilität der einmal übertragenen Durchführungsbefugnisse.586 Beides hat sich geändert: Art. 290 Abs. 1 AEUV stellt klar, dass legislative Befugnisse übertragen werden, also solche, die eigentlich dem Gesetzgeber und jedenfalls nicht „regelmäßig“ der Kommission zustehen; die Wahrnehmung dieser Befugnisse durch die Kommission stellt sich als eine – am Demokratieprinzip zu messende – Abweichung von der eigentlichen Zuständigkeitsordnung dar. Und Art. 290 Abs. 2 AEUV zementiert mit der Einführung des Widerrufs den für Delegationen typischen Ausnahmecharakter. Er bestimmt, dass die grundsätzlich bestehende Zuständigkeitsordnung durch die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen gemäß Art. 290 AEUV nicht irreversibel verändert werden muss. Die übertragenden Organe können sich dank des Widerrufs die Zugriffsmöglichkeit auf die übertragenen Zuständigkeiten erhalten. Die Gesetzgeber sind daher die Herren über die der Kommission übertragenen „quasi-legislativen“ Befugnisse, ein Umstand, der die gesetzgeberische Regelzuständigkeit unterstreicht. Art. 290 AEUV ist daher mit vollem Recht mit „Delegation“ überschrieben. Anders als Art. 202 EGV handelt es sich um einen klassischen Fall dieses Phänomens. 5. Möglichkeit einer horizontalen Regelung? „Die Bedingungen, unter denen die Übertragung erfolgt, werden in Gesetzgebungsakten ausdrücklich festgelegt“. Häufig wird diese Formulierung in Art. 290 Abs. 2 AEUV so verstanden, dass der Kontrollmechanismus im Einzelfall in dem jeweiligen delegierenden Gesetzgebungsakt selbst festgelegt werden muss.587 Anders als das alte Regime mit seiner horizontalen Regelung in Form des Komitolo 584

s. dazu CONV 424/02, S. 8 f. und ausführlich unten § 3 C. II. 1.  Zu dieser Zweideutigkeit in der alten Regelung des Art. 202 EGV, s. Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 227 f. 586 s. dazu ausführlich oben unter § 1 C. IV. 587 „Einzelfallbezogener“ Charakter des Art. 290 AEUV, Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, S. 209 (232), hält dies aber nicht für eine zwingende Regelung; Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 109; Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, S. 97. 585

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

giebeschlusses scheint Art. 290 AEUV davon auszugehen, dass die Entscheidung über die konkret anwendbaren Kontrollinstrumente und ihre Modalitäten auf Einzelfall-Basis in dem jeweiligen delegierenden Gesetzgebungsakt selbst getroffen wird.588. Sicher ist aber insoweit erst mal nur, dass Art. 290 Abs. 2 AEUV nicht zwingend einer horizontalen Regelung bedarf, um anwendbar zu sein. Diese Erkenntnis bedeutet aber nicht, dass eine solche horizontale Regelung ausgeschlossen wäre. Art. 290 Abs. 2 AEUV formuliert schließlich nur, dass die Bedingungen, unter denen die Übertragung erfolgt, „in Gesetzgebungsakten“ vorzusehen sind. Näher spezifiziert, in welchen Gesetzgebungsakten die Bedingungen festgelegt werden, wird hingegen nicht. Insbesondere bringt der Verzicht auf den bestimmten Artikel, wie er etwa noch in Art.  290 Abs.  1 AEUV gebraucht wird („in den betreffenden Gesetzgebungsakten“) eine größere Offenheit zum Ausdruck: Diese Formulierung könnte sich sowohl auf den konkret delegierenden Gesetzgebungsakt als auch auf einen anderen Gesetzgebungsakt beziehen. Es dürfte demnach möglich sein, horizontale Regelungen zu schaffen, welche die Moda­litäten für den Gebrauch der Kontrollrechte festschreibt.589 So könnte z. B. in einem horizontalen Gesetzgebungsakt geregelt werden, welche Kontrollrechte in einem bestimmten Sachbereich grundsätzlich Anwendung finden sollen. Darüber hinaus dürfte es im Übrigen möglich sein, allgemeine Bedingungen für die Ausübung der Kontrollrechte in anderen horizontalen Regeln als in Gesetzgebungsakten festzulegen. So kommen insbesondere interinstitutionelle Vereinbarungen590 als Instrumente in Betracht, um Standardformulierungen für die Übertragung und die Kontrollrechte zu entwerfen oder die üblicherweise anwendbaren Fristen für den Einspruch zu bestimmen.591 Der „Vorbehalt“, dass die Bedingungen der Übertragung „in Gesetzgebungsakten“ festzulegen sind, stünde einer solchen Praxis nicht entgegen. Die Entscheidung darüber, welches Kontrollrecht konkret Anwendung finden soll, könnte immer noch in dem betreffenden delegierenden Gesetzgebungsakt selbst fallen; den Voraussetzungen des Art. 290 Abs. 2 AEUV wäre damit genügt. Beim Erlass dieses Gesetzgebungsaktes müsste dann aber nicht stets über alle Parameter der Delegation und ihrer Kontrolle neu nachgedacht werden. Es genügte ein Verweis auf die interinstitutionelle Vereinbarung bzw. die Übernahme der dort gewählten Formulierung. 588 Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working ­Papers, RSCAS 2010/85, S. 5. 589 So empfehlen etwa Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 7, den Entwurf bestimmter Standardformulierungen für die Delegation. 590 Art. 295 AEUV enthält nun erstmals eine – sinnvolle – explizite Absicherung der seit langem geübten Praxis interinstitutioneller Vereinbarungen, s. Kluth/Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 295 Rn. 1. 591 Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 7 f. s. etwa die Standardformulierungen, die die Kommission vorschlägt, KOM(2009) 673 endg. S. 12 ff. Mittlerweile hat die Konferenz der Präsidenten des Europäischen Parlaments eine solche interinstitutionelle Verein­barung gebilligt, die allerdings formell noch nicht angenommen wurde, s. Protokoll der Sitzung der Konferenz der Präsidenten vom 3.3.2011, Dok. PE 457.917/CPG.

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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Daraus resultiert der Vorzug solcher horizontaler Regelungen: Ohne eine horizontale Regelung müssten die Gesetzgebungsorgane alle Bedingungen in jedem einzelnen delegierenden Gesetzgebungsakt erneut festlegen und sich über die Formulierung jeweils wieder neu Gedanken machen.592 Es bestünde die gleiche Situation wie vor Erlass des Komitologiebeschlusses im Jahre 1987593, als bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen gemäß Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV die Komitees nur auf Ad-hoc-Basis594 einberufen wurden, die Ausschüsse keine feste Organisationsstruktur besaßen und über keine standardisierten Verfahrensordnungen verfügten. All diese Modalitäten sowie die Art der konkreten Einflussnahme der Komitees musste der Rat in dem jeweiligen, die Durchführungsbefugnisse übertragenden Rechtsakt neu festlegen. Die zu fällenden zusätzlichen Entscheidungen überlagerten häufig die sachlichen Fragen und verzögerten das Rechtsetzungsverfahren.595 Wie damals der Komitologiebeschluss könnte eine horizontale Regelung für die Anwendung von Art. 290 Abs. 2 AEUV dazu beitragen, diese Defizite zu verhindern. Eine horizontale Regelung könnte beispielsweise bestimmte Kontrollvarianten enthalten und regeln. Im betreffenden Gesetzgebungsakt müssten sich die gesetzgebenden Organe dann nur noch für eine dieser Varianten entscheiden anstatt alle Parameter selbst zu gestalten und jeweils neu auszuhandeln zu müssen. Der Verhandlungsaufwand beim Erlass eines Gesetzgebungsaktes könnte auf diese Weise möglichst gering gehalten werden. Eine horizontale Regelung könnte damit dazu beitragen, dass sich die Gesetzgebungsorgane tatsächlich auf die wesentlichen Fragen konzentrieren.596 II. Kontrolle durch den Gesetzgeber: Parallelität von Eingriffsbetroffenheit und Kontrollberechtigung 1. Motiv: Freisetzung der Delegationsbereitschaft Art. 290 AEUV betrifft die Übertragung quasi-legislativer Befugnisse. Der Gesetzgeber verzichtet auf eine Regelung in der Breite und delegiert die Kompetenz insoweit an die Kommission. Folgerichtig verankert Art. 290 Abs. 2 AEUV die unmittelbare Kontrolle über die abgeleitete Rechtsetzung beim Gesetzgeber selbst. Hinter dieser Änderung steht der Wille, ein Defizit im Zusammenhang mit der Übertragung von Durchführungsbefugnissen zu beseitigen. Die zuständige Gruppe IX „Vereinfachung“ des Verfassungskonvents formulierte das bisher ge­ gebene Dilemma wie folgt: 592

Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (58). Beschluss des Rates vom 13. Juli 1987, 87/373/EWG zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse. 594 Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (126). 595 Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art 211 EGV Rn. 81. 596 Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (232). 593

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

„Derzeit ist der Gesetzgeber nämlich gezwungen, entweder die von ihm erlassenen Bestimmungen in allen Einzelheiten zu regeln oder die Regelung technischer oder eingehenderer Aspekte von Rechtsvorschriften der Kommission zu übertragen, als ob es sich um Durchführungsmaßnahmen handeln würde.“597 (Hervorhebung durch Verf.)

Das Problem, Regelungsbefugnisse zu übertragen, „als ob es sich um Durchführungsbefugnisse handelte“, bestand konkret darin, dass die Ausübung von Durchführungsbefugnissen im sog. Komitologieverfahren über die Komitees primär von den Mitgliedstaaten – also nicht vom Gesetzgeber – kontrolliert wurde. Während man noch argumentieren könnte, dass die Komitees die Kontrolle des Rates, der schließlich ebenfalls aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzt ist, zumindest funktionell kompensierten, ist im Hinblick auf das Parlament eine solche Argumentation ausgeschlossen.598 Nur im Regelungsverfahren mit Kontrolle verblieb dem Parlament zumindest das Recht, die vorgeschlagenen Durchführungsrechtsakte auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen.599 Immer aber waren der Kontrolle durch den Gesetzgeber die Komitees zwischen­ geschaltet; ihre – ablehnende oder zustimmende – Stellungnahme entschied über das Schicksal der weiteren Mitspracherechte von Rat und Parlament. Das Dilemma, entweder alles selbst bis ins Detail regeln zu müssen oder aber die direkte Kontrolle über die Detailregelungen zu verlieren, war der „Übertragungsfreude“ des europäischen Gesetzgebers, insbesondere des Europäischen Parlaments, abträglich.600 Er tendierte deshalb dazu, Gesetzesvorschriften detailliert zu regeln und nur restriktiv von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Durchführungsbefugnisse auf die Kommission zu übertragen. Diese Tendenz verschärfte sich naturgemäß mit den wachsenden Beteiligungsrechten des Parlaments beim Erlass des Basisrechtsaktes in zunehmendem Maße.601 Warum sollte das Parlament bereitwillig delegieren, wenn es bei der nachfolgenden Durchführungsrechtsetzung fast alle Mitspracherechte verliert? Art. 290 Abs. 2 AEUV will dieses Dilemma auflösen. Der Gesetzgeber soll delegieren können, ohne seine Einflussmöglichkeiten zu verlieren. Insofern führt Art. 290 Abs 1 AEUV durch seinen nun demokratisch fundierten Wesentlichkeitsvorbehalt zwar strengere Delegationsgrenzen ein und unterwirft die Ausübung delegierter Befugnisse durch die Kommission der legislativen Kontrolle von Rat und Parlament. Gerade diese klareren und strengeren Kautelen bei der Befugnisübertragung sollen aber die Delegationsfreude der Gesetzgeber erhöhen.602 597

Schlussbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“; CONV 424/02, S 8. McDonnell, in: FS Bieber, S. 373 (384). 599 McDonnell, in: FS Bieber, S. 373 (384). 600 Ohler, JZ 2006, 359 (360). 601 Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (660); Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 50. 602 Insofern kann Art. 290 AEUV als Freisetzung für die Kommission verstanden werden. Ihr Freiraum scheint auf den ersten Blick mehr eingeschränkt zu sein. Dafür ist aber der Anreiz insbesondere für das Parlament, sich in die Angelegenheiten der Kommission einzumischen, 598

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Die Möglichkeit, der Kommission einseitig die übertragenen Befugnisse durch einen Widerruf zu entziehen wie auch das Einspruchsrecht scheinen in der Tat taugliche Instrumente zu sein, um den Gesetzgeber in seinem Delegationseifer anzustacheln.603 Die Kehrseite der Medaille ist, dass zu weitreichende Delegationen im Hinblick auf das Demokratieniveau europäischer Rechtsetzung problematisch sind. Insofern besteht die Gefahr, dass sich die auf den ersten Blick leicht realisierbaren Kontrollrechte als „Köder“ erweisen, die dem Gesetzgeber das erforderliche ruhige Gewissen verschaffen, um weitreichend Rechtsetzungsbefugnisse zu delegieren, ohne dann später tatsächlich eine effektive Kontrollmöglichkeit zu gewährleisten: Ob sich die Möglichkeit zum Widerruf bzw. zum Einspruch als effektives Instrument gesetzgeberischer Kontrolle erweist, ist nämlich davon abhängig, ob es dem Gesetzgeber gelingt bzw. gelingen kann, den Überblick über erfolgte Delegationen und die Ausübung der delegierten Befugnisse durch die Kommission zu behalten (dazu s. sogleich). Ein weiterer Vorzug der Neuregelung besteht darin, dass sie Unklarheiten, die der normbegleitenden Kontrolle in Form der Einbindung von Ausschüssen stets immanent war, beseitigt.604 Wenig eindeutig war insbesondere die Rolle des Rates bei der Durchführungsrechtsetzung: War der Rat in die Durchführungsrechtsetzung als Legislativorgan oder als Exekutivorgan und Vertreter der Mitgliedstaaten eingebunden? Aus der Ambiguität der Rolle des Rates resultierte, dass unklar blieb, in wessen Verantwortungsbereich die Durchführungsrechtsetzung durch die Kommission eingriff: in den Bereich der Legislative oder in die Verantwortungssphäre der (vollziehenden) Mitgliedstaaten. Diese Fragen sind nun geklärt. Der Rat überträgt und kontrolliert die delegierte Rechtsetzung der Kommission in seiner Eigenschaft als unionaler Gesetzgeber. 2. Gleichstellung von Rat und Parlament Dem Ziel, die Delegationsfreude des Gesetzgebers zu erhöhen und übermäßig detaillierte Gesetzgebung zu vermeiden, wäre es abträglich, wenn – wie bisher – ein Gesetzgeber von zweien in nur sehr eingeschränktem Umfang Einfluss üben könnte. Weil das Parlament trotz zunehmender Mitspracherechte beim Erlass der Basisrechtsakte beim Erlass der Durchführungsakte nur unzureichend beteiligt war, war es eher geneigt, den Basisrechtsakt mit einem Übermaß an Details ausdeutlich vermindert. Dies hatte zuvor den Freiräumen der Kommission faktisch mehr Schaden zugefügt. s. zur alten Rechtslage Tizzano, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 207 (213): „… the ambiguity of the system simultaneously favours and penalizes the Commission.“ 603 Diese Lösung widerspricht nicht den Interessen der Kommission. Diese verfolgte seit langem die Abschaffung der Komitees. Art. 290 AEUV setzt dies um. Als Ausgleich für die Reduzierung des Einflusses der Mitgliedstaaten war die Kommission mit der Einrichtung der ex ante und ex post Kontrollrechte einverstanden, s. diese Deutung bei Craig, Administrative Law, S. 124. 604 Dazu s. oben § 1 C. II. 2. c) bb) (2).

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zustatten. Diese Neigung wiederum war dem „Image“ des Parlaments abträglich und führte etwa dazu, dass im Vertrag von Amsterdam die Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens auf den Agrarsektor nicht verwirklicht wurde.605 Entsprechend bedeutsam ist, dass Art. 290 Abs. 2 AEUV Rat und Parlament bei der Kontrolle der delegierten Rechtsakte als ebenbürtige Kontrollorgane einsetzt. Für das Parlament ist dies ein deutlicher Fortschritt im Vergleich zu seiner Stellung aufgrund der alten Rechtslage.606 Dort war der Rat primärrechtlich als dasjenige Organ konzipiert, das allein die Durchführungsbefugnisse überträgt.607 Das Parlament tauchte in Art. 202 EGV als (Durchführungs-)Befugnisse übertragendes Organ nicht auf. Und diese dominierende Stellung des Rates setzte sich in den im Komitologiebeschluss geregelten Kontrollmechanismen fort. Sogar im Regelungsverfahren mit Kontrolle (PRAC608) nach dem neuen Komitologiebeschluss von 2006, das sich auf dieselben Fälle bezieht wie Art.  290 AEUV (also auf die Ergänzung bzw. Änderung von nichtwesentlichen Vorschriften des Basisrechtsakts)609 und in dem das Parlament noch „am meisten mitzureden hatte“, war die Rolle des Parlaments gegenüber dem Rates zurückgesetzt.610 Während der Rat im Falle einer ablehnenden Stellungnahme611 des Komitees aus beliebigen Gründen den Erlass der betreffenden Durchführungsbestimmung ablehnen konnte (Art. 5a Abs. 4 lit. c), war das Europäische Parlament auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt612: Es konnte gegen den vorgeschlagenen Durchführungsakt also nur anführen, dass er nicht mehr von der Ermächtigung im Basisrechtsakt gedeckt sei613 oder aber dass er gegen die Grundsätze der Subsidiarität oder der Verhältnismäßigkeit verstoße. Darüber hinaus galt das PRAC 605

Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (660 m. Fn. 72). Türk, in: Kadelbach, Europäische Integration und parlamentarische Demokratie, S. 131 (154). 607 Art. 202, 3.  Spiegelstrich lautete: „Der Rat überträgt in den von ihm angenommenen Rechtsakten die Befugnisse zur Durchführung der Vorschriften, die er erlässt“. (Hervorhebungen durch Verf.). 608 Procédure de réglementation avec contrôle. 609 Jacqué, SZIER/RSDIE 2011, 29 (75), zu der (weitgehenden) Parallelität von Maßnahmen gemäß dem PRAC und delegierten Rechtsakten gemäß Art. 290 AEUV. 610 Wenngleich der Komitologiebeschluss für das Parlament einen Fortschritt bedeutete und es zumindest auf ein „almost-equal footing“ mit dem Rat im Hinblick auf im Mitentscheidungsverfahren erlassene Basisrechtsakte stellte, Kaeding/Hardacre, The Execution of ­Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 1. 611 Im Falle einer zustimmenden Stellungnahme des Komitees konnte auch der Rat den vorgeschlagenen Durchführungsrechtsakt nur wegen Rechtswidrigkeit, nicht aber aus Zweckmäßigkeitserwägungen zurückweisen, s. Art. 5a Abs. 3b Komitologiebeschluss, sowie McDonnell, in: FS Bieber, S. 372 (384). 612 Dennoch positiv gegenüber dem Komitologiebeschluss 2006 als Grundlage für eine „echte Befugnis zur Kontrolle“ für das Parlament, Türk, in: Kadelbach, Europäische Integration und parlamentarische Demokratie, S. 131 (145). 613 Dies war der Fall, wenn die Durchführungsmaßnahme über die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse hinausgeht, oder der Entwurf mit dem Ziel oder dem Inhalt des Basisrechtsakt unvereinbar ist. 606

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nicht für sämtliche Durchführungsakte, die ihre Grundlage in einem im Mitentscheidungsverfahren ergangenen Basisrechtsakt hatten. In diesen Fällen bestand die Diskrepanz zwischen der Gleichberechtigung des Parlaments beim Erlass des Basisrechtsakts und der untergeordneten Rolle im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung fort, bei der sich das Parlament im Wesentlichen mit Informationsrechten und einer Möglichkeit zur Stellungnahme begnügen musste.614 Die Gleichstellung von Rat und Parlament bei der Delegation gemäß Art. 290 AEUV setzt bei der Übertragungskompetenz an: Nunmehr überträgt die Durchführungsbefugnisse nicht mehr allein der Rat „in den von ihm erlassenen Rechtsakten“, sondern Art. 290 AEUV formuliert offener, dass die Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte in „Gesetzgebungsakten“ übertragen wird. Hierdurch wird deutlich, dass immer diejenigen Organe die Rechtsetzungsbefugnisse übertragen, die schon am Erlass des betreffenden Gesetzgebungsaktes beteiligt sind: Dies sind stets Rat und Parlament. Insofern scheint es auf den ersten Blick uneingeschränkt folgerichtig, diese Gleichstellung auf Ebene des Basisrechtsakte bei der Kontrolle der abgeleiteten Rechtsetzung fortleben zu lassen und Rat und Parlament in gleicher Weise zu beteiligen. Auch auf den zweiten Blick trifft diese Einschätzung im Hinblick auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zu; fungieren dort doch Rat und Parlament am Erlass des Gesetzgebungsaktes als gleichberechtigte Gesetzgeber, so dass sich diese Gleichstellung bei der Kontrolle fortsetzen sollte (unabhängig davon, welches Maß an Kontrollrechten man dem Gesetzgeber insgesamt im Bereich abgeleiteter Rechtsetzung zugestehen möchte). Allerdings könnte man schon hier Kritik üben: Obwohl Rat und Parlament nur in gemeinsamem Einvernehmen den Gesetzgebungsakt erlassen können, können sie den Erlass von Durchführungsmaßnahmen einseitig verhindern.615 In der Ausübung der Kontrollrechte nach Art. 290 Abs.  2 AEUV ist das Parlament vom Rat unabhängig und umgekehrt. Art.  290 Abs. 2 AEUV spricht davon, dass Rat oder Parlament die Übertragung widerrufen bzw. Einwände erheben können. Den beiden Organen jeweils gesondert die Befugnis zur Ausübung der Kontrollrechte zu geben, war explizit geäußerte Intention der Änderungen des Präsidiums am Entwurf des Verfassungsvertrags.616 Die Verhinderungsmöglichkeiten der beiden Gesetzgebungsorgane reichen auf Ebene der delegierten Rechtsetzung über ihre Einflussmöglichkeiten auf Ebene des Gesetzgebungsaktes hinaus. Ob man dies als „Systembruch“ begreifen muss, wie dies etwa Härtel617 tut, ist indes fraglich. Es lässt sich nämlich vom ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ausgehend in genau umgekehrter Richtung argumentieren: Rechtsetzungsbefugnisse können nur im Einvernehmen von Rat und Parlament 614

Bradley, in: FS Bieber, S. 287 (300); Scharf, BZTW, Heft 101 (12/2010), S. 14. Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S.  209 (218); Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 112, die hierin einen Systembruch sieht. 616 s. CONV 724/03, Anlage 2, S. 93. 617 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 112 ff. 615

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auf die Kommission übertragen werden. Bricht dieses Einverständnis nachträglich weg, soll auch die Delegation nicht mehr wirksam sein.618 Das Einvernehmen über die Delegation fehlt aber schon dann, wenn nur eines der gesetzgebenden Organe seine Kontrollrechte ausübt. Im Hinblick auf die in den Verträgen ebenfalls anzutreffenden besonderen Gesetzgebungsverfahren überzeugt die Lösung, dass Rat und Parlament als Kon­ trollorgane gleichgestellt sind, in puncto Folgerichtigkeit nur bedingt. In den besonderen Gesetzgebungsverfahren schrumpft die parlamentarische Beteiligung bisweilen auf ein bloßes Anhörungsrecht.619 Dennoch kann das Parlament hier mit der Mehrheit seiner Mitglieder die im ermächtigenden Gesetzgebungsakt vorgesehenen Kontrollrechte ausüben und damit den Erlass eines delegierten Rechtsaktes verhindern, und dies sogar dann, wenn der delegierte Rechtsakt der Kommission die volle Zustimmung des Rates findet. Art. 290 Abs. 2 AEUV differenziert nicht danach, ob der delegierende Gesetzgebungsakt im ordentlichen oder im besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassen wurde.620 Die Kontrollrechte bestehen also unabhängig von den Beteiligungsrechten auf Ebene der Gesetzgebung; eine vollständige Parallelität der Kontrollrechte zu den Legislativkompetenzen ist nicht verwirklicht.621 Dies bedeutet, dass es der untergeordneten Kammer – im Zusammenhang mit den besonderen Gesetzgebungsverfahren also dem Parlament – möglich ist, auf der Ebene des abgeleiteten Rechts eine Maßnahme zu verhindern, deren Grundlage es nicht beeinflussen konnte, da das Parlament vor dem Erlass des Gesetzgebungsaktes lediglich anzuhören war. In Anbetracht der potentiellen Tragweite delegierter Rechtsetzung ist dies eine beträchtliche Einwirkungsmöglichkeit der eigentlich doch „untergeordneten“ Kammer. Auf der einen Seite lässt sich diese fehlende Parallelität von Gesetzgebungskompetenzen und Kontrollrechten zwar als Systembruch begreifen622; auf der anderen Seite gilt es zu bedenken, dass 618 Dieses Argument von Lenmarker bewog im Konvent die Mehrzahl der Delegierten dazu, dieser Ausgestaltung der Kontrollrechte zuzustimmen, s. Crum, Notes of the Meeting of the European Convention, 17. und 18. März 2003, S. 7; für sinnvoll erachten dies auch Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 19 f. 619 So z. B. in Art. 21 Abs. 3 S. 2 AEUV. 620 König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 2 Rn. 105 m. Fn. 272 die als „unklar“ bezeichnet, wie in diesen Fällen die Kontrollrechte ausgeübt werden sollen.; der Konvent ging anscheinend davon aus, dass Basisrechtsakte für delegierte Rechtsakte praktisch immer im Mitentscheidungsverfahren ergehen würden, vgl. CONV 424/02, S. 8 ff. 621 Dies bezeichnet als weiteren „Systembruch“: Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 111. 622 So auch Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 9, die daraus schlussfolgern: „Therefore, … the merely commenting body cannot be granted the same control rights as the decision making body.“ Indes dürfte es nicht möglich sein, insbesondere die parlamentarischen Kontrollrechte im Fall von im besonderen Gesetzgebungsverfahren angenommenen Gesetz­ gebungsakten sekundärrechtlich zu beschränken. Denn das Sekundärrecht kann nicht das Primärrecht verändern und aushebeln. Überdies hat gerade die parlamentarische Beteiligung an der delegierten Rechtsetzung das Demokratieprinzip hinter sich; sie steht deshalb nicht zur Dis­ position des Gesetzgebers, vgl. auch Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (55).

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schon die Existenz besonderer Gesetzgebungsakte selbst ein Systembruch ist, weil sie das Konzept einer einheitlichen demokratischen Dignität der Gesetzgebungsakte beschädigt.623 Aus diesem Blickwinkel könnte sich die gleichberechtigte Stellung des Parlaments bei der Kontrolle der delegierten Rechtsetzung als Korrektiv erweisen, das – wenn auch systemwidrig – dem Parlament wünschenswerten Einfluss verschafft.624 In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass anders als noch im Regelungsverfahren mit Kontrolle das Parlament nicht mehr in den Gründen, aus denen es einen Kommissionsentwurf ablehnt, beschränkt ist: Sowohl Rat als auch Parlament können den delegierten Rechtsakt nicht nur auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüfen. Vielmehr können ihn beide Organe schon aus Gründen der Zweckmäßigkeit zurückweisen.625 Die Rolle des Parlaments ist im Vergleich zur Rechtslage aufgrund des alten Art. 202 EGV damit deutlich verbessert. 3. Abschließender Charakter der Kontrollrechte in Art. 290 Abs. 2 AEUV, insbesondere: Art. 290 Abs. 2 als Rechtsgrundlage für die Komitologie? Uneinigkeit besteht darüber, ob die in Art.  290 Abs.  2 AEUV vorgesehenen Kontrollrechte abschließend sind oder ob die Gesetzgebungsorgane ein „Erfindungsrecht“ hinsichtlich anderer Kontrollmechanismen haben.626 Die verschiedenen Sprachfassungen sind wohl uneinheitlich.627 Während aus manchen hervorzugehen scheint, dass den Gesetzgebungsorganen neben Einspruch und Widerruf gemäß Art.  290 Abs.  2 AEUV noch andere Formen der ex-post-Kontrolle zur Verfügung stehen, gehen die englischen, französischen und deutschen Fassungen offenbar davon aus, dass die Liste des Abs.  2 abschließend628 ist.629 Das „wobei“ der deutschen Sprachfassung verengt die Bedingungen, unter denen die

623

s. dazu unten unter § 7; sowie die Erkenntnis der Gruppe IX „Vereinfachung“, CONV 424/02, S. 2: „Vereinfachen heißt in erster Linie ‚durchschaubar machen‘, aber auch garantieren, dass Rechtsakte mit derselben rechtlich-politischen Wirkung sich auf dieselbe demokratische Legitimität stützen.“ (Hervorhebung durch Verf.) 624 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 290 AEUV Rn. 62. 625 McDonnell, FS Bieber, S. 372 (384). 626 Hofmann, ELJ 2009, 482 (493), der für beide Ansichten gleichermaßen berechtigte Gründe findet; s. auch Bericht des Europäischen Parlaments über die Übertragung legislativer Zuständigkeiten, (2010/2021(INI)), S. 5, der die Kontrollmechanismen als nicht abschließend einstuft. 627 s. dazu Hofmann, ELJ 2009, 482 (493 m. Fn. 52). 628 Österreichisch bei Schusterschitz: „taxativ“. 629 Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, S. 209 (231 Fn. 98); Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (41); Edenharter, DÖV 2011, 645 (647); Härtel, Handbuch Europäische Recht­ setzung, § 11 Rn. 132.; das Für und Wider abwägend Hofmann, ELJ 2009, 482 (493); Vos, FS Kellermann, S. 111 (117 f.); Jacqué, SZIER/RSDIE 2011, 29 (76).

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Übertragung stattfinden kann, auf zwei Möglichkeiten, auf Widerruf und Einspruch. Andere gehen nichtsdestotrotz, teilweise ohne nähere Begründung, von einem nicht abschließenden Charakter der Liste der Kontrollrechte in Art.  290 Abs. 2 AEUV aus.630 Nachdem der Wortlaut wenigstens in den unterschiedlichen Sprachfassungen kein einheitliches Bild abgibt, treten andere Kriterien für die Auslegung in den Vordergrund. Gründe der Zweckmäßigkeit legen eher ein Verständnis nahe, dass die Liste der Kontrollrechte in Art. 290 Abs. 2 AEUV als abschließend begreift. Eines der Hauptanliegen der Vertragsänderungen bestand darin, die Verfahren zu vereinfachen und zu entschlacken. Gerade die Delegation sollte an Attraktivität gewinnen, indem sie einem simple legal mechanism of control631 unterworfen wurde. Gewährte man den Gesetzgebungsorganen die Möglichkeit, weitere Kontrollverfahren zu erfinden, droht diese Intention zu scheitern. Dürften nämlich die Gesetzgeber stets neue Kontrollmechanismen ersinnen, ist es wahrscheinlich, dass sie von dieser Freiheit Gebrauch machten. Die Folge wäre, dass über die Kontrollrechte jeweils neu nachgedacht werden müsste und sie jeweils neuer Aushandlung bedürften. Jedes Organ wäre naturgemäß bestrebt zu versuchen, in jedem Fall die ihm günstigste Lösung durchzusetzen. Dieses Bestreben zieht tendenziell langwierige Verhandlungen mit der Gefahr immer neuer Grabenkämpfe nach sich. Im Zusammenhang mit der Komitologie war das erhöhte Potential interinstitutioneller Konflikte im Fall von den Organen belassenen Wahlmöglichkeiten seit Jahrzehnten zu beobachten.632 Relevant ist der Streit über den abschließenden Charakter des Art. 290 Abs. 2 AEUV vor allem im Hinblick auf die Frage, ob die Gesetzgebungsorgane als weiteres Instrument der Kontrolle über die delegierte Rechtsetzung die altbekannten – teils berüchtigten, teils bewährten – Komitologieverfahren einsetzen könnten. Auch hierzu besteht Uneinigkeit. Manche verweisen schlicht auf den  – meines Erachtens sehr zweifelhaften  – nicht abschließenden Charakter des Art. 290 Abs. 2 AEUV und die Meriten der Komitologie. Sie halten es aus diesen Gründen für möglich, dass Rat und Parlament die Kommission der Kontrolle durch die Komitees unterwerfen könnten.633

630 McDonnell, in: FS Bieber, S. 373 (385); Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 19; so wohl nun doch auch Hofmann, ELJ 2009, 482 (500), der vorschlägt den bisherige Komitologiebeschluss schlicht zu „splitten“ und auf Art. 290 und 291 AEUV aufzuteilen. 631 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (115); Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (117). 632 Dies galt in Zeiten der ad-hoc Komitologie in besonderer Weise, weil dort alle Details der Beteiligung der Komitees jeweils neu geregelt wurden, aber auch später bei der Frage, welches Komitologieverfahren konkret Anwendung finden sollte, s. Hofmann, ELJ 2009, 482 (493). 633 Dazu mit Nachw. Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 17.

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Mehr spricht indes gegen diese Möglichkeit.634 Da ist zunächst der eindeutige sprachliche Unterschied in der Formulierung zu Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV. Diese Vorschrift diente anerkanntermaßen als Grundlage für die Komitologie, formulierte aber anders als Art. 290 AEUV viel allgemeiner und sprach lediglich von „Modalitäten“, die der Rat festlegen könne. Art. 290 AEUV hingegen siedelt die Kontrolle klar bei Rat und Parlament an und erwähnt nur zwei ganz bestimmte Kontrollmechanismen.635 Da ist  – bedeutsamer noch  – der Unterschied und ein daraus folgender Umkehrschluss zu Art. 291 AEUV. Dort fällt es leicht, die Vorschrift des Art. 291 Abs. 3 AEUV als Grundlage für eine (neue636) Komitologieverordnung zu lesen. Nach Art. 291 AEUV sind ausdrücklich die Mitgliedstaaten zur Kontrolle berufen; anders lautet hingegen Art. 290 AEUV, der als Kontrollorgane nur Rat und Parlament vorsieht, und demnach keine Grundlage für die Einführung des Komitologieverfahren bietet. Denn die Komitologie wird gemeinhin als ein solches Mittel mitgliedstaatlicher Kontrolle der abgeleiteten Kommissionsrechtsetzung verstanden.637 Und dies mit Recht, setzen sich die Komitees doch aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen, die zwar kein eigenes Entscheidungsrecht in der Durchführungsrechtsetzung haben, so doch „Drohpotential“638, indem sie durch ihr Votum das weitere Schicksal des Durchführungsaktes bestimmen.639 Für diese Auslegung spricht überdies die Entstehungsgeschichte des Art. 290 AEUV. Gerade weil die Komitologie ein Instrument mitgliedstaatlicher Kontrolle war, sah der Konvent Handlungsbedarf. Seiner Ansicht nach bestand nach bisheriger Rechtslage das Dilemma, dass der Gesetzgeber entweder gezwungen war, die von ihm erlassenen Bestimmungen in allen Einzelheiten zu regeln oder die Regelung technischer oder eingehenderer Aspekte von Rechtsvorschriften der Kommission zu übertragen, „als ob es sich um Durchführungsmaßnahmen handeln würde, die nach Art. 202 EGV der Kontrolle der Mitgliedstaaten unterliegen.“640 Gerade dieses Dilemma war der Grund für die Einführung der Rechtsform des delegierten Rechtsaktes: Anders als die Durchführung ist Art. 290 AEUV so konzipiert, dass sich die Delegation als Eingriff in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers 634

Edenharter, DÖV 2011, 645 (647); Lenaerts, EuConst 1(2005), 57 (60); Leixner, BMF Working Paper, S. 13; s. auch Bericht des Europäischen Parlaments zur Übertragung legislativer Zuständigkeiten (2010/2021(INI)), S.  10, der die Kontrollrechte ebenfalls nicht als abschließend versteht, aber der Aufzählung in Art. 290 AEUV doch zumindest entnimmt, dass die Kontrollrechte eine wirksame Überwachung durch den Gesetzgeber ermöglichen müssen. 635 McDonnell, in: FS Bieber, S. 373 (385). 636 Der alte Komitologiebeschluss genügt nicht den Anforderungen des Art.  291 Abs.  3 AEUV, der verlangt, dass Rat und Parlament die allgemeinen Regeln für die Kontrolle im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festgelegen. 637 s. nur Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 24; Hummer, FS Fischer, S. 121 (151). 638 Wolfram, Underground Law, S. 18. 639 Richtig ist allerdings auch, dass die Komitologie noch andere Zwecke und Funktionen hatte als mitgliedstaatliche Kontrolle zu gewährleisten. Deshalb ist der Wegfall der Komitologie auch nicht ganz unproblematisch. Hierauf wird noch einzugehen sein, s. unten § 3 C. III. 2.  640 s. nur CONV 424/02, S. 8.

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darstellt; entsprechend sollte sich die Kontrolle über die delegierte Rechtsetzung auf eine Kontrolle durch die Gesetzgeber beschränken. Demgegenüber greift die Übertragung von Durchführungsbefugnissen in den Verantwortungsbereich nicht des Gesetzgebers, sondern der Mitgliedstaaten ein; entsprechend ist bei Art. 291 AEUV die Kontrolle über die Rechtsetzungstätigkeit der Kommission bei den Mitgliedstaaten verortet. Gerade angesichts jüngerer Rechtsprechung des EuGH scheint es bedenklich, diese primärrechtliche festgelegte und funktional begründbare Verteilung der Kontrollzuständigkeiten zwischen den Gesetzgebungsorganen auf der einen (Art. 290 AEUV) und den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite (Art. 291 AEUV) sekundärrechtlich zu unterwandern. Der EuGH hatte jüngst noch einmal betont, dass die „Grundsätze über die Willensbildung der Gemeinschaftsorgane im Vertrag festgelegt sind und nicht zur Disposition der Mitgliedstaaten oder der Organe selbst stehen.“641

Weder die Organe noch die Mitgliedstaaten dürfen also die primärrechtlich vorgegebene Kontrollzuständigkeit von Rat und Parlament durch Sekundärrecht ändern. Schon von daher dürfte die formalisierte, verbindliche Einbindung von Komitees im Rahmen von Art. 290 Abs. 2 AEUV ausgeschlossen sein. Aus Sicht der Sicht der Kommission kommt hinzu, dass die Kontrollrechte des Gesetzgebers das quid pro quo für die – von ihr lang ersehnte – Abschaffung des Komitologiewesens sind642; sie sollten somit nur anstelle der Komitologie, nicht neben ihr zum Einsatz kommen. Überdies kennt Art. 290 AEUV lediglich ex ante sowie ex post wirkende Kontrollmechanismen. Das normbegleitende Kontrollinstrument der Komitologie wirkt in diesem so gesetzten Rahmen als unzulässiger Fremdkörper, und zwar selbst dann, wenn man Art. 290 Abs. 2 AEUV als grundsätzlich entwicklungsoffen verstehen würde. Schließlich spricht noch die Erklärung 39 zu Art.  290 AEUV dagegen, dass Art.  290 AEUV eine geeignete Rechtsgrundlage für die Komitologie darstellt. Mit dieser Erklärung nehmen die Vertragsautoren zur Kenntnis, dass die Kommission beabsichtigt, bei der Ausarbeitung von Entwürfen im Bereich der Finanzdienstleistungen nach ihrer üblichen Vorgehensweise643 weiterhin von den Mitgliedstaaten benannte Experten zu konsultieren; zu dieser „Verpflichtung“ hat sich die Kommission später noch einmal bekannt.644 Daraus folgt aber zugleich, dass in anderen Bereichen als im Bereich der Finanzdienstleistungen eine solche „Verpflichtung“ nicht besteht.645 Art. 290 AEUV bietet keinen Raum, um im Rahmen 641

EuGH, Rs. 133/06 (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-3189 Rn. 54. Craig, Administrative Law, S. 124. 643 Gemeint ist das Lamfalussy-Verfahren, dazu s. Schmolke, EuR 2006, 432 ff. 644 KOM(2009) 673, S. 7, s. auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 290 AEUV Rn. 16. 645 Wolfram, Underground Law, S. 17; Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 44. 642

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der delegierten Rechtsetzung die formalisierte und verbindliche Beteiligung von Komitees vorzusehen. Diese Interpretation schließt es nicht aus, dass sich die Kommission bei der Ausarbeitung delegierter Rechtsakte rein beratender Komitees bedient.646 Eine solche Bereitschaft der Kommission dürfte in vielen Fällen sogar sehr zu begrüßen sein. Es fragt sich nämlich durchaus, ob der mit Art. 290 AEUV verbundene Ausschluss der Komitees von der delegierten Rechtsetzung hinreichend auf seine Folgen hin bedacht wurde.647 Wie gezeigt, waren die Komitologieverfahren ein Instrument der Kontrolle durch die Mitgliedstaaten. Neben dieser Kontrollfunktion waren mit der Beteiligung nationaler Experten bei der Kommissionsrechtsetzung noch weitere Vorteile verbunden: Für die Kommission selbst und den Inhalt der Durchführungsakte von besonderer Bedeutung war der fachliche Input, den die mitgliedstaatlichen Experten in den Prozess abgeleiteter Rechtsetzung einzubringen vermochten.648 Auch für die gesetzgebenden Organe konnten sich die mitgliedstaatliche Mitwirkung als wertvoll erweisen: Stieß ein Vorschlag auf Widerstand in einem Komitee, war dies ein untrügliches Zeichen für die politische Relevanz eines Durchführungsaktes.649 Mit dem Wegfall der Komitees verschwinden auch diese Vorzüge. Wie sich dies auswirkt, vor allem Hinblick auf die Effektivität der Kontrollrechte wie der delegierten Rechtsetzung selbst, wird im Anschluss zu untersuchen sein. III. Zur Effektivität und Sachgerechtigkeit der Kontrollrechte 1. Zwingender Charakter der Kontrollrechte? Auch wenn das Primärrecht selbst die Kontrollrechte einführt: Rat und Parlament sind nicht bereits unmittelbar aufgrund dieser primärrechtlichen Erwähnung zu Widerruf und Einspruch berechtigt. Sie können diese Instrumente nur dann ausüben, wenn ein Gesetzgebungsakt ihnen diese Rechte explizit einräumt.650 Dies ergibt sich aus Art. 290 Abs. 2 AEUV, der verlangt, dass diese Rechte „in Gesetzgebungsakten“ – d. h. entweder im ermächtigenden Basisrechtsakt selbst oder in einer horizontal alle Fälle der Delegation erfassenden Regelung – „ausdrücklich festgelegt“ werden.651 Fehlt es an einer solchen Ermächtigung im Gesetzgebungs 646 Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art.  249 EGV Rn.  44; Wolfram, Underground Law, S. 18; Leixner, BMF Working Paper 1/2010, S. 35 f. 647 Sehr krit. insoweit Vos, FS Kellermann, S. 111 (117 f.). 648 Vos, FS Kellermann, S. 111 (118). 649 Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, 5.  Aufl., Art. 155 Rn.  650 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 109 f. 651 Unklar insoweit Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 19: „It is correct that the legislator is entitled to use the right to revoke the delegation of power and the right to express objections …, but it does not necessarily have to incorporate them into the basic instrument …. Under no circumstance is the legislator ever to waive its right of opposition.“

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akt, können Rat und Parlament weder Einspruch gegen einen delegierten Rechtsakt erheben, noch die Befugnisübertragung widerrufen.652 Die Frage, die sich angesichts dieses Befundes im Hinblick auf die legitimatorische Bedeutung der Kontrollrechte stellt, ist folgende: Ist ein Gesetzgebungsakt, der Rechtsetzungsbefugnisse auf die Kommission delegiert, ohne Festlegung eines Kontrollrechts rechtmäßig? Mit anderen Worten: Ist die Einräumung von Kontrollrechten gemäß Art. 290 Abs. 2 AEUV zwingende Rechtmäßigkeitsbedingung für eine Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen? Hiervon hängt ganz erheblich ab, inwiefern die in Art. 290 Abs. 2 AEUV normierten Rechte insbesondere der parlamentarischen Kontrolle zu praktischer Wirksamkeit verhelfen und so das erforderliche Niveau an sachlich-inhaltlicher Legitimation tatsächlich gewährleisten können.653 Zu der Frage der Verbindlichkeit der Kontrollrechte kursieren unterschiedliche Deutungen; entsprechend unterschiedlich wird ihre praktische Wirksamkeit be­urteilt. Während einige, teilweise ohne nähere Begründung, davon ausgehen, dass ein Gesetzgebungsakt, der Rechtsetzungsbefugnisse auf die Kommission delegiert, ohne wenigstens eines der in Art. 290 Abs. 2 AEUV normierten Kontrollrechte vorzusehen, rechtswidrig ist654, sehen andere die Kontrollrechte nicht als zwingende Voraussetzung einer rechtmäßigen Delegation.655 Ausgangspunkt jeder Auslegung muss auch beim europäischen Primärrecht der Wortlaut der Vorschrift sein.656 Art. 290 Abs. 2 AEUV lautet: „Die Bedingungen unter denen die Übertragung erfolgt, werden in Gesetzgebungsakten ausdrücklich festgelegt, wobei folgende Möglichkeiten bestehen.“

In der deutschen Sprachfassung, die – wie die französische657 – schlicht den Indikativ verwendet, scheint eine Interpretation, nach der die Einräumung von Kontrollrechten zwingende Voraussetzung einer jeden Delegation ist, vorzugswürdig: Deutet doch der Gebrauch des Indikativs im primären Unionsrecht generell auf eine Pflichtenbegründung hin.658 Zudem war bereits in Art.  202 3. Spiegelstrich EGV der Indikativ ein Mittel dafür auszudrücken, dass der Rat der Kommission 652

Es wird vermutet, dass Kommissionsinteressen hinter dieser Regelung stehen. Denn über ihr Initiativrecht kann die Kommission Einfluss auf den einschlägigen Kontrollmechanismus nehmen, s. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 110. 653 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (116 f.) etwa stellt die Wirksamkeit der parlamentarischen Beteiligung infrage, weil die Kontrollrechte nicht zwingend seien. 654 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn.  107, Kotzur, in: Geiger/Khan/ Kotzur, EUV/AEUV, Art. 290 Rn. 6. 655 So v. a. Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (116 f.); ders., Administrative Law, S. 129 f. 656 Vgl. zur Auslegung des Primärrechts etwa EuGH, Rs. C-156/98 (Deutschland/Kommission), Slg. 2000, I-6857 Rn. 50; allgemein Larenz, Methodenlehre, S. 320. 657 „Les actes législatifs fixent explicitement les conditions auxquelles la délégation est ­soumise, qui peuvent être les suivantes.“ 658 Winkler, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. EL 2009, Art. 308 Rn. 109.

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die Durchführungsbefugnisse übertragen musste. Allerdings wurde dort diese Auslegung noch dadurch gestützt, dass der Fall, in dem der Rat von einer Übertragung absehen wollte, einem Rechtfertigungsbedürfnis („spezifische Fäll“) unterlag. Für einen zwingenden Charakter auch von Art. 290 Abs. 2 AEUV spricht aber neben dem Indikativ, dass die „Bedingungen“, unter denen die Übertragung erfolgt und die in Gesetzgebungsakten festgelegt werden, auf zwei Möglichkeiten beschränkt sind, nämlich Widerruf und Einspruch; dass also die Möglichkeit, keine Kontrollrechte vorzusehen, anscheinend nicht vorgesehen ist. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Bedingungen, unter denen die Übertragung stattfindet, durch den Gebrauch der Konjugation „wobei“ nur auf diese zwei Möglichkeiten „zuspitzen“. Allerdings könnte dies ebenfalls lediglich auf einen abschließenden Charakter der beiden Kontrollrechte hinweisen, einen kompletten Verzicht auf jedwede Bedingungen aber noch zulassen. Die englische Sprachfassung scheint deutlicher noch als die deutsche und die französische Fassung in die Richtung zu weisen, dass es sich bei den Kontrollrechten um Bedingungen handelt, die festgelegt werden müssen.659 Im englischen Text lautet Art. 290 Abs. 2 AEUV: „Legislative acts shall explicitly lay down the conditions …; these conditions may be as ­follows.“

Craig indes scheint schon den Wortlaut im Sinne eines nicht-zwingenden Charakters der Kontrollrechte zu deuten.660 Er verweist zur Stützung seiner Ansicht überdies auf Änderungen, welche das Präsidium an dem Konventsvorschlag vorgenommen hatte.661 Das Präsidium hatte den Wortlaut der zu Art. 290 Abs. 2 AEUV analogen Bestimmung geändert, „um zu verdeutlichen, dass diese Bedingungen fallweise in dem die Übertragung vornehmenden Gesetz oder Rahmengesetz festgelegt werden, und dass diese Bedingungen nicht unerlässlicher Bestandteil eines solchen Gesetzes oder Rahmengesetzes sein müssen.“662

Craig sieht die Intention des Präsidiums, den Vorschlag des Konvents zu ändern als entscheidendes Indiz für die fehlende Verbindlichkeit der Bedingungen. Allerdings kann die Aussage des Präsidiums auch so verstanden werden, dass die Änderung nur eine Klarstellung dahingehend bewirken sollte, dass nicht jedes Mal beide Formen der Kontrollmechanismen vorgesehen werden müssten. Nur so interpretiert augenscheinlich die Kommission die Offenheit der Vorschrift.663 Darüber hinaus ist letztlich maßgeblich nur der Wortlaut der Vorschrift selbst, nicht die (zumal unklaren) Äußerungen im Zusammenhang mit dem Erlass der Vorschrift. 659

So Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (116). Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (116). 661 Craig, Administrative Law, S. 129 für den Verfassungsvertrag; ders. in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (116 f.). 662 CONV 724/93, Anlage 2, S. 93. 663 KOM(2009) 673 endg., S. 8: „Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, beide Bedingungen aufzuerlegen, denn sie sind voneinander unabhängig.“ 660

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Dem Wortlaut des Art. 290 Abs. 2 AEUV widerfährt meines Erachtens – entgegen der Ansicht Craigs – aber eher Gerechtigkeit, wenn man ihn im Sinne einer zwingenden Rechtmäßigkeitsanforderung begreift. Das in Art. 290 Abs. 2 AEUV verwendete „shall“ deutet in der englischen Rechtssprache jedenfalls in der Regel nicht auf freies Ermessen hin, sondern impliziert Verbindlichkeit.664 Eine solche Bedeutung des „shall“ – wie schon des Indikativs in der deutschen und in der französischen Version – legt insbesondere ein Vergleich von Art. 290 Abs. 2 AEUV mit dessen Abs. 1 nahe. Allseits wird dort das ebenfalls verwendetete „shall“665 in der englischen (wie der Gebrauch des Indikativs in der deutschen und in der französischen Sprachfassung!) dahingehend verstanden, dass Gesetzgebungsakte das Wesentliche selbst regeln müssen und eine Delegation wesentlicher Bestandteile unzulässig ist. Der Gleichlauf der Formulierungen in Art.  290 Abs.  1 und Abs. 2 AEUV gebietet ein paralleles Verständnis der Vorschriften; wenn Art. 290 Abs.  1 AEUV zwingende Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen formuliert, ist eine solche Intention im Fall des entsprechend lautenden Abs.  2 AEUV gleichfalls zu vermuten. Zuletzt sprechen objektiv-telelogische666 Kriterien für ein Verständnis, nach dem jedwede Delegation, um rechtmäßig zu sein, auf die Fixierung von Kontroll­ rechten gemäß Art.  290 Abs.  2 AEUV angewiesen ist. Unter objektiv-teleologischen Auslegungskriterien sind unter anderen Prinzipien667 zu verstehen, die einer Regelung zugrundeliegen.668 Der Regelung des Art. 290 Abs. 2 AEUV liegt das Demokratieprinzip zugrunde.669 Die Vorschrift gewährleistet das erforder­liche Maß an gesetzgeberischer, und eben auch: parlamentarischer Kontrolle, derer es bedarf, um trotz der Delegation vom Rechtsetzungsbefugnissen vom Gesetzgeber weg auf eine andere, demokratisch weniger legitimierte Stelle ein hinreichendes sachlich-inhaltliches Legitimationsniveau zu bewahren. Die Vorschrift des Art. 290 Abs. 2 AEUV ergänzt die Delegationsschranke des Wesentlichkeitsvorbehalts in Art.  290 Abs.  1 AEUV und verfolgt wie diese denselben Zweck, die erforderliche demokratische Rückbindung delegierter Rechtsetzung abzusichern. Selbst wenn die Delegation an die Kommission tatsächlich eigene legitimatorische Vorteile erzeugen mag, ist sie  – anders als die gesetzgeberischen Beteiligungsrechte bei der delegierten Rechtsetzung – rechtlich nicht Bestandteil des europä 664 Vgl. den Eintrag in Black’s Law Dictionary; ausführlich zu der – zugegebenermaßen – ambivalenten Verwendung von „shall“ in der englischen Rechtsprache, s. Foley, Going out in style? Shall in EU legal English, in: Rayson u. a. (Hrsg.), Proceedings of the Corpus Linguistics 2001 conference, University Centre for Computer Corpus Research on Language, ­Technical Papers, Volume 13 – Special Issue, S. 185 ff. 665 „The essential elements of an area shall be reserved for the legislative act and accordingly shall not be the subject of a delegation of power.“ (Hervorhebung durch Verf.) 666 Zum Begriff s. Larenz, Methodenlehre S. 333 ff. 667 Zu Prinzipien und deren Gehalt im Unionsrecht, s. grundlegend von Bogdandy, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 13 ff. 668 Larenz, Methodenlehre, S. 333. 669 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (55).

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ischen Demokratieprinzips.670 Damit streitet das Demokratieprinzip, das in Art. 10 EUV explizit Niederschlag findet, für eine Auslegung, die die demokratischen Beteiligungsrechte, vor allem diejenigen des Parlaments, effektuiert; es streitet nicht für eine größtmögliche Unabhängigkeit der Kommission im Rahmen ihrer delegierten Rechtsetzungstätigkeit, die eine Auslegung des Art. 290 Abs. 2 AEUV als nicht zwingend bieten würde. Gegen ein solches Vorgehen bei der Auslegung spricht nicht, dass es sich sowohl bei der Normierung des allgemeinen Demokratieprinzips in Art. 10 Abs. 1, Abs. 2 EUVn als auch bei Art. 290 Abs. 2 AEUV um Primärrecht handelt, beide Vorschriften also auf demselben Rang stehen. Das Demokratieprinzip stellt sich auch als ein allgemeines Prinzip des Unionsrechts dar671, das deshalb bei der Auslegung von Art. 290 Abs. 2 AEUV herangezogen und das Verständnis von dieser Vorschrift prägen muss.672 Damit ist einer Auslegung, welche die Festlegung von Übertragungsbedingungen gemäß Art.  290 Abs.  2 AEUV (Einspruch oder Widerruf)  als verbindliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzung einer jeden Delegation begreift, der Vorzug zu geben. Rat und Parlament dürfen in ihren Gesetzgebungsakten nur dann Befugnisse auf die Kommission delegieren, wenn sie sich wenigstens eines der beiden Kontroll­rechte des Art. 290 Abs. 2 AEUV vorbehalten. Eine Delegation, die ohne eine solche „Bedingung“ erfolgt, ist rechtswidrig.673 Eindeutig aus dem Wortlaut geht indes hervor, dass nicht in jedem Fall beide Formen der Kontrollrechte Anwendung finden müssen.674 Die Gesetzgebungs­ organe können mithin je nach Zweckmäßigkeit die ihrer Ansicht nach notwen­ digen Kontrollinstrumente vorsehen und sich auch für nur eines von zwei entscheiden.675

670 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (55): Die Zulassung der abgeleiteten Kommis­ sionsrechtsetzung greift den Aspekt der Handlungsfähigkeit des Gesetzgebers auf; die de­ legierte Rechtsetzung kann daher auch unter Input-Gesichtspunkten gerechtfertigt werden. Sie ist aber deshalb noch nicht Bestandteil des unionalen Demokratieprinzips. Dieses erkennt nämlich nur Rat und Europäisches Parlament als Quellen demokratischer Legitimation an. 671 von Bogdandy, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 13 (62 ff.). 672 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (55): „auslegungsrelevant“. 673 Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV, Art.  290 Rn.  6; Härtel, Handbuch Euro­ päische Rechtsetzung, § 11 Rn. 107; so wohl auch Hofmann, ELJ 2009, 482 (492); Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 19; Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (56): „Eine Vetoposition des Parlaments ohne die Möglichkeit zur eigenen politischen Gestaltung erscheint daher als erforderliches, aber eben auch hinreichendes Instrument der parlamentarischen Kontrolle abgeleiteter Rechtsetzung.“ 674 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 107; dies betont naturgemäß auch die KOM(2009) 673 endg. Ausgeschlossen ist aber auch nicht, beide Mechanismen vorzu­ sehen, s. Bradley, in: FS Bieber, S. 286 (294 m. Fn. 30). 675 Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 19; welche Kriterien dafür eine Rolle spielen könnten, überlegt die Kommission in KOM(2009) 673 endg., S. 8.

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2. Auswirkungen des Wegfalls der Komitologie Die Kontrolle über die delegierte Rechtsetzung der Union ist nun ausschließlich bei den Gesetzgebungsorganen verortet. Ausgeschlossen ist damit die Einführung eines Kontrollmechanismus in Analogie zum bisher geltenden Komitologiebeschluss. Wie wirkt sich diese Veränderung auf die abgeleitete Rechtsetzung aus? a) Zur Intensität des Einschnitts durch den Wegfall der Komitologie i. R. d. Art. 290 AEUV Der Wegfall der Komitologie im Bereich der delegierten Rechtsetzung bedeutet einen bemerkenswerten „shift in thought676“ oder gar eine „radikale Reform“677. Bisher fand das Komitologieverfahren nämlich für alle Formen der Durchführungsrechtsetzung Anwendung. Immer wenn die Kommission aufgrund einer Ermächtigung in einem Basisrechtsakt handelte, unterlag sie den Beschränkungen des Ausschusswesens. Diese Beschränkungen galten insbesondere für den Erlass von „Maßnahmen von allgemeiner Tragweite“, die eine Änderung von nicht wesentlichen Bestimmungen“ des betreffenden Basisrechtsaktes bewirkten. Einschlägig war dann das sog. Regelungsverfahren mit Kontrolle (PRAC678) gemäß Art. 2 Abs. 2, 5a Komitologiebeschluss 2006. Vergleicht man diese Kriterien, die (verbindlich) die Geltung des PRAC anordneten, mit Art.  290 Abs.  1 AEUV, so fallen beträcht­liche Parallelen ins Auge.679 Beide Vorschriften stellten Regeln für die Fälle auf, in denen die Kommission zum Erlass von Rechtsakten „von allgmeiner Tragweite zur Ergänzung oder zur Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften“ des betreffenden Rechtsaktes ermächtigt war. Jedenfalls diese PRAC-Maßnahmen entsprechen also – unbeschadet kleinerer Unterschiede in der Formulierung – denjenigen Rechtsakten, die nun als „delegierte Rechtsakte“ dem Regelungsregime des Art. 290 AEUV und daher eben nicht mehr der Komitologie unterfallen.680 Damit ändert sich jedenfalls für diese ehemaligen PRAC-Maßnahmen das Kontrollregime beträchtlich. Wie stark dieser Einschnitt darüber hinaus tatsächlich ist, richtet sich danach, ob delegierte Rechtsakte i. S. d. Art. 290 AEUV und die PRAC-Maßnahmen in ih 676

Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (124). Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (117). 678 In Anlehnung an die französische Sprachfassung gebraucht diese Abkürzung die KOM (2009) 673, S. 3 endg., sie steht für: Procédure de réglementation avec contrôle. 679 Dies stellt auch die Kommission fest, KOM(2009) 673 endg. S. 3. 680 Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 10; Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S.1; Jacqué, SZIER/ RSDIE 2011, 29 (75) Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (229). 677

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rem Anwendungsbereich tatsächlich „nur“ deckungsgleich sind681, oder ob Art 290 AEUV im Vergleich zum PRAC sogar einen größeren Radius erfasst.682 Mehr Maßnahmen als das PRAC dürfte Art.  290 AEUV schon deshalb abdecken, weil delegierte Rechtsakte nicht nur im Bereich des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens  – des ehemaligen Mitentscheidungsverfahrens  –, dessen Anwendungsbereich überdies erheblich ausgebaut wurde, sondern bei allen Gesetzgebungsverfahren als Instrument abgeleiteter Rechtsetzung in Betracht kommen („in Gesetzgebungsakten“). Das Regelungsverfahren mit Kontrolle war hingegen nur einschlägig, wenn der betreffende Basisrechtsakt im Mitentscheidungsverfahren zu erlassen war (s. Art. 2 Abs. 2 Komitologiebeschluss 2006). Über diesen formalen Unterschied zwischen dem PRAC und den delegierten Rechtsakten hinaus vermutet Craig, dass sich aufgrund der Änderungen die Akzente in Bezug auf die Komitologie insgesamt verschoben haben. Die wahre Analogie zu den bisher undifferenziert unter den Begriff der „Durchführung“ subsumierten Rechtsakten sei in den delegierten Rechtsakten gemäß Art.  290 AEUV und weniger in den Durchführungsrechtsakten gemäß Art. 291 AEUV zu finden.683 Der ambivalente Begriff der Durchführung könne zweierlei bedeuteten. Entweder bezeichne er eine Form delegierter Rechtsetzung oder aber den Vollzug von Normen. Bisher sei „Durchführung“ eher als delegierte Rechtsetzung in Erscheinung getreten.684 Somit habe die Komitologie sogar schwerpunktmäßig bei denjenigen Maßnahmen Anwendung gefunden, die jetzt unter Art. 290 AEUV fielen und von der Komitologie nun ausgeschlossen seien. Als entsprechend erheblich beurteilt Craig den Einschnitt, den der Verzicht auf die Komitologie im Bereich delegierter Rechtsetzung bedeutet. Eine quantitativ oder qualitativ genaue Beurteilung der Auswirkungen ist schwierig. Zu vielgestaltig waren die bisherigen Erscheinungsformen der Durchführungsrechtsetzung, zu unsicher daher jeder Vergleich mit der neuen Rechtslage. In jedem Fall spricht Craig aber einen bedeutenden Gesichtspunkt an: Nach alter Rechtslage war es nicht richtig, die Durchführung pauschal dem Bereich der Exekutive zuzuweisen. Vielmehr regelte bisher die Durchführungsrechtsetzung vielfach wichtige politische Fragen; ihr konnte daher durchaus ein „quasi-legislativer“ Charakter zugesprochen werden.685 Quasi-legislative Maßnahmen sind nun aber – 681 So etwa Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 10; s. Bericht des Europäischen Parlaments über die Übertragung legislativer Zuständigkeiten, (2010/2021(INI)), S.  8, der vertritt, dass sich der Anwendungsbereich von Art. 290 AEUV nicht auf die zuvor nach dem PRAC-Verfahren behandelten Maßnahmen beschränken sollte. 682 So warnt die Kommission vor einer „automatischen Übernahme“ der Kriterien, die im Rahmen des Regelungsverfahrens mit Kontrolle maßgeblich waren, s. KOM(2009) 673 endg. S. 3. 683 Craig, in: Ziller/Griller, The Lisbon Treaty, S. 109 (124). 684 Zum ambivalenten Charakter der Durchführung gemäß Art. 202, 3. Spiegelstrich, s. schon oben § 1.  685 s. zum Charakter der Durchführung als primär (quasi)legislativ und nicht vollziehend nur Hummer, FS Fischer, S. 121 (144).

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jedenfalls theoretisch686 – nur noch nach Art. 290 AEUV zu erlassen. Von daher muss davon ausgegangen werden, dass der Wegfall der Komitologie, der nach alter Rechtslage den gesamten Bereich der Durchführung erfasste, die Landschaft der abgeleiteten Rechtsetzung in der Tat erheblich verändert.687 Auf den Punkt bringt es Hummer: „‚Die Komitologie‘, die bisher als Akt der Sekundärrechtsetzung durch die Kommission rechtsdogmatisch als ‚legislative‘ Tätigkeit angesehen werden musste, mutiert im hierar­ chischen System der neuen Rechtsquellentypologie  – im Vorfeld des mitgliedstaatlichen Vollzugs des Gemeinschaftsrechts – nunmehr zur bloßen ‚Durchführungsmaßnahme‘ exekutiven Charakters.“

b) Auswirkungen auf die delegierte Rechtsetzung Weil die Komitologie – trotz ihrer Defizite – wichtige Funktionen wahrnimmt, stellt sich die Frage, wie sich der Wegfall der Komitologie auf die delegierte Rechtsetzung der Kommission und die Effektivität der Kontrolle und die Position der beteiligten Akteure auswirken wird. aa) Auswirkungen auf die delegierte Rechtsetzung der Kommission Für die Kommission bedeutete die Komitologie (neben Beschränkungen) die Möglichkeit, auf das Fachwissen der in den Ausschüssen vertretenen Experten zurückgreifen zu können. Die Komitees waren eben nicht nur mitgliedstaatliche Kontrollinstrumente, sondern auch Konsultationsforen für die Kommission selbst.688 Darüber hinaus bewirkten die Komitees einen gewissen Konformitätsdruck, oder noch negativer formuliert, eine Selbstzensur der Kommission.689 Sie war geneigt, etwaige Einwände zu antizipieren690 und den Ausschüssen dann Maßnahmevorschläge vorzulegen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit im Ausschuss auf Zustimmung stoßen würden, um zu verhindern, dass die Ausschüsse eine ablehnende Stellungnahme abgaben und so Rat oder gar das Parlament über die vorgeschlagene Maßnahme befinden konnten.691 Der erst mal negative Aspekt der Selbst­ 686 In der Praxis werden gerade im Hinblick auf die Ergänzung von Rechtsakten erhebliche Grauzonen auftreten, in denen unklar ist, ob die Befugnisse gemäß Art. 290 oder Art. 291 AEUV zu übertragen sind. 687 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (124); Hummer, FS Fischer, S. 121 (160). 688 Wolfram, Underground Law, S. 13. 689 Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 202 EGV Rn. 27; Demmke/Haibach, DÖV 1997, 710 (713). 690 Dies geschah durch eine i. d. R. sehr frühzeitige Einbindung der Ausschüsse, s. Wolfram, Underground Law, S. 13. 691 Wolfram, Underground Law, S. 13. Die Zahl der Fälle, in denen ein Vorschlag der Kommission tatsächlich auf Ablehnung in einem Komitee stieß, war – zumindest auch – aus die-

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zensur hatte also durchaus seine positive Seite: Er wappnete die Vorschläge der Kommission gegen Ablehnung und verhinderte so eine Verzögerung des Erlasses der abgeleiteten Maßnahmen, was schließlich dem eigentlichen Zweck der Übertragung von Durchführungsbefugnissen zuwiderlaufen würde. Überdies verfügte die Kommission durch die Komitees über ein Reservoir an Fachwissen, auf das sie bei der Ausarbeitung ihrer Durchführungsmaßnahmen zurückgreifen konnte. Wenn das Ausschusswesen ab Lissabon nicht mehr in formalisierter Weise für die Fälle der Delegation von legislativen Befugnissen Anwendung findet, fallen beide Wirkungen erst einmal weg. Viele schätzen daher sowohl die Qualität als auch die Akzeptanz der Regelungen der von der Kommission erlassenen Rechtsakte als gefährdeter ein als bisher.692 Zum einen fehlt der Kommission der fachliche Input. Vos anerkennt zwar, dass der Wegfall der Komitees die Rechtsetzung durch die Kommission effizienter693 machen könnte, fragt aber im gleichen Atemzug – zweifelnd –, ob die Regelungen der Kommission hierdurch effektiver würden.694 Allerdings können rein beratende Ausschüsse gleichfalls fachlichen Input liefern. Eine solche rein beratende Rolle sowie eine freiwillige Einbindung von Ausschüssen ist aber nach dem Vertrag von Lissabon noch möglich. Die Kommission, die den Wert des Inputs durch die Komitees vor allem in jüngerer Zeit durchaus anerkennt695, hat angekündigt, beim Erlass von delegierten Rechtsakten auch in Zukunft nationale Experten zu betei­ ligen.696 Sollte die Kommission diese Ankündigung in die Tat umsetzen, könnte die

sem Grund fast verschwindend gering. So erwies sich die Rate der zustimmenden Stellungnahmen in der Geschichte der Komitologie als durchweg hoch: Von 1962 bis 1995 kam es bei insgesamt 52.819 Stellungnahmen zu nur 47 ablehnenden, s. Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (125). Dieses Bild hat sich seitdem nicht wesentlich geändert: Im Jahr 2009 gaben die Komitees 2091 Stellungnahmen ab, die Anzahl der von der Kommission daraufhin erlassenen Durchführungsmaßnahmen belief sich auf 1808, d. h. 86,46 % ihrer Vorschläge konnte die Kommission realisieren, s. Bericht der Kommission über die Tätigkeit der Ausschüsse im Jahre 2009, KOM(2010) 354 endg., S. 6. 692 Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, S. 209 (231). 693 Sogar dies scheint aber schon eine unsichere Prämisse zu sein: Ohne das „Vorfühlen“ der Kommission in den Komitees, inwiefern die vorgeschlagenen Rechtsakte auf Widerstand stoßen könnten, scheint es wahrscheinlicher zu sein, dass die vorgeschlagenen Regelungen auf den Widerstand von Rat oder Kommission treffen; s. Schusterschitz, in: Hummer/­Obwexer, S. 209 (231). 694 Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (118). 695 Nach jahrzehntelangem Widerstand erkennen vor allem die Fachdienste der Kommission den Wert der Expertise der Mitgliedstaaten an, s. Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, S. 209 (231); s. aber der Streit im Vorfeld des Erlasses der Richtlinie 2010/75/EU über Industrie­ emissionen. Dort favorisierte die Kommission, die sog. „BVT-Schlussfolgerungen“ im Verfahren nach Art. 290 AEUV zu erlassen. Richtigerweise handelte es sich hierbei aber nur um Anwendungsregeln und damit um Durchführungsrecht; entsprechend sieht nun Art. 13 Abs. 5 der Richtlinie vor, dass diese Regelungen in einem Ausschussverfahren zu erlassen sind. 696 KOM (2009) 673, S. 7.

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infolge des Wegfall der Komitees befürchteten Verwerfungen im Hinblick auf die Qualität der abgeleiteten Rechtsetzung vermieden werden. Zum anderen besteht die Gefahr, dass die Kommission Maßnahmen erlässt, die mangels institutionalisierten Mechanismus der Kooperation wie es die Komito­ logie darstellte, nicht mehr hinreichend abgestimmt sind. Die Gefahr, dass die Kommission delegierte Rechtsakte erlässt, die bei Rat und Parlament auf wenig Gegenliebe stoßen, ist damit höher, als wenn die Komitees als „Frühwarnsystem“ auf eine Abstimmung im Vorfeld drängen.697 Allerdings hat die Kommission diese Gefahr erkannt und angekündigt: „die erforderlichen Vorarbeiten so abzuschließen, dass einerseits die delegierten Rechtsakte in technischer und juristischer Hinsicht den Vorgaben des Basisrechtsakts voll und ganz entsprechen, und andererseits in politischer und institutioneller Hinsicht alle Voraussetzungen erfüllt sind, um etwaige Einwände seitens des Europäischen Parlaments oder des Rates zu vermeiden.“698

Inwiefern die delegierte Rechtsetzung der Kommission durch den Wegfall der Komitologie tatsächlich Schaden nimmt, hängt damit vor allem von der Kommission selbst ab. Greift sie weiter ergebnisoffen auf Expertenwissen699 zurück, dürften sich die Auswirkungen des Abschieds vom Ausschusswesen in Grenzen ­halten.700 bb) Auswirkungen auf die Mitgliedstaaten Der Wegfall der Komitees bedeutet für die Mitgliedstaaten im Bereich der abgeleiteten Rechtsetzung einen gewichtigen Bedeutungsverlust.701 Während sie über die Komitees zuvor bei jeder Form der abgeleiteten Rechtsetzung eingebunden waren  – also auch beim „Vorläufer“ von Art.  290 AEUV, dem sog. Regelungs­ verfahren mit Kontrolle (PRAC) –, spielen sie nun bei der delegierten Rechtsetzung überhaupt keine (institutionalisierte) Rolle mehr. Die Mitgliedstaaten können den Inhalt einer solchen Maßnahme somit nicht mehr beeinflussen.702 Dogmatisch ist dies völlig konsequent. Die Kontrolle über die delegierte Rechtsetzung siedelten die Vertragsautoren allein bei dem Gesetzgeber an, also bei Rat und Parlament, weil die Delegation, welche die Kommission als Exekutivorgan zum Erlass von legislativen Maßnahmen in einem nicht-legislativen Verfahren ermächtigt, in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers eingreift.703 697

Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (231). KOM(2009) 673, S. 7. 699 Anstelle der Ausschüsse der nationalen Experten könnte die Kommission auch auf die Agenturen zugreifen; dies jedenfalls vermutet Wolfram, Underground Law, S. 18, der aus diesem Grund eine weitere Aufwertung des Agenturwesens erwartet. 700 Optimistisch auch Ponzano, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 135 (136). 701 Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (231). 702 Bergström, Comitology, S. 358. 703 s. schon oben § 2 B. 698

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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Es steht aber zu befürchten, dass die Vertragsautoren den Verzicht auf die Komitologie im Hinblick auf seine praktischen Wirkungen nicht hinreichend bedacht haben704; die Mitgliedstaaten scheinen sich der Bedeutung des Wegfalls des Ausschusswesens im Bereich der abgeleiteten Rechtsetzung ebenfalls nicht vollends bewusst gewesen zu sein.705 Wenn oben konstatiert wurde, dass die Einbindung nationaler Akteure zu einer wesentlichen Erleichterung der Umsetzbarkeit der unionalen Regelungen führte706, so drängt sich die Frage auf, inwiefern nun der mitgliedstaatliche Vollzug an der fehlenden frühen Einbindung nationaler Akteure Schaden nehmen könnte.707 Gegen eine solche Befürchtung lässt sich nicht ins Feld führen, dass es sich bei den Rechtsakten, die die Kommission erlässt, um Regelungen handelt, die eigentlich der Gesetzgeber hätte erlassen können – sofern er sich nicht (rein freiwillig) entschieden hätte, die Regelungsmacht zu delegieren. Hätte der Gesetzgeber, so der hypothetische Einwand, von der Möglichkeit der Übertragung keinen Gebrauch gemacht, liege aber gleichfalls nur eine unionale Regelung vor, bei der auch niemand per se Vollzugsdefizite in den Mitgliedstaaten befürchte. Dieser Einwand verkennt, dass eine Regelung durch den Gesetzgeber die Mitgliedstaaten durchaus eingebunden hätte: Konstituiert sich doch der Rat als eines von zwei zwingend beteiligten Gesetzgebungsorganen aus Vertretern der Mitgliedstaaten, so dass faktisch jeder Gesetzgebungsakt die Mitgliedstaaten einbindet. Erst der delegierte Rechtsakt der Kommission ergeht bar aller mitgliedstaatlicher Beteiligung und läuft damit in der Tat Gefahr, die tatsächlichen Vollzugsumstände in den Mitgliedstaaten nicht hinreichend zu berücksichtigen. Bergström hält es denn auch für übertrieben formalistisch, dass das Komitologiesystem unter dem Vorwand abgeschafft wurde, nur der Gesetzgeber solle Kontrollrechte haben, nicht aber die Mitgliedstaaten. Schließlich setze sich der Rat nun mal – wie die Ausschüsse – aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen.708 cc) Auswirkungen auf die Gesetzgeber, insbesondere ihre Kontrollrechte Während die Kommission die negativen Wirkungen, die mit dem Wegfall der Komitologie zu erwarten sind, selbst kompensieren kann, weil sie es ist, die darüber entscheidet, welchen Input sie für ihre delegierte Rechtsetzung in Anspruch 704

Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (231). Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (118). 706 s. oben § 1 C. II. 1. und Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (118 f.); Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (58). 707 Insoweit befürchtet negative Auswirkungen Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (231). 708 Bergström, Comitology, S. 358. 705

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

nehmen möchte709, trifft dies auf Rat und Parlament nicht zu. Sie befinden sich nach dem Akt der Delegation erst mal in einer passiven Position und müssen abwarten, welche Maßnahmen die Kommission ergreift. Erst dann können sie wieder aktiv werden und entscheiden, ob sie gegen eine solche Maßnahme opponieren möchten. Rat und Parlament werden also reaktiv tätig. Sie sind daher in besonderem Maße auf die Kenntnis der Maßnahmen, auf die sie reagieren müssen, angewiesen. Sie müssen überdies in etwa die Parameter kennen, die bei der Entscheidung über den delegierten Rechtsakt eine Rolle gespielt haben. Erst auf dieser Grundlage können sie ermessen, ob der delegierte Rechtsakt im Rahmen des Vorgestellten bleibt oder nicht und auf dieser Grundlage eine bewusste Entscheidung über die Ausübung der Kontrollrechte treffen. Die Kontrollrechte sind damit in vielfacher Hinsicht abhängig von der Kenntnis und dem Verständnis der delegierten Rechtsakte710: Die gesetzgebender Organe bedürfen hinreichender Information; diese muss zudem vollständig und rechtzeitig sein.711 Sie benötigen Ressourcen, um die Informationen auswerten zu können und auf dieser Grundlage ihre Entscheidungen über die Ausübung der Kontrollrechte zu treffen. Wirksame Kontrolle bedeutet somit zunächst einmal Arbeits­ belastung. Ein Mittel, um die Überwachung der delegierten Rechtsakt effektiv zu gestalten, wäre die Komitologie gewesen. Die Komitees minderten bisher die Arbeitsbelastung der kontrollierenden Organe: Sie wirkten als Frühwarnsystem, das dem Rat politisch brisante Themen anzeigte und Orientierung in der Flut der abgeleiteten Rechtsakte gab. Die Konzentration des Rates wurde von vornherein auf diejenigen Materien gelenkt, welche sich als problematisch erweisen könnten.712 Auch das Parlament hatte sich im Laufe seines Kampfes um mehr Mitwirkung in der Komitologie hilfreiche Informationsrechte ausbedungen und konnte so auf Informationen aus den Ausschüssen bauen.713 Zuletzt regelte eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen Europäischem Parlament und der Kommission den Informationsfluss.714 Diese Vereinbarung, welche die Informationsrechte des Parlaments aus Art. 7 Abs. 3 des Komitologiebeschlusses 2006 konkretisierte, stellte si 709 Ponzano, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S.  135 (136) bezeichnet daher die Befürchtung, dass die Kommission ohne die Kommission wichtiges Fachwissen entbehren, als „groundless“. 710 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (118). 711 Hofmann, ELJ 2009, 482 (492); Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (56 f.). 712 Schmitt von Sydow, in: von der Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 211 Rn. 79; Vos, in: FS Kellermann, S. 111 (117). 713 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (118). 714 Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission über die Modalitäten der Anwendung des Beschlusses 1999/468/EG des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, in der Fassung des Beschlusses 2006/512/EG (ABl. EU 2008/C 143/01 v.10.6.2008).

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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cher, dass das Parlament immer schon über die Tagesordnungen der Ausschüsse informiert war.715 Dies bedeutete, dass sich das Parlament bereits vor der endgültigen Ausarbeitung und Weiterleitung der Entwürfe von Durchführungsmaßnahmen über den Inhalt und die Probleme der betreffenden Maßnahme kundig machen konnte und die Frist, innerhalb derer es Einwände erheben konnte, de facto entsprechend verlängert war.716 Diese Frühwarn- und Informationsfunktionen der Komitees fallen nun weg. Rat und Parlament werden deshalb tendenziell weniger Material zur Verfügung haben, um die Implikationen der abgeleiteten Recht­ setzung verstehen und bewerten zu können.717 Umso wichtiger ist es, dass die konkrete Ausgestaltung der Verfahrensrechte sicherstellt, dass Rat und Parlament erstens über die delegierte Rechtsetzung der Kommission hinreichend und frühzeitig informiert werden und zweitens über Instrumente verfügen, die sie in den Stand setzen, diese Informationen so zu verarbeiten, dass sie zu einer sachgerechten Entscheidung über ihre Kontrollrechte in der Lage sind. Hiervon hängt ganz erheblich die Effektivität der Kontrollrechte ab. 3. Faktische Abhängigkeiten: Information und Ressourcen a) Information durch die Kommission (frühzeitige Unterrichtung) Die Wirksamkeit der Kontrollrechte steht und fällt damit, dass die Kommission Rat und Parlament die für eine Überprüfung der delegierten Rechtsetzung erforderlichen Informationen umfassend und frühzeitig zur Verfügung stellt. Eine entsprechende Verpflichtung der Kommission fand entgegen eines entsprechenden Vorschlags718 zwar keinen Einzug in den Verfassungsvertrag und den Vertrag von Lissabon.719 Eine solche ausdrückliche Verpflichtung der Kommission zur Bereitstellung von Informationen über die geplanten delegierten Rechtsakte ist indes nicht zwingend notwendig; sie hätte allein klarstellende Wirkung.720 Die Kontrollrechte sind primärrechtlich vorgesehen. Hinter ihnen steht das europäische Demokratieprinzip. Damit sie funktionieren, bedürfen Rat und Parlament Informationen. Die Pflicht der Kommission zur Unterrichtung von Rat und Parlament über ihre delegierte Rechtsetzung ist daher konkretisierter Bestandteil der

715

s. Nr. 1 der Vereinbarung, ABl. EU 2008 C 143/01. Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S. 22. 717 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (118). 718 Der Vorschlag im Konvent von Kaufmann lautete: „Bevor die Kommission eine delegierte Verordnung erlässt, informiert sie darüber rechtzeitig das Europäische Parlament und den Rat.“ s. dazu Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 116 Fn. 458. 719 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 116. 720 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (57); Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 116. 716

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

primärrechtlich verankerten Kontrollrechte.721 Sie bedarf lediglich der weiteren Ausgestaltung. Dies kann wie bisher in interinstitutionellen Vereinbarungen geschehen.722 Hier kann auf die Erfahrungen mit früheren Vereinbarungen, die den Informationsfluss im Zusammenhang mit der Komitologie regelten, zurückgegriffen werden.723 Die Kommission hat ihre Verpflichtung erkannt und spricht davon, ein „Frühwarnsystem“ einrichten zu wollen.724 Damit meint sie im Wesentlichen allerdings nur die Fristen, die für den Einspruch von Rat und Parlament gelten sollen. Die Ankündigung der Kommission, bei besonders „heiklen Fragen“, „zusätz­liche Informationen“725 zur Verfügung zu stellen, dürfte für die Effektivität der Kontrollrechte nur bedingt von Nutzen sein. Die Kommission ist naturgemäß an einer tatsächlichen Ausübung der Kontrollrechte nur bedingt interessiert. Von daher scheint es wenig ergiebig, die Unterscheidung von heiklen und unbedenklichen Regelungsmaterien in die Hände der Kommission zu legen. b) Fähigkeit von Rat und Parlament zur Bewertung der Information Die frühe und umfassende Unterrichtung durch die Kommission reicht indes nicht, um zu gewährleisten, dass Rat und Parlament ihre Kontrollrechte sach­ gerecht ausüben können. Rat und Parlament müssen über ausreichende interne Ressourcen verfügen, um die von der Kommission übermittelten Informationen überblicken und bewerten zu können. Dabei ist zu betonen, dass sich Rat und Parlament dieser Arbeitsbelastung, welche die Überwachung der delegierten Rechtsakte bedeutet, nicht einfach entziehen, die Kontrolle schleifen lassen und der Kommission das Feld überlassen dürfen. Die Kontrolle der delegierten Rechtsetzung der Kommission liegt nicht allein im Interesse von Rat und Parlament; sie nimmt vielmehr eine wichtige

721 In der Praxis legen Rat und Parlament im Basisrechtsakt ausdrücklich dar, dass die Kommission für eine rechtzeitige und angemessene Unterrichtung sorgen soll, s. etwa Erwägungsgrund 20 der VO (EU) Nr. 1214/2011 über den gewerbsmäßigen grenzüberschreitenden Straßentransport von Euro-Bargeld zwischen den Mitgliedstaaten des Euroraums. 722 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (57); Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 116; s. auch Bericht des Europäischen Parlaments über die Übertragung legislativer Zuständigkeiten, (2010/2021(INI)), S. 6, der vorschlägt, dass das bisherige Komitologieregister als Modell für ein verbessertes digitales Informationssystem genutzt wird. 723 s. insbesondere Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommis­ sion über die Modalitäten der Anwendung des Beschlusses 1999/468/EG des Rates zur Fest­legung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durchführungsbefugnisse, in der Fassung des Beschlusses 2006/512/EG (ABl. EU 2008/C 143/01 v. 10.6.2008). 724 KOM(2009) 673, S. 7. 725 KOM(2009) 673, S. 7.

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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Funktion für die demokratische Legitimation europäischer Rechtsetzung wahr: Sie ist ein Mittel, um den durch die Delegation bewirkten Verzicht auf demokratische Legitima­tion zu kompensieren.726 Die effiziente Wahrnehmung der Kontrolle durch Rat und Parlament ist daher nicht nur Machtfrage, sondern ein Gebot des Demokratieprinzips. Die Organe dürfen auf die Ausübung der Kontrollrechte nicht verzichten. Insbesondere die Mitglieder der Europäischen Parlaments sind verpflichtet, ihre Kontrollaufgabe ernst zu nehmen: Sie müssen die Vorschläge der Kommission tatsächlich sichten und sich mit ihnen auseinandersetzen.727 An der Fähigkeit des Parlaments, eine solche Aufgabe zu bewältigen, wird bisweilen gezweifelt.728 Für die erforderliche Sichtung und Bewertung der Informationen kommen im Parlament insbesondere die parlamentarischen Ausschüsse in Betracht.729 Sie verfügen über  – für ein Parlament nicht unbeträchtliche  – fachliche Expertise.730 Sie scheinen daher grundsätzlich geeignet, um die delegierte Rechtsetzung der Kommission zu verfolgen und zu beurteilen. Schon im Zusammenhang mit dem im Zuge der kontinuierlichen Komitologiereformen zunehmenden Kontrollrechte des Parlaments spielten die parlamentarischen Ausschüsse eine wichtige Rolle.731 Auf gewisse Erfahrungswerte kann also zurückgegriffen werden. Die Ausschüsse hatten sich auf unterschiedliche Weise, teils unter Mithilfe von weiterem Personal, der Auswertung der Durchführungsakte angenommen.732 Die Änderungen des Lissabon-Vertrags zur abgeleiteten Rechtsetzung dürften daher eine weitere Aufwertung der parlamentarischen Ausschüsse bedeuten.733 Damit die Ausschüsse diese Aufgabe tatsächlich effektiv schultern können, dürften aber weitere organisatorische Änderungen und insbesondere eine bessere Ausstattung erforderlich sein.734 Die aktuelle Stellung der Ausschüsse dürfte sie nur bedingt dazu befähigen, die Kontrolle tatsächlich effektiv zu bewältigen.735 So ist etwa der Umstand, dass sich die parlamentarischen Ausschüsse in der Regel nicht 726

Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (50 ff.). Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (60). 728 Joerges, in: Joerges/Vos, EU Committees, S. 311 (327). 729 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 115; Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (118); so handhaben dies auch viele nationale Parlamente, s. zum britischen Parlament britischen Parlament, s. dazu Pünder, ICLQ 58 (2009), 353 (366). 730 Dann, ELJ 2003, 549 (564) m. w.  Nachw. 731 Dazu s. Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI ­Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 9. 732 Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working ­Papers, RSCAS 2010/85, S. 9. 733 Zur (großen) Bedeutung der Ausschüsse, s. Dann, ELJ 2003, 549 (564). 734 Dann, ELJ 2003, 549 (566) bemerkte bereits nach dem zweiten Komitologiebeschluss, dass es nicht ausreichen wird, stets nur auf eine rechtliche Ausweitung der Rechte des Parlaments im Rahmen der Durchführungsrechtsetzung zu drängen, ohne zugleich die Ressourcen des Parlaments zu stärken. Ebenso steht Joerges, in: Joerges/Vos, EU Committees, S. 311 (327) einer Aufwertung der parlamentarischen Kontrollrechte primär deshalb kritisch gegenüber, weil er bezweifelt, dass das Parlament die hierzu erforderlichen Mittel besitzt. 735 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (118). 727

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

häufiger als ein- bis zweimal im Monat treffen736, mit der Aufgabe, einen vollständigen Überblick über die avisierten delegierten Rechtsakte und ihre sach­lichen und rechtlichen Implikation zu gewährleisten, schwer zu vereinbaren. Das Europäische Parlament hat seine internen Organisationsregeln bereits an die neue Rechtslage angepasst und zwei unterschiedliche Vorschriften für den Umgang mit Durchführungs- und delegierten Rechtsakten geschaffen. Die neue Vorschrift des Art. 87a der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments737 befasst sich mit dem Verfahren zur Kontrolle delegierter Rechtsakte, beschränkt sich jedoch darauf, dem zuständigen Ausschuss die Aufgabe der Überprüfung des Entwurfes zuzuweisen und verweist im Übrigen auf die für Durchführungsmaßnahmen geltende Vorschrift des Art. 88 GO EP.738 Zu erwarten steht in der Zwischenzeit, dass der Einfluss von Lobbyisten zunimmt.739 Eine solche Entwicklung war bereits infolge des dritten Komitologiebeschlusses 2006 zu beobachten.740 Mit den zusätzlichen Rechten, die Art.  290 AEUV dem Parlament nun einräumt, sowie der (neuen) demokratischen Bedeutung der Kontrolle durch das Parlament, ist das Bedürfnis nach Information und Sachkenntnis weiter gestiegen. Diesem Bedürfnis kommen Lobbyisten entgegen. Dabei liegt es auf der Hand, dass ein zu starkes Vertrauen auf die „Informationen“ von Lobbyisten sachgerechter Rechtsetzung nicht zuträglich ist, insbesondere solange die Gewährleistung fehlt, dass alle möglicherweise betroffenen Interessen gleichermaßen durch Lobbyisten vertreten sind. Andere Lösungen, die das Parlament in den Stand setzen, seine Kontrollrechte verantwortungsvoll wahr­zunehmen, sind daher vorzugswürdig. Erster Ansatzpunkt muss dabei sein, die vorhandenen Kontrollrechte möglichst effektiv auszugestalten, insbesondere durch angemessene Fristen, innerhalb derer das Parlament gegen einen delegierten Rechts­akt Einspruch einlegen kann.741

736 s. Auskunft auf der Homepage des Europäischen Parlaments, http://www.europarl.europa. eu/parliament/public/staticDisplay.do?id=45&pageRank=5&language=DE, zuletzt abgerufen am 15.12.2011; Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working Papers, RSCAS 2010/85, S. 10. 737 Das Parlament gibt sich gemäß Art. 232 AEUV eine Geschäftsordnung. Diese ist abrufbar auf der Homepage des Europäischen Parlaments unter http://www.europarl.europa.eu/sides/getLastRules.do?language=DE&reference=TOC, zuletzt abgerufen am 15.12.2011. 738 Auch der Bericht des Europäischen Parlaments zur Übertragung legislativer Zuständigkeiten (2010/2021(INI)), S. 14 spricht nur davon, dass es zweckmäßig sei, dass jeder Ausschuss „bewährte Verfahren austauscht und regelmäßig aktualisiert und einen geeigneten Mechanismus einführt“ und enthält sich im Übrigen konkreterer Ideen für die parlamentsinterne Umsetzung der Kontrolle. 739 Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working ­Papers, RSCAS 2010/85, S. 14. 740 Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working ­Papers, RSCAS 2010/85, S. 13. 741 Dazu s. schon oben unter § 3 C. I. 2. 

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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Der Rat sieht sich ähnlichen Herausforderungen gegenüber; auch für ihn bietet es sich an, zur Bewältigung seiner Kontrollrechte auf die Unterstützung seiner Ausschüsse, d. h. den COREPER, zurückzugreifen.742 4. Sachgerechtigkeit der Kontrollrechte Unabhängig von der allgemeinen und wohl begründeten Sorge um die tatsäch­ lichen Kapazitäten von Rat und insbesondere Parlament zur Überwachung der delegierten Rechtsetzungstätigkeit der Kommission wird bisweilen die Effektivität der Kontrollrechte schon strukturell in Zweifel gezogen. So weist Craig u. a.743 auf die Grenzen der Kontrollrechte hin, die es Rat und Parlament insbesondere nicht ermöglichten, einen delegierten Rechtsakt der Union abzuändern.744 Der Befund trifft rechtlich zwar zu. Faktisch jedoch war bereits im Rahmen des alten PRAC-Verfahrens die Tendenz zu beobachten, dass das Parlament im Vorfeld Einfluss auf den Inhalt der Durchführungsmaßnahmen nahm; schlicht, indem es drohte, anderenfalls von seiner Vetoposition Gebrauch zu machen.745 Dieses faktische Drohpotential, oder positiver ausgedrückt: dieser faktische Konsensdruck, dürfte auf Grundlage von Art. 290 Abs. 2 AEUV sogar noch zunehmen. Anders als nach altem Recht ist nämlich auch das Parlament in den Gründen, die es gegen einen delegierten Rechtsakt der Kommission vorbringt, nicht mehr beschränkt. Abgesehen davon, dass angesichts dieses Befundes die faktischen Einflussmöglichkeiten der Gesetzgeber und des Parlaments auf den Inhalt der delegierten Rechtsakte so gering nicht sein dürften, stellt sich schon ganz grundsätzlich die Frage, inwiefern eine über eine Vetoposition hinausgehende Einflussmöglichkeit der Gesetzgeber im Prozess der delegierten Rechtsetzung überhaupt erstrebenswert ist.746 Diese Frage gebietet es, die eigentlichen Zwecke der Kontrollrechte in Erinnerung zu rufen: Es geht um die Wiederherstellung hinreichender demokra­ tischer Legitimation. Legitimatorisch bedenklich ist delegierte Rechtsetzung aber nur dann, wenn sie bestimmte Grenzen nicht einhält: Die konkreten Grenzen des Basisrechtsakts und die allgemeinen Grenze, die das Kriterium der Wesentlichkeit abgeleiteter Rechtsetzung setzt. In diesen Grenzen aber wirkt die delegierte Recht-

742

Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 115. Daneben zieht Craig die Wirksamkeit der Kontrollrechte auch deshalb in Zweifel, weil sie nicht zwingend seien; diese Sorge ist nach der hier vertretenen Ansicht jedoch unbegründet, dazu s. oben § 3 C. III. 1.  744 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (118). 745 Kaeding/Hardacre, The Execution of Delegated Powers after Lisbon, EUI Working ­Papers, RSCAS 2010/85, S. 10, 14: „de facto right of amendment“. 746 s. Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (56): „Eine Vetoposition des Parlaments ohne die Möglichkeit zur eigenen politischen Gestaltung erscheint daher als erforderliches, aber eben auch hinreichendes Instrument der parlamentarischen Kontrolle abgeleiteter Recht­setzung.“ 743

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

setzung selbst legitimationsstiftend. Ein Eingreifen des Gesetzgebers ist daher insoweit legitimatorisch nicht erforderlich. Vielmehr erweist sich grundsätzlich ein zu weitgehender Einfluss des Gesetz­ gebers auf die abgeleitete Rechtsetzung durch die Kommission als problematisch. Der Supreme Court in den USA hat das Recht des Gesetzgebers, einen abgeleiteten Rechtsakt durch ein Veto zu verhindern, sogar als verfassungswidrig ver­ worfen.747 In der Tat laufen zu weitgehende Beteiligungsrechte des Gesetzgebers in der abgeleiteten Rechtsetzung den Zwecken der Delegation zuwider: Abgeleitete Rechtsetzung wäre eben nicht schneller und flexibler, wenn der Gesetzgeber stets selbst eigene Vorschläge für die delegierten Rechtsakte machen würde.748 Hinzu kommt, dass gesetzgeberischer Einfluss auf die abgeleitete Rechtsetzung nicht automatisch zu einer besseren Legitimationsleistung führt, die Gleichung je mehr gesetzgeberische Beteiligung desto größer die Legitimation des Rechtsaktes also nicht aufgeht. Hierbei sind, aus Platzgründen nur grob skizziert749, insbesondere zwei Punkte ausschlaggebend: Zum einen bedeutet demokratische Kontrolle nicht automatisch eine höhere Legitimationsleistung. Erhöhte demokratische Legitimation generiert die Legislative auch aufgrund des Verfahrens, in dem Gesetze zu beschließen sind. Sofern die Kontroll- bzw. hypothetischen Abänderungsrechte des Gesetzgebers nicht genau das reguläre Gesetzgebungsverfahren replizieren – was letztlich die durch die Delegation bezweckte Beschleunigung und Vereinfachung der Rechtsetzung ad absurdum führen würde –, teilen ex post Kontrollrechte des Gesetzgebers diese legitimatorischen Vorzüge nicht.750 Zum anderen und bedeutsamer noch, ist nachträglicher Einfluss des Gesetz­ gebers auf die abgeleitete Rechtsetzung unter dem Blickwinkel der Trennung der Gewalten sogar problematisch. Darauf stützte schon der Supreme Court sein Verdikt über die Verfassungswidrigkeit eines legislativen Vetos: Der Gesetzgeber hat mit dem Erlass seines Gesetzes den gesetzgeberischen Prozess und damit das auf Allgemeinheit ausgerichtete Verfahren beendet.751 Er hat sich dafür entschieden, die – nicht-wesentliche – Regelungsmaterie zur weiteren Konkretisierung in die Hände der Exekutive zu legen. Die Aufgabe der ergänzenden Rechtsetzung ist von da an allein Aufgabe der Exekutive. Punktuelle Interventionen der Legislative sind bedenklich, weil sie die Konkretisierungsaufgabe der Exekutive umgehen und das politische Verfahren punktuell wieder eröffnen.752 Detailregelungen, die – aus 747 Supreme Court, Immigration and Naturalization Service v Chadha (1983) 462 US 919, 1003; s. dazu auch Haibach, VerwArch. 90 (1990), 98 (107). 748 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (56). 749 Grundlegend hierzu und zum Folgenden Möllers, Gewaltengliederung, S. 197 ff. 750 Möllers, Gewaltengliederung, S. 198. 751 Möllers, Gewaltengliederung, S. 198. 752 Möllers, Gewaltengliederung, S. 200.

§ 3 Kontrolle über delegierte Rechtsakte

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berechtigten Gründen der Zweckmäßigkeit  – der Exekutive überlassen wurden, sollen nicht wieder auf dem Tisch des Gesetzgebers landen.753 Aus diesem Blickwinkel erweist sich das Fehlen weitergehender Einflussmöglichkeiten der Legislative auf die delegierte Rechtsetzung der Kommission nicht als Defizit, sondern entspricht den Grundsätzen der Gewaltenteilung. Eine Vetoposition wird dem Gesetzgeber jedoch – anders als in den USA nach dem (durchaus kritisierten) Urteil des Supreme Court – in vielen Ländern754 und nun auch in der EU zuerkannt; sie ist grundsätzlich mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung vereinbar. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass es schwer möglich ist, die Exekutive in ihrer Rechtsetzungstätigkeit allein ex ante durch eine hinreichend bestimmte Ermächtigung zu steuern. Erst eine Kombination mit der ex post Kontrolle kann ein Übergreifen der Exekutive in den legislativen Vorbehaltsbereich relativ wirksam verhindern.755 Die Vetoposition, die Art. 290 Abs. 2 AEUV Rat und Parlament einräumt, erweist sich dabei allerdings als recht weitgehend. Rat und Parlament müssen keine Gründe geltend machen, um einen delegierten Rechtsakt der Kommission abzulehnen. Sie können den Gesetzgebungsakt nicht nur dann verwerfen, wenn er die Grenzen des ermächtigenden Gesetzgebungsaktes missachtet oder gar „Wesentliches“ regelt. Vielmehr steht es ihnen frei, das Inkrafttreten des delegierten Rechtsakts aus Gründen politischen Geschmacks zu verhindern. Aus dem Blickwinkel der Gewaltenteilung erscheint dies problematisch: Der politische Prozess wird auf diese Weise doch in das Verfahren der abgeleiteten Rechtsetzung und damit in den der Exekutive obliegenden Prozess der Rechtskonkretisierung hineingetragen. Eine Beschränkung der Kontrolle auf die Einhaltung der Grenzen des Basisrechtsakts und der Wesentlichkeit756, wie sie noch im alten Komitologiebeschluss für das Parlament enthalten war, wäre deshalb eine vorzugswürdige Lösung gewesen. Freilich hätte man dann beide Gesetzgeber insoweit gleichbehandeln und sie beide auf eine solche Rechtmäßigkeitskontrolle beschränken müssen. Eine derart begrenzte Vetoposition würde verhindern, dass Rat oder Parlament punktuell oder vielleicht sogar willkürlich einzelne Vorschriften der Kommission ablehnen. Zugleich könnte eine solche Beschränkung den Gesetzgebern Anreiz sein, bei der Formulierung der Grenzen der übertragenen Befugnisse größtmögliche Sorg 753

Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (661 f.). So etwa in Großbritannien und Deutschland, s. dazu Pünder, ICLQ 58 (2009), 353 (364 ff.); s. auch das Urteil des BVerfG, BVerfGE 8, 274 (321 f.), das dort jedenfalls für Fälle mit erheblicher wirtschaftlicher Tragweite ein Mitwirkungsrecht des Parlaments für berechtigt hält. 755 Pünder, ICLQ 58 (2009), 353 (367). 756 Die Grenze der Wesentlichkeit kann sich schließlich nachträglich durchaus anders darstellen als im Zeitpunkt, in dem der Gesetzgebungsakt erlassen wurde, schlicht, weil mangels detaillierter Beschäftigung mit der betreffenden Regelungsmaterie die Probleme beim Erlass des delegierenden Gesetzgebungsaktes noch nicht so deutlich wurden. 754

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

falt und Gewissenhaftigkeit walten zu lassen.757 Dies würde wiederum die praktische Wirksamkeit der in Art. 290 Abs. 1 AEUV verankerten Anforderungen verbessern. Es könnte effektiver vermieden werden, dass die Gesetzgeber „echte“ legislative Befugnisse auf die Kommission übertragen. Insgesamt wäre besser gewährleistet, dass das erforderliche sachlich-inhaltliche Legitimationsniveau nicht unterlaufen wird.

§ 4 Das Konzept vertikaler Gewaltenteilung hinter Art. 291 AEUV A. Überblick und Problemaufriss Der Tatbestand der Delegation gemäß Art. 290 AEUV ist auf die europäische Ebene begrenzt; die Vorschrift betrifft die horizontale Gewaltenteilung und ermöglicht insoweit eine klarere Gliederung von exekutiven und legislativen Aufgaben. Die EU zeichnet sich aber durch ihre Mehrebenenstruktur aus: Neben der horizontalen Ebene, die das Verhältnis der Unionsorgane betrifft, muss die vertikale Ebene mit bedacht werden, nämlich das Verhältnis der Union zu ihren Mitgliedstaaten. Die vertikale Ebene in die Analyse der Rechtsetzungs- und Verwaltungsstrukturen der Union mit einzubeziehen, ist insbesondere deshalb so unerlässlich, weil die EU – anders als etwa die Vereinigten Staaten von Amerika758 – keine vollständige Trennung der Ebenen vollzieht, so dass sich die Ebenen gleichsam wie weitgehend unabhängige Parallelen zueinander verhalten759, sondern die europäische Verfassungsstruktur vielmehr die gemeinschaftliche und die mitgliedstaatliche Ebene auf vielfältige Weise miteinander verzahnt.760 Dies gilt nicht nur für den Bereich der Rechtsetzung, in die in Form des Rates als intergouvernementales Kopplungsorgan die Mitgliedstaaten maßgeblich eingebunden sind, sondern sogar noch verstärkt im Bereich der Verwaltung. Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf weitet Art. 291 AEUV den Blick und befasst sich mit der Rolle der Mitgliedstaaten. Art.  291 AEUV beginnt mit einer Aussage, die eigentlich nicht so 757 s. schon Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (682), die schon auf der Grundlage des alten PRAC-Verfahren für möglich und bedenklich hielten, dass das Parlament die politische Einschätzung der Kommission durch ihre eigene ersetzen. Statt eines solchen nachträg­ lichen politischen Einflusses befürworten sie eine genauere Bestimmung der Grenzen der Übertragung. 758 Grundsätzlich verwirklicht ist in den USA das System eines direkten Vollzugsföderalismus, in dem das Suprasystem seine Gesetze selbst vollzieht und die Gliedstaaten (grundsätzlich) das auf der Bundesebene gesetzte Recht nicht vollziehen, in der Praxis wird dieses Modell aber um zahlreiche kooperative Vollzugselemente und andere Vollzugsformen ergänzt, s. dazu B. Becker, JÖR 39 (1990), 67 (77 ff.). 759 Möllers, Gewaltengliederung, S. 341 ff. 760 Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, S. 492 ff.: „Komplementarität“ zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den nationalen Rechten.

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recht in das Kapitel 2, Abschnitt 1, das mit „Rechtsakte der Union“ überschrieben ist, passen will: „Die Mitgliedstaaten ergreifen alle zur Durchführung der verbindlichen Rechtsakte der Union erforderlichen Maßnahmen nach innerstaatlichem Recht.“

Anstatt mit Rechtsakten der Union befasst sich die Vorschrift also zunächst mit dem mitgliedstaatlichen Aufgabenbereich. Erst der zweite Absatz von Art.  291 AEUV lässt erkennen, warum Art.  291 AEUV zu recht dem Abschnitt über die „Rechtsakte der Union“ zugeordnet ist. Denn: „Bedarf es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung, so werden mit diesen Rechtsakten der Kommission oder, in entsprechend begründeten Sonderfällen …, dem Rat Durchführungsbefugnisse übertragen.“

Somit können auch die Organe Kommission und in spezifischen Fällen der Rat Durchführungsbefugnisse erlassen. Auch Rechtsakte der Union können Recht der Union durchführen. Diese Durchführung durch die Kommission und damit der Union ist dabei im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten als Ausnahme konzipiert („soweit …“). Hinweise auf die vertikalen und nicht horizontalen Bruchlinien des Art.  291 AEUV finden sich aber auch an anderer Stelle. Sie lassen sich bereits unmittelbar dem Wortlaut des Art. 291 AEUV entnehmen. Art. 291 AEUV schränkt die Rechtsakte, deren Durchführung der Kommission übertragen werden dürfen, nicht näher ein. Gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV werden der Kommission „mit diesen Rechtsakten“ Durchführungsbefugnisse übertragen. „Mit diesen Rechtsakten“ verweist auf die „verbindlichen Rechtsakte der Union“ in Art. 291 Abs. 1 AEUV. Ein solches Verständnis des Vertragstextes bedeutet: Jedweder verbind­liche Rechtsakt der Union kann die Rolle der „Mutternorm“ für einen Durch­führungsrechtsakt einnehmen. Sowohl Gesetzgebungsakte als auch delegierte Rechtsakte und primärrechtsunmittelbare Rechtsakte ohne Gesetzescharakter können Durchführungsbefugnisse übertragen.761 Dieser Umstand deutet auf einen wichtigen Unterschied zu Art. 290 AEUV hin. Dort ist taugliche Ermächtigungsgrundlage für einen delegierten Rechtsakt nur ein Gesetzgebungsakt (Art.  290 Abs.  1 AEUV). Während aus diesem Grund im Rahmen des Art.  290 AEUV die Übertragung der Regelungs­befugnisse zwangsläufig einen demokratischen Legitimationsverzicht bedeutet, weil eine Regelung statt in einer (jedenfalls relativ) demokratisch hochwertigen Form – dem Gesetzgebungsakt – von einem exekutiven Organ in einem nicht-legislativen Verfahren getroffen wird, ist eine solche Einbuße an demokratischer Legitimation jedenfalls nicht zwingende Folge einer Übertragung gemäß Art. 291 Abs. AEUV. Schließlich können auch Rechtsakte ohne Gesetzescharak-

761 Hofmann, ELJ 2009, 482 (493); Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (122); so auch die Intention der zuständigen Arbeitsgruppe „Vereinfachung“ im Konvent: CONV 424/02, S. 9 ff.

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ter und sogar delegierte Rechtsakte der Kommission die Kommission zum Erlass von Durchführungsrechtsakten ermächtigen.762 Damit haben Durchführungsrechts­ akte nicht zwangsläufig einen geringeren demokratischen Wert als ihre zugehörige „Mutternorm“. Als entsprechend anders erweist sich die hinter der Vorschrift stehende Logik: Für den Vertrag resultiert das Rechtfertigungsbedürfnis für eine Übertragung von Durchführungsbefugnissen nicht aus einem durch eine Übertragung gemäß Art. 291 AEUV etwaig ausgelösten Verzicht auf demokratische Legitimation. Ein Bedürfnis nach Rechtfertigung besteht nach der Konzeption des Vertrages vielmehr, weil nicht die gemäß Art.  291 Abs.  1 AEUV eigentlich zuständigen Mitgliedstaaten die betreffenden Rechtsakte durchführen, sondern die Union. Aus diesem Grund betrifft die Bedingung für die Übertragung andere Aspekte als die Kautelen, denen noch Art.  290 AEUV eine Übertragung unterstellt. Voraussetzung für die Übertragung nach Art. 291 AEUV ist das Bedürfnis nach „einheitlichen Bedingungen“ für die Durchführung. Fehlt es an einem solchen Bedürfnis, scheidet eine Übertragung aus; es greift die Regelzuständigkeit der Mitgliedstaaten.763 Zu beachten ist außerdem, dass übertragendes Organ – ein Organ der EU – und eigentlich zuständige Stelle – die Mitgliedstaaten – nicht identisch sind. Dem Lissabon-Vertrag geht es dementsprechend nicht um den Schutz des rechtsetzenden Organs, das sich zu vieler seiner Befugnisse entledigen könnte, vielmehr scheint ihm die grundsätzliche Durchführung durch die Mitgliedstaaten am Herzen zu liegen. Schon der Wortlaut von Art. 291 AEUV zeigt also, dass das die Übertragung rechtfertigende Moment nicht im horizontalen Verhältnis zwischen gemeinschaftlicher Legislative und gemeinschaftlicher Exekutive, sondern im vertikalen Verhältnis zu den Mitgliedstaaten zu suchen ist. Diese Erkenntnis gebietet es, einen näheren Blick auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten zu werfen.

B. Durchführung durch die Mitgliedstaaten I. Überblick über die vertikale Kompetenzordnung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten Die vertikale Kompetenzverteilung war eine der „Baustellen“, derer man sich bei den Reformen durch den Verfassungsvertrag und den Vertrag von Lissabon annehmen wollte. Bereits seit geraumer Zeit hatte man hier erheblichen Ände 762

Zu möglichen „Delegationskaskaden“ und Befürchtungen diesbezüglich s. Hofmann, ELJ 2009, 483 (502 f.). 763 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (44): „Regel-Ausnahme-Verhältnis“; Wolfram, Underground Law, S. 17: Durchführung als „Domäne der Mitgliedstaaten“.

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rungsbedarf erkannt.764 So forderte denn auch die Erklärung von Laeken die Vertragsautoren auf, die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten zu verdeutlichen und zu vereinheitlichen.765 Neben diesem Wunsch nach größerer Transparenz war die mitgliedstaatliche „Kompetenzangst766“  – geschürt von einer „integrationsfreundlichen“ Rechtsprechung767 des EuGH mit einer dezidiert ablehnenden juristischen Rezeption derselben im Schlepptau768 – eines der Leitmotive der Reform: Die von vielen gefürchtete „Einbahnstraße des Kompetenztransfers nach Europa sollte für den Gegenverkehr eröffnet werden“.769 1. Kompetenzgrundlage („Kann“): Unterscheidung zwischen Rechtsetzung und Durchführung Die Grundlagen der vertikalen Kompetenzverteilung sind allerdings dieselben geblieben, obgleich gewisse Aspekte deutlicher formuliert wurden.770 Nach wie vor ist die Union kein „geborenes“ staatsrechtliches Gebilde. Ihre Existenz und Befugnisse hängen von ihren souveränen Mitgliedstaaten ab. Nur wenn und soweit die Mitgliedstaaten der Union einen Teil ihrer Souveränität übertragen haben, kann die Union selbst hoheitlich handeln. Dieses Konzept steht hinter dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 4 Abs. 1, 5 Abs. 1,2 EUVn).771 Art. 5 Abs. 2 EUVn formuliert diesen Gedanken wie folgt: „Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben.“

Ergänzt wird dieses Prinzip um die Feststellung, dass „alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten […] bei den Mitgliedstaaten verbleiben“: Diese Feststellung hielten die Vertragsautoren anscheinend für so bedeutsam, dass sie sie in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander zweimal wortgleich

764

Eilmansberger, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 189 (190); Streinz, in: Hofmann/Zimmermann, Eine Verfassung für Europa, S.  71 (73); Weber, EuR 2004, 841 (847 f.); Bermann, in: in: Tridimas/Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 65. 765 Schröder, JZ 2004, 8; dazu auch Calliess, in: FS Fischer, S. 1 (20 ff.). 766 Mayer, ZaöRV 67 (2007), 1141 (1163). 767 s. beispielsweise EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981–10042. 768 s. insbesondere publikumswirksam Herzog/Gerken, in der FAZ vom 8. September 2008. 769 So Wuermeling, EuR 2004, 216; Götz, in: Schwarze, Verfassungsentwurf, S. 43 (56 f.). 770 Terhechte, EuR 2008, 153 (155); insbesondere zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Calliess, in: Calliess/Ruffert, EGV/EUV, Art. 5 EGV Rn. 14 und zum Subsidiaritätsprinzip, Becker, in: Jopp/Matl, Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 187 (190 f.); s. dazu Schröder, JZ 2004, 8 (11). 771 s. zu den weitreichenden Implikationen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung Schoch, DVBl 1997, 289 (293).

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erwähnten: In Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUVn.772 Auch in dieser Duplizierung zeigt sich der Wille der Vertragsautoren, die Wahrnehmung der Mitgliedstaaten, die unionale Kompetenzordnung weise starke zentripetale Kräfte auf und entziehe ihnen zunehmend nationale Souveränität, ernst zu nehmen und sie zugleich entkräften zu wollen: Ein früherer Entwurf des Verfassungsvertrags hatte die Abhängigkeit der Union von der mitgliedstaatlichen Übertragung von Hoheitsrechten noch eher verwässert dargestellt773; dort hieß es, dass die „Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird“, „die ihr von der Verfassung (…) zugewiesen werden.“ Demgegenüber betont der Lissabon-Vertrag in besonderer Weise, dass es auch mit dieser weiteren Entwicklungsstufe der Integration nicht zu einer „legitimatorischen Ablösung“ der Union von ihren Mitgliedstaaten gekommen ist.774 Die Union hat also keine Kompetenz-Kompetenz.775 Stets bedarf sie der Übertragung der Hoheitsrechte durch die Mitgliedstaaten, um in einem Bereich wirksam hoheitlich handeln, insbesondere Recht setzen, zu können. a) Kompetenz zur Gesetzgebung und zum Erlass verbindlicher Rechtsakte Entsprechend dem Ziel höherer Transparenz unterscheidet der Lissabon-Vertrag verschiedene Kategorien von Zuständigkeiten der Union. Art. 2 AEUV kennt ausschließliche, geteilte und komplementäre Kompetenzen. Diese ausdrückliche Normierung der verschiedenen Zuständigkeitsarten sowie deren Katalogisierung hat keinen Vorgänger in den Verträgen von Nizza und Amsterdam, entspricht aber in seinem Wortlaut den schon im Verfassungsvertrag avisierten Regelungen und kodifiziert im Wesentlichen die Rechtsprechung des EuGH zu der vertikalen Zuständigkeitsabgrenzung.776 In Bereichen, in denen der Union die ausschließliche Zuständigkeit übertragen ist, kann „nur die Union gesetzgeberisch777 tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen.“ (Art. 2 Abs. 1 AEUV). Die Übertragung einer ausschließlichen Zuständigkeit auf die Union wirkt demnach nicht nur positiv kompetenzbegründend, indem sie der Union eine begrenzte ausschließliche Einzelermächtigung an die 772 Diese Auffälligkeit dürfte wohl der bereits erwähnten zunehmenden „Kompetenzangst“ der Mitgliedstaaten geschuldet sein, vgl. zum Begriff Mayer, ZaöRV 67 (2007), 1141 (1163); s. auch Eilmansberger, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 189 (193). 773 von Bogdandy/Bast/Westphal, integration 4/2003, 414 (415). 774 von Bogdandy/Bast/Westphal, integration 4/2003, 414 (415). 775 Was die Union nach wie vor vom Bundesstaat unterscheidet, Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 5 Rn. 6; unklar insoweit Bermann, in: Tridimas/Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 65 (72), der durch den Verfassungsvertrag die Frage der „Kompetenz-Kompetenz“ für nicht geklärt hält. 776 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 8; Bermann, in: Tridimas/Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 65 (67). 777 Hervorhebung durch Verf.

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Hand gibt, sondern sie wirkt zugleich negativ: Den Mitgliedstaaten ist die gesetzgeberische Zuständigkeit für den Bereich der ausschließlichen uniona­len Zuständigkeit entzogen.778 Art. 2 Abs. 1 AEUV begrenzt die kompetenzielle Exklusivität der Union jedoch auf gesetzgeberische Kompetenzen.779 Gemäß Art. 2 Abs. 1 Hs. 2 AEUV dürfen die Mitgliedstaaten im Bereich einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union weiter tätig werden: Nämlich wenn sie von der Union hierzu ermächtigt wurden780 oder aber um Rechtsakte der Union durchzuführen. Somit gilt: Nur sofern „gesetzgeberische“ Tätigkeiten i. S. d. Art.  2 Abs.  1 AEUV betroffen sind, bedürfen die Mitgliedstaaten im Bereich ausschließlicher Unionskompetenz einer Ermächtigung. Hingegen dürfen sie Unionsrecht ohne eine solche Ermächtigung durchführen.781 Diese Regelung greift das Konzept des Art. 291 Abs.  1 und 2 AEUV vorweg782: Auch hier setzt nur die Durchführung durch die Kommission eine Ermächtigung in Form einer Übertragung von Befugnissen voraus. Die Mitgliedstaaten hingegen führen das Unionsrecht ohne eine solche Ermächtigung durch. Daraus folgt: Eine ausschließliche Unionskompetenz erfasst nicht den gesamten Sachbereich, sondern diesen Sachbereich minus der Durchführung.783 Auf einem ähnlichen Konzept für geteilte Zuständigkeiten784 basiert Art.  2 Abs.  2 AEUV. Hier können sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitglied 778

Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 18. Dies bedeutet indes nicht, dass die Mitgliedstaaten als Durchführungsmaßnahmen nicht auch Gesetze erlassen dürfen, dazu Trüe, ZaöRV 64 (2004), 391 (418) sowie sogleich § 4 B. I. 1. b). 780 Eine Grenze einer solchen Ermächtigung ist die grundsätzlich bestehende Kompetenz­ verteilung. Deshalb wäre jedenfalls eine permanente Ermächtigung der Mitgliedstaaten zur Gesetzgebung im Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten unzulässig, s. Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 19. 781 Ungenau insofern Schröder, JZ 2004, 8 (9), der ausführt, den Mitgliedstaaten sei im Bereich ausschließlicher Kompetenzen die Zuständigkeit entzogen, außer bei entsprechender Ermächtigung und die Durchführungszuständigkeit der Mitgliedstaaten unerwähnt lässt. 782 „[W]ohl im Zusammenhang mit Art.  291 Abs.  1 AEUV“, Eilmansberger, in: Hummer/ Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 189 (196). 783 Trüe, ZaöRV 64 (2004), 391 (418); Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 4 Rn. 32; so wohl auch Schröder, JZ 2004, 8 (9). 784 Präziser wäre es, diese Zuständigkeiten als konkurrierende Zuständigkeiten zu bezeichnen, da die Mitgliedstaaten in dem Umfang ihre Zuständigkeit verlieren, in dem die Union tätig geworden ist. Dabei tritt diese Sperrwirkung, die durch die sekundärrechtliche Regelung im Bereich der konkurrierenden Zuständigkeit ausgelöst wird, kraft Primärrecht ein und nicht erst aufgrund des allgemeinen Vorrangs des Gemeinschaftsrechts. Regelungen der Mitgliedstaaten, welche sich auf denselben Gegenstand beziehen, den schon der Unionsrechtsakt erfasst, sind unanwendbar. Ob die Unanwendbarkeit der mitgliedstaatlichen Regelung auf der Sperrwirkung der ausgeübten konkurrierenden Kompetenz der Union oder aber auf dem allgemeinen Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts beruht, ist streitig, s. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 27 (Sperrwirkung); a. A. Calliess, in: Calliess/Ruffert, Verfassungsvertrag, Art. I-12 Rn. 16. 779

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staaten nehmen „ihre Zuständigkeit“ wahr, d. h. sie können gesetzgeberische Aktivitäten entfalten, sofern und soweit die Union nicht tätig geworden ist. Anknüpfungspunkt für die unionale Zuständigkeit ist damit wiederum die Rechtsetzung. Nicht gesondert erwähnt ist in Art. 2 Abs. 2 AEUV bedauerlicherweise die Frage der Durchführung.785 Dieses Unterlassen sticht gerade im Vergleich zu Art. 2 Abs. 1 AEUV besonders ins Auge. Dennoch ist erst recht davon auszugehen, dass nicht nur im Bereich ausschließlicher, sondern auch geteilter unionaler Zuständigkeit den Mitgliedstaaten die Durchführung der von der Union erlassenen Rechtsakte obliegt; dies folgt nicht zuletzt aus Art. 291 Abs. 1 AEUV. Möglicherweise lässt sich das Schweigen von Art. 2 Abs. 2 AEUV zur Frage der Durchführungszuständigkeit schlicht damit erklären, dass die Vertragsautoren lediglich für den Bereich ausschließlicher Zuständigkeit eine Klarstellung der auch für diesen Bereich fortbestehenden Durchführungszuständigkeit der Mitgliedstaaten für erforderlich hielten.786 Eine weitere Form einer geteilten Zuständigkeit findet sich in Art. 4 Abs. 3 und 4 AEUV. Diese Bestimmungen sehen vor, dass die Union in bestimmten technologisch geprägten Bereichen Maßnahmen trifft, insbesondere Programme erstellt und durchführt, „ohne dass die Ausübung dieser Zuständigkeit die Mitgliedstaaten hindert, ihre Zuständigkeit auszuüben“. Anders als die ihrer Natur nach konkurrierende Zuständigkeit gemäß Art. 2 Abs. 2 AEUV verdrängt eine Regelung der Union die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nicht. Es handelt sich daher um eine parallele Zuständigkeit.787 Anders konzipiert sind die in Art. 2 Abs. 5, Art. 6 AEUV eingeführten Kompetenzarten der Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen der Union für Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Die Unions­ befugnis knüpft an Regelungen der Mitgliedstaaten an und setzte diese voraus. Die unionalen Maßnahmen koordinieren die mitgliedstaatlichen Regelungen, ohne die Kompetenzen der Mitgliedstaaten anzutasten. Zwar darf die Union auch Rechtsakte erlassen; der Erlass von Harmonisierungsmaßnahmen ist der Union aber versagt. Insgesamt dürfen die Rechtsakte der Union in diesen Bereichen eine nur „geringe Intensität“ aufweisen.788 Der Union wird also die Befugnis zur Gesetzgebung sowie zum Erlass verbindlicher Rechtsakte übertragen. Damit wird die Union nun ausdrücklich als Rechtsetzungsgemeinschaft konzipiert. Diese Eigenschaft wurde der Union zwar bereits vor dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags attestiert.789 Jedoch basierte diese Einschätzung anders als nach Lissabon nicht auf der eindeutigen Zuweisung von „Rechtsetzungs-“kompetenzen, bzw. den nun gewählten Subkategorien von „Gesetz­gebung“ und dem Erlass „verbindlicher Rechtsakte“; vielmehr beschrieb 785 Krit. auch Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 4 Rn.  32; Trüe, ZaöRV 64 (2004), 391 (409 f.). 786 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011. Art. 4 EUV Rn. 49. 787 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 2 EUV Rn. 32. 788 CONV 375/1/02 Rev. 1, S. 3. 789 Scheuing, DV 34 (2001), 107.

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diese Aussage die tatsächlichen Umstände, in denen die Union mangels eigenem Verwaltungsunterbau nur Rechtsetzungsgemeinschaft sein konnte.790 b) Kompetenz zur „Durchführung“ Hat die Union auf Grundlage einer „begrenzten Einzelermächtigung“ einen Rechtsakt erlassen, wird er von den Mitgliedstaaten „naturgemäß“ durchgeführt.791 Diese Rechtsfolge ordnet Art. 291 Abs. 1 AEUV ausdrücklich an. Die Durchführung des Unionsrechts erweist sich dabei zunächst als grundlegende Pflicht792 der Mitgliedstaaten gegenüber der Union. Sie lässt sich allgemein aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 AEUV) ableiten und findet in Art. 291 Abs. 1 AEUV eine spezielle Ausformung.793 Was aber bedeutet „Durchführung“? Aus Art. 2 Abs. 1 und Art. 291 Abs. 1 AEUV folgt, dass sich die „Durchführung“ an die Rechtsetzung anschließt. Durchgeführt wird der von der Union gesetzte Rechtsakt. Beide Tätigkeiten sind als komplementäre Gegenstücke konzipiert. Daraus resultiert eine lückenlose Verteilung: „Rechtsetzung“ erfolgt in Form von Gesetzgebung und in Form des Erlasses sonstiger Arten „verbindlicher Rechtsakte“ auf Ebene der Union, die „Durchführung“ dieser Rechtsakte vollzieht sich – vorbehaltlich einer Übertragung auf die Kommission – auf Ebene der Mitgliedstaaten. Dabei wenden die Mitgliedstaaten bei der Durchführung ihr innerstaatliches Recht an (vgl. Art. 291 Abs. 1 AEUV a. E.). Der konkrete Inhalt des mitgliedstaatlichen Durchführungsbeitrags hängt deshalb davon ab, welchen Inhalt der unionale Rechtsakt hat794, d. h.: „Die Verwaltungsstruktur der Mitgliedstaaten bleibt […] normativ eine Funktion des Inhalts der jeweils anzuwendenden Norm“.795 Ist das Unionsrecht schon anwendungsbereit – also: „unmittelbar anwendbar“ –, müssen die mitgliedstaatlichen Behörden das Unionsrecht administrativ auf die von diesem Recht betroffenen Einzelfälle anwenden, wobei sie nach ihrem eigenen Verfahrens- und Organisationsrecht vorgehen (Art. 291 Abs. 1 a. E.). Die Gerichte müssen es als Prüfmaßstab zur Ent 790

Vgl. dazu Kahl, DV 29 (1996), 341 (346). Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (756). 792 Zur Frage, ob nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon auch ein entsprechendes Recht der Mitgliedstaaten besteht und zu den Verschiebungen im Vergleich zur früheren Rechtslage s. sogleich unten § 4 B. II. 2. 793 von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 Rn. 72; Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1389); Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 291 AEUV, Rn. 3. 794 Dies weist auf ein typisches Merkmal administrativer Tätigkeiten hin: In den meisten modernen Verfassungsstaaten wird die administrative Tätigkeit negativ definiert: Verwaltung ist all das, was nicht Gesetzgebung und nicht Rechtsprechung ist, s. Schütze, Shapening the Seperation of Powers through a Hierarchy of Norms?, EIPA Working Paper 2005/W/01, S. 12. 795 Möllers, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 293 (306). 791

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scheidung streitiger Fälle heranziehen. Ist das Unionsrecht hingegen nicht „unmittelbar anwendbar“, müssen die Mitgliedstaaten es „anwendbar machen“. Sie erlassen dann nationale Rechtsvorschriften und übersetzen so das Unionsrecht in – erst nach diesem Zwischenschritt – anwendbares Recht. Durchführung kann also auch Rechtsetzung sein, was zum nur auf den ersten Blick sonderbar anmutenden Ergebnis führt, dass die Mitgliedstaaten sogar im Bereich ausschließlicher unionaler Zuständigkeit weiter gesetzgeberisch tätig werden dürfen: Nämlich dann, wenn es eines staatlichen Gesetzes bedarf, um das Unionsrecht durchzuführen.796 Gleichsam eine Zwischenstufe zwischen der normativen und der rein vollziehenden Durchführung unmittelbar anwendbaren Unionsrechts ist dann gefordert, wenn das Unionsrecht unbestimmte Rechtsbegriffe enthält. Diese müssen von den Mitgliedstaaten – ob durch den Gesetzgeber oder durch die Verwaltung kann an dieser Stelle dahinstehen – „anwendbar gemacht“ werden. Insoweit gilt es, die unbestimmten Rechtsbegriffe zu konkretisieren.797 Paradebeispiel für eine normative Durchführung ist die Richtlinie: Die Richtlinie ist ein normativ durchführungsbedürftiger Rechtsakt der Union, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Richtlinie auszuführen, indem sie Gesetze erlassen oder ändern.798 Nur hinsichtlich des Ziels verbindlich, überlässt sie den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und des Mittels (s. Art. 288 Abs. 3 AEUV). Das nationale Gesetz, das in Umsetzung der unionsrechtlichen Vorgaben ergeht, stellt sich aus der eindimensionalen nationalen Sicht als parlamentarisches und damit legislatives Gesetz dar; aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts ist es als ein Akt konkretisierender Normsetzung dem insgesamt exekutiven Bereich der Durchführung zuzurechnen.799 Deshalb ist die mitgliedstaatliche gesetzgeberische Tätigkeit selbst im Bereich ausschließlicher Gesetzgebung zur Umsetzung einer Richtlinie nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern erweist sich sogar als besondere Ausformung des Gebots der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 AEUV) und damit als Pflicht der Mitgliedstaaten.800 Dabei ist die Richtlinie nicht der einzige Fall, in dem die Mitgliedstaaten rechtsetzend tätig werden, um das unionale Recht durchzuführen. Bisweilen bedürfen auch Verordnungen der normativen Ergänzung (sog. hinkende801 oder „Rahmen-“802 Verordnungen).803 Ebenso ist denk 796

So auch Trüe, ZaöRV 64 (2004), 391 (418). Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 53. 798 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. EL 2009, Art. 249 EGV Rn. 124. 799 Möllers, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 293 (312). 800 von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 73; s. dazu die Spezialregelung für die Durchführung einer Richtlinie in Art. 288 Abs. 3 AEUV Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 291AEUV Rn. 3. 801 Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 13 Rn. 27. 802 Kahl, DV 29 (1996), 341 (347). 803 von Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 Rn. 72; Jarass/ Beljin, NVwZ 2004, 1 (7); EuGH, Rs.  30/70 (Scheer), Slg. 1970, 1197 Rn.  10; EuGH, Rs. 54/81(Fromme), Slg. 1982, 1449 Rn. 4 f. 797

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bar, dass materielles Gemeinschaftsrecht, um tatsächlich anwendbar zu sein, auf besondere mitgliedstaatliche Verfahrensregeln angewiesen ist; auch hier muss der Mitgliedstaat  – selbst im Bereich ausschließlicher Gemeinschaftkompetenzen  – gegebenenfalls ergänzende Durchführungsregeln erlassen.804 Im Übrigen stellt sich insbesondere der mitgliedstaatliche Vollzug, also die Anwendung von Rechtsakten der Union im Einzelfall gegenüber dem Bürger, nach der Konzeption des Vertrags von Lissabon als ein Fall mitgliedstaatlicher Durchführung dar.805 Dies wird vorwiegend wie selbstverständlich angenommen.806 Ein anderes Verständnis ließe sich nur schwer begründen. Die Gemeinschaft ist gerade auf die mitgliedstaatlichen Verwaltungsapparate angewiesen; die administrative Anwendung des Gemeinschaftsrechts war schon bisher der Schwerpunkt der Pflicht aus Art. 10 EGV. Angesichts dessen wäre es wenig sinnvoll, den Begriff der Durchführung, der erstmals einen ausdrücklichen Anknüpfungspunkt für die staatlichen Pflichten bei der Anwendung bzw. bei dem Anwendbarmachens des Gemeinschaftsrechts bietet, so auszulegen, dass er den Vollzug des Gemeinschaftsrechts im Einzelfall nicht erfassen würde. Nicht zuletzt geht auch die Kommission davon aus, dass der Begriff der Durchführung in Art.  291 AEUV  – anders als Art. 291 AEUV – den Erlass von Einzelmaßnahmen erfasst.807 Im Zusammenhang mit der Kompetenz zur Durchführung ist der Umstand zu nennen, dass die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht gemäß Art. 291 Abs. 1 AEUV a. E. nach ihrem innerstaatlichen Recht durchführen. Zur Durchführung gehören die Verwaltungsregeln (Verfahrens-, Organisationsregeln usw.808), nach denen die Mitgliedstaaten die materiellen Programme des Unionsrechts umsetzen. Ob dieser Umstand unter den Begriff der „Durchführung“ selbst zu subsumieren ist oder nicht, kann letztlich offen bleiben. Art. 291 Abs. 1 a. E. AEUV enthält insoweit die ausdrückliche Gewährleistung, dass die mitgliedstaatliche „Durchführung nach innerstaatlichem Recht“ erfolgt.809

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Nur diesen Fall hat wohl Trüe, ZaöRV 64 (2004), 391 (418) im Blick. Dies bedeutet eine Abkehr vom bisherigen Durchführungsbegriff, wie er in Art.  202, 3. Spiegelstrich verwendet wurde. Danach war die Durchführung von der weitergehenden Anwendung des Gemeinschaftsrechts („Vollzug“) zu unterscheiden, s. Möllers, EuR 2002, 483 (503), sowie unten unter § 4 B. II. 1. 806 Trüe, ZaöRV 64 (2004), 391 (418); von Bogdandy/Schill, in; in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 EUV Rn. 76; a. A. wohl Bradley, FS Bieber, S. 286 (289). 807 KOM(2009) 673 endgültig, S. 4. 808 Vgl. zum weiten Verständnis Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 Rn. 61. 809 Möglicherweise wird der Zusatz, dass die Mitgliedstaaten die unionalen Rechtsakte nach innerstaatlichem Recht durchführen aus Klarstellungsgründen gesondert erwähnt. Denn die Verwaltungsregeln der Mitgliedstaaten, innerhalb derer die Mitgliedstaaten die Rechtsakte durchführen, bestehen ja in der Regel bereits vor dem und unabhängig von dem Erlass des durchzuführenden Rechtsaktes des Gemeinschaftsrechts und lassen sich daher schwerlich als „Durchführung“ dieser Rechtsakte bezeichnen. 805

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

„Durchführung“ durch die Mitgliedstaaten erfasst damit jedwede Anwendung sowie das Anwendbarmachen des Gemeinschaftsrechts; bildlich gesprochen all dasjenige, was sich vertikal unterhalb der Ebene oder schlicht in Folge der unionalen Gesetzgebung abspielt. Die Pflicht zur Durchführung des Unionsrecht richtet sich an alle Gewalten: Der Gesetzgeber muss das Gemeinschaftsrecht durchführen, indem er Richtlinien umsetzt oder ergänzungsbedürftige Verordnungen konkretisiert („normative Durchführung“); die Verwaltung muss die anwendungsbereiten Regeln des Gemeinschaftsrechts auf Einzelfälle anwenden („administrative Durchführung“) und die Gerichte haben das Gemeinschaftsrechts zur Entscheidungsfindung heranzuziehen („judikative Durchführung“).810 Daneben muss das mitgliedstaatliche Recht Verfahrens- und Organisationsregeln bereitstellen, die eine Durchführung erst möglich machen („nach innerstaatlichem Recht“). Der Begriff der Durchführung ist damit sehr dehnbar: Was Durchführung ist und sein kann, hängt von Form und Inhalt des durchzuführenden Rechtsaktes ab. 2. Kompetenzausübungsschranken („Ob“, „Wie“) Während das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung regelt, ob die Union in einem bestimmten Bereich überhaupt tätig werden kann, bestimmt sich nach dem Subsidiaritätsprinzip, ob sie von ihrer Zuständigkeit tatsächlich Gebrauch machen soll.811 Dabei beansprucht das Subsidiaritätsprinzip nur Geltung für die nicht-ausschließlichen Befugnisse der Union (Art. 5 Abs. 3 EUVn)812: Es lautet nun in der Fassung von Lissabon in leicht modifizierter und verdeutlichter Form813: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler Ebene ausreichend verwirklicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.“

Die Anordnung der Nicht-Geltung des Subsidiaritätsprinzips im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeiten ist schlüssig: Die Alternative zum Handeln der Union – Handeln der Mitgliedstaaten – steht hier nicht mehr zu Verfügung, weil die Union ausschließlich zuständig ist und aufgrund dessen den Mitgliedstaaten schon die Rechtsmacht zum Tätigwerden fehlt. Die beim Subsidiaritätsprinzip an 810

Dieses Begriffsverständnis macht sich etwa von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 302 zueigen. 811 Ritzer/Rutloff, EuR 2006, 116 (118 f.); Schreiber, Verwaltungskompetenzen, S. 59. Krit. gegenüber dieser „Faustformel“, die zu Missverständnissen führen könne, Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 55. 812 Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilz/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 51; EuG, Rs. T-420/05, Slg. 2009, II-03841 Rn. 23 (Vischim/Kommission). 813 Jacqué, SZIER/RSDIE 2011, 29 (73): Die Einbeziehung der regionalen Ebene erweist sich dabei nur als eine Kodifizierung der bisherigen Praxis. Die wesentliche Neuerung besteht im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Subsidiaritätsrüge der nationalen Parlamente.

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zustellende Abwägung, „ob“ die Union von ihrer Kompetenz Gebrauch machen soll, wurde durch die Anordnung einer ausschließlichen Zuständigkeit bereits in genereller Weise antizipiert; sie erübrigt sich daher im Einzelfall.814 Das Subsidiaritätsprinzip gilt indes für geteilte Zuständigkeiten der Union. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass sogar im Bereich exklusiver unionaler Zuständigkeit den Mitgliedstaaten die Durchführung des Unionsrechts obliegt (Art.  2 Abs.  1 AEUV). Die Zuständigkeit für die Durchführung ist deshalb selbst im Fall einer ausschließlichen (Rechtsetzungs-)Kompetenz nicht ausschließlich der Union zugeordnet: Vielmehr stellt sie sich als geteilte Kompetenz zwischen Mitgliedstaaten und Union dar, so dass das Subsidiaritätsprinzip der Durchführung durch die Union stets, also auch im Bereich ausschließlicher unionaler Kompetenzen, Grenzen setzt.815 Eine weitere Kompetenzausübungsschranke für das Handeln der Union enthält das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Es setzt dem Handeln dann Grenzen, wenn die Union tatsächlich von einer ihr zustehenden Kompetenz Gebrauch gemacht hat und regelt das „Wie(weit)“ der Kompetenzausübung. Insoweit ist anerkannt, dass das Prinzip seine begrenzende Wirkung nicht nur zum Schutz individueller Rechte, sondern auch bei Eingriffen in die Interessen der Mitgliedstaaten entfaltet und die Mitgliedstaaten somit vor einem „Übermaß“ europäischer Regelungen bewahren kann.816 Die neue Formulierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sieht gegenüber der alten Fassung ausdrücklich durch einen Zusatz vor, dass die Maßnahmen der Union „inhaltlich wie formal“ nicht über das für die Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgehen dürfen. Durch diese Änderung stellen die Vertragsautoren klar, dass sie das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht nur in formeller Hinsicht  – also insbesondere im Sinne einer „Mittelhierarchie“  – verstanden haben wollen, sondern der unionale Spielraum auch inhaltlich, sprich: im Hinblick auf Regelungsweite bzw. -tiefe, begrenzt sein soll.817 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit findet im Rahmen von ausschließlichen Kompetenzen Anwendung.818 Zwar besteht hier keine Alternative zu der Frage, ob überhaupt die Union ihre Kompetenz ausüben soll; sehr wohl können aber Maßnahmen in diesen Kompetenztiteln unterschiedlich stark in den mitgliedstaatlichen Verantwortungsbereich hineinwirken. Die kompetenzbegrenzende Wirkung des Verhältnismäßigkeitsprinzips hat also Raum, sich zu entfalten.

814 von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441 (447); dies., in: Grabitz/Hilz/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 52. 815 Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1400 f. m Fn. 70). 816 Schreiber, Verwaltungskompetenzen, S.  64; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 5 EGV Rn. 52 m. w. N. 817 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 5 EGV Rn. 52. 818 Vgl. Stelzer, in: Tsatsos, Unionsgrundordnung, S. 385 (397).

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II. Der neue Durchführungsbegriff: Anwendbarmachen und Anwendung des Gemeinschaftsrechts Der Vertrag von Lissabon verwirklicht nach oben Gesagtem einen Durch­ führungsbegriff, der jede Form des gemeinschaftsrechtlichen Verwaltungsrechts und die allgemeine administrative Anwendung des Gemeinschaftsrechts als Durchführung erfasst,819 also die „Anwendung“ des Gemeinschaftsrecht ebenso wie den Vorgang des „Anwendbarmachens“.820 Dabei können sowohl die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht „durchführen“ als auch die Gemeinschaft selbst. Der Vertrag verwendet für beide Formen denselben Begriff der Durchführung.821 Ein solches Verständnis der Durchführung war zwar bereits auf Grundlage des alten Rechts in der Literatur verbreitet; es ließ sich angesichts der unspezifischen Weite des Begriffs der Durchführung durchaus mit dem natürlichen Sprachgefühl in Einklang bringen. Es taugte aber nur bedingt als Rechtsbegriff im Sinne der Verträge: Der EGV gebrauchte den Begriff der Durchführung uneinheitlich822 und legte auch der Vorgängerregelung des Art. 291 AEUV (Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV) ein anderes Verständnis der Durchführung zugrunde. Die Rechtsprechung des EuGH ging ebenfalls von einem engeren Begriff der Durchführung i. S. d. Art. 202 EGV aus, nach dem die Durchführung nach dieser Vorschrift mit den Mitgliedstaaten erst einmal nichts zu tun hatte (dazu 1.). Entsprechend anders stellt sich die neue Regelung des Art. 291 AEUV dar.823 Der AEUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon widmet sich nun ausdrücklich der Rolle der Mitgliedstaaten bei der Durchführung. Die Kompetenzen der Union umfassen erst einmal immer nur die Gesetzgebung und den Erlass verbindlicher Rechtsetzung. Grundsätzlich nicht umfasst vom unionalen Kompetenztitel ist hingegen die Durchführung dieser Rechtsakte. Auch dies war auf Grundlage des EGV anders (dazu 2.).

819 Zum alten Recht verwarf einen solchen Begriff der Durchführung zu Recht noch Möllers, EuR 2002, 483 (496). 820 Vgl. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 15 Rn.  29; Schroeder, AöR 129 (2004), 3 (10): Weil Durchführung Vollzug und Verfahrens- und Organisationsregeln umfasst, sollten die Begriffe „Vollzug“ und „Durchführung“ nicht gleichgesetzt werden. 821 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 136. 822 Der Begriff der Durchführung tauchte in den alten Verträgen außer in Art. 202, 3. Spiegelstrich und Art. 211, 4. Spiegelstrich EGV noch an anderen Stellen (Art. 51 GRCH; Art. 159 Abs. 1 S. 2 EGV) auf. In anderen Sprachfassungen wurden indes für den im Deutschen mehrfach gewählten Begriff der „Durchführung“ jeweils verschiedene Begriffe verwendet, s. dazu Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (6 mit Fn. 86). 823 So auch Ruffert, in: Calliess/Ruffert, 4. Aufl. 2011, Ar. 291 Rn. 2.

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1. Implikationen für den Begriff der Durchführung Anders als jetzt Art.  291 Abs.  2 AEUV war seiner Vorgängerregelung kein Rechtfertigungsbedürfnis für den Fall zu entnehmen, dass die Durchführung auf unionaler statt auf mitgliedstaatlicher Ebene erfolgen sollte. Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV beschränkte sich auf die horizontale Kompetenzverteilung.824 Insoweit war die Kommission regelmäßig zur Durchführung der unionalen Rechtsakte berufen, wobei diese ihre Durchführungszuständigkeit wie heute auch von einem Übertragungsakt abhängig war. Die Vorschrift schwieg aber zu den Voraus­ setzungen und den Grenzen, denen die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission unterlag.825 Die Mitgliedstaaten tauchten in der Regelung gar nicht auf; insbesondere formulierte Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV keine Grenzen, denen der Rat bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen im ver­ tikalen Verhältnis zu den Mitgliedstaaten unterlag.826 Daraus konnte indes noch nicht zwingend geschlossen werden, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung keine Rolle spielten. Art. 202 EGV befand sich im 5.  Kapitel des EGV, der sich ausweislich seines Titels den Organen der Gemeinschaft widmete. Eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Mitgliedstaaten war damit an dieser Stelle vom Vertrag nicht unbedingt zu erwarten. Der EuGH befasste sich bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen vom Rat auf die Kommission ebenfalls nicht mit den Beschränkungen, die etwaige Rechte der Mitgliedstaaten der Übertragung auferlegen könnten. Vielmehr hatte der EuGH Grenzen für die Übertragung von Durchführungsbefugnissen nur aus horizontaler Perspektive formuliert. So sollte die bereits erwähnte Wesentlichkeitsrechtsprechung verhindern, dass der Rat der Kommission die Entscheidung über die „wesentliche Ausrichtung“ der Gemeinschaftspolitik überließ. Mit dem vertikalen Verhältnis zu den Mitgliedstaaten beschäftigte sich der EuGH bei der Frage, was der Kommission zulässigerweise an Durchführungsbefugnissen überlassen werden durfte, hingegen meistens gar nicht. Die Mitgliedstaaten tauchten im Zusammenhang mit der Übertragung von Durchführungsbefugnissen sogar eher in der umgekehrten Konstellation auf: Anstatt zu fragen, ob die Kommission anstelle der Mitgliedstaaten Durchführungs­ befugnisse ausüben dürfe, fragte der EuGH eher, ob die Kommission nicht selbst die Durchführung übernehmen müsse. Insoweit zeigte sich der EuGH bisweilen gegenüber einer mitgliedstaatlichen Durchführung sogar dezidiert skeptisch827: 824

Möllers, EuR 2002, 483 (499). Schütze, Shapening the Separation of Powers through a Hierarchy of Norms?, EIPA Working Paper 2005/W/01, S. 13. 826 Vgl. Möllers, Gewaltengliederung, S. 282 f.; dies kritisieren Gerken/Holtz/Schick, Wirtschaftsdienst 10 (2003), 662 (668). 827 Möllers, in: Schmidt-Aßmann//Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 293 (304); Lenaerts, ELRev. 1993, 23 (29). 825

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In dem der Entscheidung „Rey Soda“ zugrundeliegenden Sachverhalt hatte der Rat der Kommission gemäß Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV Durchführungsbefugnisse übertragen. Im horizontalen Verhältnis zwischen Rat und Kommission präsentierte sich das Gericht gewohnt großzügig: Der Begriff der Durchführung sei weit zu verstehen. Da nur die Kommission in der Lage sei, die Entwicklung der Agrarmärkte ständig und aufmerksam zu beobachten, dürfe der Rat ihr eine weitreichende Beurteilungs- und Handlungsbefugnis übertragen. Überdies seien die Grenzen der übertragenen Befugnisse weniger nach dem Wortlaut der Ermächtigung als nach den „allgemeinen Hauptzielen der Marktorganisation“ zu beurteilen.828 Im Vergleich zu dieser großzügigen Haltung auffallend streng zeigte sich der EuGH gegenüber der Weiterleitung der Durchführungsbefugnisse von der Kommission an die Mitgliedstaaten. Die Kommission müsse „die wesentlichen Grundvorschriften selbst genau festlegen; sie dürfe hingegen nicht die Mitgliedstaaten beauftragen, „als Durchführungsvorschriften die wesentlichen Grundvorschriften zu erlassen, die sich einer etwaigen Kontrolle des Rates entziehen.“829 Der EuGH rechnet damit die Durchführungsbefugnisse, die der Rat der Kommission (im Verwaltungsausschussverfahren) übertragen hatte, weiter dem Verantwortungsbereich der Union zu. Aus der vertikalen Perspektive war daher die Übertragung der Durchführungsbefugnisse auf die Kommission und die Ausübung dieser Befugnisse auf Gemeinschaftsebene nicht rechtfertigungsbedürftig, weil diese dem Regelbild des Art.  202, 3.  Spiegelstrich EGV entsprach. Rechtfertigungsbedürftig, aber im Fall nicht rechtfertigungsfähig, war im Gegenteil die Weiterleitung der Durchführungsbefugnisse auf die Mitgliedstaaten und die Ausübung der Durchführungsbefugnisse auf dieser Ebene. Der Rat hatte durch seine Übertragung der Durchführungsbefugnisse auf die Kommission festgelegt, dass weitere Konkretisierungsleistungen auf gemeinschaftlicher Ebene und damit unter seiner Kontrolle stattfinden sollten. Diese Entscheidung des Rates, „den Stab“ noch nicht an die Mitgliedstaaten weiter zu reichen – eine Rechtsfolge, die ohne die Übertragung der Durchführungsbefugnisse auf die Kommission nach dem gemeinschaftlichen Vollzugskonzept automatisch eintreten würde830  – durfte die Kommission nicht aushebeln, indem sie sich einer eigenen Regelung enthielt und den Mitgliedstaaten überließ. Die Entscheidung, wie weit der Rat seine Regelungen konkretisiert wissen wollte, lag damit vor allem an ihm als Gesetzgeber. Er musste dabei insbesondere abschätzen, wie weit eine zentrale Regelung erforderlich war, um die einheitliche Effektuierung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.831 Angesichts dieser Entscheidungsbefugnis, die in erster Linie beim europäischen Gesetzgeber angesiedelt war, ist deshalb nicht ausgeschlossen, dass der EuGH die Durchführung durch die Mitgliedstaaten in Rey Soda weniger strikt 828

EuGH, Rs. 23/75 (Rey Soda), Slg. 1975, 1279 Rn. 10/14. EuGH, Rs. 23/75 (Rey Soda), Slg. 1975, 1279 Rn. 25/26; dazu auch Türk, in: Adenas/ Türk, Delegated Legislation, S. 217 (218). 830 Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, 643 (651). 831 Vgl. EuGH, Rs. C-205/82 (Deutsche Milchkontor), Slg. 1983, 2633 Rn. 24. 829

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beurteilt hätte, wenn der Rat selbst die „Übertragung“832 auf die Mitgliedstaaten vorgesehen hätte.833 Im Fall „Scheer“, dem eine ähnliche Konstellation wie in „Rey Soda“ zugrunde liegt, hält der EuGH zwar die Grenzen der Befugnisse, welche die Kommission den Mitgliedstaaten zulässigerweise überlassen durfte, für nicht überschritten. Jedoch nähert sich der EuGH auch hier der Frage nur aus der Sicht der Gemeinschaft, fragt also lediglich, ob den Mitgliedstaaten diese Befugnisse überlassen werden durften, nicht aber, ob die Mitgliedstaaten gar ein Recht auf die Ausübung dieser Befugnisse haben könnten. Der EuGH begründet die Zulässigkeit der „Weiterleitung“ der Befugnisse damit, dass es ich bei diesen Befugnissen gerade nicht um der Gemeinschaft obliegende Durchführungsbefugnisse handele, sondern „nur [um] die Erfüllung der in Art. 5 EGV [Art. 10 EGV] festgelegten allgemeinen Pflicht der Mitgliedstaaten, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus Handlungen der Gemeinschaftsorgane ergeben …“. Der EuGH unterscheidet also ausdrücklich die Aufgabe der Durchführung von der Pflicht der Mitgliedstaaten, das Gemeinschaftsrecht anzuwenden. Ausdrücklich betont der EuGH dabei, dass die Grenzen der den Mitgliedstaaten zulässigerweise überlassenen „Aufgaben“834 sich nach dem gegenwärtigen Entwicklungsstand der Gemeinschaft richteten. Er schließt damit nicht aus, dass in einem „fortgeschritteneren Entwicklungsstadium“ diese noch den Mitgliedstaaten obliegenden Aufgaben von den Gemeinschaftsorganen sogar übernommen werden müssen.835 Ein neueres Urteil836, das sich nun mit der „Übertragung“ von Durchführungsbefugnissen durch den Gesetzgeber, also den Rat, befasst, bestätigt die Einschätzung, dass der EuGH die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission nicht als grundsätzlich rechtfertigungsbedürftige Ausnahme von der vertikalen Zuständigkeitsordnung einstufte. In dem Fall wandte sich die Kommission gegen eine Verordnung des Rates. Dieser hatte sich Durchführungsbefugnisse selbst vorbehalten. Dies billigt der EuGH, da ein „spezifischer Fall“ i. S. d. Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV vorliege. Außerdem bezweifelte die Kommission die Rechtmäßigkeit einer Bestimmung, nach der der Rat den Mitgliedstaaten ge 832 Wobei die Zuständigkeit der Länder zur „Durchführung“ der Regelung des Rates keine „echte“ Übertragung oder Delegation gewesen wäre, sondern automatische Folge des „Los­ lassens“ der Regelung durch den Rat. 833 Lenaerts, ELRev. 1993, 23 (29 f.). 834 In der deutschen Fassung ist von „Durchführung“ nicht die Rede; in der englischen Fassung taucht indes das Wort „implementation“ auf. 835 EuGH, Rs. 30/70 (Scheer), Slg. 1970, 1197 Rn.  8; dazu auch Türk, in: Adenas/Türk, ­Delegated Legislation, S. 217 (250), der sich mit der „schwierigen Frage“ der Abgrenzung von mitgliedstaatlichen und unionalen Kompetenzen ebenfalls nur aus der europäischen Perspektive befasst und nur nach dem Ausmaß fragt, „in dem die Mitgliedstaaten von der Kommission mit Durchführungsmaßnahmen beauftragt werden dürfen“ (Übersetzung Verf.). 836 EuGH, Rs. C-275/01(Kommission/Rat), Slg. 2005, I-345.

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stattet hatte, das Verfahren zur Änderung oder Aktualisierung bestimmter Bereiche des Schengener Abkommens zu regeln. Nach Ansicht der Kommission verstieß diese Regelung gegen Art.  202, 3.  Spiegelstrich EGV. Diese Bestimmung ermögliche dem Rat nur, sich entweder selbst Durchführungsbefugnisse vorzubehalten oder aber sie der Kommission zu übertragen. Unzulässig sei hingegen die Übertragung dieser Befugnisse auf die Mitgliedstaaten. Der EuGH lehnt im Ergebnis dieses Vorbringen zwar ab. Er prüft aber – und insoweit doch auf einer Linie mit der Argumentation der Kommission – ob der Rat bei der Umsetzung bestimmter Vorschriften oder Anlagen des Schengener Abkommens „verpflichtet war, auf die gemeinschaftlichen Verfahren zurückzugreifen, oder ob die Befugnis zur Änderung dieser Vorschriften oder Anlagen auf die Mitgliedstaaten übertragen werden konnte, ohne gegen das Gemeinschaftsrecht zu verstoßen.“837 Der EuGH bringt mit dieser Formulierung zum Ausdruck, dass die Übertragung von Durchführungsbefugnissen i. S. d. Art. 202 EGV primär nicht ein Rechtfertigungsbedürfnis im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten erzeugt. Er prüft vielmehr in umgekehrter Stoßrichtung, ob die Besonderheiten der Materie es gebieten, die Regelungen zentral auf europäischer Ebene zu treffen. Leitmotiv der Prüfung ist damit, ob die Befugnisse auf europäischer Ebene durchgeführt werden müssen, nicht hingegen: ob sie dort durchgeführt werden dürfen. Die konkreten Konflikte, die aus der Übertragung von Durchführungsbefugnissen resultierten, spielten sich ebenfalls primär auf horizontaler Ebene ab.838 Wenn mal die Mitgliedstaaten die Übertragung von Durchführungsbefugnissen angriffen, ging es ihnen ebenfalls nicht um den Schutz vor Übergriffen in einen „eigentlich“ ihnen selbst zustehenden administrativen Hoheitsbereich, sondern um horizontale Streitpunkte. Fälle betrafen etwa die Frage, ob Durchführungsbefugnisse der Kommission erlaubten, Sanktionen einzuführen, die der Rat selbst im Basisrechtsakt noch nicht vorgesehen hatte839; oder sie adressierten andere Unklarheiten im Zusammenhang mit der Bestimmung des Bereichs des Wesentlichen, der dem Basisrechtsakt vorbehalten bleiben sollte.840 Bezeichnend ist schließlich in diesem Zusammenhang, dass ein Vorschlag der Kommission im Rahmen der Vorarbeiten zur Einheitlichen Europäischen Akte hinsichtlich der Änderung der Durchführungsvorschrift des Art. 155 EWGV ebenfalls in keiner Weise die Mitgliedstaaten bedachte.841 Der Vorschlag zielte auf eine originäre Durchführungskompetenz der Kommission; ihre Durchführungskompetenz sollte also nicht mehr von einer entsprechenden Ermächtigung durch den Rat 837

EuGH, Rs. C-275/01(Kommission/Rat), Slg. 2005, I-345 Rn. 67. s. aber EuGH, Rs. C-359/92 (Deutschland/Rat), Slg. 1994, I-3681, dazu s. noch unten § 4 B. II. 2. a) aa) (1). 839 EuGH, Rs. C-240/90 (BRD/Kommission), Slg. 1992, I-5383 Rn. 37. 840 EuGH, Rs. C-66/04 (Raucharomen), Slg. 2005, I-10553. 841 Vorschlag vom 27.9.1985, Dok. CONF-RGEM 19/85: „[Die Kommission] übt die Befugnisse zur Durchführung der vom Rat erlassenen Vorschriften aus.“ 838

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abhängen.842 Die Kommission setzte damit in vertikaler Hinsicht schlicht voraus, dass die Zuständigkeit für die Durchführung bei der Union, und nicht bei den Mitgliedstaaten lag. Ansonsten hätte das Konzept einer originären Durchführungskompetenz der Kommission nicht funktionieren können. Die Übertragung von Durchführungsbefugnissen i. S. d. Art. 202 EGV auf die Kommission war weder vertragssystematisch als Eingriff in den mitgliedstaat­ lichen Aufgabenbereich und damit als in diesem vertikalen Verhältnis rechtfertigungsbedürftige Ausnahme konzipiert843; noch löste sie tatsächlich regelmäßig Spannungen im vertikalen Verhältnis aus. Auch der EuGH sah keine Veranlassung, in die Prüfung der Zulässigkeit einer Befugnisübertragung etwaige entgegenstehende Rechte der Mitgliedstaaten mit einzubeziehen. Aus alldem folgt, dass die Durchführung i. S. d. Art. 202 EGV (oder „i. e. S.“) bisher Bestandteil der unionalen Kompetenzen war.844 Die Durchführung bezeichnete eine „Zwischenstufe der Konkretisierung der unionalen Rechtsetzung des Rates der im Regelfall eine weitere Konkretisierungsstufe folgte, also eine Form „exekutiver Rechtsetzung“.845 Rechtsdogmatisch und zumal aus der Sicht der Mitgliedstaaten musste die Durchführung als (quasi-)legislative Tätigkeit angesehen werden.846 Die Durchführungsbefugnisse waren, wenn zwar aus einer horizontalen Perspektive exekutiver Natur, aus Sicht der Mitgliedstaaten dem (insgesamt legislativen oder eben: quasi-legislativen) Verantwortungsbereich der Union zuzuordnen.847 Es handelte sich, zumindest dem Schwerpunkt nach, um eine Form delegierter Rechtsetzung.848 Erst der dieser (Durchführungs-)Rechtsetzung nachfolgende Konkretisierungsschritt war der von der Durchführung zu unterschei 842 Dieser Vorschlag konnte sich indes nicht durchsetzen. Dennoch wurden die Durchführungskompetenzen der Kommission durch die EEA gestärkt: Die schon vor der EEA praktizierte Ermächtigung der Kommission zur Durchführung der vom Rat erlassenen Vorschriften wurde zum Regelfall erklärt, s. dazu Bruha/Münch, NJW 1987, 542 ff. 843 Das „Appell“ mancher Autoren, in Folge der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in den Verträgen nach dem Vertrag von Maastricht, „pauschale Befugnisübertragungen“ gemäß Art. 202, 211 EGV seien nun nicht mehr möglich, fand wenig Berücksichtigung in der Rechtsprechung und in der Praxis der Organe, s. die „Appelle“ bei von Borries, FS Deringer, S. 22 (32 m. Fn. 31); Calliess, Subsidiaritätsprinzip, S. 76. 844 Vgl. Görisch, Demokratische Verwaltung durch Unionsagenturen, S. 250. 845 Möllers, EuR 2002, 483 (496); Sydow, Verwaltungskooperation, S. 39. 846 Möllers, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 293 (304); Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (160). 847 Dem Verständnis dieser Befugnisse als Rechtsetzung steht dabei nicht entgegen, dass der Begriff der Durchführung nach Ansicht des EuGH auch den Erlass von Einzelakten umfasst. Denn der europäische Begriff der „Rechtsetzung“ ist weit und verlangt nicht, dass aus ihm Einzelakte auszuklammern sind, wie Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 1 Rn. 17 ff. überzeugend darlegt. 848 So auch Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (124), der aus diesem Grund darauf hinweist, dass sich die wahre Parallele zu Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV in Art. 290 AEUV findet, und nicht, wie der ähnliche Wortlaut und die parallelen Kontrollstrukturen nahelegen, in Art. 291 AEUV.

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

dende Vollzug des Gemeinschaftsrechts, der sich grundsätzlich auf Ebene der Mitgliedstaaten abspielte.849 Dass dieser weitere Konkretisierungsschritt des (i. d. R. mitgliedstaatlichen) Vollzugs bisweilen oder sogar meistens ebenfalls als Durchführung bezeichnet wurde, trug nicht gerade zur Klarheit des Konzepts der Durchführung bei.850 Durchführung i. S. d. Art. 202 EGV meinte also nur Durchführung durch die Union. Durchführungsbefugnisse waren damit nach altem Recht Bestandteil der Verbandskompetenzen der Union; die (regelmäßige)  Organkompetenz lag bei der Kommission. Der Begriff der Durchführung i. S. d. Art. 202 EGV taugte nicht als Instrument zur Analyse der Verbandskompetenz der Union. So brachte schließlich der EuGH auf den Punkt, dass „Art. 202, 3.  Gedankenstrich zwar die Frage der … Aufteilung der Durchführungsbefugnisse zwischen dem Rat und dem Parlament regelt, nicht aber die Kompetenzverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten.“851

Nach dem Vertrag von Lissabon ist der Begriff der Durchführung hingegen entscheidend für die vertikale Kompetenzabgrenzung: Der identische Begriff der Durchführung wird sowohl für unionale (Art. 291 Abs. 2 AEUV) als auch für mitgliedstaatliche Maßnahmen (Art. 291 Abs. 1 AEUV) verwendet, und zwar in so engem systematischen Zusammenhang, dass eine grundsätzlich unterschiedliche Auslegung des Begriffs nicht in Betracht kommt.852 Zugleich knüpft der Vertrag an den Begriff der Durchführung Rechtsfolgen für die Verbandskompetenz. Art. 2 Abs. 1 AEUV und Art. 291 Abs. 1 AEUV ordnen explizit die Zuständigkeit für die Durchführung grundsätzlich den Mitgliedstaaten zu. Während die Mitgliedstaaten stets ohne eine Ermächtigung für die Durchführung zuständig sind, dürfen unionale Organe nur aufgrund einer „Übertragung“ von Durchführungsbefugnissen im durchzuführenden Rechtsakt Durchführungsmaßnahmen ergreifen. Will ein Organ, das einen Rechtsakt erlassen hat, Durchführungsbefugnisse auf die Kommission transferieren, muss es begründen und darlegen, dass einheitliche

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Möllers, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 293 (304); Bradley, in: FS Bieber, S. 286 (289); auch der EuGH ging ersichtlich von einer Trennung der auf Ebene der Union anzusiedelnden „Durchführung“ i. S.  d. Art.  202, 3.  Spiegelstrich, und der erst nachfolgenden Vollzugsverpflichtung der Mitgliedstaaten aus, vgl. EuGH, Rs. 30/70 (Scheer), Slg. 1970, 1197 Rn. 7, dazu s. schon eben oben. 850 s. etwa die Begriffsverwendung bei Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (6); Lenaerts, ­ELRev. 1993, 23 (28) ff., der „execution“ mit „implementing“ (Durchführung) gleichsetzt, aber trotzdem der „legislation“ auf Unionsebene auch die von der Kommission erlassenen Durchführungsregeln zuordnet: „Drawing the line between legislation (basic policy choices) and execution (implementing rules) then becomes an essential part of the exercise. „The ‚legislation‘ involved is not necessarily one of the Council, but may include the ‚essential basic rules‘ to be laid down by the Commission.“ (Hervorhebung durch Verf.); Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 (266): „One of the main problems with understanding the role and the role of administration is the frequent equating of the role of administration with implementation of EU policies.“ 851 EuGH, Rs. C-257/01 (Kommission/Rat), Slg. 2005, I-345 Rn. 66. 852 Vgl. auch Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 136.

§ 4 Das Konzept vertikaler Gewaltenteilung hinter Art. 291 AEUV 

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Bedingungen für die Durchführung erforderlich sind. Die grundsätzliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Durchführung muss damit jetzt, anders als vor Lissabon, bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen stets berücksichtigt werden. 2. Implikationen für den Grundsatz des indirekten Vollzugs Der neue Durchführungsbegriff ist weiter als der alte. Er erfasst nun all dasjenige, was bisher unter dem Schlagwort des „indirekten Vollzugs“ dem Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten zugeordnet wurde, also die „Anwendung“ und weiter das „Anwendbarmachen“ des Gemeinschaftsrechts. Indem der Vertrag die Aufgabe der „Durchführung“ des Gemeinschaftsrechts nun grundsätzlich der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten unterstellt und diese das Gemeinschaftsrecht „nach innerstaatlichem Recht“ durchführen (Art. 291 Abs. 1 AEUV a. E.), führt der AEUV jedenfalls eine Klarstellung gegenüber dem alten Recht herbei, wenn nicht sogar substantielle Neuerungen. a) Die unsicheren Grenzen unionaler Verwaltungsmaßnahmen auf Grundlage des EGV Obgleich das Schlagwort von der „Verfahrensautonomie“853 der Mitgliedstaaten vielfach im Munde geführt und häufig schlicht davon ausgegangen wurde, dass „grundsätzlich“ die Mitgliedstaaten für den Vollzug des Gemeinschaftsrecht zuständig waren854, war tatsächlich die Verteilung der administrativen Kompetenzen in der Gemeinschaft äußerst unklar.855 Einhellig spricht man zwar vom „Grundsatz des indirekten Vollzug“ des Gemeinschaftsrechts. Was das konkret bedeutete, war aber keineswegs konsentiert. Unstreitig war nur, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 10 EGV verpflichtet waren, das Gemeinschaftsrecht auszuführen und zu vollziehen (oder eben „durchzuführen“ im weiteren Sinne). Weil die Union nur einen wenig ausgebildeten eigenen Verwaltungsunterbau hat, entsprach es zunächst rein tatsächlich ständiger Praxis, dass die Mitgliedstaaten das Gros des Gemeinschaftsrechts vollzogen. Während das geflügelte Wort vom „Grundsatz des mitgliedstaatlichen Vollzugs“ als Beschreibung der gemeinschaftsrechtlichen Praxis die Wirklichkeit damit sicherlich zutreffend erfasste, ließ sich aus dieser rein faktischen Verteilung der Vollzugstätigkeit indes noch nicht ableiten, dass die Mitgliedstaaten ein Recht auf den Vollzug geltend machen konnten. Fraglich ist also, ob dem Grundsatz des indirekten Vollzugs neben seinem zweifellos wahren deskriptiven 853

von Danwitz, DVBl 1998, 421 429; von Borries, in: FS Everling, S. 127 (129). So etwa Schmitt-Kötters/Held, NVwZ 2009, 1390 (1393); Wahl/Groß, DVBl 1998, 2 (10). 855 Möllers, EuR 2002, 483 (498); Kahl, in: Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 4.  Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 61. 854

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ein präskriptiver Gehalt zukam, ob er also der sekundärrechtlichen Begründung von Verwaltungskompetenzen der Gemeinschaft Grenzen setzen konnte.856 Der Grundsatz des indirekten Vollzugs erfasst im Folgenden zwei verschiedene Aspekte. Zum einen beschreibt er die Tatsache, dass die mitgliedstaatlichen Behörden das Gemeinschaftsrecht im konkreten Einzelfall zur Anwendung bringen („wer“); zum anderen bezeichnet der Grundsatz des indirekten Vollzugs den Umstand, dass die mitgliedstaatlichen Behörden hierbei nach ihrem eigenen Verwaltungs- und Verfahrensrecht857 vorgehen („was/wie“).858 Entsprechend diesen zwei Ebenen kann das Gemeinschaftsrecht prinzipiell auf zwei unterschiedliche Arten auf den mitgliedstaatlichen Vollzug Einfluss nehmen, um den naturgemäß zur Uneinheitlichkeit neigenden mitgliedstaatlichen Vollzug zu koordinieren.859 Vereinheitlichungsmechanismen kann das Europarecht entweder in Form von Verfahrensregeln schaffen, die es beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts für die mitgliedstaatlichen Stellen zu beachten gilt.860 Seltener, obschon mit der Regulierung privatisierter Märkte in zunehmendem Maße, fordert das sekundäre Gemeinschaftsrecht auch organisationsrechtliche Anpassungen ab.861 Oder das Gemeinschaftsrecht geht (noch) einen Schritt weiter und sieht vor, dass den Mitgliedstaaten die Vollzugszuständigkeit ganz oder teilweise entzogen wird und anstelle der mitgliedstaatlichen gemeinschaftseigene Stellen oder Agenturen das Recht vollziehen, der indirekte Vollzug also zum „direkten Vollzug“ wird.862 Schließlich ist es möglich, den Verwaltungsmaßnahmen eines Mitgliedstaates gemeinschaftsweite Wirkungen beizulegen.863 Während im ersteren Falle 856 Für eine im Sinne dieser Gegenüberstellung nur deskriptive Bedeutung des Grundsatzes vom indirekten Vollzugs plädiert Scheuing, DV 34 (2001), 107 (110). 857 Letzterer Aspekt war bisher mit dem „unglücklichen Terminus der ‚Verwaltungsautonomie‘ der Mitgliedstaaten“ umschrieben, Ladenburger, in: Allg. VerwR – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 106 (121). 858 Beide Aspekte finden sich nun auch in Art. 291 Abs. 1 AEUV wieder, nach dem die Mitgliedstaaten („wer“) das Gemeinschaftsrecht nach ihrem innerstaatlichen Recht („was/wie“) durchführen. 859 Diese Unterscheidung trifft auch Sydow, DV 34 (2001), 517 (531), der aber auch die beiden Arten der Einflussnahme näher ausdifferenziert (S. 520 ff., 523 ff.). 860 Hier kommen in Betracht: Vereinheitlichung des Verfahrensrechts, Vorgaben für die Verwaltungsorganisation, Aufsichts- und Weisungsrechte der Kommission, Personalpolitik, s. dazu Sydow, DV 34 (2001), 517 (523 ff.). Die Möglichkeit, den Vollzug durch die Rechtsprechung des EuGH zu koordinieren (Äquivalenz- und Effizienzgebot), kann an dieser Stelle ausgeblendet werden, da es insoweit nicht um die Kompetenz zum Erlass von Rechtsakten geht. 861 Möllers, Gewaltengliederung, S. 337; Kahl, DV 29 (1996), 341 (354 f.); Sydow, Verwaltungskooperation, S. 72. 862 Vgl. Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 207: „Schließlich können sogar Regelungen erforderlich werden, die der Kommission maßgeblichen Einfluss auf Einzelentscheidungen einräumen, und damit einem zentralen Vollzug nahekommen.“ Abstrakt zu den Fällen, in denen dies auf Grundlage des Subsidiaritätsprinzips in Betracht kommt, s. Winter, EuR 2005, 255 (265). 863 Zu solchen transnationalen Verwaltungsakten, s. insbesondere Röhl, Akkreditierung, S. 36 ff.

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„nur“ das „Wie“ des Vollzugs gemeinschaftsrechtlich determiniert ist, ändert sich im letzteren die konkret im Einzelfall handelnde Ebene.864 Die Formen der Einflussnahme können unterschiedlich intensiv und verschiedenartig ausgebildet sein. Die Möglichkeiten reichen von vereinzelten Regelungen zum Verfahren über Entscheidungsvorbehalte der Gemeinschaft bis hin zur Schaffung gemeinsamer Behörden (Agenturen865), welche ebenfalls der Koordinierung des Vollzugs dienen sollen.866 Die oft beschriebene duale Struktur des Vollzugs kann angesichts dessen nur ein vergröbertes Bild der tatsächlichen Vollzugsstrukturen vermitteln.867 In der Praxis des Gemeinschaftsrechts hat sich ein vielschichtiges Netz an Koordinations- und Kooperationsstrukturen herausgebildet, das die etablierte Dichotomie von direktem und indirektem Vollzug nur bedingt erfassen kann868 und daher vielfach mit einer – neben direktem und indirekten Vollzug – dritten Kategorie beschrieben wird: dem Verbund.869 All diese möglichen Arten der Einflussnahme seien im Folgenden, um den bisher wenig eindeutigen Begriff der Durchführung bzw. den Begriff des Vollzugs zu vermeiden, als „Verwaltungsmaßnahmen“ der Union bezeichnet; „Verwaltungsmaßnahmen“ meint hier also sekundärrechtliche Regelungen, die den Vollzug koordinieren, sei es durch eine Hochzonung des Vollzugs auf die Kommission oder auf Gemeinschaftsagenturen, sei es durch gemeinschaftsrechtliche Regelungen zur mitgliedstaatlichen Behördenorganisation oder zum Verwaltungsverfahren. Die Frage, die sich stellt, ist nun: Inwiefern darf das (sekundäre)  Gemeinschaftsrecht solche Verwaltungsmaßnahmen ergreifen; wie intensiv darf es auf die Verwaltung der unteren Ebene Zugriff nehmen, um seine gesetzgeberischen Ziele zu erreichen?870 Inwiefern lassen sich gegen solche Regelungen entgegenstehende 864 Zur Frage, ob die bloße Regelung des Verfahrens bzw. der Organisation tatsächlich ein milderes Mittel zur Hochzonung der Aufgabe darstellt, s. Möllers, EuR 2002, 483 (501) sowie unten § 4 C. IV. 1.  865 Dazu umfassend Vetter, DÖV 2005, 721 ff. und Griller/Orator, ELRev. 2010, 3 ff. 866 Vgl. auch die Beschreibung der „Palette möglicher Ingerenzrechte“ bei Möllers, Gewaltengliederung, S. 336 f.; sowie die Beschreibung der verschiedenen sekundärrechtlichen Instrumente bei Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 27 ff. 867 Differenzierend Möllers, Gewaltengliederung, S. 334 f. 868 Ausführlich dazu Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 ff.; Möllers, EuR 2002, 483 (506); Sydow, DV 34 (2001), 517 (542); Kment, JuS 2011, 211 spricht von drei Bereichen, in die das Unionsverwaltungsrecht zerfällt: (1) Eigenverwaltungsrecht, in die EU selbst verwaltend tätig ist; (2) mitgliedstaatlicher Verwaltungsvollzug, in dem die mitgliedstaatlichen Verwaltungen sowohl unter Einfluss europäischer Vorgaben als auch unter Berücksichtigung des nationalen Verwaltungsrechts agieren; (3) kooperativ angelegter Verwaltungsverbund; s. die Modell­ bildung bei Sydow, Verwaltungskooperation, S. 123, der innerhalb des indirekten Vollzugs noch weiter differenziert zwischen Einzelvollzugs-, Transnationalitäts- und Referenzentscheidungsmodell. 869 von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 11 ff; Sydow, DV 34 (2001), 517 (520 f.), Kment, JuS 2011, 211; Burgi, JZ 2010, 105 (106). 870 Vgl. Möllers, in: Allg. VerwR – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 489 (511).

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Rechte der Mitgliedstaaten oder gar die „Verfahrensautonomie“ der Mitgliedstaaten anführen?871 Hier fehlte es bisher weitgehend an Maßstäben.872 aa) Keine Begrenzung der Verbandskompetenz für Verwaltungsmaßnahmen durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung: Kein doppeltes Kompetenzerfordernis Solche Verwaltungsmaßnahmen könnten zunächst eine Begrenzung durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erfahren. Aus dem Umstand, dass die Verträge selbst der Gemeinschaft nur sehr selten ausdrücklich Befugnisse zur Verwaltung und zum Vollzug zugestehen, wird gefolgert, der Union fehle grundsätzlich die Zuständigkeit für die Regelung von Verwaltungsmaßnahmen.873 Die Verträge träfen eine Grundentscheidung zugunsten einer mitgliedstaatlichen Verwaltung.874 Manche leiten aus diesem Befund – weitergehend – sogar eine „prozedurale und institutionelle Autonomie“ der Mitgliedstaaten ab.875 Diese sei als Ausdruck „der vertikalen Gewaltenteilung, so wie sie in der Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft Ausdruck findet“, begründet und daher sogar „primärrechtlich geschützt“.876 Weil also den Mitgliedstaaten gleichsam als „Kernbereich“ oder als „domaine réservée“877 die Verwaltungszu-

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Krit. hierzu Sydow, DV 34 (2001), 517 (530). Ohler, EuZW 2006, 372 (374). 873 So wohl z. B. Wahl/Groß, DVBl 1998, 2 (11); Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht. s. B. Becker, JÖR 39 (1990), 67 (95): „Der direkte Vollzug bindender EG-Politikentscheidungen durch die EG … ist nach Art. 4 Abs. 1 EWGV und nach der Systematik des primären Gemeinschaftsrechts … die Ausnahme.“ von Danwitz, DVBl 1998,421 (431). Häufig wird allerdings der dogmatische Anknüpfungspunkt nicht recht deutlich, s. z. B. Wittinger, EuR 2008, 609 (612), die davon ausgeht, dass „nach der Kompetenzverteilung des Vertrages der Rechtsvollzug durch gemeinschaftseigene Behörden die Ausnahme und im Grundsatz Sache der Mitgliedstaaten“ sei, was sich anhört als ginge es um die Gesamtschau der Einzelermächtigungen, dann aber von einer Begrenzung gemeinschaftlicher Vollzugstätigkeit durch das Subsidiaritätsprinzip spricht. 874 von Danwitz, DVBl 1998, 421 (430). 875 von Danwitz, DVBl 1998,421 (431); Kahl, DV 29 (1996), 341 (346); von Borries, FS Everling, S. 127 (129). Allerdings verstehen auch diese Autoren die mitgliedstaatliche Verwaltungsautonomie nicht als unantastbaren Kernbereich mitgliedstaatlicher Kompetenzen, auch sie anerkennen die Möglichkeit des Erlasses von Verfahrensregelungen als Annex zu einer materiellen Rechtsetzungskompetenz als „implied powers“, etwas missverständlich insoweit Möllers, in: Schmidt-Aßmann/Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 293 (305 f.). Bisweilen gebrauchte auch der EuGH den Begriff der „Verwaltungsautonomie“ der Mitgliedstaaten, s. etwa EuGH, Rs. C-201/02 (Wells), Slg. 2004, I-723 Rn. 65. Differenzierend: Grundsatz, der eben auch Durchbrechungen zulässt, Burgi, JZ 2010, 105 (106); krit. zu dem Begriff der Verwaltungsautonomie Scheuing, DV 34 (2001), 107 (109); von Bogdandy/ Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 4 Rn. 77: „Keine absolute Schranke“. 876 von Danwitz, DVBl 1998, 421 (431). 877 Vgl. von Borries, in: FS Everling, S. 127 (131). 872

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ständigkeit implizit zugewiesen sei, dürfe die Union ohne entsprechende ausdrückliche Ermächtigung durch das Sekundärrecht keine Verwaltungsmaßnahmen regeln oder gar gemeinschaftseigene Vollzugszuständigkeiten begründen.878 Dogmatisch konsequent war diesen Autoren zufolge sodann gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Ermächtigungsgrundlagen zu suchen, welche die Union ausnahmsweise zum Erlass von Verwaltungsmaßnahmen „mit“ ermächtigen sollten.879 Nicht verheimlicht werden soll, dass die eingehende Auslegung vieler Ermächtigungsgrundlagen dann vielfach doch zutage förderte, dass diese gewisse „verwaltungsrechtliche Kompetenzreserven880“ enthielten.881 Dieses Vorgehen ließ sich indes nicht ohne weiteres den Verträgen entnehmen.882 Ein doppeltes Kompetenzerfordernis883 für einerseits legislative Rechtsakte und für andererseits administrative Maßnahmen kann nur dann begründet sein, wenn die Verträge tatsächlich zwischen diesen beiden Arten von Kompetenztiteln unterscheiden würden [dazu (1)], oder wenn zumindest den Verträgen zu entnehmen gewesen wäre, dass die Kompetenzen der Union sich auf legislative Rechtserzeugung beschränken sollten (2). Beides war indes bisher nicht der Fall.

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Von dem Erfordernis eines doppelten Kompetenztitels gehen anscheinend u. a. aus: Wahl/ Groß, DVBl 1998, 2 (11); von Borries, FS Everling, S.  127 (132); Pühs, Der Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 77; zumindest für den Vollzug einen eigenen Kompetenztitel verlangen von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441 (453); krit. hierzu Möllers, EuR 2002, 483 (498) und jetzt auch Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art.  5 EUV Rn. 29. 879 So gehen etwa Klepper, Vollzugsmaßnahmen, S.  45 ff. vor; ebenso von Borries, in: FS Everling, S. 132 ff. 880 von Danwitz, DVBl 1998, 421 (430). 881 s. insbesondere die Auslegung bei Klepper, Vollzugskompetenzen, S. 34. Insgesamt wurden häufig die Grenzen, die die begrenzten Einzelermächtigungen nun den Verwaltungskompetenzen der Gemeinschaft setzen sollten, nicht recht klar bezeichnet. s. etwa Pühs, Der Vollzug des Gemeinschaftsrechts, S. 77 f., der zunächst eine ausdrückliche Ermächtigung für den direkten Vollzug verlangt, dann aber ausführt, die Gemeinschaft könne ihr Recht insoweit vollziehen, als behördliche Stellen auf Gemeinschaftsebene errichtet wurden und ihnen zulässigerweise der Vollzug von Gemeinschaftsrecht zugewiesen werden könnte und sodann ausführt, der Grund für den Ausnahmecharakter des direkten Vollzugs sei praktischer und politischer Natur. 882 So auch Sydow, VerwArch 97 (2006), 1 (13); Möllers, EuR 2002, 483 (498); beispielhaft für das Vorgehen der Gegenansicht Schreiber, Verwaltungskompetenzen, S. 54 ff., die zunächst darlegt, dass sich dem EGV nicht entnehmen lasse, ob die gemeinschaftseigenen Verwaltungskompetenzen von ihren Rechtsetzungskompetenzen erfasst seien (wie in den USA), oder nicht (wie in der BRD); dann aber schlicht behauptet, das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erlaube eine Rechtsanwendung durch die Gemeinschaft nur dann, wenn dies vertraglich vorgesehen sei. 883 An diesem Erfordernis zweifelnd auch Möllers, EuR 2002, 483 (498).

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(1) Keine grundsätzliche Unterscheidung zwischen Rechtsetzungs- und Verwaltungskompetenzen Anders als im deutschen Recht unterschieden die Kompetenzgrundlagen der Verträge bis Lissabon nicht in grundsätzlicher Weise zwischen Kompetenztiteln zur „Rechtsetzung“ und solchen, die zur „Verwaltung“ bzw. zur „Durchführung“ ermächtigten.884 Es fehlte insbesondere an einer allgemeinen Vorschrift, die die Befugnisse der Gemeinschaft entsprechend kategorisierte. Der Rechtsprechung des EuGH lässt sich eine solche Unterscheidung gleichfalls nicht entnehmen. Vielmehr stellen sich Verwaltungsmaßnahmen, Vollzugsmaßnahmen eingeschlossen, als Bestandteil der jeweiligen Sachkompetenzen dar.885 Weit verbreitet war diese Erkenntnis jedenfalls für den Erlass von normativen Verwaltungsmaßnahmen. Insoweit war allgemein anerkannt, dass die Gemeinschaft „Durchführungsregeln“ als Annex zu der materiellen Sachkompetenz mit regeln durfte.886 So wurde – mit Billigung des EuGH – etwa zur Errichtung von Agenturen durch die Gemeinschaft zunehmend die jeweilige Sachkompetenz herangezogen.887 Vor allem die Binnenmarktharmonisierungskompetenz des Art. 95 EGV spielte  – vom EuGH unbeanstandet  – als Grundlage für Verwaltungsmaßnahmen eine bedeutende Rolle.888 Auch andere Verfahrensregeln fanden regel­ mäßig ihre Rechtsgrundlage im einschlägigen materiellen Kompetenztitel, liefen also unter „fachgesetzlichem Label“.889 Die bisher umfassendste Kodifikation mit detaillierten Regelungen zum Verwaltungsverfahren, die nationale Regelungen weitgehend ausschließen890, bietet der Zollkodex, der auf Grundlage von Art. 26, 884 Schroeder, AöR 129 (2004), 3 (11 f.); Jarass, AöR 121 (1996), 173 (182); SchmidtAßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Kap.  7 Rn. 8; Möllers, EuR 2002, 483 (498): „[…] Kompetenzkonzeption des Vertrages, die keine eindeutige Zuordnung einer bestimmten Sachkompetenz zu einer bestimmten Funktion der Gewaltenteilung kennt …“; Klepper, Vollzugskompetenzen, S. 123; Sydow, VerwArch 97 (2006), 1 (13); Gundel, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 2 und 109. 885 Erklären lässt sich das möglicherweise damit, dass bei den bisherigen Reformen des Primärrechts der Fokus stets nur auf materiellrechtliche Kompetenzen gelegt wurde, s. Ohler, EuZW 2006, 369 (374), 886 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. EL 2009, Art. 249 EUV Rn. 241; Kahl, NVwZ 1996, 865. Eine andere Frage ist, ob die Union die Kompetenz hatte, sachbereichsübergreifend das allgemeine Verwaltungsrecht zu regeln. Dies wurde, wohl zu recht, überwiegend abgelehnt, s. dazu auch Schoch, DVBl 1997, 289 (293 ff.); Sommermann, DVBl 1996, 889 (896 ff.). 887 Sydow, VerwArch 97 (2006), 1 (11); Sydow, DV 34 (2001), 517 (530); Gundel, EuR 2009, 383 (384); Vetter, DÖV 2005, 721 (722); Wittinger, EuR 2008, 609 (611 f.); Ohler, EuZW 2006, 369 (373). Anfangs zogen die Gemeinschaftsorgane häufig noch die Kompetenzergänzungsklausel des Art. 308 EGV heran. Später stützte sie die Kommission – entsprechend ihrer Ankündigung (KOM(2002) 718, S. 2) – zunehmend auf den jeweiligen speziellen materiellen Kompetenztitel. 888 Krit. Dazu Vetter, DÖV 2005, 721 (728 f.); EuGH, Rs. C-359/92, Slg. 1994, I-3681. 889 Burgi, JZ 2010, 105 (106). 890 Dazu Witte, in: Witte, Zollkodex, Vor. Art. 1 Rn. 11 ff.

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95 und 133 EGV erging, der also neben der Binnenmarktharmonisierungskompetenz auf die sachbereichsspezifischen Kompetenznormen gestützt wurde.891 Die Organe schlossen damit von der materiellrechtlichen Kompetenz auf eine entsprechende akzessorische Verwaltungskompetenz892 – oder aber sie erkannten in beiden Aufgaben eben keinen qualitativen893 Unterschied. Die Kompetenzen ließen sich gliedern nach Sachbereichskompetenzen, Harmonisierungskompetenzen und begrenzten Sachbereichskompetenzen zur Ergänzung, Förderung Unterstützung oder Koordinierung mitgliedstaatlicher Politik894, nicht aber nach Kompetenzen für Rechtsetzung auf der einen und Verwaltungsmaßnahmen auf der anderen Seite.895 Diese Ausführungen gelten nicht nur für normative Verwaltungsmaßnahmen (also die Regelung von Verwaltungsverfahren oder Organisation), sondern auch für die Überführung von Anwendungskompetenzen in den direkten Vollzug, der entweder den zuvor errichteten Agenturen oder der Kommission als Aufgabe übertragen wurde. Die meisten Kompetenztitel waren primärrechtlich so weit gefasst, dass sich unter sie alle Formen der Rechtserzeugung, der Erlass individueller Rechtsakte eingeschlossen, fassen ließen.896 Besonders deutlich wird dies, wo die Verträge der Union die Zuständigkeit zuwiesen, einen bestimmten Politikbereich zu regeln.897 Ebenso offen zeigten sich Ermächtigungen, die der Union den Erlass von „Maßnahmen898“ gestatteten. Insbesondere auf Grundlage von Art. 95 EGV 891

Sommermann, DVBl 1996, 889 (897). Sydow, DV 34 (2001), 517 (530). 893 Dies bedeutet aber nicht, dass Verwaltungsregeln unbegrenzt zulässig sind. Verwaltungsregeln sind quantitativ anders: Sie determinieren die Mitgliedstaaten stärker. Ihre Grenzen sind anhand des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu ziehen, s. auch Wittinger, EuR 2008, 609 (615 f.). Allerdings fehlte es hier an klaren Regeln, dazu s. unten § 4 B. II. 2. a) bb). 894 Diese Kategorisierung findet sich z. B. bei Härtel, Handbuch Europäischer Rechtsetzung, §§ 4 Rn. 7 ff. und Trüe, ZaöRV 64 (2004), 391 (404 ff.). 895 Zwar finden sich in jüngerer Zeit vermehrt ausdrückliche Rechtsgrundlagen für Verfahrensregelungen, so z. B. in Art. 66 EGV für die Zusammenarbeit zwischen den Behörden in den Bereichen Visa, Asyl und Einwanderung und freier Personenverkehr und in Art. 135 EGV für die Zusammenarbeit zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten und der Kommission im Zollwesen sowie Art. 30 EUV i. V. m Art. 32. Jedoch taugen diese Regelungen nicht zu einer eigenständigen Kategorisierung. Auch wurde ihre Existenz nicht zum Anlass genommen, in einem Gegenschluss die grundsätzliche Untauglichkeit von allgemeineren Kompetenztiteln für den Erlass von Verfahrensregelungen anzunehmen, vgl. etwa Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 2 Rn. 68: „Soweit solche Rechtsgrundlagen fehlen, ergibt sich die jeweilige Zuständigkeit für verfahrensrechtliche Normierungen aus der Sachkompetenz […].“ Sydow, Verwaltungskooperation, S. 41 ff. 896 Jarass, AöR 121 (1996), 173 (182). 897 Z. B. die Kompetenz zur Regelung der Agrarpolitik, Art. 37 und Art. 133 EGV, zu Vollzugskompetenzen auf Grundlage dieser Vorschriften, s. schon Klepper, Vollzugskompetenzen, S. 47 ff. und S. 50 ff. 898 Art. 42; Art. 59; Art. 95 Abs. 1 S. 2 EGV; vgl. auch Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 2. 892

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errichtete die Gemeinschaft nicht nur gemeinschaftseigene Agenturen, sondern übertrug diesen Einrichtungen zugleich die entsprechenden Vollzugskompetenzen, was voraussetzt, dass die Union diese Befugnisse selbst innehatte.899 Ebenso hielt der EuGH es für zulässig, auf Grundlage eben dieser Sachkompetenz des Art. 95 EGV die Kommission mit Befugnissen zu Einzelfallentscheidungen auszustatten. Solche Regelungen begegneten durchaus der Skepsis der Mitgliedstaaten. So richtete sich etwa die Bundesrepublik Deutschland gegen die Richtlinie des Rates zur Produktsicherheit.900 Der Rat hatte dort die Kommission ermächtigt, die Mitgliedstaaten im Verwaltungsausschussverfahren zu verpflichten, geeignete Vorkehrungen für die Sicherheit eines bestimmten Produkts, das nach Einschätzung der Kommission die Sicherheit ernsthaft und unmittelbar gefährdete, zu treffen (z. B. Anordnung der Rücknahme vom Markt). Die Kommission durfte damit Maßnahmen ergreifen, die den Charakter und die Wirkung einer Einzelfallweisung gegenüber den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten aufwiesen. Deutschland wandte gegen die Richtlinie u. a. ein, die Gemeinschaft entbehre der für eine solche Maßnahme erforderlichen Rechtsgrundlage. Es argumentierte, die vom Rat herangezogene Vorschrift des Art.  100a Abs.  1 EGV (später Art.  95; nach Lissabon: Art. 114 AEUV) könne die Verbandskompetenz der Union nicht begründen. Sie gestatte nur die gemeinschaftliche Rechtsangleichung und schließe daher die Ermächtigung der Kommission zum Erlass von Einzelmaßnahmen aus. Die Ermächtigung der Kommission in der Richtlinie könne auch nicht als Durchführungsbefugnis im Sinne des Art.  145, 3.  Spiegelstrich EWG-Vertrag (später: Art. 202 EGV) angesehen werden, da dieser Artikel keine eigenständige materielle Befugnis enthalte, sondern den Rat nur dann zur Übertragung von Durchführungsbefugnissen an die Kommission ermächtige, wenn im primären Gemeinschaftsrecht eine Rechtsgrundlage für den durchzuführenden Rechtsakt und die Durchführungsmaßnahmen bestehe. Der EuGH schloss dagegen nicht aus, Art. 100a EGV (später Art. 95 EGV) als Ermächtigungsgrundlage für Regelungen heranzuziehen, die den Erlass von Einzelmaßnahmen durch die Kommission erlaubten. Sofern die bloße Angleichung von Vorschriften nicht ausreiche, um das Errichten und Funktionieren des Binnenmarkes zu gewährleisten, dürfe die Gemeinschaft Einzelmaßnahmen auf dieser Grundlage vorsehen. Der EuGH verzichtete damit ebenfalls auf die Dichotomie zwischen materiell oder verfahrensmäßig programmierenden Regelungen

899 So in EuGH, Rs. C-359/92, Slg. 1994, I-3681; s. zur wohl nur der Systematik halber gemachten Differenzierung zwischen der „Errichtungskompetenz“ und der „Aufgabenzuweisungskompetenz“, die beide auf dem materiellen Kompetenztitel beruhen, Sydow, VerwArch 97 (2006), 1 (10 f.; 12 f.); Griller/Orator, ELRev. 2010, 3 (11). 900 EuGH, Rs. C-359/92 (Deutschland/Rat), Slg. 1994, I-3681, s. auch EuGH, Rs. C-66/04 (Raucharomen), Slg. 2005, I-10553 zu beiden Entscheidungen auch Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1393 ff.). s. dazu auch Wahl/Groß, DVBl 1998, 2 ff.; Röhl, Akkreditierung, S. 3 ff.

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und Einzelfallentscheidungen; er legte ein Verständnis zugrunde, bei dem sich die materielle oder verfahrensmäßige Programmierung und die unionale Einzelfallentscheidung lediglich als graduell an Intensität zunehmende Formen der gemeinschaftsrechtlichen Einflussnahme darstellen.901 Dies entsprach der dama­ ligen Konzeption der Verträge, die ein „Mischsystem aus finalen und sachlichen Kompetenzzuweisungen“ etablierten, innerhalb dieser Kompetenzarten aber nicht zwischen legislativen und exekutiven Befugnissen unterschieden.902 Ausdrücklich weist der EuGH in diesem Zusammenhang auf die vermeintliche Wurzel des irrigen deutschen Verständnisses hin, nämlich dass „die Vorschriften, die die Beziehungen zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitglied­ staaten betreffen, nicht die gleichen sind wie diejenigen, die den Bund und die Länder miteinander verbinden.“903

Bisweilen thematisierte der EuGH sogar weniger die Frage nach dem Recht der Union, intensivere Vereinheitlichungsmechanismen vorzusehen, als die Möglichkeit, dass die Union zu solchen Bestimmungen verpflichtet war. So führte der Gerichtshof in seiner Entscheidung „Deutsche Milchkontor“ aus: „Sollte sich im übrigen herausstellen, dass Verschiedenartigkeiten der nationalen Rechtsvorschriften geeignet sind, die Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer zu gefährden, Verzerrungen hervorzurufen oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu beeinträchtigen, so wäre es Aufgabe der zuständigen Gemeinschaftsorgane, die erforder­ lichen Bestimmungen zu erlassen, um diese Unterschiede auszuräumen.“904 (Hervorhebung durch Verf.)

Der EuGH setzt damit die Kompetenz der Union zum Erlass entsprechender Bestimmungen zur Vollzugsvereinheitlichung voraus; er problematisiert die Kom­ petenzfrage nicht einmal, sondern denkt vielmehr von den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts her, das intensivere Regelungen der Koordinierung verlangen kann. Später hat der EuGH ausdrücklich klargestellt, dass dies nicht nur für Einzelmaßnahmen gegenüber den Mitgliedstaaten, sondern auch für bürgergerichtete Entscheidungen, also für „echte“ Vollzugsentscheidungen, gelte.905 Zuletzt fungierte die Generalklausel des Art. 308 EGV als „exekutives Kompetenzreservoir“ der Gemeinschaft.906 Die offene Ermächtigung zum Erlass der „geeigneten Vorschriften“ umfasste den Erlass von Einzelakten.907 901

s. auch Hofmann, Normenhierarchien, S. 216: Einzelfallweisungsrechte nur als „ultima ratio“. 902 Sydow, VerwArch 97 (2006), 1 (13). 903 EuGH, Rs. C-359/92, Slg. 1994, I-3681 (Deutschland/Rat) Rn. 38, s. dazu Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1389 ff. und 1394 ff.). 904 EuGH, verb. Rs. 205–125/82 (Deutsche Milchkontor), Slg. 1983, 2633 Rn. 24. 905 EuGH, Rs. C-66/04 (Raucharomen), Slg. 2005, I-10553. 906 Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1396). 907 Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1396).

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Teilweise waren die begrenzten Einzelermächtigungen des Vertrags allerdings enger formuliert. Sie konnten die Organe insbesondere mit Blick auf die zulässige Handlungsform stärker determinieren. Beispielsweise gab es vereinzelt Ermächtigungsgrundlagen, welche die Union nur zum Erlass von Verordnungen oder Richtlinien, d. h. zu Regelungen mit allgemeiner Geltung (s. Art. 249 Abs. 2 EGV) bzw. bloßen Rahmenregelungen ermächtigten.908 Fraglich war damit, ob eine solche, auf eine bestimmte Handlungsform begrenzte Ermächtigungsgrundlage zugleich die Verbandskompetenz der Union auf den Erlass von allgemein-generellen Regelungen beschränkte und damit jedenfalls eine „Hochzonung“ des Vollzugs auf die Gemeinschaftsebene ausschloss. Für die Richtlinie dürfte in der Tat gelten, dass durch sie „echte“ unmittelbare Vollzugskompetenzen der Kommission oder europäische Ämter oder Agenturen – d. h. die Befugnis, unmittelbar gegenüber dem Einzelnen zu handeln – nicht begründet werden können909: Dies folgt aus dem Kreis der Adressaten, auf die eine Richtlinie ihrer Natur nach beschränkt ist: Sie richtet sich allein an die Mitgliedstaaten. Für eine Ermächtigung der Kommission, bürgergerichtete Einzelentscheidungen zu erlassen, steht sie deshalb nicht zur Verfügung.910 Dementsprechend schließt eine Ermächtigung, die der Union ausschließlich den Erlass von Richtlinien gestattet, die sekundärrechtliche Begründung von „echten“, d. h. bürger­ gerichteten, unionalen Vollzugskompetenzen aus.911 Für eine auf den Erlass einer Verordnung begrenzte Einzelermächtigung ist indes die Tauglichkeit zur Begrenzung von Vollzugsbefugnissen der Gemeinschaft nicht von vornherein von der Hand zu weisen. Das Merkmal der „allgemeinen Geltung“ einer Verordnung kann eine solche, die Verbandskompetenz begrenzende Wirkung jedenfalls nicht entfalten, sofern es um den Erlass von normativen Verwaltungsmaßnahmen geht, also Regelungen zum Verwaltungsverfahren oder zur -organisation. Diese waren auf Grundlage der primärrechtlichen Regelungen nicht ausgeschlossen, konnten diese doch ohne weiteres in Form einer Verordnung ergehen. 908 Verordnungsvorbehalte enthalten etwa: Art. 89 EGV und Art. 39 Abs. 3 EGV; den Erlass von Richtlinien verlangen Art. 44–47, Art. 55 EGV; andere Rechtsgrundlagen überlassen den Organen die Wahl zwischen Richtlinie und Verordnung, so etwa Art. 87 EGV. 909 So für Agenturen: Görisch, Demokratische Verwaltung durch Unionsagenturen, S. 239 f. 910 EuGH, Rs. C-192/94 (El Corte Ingles), Slg. 1996, 1281 Rn. 17; s. auch Sydow, Verwaltungskooperation, S. 37, mit dem Hinweis darauf, dass dennoch bisweilen einzelnen Kompetenzen, die innerhalb mitgliedstaatlicher Verwaltungsverfahren europäischen Behörden übertragen sind, Richtlinien als Rechtsgrundlage dienten. 911 Das hat aber eher rechtsstaatliche als kompetentielle Gründe. Die Rechtsmacht zur Pflichtenbegründung fehlt gegenüber Privaten. Nicht ausgeschlossen ist hingegen, Durchführungsmaßnahmen vorzusehen, die wiederum an die Mitgliedstaaten zu richten sind, s. etwa das Verfahren bei der Verkehrsgenehmigung für gentechnisch veränderte Organismen nach der Freisetzungsrichtlinie von 2001, Richtlinie (EG) Nr.  2001/18. Dort wirkt die Kommission zwar mit, die Endentscheidung gegenüber dem Bürger trifft aber die nationale Behörde, s. Art. 18 Abs. 2 der RL.

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Darüber hinaus dürfte aber selbst in denjenigen Fällen, in denen der Vertrag ausdrücklich ein Handeln nur per Verordnung vorsah, sogar die Hochzonung des Vollzugs, also die Verlagerung von Einzelfallentscheidungskompetenzen auf die Union, zulässig gewesen sein, ohne die Verbandskompetenz der Union zu sprengen. Dazu ist zunächst zu bemerken, dass das Gemeinschaftsrecht das Merkmal „allgemeine“ Geltung, wie es für die Verordnung konstitutiv ist, anders versteht als etwa das deutsche Recht. Nach dem EuGH hat eine Regelung bereits dann „allgemeine Geltung“, wenn sie an unbestimmte (wenn auch bestimmbare) Adressaten gerichtet ist.912 Hingegen steht der Annahme einer Regelung von allgemeiner Geltung nicht entgegen, dass ihr sachlicher Gegenstand genau umrissen ist. So hielt der EuGH etwa das Verbot, bestimmten, des Terrorismus verdächtigen Personen Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen, also deren Vermögen einzufrieren, für einen tauglichen Gegenstand einer Verordnung.913 Nur der Gegenstand der Verordnung – das Vermögen der des Terrorismus verdächtigen Personen – sei bestimmt; hingegen richte sich die Verordnung potentiell an jeden. Unabhängig von diesem tendenziell großzügigen Verständnis des Merkmals der „allgemeinen Geltung“ ist nicht gesagt, dass eine auf den Erlass von Verordnungen begrenzte Ermächtigungsgrundlage Vollzugskompetenzen der Gemeinschaft, also den Erlass von Einzelentscheidungen, von vornherein ausgeschlossen hätte. Besagt doch die auf den Erlass einer Verordnung beschränkte Ermächtigung erst einmal nur etwas über die Handlungsform, derer sich das ermächtigte Organ im ersten Zugriff zu bedienen hat.914 Und in der Tat scheidet die Verordnung aufgrund ihrer notwendig „allgemeinen Geltung“ als unmittelbares Instrument für echte Einzelfallentscheidungen aus.915 Die verschiedenen Handlungsformen können aber nur bedingt zugleich als Ausdruck verschiedener Arten von Kompetenzen verstanden werden. Die Zuweisung der konkreten gemeinschaftlichen Gestaltungsmacht erfolgt stets separat vom Katalog der Handlungsformen.916 Besonders gut illustrieren lässt sich dies am Beispiel der Entscheidung. Diese kann sowohl an einen Privaten als auch an einen Mitgliedstaat gerichtet sein.917 Je nach dem Adressaten 912

EuGH, verb. Rs. C-402/05P u. C-415/05P (Yassin Abdullah Kadi und Al Barakaat International Foundation), Slg. 2008, I-6351 Rn. 241 ff. in Bestätigung des EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 Rn. 184 ff. 913 EuGH, verb. Rs. C-402/05P u. C-415/05P (Yassin Abdullah Kadi und Al Barakaat International Foundation), Slg. 2008, I-6351 Rn. 241 ff. in Bestätigung des EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 Rn. 184 ff. 914 Allerdings: Die gewählte Handlungsform, mit der eine übertragene Kompetenz von der Union ausgeübt wird, ist entscheidend für die Regelungstiefe einer Regelung, und damit für die Intensität, mit der eine unionale Regelung auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen einwirkt. Im Rahmen der Prüfung von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit kann die gewählte Handlungsform daher durchaus eine Rolle spielen, s. Becker, in Jopp/Matl, Der Vertrag über eine Verfassung für Europa, S. 187 (195); Stelzer, in: Tsatsos, Die Unionsgrundordnung, S. 385 (397). 915 Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 66. 916 Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (662). 917 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 249 Rn. 124.

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unterscheidet sich aber die Wirkung der Entscheidung: Im ersteren Fall einem Verwaltungsakt ähnlich, entfaltet sie im letzteren gegenüber einem Mitgliedstaat aufgrund der erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen eher quasilegislative Wirkungen und ähnelt insoweit einer Richtlinie.918 Deshalb ist es schwierig, von der zulässigen Handlungsform der Gemeinschaft auf die Grenzen der Verbandskompetenz der Union zu schließen. Insofern ist das Argument, eine auf den Erlass von Verordnungen beschränkte Ermächtigung beschränke die Union zugleich kompetentiell auf Rechtsakte mit allgemeiner Geltung, jedenfalls nicht zwingend. Auch im Übrigen ist dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nicht ohne weiteres zu entnehmen, dass „konkret-individuelle“ Rechtsakte auf Grundlage einer auf den Erlass von Verordnungen beschränkten Ermächtigungsgrundlage stets ausgeschlossen sind. Der Grundsatz verlangt nämlich nur, dass sich jedwede unionale Tätigkeit auf eine primärrechtliche Ermächtigungsgrundlage zurückführen lassen muss.919 Die Rechtsgrundlage muss hingegen nicht unmittelbar aus einer Vertragsnorm folgen. Vielmehr kann als unmittelbare Rechtsgrundlage eine Norm des Sekundärrechts fungieren, die sich ihrerseits auf eine Vertragsnorm stützen kann.920 Ein solcher zumindest mittelbarer Zusammenhang besteht aber auch dann noch, wenn die Union auf Grundlage der primärrechtlich ausdrücklich auf Verordnungen beschränkten Ermächtigung – in einer Verordnung – vorsieht, dass beispielsweise die Kommission diese Vorschriften durchführt und hierfür Vollzugskompetenzen erhält. Angesprochen ist damit das Konzept abgeleiteter Ermächtigungsgrundlagen. Gegen eine solche abgeleitete Ermächtigung zum Erlass von Vollzugsmaßnahmen kann nicht eingewandt werden, das Sekundärrecht könne nicht selbst Kompetenzen begründen.921 Denn das setzt voraus, was erst noch zu beweisen ist: Eine Kompetenzbegründung wäre ja nur dann gegeben, wenn es für Verwaltungs- und Vollzugsmaßnahmen grundsätzlich einer anderen Ermächtigung als für legislative oder normative Rechtserzeugung bedürfte. Dafür gibt es an­ gesichts der Indifferenz der Verträge gegenüber der Unterscheidung von Verwaltungs- und Rechtsetzungskompetenzen sowie von abstrakt-generellen und Einzelakten keine Anhaltspunkte. Zuletzt bot Art. 202, 3. Spiegelstrich selbst argumentatives Material, um Einzelfallkompetenzen der Union selbst dann nicht kategorisch auszuschließen, wenn sie primärrechtlich auf den Erlass von Verordnungen beschränkt ist. Art.  202, 3.  Spiegelstrich EGV erlaubte den Erlass von Regelungen auf Grundlage se­ kundärrechtlicher Ermächtigungen und stellte damit eine speziell geregelte Form 918 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 3. Aufl. 2007, Art. 249 Rn. 124; s. zum „über­ lappenden Funktionsmodus“ der Entscheidung von Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 62 (1999), 77 (98). 919 Vgl. auch Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 75, der schlicht feststellt, dass die sich die nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erforderliche Rechtsgrundlage nur selten unmittelbar im Vertrag, sondern zumeist im Sekundärrecht findet. 920 von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441 (443). 921 Dazu Jarass, AöR 121 (1996), 173 (174).

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abgeleiteter Rechtsetzung dar. Während das Primärrecht für den Erlass des Basisrechtsakt besondere Anforderungen an das Erlassverfahren stellte, z. B. dem Parlament die Rolle eines gleichberechtigten Gesetzgebers einräumte, wirkten diese primärrechtlichen Beschränkungen beim Erlass der abgeleiteten Durchführungsvorschriften nicht fort, d. h. die Kommission konnte beispielsweise ohne die Mitwirkung des Parlaments Durchführungsregeln erlassen.922 Dieses Modell lässt sich auf die Frage der Handlungsform übertragen: Das Primärrecht erlaubte zwar nur den Erlass einer Regelung mit allgemeiner Geltung; dies schloss es aber nicht aus, dass der Rat die Kommission ermächtigen durfte – unbeschadet der primärrechtlichen Beschränkung  – „als Durchführungsregelung“ eine Einzelfallregelung zu erlassen.923 Dafür sprechen nicht zuletzt die Ausführungen des EuGH in der Rs. 16/88, in der er feststellte, dass der Begriff der „Durchführung“ sowohl den Erlass von Durchführungsregeln als auch die Durchführung des Sekundärrechts in Einzelfällen erfasse.924 Eine Einschränkung, nach der die Kommission Sekundärrecht nicht in Einzelfällen „durchführen“ dürfe, wenn der Rat nur zum Erlass einer Verordnung ermächtigt war, formulierte der EuGH in diesem Zusammenhang nicht. Damit dürfte es möglich gewesen sein, dass die Kommission einen zwingend als Verordnung ergehenden Rechtsakt des Rates in Form einer Einzelfallentscheidung durchführen, d. h. „implementieren“ durfte. Unabhängig von der Antwort auf diese letzte, in Rechtsprechung und Literatur wenig behandelte Frage925, lässt sich aber als Ergebnis festhalten: Der Vertrag differenzierte nicht zwischen Rechtsetzungs-, Verwaltungs- und Vollzugskompetenzen. Anknüpfungspunkt für die Zuständigkeit der Union war in der Regel ein bestimmter Sachbereich oder eine Zielvorgabe. Zur Ausfüllung des Sachbereichs bzw. zur Verwirklichung der Zielvorgabe konnte die Union auch Verwaltungs­ maßnahmen erlassen, also Verfahrensregeln aufstellen oder sogar selbst das Recht in Einzelfällen vollziehen.926 Allenfalls in den seltenen Fällen, in denen der Gemeinschaft eine bestimmte Handlungsform (etwa eine Richtlinie) vorgeschrieben war, kam eine entsprechende Begrenzung der Verbandskompetenz in Betracht.

922

Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 6. Zu Beispielen, in denen die Kommission Einzelmaßnahmen in Form von Durchführungsmaßnahmen erlässt, s. Riedel, EuR 2006, 512 (530 ff.); zu nennen hier an prominenter Stelle die Produktzulassungen, welche die Kommission im Komitologieverfahren erteilt. 924 EuGH, Rs. 16/88. Slg. 1989, I-3457 (Kommission/Rat) Rn. 11. 925 Dazu Görisch, Demokratischer Verwaltung durch Unionsagenturen, S. 255 (knapp) zur ähnlich gelagerten Frage, inwiefern sich aus einer Ermächtigungsnorm, die sich auf die Handlungsform der Verordnung bezieht, Einschränkungen für das Handeln der Agenturen ergeben. 926 Sydow, Verwaltungskooperation, S. 219; ders. VerwArch 97 (2006), 1 (11); in diese Richtung auch Möllers, EuR 2002, 483 (498); dies zumindest bejahend für die Kompetenznormen der Art. 95 und 308 EGV Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1425). 923

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(2) Keine Zuweisung der Verwaltungskompetenz zu den Mitgliedstaaten Die Erkenntnis, dass dem Europarecht die Unterscheidung zwischen Verwaltungs- und Rechtsetzungskompetenzen nicht so geläufig war wie dem Grund­ gesetz, könnte bereits für sich allein geeignet sein, die Möglichkeit auszuschließen, dass die Verträge den Mitgliedstaaten „Verwaltungsautonomie“ gewährten. Hinzu kommt, dass sich die Verträge der Kompetenzverteilung bisher de­zidiert aus einer eindimensionalen Perspektive näherten.927 Sie beschränkten sich also darauf, der Union bestimmte Kompetenzen zuzuweisen, verzichteten aber auf eine explizite Zuordnung von Kompetenzen zu den Mitgliedstaaten.928 Diese fehlende Bipolarität des Systems der Zuständigkeiten wirkte sich schon für das materielle Gemeinschaftsrecht aus: Unbeschadet des Rechts der begrenzten Einzelermächtigung konnte eine gemeinschaftsrechtliche Regelung einer Materie, zu der die Union explizit ermächtigt war, in Bereiche übergreifen, für die es der Union an einer Ermächtigung fehlte.929 Eine negative Kompetenzzuweisung, die bestimmte Sachbereiche vor dem unionalen Zugriff gleichsam gegenständlich schützte, gab es nicht.930 Auch für Verwaltungsmaßnahmen ließ sich den Verträgen eine (negative) Kompetenzzuweisung nicht entnehmen.931 Das geflügelte Wort vom „Grundsatz des indirekten Vollzugs“, nach dem die Zuständigkeit für den Vollzug des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich bei den Mitgliedstaaten liegen sollte, half insoweit nicht weiter. Abgeleitet wurde es aus Art. 10 EGV. Diese Vorschrift formulierte indes nur mitgliedstaatliche Pflichten. Der Schluss von einer Pflicht auf ein entsprechendes Recht ist auch an dieser Stelle unzulässig.932 Der Grundsatz des indirekten Vollzugs basierte primär auf dem fehlenden eigenen Vollzugsapparat der Gemeinschaft, die auf die mitgliedstaatlichen Verwaltungen angewiesen waren und sie deshalb in die Pflicht nahmen. Im Übrigen konnte die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit der Verwaltungstätigkeit der Union Grenzen setzen. Insgesamt war es aber – mangels vertraglich angelegter Unterscheidung von Verwaltungs- und Rechtsetzungsmaßnahmen – nicht möglich, die Verbandskompetenz der Union auf Maßnahmen der materiell programmierenden Rechtsetzung zu begrenzen und Verwaltungsmaßnahmen dem Zugriff der Gemeinschaft schon prinzipiell zu entziehen. Ebenso wenig konnte es gelingen, wenigstens den Vollzug

927 Vgl. dazu von Bogdandy/Bast, EuGRZ 441 (446); a. A. von Danwitz, DVBl 1998, 421 (431). 928 von Bogdandy/Bast, EuGRZ 441 (446). 929 s. dazu mit Beispiel und Nachweisen zur Rechtsprechung von Bogdandy/Bast, EuGRZ 441 (446). 930 Schutz gewährte eben nur das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip. 931 A. A. von Danwitz, DVBl 1998, 421 (429 ff.). 932 Vgl. auch Schroeder, AöR 129 (2004), 9 (14).

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als einen Teilbereich der Verwaltungsmaßnahmen im Sinne eines eigenen Kompetenzbereichs den Mitgliedstaaten zuzuordnen.933 Wenn aber das Vertragsrecht nicht grundsätzlich zwischen bestimmten Kompetenzarten – Rechtsetzung auf der einen, Verwaltung auf der anderen – unterschied und es „Verwaltungsmaßnahmen“ zudem nicht präskriptiv den Mitgliedstaaten zuwies, konnte nicht verlangt werden, dass die Union für „administrative“ Kompetenzen auf eine „andere“ begrenzte Einzelermächtigung zurückgreifen musste als für die Ausübung ihrer legislativen Befugnisse.934 Ebenso wenig konnte verlangt werden, dass die Gemeinschaft sich bestimmter Formen der Rechtserzeugung grundsätzlich enthielt. Vielmehr gaben die begrenzten Einzelermächtigungen der Union die Befugnis zur Rechtserzeugung, gleich ob legislativer oder exekutiver Art,935 bezogen sich also sowohl auf den Erlass von Rechtsakten als auch auf Regelungen zu ihrer „Durchführung“, d. h. in der hier gebrauchten Terminologie auf Verwaltungsmaßnahmen.936 Gerade weil die primärrechtlichen Ermächtigungen weitgehend zur Frage des Vollzugs schwiegen, schlossen sie gerade nicht kategorisch aus, dass die Gemeinschaftsorgane durch das Sekundärrecht selbst Vollzugskompetenzen begründeten.937 Der europäische Gesetzgeber konnte die Verwaltungskompetenzen dynamisch selbst verteilen.938.

933 Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn.  109; Schöndorf-Haubold, in: Schmidt-Aßmann, Schöndorf-Haubold, Der Europäische Verwaltungsverbund, S. 25 (47), s. auch die ausführliche Darstellung von Fällen, in denen Sekundärrecht die Kommission mit der Befugnis zu Einzelfallentscheidungen ausstattet bei Schlacke, in: Adenas/Türk, Delegated Legislation, S. 303 (311 ff.), wobei sie Zweifel äußert, ob diese Verlagerung von Einzelfallentscheidungen auf die EU, durch die die Mitgliedstaaten einen „wesentlichen Teil ihrer exekutiven Zuständigkeit verlieren“, tatsächlich durch die herangezogenen Ermächtigungsgrundlagen „hinreichend legitimiert“ ist (S.  326 f.). Dazu auch Sydow, Verwaltungskooperation, S.  217, Fn. 6, der zwar zugesteht, dass die bisherige Praxis der Verlagerung von Vollzugskompetenzen auf die Union kein hinreichendes Argument für ihre Rechtmäßigkeit ist; dass es aber erheblicher Gründe bedürfte, um „in einer Situation wie der vorliegenden, in der Wortlaut und Systematik jedenfalls nicht zu einer engen Verwaltungskompetenzen ausschließenden Auslegung von Kompetenztiteln zwingen, […], um eine umfangreiche, langjährige und von den zuständigen Organen unbeanstandete Praxis für primärrechtswidrig zu erklären.“ 934 Möllers, EuR 2002, 483 (498). 935 So auch Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 1 Rn. 18, die (konsequent) beim Begriff der Rechtsetzung bleibt und darunter die gesamte Palette von „abstrakt-generellen“ Regelungen bis hin zu „konkret-individuellen“ Rechtsakten fasst; vgl. auch Frenz, DÖV 2010, 66 (68): Funktionsbezogenheit der EU; soweit erforderlich, um den materiellen Inhalten des Gemeinschaftsrechts zum Durchbruch zu verhelfen, hat die Gemeinschaft Verwaltungs­ kompetenzen. 936 Schroeder, AöR 129 (2004), 9 (13). 937 Schroeder, AöR 129 (2004), 9 (12 f.); vgl. auch Ohler, EuZW 2006, 369 (374). 938 Röhl, Akkreditierung, S. 36.

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bb) Unklare Grenzen der Subsidiarität und die Grenzen der Verhältnismäßigkeit Das Primärrecht begrenzte somit die Verwaltungskompetenzen der Gemeinschaft nicht schon grundsätzlich. Dem unionalen Gesetzgeber stand es im Gegenteil prinzipiell frei, Verwaltungsmaßnahmen zu ergreifen, d. h. durch abgeleitetes Recht das Verfahren zu regeln und sogar Vollzugsbefugnisse der Gemeinschaft (bei der Kommission oder bei Agenturen) zu begründen. Einen gleichsam gegenständlich bestimmten geschützten Bereich der Verfahrensautonomie konnten die Mitgliedstaaten europäischen Verwaltungsmaßnahmen nicht entgegensetzen. Diese Erkenntnis bedeutet indes nicht unbedingt, dass die Mitgliedstaaten Übergriffen des Gemeinschaftsrecht völlig schutzlos gegenüberstanden: Könnten doch die Kompetenzausübungsregeln der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit den Mitgliedstaaten Schutz vor unionalen Zugriffen auf ihre Verwaltungsrecht bzw. ihre Vollzugskompetenzen bieten. Allerdings waren die Grenzen und Maßstäbe, die den unionalen Verwaltungsmaßnahmen gesetzt waren, nicht recht klar. Die beiden Prinzipien wurden insbesondere mit Blick auf den Vollzug des Gemeinschaftsrechts noch nicht völlig ausgelotet.939 Vielfach wurde schlicht auf das Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit verwiesen und formuliert, das Subsidiaritätsprinzip gebiete, dass das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich von den Mitgliedstaaten vollzogen werde.940 Doch was bedeutet dieser Grundsatz? Bedeutet er, dass das Subsidiaritätsprinzip einen Bereich des „Vollzugs“ grundsätzlich den Mitgliedstaaten zuweist und die Organe durch Sekundärrecht grundsätzlich keine Vollzugskompetenzen der Gemeinschaft begründen dürfen? Dem Wortlaut des Subsidiaritätsprinzips in Art. 5 EGV ließ sich eine solche grundsätzliche Beschränkung unionaler Vollzugskompetenzen ebenso wenig entnehmen wie dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Hieß es in Art.  5 EGV doch nur, dass die Union nur „tätig“ werde, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ In welcher Art und Weise die Union tätig wird, ob also nur materiell oder auch formell programmierend oder gar vollziehend, war nicht präzisiert. Die fehlende Unterscheidung zwischen Rechtsetzungs- und Verwaltungskompetenzen setzte sich beim Subsidiaritätsprinzip also fort. Das Subsidiaritätsprinzip bot seinem Wortlaut nach folglich keinen grundsätzlich anderen, insbesondere keinen grundsätzlich stärkeren Schutz gegenüber unionalen Verwaltungsmaßnahmen als gegenüber anderen Formen der

939

Möllers, EuR 2002, 483 (501); Röhl, Akkreditierung, S. 35 m. Fn. 65; vgl. auch zu den fehlenden Maßstäben, die das Grundgesetz der Begründung von gemeinschaftlichen Verwaltungskompetenzen setzt, ebd., S. 33. 940 So etwa kürzlich Schmitt-Kötters/Held, NVwZ 2009, 1390 (1393).

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Kompetenzausübung durch die Gemeinschaft: Es war funktionen- und damit auch vollzugsblind.941 Das Subsidiaritätsprinzip stand somit nicht schon grundsätzlich der Schaffung von unionalen Vollzugskompetenzen entgegen, sondern seine Bedenken richteten sich allgemein auf die Intensität des Tätigwerdens der Union in einem bestimmten Bereich.942 Es war allein Sache des Gemeinschaftsgesetzgebers, die Verwaltungskompetenzen zu verteilen, der sich hierbei – wie bei jeder Form der Kompetenzausübung  – an die Vorgaben des Primärrechts, und damit an das Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip zu halten hat.943 Nimmt man die herrschende Ansicht zum Anwendungsfeld des Subsidiaritätsprinzips ernst und beschränkt seine Wirkung nur auf die Frage des „Ob“ des unionalen Tätigwerdens944, wurde der Rechtsanwender mit einer weiteren Unsicherheit konfrontiert. Anerkannte man, dass sich die begrenzte Einzelermächtigung grundsätzlich gleichermaßen auf materielle Regelungen wie auf diese begleitende Verfahrensregeln wie auf die Anwendung dieser Regelungen im Einzelfall beziehen konnten, könnte man auf die Idee verfallen, dass die Frage, „ob“ die begrenzte Einzelermächtigung in Anspruch genommen wurde, bereits mit der materiellen Regelung durch die Gemeinschaft entschieden war.945 Ob die Gemeinschaft auf dieser Grundlage dann noch Verwaltungsregeln vorsah oder gar Anwendungsbefugnisse für den Einzelfall, könnte dann nur noch als „Wie“ der Kompetenzausübung verstanden werden. Grenzen der Verwaltungstätigkeit der Union hätte dann insoweit nicht mehr das Subsidiaritätsprinzip, sondern nur noch das Verhältnismäßigkeitsprinzip ziehen können.946 Im Bereich ausschließlicher Zuständigkeiten war es auf Grundlage der alten Verträge dogmatisch besonders schwierig, die begrenzende Wirkung des Subsidi 941

Möllers, EuR 2002, 483 (501). Görisch, Demokratischer Vollzug durch Unionsagenturen, S. 249 f.; vgl. auch Lenaerts/ Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (655): „Whereas subsidiarity requires Community rules to be implemented as far as possible in a decentralised manner – close to the citizen –, it does not detract from the fact that the power of implementation is vested in principle in the Commission.“ A. A. wohl Wittinger, EuR 2008, 609 (612) mit der Formulierung, es dürften nur „punktuelle Durchbrechungen der vorgesehenen administrativen Aufgabenverteilung zwischen Gemeinschaft und Staaten“ erfolgen. 943 Röhl, Akkreditierung, S. 35 f. 944 So Calliess, Subsidiaritätsprinzip, S. 76. 945 Gerade wegen dieser Unklarheit gegenüber der vereinfachenden „Ob“-Formel kritisch Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 55. Sie plädieren daher dafür, dass sich das Subsidiaritätsprinzip auf jeden Regelungsbestandteil einzeln und neu bezieht: So könne sich eine materiell-rechtliche Harmonisierung als geboten erweisen, ohne dass damit schon belegt sei, dass die Harmonisierung von Verfahrensregeln ebenso an­ gezeigt wäre. 946 So wohl Möllers, EuR 2002, 483 (501); a. A. Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1411), der wohl auch für die alte Rechtslage vertrat, dass das Subsidiaritätsprinzip jeweils unabhängig auf das legislative und das exekutive Handeln der Gemeinschaft Anwendung finden müsse. “ [S]erious blow to the idea of an independent judicial review of executive subsidiarity“, Schütze, a. a. O., 1385 (1415). 942

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

aritätsprinzips für Verwaltungsmaßnahmen sicher fruchtbar zu machen.947 Im Bereich ausschließlicher Zuständigkeit findet das Subsidiaritätsprinzip keine Anwendung.948 Begreift man, wie auf Grundlage der alten Verträge wohl erforderlich, die Zuständigkeit zur Rechtsetzung und zur Regelung von Verwaltung bzw. Vollzug als ein und dieselbe Kompetenzkategorie, so teilte die Verwaltungszuständigkeit, die die Union auf der Grundlage einer ausschließlichen primärrechtlichen Sachkompetenz ausübt, den Charakter der Ausschließlichkeit. Das Subsidiaritätsprinzip wäre nach dieser Deutung dann bezüglich der sekundärrechtlichen Anordnung der Verwaltungstätigkeit und selbst der Vergemeinschaftung des Vollzugs überhaupt nicht einschlägig gewesen.949 Die Rechtsprechung des EuGH und des EuG setzte sich schon insgesamt nur sehr wenig und sehr zurückhaltend mit dem Subsidiaritätsprinzip auseinander950; sie gibt nur wenig Handreichung für die Anwendbarkeit und die Wirkungen des Subsidiaritätsprinzips auf Verwaltungs- und Vollzugsmaßnahmen.951 Lediglich

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Vgl. die Ausführungen bei Klepper, Vollzugskompetenzen, S. 92 f. Verkehrte Welt scheint zu herrschen, wenn sich das EuG in jüngerer Zeit der Überprüfung einer Maßnahme der Kommission am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips verweigerte mit der Begründung, die  – sekundärrechtlich!  – begründete Vollzugskompetenz der Kommission sei ausschließlicher Natur, so dass das Subsidiaritätsprinzip von vorneherein keine Anwendung finden könne, EuG, Rs. T-420/05 (Vischim Srl/Kommission), Slg. 2009, II-3841 Rn. 223; ähnlich wohl in EuG, Rs. T-344/07 (Denka International/Kommission), Slg. 2009, II-4250. Zu recht krit. Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art.  5 EUV Rn.  53. Richtigerweise müsste schon der Basisrechtsakt, der die (ausschließlichen) Befugnisse der Kommission begründet, – ggfs. im Wege der Inzidentprüfung – auf seine Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip überprüft werden. s. auch Calliess, Subsidiaritätsprinzip, S. 103, der den Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzip generell auf Legislativmaßnahmen begrenzen möchte. Dann wäre nur die Entscheidung, gemeinschaftseigene (ausschließliche) Vollzugskompetenzen durch Sekundärrecht zu begründen, am Subsidiaritätsprinzip zu messen, nicht aber die Ausübung dieser Vollzugsbefugnisse. 948 Art. 5 Abs. 2 EGV; ebenso nach dem Lissabon-Vertrag: Art. 5 Abs. 3 AEUV. 949 Ähnlich zu denken scheint das EuG, Rs. T-420/05 (Vischim Srl/Kommission), Slg. 2009, II-3841 Rn. 223; krit. dazu (jedenfalls nach neuer Rechtslage) Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 53. Das Ergebnis lässt sich unter einem teleologischen Gesichtspunkt freilich nur schwer rechtfertigen: Denn auch im Bereich ausschließlicher Zuständigkeit kann es sein, dass zwar eine gemeinschaftsrechtliche materielle Programmierung zur Zielerreichung erforderlich und eben zwingend ist; dies besagt indes noch nichts darüber, ob auch der Vollzug der Maßnahme bzw. die Verwaltungsregeln gemeinschaftliche sein müssen. Dass auch im Bereich ausschließlicher Kompetenzen das Subsidiaritätsprinzips Anwendung finden muss, finden deshalb Klepper, Vollzugskompetenzen, S. 92 f. und Schreiber, Verwaltungskompetenzen, S. 59. 950 Zur relativen Stumpfheit der Waffe der Subsidiarität Wuermeling, EuR 2004, 216 (217); Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 49; Wittinger, EuR 2008, 609 (616).. 951 Ritzer/Rutloff, EuR 2006, 116 (126); Nach der Berechnung von Albin, NVwZ 2006, 629 (632) hat sich der EuGH bis zum Jahr 2006 nur etwa in einem halben Dutzend Fällen intensiver mit dem Subsidiaritätsprinzip auseinandergesetzt. Dabei hat der EuGH keinen einzigen Rechtsakt wegen Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip aufgehoben.

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das kompetenzbezogene Verhältnismäßigkeitsprinzip fand also sicher auf die Anordnung von Verwaltungsmaßnahmen Anwendung und konnte diesen Grenzen ziehen.952 b) Ergebnis Klare Maßstäbe zur Zulässigkeit sekundärrechtlicher Verwaltungsmaßnahmen fehlten weitgehend. Den Verträgen ließ sich kein abgegrenzter Bereich mitgliedstaatlicher Zuständigkeit entnehmen: Die begrenzten Einzelermächtigungen waren in der Regel sehr weit gefasst. Der unionale Gesetzgeber konnte auf diesen Grundlagen Verwaltungsmaßnahmen ergreifen.953 Das Erfordernis einer begrenzten Einzelermächtigung taugte daher nicht als grundsätzliche Grenze für unionale Verwaltungsmaßnahmen; ein „doppeltes Kompetenznormerfordernis“ ließ sich den Verträgen nicht entnehmen. Die Wahrnehmung von Verwaltungskompetenzen durch die Gemeinschaft war kein Eingriff in einen „eigentlich“ den Mitgliedstaaten zustehenden Bereich. Sie wurde allenfalls durch die allgemeinen Kompetenz­ ausübungsschranken begrenzt.954. Dabei lieferte gerade das Subsidiaritätsprinzip keine sicheren Maßstäbe für die Zulässigkeit gemeinschaftlicher Verwaltungsmaßnahmen. Auf die eingangs aufgeworfene Frage nach dem präskriptiven oder rein deskriptiven Gehalt des Grundsatz des indirekten Vollzugs kann wie folgt ge­ antwortet werden: Der Vollzug bzw. die „Durchführung“ (i. w. S.) des Gemeinschaftsrechts waren rein tatsächlich hauptsächlich Sache der Mitgliedstaaten; präskriptive Bedeutung ließ sich dem Grundsatz indes nicht entnehmen.955 Es galt: „Die Union ist eine Rechtsetzungsgemeinschaft, aber nicht aufgrund einer beschränkten Verbandskompetenz, sondern aufgrund politischer Entscheidung und der Anwendung des Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.“956

952 s. Möllers, EuR 2002, 483 (501). Zu einer möglichen Systematisierung, s. unten unter § 4 C. III. 1.  953 Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 3 Rn. 7 mit der Kritik, dass dies zu einer weit­ gehenden Zerfaserung und Sektoralisierung des Verwaltungsvollzugs geführt habe. 954 Röhl, Akkreditierung, S.  36: „Es geht nicht um die Einhegung einer Abweichung von einer vorgegebenen Kompetenzordnung, sondern um Maßstäbe für die Errichtung einer europäischen Verwaltungsstruktur.“ 955 Möllers, EuR 2002, 483 (499 f.); Scheuing, DV 34 (2001), 107 (110); Härtel, Handbuch der Rechtsetzung, § 11 Rn.  137; Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn.  109; wohl auch von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441 (446); Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (647); Röhl, Akkreditierung, S. 36. 956 von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441 (446); sehr deutlich auch Röhl, Akkreditierung, S. 36: „Es mag im EGV eine Priorität für die vorhandenen mitgliedstaatlichen Verwaltungsstrukturen geben, exklusiv vorgeschrieben ist deren Verwendung oder die der EG-Eigenverwaltung nicht.“

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3. Änderungen durch den Lissabon-Vertrag Hat der Vertrag von Lissabon diese Situation verändert? Die Neuerungen knüpfen an die dogmatischen Grundlagen der bisherigen Kompetenzverteilung an. Dabei scheint957 der Vertrag von Lissabon an den Stellschrauben gedreht zu haben, die bisher dagegen sprachen, dass den Mitgliedstaaten ein eigener Bereich der Durchführung oder des Vollzugs zugewiesen war, in dem sie in einem präskriptiven Sinne „grundsätzlich zuständig“ waren: Zum einen unterscheidet der AEUV nun grundsätzlich zwischen Rechtsetzungsund Verwaltungskompetenzen958; letztere fasst er in Art. 291 AEUV allgemein unter den Begriff der „Durchführung“. Ausdrücklich weist er in Art. 2 Abs. 1 AEUV der Union nur die Befugnis zum „gesetzgeberischen“ Tätigwerden und zum Erlass von verbindlichen Rechtsakten zu und konzipiert damit die Union ausdrücklich als Rechtsetzungsgemeinschaft. Zum anderen verknüpft der Vertrag von Lissabon die zwei zu unterscheidenden Kompetenzkategorien der „Rechtsetzung“ und „Durchführung“ mit der Verbandskompetenz. Aus Art. 2 Abs. 1 AEUV geht hervor, dass die Durchführung abweichend von der bisherigen Regelung959 den Mitgliedstaaten obliegt. Damit verwirklicht der Vertrag von Lissabon ansatzweise eine bipolare Kompetenzzuweisung960: Er schreibt nicht nur fest, dass Rechtsetzung Sache der Union ist, sondern verankert positiv auch die Zuständigkeit für die Durchführung bei den Mitgliedstaaten.961 Dazu gehört die Anordnung, dass die Durchführung „nach mitgliedstaatlichem Recht“ erfolgt (Art. 291 Abs. 1 a. E.). Dass es sich bei der Durchführung um ein Recht und nicht nur wie bisher um eine Pflicht der Mitgliedstaaten handelt, zementieren schließlich die Regelungen des Art. 291 Abs. 1 und 2 AEUV, die den Grundsatz der mitgliedstaatlichen Durchführung wiederholen und Übergriffe in diesen Bereich einem Rechtfertigungsbedürfnis unterwerfen.962 Der Vertrag von Lissabon entwickelt damit einen doppelten „Schutzbereich“ für die Mitgliedstaaten963: Zum einen ordnet er die Gesamtheit der Implementierung und des Vollzugs – die Anwendung und das Anwendbarmachen – des Gemeinschaftsrechts den Mit-

957

Inwiefern sich hierdurch praktisch tatsächlich etwas geändert hat, s. sogleich § 4 B. III. 1.  Ladenburger, in: Allg. VerwR – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 106 (121); zur stärkeren Ausdifferenzierung der Verwaltungsfunktion vgl. Gärditz, DÖV 2010, 453 (454). 959 Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 291 AEUV Rn. 2 und s. oben § 4 B. II. 2.  960 A. A. Streinz, in: Hofmann/Zimmermann, Eine Verfassung für Europa, S.  71 (91) ohne Erwähnung der Durchführung. Dazu, dass sich die Zuweisung der Durchführungskompetenz an die Mitgliedstaaten letztlich doch lediglich als „Restkompetenz“ erweist, s. unten § 4 B. III. 1.  961 Im Übrigen fehlt es aber an einer Normierung „ausgeschlossener“ Unionskompetenzen, die exklusiv den Mitgliedstaaten zugeordnet sind, vgl. Bermann, in: Tridimas/Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 65 (69). 962 s. Ruffert, EuR 2009, Beiheft 1, 31 (45). 963 Ladenburger, in: Allg. VerwR – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 106 (121). 958

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gliedstaaten zu; zum anderen gewährleistet der Vertrag, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung ihr eigenes Recht anwenden. Dies bedeutet: Die Union ist grundsätzlich nicht für die Durchführung zuständig, auch nicht im Bereich ausschließlicher Kompetenzen (Art.  2 Abs.  1 AEUV). Die Rechtsanwendung, inklusive dem Anwendbarmachen des Rechts, wie auch dem Erlass der Rechtsanwendungsregeln964 – letzteres folgt zumindest aus Art. 291 Abs. 1 a. E. – obliegt den Mitgliedstaaten. Die Union ist nur zuständig für den ihr zugewiesenen Sachbereich minus der Maßnahmen, die die Durchführung betreffen.965 Daraus folgt, dass die Union für die Durchführung einer gesonderten Ermächtigung bedarf, die sich von der Ermächtigung zur Rechtsetzung unterscheidet. Schon das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung setzt der unionalen Durchführung des Gemeinschaftsrechts mithin Grenzen. Darüber hinaus stellt der AEUV klar, dass das Subsidiaritätsprinzip Anwendung findet, wenn es darum geht (durch einen Rechtsakt) zu entscheiden, ob die Union ihr Recht durchführen darf. Ausdrücklich beschränkt Art. 291 Abs. 2 AEUV die Verbandskompetenz der Gemeinschaft zur Durchführung auf die Fälle, in denen es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf und normiert damit eine Ausformung des Subsidiaritätsgedankens. Daneben folgt nun aber schon aus allgemeinen Grundsätzen deutlich, dass das Subsidiaritätsprinzip im Hinblick auf die Durchführung immer Anwendung findet: Die Kompetenz zur Durchführung von Gemeinschaftsrecht ist nach den allgemeinen Kompetenzvorschriften des AEUV stets eine geteilte.966 Selbst die Anordnung einer ausschließlichen Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft ändert nichts daran, dass die Mitgliedstaaten für die Durchführung grundsätzlich zuständig sind (Art. 2 Abs. 1 a. E. AEUV) und mitgliedstaatliche und unionale Durchführungszuständigkeit i. S. einer geteilten Kompetenz nebeneinander bestehen.967 Die Geltung des Subsidiaritätsprinzips für die Durchführung ist demnach nie gemäß Art.  5 Abs. 3 EUVn ausgeschlossen968: Ein Durchführungsakt fällt nie in die ausschließliche Zuständigkeit der Union. Hier wirkt sich aus, dass Rechtsetzung und Durchführung ausdrücklich als alia konzipiert sind und sich die Anordnung der Ausschließlichkeit daher nie automatisch auf die Durchführung erstreckt. Dies bewirkt jedenfalls eine Klarstellung im Vergleich zum alten Recht, unter dessen Ägide nicht recht deutlich wurde, ob

964 Das heißt, diejenigen (Verfahrens-, Organisations-)Regeln, die es bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu beachten gilt. 965 Trüe, ZaöRV 64 (2004), 391 (418). Zu der Relativität dieser Kompetenzbeschränkung der Union, s. unten unter § 4 B. III. 1.  966 Jacqué, SZIER/RSDIE 2011, 29 (68). 967 So schon für den EGV Schreiber, Verwaltungskompetenzen, S. 59. 968 Die zurückhaltende Formulierung bei Sohn/Koch, cepCommentary „ex-comitology“, S.  11, ist daher unangebracht. Ein Durchführungsrechtsakt der Kommission muss nicht nur „zumindest“ in den Bereichen geteilter Zuständigkeit gemäß Art. 4 AEUV den Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips genügen, sondern immer.

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das Subsidiaritätsprinzip auf die Übertragung von Durchführungsbefugnissen Anwendung finden sollte.969 Wie aber sind diese Änderungen insgesamt praktisch zu bewerten? III. Bewertung des Wandels Fragen wir nun mit der Erklärung von Laeken: „Soll … die tägliche Verwaltung und die Ausführung der Unionspolitik nicht nachdrücklicher den Mitgliedstaaten bzw. – wo deren Verfassung es vorsieht – den Regionen überlassen werden? Sollten ihnen nicht Garantien gegeben werden, dass an ihren Zuständigkeiten nicht gerüttelt wird?“ und fragen weiter, ob diese Frage durch den Vertrag von Lissabon affirmativ beantwortet wurde, so lässt sich als Fazit festhalten: Der Vertrag verwirklicht in der Tat eine stärkere Abgrenzung und Trennung der vertikalen Zuständigkeiten. Indem er in den Bereichen, in denen die Union zur Gesetzgebung und zum Erlass verbindlicher Rechtsakte zuständig ist, den Mitgliedstaaten positiv die Aufgabe der Durchführung zuschreibt, stärkt er den Grundsatz der vertikalen Funktionenteilung und die Idee des Exekutivföderalismus, nach dem der unteren Ebene grundsätzlich die Anwendung des auf der höheren Ebene gesetzten Rechts obliegt.970 Praktisch dürften sich die Veränderungen indes nur wenig auswirken. Dies dürfte insbesondere der Relativität des Begriffs der Durchführung sowie dem begrenzten Anwendungsbereich des Art. 291 Abs. 2 AEUV zuzuschreiben sein. 1. Relativität des Begriffs der Durchführung Der Vertragswortlaut dürfte Hoffnung bei den Mitgliedstaaten wecken: Die Tatsache, dass der Vertragstext die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Durchführung nun nicht nur wie früher gemäß Art. 10 EGV in die Pflicht nimmt, sondern ihnen zugleich ein entsprechendes Recht einräumt, scheint dem vielbeschworenen Institut der Verfahrensautonomie, das bislang allenfalls unter einigem Begründungsaufwand gleichsam „negativ“ aus den Verträgen gefolgert werden konnte971 und 969

Zu Forderungen, dass auch im Bereich ausschließlicher Gesetzgebungskompetenzen der Union das Subsidiaritätsprinzip auf die administrative Durchführung Anwendung finden solle, s. Schreiber, Verwaltungskompetenzen, S. 59. 970 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 137; Götz, in: Schwarze, Verfassungsentwurf, S.  43 (57); Streinz, in: Hofmann/Zimmermann, Eine Verfassung für Europa, S. 71 (97); vgl. auch Wolfram, Underground Law, S. 17; Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1398); ebenso, aber etwas zurückhaltender Gärditz, DÖV 2010, 453 (462): „gewisse Stärkung der dezentralen Vollzugsstruktur“; Hofmann, ELJ 2009, 482 (497 f.). 971 s. dazu etwa von Danwitz, DVBl 1998, 421 (429 ff.).

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dementsprechend auf äußerst unsicheren Füßen stand, jetzt in der europäischen Rechtsordnung seinen festen Platz einzuräumen. Mit dem Begriff der Durchführung scheint ein Bereich mitgliedstaatlicher Autonomie gleichsam gegenständlich umrissen. Wie sicher sich diese Garantie mitgliedstaatlicher Freiräume tatsächlich ausnimmt, hängt indes von einem äußerst unsicheren Begriff ab: Dem Begriff der Durchführung. Bereits oben wurde die Regelungskonzeption des Vertrages angeschnitten, der „Rechtsetzung“ (bestehend aus „Gesetzgebung“ und dem Erlass „verbindlicher Rechtsakte“) und „Durchführung“ als komplementäre Gegenstücke einander gegenüberstellt. Der mitgliedstaatliche Durchführungsbeitrag hängt vom konkreten Inhalt des durchzuführenden europäischen Rechtsaktes ab. Wer aber legt den Inhalt des europäischen Rechtsaktes fest, dessen Durchführung den Mitgliedstaaten als Recht zugewiesen ist? Es ist dies der europäische Rechtsetzer selbst.972 Daran hat sich im Vergleich zur alten Rechtslage nichts geändert, weil sich erstens an dem grundsätzlich nicht auf bestimmte Arten beschränkten System der begrenzten Einzelermächtigungen nichts verändert hat und weil es zweitens nach wie vor an einer abstrakten Definition des Begriffs der Durchführung fehlt und es deshalb keinen greifbaren Anhaltspunkt dafür gibt, ab welchem Regelungsgrad es sich nicht mehr um Rechtsetzung, sondern schon um Durchführung handelt.973 Zwar ordnet Art. 290 AEUV an, dass der Gesetzgeber bestimmte Aspekte zwingend regeln muss; es fehlt aber an einer komplementären Bestimmung mit umgekehrter Stoßrichtung, die dem Gesetzgeber gewisse Detailregelungen vorenthält und sie als „Durchführung“ originär den Mitgliedstaaten bzw. nach einer Übertragung der Kommission zuordnet. Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine Richtlinie, „dürfen“ die Mitgliedstaaten sogar Gesetze zur Umsetzung der Richtlinie erlassen. Fällt die Wahl auf die Handlungsform der Verordnung, gilt diese unmittelbar in den Mitgliedstaaten und ist von Verwaltung und Gerichten zu beachten. Entsprechend kann der europäische Gesetzgeber sich weithin auf unbestimmte Rechtsbegriffe verlassen, oder aber er kann sich dafür entscheiden, die Begriffe selbst näher zu konkretisieren und so den Spielraum für eigene Konkretisierungsleistungen der Mitgliedstaaten enger zu zurren. Ebenso ergibt sich aus dem durchzuführenden Rechtsakt, ob tatsächlich ein Anwendungsbereich für eine Durchführung „nach innerstaatlichem Recht“ bleibt oder nicht. Der Begriff der Durchführung, der auf die Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene angewiesen ist und dessen Bedeutung sich erst auf Grundlage des konkret durchzuführenden Gemeinschaftsrechts entfalten kann, vermag nicht zu verhindern, dass „der Gesetzgeber über die

972 Bieber/Salomé, CMLRev. 1996, 33 (907, 927); Bradley, FS Bieber, S. 286 (290 f.); Le­ naerts, ELRev. 1993, 23 (28); vgl. auch Schütze, Shapening the Separation of Powers through a Hierarchy of Norms?, EIPA Working Paper 2005/W/01, S.13; Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (660). 973 Lenaerts/Verhoeven, CMLRev. 2000, 645 (660 f.); vgl. auch Möstl, DVBl 2011, 1076 (1078).

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

Regelung der wesentlichen Grundsätze hinausgeht und Vorschriften vollziehender Art erlässt.“974 Der den Mitgliedstaaten als Recht zugewiesene Bereich der Durchführung ist demnach nur im Vertragstext gegenständlich umrissen. In Wirklichkeit hängt er von der Regelungsdichte und -tiefe des durchzuführenden europäischen Rechtsaktes ab;975 dies wiederum von der Entscheidung des Gesetzgebers oder des rechtsetzenden Organs, die wiederum durch die aktuelle Entwicklungsstufe der Gemeinschaft determiniert ist.976 Hier wirkt sich (negativ) aus, dass der Begriff des Gesetzgebungsaktes allein durch formelle Kriterien bestimmt ist und sein zulässiger Regelungsgehalt nicht auf die grundlegenden politischen Entscheidungen der Gemeinschaft beschränkt ist.977 Auch im Übrigen beschränken die begrenzten Einzelermächtigungen die Union – jenseits des relativen Begriffs der Durchführung – nach wie vor nicht auf bestimmte Arten von Maßnahmen; sie schließen etwa Verwaltungsmaßnahmen ebenso wenig aus wie nach alter Rechtslage. Das auf Grund einer begrenzten Einzelermächtigung zur Rechtsetzung befugte Unionsorgan ist grundsätzlich frei, im Rechtsakt durch Rechtsetzung selbst detaillierte Regelungen zur Durchführung vorzusehen.978 Regelt der Basisrechtsakt indes selbst seine Durchführung, muss das rechtsetzende Organ nicht gemäß Art. 291 Abs. 2 AEUV darlegen, inwiefern es „einheitlicher Bedingungen“ für die Durchführung bedarf. Allgemeine Grenzen setzen damit, nicht viel anders als nach bisheriger Rechtslage bislang auch, nur das wenig bissige allgemeine Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip.979 Zur Durchführung, für welche die begrenzte Einzelermäch 974 Dies stellt bereits auf der Grundlage des alten Rechts GA Maduro fest, s. Rs. C-133/06, Slg. 2008, I-3192 Rn.  22. Unter „vollziehenden Maßnahmen“ versteht er dabei alle solche, die i. S. d. Wesentlichkeitsrechtsprechung nicht die wesentlichen Grundzüge eines Bereichs be­ treffen. 975 Vgl. auch Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1402), der die Fragestellung anscheinend auf Einzelentscheidungen begrenzt: „The substantial limits thereby created for national administrations depend on the extent to which the European administration chooses to ‚pre-empt‘ the Member States.“ 976 s. EuGH, Rs. 30/70 (Scheer), Slg. 1970, 1197 Rn. 8. 977 Allerdings hätte wohl auch eine materielle Definition des Gesetzgebungsaktes hier keine positiven Auswirkungen gehabt, solange unwesentliche Entscheidungen durch delegierte Rechtsakte auf Gemeinschaftsebene getroffen werden können. Denn dann könnten detaillierte, den Mitgliedstaaten wenig Spielraum belassende Rechtsakte auf europäischer Ebene auch dann ergehen, wenn Gesetzgebungsakte selbst in ihrer Regelungstiefe beschränkt sind, nämlich in der Form von delegierten Rechtsakten, s. auch Hofmann, Normenhierarchien, S.  63: keine zwingende Stärkung des Subsidiaritätsprinzips durch Aufteilung von Grundsatz- und Durchführungsregeln. 978 Davon geht etwa aus ohne weitere Erklärung Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (120 f.). 979 Damit verhält es sich weiter ähnlich wie im deutschen Recht, für das Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 2 Aufl. 1996, § 62 Rn. 58 festgestellt hat: „Das mit der Vollzugsgewalt der Exekutive zufallende Maß an Gestaltungsraum ist letztlich nicht mehr als eine disponible Restkompetenz ohne feste verfassungsrechtliche Grenze gegen eine Schmälerung durch das Parlament.“

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tigung nicht mehr gilt, wird eine Regelungsmaterie erst durch den Umstand, dass sich der unionale Rechtsakt bestimmter Regelungen enthält und so in die „naturgegebene“ Zuständigkeit der Mitgliedstaaten eingreift oder aber durch den Akt der Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission. Erst dann wird das Rechtfertigungsbedürfnis für die unionseigene Durchführung ausgelöst.980 Die Durchführungskompetenz ist damit eine „Restkompetenz“.981 Sie ist relativ, und dieses Attribut der Relativität gilt auch für die „Autonomie“ der Mitgliedstaaten.982 Der Begriff der Durchführung ist angesichts dieser seiner Relativität nicht in der Lage, einen ex ante feststehenden Autonomiebereich der Mitgliedstaaten zu garantieren. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn es gelänge, dem Begriff der Durchführung einen ex ante bestimmbaren, feststehenden Gehalt zu geben und ihn so zumindest in Teilbereichen von seiner grundsätzlichen Relativität zu befreien.983 Möglicher Anknüpfungspunkt für einen derartigen Kernbereich der Durchführung984, der grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen ist, wäre unter Umständen, zumindest den Vollzug des Gemeinschaftsrechts im Einzelfall als Kernbereich der Durchführung zu erfassen985 und dem grundsätzlichen Zugriffsrecht der unionalen Legislative zu entziehen. „Typische Vollzugsentscheidungen“ wären dann von legislativer bzw. quasi-legislativer Rechtsetzung (Art. 290 AEUV) ausgeschlossen. Folge wäre, dass die Union, will sie überhaupt tätig werden, nur in Form eines Durchführungsaktes handeln könnte; zumindest jedwede Überführung in den direkten Vollzug unterfiele dann dem Rechtfertigungsbedürfnis des Art. 291 Abs. 2 AEUV. Diese Lösung hätte zwar den weiteren Reiz, dass sie mit der Rolle der Kommission als gemeinschaftlicher Regelexekutive gut in Einklang zu bringen wäre: Dann nämlich müssten für diese Art der Durchführung unter den Voraussetzungen des Art. 291 Abs. 2 AEUV immer der Kommission die (Vollzugs-)Durchführungsbefugnisse übertragen werden.986 Das Organ, das die Basisnorm erlassen hat, dürfte den Einzelfall dann nie gleichsam „mit regeln“; die Durchführung 980

A. A. Ladenburger, in: Allg. VerwR  – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S.  106 (121), der ausführt, dass „Zugriffe des Unionsgesetzgebers“ auf mitgliedstaatliches Verfahrensrecht rechtfertigungsbedürftig seien. 981 Diesen Begriff gebraucht Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 250, allerdings nur im Zusammenhang mit der Durchführungskompetenz der Kommission vor der Einheitlichen Europäischen Akte. 982 Von der relativen Verwaltungsautonomie der Mitgliedstaaten spricht auch Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1386). 983 Vgl. allgemein zum Konzept eines „Verwaltungsvorbehalts“ als Kernbereich der Verwaltung, der vor dem Zugriff des Gesetzgebers geschützt ist, Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Kap. 4 Rn. 43 ff. 984 Grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Konzept eines Kernbereichs zum Schutze mitgliedstaatlicher Autonomie aber Möllers, EuR 2002, 483 (501). 985 Ablehnend zu einem solchen – generellen – „Vollzugsvorbehalt“ der Verwaltung SchmidtAßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Kap. 4 Rn. 45. 986 Grundsätzlich kritisch zu „echten“ Einzelfallentscheidungen durch die Kommission aber Möllers, EuR 2002, 483 (510 f.).

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wäre dann keine bloße „Restkompetenz“ mehr. Auf europäischer Ebene bestünde dann ein „Kommissionsvorbehalt“ für den Vollzug; in vertikaler Hinsicht bestünde ein entsprechender Vollzugsvorbehalt für die Mitgliedstaaten. Jedoch ist fraglich, ob sich gerade im Gemeinschaftsrecht ein solcher Kernbereich des „Einzelfallvollzugs“ etablieren lässt. Steht doch das Gemeinschaftsrecht insgesamt der Unterscheidung zwischen Einzelfallentscheidungen und abstrakt-generellen Regelungen eher indifferent gegenüber: Die „für den deutschen Betrachter fundamentale Differenzierung zwischen Rechtsnormen und Einzelfallentscheidungen“ ist in den anderen Mitgliedstaaten und eben auch im Gemeinschaftsrecht (bisher) bei weitem weniger ausgeprägt.987 Ebenso befindet sich in der Wissenschaft die Auffassung von einer „Dichotomie“ zwischen Rechtsnormen und Vollzug auf dem Rückzug; dominant scheint hingegen eine  – im Europarecht offenbar umgesetzte  – weite Konzeption der Rechtserzeugung als schrittweise Konkretisierung des hoheitlichen Regelungs- und Steuerungswillens bis hin zur Anwendung im Einzelfall.988 Diese geringe Fixierung auf den (vielleicht nur vermeintlich) grundlegenden Unterschied zwischen „abstrakt-generellen“ und „konkret-individuellen“ Handlungen spiegelt nicht zuletzt auch die Auffassung des Gerichtshofs wider, der urteilte, der Begriff der Durchführung i. S. d. Art.  202, 3.  Spielgelstrich umfasse auch Einzelfallentscheidungen.989 Gegen einen Kernbereich der Durchführung spricht weiter, dass der Vertrag von Lissabon – anders als noch der Verfassungsvertrag – auf jedwede materielle Definition des Gesetzgebungsaktes verzichtet hat und den Gesetzgebern insbesondere den Erlass eines Beschlusses  – also des neuen unionalen Rechtsaktes für Einzelfälle990  – ermöglicht. Diesem gesetzgeberischen Einzelfallbeschluss bliebe wohl kaum ein Anwendungsfeld, fasste man „echte Vollzugsentscheidungen“ als Kernbereich der Durchführung auf. Noch schwieriger wäre es, andere mögliche Durchführungsregeln (also etwa Verfahrens-, Organisationsregeln oder materielle Konkretisierungen unbestimmter 987 Jarass, AöR 121 (1996), 171 (183); ausführlich Härtel, Handbuch Europäische Recht­ setzung, § 1 Rn. 18, 24 ff. mit Ausführungen, warum das europäische Recht auf die Unterscheidung zwischen allgemeiner Regelung und Einzelakt nicht in gleichem Maße angewiesen ist (wegen des handlungsformneutralen Rechtsschutzsystems und dem ebenso neutralen System der Fehlerfolgen); Sydow, Verwaltungskooperation, S. 44; s. auch Bumke, in: Schuppert/Pernice, Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (689); von Borries, FS Everling, S. 127 (S. 129 m. Fn. 11) und die empirischen Erkenntnisse bei von Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV 62 (1999), 77 (94), die aus dem Umstand, dass der Fundstellennachweis des geltenden Gemeinschaftsrecht ohne Umstände auch privatgerichtete Entscheidungen, also klassische Verwaltungsakte, aufführt, folgert, dass „die Unionsrechtsordnung keine Probleme damit zu haben [scheint], auch Einzelakte als vollgültige Glieder der Rechtsordnung zu begreifen. Allgemein gegen einen „verfassungsfesten“ Vollzugsvorbehalt der Exekutive auch Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Kap. 4 Rn. 45. 988 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 242. 989 EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457 Rn. 11; s. auch Gundel, in: Schulze/ Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 19. 990 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 288 Rn. 86.

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Rechtsbegriffe991) als Bestandteil eines solchen „Kernbereichs“ der Durchführung zu verstehen. Dann wäre die Regelung von Verfahrens- und Organisation im Basisrechtsakt ausgeschlossen. Das würde bedeuten, dass sogar der Gesetzgeber selbst, unter Umständen sehr wichtige Regeln dieser Art nicht erlassen dürfte. Regeln wie der Zollkodex dürften  – in Ermangelung einer möglichen primärrechtlichen Ermächtigung zum Erlass von Verfahrens- oder Organisationsregelungen – auf unionaler Ebene dann nur von der Kommission erlassen werden und wären der Zuständigkeit des Gesetzgebers entzogen. Ein solches Ergebnis erscheint wenig sinnvoll, zumal solche Regelungen häufig als „wesentlich“ einzustufen sein werden und jedenfalls nach dem Rechtsgedanken des Art. 290 AEUV im gesetzgeberischen Basisrechtsakt geregelt werden sollten.992 Unabhängig davon, ob es gelingen kann einen Kernbereich und damit einen Vorbehaltsbereich des mitgliedstaatlichen Vollzugs bzw. subsidiär einen Kommissionsvorbehalt zu konstruieren, ist festzuhalten, dass insgesamt die praktischen Auswirkungen, insbesondere der Gewinn an mitgliedstaatlicher Autonomie, im Ergebnis wohl nicht so bedeutend sind, wie eine erste Analyse des Vertrags­textes vielleicht nahelegen würde. Am insgesamt nicht auf bestimmte Kategorien der Rechtserzeugung beschränkten Kompetenzsystem der Union hat sich nichts geändert. Indes dürfte Art. 291 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV doch mehr als klärende Wirkung entfalten.993 Der Umstand, dass die Durchführung nun als – wenn auch relatives  – mitgliedstaatliches Recht und nicht mehr nur als Pflicht konzipiert ist, bewirkt eine Art „Beweislastumkehr“. In der Praxis des alten Rechts spielten etwaige Rechte der Mitgliedstaaten bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen in der Regel keine Rolle. Auf Grundlage von Art. 291 Abs. 2 AEUV müssen hingegen jetzt die Unionsorgane in dem Rechtsakt, in dem sie Durchführungs­ befugnisse auf die Kommission übertragen, stets darlegen und begründen, warum es einheitlicher Bedingungen bedarf.994 Allerdings ist zu konstatieren, dass wegen der Relativität des Durchführungsbegriffs diese „Beweislastumkehr“ nur für die Übertragung von Durchführungsbefugnissen gilt, nicht aber, wenn der Basisrechtsakt die Durchführung gleichsam mit regelt. Dann greifen die Sicherungen des Art. 291 Abs. 2 AEUV, die eben nur an den Vorgang der „Übertragung“ von Durchführungsbefugnissen geknüpft sind, nicht. Insbesondere die Kommission könnte aus diesem Grund der Verlockung erliegen, beispielsweise in einem delegierten Rechtsakt die Durchführung mit zu 991

Ausführlich zum möglichen Inhalt von Durchführungsrecht, s. unten unter § 4 C. II. Zur Übertragung des oder eines Wesentlichkeitsvorbehalts auf Art. 291 AEUV, s. unten unter § 5 B. II. 993 Götz, in: Schwarze, Verfassungsentwurf, S. 43 (57): Die Regelung geht über die bislang in Bezug genommene Bestimmung des Art. 10 EGV hinaus; ebenso Gerken/Holtz/Schick, Wirtschaftsdienst 10 (2003), S. 662 (668). A. A. wohl Wolfram, Underground Law, S. 17. 994 s. allerdings die beschränkte „Begründung“ in der Richtlinie 2010/75/EU vom 24.  November 2010 über Industrieemissionen, Erwägungsgrund Nr. 39: „Um einheitliche Durchführungsbedingungen zu gewährleisten …“ 992

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regeln, ohne entsprechende Durchführungsbefugnisse auf sich selbst zu übertragen und so das Rechtsfertigungsbedürfnis des Art. 291 Abs. 2 AEUV auszulösen. Dies wiegt deshalb schwer, weil die Neuerungen zum Subsidiaritätsprinzip hier ebenfalls keinen verbesserten Schutz der Mitgliedstaaten bieten: Das sog. Frühwarnsystem, nach dem Vorschläge für Gesetzesvorhaben den mitgliedstaatlichen Parlamenten zur Prüfung vorzulegen sind, gilt nur für Gesetzgebungsakte. Es gilt nicht für die delegierten Rechtsakte der Kommission und für primärrechtsunmittelbare Rechtsakte ohne Gesetzescharakter.995 In der Praxis werden sich die durch Art. 291 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV bewirkten Änderungen wohl primär darin äußern, dass jeder Rechtsakt, der Durchführungsbefugnisse auf die Kommission überträgt, eine Begründung dafür mit liefern muss, warum es „einheitlicher Bedingungen für die Durchführung“ bedarf. Dies bietet angesichts des Umstandes, dass die Rolle der Mitgliedstaaten bisher bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen kaum eine Rolle spielte, immerhin eine gewisse Sicherung mitgliedstaatlicher Freiräume.996 Der Gesichtspunkt der Subsidiarität im Hinblick auf exekutive Befugnisse wurde gestärkt. Zwar bleibt es trotz der auf den ersten Blick bedeutsamen, auch verbandskompetentiell relevanten Trennung von Rechtsetzungs- und Durchführungskompetenzen dabei, dass sich die Verwaltungsbefugnissen der Union parallel zu ihren Rechtsetzungsbefugnisse verhalten. Zumindest stellt aber Art.  291 Abs.  2 AEUV durch sein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis für den Fall, dass die Kommission Durchführungsbefugnisse als solche wahrnehmen soll, klar, dass diese gegenüber den Verwaltungsbefugnissen der Mitgliedstaaten subsidiär sind.997 Übertragen die Unionsorgane Durchführungsbefugnisse begegnet ihnen in Gestalt des Art. 291 Abs. 2 AEUV stets „ein Knoten im Taschentuch“, der sie daran erinnern soll, dass sie mit der Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Ebene der Union Terrain erobern, das eigentlich den Mitgliedstaaten zusteht. 2. Blindheit gegenüber der Realität des Verwaltungsverbunds Art. 291 AEUV kennt zwei Formen der Durchführung: Entweder die Mitgliedstaaten führen das Gemeinschaftsrechts durch  – so die Grundregel in Art.  291 Abs. 2 AEUV –, oder die Union nimmt sich ausnahmsweise selbst der Durchführung ihres Rechts an (Art. 291 Abs. 2 AEUV). Art. 291 AEUV scheint damit weiter von einer Dichotomie von direktem und indirektem Vollzug auszugehen. Diese Dichotomie entspricht indes nicht (mehr) der Realität des Gemeinschaftsrechts;

995 Hier wirken sich Inkonsistenzen bei der Einordnung von Rechtsetzungsbefugnissen als Gesetzgebungsbefugnisse besonders aus. Zu diesen Inkonsistenzen, s. unten unter § 7 A. II. 2. c). 996 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 291 AEUV Rn. 24. 997 Schütze, CMLRev. 2010, 1385, der daraus schließt, dass die Union ein föderales Modell zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland verwirklicht hat.

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sie ist längst überholt.998 Die mitgliedstaatliche und die unionale Ebene sind bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht auf vielfältige Weise miteinander verwoben.999 Indirekter und direkter Vollzug bezeichnen nur die zwei Endpunkte einer ganzen Palette möglicher Durchführungsmodelle. Art. 291 AEUV formuliert keine Anforderungen, die im Hinblick auf die Herausbildung von Verbundstrukturen zu gelten haben. Dies gilt sowohl für die sekundärrechtliche Begründung solcher Verbundstrukturen durch den Gesetzgeber, als auch dann, wenn die Kommission als „Durchführungsregeln“ Verbundstrukturen vorsieht. Hier sind Grenzen nach wie vor nur aus allgemeinen Grundsätzen zu entwickeln.1000 Eine aus rechtsstaatlichen und demokratischen Gründen wünschenswerte Regelung1001 dieses Phänomens im Primärrecht fehlt auch in Zukunft.1002 Dies gilt im Besonderen mit Blick auf das Phänomen des Agenturwesens. Art. 291 Abs. 2 AEUV knüpft nur an den Vorgang der Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission an. Wie bereits erwähnt, wird das Rechtfertigungsbedürfnis des Art. 291 Abs. 2 AEUV – vorbehaltlich eines feststehenden „Kernbereichs“ der Durchführung – damit nicht ausgelöst, wenn der Basisrechtsakt selbst Durchführungsregeln enthält und keine Übertragung vorsieht. Daneben ist aber von Art. 291 Abs. 2 AEUV eine weitere wichtige Situation nicht erfasst, in denen der Subsidiaritätsgedanke ebenfalls Wirkung entfalten sollte: Nämlich die Übertragung von Befugnissen auf Agenturen und sonstige Einrichtungen. Seit einigen Jahren ist eine erhebliche Ausdifferenzierung der EU-Eigenverwaltung zu beobachten.1003 Vermehrt bedient sich die Union institutionell verselbständigter Agenturen und Ämter, um Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen.1004 Dabei ist weitgehend anerkannt, dass die EU diese Agenturen nicht nur errichten, sondern ihr auch Aufgaben übertragen darf.1005 Dabei sind zwei Situationen zu unterscheiden. Zum einen kann der Gesetz­geber (d. h. der Rat und das Parlament) auf primärrechtlicher Grundlage durch Sekundär 998

von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, S. 11; Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 (254). s. Sydow, Verwaltungskooperation, S. 123; Beispiele sind Agenturen, in denen mitgliedstaatliche Vertreter mitarbeiten oder auch die Komitologie, die allerdings in Art. 291 als Kontrolle durch die Mitgliedstaaten vorgesehen ist. Zu Beispielen und einer Definition von „mixed administrations“ s. Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1421 ff.). 1000 s. zu einem Versuch der Systematisierung unten unter § 4 C. III. 2.  1001 Gärditz, DÖV 2010, 453 (462). 1002 Beispiele für von Art. 291 AEUV nicht geregelte Fälle nennt krit. Gärditz, DÖV 2010, 453 (462); krit. gegenüber der Einseitigkeit des Art. 291 AEUV auch Hofmann, ELJ 2009, 482 (493). 1003 Sydow, Verwaltungskooperation, S. 63 ff.; Fischer-Appelt, Agenturen, S. 78 ff. 1004 Griller/Orator, ELRev. 2010, 3 (4); die Praxis hat nur sehr begrenzt Einzug in die Verträge gehalten, was Hofmann, ELJ 2009, 482 (501) bedauert; für den VVE ders., A critical analysis of Acts in the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, EIoP Vol. 7 (2003), No. 9, S. 25; krit. auch Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, S. 70 f. 1005 Sydow, VerwArch, 97 (2006), 1 (10, 12); Beispiele für Agenturen, denen Entscheidungsbefugnisse übertragen sind, bei Hofmann, ELJ 2009, 482 (501, Fn. 82). 999

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recht Agenturen errichten; zum anderen kann die Kommission auf Grund sekundärrechtlicher Befugnisse durch Tertiärrecht Einrichtungen schaffen, die sie mit Aufgaben betraut. Erstere Stellen werden als Regulierungs-, letztere als Exekutivagenturen bezeichnet.1006 Art. 291 AEUV befasst sich weder damit, in welchem Umfang die Kommission in Ausübung ihrer Durchführungsbefugnisse Exekutivagenturen errichten und ihnen Aufgaben übertragen kann. Noch regelt Art. 291 AEUV die Möglichkeit des Gesetzgebers, Agenturen zu gründen und ihnen – anstelle der Kommission – Aufgaben zu übertragen. Der Vorschrift kann insbesondere nicht entnommen werden, dass die Etablierung von Regulierungsagenturen durch den europäischen Gesetzgeber und die Übertragung von Aufgaben auf diese Agenturform ausgeschlossen sein soll.1007 Art. 291 AEUV sieht zwar nur die Kommission als Empfänger von Durchführungsbefugnissen vor. Die Vorschrift verbietet deshalb aber nicht, dass auch „sonstige Einrichtungen“ mit Durchführungsaufgaben betraut werden.1008 Schon der Vorgängerregelung des Art. 202 EGV war eine solche Exklusivität der Kommission (und des Rates) als Empfängerin von Durchführungsbefugnissen nach herrschender Ansicht nicht zu entnehmen.1009 Ein solches Verständnis wurde nicht zuletzt durch die weitgehend unbeanstandete Praxis erschwert, Agenturen zu gründen und diesen Aufgaben zu übertragen: Die Unionsorgane sahen Art. 202 EGV offensichtlich nicht als einzige Möglichkeit, Befugnisse zu übertragen. Die Nachfolgeregelung – Art. 291 Abs. 2 AEUV – bietet in der Zusammenschau mit anderen vertraglichen Vorschriften sogar noch weniger Raum, diesem Verständnis den Rücken zu kehren. An anderer Stelle erkennt der Vertrag von Lissabon nämlich die Existenz von Agenturen an. Art. 263 Abs. 1 AEUV erweitert den Zuständigkeitsbereich des EuGH ausdrücklich auf die Überwachung von Handlungen, die „Einrichtungen“ oder „sonstige Stellen“ der Union mit Rechtswirkung gegenüber Dritten vornehmen. Der Vertrag setzt damit die Errichtung und Existenz von vertragsfremden Institutionen voraus. Er hält diese „sonstigen Stellen“ überdies für befugt, mit Rechtswirkung gegenüber Einzelnen zu handeln. Dies 1006

Sydow, Verwaltungskooperation, S. 64. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 291 AEUV Rn. 38. 1008 s. Griller/Orator, ELRev. 2010, 3 (19, 25), die annehmen, dass dieser „exclusivity issue“ der Übertragung von Befugnissen auf Regulierungsagenturen lediglich Grenzen setzt, sie aber nicht völlig ausschließt. Die Exklusivität der Art. 290 und 291 AEUV gilt wohl aber hinsichtlich von Delegationen auf die Organe Kommission (und Rat). Insoweit sind die Ermächtigungen abschließend; außerhalb dieses Systems können keine weiteren Befugnisse zu verbindlicher Rechtsetzung durch Sekundärrecht geschaffen werden, s. (zu Art. 202 EGV) EuGH, Rs. C-133/06 (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-3189, dazu Gundel, JA 2008, 910 (912). Zu dieser Frage s. noch unten § 6 C. 1009 Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 263; Stohmaier, Die Befugnis von Rat und Kommission zur Einsetzung von Ausschüssen, S. 197; a. A. wegen Verletzung des institutionellen Gleichgewichts (Umgehung der Kommission) Ehlermann, EuR 1971, 250 (259), zulässig sei es aber, wenn die Kommission Befugnisse auf vertragsfremde Institutionen übertrage, a. a. O., S. 260. 1007

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setzt wiederum voraus, dass diesen Einrichtungen zuvor Befugnisse übertragen worden sind. Die unionale Praxis, Einrichtungen oder sonstige Stellen zu schaffen und ihnen (Vollzugs-)Aufgaben zu übertragen, erfährt damit eine primärrechtliche Bestätigung.1010 Eine Regelung erhält das primärrechtlich anerkannte Phänomen indes nicht; sie fehlt auch in Art. 291 AEUV.1011 Das Spannungsverhältnis zwischen dem (weitgehenden) Schweigen im Primärrecht und der Anerkennung des Agenturwesens im Sekundärrecht bleibt unter der Ägide des Lissabon-Vertrags bestehen.1012 Mit dem Verzicht auf eine solche Regelung geht einher, dass die Errichtung der Agenturen und die Übertragung von Aufgaben auf sie nicht denselben Sicherungen unterworfen ist, die für die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission gemäß Art.  291 Abs.  2 AEUV gelten.1013 Abhilfe könnte insoweit nur schaffen, Art. 291 Abs. 2 AEUV als Ausdruck einer allgemeinen Idee zu begreifen, die darauf abzielt, den Gesichtspunkt exekutiver Subsidiarität stärker zu betonen und die europäische Rechtsprechung dementsprechend aufzufordern, sich der Überprüfung des Subsidiaritätsprinzips unter diesem exekutiven Gesichtspunkt gewissenhafter anzunehmen.1014 In diesem Zusammenhang scheint problematisch, dass das Subsidiaritätsprotokoll, das eigentlich zur stärkeren Absicherung des Subsidiaritätsgrundsatzes in den Vertrag eingeführt wurde, nur bedingt für die Durchführungsrechtsetzung eine Rolle spielen wird: Das Subsidiaritäts­protokoll findet Anwendung nur auf die Entwürfe von Gesetzgebungsakten. Werden Befugnisse in einem anderen Rechtsakt als einem Gesetzgebungsakt übertragen – was gemäß Art. 291 anders als bei Art. 290 AEUV möglich ist – ist es überhaupt nicht einschlägig.1015 Inwiefern durch den Verzicht auf explizite Regelungen zu diesem zunehmend wichtigen Komplex das vertikale Kompetenzgefüge, das durch Art.  291 AEUV eine gewisse Klärung erhalten hat, wieder in Unordnung gerät, ist nicht sicher. Bisher begrenzten nämlich andere  – horizontale  – Erwägungen das Ausmaß, in dem Agenturen, insbesondere: eigenverantwortlich, Aufgaben wahrnehmen durften. Diese Grenzen setzte vor allem das institutionelle Gleichgewicht. Zu nennen ist hier zunächst die Meroni-Doktrin, welche offenbar – trotz vielfach geäußerter

1010 Griller/Orator, ELRev. 2010, 3 (27); Gärditz, DÖV 2010, 453 (459); Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081). 1011 Lediglich einzelne Agenturen wurden ausdrücklich konstitutionalisiert und zugleich mit einer Rechtsgrundlage versehen, s. Art. 85 für Eurojust und Art. 88 AEUV für Europol, auch Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 33 m. Fn. 128. 1012 Hofmann, ELJ 2009, 483 (501 f.). 1013 Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (756): „surprising that no mention is made … of the ­roles of agencies in implementing Union policies.“ 1014 So Schütze, CMLRev. 2010. 1385 (1415). 1015 Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 35 ff.

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Kritik1016 – dem Agenturwesen nach wie vor Fesseln anlegt.1017 Dieser Doktrin zufolge, die Urteilen des EuGH aus den fünfziger Jahren entnommen wird1018, sollen nur eng umgrenzte Ausführungsbefugnisse übertragbar sein. Meroni wurde anhand einer Konstellation entwickelt, in der die Kommission (bzw. ihre Vorgängerin: die Hohe Behörde) Aufgaben auf andere Stellen übertrug. Für die Übertragung von Befugnissen durch den Gesetzgeber auf andere Stellen als die Kommission kann überdies der „exclusivity issue“ als ein Aspekt des institutionellen Gleichgewichts begrenzende Wirkung entfalten: Nur die Kommission ist vom Vertrag in Art.  291 AEUV als unionseigene Instanz vorgesehen, das Unionsrecht durchzuführen.1019 Diese primärrechtliche Rolle der Kommission darf nicht unterminiert werden. Teilweise wird daher dafür plädiert, dass Durchführung durch Agenturen statt durch die Kommission, die ihrerseits nur unter den Voraussetzungen des Art. 291 Abs. 2 AEUV zur Durchführung befugt ist, die Ausnahme bleiben müsse.1020 Allerdings blendet gerade ein solches Verständnis Vorteile im vertikalen Verhältnis, die eine Durchführung durch Agenturen gegenüber der Durchführung durch die Kommission bringt, völlig aus: Agenturen sind Bestandteil europäischer Verbundstrukturen; sie setzen sich häufig aus Vertretern der EU und Vertretern der Mitgliedstaaten zusammen.1021 Unter dem Blickwinkel der Subsidiarität kann sich die Durchführung durch eine Agentur anstatt durch die Kommission als die die Souveränität der Mitgliedstaaten schonendere Variante erweisen. 3. Betonung des materiellen Rechts („Primat der materiellen Programmierung“1022) Die Regelung des Art. 291 AEUV deutet auf eine weitere Leerstelle: Die Verträge messen Verfahrensregeln insgesamt nur geringe Bedeutung zu. „Mit diesen Rechtsakten“ werden der Kommission gemäß Art.  291 AEUV Durchführungs­ befugnisse übertragen. Die Durchführungsbefugnisse beziehen sich mithin ­immer 1016

Sydow, Verwaltungskooperation, S. 67. s. etwa Ludwigs, DVBl 2011, 61 (65); sowie Kühling, EuZW 2008, 128, der ver­mutet, dass die Meroni-Doktrin verhindert hat, dass die Kommission in ihrem Vorschlag für die Errichtung einer Agentur für die Zusammenarbeit der Energieregulierungsbehörden dieser Agentur kaum relevante Entscheidungskompetenzen einräumte. Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1423); Hofmann, ELJ 2009, 482 (501 f.) spricht davon, dass Art. 291 Abs. 2 AEUV, indem er nur die Kommission als Empfänger von Durchführungsbefugnissen einsetze, die Meroni-Doktrin konstitutionalisiere. Da die europarechtliche Praxis die Meroni-Doktrin tatsächlich weitgehend überwunden habe, vergrößere sich der Graben zwischen den Vorgaben des Primärrechts und der unionalen Praxis sogar noch. 1018 EuGH, Rs. 9/56 (Meroni), Slg. 1958, 11 ff.; Fortführung durch EuGH-Gutachten 1/76, Slg. 1977, 741 (Binnenschifffahrt). 1019 Ludwigs, DVBl 2011, 61 (65). 1020 Griller/Orator, ELRev. 2010, 3 (28). 1021 Gärditz, DÖV 2010, 453 (462). 1022 Möllers, Gewaltengliederung, S. 482 (507). 1017

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auf einen konkret durchzuführenden Gemeinschaftsrechtsakt. Um die konkreten materiellen Gehalte des materiellen Rechts zur Anwendung zu bringen, erlässt die Kommission hierauf bezogene Durchführungsregeln. Es besteht also eine Akzessorietät zwischen Durchführungsregeln und dem zur Anwendung zu bringenden Gemeinschaftsrecht. Damit lebt eine Tradition fort, die bereits bisher zu beobachten war: In den Verträgen betont wird das materielle Recht und die Anforderungen, die es bei seinem Erlass zu beachten gilt; Fragen der Anwendung dieses Rechts werden indes eher als technische Fragen abgetan.1023 Durchführungsregeln werden lediglich als Anhängsel zur Effektuierung des materiellen Rechts betrachtet. Der Gesetzgeber bzw. allgemeiner: das den Basisrechtsakt erlassende Organ entscheidet also jeweils ad hoc, ob der betreffende Rechtsakt einer unionalen „Gebrauchsanweisung“ bedarf, um zu einheitlicher Wirksamkeit in den Mitgliedstaaten zu gelangen. Damit wird aber auch über die Struktur des administrativen Verbunds zwischen nationalem Vollzug und gemeinschaftlicher Durchführung und ihren Zwischenstufen nur ad hoc entschieden.1024 Einer Systematisierung der Verwaltungsstruktur ist ein solches auf den jeweiligen einzelnen Basisrechtsakt zugeschnittenes Modell naturgemäß nicht zuträglich, worunter letztlich die Transparenz des europäischen Verwaltungsrechts leidet.1025 Andere Vorschriften bieten hier keine Hilfestellung: Art. 197 AEUV erkennt zwar die effektive Durchführung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten als Frage von gemeinsamem Interesse, schließt aber zugleich jedwede Harmonisierung aus. Horizontale, d. h. bereichsübergreifende Regelungen über das Verwaltungsverfahren und den Vollzug sind damit nach wie vor nur auf Grundlage der Kompetenzergänzungsklausel des Art. 352 AEUV möglich. Solche Regelungen werden sich wohl weiter nur auf einzelne Ausschnitte des Verwaltungsverfahrens beziehen.1026

C. Durchführung durch die Kommission I. Verbandskompetenz 1. Art. 291 Abs. 2 AEUV als Verbandskompetenz Den Mitgliedstaaten ist die Aufgabe der Durchführung nun als Recht zugewiesen. Die Gemeinschaft ist für die Rechtsetzung nur minus der Durchführung zuständig. Konsequenterweise bedarf daher die Union, um selbst ihr Recht durchführen zu dürfen, einer begrenzten Einzelermächtigung, die sie mit der Durchführung betraut. Den hieraus resultierenden Ertrag an mitgliedstaatlicher Autonomie min 1023

Ohler, EuZW 2006, 372 (374). Dies erkannte schon auf Grundlage des alten Rechts Möllers, EuR 2002, 483 (513 f.). 1025 Möllers, EuR 2002, 483 (513 f.). 1026 s. etwa die VO (EG) 58/2003, die auf Grundlage von Art. 308 EGV (jetzt: Art. 352 AEUV) erging. 1024

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dert aber der Umstand, dass der Lissabon-Vertrag die soeben erst erforderlich gewordene Ermächtigung im gleichen Atemzug gleichsam „mit liefert“. Art.  291 Abs. 2 AEUV ermächtigt die Union zur Durchführung unter der Voraussetzung, dass es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf.1027 Die Bedeutung des Art. 291 Abs. 2 AEUV beschränkt sich nicht auf die horizontale Ebene. Zwar ist der Wortlaut der Vorschrift fast identisch mit dem seiner Vorgängerregelung, was eine entsprechende Auslegung nahelegen könnte. Zu Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV war aber Konsens, dass ihr keine eigenständige verbandskompetentielle Bedeutung zukam: Die Verbandskompetenz der Gemeinschaft folgte nicht unmittelbar aus Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV, sondern leitete sich von der begrenzten Einzelermächtigung ab, auf deren Grundlage die gemäß Art. 202 EGV durchzuführende Norm des Sekundärrechts erging.1028 Es wurde aber bereits gezeigt, dass sich der Begriff der Durchführung, so wie er Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV zugrunde lag, einem Bedeutungswandel unterzogen hat.1029 Eine Parallele zu Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV kann damit nicht unbesehen gezogen wurde. Überdies unterscheidet sich die „systematische Umgebung“ des Art. 291 Abs. 2 AEUV von der Vorgängerregelung. Anders als Art. 202 EGV schweigt Art. 291 AEUV in puncto Durchführung nicht mehr zum Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten. Art. 291 Abs. 1 AEUV erklärt die Mitgliedstaaten für grundsätzlich zuständig, die Rechtsakte der Union durchzuführen; Absatz 1 hat somit verbandskompetentielle Bedeutung. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, Art. 291 Abs. 2 AEUV als Ausnahme von dieser grundsätzlichen Zuständigkeitsordnung zu begreifen. Absatz 2 kommt damit ebenfalls verbandskompetentielle Bedeutung zu. Dort, wo es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf, wirkt Art. 291 Abs. 2 AEUV als – subsidiäre – begrenzte Einzelermächtigung.1030 Die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt diese Auslegung. Der Lissabon-Vertrag definiert die Durchführung als aliud gegenüber Gesetzgebung und dem Erlass verbindlicher Rechtsakte. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bedarf die EU daher nun einer Ermächtigung für die Durchführung. Eine Regelung, die wie Art. 291 Abs. 2 AEUV besagt, dass die Union zur Durchführung befugt sein solle, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf, ist unter diesen Umständen sinnvoll und liegt überdies auf der Linie der bisherigen Rechtsprechung, wie sie sich etwa in der Entscheidung „Deutsche Milchkontor“ offenbarte.1031 1027

Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1389). s. etwa EuGH, Rs. 16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457 Rn. 10. 1029 s. auch Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S.  109 (124), der betont, dass die wahre Parallele zu dem bisherigen Art. 202, 3. Spiegelstrich in Art. 290 AEUV und nicht im auf den ersten Blick dem Art. 202 EGV so ähnlichen Art. 291 AEUV zu finden ist. 1030 Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1398). 1031 EuGH, verb. Rs. 205–125/82 (Deutsche Milchkontor), Slg. 1983, 2633 Rn. 24. Dort formulierte der EuGH es als „Aufgabe der zuständigen Gemeinschaftsorgane“, im Falle von Vollzugsdiskrepanzen, die den Binnenmarkt oder die Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer zu beeinträchtigen geeignet seien, die „erforderlichen Bestimmungen zu erlassen, um diese Unterschiede auszuräumen“. 1028

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Zudem fungiert die Einschränkung, der die unionale Durchführungszuständigkeit unterliegt – das Bedürfnis einheitlicher Bedingungen – als besondere Ausformung des Subsidiaritätsprinzips.1032 Dieses ist naturgemäß darauf angelegt, seine Bedeutung im vertikalen Verhältnis zwischen der Union und den Mitgliedstaaten zu entfalten. Art. 291 Abs. 2 AEUV enthält damit eine eigenständige Ermächtigung der Union zur exekutiven Durchführung des Gemeinschaftsrechts; die Vorschrift ist das neue „exekutive Kompetenzreservoir“ der Gemeinschaft.1033 Die Erkenntnis, dass Art. 291 Abs. 2 AEUV verbandskompetentielle Bedeutung hat, erhellt die gänzlich unterschiedliche Funktion, die einem „Übertragungsakt“ gemäß Art. 291 AEUV im Vergleich zu einer Delegation gemäß Art. 290 AEUV zukommt. Bei Art. 290 AEUV handelt es sich um einen typischen Fall der Delegation: Das eigentlich zuständige Organ überträgt seine Kompetenzen auf ein anderes Organ. Art. 291 AEUV hat demgegenüber wenig mit einer Delegation gemein. Die „Übertragung“ von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission ist bei genauer Betrachtung gar keine „Übertragung“. Vielmehr aktiviert der jeweilige Basisrechtsakt eine nur ausnahmsweise bestehende Verbandskompetenz der Union, indem er feststellt, dass es „einheitlicher Bedingungen“ für die Durchführung bedarf. Das aktivierende Organ überträgt aber keine Befugnisse auf die Kommission. 2. „Bedürfnis einheitlicher Bedingungen“ Die begrenzte Einzelermächtigung des Art. 291 Abs. 2 AEUV ist nur dann einschlägig, d. h. die Union darf ihr Recht nur dann durchführen und Durchführungsbefugnisse auf die Kommission übertragen, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf. Diese Formulierung hat Kritik erfahren: Das Erfordernis „einheitlicher Bedingungen“ hat sich bereits bisher als wenig griffiges Konzept erwiesen.1034 Es kann lediglich versucht werden, in Anlehnung an die bisherige Praxis Kriterien zu benennen, die die Entscheidung leiten, wann es „einheitlicher Bedingungen“ bedarf. a) Kriterien: Einheitliche Bedingungen Ausgangspunkt muss die ausdrücklich „verfassungsrechtlich“ kodifizierte1035 Grundentscheidung für die mitgliedstaatliche Durchführung sein. Diese Grundentscheidung impliziert, dass Divergenzen bis zu einem gewissen Grad hingenommen

1032

Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1400). Dazu noch s. unten unter § 4 C. I. 2.  Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1498). 1034 Dougan, ELRev. 2003, 763 (786). 1035 Ruffert, DÖV 2007, 761 (766). 1033

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werden müssen1036; würde sonst die Grundentscheidung selbst doch bald hinfällig.1037 Allerdings gilt es, auch dem Prinzip der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen.1038 Dies bedeutet, dass Divergenzen nicht unbegrenzt zulässig sein können, wenn nicht die einheitliche Geltung und die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts als die Teilaspekte des Prinzips der einheitlichen Wirksamkeit1039 aufs Spiel gesetzt werden sollen.1040 Dabei ist zu beachten, dass die ärgsten Auswüchse anders als durch unionale Durchführungsvorschriften geheilt werden können. Der EuGH hat, um dem Gebot der einheitlichen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts Rechnung zu tragen, den Vollzug durch die Mitgliedstaaten nach mitgliedstaatlichem Recht einem „doppelten Gemeinschaftsrechtsvorbehalt“ unterstellt1041: Zum einen dürfen die anwendbaren Bestimmungen des mitgliedstaatlichen Rechts die „europäischen Fälle“ nicht anders, vor allem nicht ungünstiger, behandeln als die rein nationalen Fälle (Äquivalenzgebot); zum anderen darf das mitgliedstaatliche Recht die Ausübung der von der Gemeinschaftsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (effet utile). Wenn aber diese „Einhegungen“ des mitgliedstaatlichen Rechts nicht ausreichen, kommt die Möglichkeit ins Spiel, gemeinschaftsrechtliche Durchführungsregeln zu erlassen und auf diese Weise den Vollzug zu vereinheitlichen. Wann dies der Fall sein kann, hat der EuGH schon früh in dem Urteil Milchkontor formuliert. Für die Begründung des Erfordernisses einheitlicher Bedingungen können aus diesem Urteil wichtige Kriterien abgeleitet werden. In der Entscheidung formulierte der EuGH: „Sollte sich im übrigen herausstellen, dass Verschiedenartigkeiten der nationalen Rechtsvorschriften geeignet sind, die Gleichbehandlung der Wirtschaftsteilnehmer zu gefährden, Verzerrungen hervorzurufen oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu beeinträchtigen, so wäre es Aufgabe der zuständigen Gemeinschaftsorgane, die erforderlichen Bestimmungen zu erlassen, um diese Unterschiede auszuräumen.“1042

Der Gerichtshof nennt damit Voraussetzungen, unter denen ein Tätigwerden der „zuständigen Gemeinschaftsorgane“ zur Vermeidung von Diskrepanzen beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts erforderlich werden kann. Erste (selbstverständ 1036

So schon zum alten Recht: Kahl, VerwArch 29 (1996), 341 (382); Klepper, Vollzugskompetenzen, S. 99. 1037 Vgl. Kleppert, Vollzugskompetenzen, S. 95: „Den Sinn des Subsidiaritätsprinzips würde es sogar ins Gegenteil verkehren, wenn man ausgerechnet die Einheitlichkeit als Bewertungsmaßstab für seine Anwendung heranzöge.“ D. h. einheitliche Bedingungen dürfen nicht das Endziel der Übertragung von Durchführungsbefugnissen sein. Vielmehr geht es um die Frage, ob andere Ziele einheitlicher Bedingungen bedürfen, um überhaupt verwirklicht werden zu können. 1038 Dazu grundlegend Nettesheim, in: GS Grabitz, S.  447 ff. (454 ff.); Schroeder, AöR 129 (2004), 3 (14). 1039 Dazu Schroeder, AöR 129 (2004), S. 14 ff. m. Nachw. zur Rechtsprechung. 1040 Scheuing, DV 34 (2001), 107 (108). 1041 Scheuing, DV 34 (2001), 107 (109). 1042 EuGH, verb. Rs. 205–125/82 (Deutsche Milchkontor), Slg. 1983, 2633 Rn. 24.

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liche)  Voraussetzung ist, dass die nationalen Rechtsvorschriften verschiedenartig sind. Diese Unterschiedlichkeit muss darüber hinaus geeignet sein, die Gleich­ behandlung der Marktteilnehmer zu gefährden, Verzerrungen hervorzurufen oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu gefährden.1043 Die leitenden Kriterien sind demnach der Grundsatz der Gleichbehandlung und der effet utile.1044 Gegen eine unionale Durchführung, insbesondere in Form einer flächendeckend zentralisierten Aufgabenwahrnehmung im direkten Vollzug, sprechen hingegen die begrenzten Verwaltungsressourcen der Gemeinschaft.1045 Ergibt das Anlegen dieser Kriterien unter Berücksichtigung des „Ideals dezentralen Vollzugs“1046 (i. S. d. Art. 291 Abs. 2 AEUV) nicht mehr hinnehmbare Divergenzen1047 kann die Union „Durchführungsregeln“ erlassen bzw. selbst durchführen. Art. 291 Abs. 2 AEUV lenkt dabei den Fokus auf die Durchführung durch die Kommission als Mittel der Vollzugsvereinheitlichung, das bisher als Koordinationsmöglichkeit nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hat.1048 Da Art. 291 Abs. 2 AEUV als Harmonisierungsvorschrift für die Durchführung konzipiert ist, dürfte sich dies nun ändern. b) Maßstabsbildung: Bedürfnis Den Maßstab dafür, wann Vollzugsdivergenzen nicht mehr hinnehmbar sind, bildet das Merkmal des „Bedürfnisses“. In den alten Verträgen gab es keine Vorschrift, die ein Tätigwerden der Union an ein „Bedürfnis“ geknüpft hätte. Greifbarer wäre ein Maßstab gewesen, der die Union für zuständig erklärt, wenn die Durchführung auf unionaler Ebene erforderlich ist. Anders als das Merkmal des Bedürfnisses ist die „Erforderlichkeit“ unionalen Tätigwerdens als speziellere Ausformung des Subsidiaritätsgedankens aus vielen Vorschriften des bisherigen Primärrechts bekannt.1049 Es bewirkte eine Verschärfung des allgemeinen Subsi 1043

EuGH, verb. Rs. 205–125/82 (Deutsche Milchkontor), Slg. 1983, 2633 Rn. 24. So auch Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 138; „Effizienz- und Kohärenzüberlegungen“ Ruffert, DÖV 2007, 761 (766); Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/ AEUV, Art. 291 AEUV Rn. 2; Sydow, Verwaltungskooperation, S. 241 ff. Weiter differenzierend Nettesheim, Recht der EU, Art. 290 AEUV Rn. 22 f. 1045 Ruffert, DÖV 2007, 761 (766); s. insbesondere die Überforderung der Kommission durch den direkten Vollzug des Kartellrechts, die zur Reform durch VO (EG) 1/2003 führte, auch Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 93 ff. 1046 Ruffert, DÖV 2007, 761 (766). 1047 „… [W]enn die Disparitäten zu gravierend erscheinen.“ s. Gundel, in: Schulze/Zuleeg/ Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 111. 1048 s. etwa Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 3 Rn. 111, der sich wohl nur mit der sekundärrechtlichen Begründung von Verfahrens- und Organisationsregeln auseinandersetzt und die Durchführung als Mittel der Vollzugskoordinierung nicht gesondert erwähnt. Dies bestätigt die Feststellung Sydows, dass bisher wenig Fokus auf die Durchführung als Instrument der Verwaltungskooperation als einem Teilgebiet der Vollzugskoordinierung gelegt wurde, s. Sydow, Verwaltungskooperation, S. 38. 1049 Calliess, Subsidiaritätsprinzip, S. 127 ff. zu zahlreichen Beispielen in den Verträgen und zu ihrer Auslegung. 1044

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diaritätsprinzips.1050 Auch die Erfahrungen im deutschen Recht zeigen die bessere Handhabbarkeit einer Erforderlichkeitsklausel im Vergleich zu einem Bedürfnismaßstab.1051 Die Grenze, ab der Vollzugsdifferenzen nicht mehr hinnehmbar sind, bleibt damit weitgehend vage. Ausgeschlossen sein dürfte, dass der Bedürfnismaßstab im Vergleich zum allgemeinen Subsidiaritätsprinzip ein Absinken des Schutzniveaus bewirkt. Gegen ein solches Verständnis spricht der Umstand, dass Art. 291 AEUV den Gedanken der Subsidiarität selbst noch einmal aufgreift und dadurch betont, obwohl sich die unabhängige Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auf die Durchführung bereits aus den allgemeinen Kompetenzvorschriften ergibt: Diese trennen zwischen Rechtsetzungs- und Durchführungskompetenzen und ordnen letztere – sogar im Bereich ausschließlicher Rechtsetzungskompetenzen der Union  – den Mitgliedstaaten zu. Schon dies stellt klar, dass die Wahrnehmung der Durchführung durch die Union gegenüber dem Regelfall mitgliedstaatlicher Durchführung immer subsidiär ist. Die explizite Verknüpfung des Subsidiaritätsgedankens mit dem Tatbestand der Verbandskompetenz des Art. 291 Abs. 2 AEUV weist daher eher auf eine Verschärfung des Subsidiaritätsprinzips hin. c) Das Verhältnis der Bedürfnisklausel zum Subsidiaritätsprinzip Wie ausgeführt, unterstellt die Bedürfnisklausel in Art. 291 Abs. 2 AEUV die unionale Durchführung von Gemeinschaftsrecht einem Subsidiaritätsgedanken, der mindestens so strenge Anforderungen enthält wie das allgemeine Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 3 EUVn. Dies wirft die Frage nach dem Verhältnis dieser Ausformung des Subsidiaritätsprinzips zum allgemeinen Subsidiaritätsprinzip auf. Findet letzteres weiter Anwendung, verdrängt die Bedürfnisklausel das all­ gemeine Prinzip oder verweist es nur darauf? Gegen eine Verdrängung des allgemeinen Subsidiaritätsprinzips sprechen vornehmlich systematische Gründe. Das allgemeine Subsidiaritätsprinzip hat dogmatisch durchaus Raum, neben, genauer: nach, der Bejahung des Bedürfnisses einheitlicher Bedingungen noch zur Entfaltung zu gelangen. Art. 291 Abs. 2 AEUV nennt das Bedürfnis einheitlicher Bedingungen als Tatbestandsmerkmal. Die Bedürfnisklausel setzt systematisch an einem anderen Punkt an als das allgemeine Subsidiaritätsprinzip: Das Bedürfnis einheitlicher Bedingungen bestimmt nicht nur – wie das Subsidiaritätsprinzip – darüber, ob die Union von einer ihr zustehenden Kompetenz Gebrauch machen darf. Sondern die Bedürfnisklausel entscheidet, ob die Union überhaupt auf eine Kompetenz zur Durchführung zurückgreifen kann und betrifft damit schon das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. Art. 291 1050

Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 43. Gerken/Holtz/Schick, Wirtschaftsdienst 10 (2003), S. 662 (668 m. Fn. 26). Diese Erfahrungen beziehen sich auf Art. 72 Abs. 2 GG a. F. Bis 1994 knüpfte das GG im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes an „das Bedürfnis“ nach einer bundesgesetzlichen Regelung.

1051

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Abs. 2 AEUV enthält zwar eine begrenzte Einzelermächtigung (s. o.), doch ist ihre tatbestandliche Anwendbarkeit abhängig von dem Bedürfnis einheitlicher Bedingungen; Art. 291 Abs. 2 AEUV ist also schon in seiner kompetenzbegründenden Wirkung bedingt durch den Gedanken der Subsidiarität.1052 Konstruktiv bleibt damit Raum, in einem zweiten Schritt, bei der Frage des „Ob“, die Grundsätze des allgemeinen Subsidiaritätsprinzips zur Geltung zu bringen. Schon die alten Verträge kannten Ermächtigungsgrundlagen, die den Subsi­ diaritätsgedanken bereits tatbestandlich verarbeiteten. Prominentestes Beispiel ist die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV (ex-Art. 308 EGV), die ihre Anwendbarkeit an die „Erforderlichkeit“ unionalen Tätigwerdens knüpft. Zumal zu dieser Vorschrift war umstritten, ob der Subsidiaritätsprüfung nach Bejahung der Erforderlichkeit noch eine Bedeutung zukam.1053 Während manche eine strenge Trennung zwischen dem Tatbestandsmerkmal der Erforderlichkeit und der Kompetenz­ ausübungsschranke der Subsidiarität forderten, um die unterschiedlichen Gehalte beider Prinzipien zur Geltung zu bringen1054, stimmten andere zwar im Grundsatz der Ebenentrennung zu, meldeten aber Zweifel am verbleibenden Eigenwert der Subsidiaritätsprüfung nach Bejahung der Erforderlichkeit an.1055 Wieder andere sahen in dem Merkmal der Erforderlichkeit, wie es in Art. 308 EGV, aber auch in anderen Vorschriften auftauchte, lediglich eine Spezialisierung des Subsidiaritätsprinzips, das nur eben schon „mit dem Inhalt der Norm … verflochten“ sei.1056 Es spricht viel dafür, eine solche Verflechtung des Subsidiaritätsprinzips mit dem Tatbestand der Ermächtigungsnorm gleichermaßen in Art. 291 Abs. 2 AEUV verkörpert zu sehen. Welche Aspekte bei einer nachfolgenden Subsidiaritätsprüfung noch eine Rolle spielen sollten, nachdem das „Bedürfnis“ einheitlicher Bedingungen bejaht wurde, ist nicht ersichtlich. Es scheint künstlich und übertrieben dogmatisch genau, diese einheitliche Frage auf zwei Prüfungsschritte zu verteilen. Welche Gesichtspunkte könnten nach Bejahung des Bedürfnisses noch gegen die unionale Durchführung vorgebracht werden? Sollen etwa die Sicherungen des Subsidiaritätsprotokolls nur für die „eigentliche“ Subsidiaritätsprüfung eingreifen, nicht aber für die Bedürfnisfrage? Der Zweck, der hinter Art. 291 Abs. 2 AEUV ist klar: Die Mitgliedstaaten sollen grundsätzlich, die Gemeinschaft demgegenüber nur subsidiär für die Durchführung zuständig sein. Die Technik, den Subsidiaritätsgedanken ausdrücklich in den Tatbestand der Norm aufzunehmen, betont lediglich die Unterscheidung zwischen Rechtsetzungs- und Durchführungskompetenzen der Gemeinschaft. Diese betonte Unterscheidung ruft in Erinnerung, dass die Frage, ob die Gemeinschaft nicht nur gesetzgeberisch tätig wird und ver 1052

Vgl. Winkler, EuR 2011, 384 (393). Rossi, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 Rn. 55. 1054 Winkler, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. EL 2009, Art. 308 Rn. 87; Rossi, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 352 Rn. 57. 1055 Häde/Puttler, EuZW 1997, 13 (16). 1056 So Calliess, Subsidiaritätsprinzip, S. 128. 1053

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bindliche Rechtsakte setzt, sondern das so gesetzte Recht auch durchführt, zwei voneinander zu unterscheidende Fragen sind, die jeweils einer eigenständigen Subsidiaritätsprüfung zu unterwerfen sind. Die Duplizierung bedeutet aber nicht, dass in Bezug auf die Durchführungszuständigkeit zweimal dasselbe geprüft werden muss. 3. Ermessen oder Handlungsverpflichtung? Müssen die Gemeinschaftsorgane im Fall, dass ein Bedürfnis nach einheit­ lichen Bedingungen besteht, Durchführungsbefugnisse auf die Kommission übertragen und den Mitgliedstaaten die Befugnis zur Durchführung entziehen? Mehr spricht hier für eine entsprechende Handlungspflicht. Hiervon geht nicht zuletzt die Kommission aus.1057 Der Indikativ, wie er in Art. 291 Abs. 2 AEUV verwendet wird („überträgt“), ist im Gemeinschaftsrecht gemeinhin ein Indikator dafür, dass Pflichten begründet werden sollen.1058 Der Rechtsprechung des EuGH lässt sich ebenfalls ein Appell an die Gemeinschaftsorgane entnehmen, dafür Sorge zu tragen, dass Verschiedenartigkeiten der nationalen Rechtsvorschriften nicht zu einer Gefährdung der Wirtschaftsteilnehmer führen, Verzerrungen hervorrufen oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes beeinträchtigen dürfen.1059 Treten also derart gleichheitsgefährdende oder marktbeeinträchtigende Effekte auf, müssen die Gemeinschaftsorgane hiergegen ansteuern. Die Bejahung einer Pflicht zur Übertragung bedeutet nicht, dass ein bestimmter Nukleus an Bestimmungen stets als Durchführungsbefugnis übertragen werden müsste. Ein solcher Kommissionsvorbehalt – der ja zugleich ein Vorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten wäre – lässt sich gerade nicht begründen.1060 Vielmehr ist es am jeweiligen rechtsetzenden Organ zu entscheiden, ob und wieviel es im jeweiligen Basisrechtsakt regelt und wieviel Potential es weiteren Durchführungsregeln lässt. Im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten wirkt hier ermessensleitend der kompetenzbezogene Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; im Verhältnis zur Kommission können Aspekte der Funktionalität darüber bestimmen, wie weit sich der Gesetzgeber selbst mit (materiellen) Durchführungsregeln befasst.

1057

KOM(2010) 83, S. 3. Winkler, in: Grabitz/Hilf, Recht der EU, 40. EL 2009, Art. 308 EGV Rn. 109. 1059 EuGH, verb. Rs. 205–125/82 (Deutsche Milchkontor), Slg. 1983, 2633 Rn. 24. 1060 Zu dieser Relativität des Durchführungsbegriffs s. bereits oben unter § 4 B. III. 1.  1058

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II. Möglicher Inhalt der Durchführungsmaßnahmen 1. Durchführungsrechtsakte als Mittel zur Vollzugshomogenisierung Der Vertrag verzichtet auch im Zusammenhang mit der Durchführung durch die Kommission auf eine Definition des Durchführungsbegriffs. Ausgangspunkt der Interpretation der Durchführung durch die Kommission muss angesichts des identischen Wortlaut das Verständnis sein, das der Durchführung oben im Zusammenhang mit der mitgliedstaatlichen Durchführung beigelegt wurde1061: Dort wurde sie als exekutive Tätigkeit verstanden, die sich nahtlos an die Rechtsetzung durch die Gemeinschaft anschließt. „Durchführung“ umfasste dort jegliche Form der Anwendung des Rechts, reichte also von der exekutiven Anwendung im Einzelfall hin zum normativen „Anwendbarmachen“ des Unionsrechts. Im Grundsatz wird man der Durchführung durch die Kommission dieselbe Bedeutung beilegen müssen. Als Gegenstück zur Rechtsetzung konzipiert, bezeichnet Durchführung demnach exekutive Maßnahmen. Dies schließt es grundsätzlich aus, wie bisher die „Durchführung“ durch die Kommission primär als „(quasi-)legislative“ Tätigkeit, als „Zwischenstufe der Konkretisierung der Rechtsetzung“ zu verstehen. Offenbar nimmt der AEUV mit dem Begriff der Durchführung durch die Union und durch die Mitgliedstaaten jeweils auf dieselbe Tätigkeit Bezug. Der Begriff der Durchführung bezeichnet daher nicht mehr eine (vor allem) legislative Gesetzes­ konkretisierung, sondern die administrative Tätigkeit des Vollzugs des Unionsrechts insgesamt.1062 Die Einordnung der Durchführung als eine Form des „Vollzugs“ des Unionsrechts darf nicht missverstanden werden. Wie schon im Zusammenhang mit den Mitgliedstaaten erfasst die Durchführung durch die Kommission ganz unterschiedliche Handlungen; es geht keineswegs um die bloß „mechanische“ Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Je größer der durch den Basisrechtsakt gesteckte Rahmen, desto mehr an Gestaltungsfreiheit bleibt der Kommission bei der Durchführung. Gegenüber der mitgliedstaatlichen Durchführung erweist sich die Durchführung durch die Kommission als teleologisch begrenzter1063: In Ausnahme von dem Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrechts nach ihrem innerstaatlichen Recht durchführen (Art. 291 Abs. 1 AEUV), können der Kommission Durchführungsbefugnisse nur dann übertragen werden, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf. Neben ihrem exekutiven Charakter ist Anhaltspunkt für die möglichen Inhalte der Durchführungsakte der Kommission also ihr Zweck, einheitliche Bedingungen für die Durchführung zu schaffen. Uneinheitlichkeit liegt in einem System, in dem die Gliedstaaten das auf föderaler Ebene gesetzte Recht anwenden, in der Natur der Sache. Rechtsanwen 1061

Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 136. Hummer, in: FS Fischer, S. 121 (160). 1063 Vgl. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 136. 1062

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dung bedeutet die zunehmende Konkretisierung des anzuwendenden Rechts.1064 Die höchste Stufe der Konkretisierung des Rechts und zugleich das Grundmodell der Exekutive ist die Rechtsanwendung im Einzelfall. Bis zu dieser höchsten Stufe der Konkretisierung durchläuft der Prozess der Rechtsanwendung häufig eine Vielzahl von Konkretisierungsstufen. Jede Konkretisierungsstufe belässt dem Rechtsanwender in der Regel einen gewissen Spielraum. Die vollkommene Eindeutigkeit gibt es nicht. Normanwendung kann deshalb nie als „bloß formal-technischer Subsumtionsvorgang im Sinne eines syllogistischen Schlußverfahrens“ erklärt werden;1065 ein gewisses Element der Rechtsetzung ist der Rechtsanwendung stets immanent. Der Spielraum des Rechtsanwenders kann sich dabei auf die unterschied­ lichen Arbeitsschritte im Prozess der Rechtsanwendung beziehen: Schon die (abstrakte) Interpretation einer Norm kann mehrere Ergebnisse zulassen; ebenso kann das Verfahren zur Tatsachenfeststellung Einfluss auf die Anwendung des Rechts auf den so (konkret) festgestellten Sachverhalten nehmen; zuletzt ist die Subsumtion eines Sachverhalts unter eine Regel nicht immer auf ein „richtiges“ Ergebnis beschränkt. Je mehr Offenheit die rechtsetzende obere Ebene den rechtsanwendenden unteren Gliedern in ihrer Aufgabe der Anwendung des Rechts lässt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das „oben“ gesetzte Recht „unten“ im konkreten Einzelfall ganz unterschiedliche Gestalt annimmt.1066 Das allgemeine Divergenzproblem des Vollzugs verschärft sich in heterogenen Mehrebenen­ strukturen wie der Europäischen Gemeinschaft. Dort führen die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht nach ihrem innerstaatlichen Recht durch (Art.  291 Abs. 1 a. E. AEUV). Verfahren und Organisation unterscheiden sich aber von Land zu Land. Hinzu kommen unterschiedliche Rechts- und Begründungskulturen.1067 Vollzug (in einem Mitgliedstaat) ist daher nicht gleich Vollzug (in einem anderen Mitgliedstaat).1068 Hier setzt das Konzept der unionalen Durchführung an. Die Durchführung durch die Kommission ist dann zulässig, wenn es einheitlicher Bedingungen für die Verwirklichung der materiellen Programme der unionalen Rechtsetzung bedarf. Die Durchführungsrechtsetzung der Kommission muss darauf angelegt sein, diese einheitlichen Bedingungen zu schaffen.1069 Die Durchführungsrechtsakte sind als exekutive Instrumente zur Vollzugsharmonisierung konzipiert.1070 1064 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, Kap.  1 Rn.  48; B. Becker, JÖR 39 (1990), 67 (69). 1065 Dreier, Hierarchische Verwaltung, S. 166. 1066 Vgl. Wahl/Groß, DVBl 1998, 2 (3). 1067 Trute, in: Allg. VerwR – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S.3 211 (220). 1068 So ausdrücklich Wahl/Groß, DVBl 1998, 2 (3); Schoch, DVBl 1997, 289 (292). 1069 König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 2 Rn. 101. 1070 Bisher wurde wenig Fokus auf die Durchführung als Instrument der Verwaltungskooperation gelegt, s. Sydow, Verwaltungskooperation, S. 38. Dies dürfte sich nun, da die Durchführung generell als Instrument zur Vollzugsvereinheitlichung konzipiert ist, ändern.

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Dabei besteht eine strenge Akzessorietät der Durchführungsmaßnahmen zum materiell durchzuführenden Gemeinschaftsrecht. Nur hinsichtlich des konkret durchzuführenden Rechtsaktes darf die Kommission Durchführungsregeln erlassen. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut des Art. 291 Abs. 2 AEUV. Die Verwendung des Demonstrativpronomens „dieses“ bringt zum Ausdruck, dass sich die übertragenen Durchführungsbefugnisse auf den jeweiligen Rechtsakt beziehen müssen: Nur Befugnisse zur Durchführung dieses konkreten Rechtsaktes können übertragen werden. Eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Verwaltungsverfahrens fehlt der Union damit nach wie vor.1071 2. Mögliche Durchführungsrechtsakte a) Inhalt Ausgehend von diesem Befund – Durchführung durch die Kommission als Instrument zur Vollzugsvereinheitlichung – müssen die möglichen Inhalte der Durchführungsregeln der Kommission ermittelt werden. Auf einer noch recht niedrigen Konkretisierungsstufe können Diskrepanzen bei der Rechtsanwendung dann entstehen, wenn das durchzuführende Gemeinschaftsrecht unbestimmte Rechts­ begriffe enthält. Je unbestimmter der Begriff, desto größer ist die Gefahr, dass die zuständigen Stellen in den einzelnen Mitgliedstaaten ihm unterschiedliche Bedeutung beilegen und das „oben“, also auf Ebene der Gemeinschaft gesetzte Recht bei den verschiedenen Rechtsbetroffenen „unten“ in ganz unterschiedlicher Form ankommt. Der Kommission kann zur Durchführung die Aufgabe übertragen werden, die Skala der möglichen Auslegungsvarianten solcher unbestimmten Rechtsbegriffe zu verringern. Die Kommission erlässt dann Vorschriften, welche die unbestimmten Rechtsbegriffe konkretisieren. Die Vereinheitlichungsleistung setzt dann weiter auf der Ebene der materiellen Programmierung an. In ihrer Funktion und Wirkungsweise ähneln solche Vorschriften den aus dem deutschen Recht bekannten normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften.1072 Vollzugsdisparitäten können im Zuge der zunehmenden Konkretisierung von Recht auch dadurch entstehen, dass sich das Verfahren oder die Organisation der Rechtsanwendung unterscheidet. Die konkrete Ausgestaltung von Verfahren und Organisation nimmt immer Einfluss auf die tatsächliche Verwirklichung des materiellen Rechts; weder Verfahren, noch Organisation sind neutrale Bedingungen für die Umsetzung einer materiell programmierenden Regelung.1073 Hier kann

1071

s. schon oben § 4 C. III. 3. zur Problematik. Zu den erwartbaren praktischen Überschneidungen von konkretisierenden Durchführungs­ regeln und einen Gesetzgebungsakt „ergänzenden“ delegierten Rechtsakten, s. unten § 6 A. 1073 So ausdrücklich Möllers, EuR 2002, 483 (500); vgl. auch Schulze-Fielitz, in: Allg. VerwR – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 135 (148): „… Grundkonsens, dass der Verfahrensgedanke 1072

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die Durchführungsrechtsetzung der Kommission ebenfalls ansetzen. Die Kommission kann einheitliche Verfahrensvorschriften für das konkret durchzuführende Gemeinschaftsrecht erlassen und so die mitgliedstaatlichen Verwaltungen stärker verfahrensrechtlich programmieren. Ähnlich können Durchführungsregelungen die Organisation der Durchführung vereinheitlichen.1074 Die Durchführungsregeln der Kommission können damit grundsätzlich auf sämtlichen Konkretisierungsstufen ansetzen und dementsprechend ganz unterschiedliche Regelungsgehalte aufweisen: von einer lediglich detaillierteren materiellen Programmierung des gemeinschaftlichen Rechtsaktes über eine stärkere verfahrensrechtliche Steuerung der mitgliedstaatlichen Verwaltungen bis hin zur vollständigen Hochzonung des Vollzugs. Erfasst sind Rechtsakte von genereller Natur ebenso wie Einzelakte.1075 Der Begriff der Durchführung durch die Kommission ist damit ebenso dehnbar wie die Durchführung durch die Mitgliedstaaten.1076 b) Handlungsform Durchführungsrechtsakte sind Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. Alle Handlungsformen stehen nach der Konzeption des Lissabon-Vertrags für das Instrument der Durchführung zur Verfügung. Eine Beschränkung auf bestimmte Arten von Handlungsformen aus dem Katalog des Art. 288 AEUV, wie noch vom Verfassungsvertrag vorgesehen, kennt Art. 291 AEUV nicht.1077 Zwar verzichtet der Lissabon-Vertrag damit auf eine handlungsformenbezogene Hierarchisierung des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts. Er vermeidet aber zugleich eine Unklarheit, die aufgrund der alten Regelung bestanden hätte. Nach dem Verfassungsvertrag war die Handlungsform der Verordnung Rechtsakten ohne Gesetzescharakter vorbehalten; Durchführungs- wie delegierte Rechtsakte in ihrer von zentraler Bedeutung für die Richtigkeit der Anwendung des materiellen Rechts ist.“ Ausführlich zur deshalb konstitutiven Rolle der Rechtsanwendung, Trute, ebd., S.  211 ff.; Röhl, ­Akkreditierung, S. 1. 1074 Vgl. Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn.  136; s. schon zur früheren Rechtslage B. Becker, JÖR 39 (1990), 67 (92) zur Steuerung des Vollzugs in den Mitglied­ staaten durch Durchführungsregeln zu Verwaltungsvorschriften, Bestimmung der zuständigen Behörde usw. mit Beispielen. 1075 Ponzano, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S.  135 (140); Schütze, Shapening the Separation of Powers through a Hierarchy of Norms?, EIPA Working Paper 2005/W/01, S. 15; s. auch KOM(2009) 673 endg., S. 4. Krit. zum Handeln der Kommission durch Einzelakt, Möllers, EuR 2002, 483 (510 f.). 1076 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 139. 1077 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 291 AEUV Rn. 11 findet allerdings den Erlass von Richtlinien als Durchführungsrechtsakt nicht einleuchtend: Liege ein Fall von Art. 291 Abs. 2 AEUV vor, bestehe also ein Bedürfnis für unionale Durchführung, sei es nicht sinnhaft, über die Handlungsform einer Richtlinie wieder die Mitgliedstaaten ins Spiel zu bringen; positiv auch gegenüber der Richtlinie als Handlungsform für die Durchführung hingegen Hofmann, Normenhierarchien, S. 214.

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Eigenschaft als Rechtsakte ohne Gesetzescharakter konnten als Verordnung ergehen. Art. I-33 des Verfassungsvertrags nannte als Zweck der Handlungsform der Verordnung jedoch die Durchführung der Gesetzgebungsakte und einzelner Bestimmungen der Verfassung. Dienten also auch delegierte Rechtsakte der Durchführung des Gemeinschaftsrechts? War Durchführung als Oberbegriff abgeleiteter Rechtsetzung zu verstehen und die Delegation nur ein Spezialfall der Durchführung, gleichsam eine Durchführung i. e. S.?1078 Oder war die Verwendung des Begriffs der Durchführung schlicht ein begrifflicher Missgriff? Diese Fragen stellen sich aufgrund der abweichenden Konzeption im Lissabon-Vertrag nun nicht mehr.1079 „Durchführung“ i. S. d. Art. 291 AEUV ist etwas anderes als die durch eine Delegation zu bewirkende Änderung oder Ergänzung eines Rechtsaktes i. S. d. Art. 290 AEUV. III. Grenzen der Durchführung 1. Verhältnismäßigkeit (Rechtfertigungsstufen) Die Frage, ob der Kommission Durchführungsbefugnisse übertragen werden, unterliegt insgesamt einem Subsidiaritätsgedanken. Die aufgrund einer Übertragung möglichen Durchführungsakte können, wie gezeigt, inhaltlich einen sehr unterschiedlichen Gehalt aufweisen. Entsprechend unterschiedlich intensiv berühren sie die mitgliedstaatliche Durchführungskompetenz. Welche Maßstäbe leiten die Entscheidung der Organe, welche Befugnisse als Durchführungsbefugnisse auf die Kommission übertragen werden? Art. 291 AEUV selbst gibt insoweit nur wenig Aufschluss.1080 Das Bedürfnis einheitlicher Bedingungen bezieht sich nur auf die Frage, unter welchen Umständen sich die Gemeinschaft die Durchführung vorbehalten, nicht aber, mit welchen Durchführungsaufgaben die Kommission konkret betraut werden darf. Damit kommen die allgemeinen Kompetenzausübungsschranken ins Spiel. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip verlangt, dass die Maßnahmen der Union „inhaltlich wie formal“ nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Ziel hinausgehen. Diese Schranke gilt für alle Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane1081, also auch für Durchführungsrechtsakte. Sie schützt die mitgliedstaatliche Autono 1078

McDonnell, in: FS Bieber, S. 372 (382). Teilweise wird allerdings auch heute vorgeschlagen, die Delegation systematisch tatsächlich nur als Unterfall der Durchführung zu behandeln, so wohl Schusterschitz, in: Hummer/ Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (232), dazu s. auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Recht der EU, Art. 290 AEUV Rn. 21, der angesichts der klaren systematischen Unterscheidung des Vertragsgebers eine solche Zusammenführung beider Formen der abgeleiteten Rechtsetzung als zwei Subkategorien der „Durchführung“ ablehnt. 1080 Zur Kritik an dieser Zurückhaltung s. schon oben § 4 B. III. 2.  1081 Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 69. 1079

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mie, die selbst bei kompetenzgemäßem Handeln der Union nur in dem Umfang verloren gehen darf, wie es zur Erreichung ihrer Regelungsanliegen erforderlich ist.1082 Die Wahrnehmung von Durchführungskompetenzen auf unionaler Ebene berührt dieses Schutzgut in besonders sensibler Weise: Mit der Frage der Durchführungskompetenz geht es um einen Bereich, der schon grundsätzlich den Mitgliedstaaten zugewiesen ist. Schon deshalb muss die konkrete Ausgestaltung der übertragenen Durchführungsbefugnisse diese mitgliedstaatliche Autonomie besonders berücksichtigen. Art. 291 AEUV formuliert einen doppelten Schutzbereich. Erstens führen die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht durch und zweitens gehen sie dabei nach ihrem innerstaatlichen Recht vor. Das Gemeinschaftsrecht kann in beide Gewährleistungen eingreifen. Die unmittelbare Durchführungszuständigkeit kann ver­ lagert werden oder Verfahrens- und Organisationsregelungen schränken den Bereich, in dem die Mitgliedstaaten nach ihrem eigenen Recht tätig werden, ein. Die in Art. 291 AEUV konkret genannten Formen der Einflussnahme lassen sich tatsächlich aber noch weiter auffächern: Auf der einen Schutzbereichsseite („wer“) kann die Gemeinschaft neben der schlichten Zentralisierung einer Vollzugsaufgabe bei der Kommission auch andere Stellen mit der Aufgabe der Durchführung des Gemeinschaftsrechts betrauen: Zu nennen ist hier die Aufgabenverlagerung auf europäische Agenturen oder die Möglichkeit, die Entscheidung nationaler Behörden mit transnationaler Wirkung auszustatten.1083 Dies bedeutet, dass eine Behörde des einen Mitgliedstaates eine Entscheidung erlässt, die unmittelbar – also nicht vermittelt durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung – Geltung in den anderen Mitgliedstaaten erlangt. Der den Verwaltungsakt erlassende Mitgliedstaat handelt dabei richtigerweise in Ausübung von Gemeinschaftskompetenzen, da nur die Gemeinschaft die einzelnen Mitgliedstaaten zu gemeinschaftsweitem Handeln ermächtigen kann.1084 Die Zuweisung solcher transnationaler Entscheidungsbefugnisse an die Mitgliedstaaten ist ebenfalls (materiell) eine vollzugskoordinierende Durchführungsregelung. Sie ist deshalb bei der Frage, welche Befugnisse auf die Kommission übertragen werden sollen, als möglicherweise mildere Alternative zu berücksichtigen. Daneben gibt es noch weitere Kooperationsmodelle, bei der die Entscheidung in teils komplizierten Verfahren durch Einbeziehung der Mitgliedstaaten und der Kommission zu erreichen versucht wird.1085 Auf der anderen Seite des Schutzbereichs („nach innerstaatlichem Recht“) kann das Gemeinschaftsrecht das mitgliedstaatliche Verfahrens- und Organisationsrecht stärker überformen und so für eine einheitlichere Anwendung des Gemein 1082

Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 66. Schütze, ELJ 2010, 1392 (1409); Röhl, Akkreditierung, S. 33 ff. 1084 Hingegen würde die dem einzelnen Mitgliedstaat zustehende Hoheitsgewalt ihn nicht zu grenzüberschreitendem Handeln ermächtigen, Röhl, Akkreditierung, S. 33 ff. 1085 Röhl, Akkreditierung, S. 42. 1083

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schaftsrechts sorgen.1086 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier bemerkt, dass Art. 291 Abs. 2 AEUV nur Verfahrens-/oder Organisationsregeln zur Durchführung eines bestimmten Basisrechtsaktes erlaubt und insofern streng akzessorisch wirkt. Eine Gesamtkodifikation1087 zum allgemeinen Verwaltungsrecht ist auf dieser Grundlage ausgeschlossen1088, was nicht zuletzt durch Art. 197 AEUV bestätigt wird: Diese Vorschrift hat vor allem symbolische Bedeutung, wenn sie die Verwaltungszusammenarbeit als eine Frage von gemeinsamem Interesse1089 anerkennt1090, sie verbietet aber zugleich jegliche Harmonisierung von Rechtsvorschriften (Art.  197 Abs.  2 a. AEUV).1091 Die verschiedenen Möglichkeiten der Einflussnahme können noch miteinander gekoppelt und zu mitunter komplexen Verbundstrukturen entwickelt werden.1092 Die wohl bei Schütze anscheinend anklingende andersartige Auslegung, wonach Art.  291 Abs.  2 AEUV lediglich die Anordnung des Direktvollzugs durch die Kommission ermöglichen soll, weil Art. 291 Abs. 2 AEUV nur die Ersetzung der mitgliedstaatlichen (indirekten) Durchführung durch den direkten Vollzug erlaube1093, ist zu eng. Sie berücksichtigt zum einen nicht hinreichend den Wortlaut von Art. 291 Abs. 2 AEUV. Dieser beschränkt sich eben nicht darauf anzuordnen, dass bei einem Bedürfnis einheitlicher Bedingungen die Kommission das Gemeinschaftsrecht selbst durchführen soll; vielmehr ist dort von der Übertragung von Durchführungsbefugnissen die Rede. Dies lässt Raum für eine Interpretation, die der Gemeinschaft neben der Hochzonung des Vollzugs noch andere Formen der Vollzugsvereinheitlichung gestattet. Darüber hinaus spricht der Umstand, dass Art. 291 Abs. 1 AEUV einen doppelten Schutzbereich garantiert – 1. Durchführung durch die Mitgliedstaaten und 2.  Durchführung nach innerstaat­lichem Recht  –, dafür, dass sich auch die in Absatz 2 normierte Ausnahme von dem Grundsatz des Absatzes 1 auf beide Gewährleistungen bezieht. Art.  291 Abs.  2 AEUV erlaubt also auch einen Eingriff in die nun in Art. 291 Abs. 2 a. E. AEUV

1086

Schütze, ELJ 2010, 1385 (1405 ff.). Zu einer Systematisierung der verschiedenen hypothetischen Kodifizierungsmöglichkeiten Bereichskodifikation, Teilkodifikation, Gesamtkodifikation, s. Ladenburger, in: Trute/ Groß/Röhl/Möllers, Allg. VerwR – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 107 (109 ff.). 1088 In der Diskussion zu einer bereichsübergreifenden Kodifizierung des europäischen Verwaltungsrechts werden gemeinhin entweder Art. 352 AEUV (ex-Art. 308 EGV) oder Art. 114 (ex-Art. 95 EGV) genannt, s. dazu Schwarze, DVBl 1996, 883 (886); Sommermann, DVBl 1996, 889 (896 f.); Schoch, DVBl 1997, 289 (293 f.). 1089 Ladenburger, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers, Allg. VerwR – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 107 (119). 1090 Was angesichts der grundsätzlich mitgliedstaatlichen Durchführung (Art.  291 Abs.  1 AEUV) und der tatsächlich gewachsenen Verbundstrukturen unerlässlich ist, s. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 197 AEUV Rn. 4. 1091 Krit. dazu Schütze, ELJ 2010, 1385 (1408). 1092 s. den beeindruckenden Versuch einer Modellbildung bei Sydow, Verwaltungskooperation, S. 118 ff. 1093 Schütze, ELJ 2010, 1385 (1410). 1087

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gewährte autonomie procédurale et institutionelle.1094 Art. 291 Abs. 1 AEUV und Abs. 2 AEUV erfassen damit nicht nur die Dichotomie zwischen direktem und indirektem Vollzugs, sondern lassen Raum für andere Formen der Vollzugsvereinheitlichung (wobei sie sich einer Steuerung dieser anderen Formen der Vollzugsvereinheitlichung weitgehend enthalten1095). Lassen sich angesichts dieser Formenvielfalt Stufen der Rechtfertigungslast für Eingriffe in den „doppelten“ Schutzbereich des Art. 291 AEUV entwickeln, die die Entscheidung, von welcher dieser Möglichkeiten die Gemeinschaft Gebrauch macht, steuern können? Vermutlich lassen sich hier nur grobe Leitlinien formulieren. Eine Skala der Rechtfertigungslast kann man sicherlich anhand der äußeren Punkte des direkten und des indirekten Vollzugs aufstellen.1096 Im Verlauf dieser Skala lassen sich anhand der drei Dimensionen Organisation, Verfahren, materielles Recht grob folgende Stufen der Rechtfertigungslast entwickeln1097: Weitestgehende Schonung erhalten mitgliedstaatliche Entscheidungsstrukturen dann, wenn sich das Unionsrecht darauf beschränkt, die mitgliedstaatliche Verwaltung nur materiell zu programmieren und der Vollzug gänzlich den Mitgliedstaaten überlassen wird, wobei auch hier unterschiedliche Intensitäten – von bloß rahmenrechtlichen Vorgaben bis zu passgenauen Detailregelungen – denkbar sind. Tiefer in die mitgliedstaatlichen Entscheidungsstrukturen wirkt eine gemeinschaftsrechtliche Regelung hinein, die nicht nur die materiellen Vorgaben bestimmt, sondern programmiert, in welchen Verfahren die materiellen Tatbestandsmerkmale festgestellt und angewandt werden sollen; noch intensiver eine Regelung, die sogar organisationsrechtliche Vorgaben setzt. Die Hochzonung des Vollzugs1098 stellt sich aus dieser gleitenden Perspektive als der Gipfel der möglichen Einflussnahme der Union dar, um ihre materiellen Vorgaben einheitlich umgesetzt zu wissen.1099 Komplizierter wird das Bild, bezieht man eine zweite Skala in die Erwägungen mit ein: Eine solche lässt sich zwischen mitgliedstaatlicher Verfahrensautonomie („mitgliedstaatlicher Eigenverantwortung“) und intensiver gemeinschaftsrechtlicher verfahrensrechtlicher Steuerung entwerfen.1100 Dabei muss folgendes Paradox bedacht werden1101: Es trifft die mitgliedstaatliche Verfahrens- und Organisationsautonomie mitunter nachhaltiger, wenn das Gemeinschaftsrecht an vielen einzelnen Stellen in die gewachsenen Strukturen des staatlichen Verwaltungsrecht eingreift, als wenn es 1094 Ladenburger, in: Trute/Groß/Röhl/Möllers, Allg. VerwR – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 107 (121). 1095 s. zu diesem Unterlassen krit. schon oben § 4 B. III. 2.  1096 Ruffert, DÖV 2007, 761 (766). 1097 Möllers, in: Allg. VerwR – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 489 (511 f.). 1098 Sachliche Anhaltspunkte für die Fälle, in denen die Anordnung des Direktvollzugs gerechtfertigt sein kann, formuliert Winter, EuR 2005, 255 (265). 1099 Eine solche Staffelung der Eingriffsintensität schlägt vor: Möllers, EuR 2002, 483 (502). 1100 Ruffert, DÖV 2007, 761 (766). 1101 Dazu und zum Folgenden s. Möllers, EuR 2002, 483 (502).

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schlicht bestimmte Vollzugsaufgaben auf die Gemeinschaftsebene hochzont. Eingriffe in die gewachsenen mitgliedstaatlichen Verwaltungsstrukturen werden nämlich nur dann erforderlich, wenn die Mitgliedstaaten das Gemeinschaftsrecht selbst vollziehen.1102 Anders herum gilt: Nur wenn sich die Verfahrensregeln der Mitgliedstaaten erheblich unterscheiden und zu nicht hinnehmbaren Vollzugsdiskrepanzen führen, lässt sich die Hochzonung des Vollzugs rechtfertigen.1103 Vermittelnde Lösungen, wie etwa die Anordnung transnationaler Wirkung von Verwaltungsakten, können ebenfalls zu Friktionen führen: Hier stellt sich das Problem der Verwaltungslegitimation, wenn die Behörde eines Mitgliedstaates Gemeinschaftsrecht unmittelbar pro unione vollzieht.1104 Defizite wären insoweit durch eine genauere gesetzliche Detailsteuerung auszugleichen, weil das Gemeinschaftsrecht unionsweit legitimierende Wirkung entfaltet; eine genaue gesetzliche Detailsteuerung kann aber wiederum zu einer Überfrachtung des Gemeinschaftsrechts führen.1105 Die Skalen sind also auf komplexe Weise miteinander verwoben; sie verhalten sich zueinander wie „kommunizierende Röhren“.1106 Darüber hinaus sind allgemeine Prinzipien wie etwa Legitimationsfragen zu berücksichtigen. Angesichts dieses komplexen Bildes verbieten sich schematische Lösungen.1107 Klare, justiziable Regeln aufzustellen, erscheint schwierig.1108 Daher steht zu erwarten, dass die Gerichte der Kommission einen großzügigen Beurteilungsspielraum belassen werden.1109 2. Morphologische Grenzen: Mögliche Handlungsformen des Basisrechtsakts Setzt das Gemeinschaftsrecht der Übertragung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission noch weitere Grenzen?1110 Craig hat die Frage aufgeworfen, ob die Handlungsformen des Basisrechtsakts den Durchführungsbefugnissen der Kommission Grenzen setzen.1111 Eine solche morphologische Begrenzung 1102

Möllers, EuR 2002, 483 (502). Dies spricht Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1408) an; er übt deshalb Kritik daran, dass Art. 197 jedwede Harmonisierung des Verfahrensrechts ausschließt. 1104 Röhl, Akkreditierung, S. 38 ff.; Sydow, Verwaltungskooperation, S. 242 ff. 1105 Dazu Sydow, Verwaltungskooperation, S. 245 ff. 1106 Möllers, EuR 2002, 483 (502). 1107 s. zu Beispielen für die Anwendung des Subsidiaritätsgedankens für die exekutiven Zuständigkeiten im geltenden Gemeinschaftsrecht, Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1412 ff.). 1108 Vgl. schon Möllers, EuR 2002, 483 (502). 1109 Vgl. allgemein zu dem weiten Gestaltungsspielraum, den der EuGH den Organen im Hinblick auf die kompetenzbezogene Verhältnismäßigkeit belässt, Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/ Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 73. 1110 s. zur Frage, ob die Kommission auch nichtrechtsförmige Instrumente (wie etwa finanzielle Anreize) zur Durchführung einsetzen kann, Nettesheim, Recht der EU, Art. 291 AEUV Rn. 29. 1111 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (118 ff.). 1103

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durch die Handlungsform des Basisrechtsaktes komme insbesondere bei Verordnungen sowie bei Richtlinien in Betracht. Bei Verordnungen stelle sich die Frage, warum es noch der Durchführung eines Rechtsaktes bedürfe, der doch „allgemeine Geltung“ habe und in allen seinen Teilen verbindlich sei (s. Definition in Art. 288 Abs. 2 AEUV).1112 Diese Erwägung verkennt indes die Aufgaben der Durchführungsrechtsetzung: Es geht darum, eine Regelung handhabbar zu machen.1113 Natürlich kann eine Verordnung – beispielsweise aufgrund unbestimmter – Rechtsbegriffe nur bedingt handhabbar sein. Auch diese Handlungsform kann, damit ihr materieller Gehalt bei den Rechtsbetroffenen in den verschiedenen Mitgliedstaaten zu einheitlicher Geltung gelangt, koordinierender Verfahrensregeln bedürfen. Es bleibt mithin genug Raum, Verordnungen mithilfe von Durchführungsvorschriften anwendbar zu machen und ihren Vollzug zu vereinheitlichen. Schwereren Einwänden gilt es zu begegnen, wenn der Basisrechtsakt eine Richtlinie ist. Eine Richtlinie richtet sich an die Mitgliedstaaten. Hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlässt sie den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel (s. Definition Art. 288 Abs. 3 AEUV). Darf die Freiheit der Mitgliedstaaten, die Form und die Mittel zu wählen, um das in der Richtlinie angegebene Ziel zu erreichen, durch steuernde Durchführungsregelungen beschnitten werden? Eine Beschränkung der Durchführungsrechtsetzung kommt indes nur dann in Betracht, wenn die Handlungsform der Richtlinie zugleich eine Kompetenzgrenze für das unionale Handeln beschriebe. Dies wird mit guten Gründen bezweifelt: Ein bestimmtes Minimum an Handlungsspielraum gehöre nicht zum Rechtsregime dieser Handlungsform.1114 Folgt man dieser Ansicht, sind Durchführungsregelungen, die eine Richtlinie genauer ausformen bzw. Vorschriften zu ihrer Anwendung enthalten und so den mitgliedstaatlichen Freiraum bei der Richtlinienumsetzung verengen, unbedenklich. Aber selbst dann, wenn man der Handlungsform der Richtlinie nur ein bestimmtes Maß an Regelungsdichte gestattet, ist der Erlass von Rechtsakten zur Durchführung einer Richtlinie nicht schon grundsätzlich ausgeschlossen. Vielmehr muss 1112 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (121) hält Rechtsakte zur Durchführung von Verordnungen allenfalls dann für erforderlich, wenn sich nach Erlass der Verordnung zeigt, dass sie uneinheitlich angewendet werden. Im Übrigen könne schon die Basisverordnung en détail spezifizieren, in welcher Art und Weise sie durchzuführen sei. Das trifft angesichts der Relativität der Durchführung zwar zu (s. oben). Zweckmäßiger kann es dennoch sein, die Kommission mit dem Erlass dieser Regelungen von Beginn an zu betrauen. Auf diese Weise kann der Gesetzgeber entlastet werden. Überdies können so die Vorzüge der Komitologie – insbesondere: bessere Vollziehbarkeit und Akzeptanz der Regelungen – für die Durchführungsregeln fruchtbar gemacht werden. 1113 Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 136. 1114 von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441 (453 Fn. 123).

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in diesem Fall die Kommission beim Erlass ihrer Durchführungsvorschriften den Charakter der Richtlinie als Leitschnur nehmen und den Mitgliedstaaten trotz unionaler Durchführungsvorschriften noch genügend Freiräume belassen.1115 IV. Ausübung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission Oben wurde behandelt, unter welchen Voraussetzungen Rechtsakte der Gemeinschaft der Kommission Durchführungsbefugnisse übertragen dürfen. Welchen Kautelen unterliegt aber die Kommission bei der Ausübung dieser Befugnisse? 1. Organkompetenz: Ermächtigung/Übertragung Eingangs ist zunächst nochmals kurz darauf hinzuweisen, dass die Kommission, will sie Gemeinschaftsrecht durchführen, hierzu auf die Ermächtigung durch einen „Basisrechtsakt“ – der nicht gleichzusetzen ist mit Sekundärrecht! – angewiesen ist. Der Basisrechtsakt wiederum darf nur Durchführungsbefugnisse übertragen und die Kommission zur Durchführung ermächtigen, wenn es einheitlicher Bedingungen bedarf. 2. Subsidiarität/Verhältnismäßigkeit Setzt die Subsidiarität der Ausübung der Befugnisse Grenzen? Art. 291 Abs. 2 AEUV erlaubt den Organen der Gemeinschaft nur unter bestimmten Voraussetzungen, der Kommission Durchführungsbefugnisse zu übertragen, nämlich dann, wenn es einheitlicher Bedingungen bedarf. Damit erhält ein1116 Gesichtspunkt „legislativer“ Subsidiarität1117 eine ausdrückliche Regelung: Die Vorschrift setzt der Möglichkeit des Gesetzgebers bzw. eines anderen Normgebers1118 Grenzen, be 1115 Zu weiteren Vorschlägen, inwiefern sich der Charakter einer Richtlinie begrenzend auf die Durchführung durch die Kommission auswirken könnte, s. Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1419). Als Beispiel, in dem eine Richtlinie Durchführungsbefugnisse auf die Kommission überträgt, s. etwa Art. 41 der Richtlinie 2010/75/EU sowie den Erwägungsgrund Nr. 39. Die Kommission wird dort etwa zum Erlass von Durchführungsbestimmungen über die Festlegung von bestimmten Zeitabschnitten oder Emissionsobergrenzen ermächtigt. 1116 Einen anderen Gesichtspunkt legislativer Subsidiarität regelt Art. 291 Abs. 2 AEUV nicht, nämlich die Frage, wieviel der Gesetzgeber selbst im Basisrechtsakt zur „Durchführung“ regeln darf. Dieses Problem wurde soeben unter der Überschrift der Relativität der Durchführung behandelt. 1117 Zu der Unterscheidung von legislativer Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens und „­exekutiver“ Subsidiarität, s. Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1410 ff.). 1118 Nur auf den „Gesetzgeber“ abzustellen wäre nicht vollständig, der Vereinfachung halber sei aber an dieser Stelle ausgeblendet, dass auch Rat und Organe in ihrer exekutiven Eigenschaft wie auch die Kommission Durchführungsbefugnisse übertragen können.

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stimmte Regelungen zu treffen, konkret: in einem sekundär- oder tertiärrecht­ lichen1119 Basisrechtsakt Durchführungsbefugnisse auf die Kommission zu übertragen. Sie regelt, „ob“ die Gemeinschaft sich Durchführungsbefugnisse vorbehalten kann. Indem Art. 291 Abs. 2 AEUV allein an den Vorgang der Übertragung von Durchführungsbefugnissen anknüpft, enthält er sich in unglücklicher Weise einer eindeutigen Stellungnahme zum Gesichtspunkt „exekutiver“ Subsidiarität, der auf einer nachfolgenden Stufe ansetzt. Während „legislative“ Subsidiarität nach hier zugrunde gelegtem Verständnis die Grenzen beschreibt, die der Subsidiaritätsgrundsatz legislativen oder quasi-legislativen materiellen Regelungen oder Verwaltungsmaßnahmen – wie der Regelung des Verfahrens oder der Hochzonung des Vollzugs – setzt, bedeutet „exekutive“ Subsidiarität, dass an die Ausübung dieser sekundär- oder tertiärrechtlich in einem Basisrechtsakt begründeten Befugnisse der begrenzende Maßstab der Subsidiarität angelegt wird. Schon auf Grundlage des alten Rechts wurde die Frage ähnlich gestellt, obgleich in leicht verengter, nämlich auf den Vollzug, beschränkter Form: Bezieht sich das Subsidiaritätsprinzip nur auf legislative Maßnahmen, also abstrakt-generelle Regelungen oder auch auf den einzelfallmäßigen Vollzug abstrakt-genereller Regelungen? Calliess1120 will die begrenzende Wirkung des Subsidiaritätsprinzips nur auf legislative Maßnahmen beziehen, die er in diesem Zusammenhang mit generell-abstrakten Regelungen gleich setzt. Ähnlich liest man anderswo, dass die Vollzugshandlungen der Kommission selbst nicht am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen seien. Lediglich der Basisrechtsakt, der zum Erlass der Vollzugsmaßnahme ermächtigt, unterliege den Schranken des Subsidiaritätsprinzips, nur dieser sei – ggfs. im Wege einer Inzidentprüfung – auf seine Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsprinzip zu überprüfen.1121 Nicht zuletzt scheint das EuG ein solcherart beschränktes Verständnis zu teilen.1122 In Denka International überprüfte das Gericht lediglich, ob sich eine Entscheidung der Kommission im Rahmen des Basisrechtsakts hielt, zog aber nicht das gleichsam übergeordnete Prinzip der Subsidiarität heran: Dieses hätte nach Ansicht des Gerichts lediglich im Zusammenhang mit dem Basisrechtsakt, der die Einzelfallzuständigkeit zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission aufteilte, gerügt werden können – an einer entsprechenden Rüge fehlte es im Fall aber. Nach diesem Verständnis bringt der Basisrechtsakt das Subsidiaritätsprinzip abschließend zur Geltung. Sofern der ermächtigende Basisrechtsakt die Vorgaben des Subsidiaritätsprinzips be 1119

Auch in delegierten Rechtsakten der Kommission  – also im „Tertiärrecht“  – kann die Übertragung von Durchführungsbefugnissen vorgesehen werden. 1120 Calliess, Subsidiaritätsprinzip, S. 103 f., der statt des ausdrücklich normierten Subsidiaritätsprinzips einen allgemeinen Subsidiaritätsgedanken wirken lassen möchte. 1121 Bast/von Bogdandy, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 53. 1122 EuG, Rs. T-334/07 (Denka International/Kommission), Slg. 2009, II-4250. Ähnlich, wenn auch etwas unklar, wohl auch EuG, Rs. T-339/04 (France Télécom), Slg. 2007, II-521 Rn. 73 f., sehr krit. zu der Weigerung des EuG, eine unabhängige Prüfung der executive subsidiarity durchzuführen Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1413).

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achtet und der Einzelakt sich seinerseits an die Vorgaben des Basisrechtsakts hält, entspricht auch der Einzelakt „automatisch“ den Vorgaben des Subsidiaritätsprinzips. Prüfmaßstab für Vollzugsmaßnahmen, die aufgrund des Sekundärrechts ergehen, ist also – ähnlich wie bei den Grundfreiheiten, wo das Sekundärrecht das Primärrecht ebenfalls als Prüfmaßstab verdrängt – nicht mehr das im Primärrecht verankerte Subsidiaritätsprinzip, sondern nur noch das Sekundärrecht, das durch den Einzelakt vollzogen wird. Im Hinblick auf Durchführungsmaßnahmen ist die Fragestellung jedoch komplexer als die Gegenüberstellung von Einzelakt und abstrakt-genereller Regelung suggeriert: Durchführungsmaßnahmen können Einzelakte, aber auch Regelungen abstrakt-genereller Natur sein. Gibt es also zwei Arten von Durchführungsmaßnahmen, solche, die als abstrakt-generelle Regelung unmittelbar am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips zu überprüfen sind und solche, die als Einzelakte nur den Vorgaben des Basisrechtsaktes zu genügen haben und das Subsidiaritätsprinzip allenfalls im Wege einer Inzidentprüfung des Basisrechtsakts zum Tragen kommt? Meines Erachtens kommt es für die Frage, ob das Subsidiaritätsprinzip Anwendung findet, nicht darauf an, ob es sich um eine „echte“ (Einzelfall-)Vollzugsmaßnahme oder eine abstrakt-generelle Regelung handelt. Dass dies die maßgebliche Grenze sein soll, widerspricht schon der Eigenart des Gemeinschaftsrechts, das allgemein wenig Wert auf diese Unterscheidung legt. Darüber hinaus trifft es in dieser Allgemeinheit nicht zu, dass das Subsidiaritätsprinzip, so wie es in den Verträgen Niederschlag findet, allein für abstrakt-generelle Regelungen konzipiert ist: In Fällen, in denen die Regelung, die es anzuwenden gilt, der Kommission überlässt, ob sie tätig werden will oder nicht, kann das Subsidiaritätsprinzip seine Wirkung durchaus bei echten Vollzugsmaßnahmen entfalten. Dies gilt zumal, wenn das maßgebliche Sekundärrecht den Aspekt legislativer Subsidiarität nur sehr grob umsetzt und der Kommission weite Spielräume belässt. Bleibt der Kommission bei der Subsumtion unter die kompetenzbegründenden sekundärrechtlichen Vorschriften ein solcher weiter Spielraum, kann es der Kommission unter dem Aspekt „exekutiver Subsidiarität“ verwehrt sein, die Maßnahme zu ergreifen, so dass es bei der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder einer sonst „subsidiaritätsfreundlicheren“ Einrichtung (wie etwa dem Verwaltungsrat in der Entscheidung France Télécom) bleibt.1123 Ist die Kommission hingegen durch das Sekundärrecht völlig determiniert, so dass sie unter bestimmten Voraussetzungen handeln muss, bleibt in der Tat kein Raum, um das Subsidiaritätsprinzip zur Geltung zu bringen. Gerade 1123 s. ausführlich mit Beispielen Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1414 f.). Davon, dass bei Erlass von Durchführungsakten ein eigener Subsidiaritätsgedanke zu beachten ist, geht ersichtlich auch die neue Komitologieverordnung (VO (EU) Nr. 182/2011) aus. Im Fall einer ablehnenden Stellungnahme darf die Kommission den Durchführungsrechtsakt grundsätzlich nicht erlassen. Nur wenn es erforderlich ist, darf sie einen geänderten Entwurf dem Ausschuss erneut vorlegen, s. Art. 5 Abs. 3 VO EU Nr. 182/2011.

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dann muss aber der Basisrechtsakt, der die „ausschließliche1124“ Zuständigkeit der Kommission anordnet, auf seine Vereinbarkeit mit den Ausübungsregeln überprüft werden.1125 Fraglich könnte dann allein sein, ob der Basisrechtsakt insoweit am Maßstab des Subsidiaritätsprinzips1126 oder auf seine Vereinbarkeit mit dem kompetenzbezogenen Verhältnismäßigkeitsprinzip zu überprüfen ist. Nach herkömmlichen Verständnis, das dem Subsidiaritätsprinzip lediglich die Aufgabe zuschreibt, das „Ob“ einer Kompetenzwahrnehmung durch die Gemeinschaft zu regeln, wäre wohl eher ein Aspekt der Regelungstiefe oder -dichte betroffen und damit das Verhältnismäßigkeitsprinzip einschlägig: Das Subsidiaritätsprinzip würde lediglich bestimmen, ob der Kommission überhaupt Befugnisse übertragen werden sollen, das Verhältnismäßigkeitsprinzip würde hingegen determinieren, ob diese Durchführungskompetenzen der Kommission ausschließlicher Natur sein dürfen oder ob die Kommission von den übertragenen Durchführungsbefugnissen nur unter bestimmten Voraussetzungen (Aspekte legislativer Subsidiarität) Gebrauch machen darf. Dabei ist aber zu beachten, dass dieses enge Verständnis der Subsidiarität zu einer insgesamt geringeren Kontrolldichte führen würde: Das Subsidiaritätsprotokoll regelt nur in sehr geringen Umfang den Gehalt des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Und der „Frühwarnmechanismus“, der einen dialogischen Mechanismus zwischen nationalen Parlamenten und den Unionsorganen vorsieht, bezieht sich nur auf die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips.1127 Die Maßnahmen, welche die Kommission zur Durchführung von Gemeinschaftsrechtsakten ergreift, müssen überdies (auch) kompetenzbezogen verhältnismäßig sein. Sie dürfen die mitgliedstaatliche Souveränität nicht mehr einschränken als erforderlich. Eine eigenständige Bedeutung erhält das Verhältnismäßigkeitsprinzip dann, wenn die Kommission weitgehend frei entscheiden darf, welche 1124 Die erst sekundärrechtlich begründete Ausschließlichkeit schließt nicht die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips insgesamt aus: Zwar nicht sekundärrechtlich, wohl aber primär- bzw. verfassungsrechtlich steht die Alternative zum Handeln der Union durchaus noch zur Verfügung, vgl. Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 52. 1125 Problematisch insofern EuG, Rs. T-420/05 (Vischim/Kommission), Slg. 2009, II-03841 Rn. 23. 1126 So Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 53; Schütze, From Dual to Cooperative Federalism, S.  263 f. versteht den kompetenzbezogenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Bestandteil des Subsidiaritätsprinzips. Diese Ansicht hat einiges für sich, insbesondere weil die ganz genaue, so wohl praktisch auch nicht mögliche Grenzziehung zwischen Subsidiarität und kompetenzbezogener Verhältnismäßigkeit ent­ behrlich würde. Damit wäre zugleich gewährleistet, dass das Subsidiaritätsprotokoll auf diese Fragen einheitlich Anwendung finden würde, s. dazu sogleich Fn. 1127. 1127 Bast/von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 5 EUV Rn. 74. Ins­ gesamt weist das Subsidiaritätsprotokoll, indem es sich in weiten Teilen ausschließlich auf Art. 5 Abs. 3 – also das Subsidiaritätsprinzip im engeren Sinne – bezieht, Defizite auf: Die inhaltliche Verknüpfung der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit als Bestandteile der Schrankentrias unionaler Kompetenzen, deren Stufen sich vielfach überlappen und nur schwer voneinander abzugrenzen sind, wird so zerrissen, s. Koch/ Kullas, cepStudie Subsidiarität, S. 15.

§ 4 Das Konzept vertikaler Gewaltenteilung hinter Art. 291 AEUV 

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Art von Durchführungsmaßnahmen sie ergreift. Dann muss die Kommission  – entsprechend den oben aufgestellten Leitlinien zur Verhältnismäßigkeit1128 – über­ legen, welche Durchführungsmodalität die mitgliedstaatliche Souveränität am wenigsten beeinträchtigt. Ob die Kommission tatsächlich selbst entscheiden darf, ob sie als Maßnahme der Vollzugskoordinierung eine Agentur gründet, das Recht selbst vollzieht oder lediglich Verfahrensregeln aufstellt, bestimmt sich danach, ob im konkreten Fall diese Frage nicht als wesentlich schon dem Schöpfer des durchzuführenden Basisrechtsakt vorbehalten ist.1129

D. Durchführung durch den Rat Dem Rat können ebenfalls Durchführungsbefugnisse übertragen werden. Im Hinblick auf das Prinzip der Gewalten- bzw. Funktionentrennung, das gerade durch die Art. 290 und 291 AEUV eine neue Stufe erreicht, ist die Durchführung durch den Rat problematisch1130: Der Rat erlässt nicht nur Vorschriften bzw. wirkt an ihrem Erlass mit; er kann sich selbst noch zur Durchführung dieser Vorschriften ermächtigen. Legislative und exekutive Funktionen fallen hinsichtlich derselben Norm in ein und demselben Organ zusammen. Die Gewaltenteilung ist „at its lowest ebb“.1131 Der erste Fall, in dem der Rat mit Durchführungsbefugnissen betraut werden kann, betrifft den gesamten Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheits­ politik. Hier ist die Durchführung durch den Rat unter dem Gesichtspunkt gerechtfertigt, dass die diplomatische Hoheitsfunktion von den allgemeinen exekutiven Aufgaben verschieden ist.1132 Diese Rechtfertigung fehlt im Hinblick auf das äußerst unklare Konzept der „spezifischen Fälle“1133, die den zweiten Bereich bezeichnen, in dem der Rat Durchführungsbefugnisse ausüben kann.1134 Zwar kommt mit der Beschränkung der Durchführungskompetenz des Rates auf „spezifische Fälle“ zum Ausdruck, dass die Durchführung durch den Rat einem doppelten Rechtfertigungsbedürfnis unterliegt.1135 Nicht nur in vertikaler Hinsicht gegenüber den Mitgliedstaaten, sondern auch in der horizontalen Beziehung zur Kommission stellt die Durchführung durch den Rat die Ausnahme dar. Dementsprechend restriktiv sollte diese doppelte Ausnahme gehandhabt werden. Leider fehlen nach wie vor greifbare Maßstäbe, nach denen das Vorliegen eines „spezifischen Falles“ 1128

s. oben § 4 C. III. 1.  Zur Übertragbarkeit eines oder „des“ Wesentlichkeitsvorbehalts, s. unten § 5 B. II. 1130 Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (756). 1131 Schütze, Shapening the Separation of Powers through  a Hierarchy of Norms?, EIPA ­Working Paper 2005/W/01, S. 13; s. dazu schon oben § 1 C. III. 1132 Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (756). 1133 Dougan, CMLRev. 2008, 617 (650). 1134 Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (756). 1135 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 291 AEUV Rn. 8. 1129

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

beurteilt werden könnte. Die Rechtsprechung zum insoweit identischen Art. 202 EGV bietet hier wenig Handreichung. Justiziabel war die Entscheidung, den Rat mit der Durchführung zu betrauen, bisher nur im Hinblick auf das Erfordernis, die Entscheidung ausführlich zu begründen.1136 Im Vergleich zur früheren Rechtslage sind die Friktionen, die im Fall einer Durchführung durch den Rat entstehen, aber etwas entschärft.1137 Problematisch ist jetzt „nur“ noch, dass der Rat, führt er das Gemeinschaftsrecht durch, bezüglich ein und derselben Regelung legislative und exekutive Funktionen wahrnimmt. Weniger einschneidend erweist sich nun aber (jedenfalls konzeptionell1138) die Problematik, die aufgrund der alten Regelung im Verhältnis zum Parlament bestand: Nämlich dass einer von zwei Gesetzgebern (der Rat) die Rolle des anderen Gesetzgebers umgehen konnte, indem er sich selbst zur Durchführung ermächtigte und als Durchführung Änderungen am Basisrechtsakt oder andere, eigentlich dem Gesetzgeber zustehende Ergänzungen vornahm. Art. 291 Abs. 2 AEUV erlaubt solche quasi-legislativen Ergänzungen und Änderungen des Basisrechtsakts nämlich nicht; diese ist der delegierten Rechtsetzung vorbehalten, bei der keine Rolle für den Rat vorgesehen ist. Dass der Rat als einer von zwei Gesetzgebern als Durchführungsmaßnahmen allein Maßnahmen erlässt, die eigentlich beiden Gesetzgebern obliegen und so das Parlament ausschaltet, ist damit in der Konzeption von Art. 291 AEUV nicht mehr angelegt.1139 Und dass grundsätzlich dem Rat als der „collectivity“1140 der Mitgliedstaaten bei der – grundsätzlich den Mitgliedstaaten obliegenden Durchführung – eine bedeutsamere Rolle eingeräumt ist als dem Parlament als „wirklich rein unionalem“ Organ, ist jedenfalls aus einem politisch-praktischen (wenn schon nicht aus einem streng juristischen) Blickwinkel gerechtfertigt. 1136

EuGH Rs. C-16/88 (Kommission/Rat), Slg. 1989, 3457; EuGH, Rs. C-257/01 (Kommission/Rat), Slg. 2005, I-345 Rn. 52 f. Der EuGH ließ hier als Begründung gelten, dass die Mitgliedstaaten auf den Gebieten Visa und Überwachung der Grenzen „eine wichtige Rolle“ hätten und diese Bereiche von „besonderer Sensibilität“ seien, insbesondere hinsichtlich der politischen Beziehungen zu den Drittländern. 1137 s. zu den Friktionen bei einer Autodelegation des Rates auf Grundlage des Art. 202 EGV, s. oben unter § 1 C. III. 1138 Ob es hier tatsächlich nicht doch zu Friktionen kommen wird, die daher rühren, dass der Rat die Befugnisübertragung gemäß Art. 291 AEUV einer Delegation gemäß Art. 290 AEUV vorzieht, weil er hier gegenüber dem Parlament eine hervorgehobene Rolle wahrnimmt, ist eine andere Frage. Es ist jedenfalls nicht unwahrscheinlich, dass der Rat bei Fragen, in denen die Einordnung der übertragenen Befugnisse als „quasi-legislativ“ oder „Durchführungs­ befugnisse“ nicht ganz klar ist, eher zur Anwendung des Art. 291 AEUV tendieren wird, s. etwa die Haltung des Rates zur Richtlinie 2010/75/EU, bei der er – anders als die Kommission – als Rechtsgrundlage für bestimmte Maßnahmen für Art. 291 AEUV anstatt für Art. 290 AEUV plädierte, s. dazu KOM(2010)67 endg., S. 6 f. 1139 s. Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (123), der jedwede Rolle des Euro­ päischen Parlaments bei der Durchführung für zweifelhaft hält, „given that they [291 TFEU matters] are meant to be about ‚pure implementation‘, and therefore of concern for the ­Member States either in their individual guise, or through the collectivity of the Council.“ 1140 s. Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (123).

§ 5 Kontrolle über Durchführungsrechtsakte

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§ 5 Kontrolle über Durchführungsrechtsakte A. Kontrolle durch die Mitgliedstaaten I. Parallelität von „Eingriffsbetroffenheit“ und Kontrollrechten Die Friktionen treten nach der Konzeption des AEUV im Rahmen des Art. 291 AEUV im vertikalen und – anders als bei Art. 290 AEUV – in erster Linie nicht im horizontalen Verhältnis auf. Erlässt die Union durch die Kommission Durchführungsakte, stellt sich dies als Übergriff in die mitgliedstaatliche Zuständigkeit dar.1141 Konsequenterweise verortet Art. 291 Abs. 3 AEUV die Kontrolle über die unionalen Durchführungsbefugnisse bei den Mitgliedstaaten. Zum Zwecke dieser Kontrolle bestimmt die Vorschrift weiter, dass Rat und Parlament gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnung im Voraus allgemeine Regeln und Grundsätze festlegen, nach denen die Mitgliedstaaten die Wahrnehmung der Durchführungsbefugnisse durch die Kommission kontrollieren. Art. 291 Abs. 3 AEUV löst damit Art. 202 EGV als Ermächtigungsgrundlage für das Komitologiewesen ab. Dabei konzipiert Art. 291 Abs. 3 AEUV die Komitologie klar als eine Form der Kontrolle durch die Mitgliedstaaten. Betont wird so die Funktion der Komitologie als einer Ausprägung integrierter Verwaltung1142: Die Regeln zur Durchführung des Gemeinschaftsrechts erlässt die Kommission als Organ der Union unter enger Abstimmung mit Vertretern der Mitgliedstaaten. Dies wiederum dient der besseren Umsetzbarkeit der Regelungen in den Mitgliedstaaten und ihrer Akzeptanz.1143 II. Die Komitologieverordnung Am 16.  Februar 2011 haben Rat und Parlament  – entsprechend den Anforderungen des Art.  291 Abs.  3 AEUV  – im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Verordnung erlassen, die das Verfahren der Kontrolle durch die Mitgliedstaaten ausarbeitet.1144 Wie der alte Komitologiebeschluss dienen aus Vertreten der Mitgliedstaaten zusammengesetzte Ausschüsse als Mittel der Kontrolle durch die Mitgliedstaaten. Die neue Komitologieverordnung beschränkt – im Interesse von Entschlackung und Transparenz1145 – die anwendbaren Komitologieverfahren auf zwei: Das Beratungs- und das Prüfverfahren. Das Beratungsverfahren ist der Regelfall der neuen Komitologie; das Prüfverfahren findet nur Anwendung, wenn bestimmte Kriterien vorliegen, die auf ein besonderes Interesse der Mitglied­ 1141

Vgl. KOM 2010(83) endg., S. 2. Schütze, CMLRev. 2010, 1385 (1423). 1143 Zu dieser Funktion der Komitologie, s. schon oben unter § 1 C. II. 1.  1144 VO (EU) Nr. 182/2011. 1145 Koch, EU-Verordnung Ausschussverfahren, S. 3. 1142

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

staaten an einer durchschlagenden Kontrolle der Durchführungsrechtsetzung hinweisen.1146 Beiden Verfahren ist – wie den bisherigen Formen der Komitologie – gemein, dass die Kommission den Entwurf ihres Durchführungsrechtsaktes einem Ausschuss vorlegen muss. Das Beratungsverfahren, das sich stark an das bisherige Verfahren gleichen Namens anlehnt1147, betrifft die weniger „sensiblen“ Bereiche und gilt immer dann, wenn das Prüfverfahren nicht einschlägig ist. Weil die Bedeutung der im Beratungsverfahren erlassenen Durchführungsrechtsakte entsprechend geringer ist, stellt es nur bescheidene verfahrensrechtliche Anforderungen für den Erlass eines Durchführungsrechtsaktes auf.1148 Die Beratungsausschüsse entscheiden mit einfacher Mehrheit. An die Stellungnahmen der Ausschüsse ist die Kommission nicht strikt gebunden. Sie beschließt unabhängig von der Stellungnahme des Ausschusses über den Durchführungsrechtsakt. Die Kommission muss die Stellungnahme und das Ergebnis der Beratungen im Ausschuss lediglich „soweit wie möglich“ berücksichtigen.1149 Ein Beratungsausschuss hat demnach nicht die Rechtsmacht, einen Durchführungsrechtsakt der Kommission zu verhindern; allenfalls politischer Druck könnte die Kommission dazu veranlassen, eine von einem Beratungsausschuss abgelehnte Maßnahme nicht zu erlassen.1150 Die demgegenüber weitergehenden Anforderungen des Prüfverfahrens müssen eingehalten werden, wenn Durchführungsakten „potenziell bedeutende Auswirkungen“ zukommen.1151 Für solchermaßen bedeutsam und auswirkungsträchtig hält die neue Komitologieverordnung Durchführungsrechtsakte „von allgemeiner Tragweite“ sowie Durchführungsakte zur Durchführung von Programmen mit wesentlichen Auswirkungen; weiter Durchführungsakte in den Gebieten der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik und der Besteuerung sowie Durchführungsakte mit Bezug auf die Umwelt, Sicherheit oder den Schutz der Gesundheit oder der Sicherheit von Menschen, Tieren und Pflanzen.1152 Das Prüfverfahren stellt sicher, dass die Kommission Durchführungsrechtsakte nicht entgegen einer ablehnenden Stellungnahme der Ausschüsse erlassen kann. Nur wenn der Ausschuss mit qualifizierter Mehrheit den Vorschlag der Kommission gutheißt, kann die Maßnahme immer erlassen werden.1153 Gibt der Ausschuss keine Stellungnahme ab, kann die Kommission ihren Durchführungsrechtsakt durchsetzen, sofern der Basisrechtsakt den Erlass des Durchführungsrechtsakts nicht von einer Stellungnahme 1146

Koch, EU-Verordnung Ausschussverfahren, S. 3 f. Scharf, BZTW, Heft 101 (12/2010), S. 14; Kaeding/Hardacre, EIPA Leitfaden, S. 20. 1148 Vgl. Erwägungsgrund 10 VO (EU) Nr. 182/2011: „Im Hinblick auf eine stärkere Kohärenz sollten die verfahrensrechtlichen Anforderungen in einem angemessenen Verhältnis zur Art und zu den Auswirkungen der zu erlassenden Durchführungsrechtsakte stehen.“ 1149 Art. 4 Abs. 2 VO (EU) Nr. 182/2011. 1150 Koch, EU-Verordnung Ausschussverfahren, S. 4. 1151 s. Erwägungsgrund 11 der VO (EU) Nr. 182/2011. 1152 Art. 2 Abs. 2 VO (EU) Nr. 182/2011. 1153 Art. 5 Abs. 2 VO (EU) Nr. 182/2011. 1147

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abhängig gemacht hat und sofern der Rechtsakt nicht die Besteuerung, Finanzdienstleistungen, den Schutz der Gesundheit oder der Sicherheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen oder endgültige multilaterale Schutzmaßnahmen betrifft.1154 Lehnt der Ausschuss einen Durchführungsrechtsakt ab, kann die Kommission außer in Notfällen1155 ihre Maßnahme nicht ergreifen. Obwohl die Ausschüsse grundsätzlich mit qualifizierter Mehrheit entscheiden1156, gilt dies auch dann, wenn der Ausschuss die Ablehnung nur mit einfacher Mehrheit ausspricht.1157 Auch die neue Komitologieverordnung enthält Regeln, die die Transparenz des Ausschusswesens gewährleisten sollen. Jährlich muss die Kommission einen Bericht über die Tätigkeit der Ausschüsse veröffentlichen. Überdies unterhält die Kommission ein Register über die Tätigkeit der Ausschüsse, in dem Informa­ tionen, wie etwa die Tagesordnungen oder Abstimmungsergebnisse, von Rat und Parlament und der Öffentlichkeit abgefragt werden können.1158 Außerdem erhalten Rat und Parlament bestimmte Dokumente, insbesondere die von der Kommission vorgelegten Entwürfe zu Durchführungsmaßnahmen, zur selben Zeit wie die zuständigen Ausschüsse.1159 Rat und Parlament können auf Grundlage dieser Informationen überdies stets darauf hinweisen, wenn ihrer Ansicht nach der Entwurf eines Durchführungsaktes über die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durch­ führungsbefugnisse hinausgeht.1160 III. Bewertung Der Beschluss setzt die Vorgaben des Art. 291 Abs. 2 AEUV, wonach die Kontrolle bei den Mitgliedstaaten angesiedelt ist, grundsätzlich konsequent um.1161 Während die Beratungsausschüsse  – ihrem Namen entsprechend  – lediglich beratende Funktionen wahrnehmen, bestimmen Prüfausschüsse selbst unmittelbar über den Erlass einer vorgeschlagenen Durchführungsmaßnahme. Anders als bisher bewirkt eine ablehnende Stellungnahme nicht, dass der Entwurf eines Durchführungsaktes wieder auf dem Tisch des Gesetzgebers – vor allem des Rates im Verwaltungs- und Regelungsverfahren – landet. Der Prüfausschuss kann vielmehr selbst unmittelbar den Erlass eines Durchführungsrechtsaktes verhindern.1162 Keiner der Gesetzgeber kann – über das Bekunden von Zweifeln an der Rechtmäßigkeit hinaus – in den Prozess der Durchführung hineinfunken. 1154

Art. 5 Abs. 4 UAbs. 2 lit. a und lit. b VO (EU) Nr. 182/2011. Art. 7 VO (EU) Nr. 182/2011. 1156 Art. 5 Abs. 1 VO (EU) Nr. 182/2011. 1157 Art. 5 Abs. 4 UAbs. 2 lit. c VO (EU) Nr. 182/2011. 1158 Art. 10 Abs. 1 VO (EU) Nr. 182/2011. 1159 Art. 10 Abs. 4 VO (EU) Nr. 182/2011. 1160 Art. 11 VO (EU) Nr. 182/2011. 1161 Zur Frage, ob das in Art. 11 VO (EU) Nr. 182/2011 normierte Kontrollrecht von Rat und Parlament mit den primärrechtlichen Vorgaben vereinbar ist, s. sogleich unten unter § 5 B. III. 1162 Art. 5 Abs. 3 VO (EU) Nr. 182/2011; dazu Koch, EU-Verordnung Ausschussverfahren, S. 4. 1155

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

Bedauert wird bisweilen, dass die Kriterien, die über die anwendbaren Verfahren entscheiden („allgemeine Tragweite“, „zweckmäßig“) ebenso wie die Kriterien, die der Kommission erlauben, eine Durchführungsmaßnahme ausnahmsweise entgegen einer ablehnenden Stellungnahme eines Ausschusses zu verwirklichen (in „außergewöhnlichen Umständen“), eher unbestimmter Natur sind. Befürchtet wird insoweit, dass die Kommission „übergroße Ermessensspielräume“ auf Kosten der Mitgliedstaaten erhält.1163

B. Zur Rolle von Rat und Parlament I. Erlass der Komitologieverordnung Art. 291 Abs.  3 AEUV erklärt Rat und Parlament gemeinsam für zuständig, im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die Verordnung zu erlassen, nach der die Mitgliedstaaten ihre Kontrollrechte ausüben. Rat und Parlament sind also auch hier gleichberechtigt. Für das Parlament bedeutet dies eine weitere Aufwertung1164: Den bisherigen Komitologiebeschluss, an dessen Stelle die Verordnung nach Art. 291 Abs. 3 AEUV tritt1165, erließ entsprechend den Vorgaben des Art. 202, 3. Spiegelstrich EGV allein der Rat. Außer der Ermächtigung zum Erlass der Komitologieverordnung sieht Art. 291 AEUV keine Rolle für Rat und Parlament bei der Kontrolle der Durchführung durch die Kommission vor. Bleibt es bei diesem Befund? Oder ergibt sich aus allgemeinen Grundsätzen, dass Rat und Parlament bei der Kontrolle der Durchführung ein Wörtchen mitzureden haben? II. Ex-ante-Kontrolle: Übertragung des Wesentlichkeitsvorbehalts? Wie bei Art. 290 AEUV geht es bei Art. 291 AEUV um die „Übertragung“1166 von Befugnissen. Der Unterschied liegt darin, dass sich Art. 290 AEUV auf die Übertragung von Befugnissen bezieht, die eigentlich dem Gesetzgeber zustehen,

1163

s. zu dieser Kritik im Einzelnen Koch, EU-Verordnung Ausschussverfahren, S. 4. Dougan, CMLRev. 2008, 617 (650), krit. dazu Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (123), der jedwede Rolle des Europäischen Parlaments bei der Durchführung für zweifelhaft hält, „given that they [291 TFEU matters] are meant to be about ‚pure implementation‘, and therefore of concern for the Member States either in their individual guise, or through the collectivity of the Council.“ 1165 Vgl. Erwägungsgrund 21 der VO (EU) Nr. 182/2011. 1166 Obgleich der Charakter der Übertragung grundverschieden ist. Bei der Delegation geht es um eine echte Übertragung, also um eine Delegation von Befugnissen; bei Art. 291 AEUV wird lediglich die Verbandskompetenz der Union „aktiviert“, s. dazu schon oben § 4 C. I. 1.  1164

§ 5 Kontrolle über Durchführungsrechtsakte

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während Art. 291 AEUV Befugnisse betrifft, die bei natürlichem Gang der Dinge – d. h. ohne die Übertragung auf die Kommission  – von den Mitgliedstaaten aus­ geübt würden.1167 Trotz der unterschiedlichen Eingriffssituationen – einmal findet ein Eingriff in den legislativen Bereich, das andere Mal ein Eingriff in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten statt – kann es bei der Übertragung von Durchführungs­ befugnissen auch im horizontalen Verhältnis zu Friktionen kommen: Die Entscheidung darüber, ob und „wie viele“ Durchführungsbefugnisse übertragen werden, fällt im jeweiligen Basisrechtsakt, sie wird also durch ein Organ der Union getroffen und nicht durch die Mitgliedstaaten, denen die Befugnisse eigentlich obliegen. Eine Übertragung von Durchführungsbefugnissen hat daher nie nur vertikale Bedeutung, sondern bestimmt auch über die horizontale Zuständigkeitsverteilung: Je mehr an Durchführungsbefugnissen übertragen wird, desto weniger regelt das für den Basisrechtsakt zuständige Organ selbst. Deutlich wird dies etwa dann, wenn – als verdeutlichender Extremfall – im Basisrechtsakt ausschließlich Begriffe unbestimmten Inhalts verwendet würden, deren „Konkretisierung“ einem Durchführungsakt überlassen würde. Der Basisrechtsakt regelte dann inhaltlich nur sehr wenig oder gar nichts, der Durchführungsakt umso mehr. Insoweit stellt sich folgende Frage: Darf sich ein Basisrechtsakt unbegrenzt inhaltlich ins Detail gehender Regelungen enthalten und Befugnisse als „Durchführungs­befugnisse“ auf die Kommission übertragen? Der Wortlaut gibt insoweit nichts her. Anders als Art.  290 AEUV normiert Art.  291 AEUV nicht, dass bestimmte wichtige  – „wesentliche“  – Regelungs­ bereiche dem Basisrechtsakt vorbehalten sein müssen.1168 Der Befund ist derselbe wie auf Grundlage der bisherigen Regelung in Art. 202 EGV: Allenfalls der schwammige Begriff der Durchführung könnte eine Grenze zwischen übertragbaren und nicht übertragbaren Befugnissen ziehen. Einen ausdrücklichen Vorbehalt des Basisrechtsakts wie Art.  290 AEUV formuliert Art.  291 AEUV aber ebenso wenig wie der frühere Art. 202 EGV. Dies schließt es nicht aus, aus allgemeinen Erwägungen der Möglichkeit der Befugnisübertragung gemäß Art. 291 AEUV Schranken zu setzen. Schließlich geschah dies schon auf Grundlage des alten Art.  202 EGV. Dort fand die „Wesentlichkeitsrechtsprechung“ des EuGH Anwendung: Die wesentlichen Grundentscheidungen mussten im jeweiligen Basisrechtsakt getroffen werden. Dies galt dabei für alle Formen der Durchführungsbefugnisse, gleich ob sie eher legislativer oder eher exekutiver Natur waren.1169 Hintergrund dieser Wesentlichkeitsrechtsprechung war das institutionelle Gleichgewicht. Die primärrechtlich angeordnete Zuständigkeitsverteilung zwischen den Organen durfte nicht durch zu weitgehende Befugnisübertragungen ausgehebelt werden.

1167

s. KOM(2010) 83, S. 2. Dies bedauernd Hofmann, ELJ 2009, 482 (488). 1169 Zum uneindeutigen Charakter der Durchführungsbefugnisse gemäß Art. 202 EGV s. oben unter § 1 C. 1168

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

Jedenfalls der so verstandene Wesentlichkeitsvorbehalt muss für die Durchführungsrechtsetzung ebenso gelten wie nach altem Recht. Die Übertragung von Durchführungsbefugnissen wirkt sich immer auch auf das horizontale Verhältnis zwischen den Organen aus. Die Motive, die auf Grundlage der Regelung des Art. 202 EGV zur Entwicklung einer „Wesentlichkeitstheorie“  – ebenfalls ohne ausdrückliche Erwähnung im Vertragstext  – führten, beanspruchen für die Neuregelung gleichermaßen Geltung. Es gilt: Solche Bestimmungen, durch die die grundsätzlichen Ausrichtungen der Gemeinschaftspolitik umgesetzt werden, können nicht als Durchführungsbefugnisse übertragen werden.1170 Für eine Übertragung des Wesentlichkeitsvorbehalts aus Art. 290 AEUV streitet auch der begrenzte Zweck von Durchführungsvorschriften. Diese sollen lediglich einen einheitlichen Vollzug gewährleisten. Sie setzen also bereits grundsätzlich „vollzugsfertiges“ Unionsrecht voraus, wenngleich der Normierungsspielraum der Kommission angesichts der oben beschriebenen Bandbreite an möglichen Durchführungsbefugnissen nicht zwingend nur gering ist.1171 Die grundsätzliche Vollzugsfertigkeit impliziert, dass die wesentlichen Grundzüge bereits geregelt sind. Der Erlass von Regelungen, die aufgrund exzessiven Gebrauchs unbestimmter Rechtsbegriffe inhaltsleer werden und in zu weitgehender Weise auf die Konkretisierung durch Durchführungsakte angewiesen sind, ist daher ausgeschlossen. Verwaltungsmaßnahmen, die von der Kommission als Durchführungsrechtsakte erlassen werden, unterliegen ebenfalls einem Wesentlichkeitsvorbehalt. Schon bisher wurde zuweilen die Kompetenz der Kommission bezweifelt, als Durchführungsmaßnahme Agenturen zu gründen.1172 Legt man den Wesentlichkeitsmaßstab an die Gründung einer Agentur als Maßnahme zur Durchführung von Gemeinschaftsrecht an, muss in der Tat gelten, dass die Kommission nicht über sämtliche Kautelen der Agentur selbst befinden darf: Die wesentliche Ausrichtung der Gemeinschaftspolitik muss eben bereits im Basisrechtsakt festgelegt sein. Und die Gründung einer neuen rechtsfähigen Einrichtung dürfte eine solche wesentliche Entscheidung sein.1173 Allerdings haben Rat und Parlament hier Abhilfe geschaffen und eine Rahmenverordnung erlassen, die horizontal für alle von der Kommission zu gründenden Exekutivagenturen einen Rahmen feststeckt: Die Verordnung zur Festlegung des Status von Exekutivagenturen1174 bestimmt wesentliche Aspekte der Struktur, der Aufgaben, der Arbeitsweise, des Haushalts, des Per-

1170 So die bisherige Wesentlichkeitsrechtsprechung, s. etwa EuGH, Rs. C-240/90 (BRD/ Kommission), Slg. 1992, I-5383 Rn. 37. 1171 Von im Vergleich zu Art. 290 AEUV zumindest geringeren Normierungsspielräumen geht aber aus Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081). 1172 Fischer-Appelt, Agenturen der EG, S. 84 ff., allerdings ohne Bezugnahme auf die Wesentlichkeitsrechtsprechung. 1173 Fischer-Appelt, Agenturen der EG, S. 85, mit Bezug auf einen institutionellen Gesetzesvorbehalt, der in vielen Rechtsordnungen gelte; s. auch die Erwägungen bei Triantafyllou, Vom Vertrags- zum Gesetzesvorbehalt, S. 262 ff. 1174 VO (EG) Nr. 58/2003.

§ 5 Kontrolle über Durchführungsrechtsakte

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sonals und der Kontrolle künftiger Exekutivagenturen.1175 Sie sieht vor, dass die Kommission im Komitologieverfahren Exekutivagenturen gründen kann.1176 Sofern sich die Agenturgründungen der Kommission in diesem Rahmen bewegen, die Gründungs­beschlüsse der Kommission also auf diese Verordnung verweisen, ist dem Gebot, das Wesentliche nicht den Durchführungsmaßnahmen der Kommission zu überlassen, Genüge getan.1177 Ist  – weitergehend  – auch der in Art.  290 AEUV normierte Wesentlichkeits­ vorbehalt auf Art. 291 AEUV übertragbar? Nach hier vertretener Auffassung unterscheidet sich der Wesentlichkeitsvorbehalt des Art.  290 AEUV von der auf Grundlage der bisherigen Verträge entwickelten „Wesentlichkeitsrechtsprechung“. Weil gemäß Art. 290 AEUV nur in Gesetzgebungsakten die Befugnis zur Änderung oder Ergänzung übertragen werden kann, führt eine Delegation automatisch zu einem Absinken des demokratischen Legitimationsniveaus der betroffenen Regelung. Deshalb muss der Respekt vor dem demokratischen Instrument des Gesetzgebungsaktes die Auslegung des Begriffs der Wesentlichkeit in Art. 290 AEUV bestimmen. Ein entsprechendes Absinken im Legitimationsniveau einer Regelung findet aber ebenfalls statt, wenn Durchführungsbefugnisse durch einen Gesetz­ gebungsakt übertragen werden. Aus diesem Grund spricht viel dafür, die Wesentlichkeit in diesem Fall – wenn also der Basisrechtsakt ein Gesetzgebungsakt ist – wie in Art. 290 AEUV zu verstehen und den Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes auf Art. 291 AEUV zu übertragen. Davon, dass auf Grundlage des Art. 291 in jedem Fall keine weitergehende Übertragung zulässig ist als i. R. d. Art. 290 AEUV ging ersichtlich die Working Group IX aus, die die Durchführungsakte in der Normen­ hierarchie noch unterhalb der delegierten Rechtsakte einordnete.1178 Ebenso plädiert eine Vielzahl der Autoren für eine entsprechende Anwendung der Delegationsgrenzen des Art. 290 AEUV auf die Übertragung von Durchführungsbefugnissen1179; wobei hier allerdings viele den Wesentlichkeitsvorbehalt des Art. 290 AEUV lediglich als Bezugnahme auf die alte Wesentlichkeitsrechtsprechung des EuGH verstehen.1180 Ob sich ein solches Verständnis als Ausprägung eines allgemeinen Legislativ­vorbehalts durchsetzen kann, ist allerdings angesichts von Inkonsisten-

1175 Rechtsgrundlage dieser Verordnung war die Kompetenzergänzungsklausel des Art.  308 EGV (jetzt: Art. 352 AEUV). Der obigen Erkenntnis, dass Rechtsgrundlage für Verwaltungsmaßnahmen grundsätzlich die eigentlich einschlägige materielle Befugnisnorm ist, steht das nicht entgegen. Denn die VO (EG) Nr. 58/2003 regelt sachgebietsübergreifend und horizontal – also für eine Vielzahl von Fällen – die Errichtung von Agenturen. Der Bezug zu einer bestimmten Ermächtigung des Primärrechts fehlt also. Möglich ist eine solche sachgebietsübergreifende Regelung nur auf Grundlage von Art. 308 EGV. 1176 Art. 3, 24 VO (EG) Nr. 58/2003. 1177 Sydow, Verwaltungskooperation, S. 69. 1178 CONV 424/02, S. 9; dazu s. Craig, in: Tridimas/Nebbia, EU Law for the 21st Century, S. 75 (85). 1179 Hofmann, ELJ 2009, 482 (488); Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 141. 1180 So etwa Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, § 11 Rn. 141.

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Teil 2: Die Formen abgeleiteter Rechtsetzung nach dem Lissabon-Vertrag 

zen im Zusammenhang mit der primärrechtlichen Einordnung von Rechtsetzungsbefugnissen als legislative bzw. nicht-legislative Kompetenzen nicht gesichert.1181 III. Weitergehende Kontrollrechte Art. 291 Abs. 3 AEUV spricht von der Kontrolle durch die Mitgliedstaaten. Die Verordnung, die das Verfahren und die Einzelheiten der Kontrolle festlegt, wird indes von Rat und Parlament – also von Organen der Union – erlassen. Dürften der Rat und vor allem das Parlament sich in dieser Verordnung Kontrollrechte vorbehalten? Art. 291 Abs. 3 AEUV verankert die Kontrolle über die Durchführung exklusiv bei den Mitgliedstaaten. Die Verträge nehmen grundsätzlich mit einer ausdrücklichen Zuweisung von Zuständigkeiten eine ausschließliche Zuständigkeitsverteilung vor, die über den Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts gegen Ab­ änderungen geschützt ist.1182 Daneben spricht die Funktion des Art.  291 AEUV gegen (besondere) Kontrollrechte von Rat und Parlament über die Durchführung: Mit der Ausübung ist eine Tätigkeit betroffen, die eigentlich den Mitgliedstaaten obliegt und die nur ausnahmsweise auf unionaler Ebene wahrgenommen wird. Die Ansiedlung der Kontrollrechte nur bei den Mitgliedstaaten als Eingriffsbetroffenen ist daher ein Gebot der Folgerichtigkeit; „certain supervisory powers“ für Rat und Parlament sind damit grundsätzlich unvereinbar.1183 Zudem geht es bei der Durchführung konzeptionell um die exekutive (bzw. gubernative)  Umsetzung von bereits Entschiedenem. Eine Beteiligung insbesondere des Parlaments scheint damit schon aus Gründen der Gewaltenteilung nicht geboten.1184 Der Gegenansicht1185 ist aber im Ergebnis zuzugeben, dass die Kommission, nimmt sie Durchführungsbefugnisse wahr, zwar in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten eingreift, zugleich aber als Exekutivorgan der Europäischen Union handelt. In dieser Rolle ist sie – wie bei all ihrem Tun – der Kontrolle des Europäischen Parlaments unterworfen (Art. 14 Abs. 1 EUVn). Überdies gilt auch im Europarecht der allgemeine Grundsatz, dass der Gesetzgeber, der sich aus Rat und Parlament zusammensetzt, Kontrolle über die Exekutive übt, wenn sie das von ihm gesetzte Recht anwendet. Unter diesem Blickwinkel scheint es bereits aus allgemeinen Erwägungen legisla­tiver Kontrolle gerechtfertigt, dass Rat und Parlament die Ausübung der 1181

s. dazu unten § 7.  Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (42 f.); Craig, in: Griller/Ziller, 109 (123); vgl. hierzu die Rechtsprechung des EuGH, Rs. 138/79 (Roquette Frères), Slg. 1980, 3333; EuGH, Rs 139/79 (Maizena/Rat), Slg. 1980, 3393. 1183 Möllers/von Achenbach, EuR 2011, 39 (43); Gundel, JA 2008, 910 (912). Auch die Kommission teilt diese Ansicht, s. KOM(2010) 83, S. 5; a. A. Hofmann, ELJ 2009, 482 (500). 1184 So Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Recht der EU, Art. 291 AEUV Rn. 44. 1185 Hofmann, ELJ 2009, 482 (500). 1182

§ 5 Kontrolle über Durchführungsrechtsakte

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Durchführungsbefugnisse durch die Kommission überwachen und Bedenken hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit anmelden dürfen.1186 Unbedenklich ist daher, dass Erwägungsgrund 18 der VO Nr.  182/2011 vorsieht, dass Rat und Parlament die Kommission jederzeit darauf hinweisen können, dass der Entwurf eines Durchführungsrechtsakts ihres Erachtens die im Basisrechtsakt vorgesehenen Durchführungsbefugnisse überschreitet. Ausdrücklich rekurriert der Erwägungsgrund auf die allgemeinen Rechte von Rat und Parlament „im Zusammenhang mit der Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Rechtsakten der Union“. Insoweit handelt es sich nämlich um nichts anderes als die allgemeine Rechtmäßigkeitskontrolle der Legislative über das Handeln der Exekutive. Allerdings erstaunt, warum Art. 11 der VO Nr. 182/2011 als die Vorschrift, die die Kontrollrechte von Rat und Parlament konkret anordnet, nur auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Bezug nimmt. Sollen also Durchführungsvorschriften, die auf der Grundlage von Basisrechts­ akten, für die das besondere Gesetzgebungsverfahrens vorgesehen war, von der allgemeinen legislativen Rechtmäßigkeitskontrolle von Rat und Parlament ausgeschlossen sein? Möglicher Hintergrund für diese überraschende Einschränkung ist die Debatte in den parlamentarischen Ausschüssen. Dort wurde die Übernahme des Art. 8 aus dem bisherigen Komitologiebeschluss propagiert.1187 Art. 8 des Komitologiebeschlusses nahm indes nur Bezug auf Art. 251 EGV, also auf im Mit­ entscheidungsverfahren ergangene Basisrechtsakte.1188

1186 Darauf macht etwa der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des Europäischen Parlaments in seiner Stellungnahme vom 23.6.2010 zu dem Kommissionsentwurf aufmerksam, s. KOM(2010)0083 – C7-0073/2010 – 2010/0051(COD), Berichterstatterin Gabriele Albertini. 1187 So etwa der Ausschuss für den Binnenmarkt und Verbraucherschutz in seiner Stellungnahme vom 3.6.2010, KOM(2010)0083 – C7-0073/2010 – 2010/0051(COD), Berichterstatter Louis Grech. 1188 Vielleicht ist die Betonung des und die Beschränkung auf das ordentliche Gesetz­ gebungsverfahren aber auch entlarvend: Das besondere Gesetzgebungsverfahren verwirklicht die Funktionen (formeller) Gesetzgebung eben nicht in gleichem Maße wie das ordentliche Gesetzgebungsverfahren. Es scheint, als sähen sich Rat und Parlament im besonderen Gesetz­ gebungsverfahren selbst nicht „wirklich“ als Legislativorgane, zu den Defiziten der besonderen Gesetzgebungsverfahren s. noch unten § 7 A. II. 1. 

Teil 3

Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte in das System der Rechtsakte und Gesamtbewertung § 6 Abschließende Gegenüberstellung und Bewertung der Konzepte A. Die Unterscheidung zwischen Delegation und Durchführung Die Unterscheidung von delegierten Rechtsakten und Durchführungsrechts­ akten klärt das bisher doppeldeutige Konzept der Durchführung, wie es in Art. 202, 3. Spiegelstrich Niederschlag gefunden hatte: Die Übertragung von (quasi-)legislativen Befugnissen und die Zuweisung von exekutiven Zuständigkeiten werden nun unterschiedlichen Regimen unterstellt. Insbesondere die unterschiedlichen Kontrollrechte bringen die grundlegende Trennung von legislativen und exekutiven Befugnissen zum Ausdruck. Gerade mit Blick auf die unterschiedliche Kautelen, denen die Übertragungen nach Art. 290 und 291 AEUV jeweils unterliegen, stellt sich aber die Frage: Lassen sich beide Arten von Befugnissen überhaupt so genau unterscheiden, dass sich mit Bestimmtheit sagen lässt, welches Kontroll­ regime und welche Sicherungen im konkreten Fall Anwendung finden?1189 Recht einfach lässt sich eine Unterscheidung treffen, wenn es um die Befugnis zum Erlass von Einzelakten geht: Hierfür ist allein die Durchführung das geeignete Instrument. Delegierte Rechtsakte sind nur als Regelungen „mit allgemeiner Tragweite“ zulässig, „delegierte Einzelakte“ mithin ausgeschlossen. Klar ist außerdem der Fall, in dem die Übertragung von Befugnissen durch einen Rechtsakt ohne Gesetzescharakter angeordnet werden sollte: Auch hier steht allein das Mittel der Durchführung zur Verfügung. Delegierte Rechtsakte dürfen nur auf Grundlage eines Gesetzgebungsaktes ergehen. Die Möglichkeit, die Kommission zur Änderung eines Basisrechtsakts zu ermächtigen, ist hingegen dem Instrument der Delegation vorbehalten. Übrig bleiben die Fälle, in denen die Kommission beauftragt wird, Regelungsbestandteile eines Gesetzgebungsaktes weiter zu konkretisieren. Sowohl die Delegation als auch die Durchführung kommen hier als potentiell taugliche Instrumente in Betracht: Durch die Ermächtigung zum Erlass eines delegierten Rechtsaktes kann die Kommission schließlich mit der Ergänzung eines 1189

Pessimistisch Edenharter, DÖV 2011, 645 (649 f.).

§ 6 Abschließende Gegenüberstellung und Bewertung der Konzepte 

237

Rechtsaktes betraut werden; das Instrument der Durchführung erlaubt gleichfalls, den Vollzug durch bessere Normkonkretisierung stärker zu steuern. Wie lassen sich aber legislative Ergänzung und exekutive Normkonkretisierung voneinander abgrenzen?1190 Praktisch werden dies die Fälle sein, in denen es zu interinstitutionellen Streitigkeiten um die richtige Übertragungsform kommen wird.1191 Abstrakt lässt sich der Unterschied wie folgt erklären: Art. 290 AEUV betrifft Maßnahmen, die der Gesetzgeber selbst hätte treffen können, die er aber nicht getroffen hat, sondern die er der Kommission überlässt. Ergänzung heißt also selbständige Rechtsetzung durch die Kommission: Einem noch nicht voll­ständig geregelten Komplex wird ein neuer Regelungsbestandteil hinzugefügt. Exekutive Normkonkretisierung hingegen setzt eine eigentlich vollständige Regelung voraus. Der Gesetzgeber hat also die Regelung bereits getroffen. Der durch die vollständige Regelung gesetzte Rahmen wird durch die konkretisierenden Vorschriften lediglich ausgefüllt; zudem kann ein Durchführungsakt Regelungen enthalten, wie ein Rechtsakt praktisch umzusetzen ist (Durchführung als „Anwendbarmachen“). Ein delegierter Rechtsakt vergrößert einen Regelungskomplex in der Breite; ein Durchführungsrechtsakt verändert an der Breite der Regelung nichts, sondern erklärt die bestehende Regelung oder formuliert Anwendungsregeln.1192 Weiterführend ist vielleicht das Bild eines Röhrensystems: Mit Hilfe eines delegierten Rechtsaktes kann die Kommission das System um ein Teilstück ergänzen; ein Durchführungsakt verengt das Rohr innen, so dass der Fluss durch das Rohrsystem in präzisere Bahnen gelenkt wird, oder er formuliert „Verkehrsregeln“, die innerhalb des Röhrensystems gelten sollen. Diese abstrakten Vorgaben in der Praxis möglichst konfliktfrei umzusetzen, wird sich als schwierig erweisen. Bereits die Art und Weise der Formulierung im Basisrechtsakt könnte mitbestimmen, welche Kategorie abgeleiteter Rechtsetzung einschlägig sein soll. Soll die Kommission den Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen“ genauer bestimmen, so scheint dies eher auf den Erlass eines Durchführungsaktes hinzuweisen. Ermächtigt der Basisrechtsakt die Kommission hingegen, Grenzwerte für bestimme Emissionen zu erlassen, ohne selbst einen Oberbegriff wie „schädliche Umwelteinwirkungen“ vorzugeben, klingt dies, als sei die Kommission befugt, selbst ein Teilstück zu einer Regelung hinzu­zufügen. Indes unterscheidet sich der rechtliche Rahmen, innerhalb dem die Kommission tätig werden darf, in beiden Fällen nicht: Ist sie doch durch den weiten Begriff der „schädlichen Umwelteinwirkungen“ kaum mehr determiniert, als durch allgemeine Grundsätze des Umwelt- bzw. Gesundheitsschutzes. So mag es theoretisch also zutreffen, dass sich delegierte und Durchführungsrechtsakte gegenseitig aus 1190 Für diesen Bereich werden allgemein die größten Abgrenzungsschwierigkeiten befürchtet: Jacqué, SZIER/RSDIE 2011, 29 (68); s. die Erwägungen zur Abgrenzung bei Ponzano, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (138). 1191 Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (123). 1192 Edenharter, DÖV 2011, 465 (649).

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

schließen.1193 In der Praxis wird das rechtsetzende Organ aber hinreichend Spielraum haben, um über die Rechtsetzungstechnik das anwendbare Verfahren abgeleiteter Rechtsetzung selbst zu bestimmen.1194 Aus dem gleichen Grund ist die Aussage, dass Durchführungsbefugnisse der Kommission einen geringeren Normierungspielraum lassen als delegierte Rechtsakte, theoretisch zwar richtig.1195 Schließlich treffen Durchführungsakte nur Regelungen, die bereits auf ein bestehendes Röhrensystem bezogen sind, während delegierte Rechtsakte das bestehende Röhrensystem selbständig erweitern. Praktisch hängt es aber allein von dem konkret durchzuführenden Rechtsakt – um im Bild zu bleiben: von der Rohrbreite – ab, wieviel an Konkretisierungsspielraum der Kommission bleibt. Und angesichts der Unbestimmtheit des Begriffs der Durchführung kann dieser Spielraum erheblich sein.1196

B. Delegation und Durchführung zwischen Gesetzgebung und Exekutive als Formen gubernativer Rechtsetzung Das neue Modell abgeleiteter Rechtsetzung zeichnet sich dadurch aus, dass es klarere Zuordnungen vorgenommen hat: Auf der horizontalen Ebene sind Rat und Parlament als Gesetzgeber eingesetzt. Auf der vertikalen Ebene wurde eine Klärung herbeigeführt, indem den Mitgliedstaaten positiv die Kompetenz zur Durchführung des Unionsrechts eingeräumt wurde. Die Mitgliedstaaten fungieren damit gewissermaßen als Regelexekutive der Union, wobei ihre exekutive Tätigkeit auch im Erlass gesetzlicher Regelungen bestehen kann. Was ist in diesem Gefüge aber die Rolle der Kommission, die nach einem Übertragungs- bzw. einem Ermächtigungsakt delegierte Rechtsakte und Durchführungsakte erlässt? Im Zusammenhang mit der Delegation beteiligt sich die Kommission an der europäischen Gesetzgebung, wenn auch in nicht-gesetzlicher Form. Bei der Durchführung koordiniert die Kommission den mitgliedstaatlichen Vollzug  – auf welche Art und Weise ist dabei primärrechtlich nicht vorbestimmt, sondern abhängig von der Regelung des jeweiligen durchzuführenden Basisrechtsakts. Die Kommission kann damit in beide Bereiche, in denen klarere Zuordnungen vorgenommen wurden, „eingreifen“; in den Rat und Parlament zugeordneten Bereich der Gesetzgebung und der den Mitgliedstaaten obliegenden Aufgabe der Durchfüh-

1193

Dies betont die Kommission KOM(2009), 673, S. 3. s. etwa BT-Drucks. 16/8300, S. 190: „Beurteilungsspielraum [des europäischen Gesetz­ gebers], welches Instrument er für angemessen hält.“ 1195 So Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081). 1196 s. zu praktischen Ansätzen für die Unterscheidung Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 290 AEUV Rn. 22 f., der davon ausgeht, dass eine randscharfe Abgrenzung scheitern wird. 1194

§ 6 Abschließende Gegenüberstellung und Bewertung der Konzepte 

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rung; sie nimmt jeweils eine Vermittlungsposition ein.1197 Beide „Eingriffssituationen“ unterliegen entsprechenden Grenzen: Im Verhältnis zu den Gesetzgebern gilt der demokratisch fundierte Vorbehalt des Gesetzgebungsakts, im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten unterliegt das Tätigwerden der Kommission einer besonderen Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips. Wie kann man dieses Aufgabenspektrum adäquat beschreiben? Sucht man im deutschen Verfassungsrecht nach parallelen Phänomenen, so wird man schnell fündig. Die Aufgaben der Kommission beim Erlass von delegierten und von Durchführungsrechtsakten ähneln denen der Gubernative.1198 Auf staatlicher Ebene werden diese Aufgaben also von einem Organ ausgeübt, dem die Regierungsfunktion zugeordnet ist. Dies zeigt insbesondere der Vergleich mit dem Grundgesetz. Der Begriff der Gubernative weist auf ein hierarchisches Verständnis der Exekutive hin.1199 Die Gubernative steht am oberen Ende dieser Hierarchie. Sie selbst ist aus einem demokratischen Prozess hervorgegangen, während am unteren Ende der Hierarchie der Exekutive die Legitimationskette wesentlich länger ist. Die Aufgabe der Exekutive, das Recht zu konkretisieren, verläuft parallel zu dieser Hierarchie. Am oberen Ende der Hierarchie setzt die Gubernative Recht, das ebenfalls weiterer konkretisierender Schritte bedarf, am unteren Ende fällt die Konkretisierungsleistung entsprechend geringer aus: Bisweilen sehr konkrete gesetzliche Vorgaben sind dann lediglich auszuführen.1200 Eine typische Funktion der Gubernative ist dementsprechend Rechtsetzung; ihre spezifischen Handlungsformen sind dabei die Verordnung und die Verwaltungsvorschrift.1201 Mit der Verordnung entlastet die Gubernative die Legislative, in dem sie selbst einen Teil des Normierungsbedarfs durch eigene Regelungen deckt.1202 Mit der Verwaltungsvorschrift kommt sie ihrer Aufgabe nach, als Spitze der Exekutive die ihr nachgeordneten Administrativen zu koordinieren; eine besondere Bedeutung kommt solchen koordinierenden Verwaltungsvorschriften in exekutivföderalistischen Systemen zu, in denen die zentral gesetzten Gesetze dezentral vollzogen werden.1203

1197

Entsprechend könnte man Gesetzgebungsakte, delegierte Rechtsakte, Durchführungsakte und mitgliedstaatliche Umsetzungsakte als eine Kette der unionalen Rechtserzeugung verstehen. Die Kommission ist in diese Kette als doppelte Vermittlerin eingebunden: Einmal vermittelt sie zum Gesetzgeber, das andere Mal vermittelt sie zu den Mitgliedstaaten. 1198 Krit. zur Unterscheidung zwischen gubernativer und exekutiver Normsetzung, da diese nicht trennscharf möglich sei und die Gefahr der thematischen Blickverengung berge, s. Möstl, DVBL 2011, 1076 (Fn. 3). 1199 Möllers, Gewaltengliederung, S. 120. 1200 s. zum Ganzen Möllers, Gewaltengliederung, S. 120 ff. 1201 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 136 f. 1202 Dreier, Hierarchische Verwaltung, S. 180 f. 1203 Vgl. Möstl, DVBl 2011, 1076 (1077), mit Verweis auf Art. 84 Abs. 2, 85 Abs. 2 GG, der allerdings die Funktion der Gubernative in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich erwähnt, da er dieser Unterscheidung kritisch gegenüber steht.

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

Diese beiden spezifisch gubernativen Formen der Rechtsetzung lassen sich nun auch im Europarecht wiederfinden. Die delegierten Rechtsakte gleichen dem Instrument der Verordnung; auf die Parallele von Art. 290 AEUV und Art. 80 GG wurde bereits hingewiesen. Durchführungsakte ähneln Verwaltungsvorschriften, wie sie im deutschen Recht gemäß Art. 84 Abs. 2, 85 Abs. 2 GG von der Bundesregierung erlassen werden.1204 Beide teilen (regelmäßig) die Eigenschaften gubernativen Rechts, das sich „in funktioneller Verwandtschaft zur Legislative“ durch einen „hohen Allgemeinheitsgrad“ auszeichnet.1205 Bei den delegierten Rechtsakten liegt auf der Hand, dass es sich hierbei um solch allgemeines Recht handelt, das regelmäßig weiterer Konkretisierung bedarf. Schließlich erlässt die Kommission anstelle der Gesetzgeber Recht. Und sie ist auf den Erlass von Rechtsakten mit allgemeiner Tragweite beschränkt. Der Unterschied zur Rechtsetzung durch die Gesetzgeber ist erst einmal nicht so sehr ein qualitativer, als ein quantitativer: Den delegierten Rechtsakten ist die Regelung von „Wesentlichem“ versagt. Delegierte Rechtsetzung kann deshalb nicht in gleichem Umfang regelnd auf Lebensbereiche zugreifen wie Gesetzgebungsakte. Hingegen wird die Kommission beim Erlass delegierter Rechtsakte qualitativ „wie ein Gesetzgeber“ tätig: Sie gestaltet selbst in großer Freiheit eine Regelungsmaterie.1206 Delegierte Rechtsakte sind eben wie Gesetzgebungsakte „materielle“ Gesetze. Qualitativ ist der Unterschied erst im Hinblick auf die unterschiedliche Legitimationsleistung und damit auf die Art des erzeugten Rechts: delegierte Rechtsakte sind Rechtsakte ohne Gesetzescharakter; anders als Gesetzgebungsakte, die auch formelle Gesetze sind, sind sie rein materieller Natur. Aber auch Durchführungsakte können einen hohen Allgemeinheitsgrad aufweisen und eigene Gestaltungsleistung der Kommission erfordern. Als exekutive Instrumente zur Vollzugshomogenisierung sind sie darauf angelegt, dass noch weitere Stufen der Konkretisierung folgen. Diese weitere Konkretisierung erfolgt auf 1204 Anders als bei Verwaltungsvorschriften dürfte bei den Durchführungsakten ihre Wirkmacht über den Binnenbereich der Verwaltung hinaus aber außer Frage stehen. Es ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, warum die Durchführungsakte im Unterschied zum Übrigen Euro­ parecht ihren Anspruch auf unmittelbare Geltung aufgeben wollen sollten, s. dazu auch noch Fn. 1194. 1205 So Möllers, Gewaltengliederung, S. 113. Wie bereits erwähnt (s. oben § 6 A.) sind Durchführungsakte und delegierte Rechtsakte bisweilen schwer abgrenzbar. Auch diese Eigenschaft teilen sie mit dem Paar Verwaltungsvorschrift/Verordnung. In dem Maße, wie Verwaltungsvorschriften – jedenfalls faktisch – mehr und mehr Wirkungen auch außerhalb des Binnenbereichs der Verwaltungen zukommen, erscheinen auch Verwaltungsvorschriften und Verordnungen de facto häufig „als nahezu austauschbar“, so Dreier, Hierarchische Verwaltung, S. 192. 1206 von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S.  312.f. Insofern ist es in Bezug auf delegierte Rechtsetzung nicht ganz richtig, von einer „Konkretisierungsleistung“ der Kommission zu sprechen. Vielmehr setzt sie neues Recht und führt den Gesetzgebungsakt nicht aus. Immerhin muss sich der delegierte Rechtsakt aber immer auf einen Gesetzgebungsakt legitimierend beziehen. Dieser Gesetzgebungsakt „programmiert“ dabei die delegierte Rechtsetzung zumindest insoweit, als die Ermächtigung hinreichend „bestimmt“ sein muss.

§ 6 Abschließende Gegenüberstellung und Bewertung der Konzepte 

241

Ebene der Mitgliedstaaten; gerade durch die regelmäßige Verteilung der Aufgaben der Rechtsetzung und der Rechtsdurchführung auf zwei verschiedenen Ebenen – der Union und den Mitgliedstaaten – gewinnt das Instrument der Durchführungsvorschrift seine besondere Bedeutung. Die Kommission nimmt damit eine ähnliche Funktion ein wie die Bundesregierung beim Erlass von Verwaltungsvorschriften gem. Art. 84, 85 Abs. 2 GG.1207 Sie koordiniert den Vollzug in den Gliedstaaten mittels ihrer Durchführungsrechtsakte so wie die Bundesregierung durch ihre Verwaltungsvorschriften sicherstellt, dass die Bundesländer, die grundsätzlich die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen (Art.  83 GG), das Bundesrecht nicht allzu uneinheitlich zur Geltung bringen. Auch die der Durchführungsrechtsetzung zugeordnete Komitologiestruktur erweist sich als eine weitere Parallele zu den aus dem GG bekannten Verwaltungsvorschriften.1208 Hier wie dort bedarf es der Kontaktnahme der föderalen Ebene mit Vertretern der Mitgliedstaaten  – in der EU die Komitees, in der Bundesrepublik der Bundesrat  –, die eine praktisch vollzugsgerechte Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben ermöglichen.1209 Allerdings kann auch die Kommission zur Regelung von Einzelfällen durch Durchführungsakte ermächtigt werden.1210 Ihre Funktion entspricht dann weniger der einer politischen Gubernative als der einer ausführenden Exekutive. Diese Wandlung wird man kritisch sehen müssen: Die Kommission ist ein Organ, dessen Aufgabe in der „Gemeinwohlkonkretisierung besteht, eine Funktion die mit der unmittelbaren Zurechenbarkeit von Einzelentscheidungen funktional in Spannung steht.“1211 Diese in gewissem Umfang bestehende Doppelköpfigkeit der Kommission, also der Umstand, dass ihre gubernativen Funktionen bisweilen durch die Allokation von Vollzugskompetenzen nach unten, d. h. zur administrativen Exekutive hin, „ausfransen“, ist dem Umstand geschuldet, dass die Kommission das einzige primärrechtlich vorgesehene europäische Exekutivorgan ist. Allenfalls die sekundärrechtliche Schaffung von Agenturen bietet ein Alternativmodell für den Vollzug auf europäischer Ebene. 1207 Möllers, EuR 2002, 483 (505); Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081). Anders als Verwaltungsvorschriften sind Durchführungsakte in Art.  291 AEUV aber nicht auf eine bloße Binnen­ wirkung beschränkt, s. dazu Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081). 1208 Haibach, VerwArch, 90 (1999), S. 98 (106); Möllers, EuR 2002, 483 (505). 1209 Möllers, EuR 2002, 483 (505). 1210 Schon insofern kommt den Durchführungsakten als europäischen Verwaltungsvorschriften wohl nicht ausschließlich inneradminstrative Bedeutung zu. Das würde zwar einem traditionellen Verständnis des Geltungsanspruchs von Verwaltungsvorschriften entsprechen. Diese werden traditionell nicht als Rechtsquelle aufgefasst, sondern als reines Verwaltungsbinnenrecht, das die Rechtssphäre zum Bürger nicht gestalten kann, s. (krit. dazu) von Bogdandy, Guber­ native Rechtsetzung, S. 453 f. sowie Dreier, Hierarchische Verwaltung, S. 191 ff. Indes befindet sich auch dieses traditionelle Verständnis im Umbruch, s. zur „Brüchigkeit“ der herrschenden Meinung nochmals von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 455 ff.; krit. dazu aber Möstl, DVBl 2011, 1076 (1080). Für die europäischen Durchführungsakte kommt hinzu, dass in keiner Weise erkennbar ist, wieso für Durchführungsakte gemäß Art. 291 AEUV der Grundsatz direkter Geltung sowie der grundsätzliche Anwendungsvorrang des Europarechts gegenüber mitgliedstaatlichem Recht nicht gelten sollte. 1211 Möllers, EuR 2002, 483 (510); s. auch ders., Gewaltengliederung, S. 439.

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

Die Kommission nimmt damit gerade auch im Zusammenhang mit Delegation und Durchführung (von Ermächtigungen der Kommission zu echten Vollzugsentscheidungen abgesehen) typisch gubernative Aufgaben wahr. Dieser Befund lässt sich gut in Einklang bringen mit weiteren Funktionen der Kommission. Insbesondere ihr Initiativmonopol (Art. 17 Abs. 2 EUVn) legt die Parallele zu einer Regierung überdeutlich nahe. Vor diesem Hintergrund einer recht klaren Zuweisung der Regierungsfunktion zur Kommission ist es zu begrüßen, dass der Vertrag von Lissabon Fortschritte hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Kommission gebracht hat. Die Investitur der Kommission orientiert sich nun mehr als zuvor am dualen Legitimationsmodell.1212

C. Abschließender Charakter von Art. 290 und 291 AEUV und soft law der Kommission Art. 290 und 291 AEUV haben die abgeleiteten Rechtsetzungsbefugnisse der Kommission klarer ausgelotet. Beide Formen der Rechtsetzung machen tertiär­ rechtliche Rechtsetzung durch die Kommission dabei von einer Ermächtigung abhängig. Originäre (tertiärrechtliche)  Rechtsetzungskompetenz der Kommission sieht der Vertrag von Lissabon nicht vor; auch die primärrechtlichen Ermächtigungen der Kommission zum Erlass von Sekundärrecht stellen insoweit keine Ausnahmen dar, schließlich ist die Kommission auch hier auf eine – wenn auch bereits primärrechtlich erteilte  – Ermächtigung angewiesen. Die bessere Ausdifferenzierung der abgeleiteten, d. h. nicht unmittelbar auf Primärrecht be­ ruhenden, Rechtsetzung durch die Union spricht dafür, dass jenseits von Art. 290 und Art.  291 AEUV abgeleitete Rechtsetzung mit verbindlicher Außenwirkung durch die Kommission ausgeschlossen ist. Dies gilt umso mehr, als schon nach bisherigem Recht Art.  202, 3.  Spiegelstrich EGV als abschließende Regelung der Übertragung von Normsetzungsbefugnissen auf die Kommission verstanden wurde.1213 Dieser Befund steht in gewissem Kontrast zu dem beträchtlichen Bestand an sog. „soft law“ der Kommission. In der Praxis erlässt die Kommission eine Vielzahl von Regelungen, mit denen sie ohne eine ausdrückliche Ermächtigung die Spielräume des von ihr durchzuführenden Rechts konkretisiert. Dieser Kontrast kann nicht mit dem Argument überspielt werden, das soft law weise gegenüber den bisherigen Durchführungsakten der Kommission andere, etwa nur interne, Rechtswirkungen auf. Schon über den allgemeinen Gleichheitssatz erzeugt das vermeintliche soft law erhebliche Bindungswirkungen auch nach außen und begründet bei Bürgern bzw. Unternehmen die Erwartung, dass der Inhalt der Leitlinien maßgeb-

1212

Dazu s. schon oben § 2 C. III. 1.  EuGH, Rs. C-133/06 (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-3198.

1213

§ 6 Abschließende Gegenüberstellung und Bewertung der Konzepte 

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liche Richtschnur für das Handeln der Kommission ist.1214 Sogar der EuGH bedient sich in gewissem Umfang der Leitlinien als Prüfungsmaßstab.1215 Auch die nationalen Gerichte begründen dadurch, dass sie Leitlinien der Kommission bei der Auslegung des Unionsrechts heranziehen, eine zumindest faktische Bindungswirkung der Leitlinien.1216 Vielfach wird daher konstatiert, dass sich die Leitlinien der Kommission der Wirkweise von „echten“, d. h. außenverbindlichen Durchführungsvorschriften annähern.1217 Die Praxis der Kommission, weitreichende Leitlinien, Mitteilungen usw. zu erlassen, sah sich schon bisher Bedenken ausgesetzt.1218 Diese Bedenken erscheinen angesichts der stärkeren Ausdifferenzierung durch den Lissabon-Vertrag noch durchschlagender. Art.  290 und 291 AEUV setzen klar auf das Erfordernis der Ermächtigung; überdies knüpfen beide Vorschriften die abgeleitete Rechtsetzung der Kommission an spezifische Voraussetzungen und unterwerfen sie spezifischen Grenzen und Überwachungsmechanismen. Diese Kautelen dürfen nicht dadurch unterlaufen werden, dass die Kommission außerhalb dieser Regelungsregime verbindliches Recht setzt. Das soft law der Kommission ist daher nur (noch) zulässig, wenn es sich tatsächlich auf interne Regelungen bezieht oder ausnahmsweise auf besondere primärrechtliche Geltungsgründe zurückgreifen kann.1219 Der „normative Abstand“1220 zu Art. 290 und 291 AEUV muss gewahrt bleiben. Den Leitlinien, Mitteilungen und sonstigen Formen des „soft law“ darf daher keine Verbindlichkeit zukommen, die an delegierte bzw. Durchführungsverordnungen heranreicht. Diese Wirkweise ist den aufgrund von Art. 290 und 291 AEUV ergehenden und deren Voraussetzungen genügenden Rechtsakten vorbehalten.1221

1214 Thomas, EuR 2009, 423 (424, 428) mit dem Hinweis auf eine Äußerung der Kommission, wonach es „in Stahlbeton gegossene“ Gründe für eine Abweichung von einer Leitlinie bedürfe, um die darin liegende Ungleichbehandlung zu rechtfertigen; wiedergegeben ist diese Äußerung der Kommission in den Schlussanträgen des GA Alber, Rs. C-204/97, Slg. 2001, I-3175 Rn. 36. 1215 EuG, T-38/02 (Danone), Slg. 2005, II-4407 Rn.  524; EuGH, Rs. C-397/03 (ADM), Slg. 2006, I-4429 Rn. 93. 1216 Thomas, EuR 2009, 423 (437). 1217 Weiß, EWS 2010, 256 (258); Groß, DÖV 2004, 20 (23); Härtel, Handbuch Europäischer Rechtsetzung, § 11 Rn. 33 spricht von der „normativen Kraft des Faktischen“, die die eigentlich unverbindlichen Mitteilungen der Kommission mit erheblichen faktischen Bindungswirkungen ausstattet. 1218 Weiß, EWS 2010, 257 ff.; zur Problematik, s. auch, Schwarze, EuR 2009, 171 ff.; all­ gemein zum Phänomen der „Verwaltungsvorschriften“ der Kommission, s. Groß, DÖV 2004, 20 ff. 1219 Möstl, DVBl 2011, 1076 (1079). 1220 Möstl, DVBl 2011, 1076 (1082). 1221 So auch Gundel, JA 2008, 910 (912); s. zu diesem Problemfeld auch noch unten § 7 A. III. 3. b) aa).

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

D. Engführung und Andersartigkeit der Konzepte Art. 290 und 291 AEUV beschränken sich auf die Regelung jeweils einer Bruchlinie. Von daher verwundert es nicht, dass sie – obwohl sie sich beide mit der „Übertragung“ von (Rechtsetzungs-)Befugnissen auf die Kommission befassen – völlig unterschiedlich konzipiert sind und jeweils andere Schwerpunkte setzen.1222 Art. 290 AEUV sieht die Übertragung von quasi-legislativen Befugnissen als Eingriff der Exekutive in den legislativen Bereich, also als ein Problem horizontaler Gewaltenteilung. Aus diesem Grund verlangt er im horizontalen Verhältnis zwischen den Gesetzgebern und der Kommission, dass erstere als die demokratischen Stützen der EU über ein bestimmtes Regelungsminimum selbst befinden. Die Analyse dieser Vorschrift fördert zuvörderst Fragen demokratischer Legitimation zutage. Art. 291 AEUV widmet sich einem ganz anderen Komplex. Er konzipiert die Übertragung von Durchführungsbefugnissen als unionalen Übergriff in den mitgliedstaatlichen Hoheitsbereich und unterwirft sie daher in diesem vertikalen Verhältnis einem Rechtfertigungserfordernis. Kern dieser Vorschrift ist das Verhältnis der Union zu ihren Mitgliedstaaten und damit der Gesichtspunkt vertikaler Gewaltenteilung. Beide Vorschriften offenbaren damit ein eher holzschnittartiges Verständnis der in Wirklichkeit komplexeren Strukturen des Mehrebenensystems, das die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten bilden. Die beiden Ebenen – die horizontale und die vertikale – lassen sich nicht völlig isoliert voneinander betrachten. Die Wirkungen, die eine (unterlassene) Befugnisübertragung auslöst, beschränken sich nicht ausschließlich auf die eine oder die andere Ebene. Überträgt ein Gesetzgebungsakt der Kommission Durchführungsbefugnisse, so bedeutet dies nicht nur, dass mitgliedstaatliche Durchführungskompetenzen beschnitten werden. Zugleich enthält sich der Gesetzgeber einer Regelung in demokratisch höherwertiger Form. Wie bei einer Delegation i. R. d. Art. 290 AEUV kann die Übertragung von Durchführungsbefugnissen also dazu führen, dass eine abstrakt-generelle Regelung statt in einem Gesetzgebungsakt „nur“ durch einen Durchführungsakt der Kommission, also durch Rechtsakt ohne Gesetzescharakter, getroffen wird. Diese Friktion greift Art. 291 AEUV nicht auf. In Betracht kommt insoweit nur, den Wesentlichkeitsvorbehalt, den Art. 290 AEUV für die Delegation statuiert, auch dann fruchtbar zu machen, wenn ein Gesetzgebungsakt Durchführungsbefugnisse überträgt.1223 Ebenso erweist sich die Konzentration des Art. 290 AEUV auf die durch eine Delegation ausgelösten Friktionen im horizontalen Verhältnis als zu eng. Regelt ein Gesetzgebungsakt nicht nur das Wesentliche, sondern viele Einzelheiten, bleibt 1222 Vgl. auch die Beobachtung der Kommission im KOM(2009) 673, S. 3; Möstl, DVBl 2011, 1076 (1081). 1223 Hierzu s. schon oben § 5 B. II.

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  245

den Mitgliedstaaten automatisch weniger Spielraum bei der Durchführung dieses Gemeinschaftsrechtsakts. Der Wesentlichkeitsvorbehalt des Art.  290 AEUV darf nicht dazu führen, dass sich Gesetzgebungsakte in übermäßigem Detailreichtum verlieren.1224 Dies gebieten das Subsidiaritäts- oder zumindest das kompetenz­ bezogene Verhältnismäßigkeitsprinzip. Auch eine zu weitgehende Übertragung von quasi-legislativen Befugnissen kann im vertikalen Verhältnis zu Friktionen führen. Ermächtigt ein Gesetzgebungsakt die Kommission zum Erlass von delegierten Rechtsakten, so weisen diese delegierten Rechtsakte naturgemäß eine höhere Regelungsdichte auf als der Gesetzgebungsakt. Eine höhere Regelungsdichte im delegierten Rechtsakt der Union verengt den mitgliedstaatlichen Spielraum bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts gleichfalls. Das Subsidiaritäts- oder jedenfalls das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebieten aber generell, dass die Regelungsdichte gemeinschaftlicher Rechtsakte nicht über das erforderliche Maß hinausgeht.1225 Art. 290 AEUV ignoriert diese möglichen vertikalen Bruchlinien bei der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen.

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie Mit der Bejahung eines Gesetzesvorbehalts im Verhältnis zwischen dem delegierenden Gesetzgebungsakt und dem abgeleiteten delegierten Rechtsakt in § 2 ist noch keine Aussage getroffen über die Frage, inwiefern diese Unterscheidung Bestandteil einer das gesamte Rechtsaktsystem umfassenden Normenhierarchie ist. Vielmehr ist das Verhältnis von delegierendem Gesetzgebungsakts und delegiertem Rechtsakt auf eine Normenhierarchie erst einmal nicht angewiesen. Regelt der delegierte Rechtsakt mehr als nur „Unwesentliches“, so verstößt er gegen den Wesentlichkeitsvorbehalt des Art. 290 AEUV. Dies allein wäre hinreichender Grund für seine Rechtswidrigkeit. Des argumentativen Rückgriffs auf eine mögliche Höherrangigkeit des Gesetzgebungsaktes bedarf es dann gerade nicht.1226 Dieser Rückgriff wird aber erforderlich, will man das Verhältnis des delegierten Rechtsaktes zu anderen Rechtsakten, insbesondere zu anderen Gesetzgebungsakten als dem konkret delegierenden klären. Die Frage, ob der Vertrag von Lissabon eine Normenhierarchie innerhalb des Rechtskorpus unterhalb des Primärrechts geschaffen hat, harrt also noch der Auflösung. Dies gilt umso mehr, als in diese Frage auch noch die Durchführungsakte sowie die bisher noch nicht behandelten Rechtsakte ohne Gesetzescharakter primärrechtlichen Ursprungs einzu­ beziehen sind. 1224 Das Subsidiaritätsprinzip möchten für die Auslegung des „Wesentlichen“ fruchtbar machen Hofmann, Normenhierarchien, S. 163 f. und Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 192. 1225 Hofmann, Normenhierarchien, S. 163 f. 1226 Vgl. von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 229 f.

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

Auf Grundlage der alten Verträge war es schwer, normhierarchische Schnitte in das gewachsene Dickicht von unionalen Rechtsakten zu schlagen.1227 Ordnende Prinzipien gab es kaum. Alle Organe hatten Zugriff auf dieselben Handlungsformen. Die Rechtsakte hatten bestimmte in Art. 249 EGV definierte Wirkungen1228, gleich, ob Rat und Parlament oder die Kommission für ihren Erlass verantwortlich zeichneten. Es fehlte an Kategorien, an denen sich festmachen ließ, welches Organ in welchem Verfahren den jeweiligen Rechtsakt erlassen hatte.1229 Legislative und exekutive Rechtakte ließen sich nicht voneinander unterscheiden; damit waren auch die Funktionen der Gesetzgebung und der Exekutive insgesamt nur schwer bestimmten Organen zuzuordnen.1230 Das Fehlen ordnender Prinzipien in der Typologie der europäischen Rechtsakte reflektiert eine bestimmte historische Phase europäischer Integration, die mittlerweile abgeschlossen ist.1231 Bereits oben wurde angedeutet, dass sich der Charakter der Europäischen Union im Laufe ihrer Geschichte einer bedeutenden Entwicklung unterzogen hat: Aus einer internationalen Organisation ist ein genuin politischer Akteur geworden, der keinesfalls nur Instrument seiner Mitgliedstaaten ist, sondern umgekehrt eigene politische Akzente setzt und seine Mitgliedstaaten auch gegen ihren Willen verpflichten kann. Zudem sind die Kompetenzen der Union nicht mehr auf enge Felder begrenzt, sondern greifen in ganz unterschiedliche Politik- und sogar Lebensbereiche ein. Im Zuge dieser Entwicklung musste die „gewachsene Unordnung“ im „System“ der Rechtsakte zunehmend als Problem wahrgenommen werden. Schon das schiere Ausmaß des Rechts, das die Union auf Grundlage ihrer zunehmenden Kompetenz- und Machtfülle schuf, verlangte mehr und mehr nach einer inneren Ordnung. Ein System, in dem eine ungeheure Vielzahl an Rechtsakten praktisch beziehungslos nebeneinander steht, wird kaum das gebotene Maß an Transparenz, Effizienz und Rationalität aufbringen können. Es besteht die Gefahr der „Verhedderung“. Tatsächlich hatte in der Meinung mancher die Unübersichtlichkeit des Unionsrechts (unterhalb des Primärrechts) einen Grad erreicht, der es gerechtfertigt erscheinen ließ, von einem „Normenchaos“ oder „Dickicht“ zu sprechen.1232 Zudem war ein solch ungeordnetes System kaum geeignet, dem veränderten Legitimationsbedarf der Europäischen Union, der eben nicht mehr dem einer interna-

1227

Ausführlich Hofmann, Normenhierarchien, S. 108 ff.; Nettesheim, EuR 2006, 737 (762 ff.); Maurer, integration, S. 440 f.; Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (745). 1228 Nicht umsonst gehörte Art. 249 EGV zum Abschnitt „Gemeinsame Vorschriften für mehrere Organe“. 1229 Zu anderen ordnenden Prinzipien im bisherigen Rechtsaktsystem, Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (746 ff.). 1230 Tizzano, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 207 (212, 216). 1231 Tizzano, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 207 (211). 1232 Nettesheim, EuR 2006, 737 (762) mit Verweis auf die ausführliche Darstellung bei Hofmann, Normenhierarchien, S. 108 ff.

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tionalen Organisation entsprach, gerecht zu werden.1233 Rechtsakte von besonderer demokratischer Dignität gingen in der unkategorisierten Vielfalt von Rechts­ akten schlicht unter: Mangels ordnender innerer Prinzipien innerhalb des Korpus des Gemeinschaftsrechts gelang es nicht, die faktisch gewachsene demokratische Bedeutung bestimmter (Basis-)Rechtsakte für eine stärkere sachlich-inhaltliche demokratische Steuerung der Organe nutzbar zu machen.1234 Eines der Hauptanliegen der Vertragsreformen war deshalb, das System der Handlungsformen „durchschaubarer“ zu machen.1235 Zu diesem Zwecke wollte man die Vielzahl der Regelungsinstrumente ordnenden Prinzipien unterwerfen und damit stärker durch hierarchisierende Elemente prägen.1236 Auch die Gruppe IX „Vereinfachung“ im Konvent wollte zu diesem Mittel greifen, um nicht nur mehr Klarheit im Dickicht der europäischen Rechtsnormen zu schaffen, sondern zugleich demokratische Grundsätze besser zu verwirklichen.1237 Der Vertrag von Lissabon differenziert nun zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. Die in dieser Arbeit behandelten Formen abgeleiteter Rechtsetzung sind in diesem System als Rechtsakte ohne Gesetzes­ charakter, also als nicht-legislatives Recht konzipiert; Art. 290 AEUV regelt dies ausdrücklich, für die Durchführung folgt dies zumindest aus einem Umkehrschluss aus Art.  289 AEUV. Bislang wurde lediglich geklärt, dass die jeweilige Übertragung von Befugnissen gemäß Art.  290 AEUV als Legitimationsverzicht konzipiert ist und der Gesetzgebungsakt zumindest im Verhältnis zwischen dem (zwingend legislativen!) Basisrechtsakt und dem delegierten Rechtsakt die Funktion eines formellen Gesetzes einnimmt. Weitergehend stellt sich hier die Frage: Ist dieses Konzept eines durch die Delegation bewirkten Legitimationsverzichts insgesamt eingebettet in ein schlüssiges Konzept einer Normenhierarchie mit dem Gesetzgebungsakt als formellem Gesetz als absoluter Spitze? Insbesondere: Sind die nach dem Vertrag von Lissabon nun ausdrücklich zu unterscheidenden Kategorien des Gesetzgebungsaktes und des Rechtsaktes ohne Gesetzescharakter unterschiedliche Hierarchieebenen, die konsequent das Verhältnis von legislativem und untergesetzlichem Recht abbilden (dazu s. A.)? Von Bedeutung ist diese Frage 1233

Tizzano, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 207 (211). Dazu s. oben § 2 C. II. 1235 CONV 424/02, S. 2. 1236 Diese Themen waren seit Längerem in der europarechtlichen Diskussion präsent, s. etwa die Erklärung Nr. 16 im Anschluß an den Vertrag von Maastricht über die Europäische Union zur Rangordnung der Rechtsakte der Gemeinschaft: „Die Konferenz kommt überein, daß die 1996 einzuberufende Regierungskonferenz prüfen wird, inwieweit es möglich ist, die Einteilung der Rechtsakte der Gemeinschaft mit dem Ziel zu überprüfen, eine angemessene Rangordnung der verschiedenen Arten von Normen herzustellen.“ Zur Bedeutung einer Normenhierarchie für die Grundprinzipien einer Rechtsordnung auch jenseits der Funktion, Normenkollisionen aufzulösen, Bieber/Salomé, CMLRev. 1996, 907 ff.; McDonnell, in: FS Bieber, S. 372 (376); Tizzano, in: Winter/Curtin/Kellerman/de Witte, S. 207 ff.; Hofmann, Normen­hierarchien. 1237 Zu dem Leistungsprofil einer Normenhierarchie s. umfassend, Hofmann, Normenhierarchien; Bieber/Salomé, CMLRev. 1996, 907 (908 ff.); McDonnell, in: FS Bieber, S. 372. 1234

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

zunächst deshalb, weil eine solche Hierarchisierung bedeutete, dass alle Rechtsakte ohne Gesetzescharakter die Vorgaben des Gesetzesrechts beachten müssten. Durchführungs- wie delegierte Rechtsakte müssten dann nicht nur die Vorgaben ihrer jeweiligen Mutternorm einhalten, sondern dürften auch zu allen anderen Gesetzgebungsakten nicht in Widerspruch stehen.1238 Ob innerhalb des untergesetz­ lichen Rechts weitere normhierarchische Differenzierungen möglich sind, wird sodann unter B. behandelt.

A. Gesetzgebungsakte und Rechtsakte ohne Gesetzescharakter: Gesetzgebungsakt als formelles Gesetz Eine deutliche Einladung, normhierarchische Schnitte zu machen, enthält, wie angedeutet, die vom Vertrag von Lissabon eingeführte Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. Ersichtlich wollten die Vertragsautoren hiermit die Unterscheidung zwischen (formell)gesetzlicher und untergesetzlicher Rechtsetzung einführen. Ist ihnen das gelungen? Eine ausdrückliche Rangregel zu dem Verhältnis zwischen beiden Kategorien enthält der Lissabon-Vertrag zwar nicht. Regelmäßig werden normhierarchische Regeln aber ohnehin nicht schriftlich niedergelegt, sie sind vielmehr „ein Produkt der Dogmatisierung eines Rechtssystems, vorangetrieben von Gerichten und Rechtswissenschaft“.1239 Welche Stellung räumt also der Lissabon-Vertrag der Ebene des Gesetzgebungsaktes ein? Wird er den Ansprüchen eines formellen Gesetzes gerecht? Die Antwort muss sich vor allem an der Legitimationsleistung dieser Rechtsaktkategorie orientieren (s. dazu I.). Zumal die Kategorie eines formellen Gesetzes gründet sich auf die Stellung, die ein Rechtssystem ihm einräumt, insbesondere auf den mit ihm verbundenen demokratischen Wert.1240 Das legitimatorische Leistungspotential einer bestimmten Kategorie von Rechtsakten kann allerdings nur dann ihre Stellung als formelles Gesetz begründen, wenn sich dem Rechtssystem ein schlüssiges Legitimationskonzept entnehmen lässt, das eine gewisse Paralle­ lität von Rechtsakten und Legitimationsleistung verwirklicht (dazu II.). Darüber hinaus lässt sich an den unterschiedlichen Rechtsfolgen, die ein System an verschiedene Normenkategorien knüpft, ablesen, ob und welche normhierarchischen Schnitte sich in einen Rechtskorpus machen lassen, insbesondere, ob das Rechtssystem insgesamt die Kategorie eines formellen Gesetzes als Spitze der Normenhierarchie anerkennt (dazu III.). 1238

Nettesheim, EuR 2006, 737 (769). Nettesheim, EuR 2006, 737 (739). 1240 Auf staatlicher Ebene erklärt sich die generelle Höherstufung des Gesetzes aus der Regelzuordnung zu einem parlamentarischen Erlassverfahren, s. Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (536). 1239

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  249

I. Grundlage der Hierarchisierung Was ist die Grundlage der Hierarchisierung? Untersucht wird hier, ob sich eine rangmäßige Abstufung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter vornehmen lässt. Die Frage nach den Grundlagen für die Hierarchisierung ist daher die Frage nach den spezifischen Unterschieden zwischen beiden Kategorien. 1. Unmaßgeblichkeit der Primärrechtsunmittelbarkeit der Gesetzgebungsakte Der spezifische Unterschied zwischen Gesetzgebungsakt und Rechtsakt ohne Gesetzescharakter ist nicht der Grad ihrer Abgeleitetheit vom Primärrecht. Zwar fußen Gesetzgebungsakte immer auf dem Primärrecht und sind daher stets sekundärrechtliche Regelungen; zwar trifft es ebenfalls zu, dass dem Tertiärrecht – also dem erst vom Sekundärrecht abgeleiteten Recht  – der Gesetzescharakter immer abgeht: Sowohl Durchführungsakte als auch delegierte Rechtsakte sind Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. Jedoch gibt es Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, deren Grundlage unmittelbar das Primärrecht ist.1241 Die Frage der Primärrechtsunmittelbarkeit von Rechtsakten ist damit keine taugliche Grundlage für die Hierarchisierung der Rechtsakte. 2. Verknüpfung des Gesetzgebungsaktes mit Legitimationsfaktoren Die Primärrechtsunmittelbarkeit als Grund für die Hierarchisierung zwischen Rechtsakten ohne Gesetzescharakter und Gesetzgebungsakten zu verstehen, geht schon deshalb fehl, weil sich die (zwar stets gegebene) Primärrechtsunmittelbarkeit der Gesetzgebungsakte vertragssystematisch als  – wenn auch zwangsläufiger1242 – Zufall darstellt. Die Definition des Gesetzgebungsaktes in Art. 289 AEUV knüpft allein an die Erlassorgane und das Erlassverfahren an; die (primärrechtliche)  Rechtsgrundlage des Gesetzgebungsaktes ist hingegen nicht konstitutiver Bestandteil der Definition des Gesetzgebungsaktes. Das  – und nicht der Grad der Abgeleitetheit  – ist die spezifische Eigenschaft, die Gesetzgebungsakte von Rechtsakten ohne Gesetzeschrarkter unterscheidet. Oben wurden Erlassorgan und Erlassverfahren als entscheidende Faktoren für das Legitimationsniveau eines Rechtsaktes genannt. Zwei besondere Legitimationsfaktoren als Definitionsmerkmale konstituieren somit das Konzept des Gesetzgebungsaktes. Die Verträge knüpfen noch weitere Legitimationsfaktoren an 1241

Dazu ausführlich unten unter § 7 A. II. 2.  Zwangsläufig ist die Primärrechtsunmittelbarkeit der Gesetzgebungsakte deshalb, weil allein das Primärrecht die Einschlägigkeit des Gesetzgebungsverfahrens anordnet. 1242

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

den Erlass eines Gesetzgebungsaktes: Zu nennen sind Art. 16 Abs. 8 EUVn, der die öffentliche Tagung des Rates nur für den Erlass von Gesetzgebungsakten anordnet, und Art. 12 EUVn sowie das zugehörige Protokoll (Nr. 2) über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, welche die nationalen Parlamente im Vorfeld des Erlasses eines Gesetzgebungsaktes in formalisierter Weise in das Verfahren europäischer Rechtsetzung einbinden. Das Konzept des Gesetzgebungsaktes beruht also auf seiner systematisch erhöhten Legitimationsleistung. Diese Erkenntnis lässt es als zwingend erscheinen, diese systematisch erhöhte Legitimationsleistung des Gesetzgebungsakts als den spezifischen Unterschied zum untergesetzlichen Recht und damit als Grundlage der Hierarchisierung zu identifizieren. Dem untergesetzlichen Recht fehlt dieses systematische Verknüpftsein mit Legitimationsfaktoren. Der Vertrag von Lissabon versucht damit, an bekannte Konzepte des formellen Gesetzes anzuknüpfen.1243 Auf staatlicher Ebene gründet der der Vorrang der formellen Gesetze gegenüber anderen Rechtsakten primär in deren erhöhter Legitimationsleistung. Dies ist etwa die ratio des im deutschen Verfassungsrecht verwirklichten Vorrangs des formellen Gesetzes gegenüber untergesetzlichen Regelungsformen: Weil in der parlamentarischen Demokratie die formellen Gesetze vom Parlament erlassen werden und sich deshalb durch besondere demokratische Qualitäten ausweisen, wird ihnen über die Bindung der anderen Gewalten an die Gesetze der Vorrang eingeräumt und auf diese Weise das erforderliche Niveau sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation sichergestellt.1244 II. Defizite: Entknüpfung Die Verknüpfung der Kategorie des Gesetzgebungsaktes mit verschiedenen Legitimationsfaktoren ist erforderlich, um einen ersten Anhaltspunkt dafür zu haben, dass entsprechende normhierarchische Schnitte möglich sind und der Kategorie des Gesetzgebungsaktes die Funktionen eines formellen Gesetzes eingeräumt werden kann. Sie ist aber nicht ausreichend. Das legitimatorische Leistungspotential einer bestimmten Kategorie von Rechtsakten kann nur dann ihren Vorrang begründen, wenn sich dem Rechtssystem ein schlüssiges Legitimationskonzept entnehmen lässt, das eine gewisse Parallelität von Rechtsakten und Legitimationsleistung verwirklicht. Insgesamt muss dem Rechtssystem ein schlüssiges System der Rechtsakte zugrundeliegen, das die steigende bzw. fallende Legitimationsleistung der Rechtsakte abbildet.

1243 Interessanterweise geschieht dies just zu einem Zeitpunkt, da das Konzept eines formellen, d. h. vor allem parlamentarisch mitverantworteten formellen Gesetzes zunehmend kritisiert wird, s. nur die kritischen Äußerungen bei Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), 5 (7 ff.) und von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 41 ff. 1244 Grzescick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 VI, Rn. 72.

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  251

1. Existenz besonderer Gesetzgebungsverfahren Schon der Konvent hatte erkannt, dass hinreichende demokratischer Legitimation und eine darauf aufbauende Hierarchie gebieten, Rechtsakte derselben Hierarchieebene nach demselben demokratischen Verfahren zu erlassen.1245 Jede Inkonsequenz bei der Parallelität von Verfahren und Handlungsform bzw. Hierarchie­ebene schwächt hingegen die Berechtigung der normhierarchischen Differenzierung1246; sie „entknüpft“ die Verbindung zwischen Handlungsebene und legitimatorischem Wert. An der erforderlichen Konsequenz könnte es fehlen, weil der Vertrag von Lissabon neben dem  – das duale Legitimationskonzept eins zu eins abbildenden  – ordentlichen Gesetzgebungsverfahren noch „besondere Gesetzgebungsverfahren“ vorsieht.1247 Auf den ersten Blick scheinen die besonderen Gesetzgebungsverfahren an dem Grundkonzept des Mitentscheidungsverfahrens nicht allzu viel zu ändern. Auch die „besonderen Gesetzgebungsakte“ gemäß Art. 289 Abs. 2 AEUV werden entweder durch „das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates oder aber „durch den Rat mit Beteiligung des Parlaments“ erlassen. Das duale Legitima­ tionsmodell ist damit für alle Arten von Gesetzgebungsakten und eben auch für die in besonderen Gesetzgebungsverfahren erlassenen zwingend.1248 Allerdings legt keine horizontale Regelung die besonderen Gesetzgebungs­ verfahren allgemein fest; vielmehr bestimmt die jeweilige Rechtsgrundlage individuell, welches besondere Gesetzgebungsverfahren stattzufinden hat.1249 Dies hat zur Folge, dass in Wahrheit der Lissabon-Vertrag die besonderen Gesetzgebungsverfahren nicht, wie Art. 289 Abs. 2 AEUV noch nahelegt1250, auf zwei Varianten begrenzt ist, sondern sich diese im Gegenteil äußerst vielgestaltig ausnehmen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die vorgesehene Beteiligung des Europäischen Parlaments, die für die demokratische Dignität des Gesetzgebungsaktes historisch von besonderer Relevanz ist. Für einige der „besonderen Gesetzgebungs 1245

Europäischer Konvent, Working Group IX 13 29.11.2002, CONV 242/02. Der Entwurf des Konvents hatte deshalb vorgeschlagen, tatsächlich immer das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorzusehen. Leider folgte der Konvent diesem Vorschlag der Working Group  IX nicht. 1246 Nettesheim, EuR 2006, 737 (769). 1247 Zur entsprechenden Problematik im Verfassungsvertrag Nettesheim, EuR 2006, 737 (769): fehlende Parallelität von Handlungsform und Verfahren; zum Lissabon-Vertrag Dougan, CMLRev. 2008, 617 (640 ff.). 1248 Zum Verfassungsvertrag McDonnell, in: FS Bieber, S. 372 (379). 1249 Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (220). 1250 Art. 289 Abs. 2 AEUV: „In bestimmten … Fällen erfolgt als besonderes Gesetzgebungsverfahren die Annahme einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses durch das Europäische Parlament mit Beteiligung des Rates oder durch den Rat mit Beteiligung des ­Parlaments.“

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

befugnisse“ ist die Zustimmung des Parlaments vorgesehen, bei anderen erschöpft sich die Beteiligung in einem bloßen Anhörungserfordernis.1251 Was bedeutet das für den demokratischen Wert des Gesetzgebungsakts? Zuzugeben ist, dass der Gesetzgebungsakt des Lissabonner Vertrags nicht nur nicht handlungsformen1252-, sondern hinsichtlich der Hierarchieebenen auch nicht strikt verfahrensbezogen ist1253; der Hierarchieebene des Gesetzgebungsaktes kann, insbesondere wegen der unterschiedlich stark ausgeprägten Beteiligung des Europäischen Parlaments, kein einheitlicher Grad an demokratischer Würde zugeordnet werden. Die Existenz besonderer Gesetzgebungsverfahren korrumpiert daher durchaus das Konzept der Gesetzgebung als Instrument sachlich-inhaltlicher demokratischer Legitimation, das insbesondere auf parlamentarischer Mitwirkung beruht.1254 Die Parallelität von Legitimationsleistung wird überdies noch aus der anderen Richtung angegriffen: Viele Rechtsakte ohne Gesetzescharakter ergehen unter Beteiligung von Rat und Parlament.1255 In diesen Fällen hat das Nebeneinander von besonderen Gesetzgebungsverfahren und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter zur Folge, dass der legitimatorische Vorsprung des Gesetzgebungsaktes, aus dem sich seine Berechtigung speist, als formelles Gesetz bezeichnet zu werden, bisweilen kaum noch wahrnehmbar ist: Manchmal unterscheiden sich die anwendbaren Verfahren tatsächlich nicht.1256 Dennoch gilt: Das ordentliche Verfahren, nicht das besondere, ist der systematische Regelfall.1257 Diese Erkenntnis bedeutet eine „Beweislastumkehr“. Diejenigen, die einer untergeordneten Rolle des Parlaments für ein bestimmtes Gebiet das

1251

s. zum Beispiel Art.  23 Abs.  2 sowie 109 AEUV; Dougan, ELRev. 2003, 763 (772 f.); ­ onway, ELJ 2011, 304 (309); s. die Auflistung der Vorschriften, bei denen die Beteiligung C des Parlaments im Vergleich zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zurückgeschraubt ist bei Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 289 Rn. 6. Die Fälle, in denen hingegen die Stellung des Rates im Vergleich zum Parlament zurückgenommen ist, sind seltener und nur im parlamentsrechtlichen Kontext verwirklicht (Ruffert, a. a. O., Rn. 4). 1252 Dies war im Verfassungsvertrag noch anders, s. dazu oben § 2 C. III. 2. a). Dort ließen sich die Hierarchieebenen bereits an den Handlungsformen ablesen. 1253 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S.  548; zu den Gründen und Vorteilen für die Existenz besonderer Gesetzgebungsverfahren, s. Hofmann, A Critical ­Analysis of the new Typology of Acts in the Draft Treaty Establishing  a Constitution for ­Europe, EIoP Vol. 7 (2003) No. 9, S. 15. 1254 Schütze, Shapening the Separation of Powers through  a Hierarchy of Norms?, EIPA ­Working Paper 2005/W/01, S. 6; so auch Lenaerts, EuConst 1(2005), 57 (58), der dies aber als Ausdruck eines realitätsnahen Pragmatismus entschuldigt. 1255 Dies ist bisweilen bei primärrechtsunmittelbaren Rechtsakten ohne Gesetzescharakter der Fall, dazu s. unten unter § 7 A. II. 2. 1256 Dougan, CMLRev. 2008, 617 (647); König, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, Europarecht, § 2 Rn. 92. 1257 Und zumeist erfasst es „l’essentiel de la législation communautaire“, so dass das Parlament in weiten Teilen ein echter Mitgesetzgeber ist, Jacqué, SZIER/RSDIE, 2011, 29 (56).

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  253

Wort reden, müssten beweisen, dass es sich tatsächlich um eine Domäne handelt, in denen die Rolle des Parlaments derart zurückgenommen sein und sich es etwa auf bloße Kontrollfunktionen beschränken soll.1258 Über die Etablierung einer parlamentszentrierten Vertragssystematik hinaus wurden die Anwendungsfälle des ordentlichen (Mitentscheidungs-)Verfahren tatsächlich erheblich ausgebaut1259: So besteht auch in zahlenmäßiger Hinsicht ein klares Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens und damit zugunsten einer gleichberechtigten legislativen Rolle des Parlaments.1260 Das bedeutet, dass Gesetzgebungsakte zumindest in der Regel  – nämlich im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren  – das europäische Legitimationskonzept vollständig abbilden. Und selbst für die besonderen Gesetzgebungsakte gilt wenigstens stets ein Minimum an demokratischer Würde. Jedes besondere Gesetzgebungsverfahren setzt zwingend die Beteiligung des Europäischen Parlaments voraus und bildet damit ebenfalls ds europäische Legitimationsmodell zumindest annähernd ab. Auch die übrigen Legitimationsfaktoren sind gleichermaßen für das ordentliche wie für das besondere Gesetzgebungsverfahren verbindlich: Die Beteiligung nationaler Parlamente ist wie das Erfordernis öffentlicher Sitzungen des Rates (Art. 16 Abs. 7 S. 1 EUVn) nur für den Erlass eines jeden Gesetzgebungsaktes vorgesehen.1261 Andere Rechtsakte garantieren ein solches Mindestmaß an demokratischer Legitimation hingegen nicht systematisch und vertragsübergreifend; sie erreichen dieses Legitimationsniveau allenfalls „zufällig“ und nur als Reflex der konkreten Ausgestaltung der einschlägigen primärrechtlichen Ermächtigungsnorm. Deshalb zwingt die Existenz besonderer Gesetzgebungsverfahren nicht dazu, das Projekt, einer Normenhierarchie mit dem Gesetzgebungsakt als formellem Gesetz an der Spitze einzuführen, für gescheitert zu erklären. Systematisch zeichnen sich nur Gesetzgebungsakte durch einen demokratischen Automatismus aus. Die Existenz besonderer Gesetzgebungsverfahren ist ein Zugeständnis an die Mitgliedstaaten.1262 Amato, der Vize-Präsident des Verfassungskonvents, hatte erkannt, dass sich eine vollständige legislativ-parlamentarische Gesetzgebung zur 1258 Magnette, in: Barnard, The Fundamentals of European Law Revisited, S.  13 (26); vgl. dazu die Bedenken bei Klamert, ELRev. 2010, 497 (513). 1259 Piris, The Lisbon Treaty, S. 118. 1260 Vgl. i. E. auch Schoo, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 37 (68); Jacqué, SZIER/RSDIE, 2011, 29 (56). Zumindest ursprünglich war es auch klare Intention, die besonderen Gesetzgebungsverfahren auf wenige Ausnahmefälle zu begrenzen, s. Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 28. 1261 Dies gibt auch Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (551) zu. 1262 Lenaerts, EuConst 1(2005), 57 (58): „This choice [the special legislative procedures] reflects a rather realist and pragmatic approach which tends to suffer from a lack of democratic legitimacy, but which simply testifies to the particular sensitivity of those matters to some, if not all, Member States“; vgl. auch Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (694); Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (752).

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

Zeit noch nicht verwirklichen lässt; im Konvent betonte er, es sei wichtig, eine Liste mit Ausnahmen vom ordentlichen Gesetzgebungsverfahren aufzustellen.1263 Die Beibehaltung besonderer Gesetzgebungsverfahren trägt damit die Züge eines Kompromisses, wie er für Perioden des Übergangs bisweilen sinnvoll ist. Dass aber insgesamt die Pfeile in eine Richtung zeigen, in der ein formelles Gesetz – der Gesetzgebungsakt  – an der Spitze einer Normenhierarchie steht, zeigt nicht zuletzt die Existenz der sog. passerelle-Klausel in Art. 48 Abs. 7 UAbs. 2 EUVn. Nach dieser Vorschrift kann der Europäische Rat die primärrechtliche Anordnung besonderer Gesetzgebungsverfahren schlicht durch Beschluss ändern und anordnen, dass die betreffenden Gesetzgebungsakte von nun an im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden können. Darüber hinaus hat der Rat bestimmte spezielle Befugnisse, das besondere Gesetzgebungsverfahren zum ordentlichen zu konvertieren.1264 Die Ausweitung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens wird damit erleichtert; sie ist möglich, ohne das „volle Drama“ eines Vertrags­ änderungsverfahrens.1265 Passerelle-Klauseln in die andere Richtung, sprich vom ordentlichen zum besonderen Gesetzgebungsverfahren, gibt es hingegen nicht. Der Vertrag zeigt sich offen gegenüber einer Entwicklung, die Parallelität der Hie­ rarchieebene des Gesetzgebungsaktes und dem dazugehörigen Verfahren besser zu verwirklichen.1266 2. Existenz primärrechtsunmittelbarer Rechtsakte ohne Gesetzescharakter Der Charakter eines Gesetzgebungsaktes hängt von der Art des für seinen Erlass anwendbaren Verfahrens ab; die Definition des Gesetzgebungsverfahrens ist allein formell. Daraus folgt die Abhängigkeit der Gesetzgebungsakte vom Primärrecht: Über das anwendbare Verfahren bestimmen die Verträge in den begrenzten 1263 Crum, Notes of the Meeting of the European Convention, 17. und 18. März 2003, S. 1 und 5; der Vorsitzende der Working Group IX hatte während der ersten Plenumssitzung noch versprochen, dass die Ausnahmen eng begrenzt bleiben würden, s. Liisberg, Jean Monnet ­Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-­ legislative acts – Oranges into apples?, S. 28. 1264 Dougan, CMLRev. 2008, 617 (642). 1265 Dougan, CMLRev. 2008, 617 (641); Conway, ELJ 2011, 304 (309). 1266 Allerdings schließt der Vertrag manche Bereiche vom Anwendungsbereich der passerelle-Klausel aus, s. die Aufzählung in Art.  353 AEUV. Es sind dies Beschlüsse von großer finanzieller Bedeutung sowie die Kompetenzergänzungsklausel, also Rechtsetzungskompetenzen, die mitgliedstaatliche Interessen sensibel berühren und bei denen die Mitgliedstaaten einer „staatsähnlichen“ Gesetzgebung der Union naturgemäß zurückhaltend gegenüberstehen. Von der ­passerelle-Klausel schon nach dem Wortlaut des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 2 EUVn ausgeschlossen ist die Änderung von besonderen Gesetzgebungsverfahren, in denen ausnahmsweise das Parlament die dominante Rolle mit bloßer Beteiligung des Rates spielt. Aufgrund der passerelle-Klausel können die Rechte des Parlaments mithin nur ausgebaut, nicht aber verkürzt werden, s. Dougan, CMLRev. 2008, 617 (642).

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  255

Einzelermächtigungen. Das Primärrecht kann für den Erlass von Rechtsakten sowohl das ordentliche oder besondere Gesetzgebungsverfahren vorschreiben als auch ein anderes Verfahren, aus dem dann lediglich ein Rechtsakt ohne Gesetzes­ charakter hervorgeht.1267 Allein die Verträge bestimmen damit, ob ein Rechtsakt als Gesetzgebungsakt oder als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter ergeht.1268 Ordnet das Primärrecht in einer Ermächtigung ein anderes Verfahren als ein Gesetz­ gebungsverfahren an, erlassen die zuständigen Organe einen Rechtsakt ohne Gesetzescharakter auf Grundlage der Verträge.1269 a) Keine Parallelität zwischen Basisrechtsakt und Gesetzgebungsakt (interner Blick) In diesem Fall zeigt sich, dass keine Parallelität zwischen Sekundärrecht und Gesetzgebungsakten besteht: Rechtsakte ohne Gesetzescharakter können Sekundärrecht sein, d. h. ihre Rechtsgrundlage im Primärrecht finden.1270 Nicht alle früheren „Basisrechtsakte“ sind Gesetzgebungsakte. Der Typus primärrechtsunmittel­ barer (verfassungsunmittelbarer) Exekutivrechtsetzung besteht fort.1271 Die Existenz solcher exekutiven Basisrechtsakte hat Zweifel an der konsistenten Etablierung einer nach demokratischen Gesichtspunkten geordneten Normenhierarchie herausgefordert. Tut die Existenz primärrechtsunmittelbarer Rechtsakte ohne Gesetzescharakter der Normenhierarchie Abbruch? Manche gehen davon aus, dass dieses System, das Basisrechtsakte ohne Gesetzescharakter kennt, dazu führe, dass die Zweiteilung der Hierarchie in Rechtsakte ohne Gesetzescharakter und Gesetzgebungsakte nicht konsequent durchgehalten werde. Die Normenhierarchie soll danach schon unter diesem internen1272 1267 Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (222). Maßgeblich für die Einordnung als besonderes Gesetzgebungsverfahren oder als sonstiges, nicht-legislatives Verfahren ist dabei allein die Bezeichnung, dazu s. unten § 7 A. III. 3. b) aa). 1268 In drei Fällen lässt das Primärrecht das Entscheidungsverfahren offen und überlässt es damit dem Initiativvorschlag der Kommission, in welchem Verfahren der Rechtsakt ergeht und welchen Charakter der Rechtsakt somit haben wird: Art. 203, 349, und am bedeutsamsten: die Vertragsergänzungsklausel Art. 352 AEUV, s. Piris, The Lisbon Treaty, S. 97; sowie speziell zu Art. 352 AEUV Dougan, CMLRev. 2008, 617 (648). 1269 Piris, The Lisbon Treaty, S. 94. 1270 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, S. 97. 1271 Verwirklicht ist damit wohl der Typus des aus dem romanischen Recht bekannten décretloi, nach dem die Regierung ohne parlamentarische Beteiligung oder Kontrolle verfassungsunmittelbar Recht setzen kann, vgl. etwa Oeter, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 109. 1272 Intern bezieht sich hier auf den Umstand, dass diese Kritik innerhalb des Rechtsakt­ systems festmacht. Als extern wird demgegenüber der Ansatzpunkt bezeichnet, der schon die durch das Primärrecht vorgenommene Einteilung der Ermächtigungen in die legislativen und nicht-legislativen Schubladen kritisiert. Zu diesem (berechtigteren) Kritikpunkt, s. sogleich § 7 A. II 2. c).

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

Blickwinkel Schaden nehmen. Indes scheint diese Ansicht gleichsam als naturgegeben vorauszusetzen, dass die Hierarchisierung parallel zur Unterscheidung von Sekundär- und Tertiärrecht erfolgen müsste. Dabei ist aber kein Grund ersichtlich, warum dies zwingendes Gebot einer Normenhierarchie sein sollte. Zwar war unter den alten Verträgen am ehesten eine normhierarchische Abstufung zwischen „Basisrechtsakten“ (Sekundärrecht, primärrechtsunmittelbares Recht) und „Durchführungsakten“ (Tertiärrecht, abgeleitetes Recht) verwirklicht. Bereits oben wurde aber gezeigt, dass nicht „die Basisrechtsakte“ als solche Grundlage für die normhierarchischen Ansätze waren, sondern der Umstand, dass sie zunehmend unter parlamentarischer Beteiligung ergingen. Nur eine Teilmenge der Basisrechtsakte war legitimatorisch geeignet, als formelles Gesetz zu fungieren. Dieser Einsicht folgend ist Anknüpfungspunkt für die Hierarchie nach dem neuen Recht nicht die Frage danach, ob ein Rechtsakt unmittelbar auf dem Primärrecht beruht, also ein „Basisrechtsakt“ ist, oder nicht. Anknüpfungspunkt für die Hierarchisierung ist vielmehr die Unterscheidung zwischen Rechtsakt ohne Gesetzescharakter und Gesetzgebungsakt, eine Unterscheidung, die sich allein auf die grundsätzlich höhere legitimatorische Leistung der letzteren Kategorie gründet. Auch ein primärrechtsunmittelbarer Rechtsakt ohne Gesetzescharakter entbehrt der demokratischen Automatismen, die nur an den Erlass eines Gesetzgebungsaktes geknüpft sind. Der (immer primärrechtsunmittelbare)  Gesetzgebungsakt zeichnet sich daher systematisch-legitimatorisch1273 gleichermaßen vor einem (zufälligerweise auch) primärrechtsunmittelbaren Rechtsakt ohne Gesetzescharakter aus. Dieser Legitimationsvorsprung des Gesetzgebungsaktes und nicht die Primärrechtsunmittelbarkeit begründet die Hierarchisierung. Allein der Umstand, dass es Rechtsakte ohne Gesetzescharakter gibt, die wie Gesetzgebungsakte ebenfalls unmittelbar auf dem Primärrecht fußen, vermag die Hierarchie zwischen den Rechtsaktkategorien nicht infrage zu stellen. b) Fehlende äußere Unterscheidbarkeit Mehr noch stört das Idealbild einer Hierarchie der Umstand, dass ein primärrechtsunmittelbarer Rechtsakt seine Eigenschaft als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter oder Gesetzgebungsakt nicht eindeutig nach außen kundtut.1274 Die allgemeinen Handlungsformen und deren Bezeichnungen stehen für beide Formen primärrechtsunmittelbarer Rechtsakte  – Gesetzgebungsakte wie sekundärrecht­ lichen Rechtsakte ohne Gesetzescharakter – gleichermaßen zur Verfügung. Anders 1273 Bisweilen ist der Legitimationsvorsprung aufgrund der Existenz der besonderen Gesetzgebungsverfahren recht gering: Das Erlassverfahren kann sogar identisch sein, s. oben unter § 7 A. II. 1. und Dougan, CMLRev. 617 (647). 1274 Vgl. Piris, The Lisbon Treaty, S.  94: „It was … decided to make [the differenciation ­between legislative and non-legislative acts], but to make it through the type of the adoption procedure and not through the denomination of the act.“

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  257

als bei abgeleitetem Recht (Tertiärrecht) hilft bei primärrechtsunmittelbarem kein klarstellender Zusatz (wie bei den abgeleiteten Rechtsakten, s. Art. 290 Abs. 3 – „delegiert“  – und Art.  291 Abs.  4 AEUV  – „Durchführungs-“ –) bei der Unterscheidung der beiden Kategorien. Ebenso wenig lässt sich ohne Weiteres der fehlende oder vorhandene legislative Charakter eines primärrechtsunmittelbaren Rechtsaktes an den beteiligten Erlassorganen ablesen. Bisweilen wirken auch am Erlass eines primärrechtsunmittelbaren Rechtsakts ohne Gesetzescharakter Rat und Parlament mit.1275 Dies macht es schwierig, primärrechtsunmittelbare Rechtsakte ohne Gesetzescharakter in einer Normenhierarchie unterhalb der Gesetz­ gebungsakte einzuordnen: Ihre Bezeichnung spiegelt dieses Verhältnis und die besondere Wertschätzung gegenüber dem Gesetzgebungsakt nicht wider.1276 Hier wirkt sich der Verzicht darauf, die Hierarchieebenen in verschiedene Handlungsformen zu übersetzen wie dies noch im Verfassungsvertrag vorgesehen war, am gravierendsten aus. Wäre der Verfassungsvertrag in Kraft getreten, so hätten für primärrechtsunmittelbare Rechtsakte ohne Gesetzescharakter andere Handlungsformen zur Verfügung gestanden als für Gesetzgebungsakte. Es wäre dann klar gewesen, dass eine Verordnung des Rates1277 der untergesetzlichen Hierarchieebene zuzuordnen gewesen wäre. Uneindeutig gestaltet sich die Einordnung indes auf Grundlage des Vertrags von Lissabon: Jetzt kann eine Verordnung des Rates sowohl ein Gesetzgebungsakt als auch ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter sein  – ihr Charakter lässt sich nur der primärrechtlichen Ermächtigungsgrundlage entnehmen; man muss dort nachsehen, ob die Verordnung in einem „besonderen Gesetzgebungsverfahren“ oder als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter zu erlassen war. Aber dennoch trifft der Vertrag die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungs­ akten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. Der Umstand, dass die Eigenschaft eines primärrechtsunmittelbaren Rechtsaktes ohne Gesetzescharakter letztlich nicht ohne Blick in die Ermächtigungsgrundlage getroffen werden kann, macht die Kategorisierung nicht per se obsolet, sondern nur schwerer erkennbar. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass schon das Mandat der Regierungskonferenz durch den Verzicht auf die unterschiedlichen Bezeichnungen das System der Rechtsakte nicht substantiell verändern wollte.1278 Im Ergebnis ist damit festzuhalten: Sicherlich fügt die fehlende Erkennbarkeit dem Konzept des Gesetzgebungsaktes Schaden zu. Dieses Defizit schließt aber nicht aus, dass die Gesamtkonzeption des Vertrages die legitimatorischen Vorteile des Gesetzgebungsaktes als solche erkennt und zur Grundlage einer normhierarchischen Abstufung macht: Grundlage für die herausgehobene Position eines formellen 1275

Beispiel: Art. 74 AEUV. Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (215). 1277 Zumindest ist aber immer klar, dass eine Verordnung der Kommission keinen Gesetzescharakter hat: Die Kommission kann nie Gesetzgebungsakte erlassen. 1278 s. oben unter § 2 C. III. 2. a). 1276

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

Gesetzes im Rechtssystem ist nicht sein Name, sondern sein legitimatorischer Vorteil im Vergleich zu anderen Rechtsakten.1279 c) Inkonsistenzen bei der primärrechtlichen Einordnung der Kompetenzen (externer Blick) Wie dargestellt, enthält die Definition des Gesetzgebungsaktes in Art.  289 Abs. 3 AEUV kein materielles Kriterium. Das bedeutet aber nicht, dass materielle Kriterien für die Kategorie des Gesetzgebungsaktes insgesamt ohne jede Bedeutung wären: Sie spielen zwar innerhalb des Systems keine Rolle. Sehr wohl müsste sich aber die systemexterne primärrechtliche Entscheidung darüber, welche Rechtssetzungsbefugnisse in Form eines Gesetzgebungsaktes auszuüben sind, an materiellen Kriterien orientieren. Das Konzept des formellen Gesetzes ist von geringer Relevanz, wenn die wichtigen Entscheidungen eines Gemeinwesens nicht in der Form des formellen Gesetzes getroffen werden. In einem solchen Fall läuft die sachlich-inhaltlich legitimierende Wirkung des formellen Gesetzes gerade hinsichtlich der „wichtigen“ Fragen des Gemeinwesens leer. Diese Erkenntnis gilt auch für das Konzept des Gesetzgebungsaktes: Denn welchen Vorteil haben die demokratischen Sicherungen, die an den Erlass eines Gesetzgebungsaktes geknüpft sind, wenn die wichtigen Entscheidungen im Gemeinschaftsrecht durch Rechtsakte ohne Gesetzescharakter und demnach ohne diese demokratischen Sicherungen entschieden werden könnten? Dementsprechend hatte die Working Group IX in ihrem Schlussbericht noch vorgeschlagen, dass Gesetzgebungsakte die wesentlichen Bestimmungen für einen bestimmten Bereich enthalten sollten.1280 Sie hatte für die abgeleitete Rechtsetzung der Kommission (im Fall der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen auf die Kommission gemäß Art.  290 AEUV) die Delegationssperre der Wesentlichkeit formuliert. Entsprechendes sollte aber auch für das nicht abgeleitete, sprich: das primärrechtsun­ mittelbare Recht ohne Gesetzescharakter, gelten: Solche Rechtsakte sollten nur für Entscheidungen von geringer politischer Tragweite angeordnet werden. Als Beispiele nannte die Gruppe Maßnahmen zur internen Organisation oder Fälle, in denen die „Organe exekutive Aufgaben wahrnehmen und in einem bestimmten Bereich die politischen Entscheidungen, die im Vertrag vorgegeben wurden, weiter ausgestalten.“1281 Sind nämlich die politisch wichtigen Entscheidungen schon durch das Primärrecht selbst getroffen, ist bereits so die Anbindung an den demo-

1279 Vgl. de Witte, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 79 (91), der die fehlende begriff­liche Unterscheidungsmöglichkeit nicht als Grund sieht, das Vorliegen einer Normenhierarchie ablehnen zu müssen; vgl. auch Schütze, Shapening the Separation of Powers through a Hierarchy of Norms?, EIPA Working Paper 2005/W/01, S. 14 f. für den Verfassungsvertrag. 1280 CONV 424/02, S. 9 f. 1281 CONV 424/02, S. 12 f.

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kratischen Souverän sichergestellt1282; der besonderen demokratischen Offenheit eines formellen Gesetzes zur weiteren Regelung der (unwesentlichen) verbleibenden Details bedarf es dann nicht mehr.1283 Politische Entscheidungen, die noch nicht von den Verträgen vorgegeben sind, sollten nach dem Vorschlag der Working Group hingegen in der Form des Gesetzgebungsaktes ergehen. Diese Vorgaben scheinen jedoch nur bedingt umgesetzt worden zu sein: Vielfach moniert wird die „eher willkürliche“ Einordnung der Regelungsmaterien in die verschiedenen legislativen bzw. nicht legislativen „Schubladen“.1284 So fragt sich etwa Bast, ob der Rat wirklich einen „Rechtsakt ohne Gesetzescharakter“ erlasse, wenn er die Voraussetzungen für die Verwaltungskooperation festlege oder die allgemeinen Regeln für die Durchführung der Wettbewerbsregeln erlasse (Art. 103 AEUV1285).1286 Für den gesamten Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ist der Erlass von Gesetzgebungsakten ausgeschlossen; hier handeln die Organe ausschließlich durch Rechtsakte ohne Gesetzescharakter.1287 Liisberg hat beobachtet, dass im Konvent eine Diskussion über das richtige „Label“1288 der Einzelermächtigungen gar nicht stattgefunden habe; ebenso wenig habe sich die Regierungskonferenz mit dieser Frage befasst.1289 Eher scheint man schlicht dem 1282 s. diesen Gedanken bei von Komorowski, Demokratieprinzip und EU, S. 1104; sowie konkret in Bezug auf den Lissabon-Vertrag bei Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, S. 96: Rechtsakte ohne Gesetzescharakter können auch auf Bestimmungen von EUVn und AEUV gestützt werden, die dies ausdrücklich vorsehen und die wesentlichen politischen Grundentscheidungen treffen. 1283 So auch Lenaerts in der Anhörung vor Working Group IX, s. dazu Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 14. 1284 „Rather arbitrary“: Dougan, ELRev. 2003, 763 (784); ders. ELRev. 2003, 763 (783 f.); ausführlich und zu den Hintergründen im Konvent s. Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-­legislative acts – Oranges into apples?, S. 26 ff., insbes. S. 28, der etwa im Bereich des Beihilfen- und Wettbewerbsrecht, auch die wesentlichen politischen Grundentscheidungen nicht durch den Vertrag getroffen sieht und deshalb moniert, dass die Ermächtigungen den Erlass von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter vorsehen. 1285 Enthalten diese doch etwa Regelungen zur Einführung von Geldbußen und Zwangs­ geldern, s. Art. 103 Abs. 2 lit. a AEUV. 1286 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S.  (489) 552; s. auch die Kritik im Konvent insbesondere an der Einordnung der Wettbewerbsregeln als nicht-legislativ CONV 821/02, S. 21 ff.: “[C]ompetition and state aid [are] of an legislative nature with a clear impact on the rights of citizens.“ Krit. zur Einordnung des Wettbewerbsbrechts als nichtlegislative Materie, s. auch Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into ­apples?, S. 22, 27 f. 1287 s. Art. 31 Abs. 1 UAbs.1 EUVn. Überdies handeln dort Rat und Europäischer Rat in der Regel einstimmig. Auch dies ist eine Abweichung vom „üblichen“ Modell der Rechtsetzung, bei dem Mehrheitsentscheidungen durch den Rat der Regelfall sind. 1288 Dougan, CMLRev. 2008, 617 (647). 1289 Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 24, 27. 

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prozedural-institutionellen status quo gefolgt zu sein: Rechtsakte, die nach bisherigem Recht im Mitentscheidungsverfahren zu erlassen waren, wurden im Wesentlichen schlicht in die Schublade des Gesetzgebungsakts übernommen und alle Akte, die schon bisher die Kommission allein erlassen durfte, behielten ihren Charakter als Rechtsakte ohne Gesetzescharakter; dies unabhängig davon, ob sich auch in materieller Hinsicht Argumente für eine solche Differenzierung finden ließen.1290 Dies erscheint umso bedauerlicher, als schon die frühere Anordnung des Mitenscheidungsverfahrens durch das Primärrecht manchen recht willkürlich erschien.1291 Zuletzt werden bisweilen sogar Rat und Parlament – also die Gesetzgeber – zum Erlass von Basisrechtsakten ohne Gesetzescharakter ermächtigt.1292 Manche vermuten angesichts dieses Befundes, dass gerade die Folgen einer Einstufung als Gesetzgebungsakt – also die verbesserte Transparenz und Öffentlichkeit – die Vertragsautoren bewogen habe, bestimmte Materien als nicht-legislativ einzustufen, um so das Eingreifen der demokratischen Sicherungen sowie damit einhergehend ein erhöhtes Maß an öffentlicher Kontrolle zu verhindern.1293 Ähnlich ungünstig wird die Anordnung eines „executive reservoir“ des Rates in der

1290 Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts  – Oranges into apples?, S.  26: Rechtsgrundlagen, die bisher das Mitentscheidungsverfahren vorsahen, wurden schlicht als legislativ eingeordnet, Rechtsgrundlagen, die die Kommission zur vertragsunmittelbaren Rechtsetzung ermächtigen waren sicher nicht-legislativ. Unsicher waren lediglich solche Befugnisse, nach denen bisher der Rat allein (u. U. nach Anhörung des Parlaments) Recht setzen konnte. Hier musste ein materielles Kriterium angelegt werden. s. zu den Hintergründen der Einordnung im Einzelnen die bereichsbezogenen Erläuterungen bei Liisberg, a. a. O., S. 27–32 (u. a. Bereichen Wettbewerb/Beihilfen, Agrarmarkt, Handel). 1291 Tizzano, in: Winter/Curtin/Kellermann/de Witte, S.  207 (213). Insofern zeigt sich aber, dass auch mit der kategorischen Unterscheidung zwischen gesetzlichem Recht und untergesetzlichem Recht entgegen Tizzanos Annahme die Verteilung der parlamentarischen Beteiligungsrechte durch das Primärrecht nicht automatisch „relativ einfach wird“ (a. a. O., S. 213). 1292 Das ist immer dann der Fall, wenn das Primärrecht anordnet, das Rat und Parlament einen Rechtsakt erlassen, ohne zu erwähnen, dass es sich um ein besonderes Gesetzgebungs­ verfahren handelt. A. A. Weiß, EWS 2010, 257 (260), der die ausdrückliche Bezeichnung eines Erlassverfahrens als (besonderes) Gesetzgebungsverfahrens für entbehrlich hält, und dementsprechend auch dann Gesetzgebungsverfahren angeordnet sieht, wenn Rat und Parlament gemeinsam handeln und „wesentliche Fragen“ regeln. Zu dieser Auslegungsfrage, s. unten § 7 A. III. 3. b) aa). 1293 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (552 f.); Hummer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 19 (66); ebenso Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (754). Zwingend ist es nicht, den Vertragsautoren diese unlautere Intention zu unterstellen: Im Hinblick auf das Wettbewerbsrecht vermutet Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 28, dass die Vertragsautoren (insbesondere der Rat und die Kommission) die Kernkompetenzen der Union im Wettbewerbsrecht nicht ändern wollten, um eine weitere Politisierung, insbesondere durch stärkere Einbeziehung des Parlaments, in diesem sensiblen Politikbereich zu vermeiden. Warum man dann nicht einfach ein besonderes Gesetzgebungsverfahren vorgesehen hat, erklärt Liisberg damit, dass ursprünglich besondere Gesetzgebungsverfahren eng begrenzte Ausnahmen bleiben sollten.

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Agrarpolitik (Art. 43 Abs. 2 AEUV) als Ausdruck des Misstrauens der Vertrags­ autoren gegenüber dem Mitgesetzgeber Parlament gedeutet.1294 Aber welche Konsequenzen hat die zumindest verbesserungswürdige Einteilung legislativer und nichtlegislativer Konsequenzen für die hierarchische Zweiteilung des (sekundären) Gemeinschaftsrechts in Gesetzgebungsakte und Rechtsakte ohne Gesetzescharakter? Für die legitimatorische Höherwertigkeit des Gesetzgebungsaktes als solche wirkt sich nicht aus, dass neben gesetzgeberischen Basisrechtsakten untergesetzliche Basisrechtsakte existieren. Die Einordnung betrifft den äußeren Rahmen des Systems, beeinflusst aber erst einmal nicht die Wertigkeit der „Gesetzgebungsakte“, die innerhalb des Systems als solche kategorisiert sind. Die Kategorie der Gesetzgebungsakte ist auch gegenüber primärrechtsunmittelbaren Rechtsakten ohne Gesetzescharakter legitimatorisch vorzugswürdig. Damit bleibt grundsätzlich Potential, die legitimatorische Abstufung zwischen diesen beiden Kategorien als Grundlage für eine Normenhierarchie des bisher einheitlichen Korpus des Unionsrechts rechtlich anzuerkennen.1295 Die erst mal nur „systemexterne“ Frage, in welche Schubladen die Kompetenzen eingeordnet werden, kann jedoch unter Umständen auf das „interne“ System „durchschlagen“.1296 So besteht die Gefahr, dass die beschriebene „Willkürlichkeit“ die legitimatorisch begründete normhierarchische Abstufung verwischt. Wenn der Rat nach Anhörung des Parlaments gemeinsam auf Grundlage des Vertrages Wichtiges in Form eines Rechtsaktes ohne Gesetzescharakter regelt1297, scheint wenig einsichtig, warum dieser Rechtsakt gegenüber einem Gesetzgebungsakt, der ebenfalls auf Grundlage des Primärrechts unter ähnlichen oder gar identischen Vorzeichen (etwa durch den Rat mit Beteiligung des Parlaments) ergeht, nachrangig sein soll.1298 Bedenkt man, dass der Vertrag von Lissabon-Vertrag keine Rangregeln vorsieht, sie vielmehr das Produkt von Wissenschaft und Rechtsprechung sind1299, ist es nicht ganz gewiss, dass der legitimatorische Vorsprung des Gesetzgebungsaktes (der überdies bisweilen äußerst gering ausfällt, s. o.) tatsächlich zum Anlass

1294 Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (764). Während Art.  43 Abs.  2 AEUV begrüßens­ werterweise für die Regelung der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte sowie für die anderen Bestimmungen zur Verwirklichung der Agrar- und Fischereipolitik das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsieht, hält das Primärrecht das Parlament in Art. 43 Abs. 3 AEUV draußen: Maßnahmen zur Festsetzung der Preise, der Abschöpfungen der Beihilfen usw. erlässt allein der Rat in Form von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. 1295 So für den Verfassungsentwurf Nettesheim, EuR 2006, 737 (769). 1296 Ein „dogmatisches Eigenleben“ der beschriebenen konzeptionellen Schwächen befürchtet auch Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (554). 1297 Beispielsweise auf Grundlage des Art. 103 Abs. 2 AEUV Regeln zum Wettbewerbsrecht. 1298 Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, 643 (692). 1299 s. zu diesem häufig anzutreffenden Phänomen von Rangregeln Nettesheim, EuR 2006, 736 (739).

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genommen wird, ihn als die Spitze einer Normenhierarchie anzuerkennen.1300 Die inkonsistente Einordnung der Regelungsmaterien könnte sich damit durchaus als Hemmschuh für die Herausbildung legitimatorisch begründeter Rangregeln erweisen. Überdies könnte aus einem externen Blickwinkel das (demokratische)  Gesamtkonzept der Verfassung zweifelhaft werden und dem Vorwurf anheimfallen, nur „vorgeschoben“ zu sein, wenn die wirklich wichtigen Fragen verfassungsunmittelbar durch Exekutivakte geregelt werden könnten.1301 So weit würde ich allerdings nicht gehen: Insgesamt wurde die parlamentarische Beteiligung am Erlass von Rechtsakten erheblich ausgebaut. Viel mehr „wichtige“ Fragen als früher werden nun in Umsetzung des dualen Demokratiemodells als Gesetzgebungsakte beschlossen. Dabei bildet nur Gesetzgebungsakte immer das duale Demokratiemodell ab, weil sie stets unter Beteiligung von Rat und Parlament ergergehen. Sie weisen daher durchgehend ein Mindestmaß an demokratischer Legitimation auf. Die beschriebenen Inkonsistenzen sind zu be­ dauern – insbesondere im Wettbewerbsrecht ist das nicht-legislative Label mehr als fragwürdig1302 –, sollten aber an der grundsätzlichen Intention des Vertrages, den Gesetzgebungsakt für Fragen von allgemeinem Interesse einzusetzen und europäischer Rechtsetzung auf diese Weise demokratischer zu gestalten, keinen Zweifel wecken.1303 Mit Nachsicht zu beurteilen sind die konzeptionellen Schwächen bei der primärrechtlichen Unterscheidung von Gesetz und untergesetzlichem Recht auch deshalb, weil die Entscheidung über die Einordnung als legislative oder nichtlegis­lative Kompetenzen in hohem Maße politischen Einflüssen und mitgliedstaatlichen Interessengegensätzen ausgesetzt war.1304 Dass sich da das Ergebnis dieser Auseinandersetzung nicht völlig konsequent an der materiellen Wichtigkeit oder politischen Relevanz einer Entscheidung orientiert, wie noch von der ­Working Group IX vorgeschlagen, liegt in der Natur von Kompromissen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass das Konzept des Gesetzgebungsaktes ein Symptom einer wachsenden Annäherung an ein parlamentarisches föderales System ist, also – sofern man die föderalen Formen eines bloßen Staatenbundes und eines Bundes-

1300

Sehr zweifelnd auch Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, 643 (692). Vgl. Hummer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 19 (66), der findet, dass staatsrechtlich besetzte Begriffe missbraucht würden, um Demokratie- und Legitimitätsdefizite zu kaschieren; vgl. auch ähnlich Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (754); Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (553). 1302 Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU Constitutional Treaty and its Distinction between Legislative and non-Legislative Acts – Oranges into Apples?, S. 27 f.; ­Lenaerts/ Desomer, ELJ 2005, 744 (754); Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (552). 1303 Vgl. aber Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU Constitutional Treaty and its Distinction between Legislative and non-Legislative Acts – Oranges into Apples?, S. 45. 1304 Vgl. allgemein zu den Eigenheiten und Schwierigkeiten des Vertragsänderungsverfahrens Bieber, in: Fastenrath/Nowak, Der Lissabonner Reformvertrag, S. 47 (48). 1301

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staates als Endpole einer Skala begreifen will1305 – in die Richtung einer größeren Staatsähnlichkeit der Union weist.1306 Angesichts des Entwicklungsprozesses, in dem sich die Europäische Union noch befindet, erstaunt es nicht, dass sich dieses Konzept des Gesetzgebungsaktes nicht in allen Politikgebieten der Union gleichermaßen und auf einmal durchsetzen kann. Etwa der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik insgesamt dieses Instrumentarium vorzuenthalten1307 und damit die intergouvernementalen im Gegensatz zu den föderalen Elementen zu betonen, stellt deshalb den Integrationsschritt, der durch die Einführung und die Bedeutung des formellen Gesetzes in anderen Politikbereichen erreicht wurde, nicht grundsätzlich in Abrede. Zudem lässt sich mit guten Gründen vertreten, dass dieser Politikbereich insgesamt als eine Domäne der Exekutive zu betrachten ist, so dass zumindest der allgemeine Ausschluss von Gesetzgebungsakten in das System der Rechtsakte passt.1308 3. Befugnis zur Änderung Weiter könnten die Bedeutung und der legitimatorische Vorsprung des Gesetzgebungsaktes dadurch Schaden erleiden, dass der Gesetzgeber die Kommission in Art. 290 AEUV nicht nur zur „Ergänzung“, sondern auch zur „Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des betreffenden Gesetzgebungsakts“ ermächtigen kann. Im Fall der Ermächtigung zur Änderung1309, so scheint es, wird der Vorrang und der Wert des Gesetzgebungsaktes in Frage gestellt: Die untergesetzliche, weniger demokratische Regelungsform ist den Bestimmungen des höherwertigen Gesetzes nicht unterworfen, sie kann es abändern; die Identität von Gesetzesform und tatsächlicher Gesetzgebung wird aufgehoben.1310 Welchen Gewinn bringt also die hervorgehobene legitimatorische Stellung des Gesetzgebungs­

1305 Krit. zu jeder Zwangsläufigkeit der Entwicklung vom Staatenbund zum Bundesstaat aber Mangold, Gemeinschaftsrecht und deutsches Recht, S. 449. 1306 Vgl. Ruffert, EuR 2009 Beiheft 1, 31 (39); Schwarze, EuR 2003, 535 (554); Nettesheim, EuR 2006, 738 (769). 1307 Art. 31 EUVn unterwirft Beschlüsse im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der (intergouvernemental begründeten) Einstimmigkeitsregel und schließt den Erlass von Gesetzgebungsakten in diesem Politikbereich insgesamt aus. 1308 Hofmann, ELJ 2009, 482 (494); Lenarts/Desomer, ELJ 2005, 744 (754). 1309 Im Rahmen der Übertragung von Durchführungsbefugnissen war eine Ermächtigung zur Änderung durchaus möglich, wie sich bereits aus dem Regelungsverfahren mit Kontrolle ergibt, das für Maßnahmen von allgemeiner Tragweite zur Änderung nicht-wesentlicher Bestimmungen des Basisrechtsakts vorgesehen war und damit die Zulässigkeit der Änderung voraussetzte und so die seit langem bestehende Praxis berücksichtigte. Grundsätzlich musste die Befugnis zur Änderung des Basisrechtsakts ebenfalls ausdrücklich im Basisrechtsakt vor­ gesehen sein, EuGH, Rs. 100/74 (C. A. M./Kommission), Slg. 1975, 1393. Allerdings verschwammen in der Praxis der Durchführung zunehmend die Grenzen zwischen der bloßen Ergänzung und der Änderung von Basisrechtsakten, s. Möllers, EuR 2002, 483 (513). 1310 Nettesheim, EuR 2006, 738 (770).

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aktes, wenn er durch die Hintertür doch wieder verändert werden kann, ohne dass diese Änderung durch die „demokratischen Sicherungen“, die nur an den Erlass eines Gesetzgebungsaktes geknüpft sind, automatisch ans Licht der Öffentlichkeit gelangt? Theoretisch fügt die Befugnis zur Änderung des Gesetzgebungsaktes dem dargestellten Konzept des formellen Gesetzes keinen Schaden zu; sie war schon unter der Ägide des alten Rechts präsent.1311 Die Änderungsmöglichkeit beschränkt sich auf die „nicht-wesentlichen Vorschriften“ des ermächtigenden Gesetzgebungsaktes.1312 Sie macht der untergesetzlichen Regelung, dem delegierten Rechtsakt, nicht mehr Regelungsbereiche zugänglich, als nicht schon die Delegation er­laubte.1313 Der Vorbehaltsbereich wird durch die Änderungsmöglichkeit konzeptionell nicht angetastet; Übergriffe in den formellgesetzlichen Vorbehaltsbereich des „Wesentlichen“ durch delegierte Änderungsakte sind zumindest theoretisch nicht erlaubt. Es ist letztlich unerheblich, ob der Gesetzgeber von vorneherein nur das Wesentliche regelt und das Unwesentliche delegiert; oder ob er selbst, „weil er ja gerade dabei ist“, eine unwesentliche Frage im Gesetzgebungsakt „mit regelt“, diese unwesentliche Regelung aber unter den „Vorbehalt“ einer Änderung durch die Kommission stellt. Der Bindungsanspruch des Gesetzes ist hinsichtlich der unwesentlichen, der Änderung zugänglich gemachten Regelung von vornherein zurückgenommen.1314 Ein solches Vorgehen kann insbesondere in technischen Gebieten, die häufiger Anpassung an den technischen Fortschritt bedürfen, sinnhaft sein: Den aktuellen Stand der (unwesentlichen) Dinge kann der Gesetzgeber noch selbst im Gesetzgebungsakt wiedergeben, die Anpassung, und damit Änderung des Gesetzgebungsaktes, überlässt er hingegen der flexibler agierenden, sachnäheren Kommission. Die theoretische Unschädlichkeit der untergesetzlichen Änderung eines Gesetzgebungsaktes hängt allerdings in besonderem Maße davon ab, dass die Bereiche des „Wesentlichen“ und des „Unwesentlichen“ trennscharf voneinander zu unterscheiden sind. Daran dürfte es in der Praxis häufig fehlen. Das Kriterium der Wesentlichkeit ist in seiner Unschärfe in Deutschland, wo es ebenfalls die Grenzen des formellen Gesetzesvorbehalts ziehen soll, fast schon sprichwörtlich.1315 Die 1311 Bergström, Comitology, S. 341; s. Rspr.: EuGH, Rs. C-156/93 (Parlament/Kommission), Slg. 1995, I-2019; EuGH, Rs. C-417/93 (Parlament/Rat), Slg. 1995, I-1185; s. als Beispiel für einen bereits auf Grund der alten Rechtslage erlassenen „delegierten“ Rechtsakte: Richt­ linie der KOM 2001/101/EG v. 26.11.2001 zur Änderung der Richtlinie von Rat und EP 2000/ 13/EG. 1312 Vgl. zum Verfassungsvertrag Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, Art.  I-36 Rn. 6. 1313 Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 290 Rn. 7. 1314 Dazu s. Schulze-Fielitz, in: Allg. VerwR – Zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 135 (138); Schmidt-Aßmann, Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 4. Kap. Rn. 12 ff.; von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 233. 1315 Zur Auslegung des Begriffs der Wesentlichkeit in Art. 290 AEUV s. oben § 2 D.

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Kommission kann die Änderung von sich aus einleiten. Ihr sind damit erheb­liche Ermessensspielräume eingeräumt: Wie weit sie den Gesetzgebungsakt ändern darf, hängt davon ab, wie sie ihre Ermächtigung und das Kriterium der „Wesent­ lichkeit“ versteht. Ist der Kommission mit der Ermächtigung zur Änderung eines Gesetzgebungsaktes die Tür zu den Regelungen des formellen Gesetzes erst einmal geöffnet worden, birgt dies somit die Gefahr von Übergriffen in den geschützten Vorbehalts­ bereich des „Wesentlichen“. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass bisher originäre, materiell umrissene Regelungskompetenzen der Kommission mit Argwöhn beäugt wurden. Die Kommission hatte sowohl im Vorfeld der Einheitlichen Europäischen Akte als auch vor dem Vertrag von Maastricht versucht, sich eine originäre Zuständigkeit für „Durchführungsmaßnahmen“ zu sichern.1316 Die Kommission hätte, wäre ihr Vorschlag auf mehr Gegenliebe gestoßen, Durchführungsregelungen erlassen können, ohne hierzu im Einzelfall vom Rat ermächtigt worden zu sein. Ihre Zuständigkeit wäre allein dadurch ausgelöst worden, dass es sich bei der zu treffenden Regelungen um eine Durchführungsmaßnahme gehandelt hätte. Damit wäre der Kommission aber ein Einfallstor geöffnet worden, in legislative Räume vorzudringen; hätten ihr doch durch den sehr unbestimmten Begriff der Durchführung beträchtliche Auslegungsspielräume zur Verfügung gestanden.1317 Aus diesem Grund hatten die Vertragsautoren dieses Ansinnen der Kommission zurückgewiesen. Mit der Befugnis zur Änderung von nur „unwesentlichen“ Teilen des Gesetz­ gebungsakts verhält es sich ähnlich wie mit dem kompetenzauslösenden Kriterium der Durchführung. Die Befürchtung, dass die Kommission nicht nur Unwesentliches, sondern auch Wesentliches ändert, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Inwiefern diese Bedenken tatsächlich begründet sind und der Vorbehaltsbereich durch die Änderungsbefugnis der Kommission tatsächlich Schaden nehmen wird, wird insbesondere von zwei Dingen abhängen: Zum einen den Vor­ gaben, die der Gesetzgeber der Kommission bei der Ermächtigung macht. So wäre insbesondere daran zu denken, das Erfordernis, nur „bestimmte nicht wesentliche Vorschriften“ zu ändern, so zu verstehen, dass der Gesetzgeber diejenigen – un­ wesentlichen – Vorschriften, die zur Disposition der Kommission stehen sollen, im ermächtigenden Gesetzgebungsakt genau bezeichnen und vielleicht sogar enumerativ aufzählen muss.1318 Zum anderen könnten die Gefahren für das Konzept des Gesetzgebungsaktes dadurch eingedämmt werden, dass sich der EuGH um klare 1316 Hofmann, A critical analysis of Acts in the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, EIoP Vol. 7 (2003), No. 9, S. 5. 1317 Hofmann, A critical analysis of Acts in the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, EIoP Vol. 7 (2003), No. 9, S. 4. 1318 So wohl Weiß, EWS 2010, 257 (260). Diese Vorgaben beachtet Art.  74 der Richtlinie 2010/75/EU vom 24. November 2010 über Industrieemissionen: Dort sind die zu ändernden Vorschriften aufgezählt.

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Vorgaben für die Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm bemüht und bereit ist, diese – besonders im Fall der Ermächtigung zur Änderung – konsequent durchzusetzen.1319 III. Rechtsfolgen des Gesetzgebungsaktes Die Verknüpfung dieser Legitimationsfaktoren mit der Hierarchieebene des Gesetzgebungsaktes wäre ohne Bedeutung, wenn das Rechtssystem dem Gesetz­ gebungsakt nicht zugleich besondere Aufgaben zuerkennen würde. Zu suchen ist also nach Rechtsfolgen, die das Rechtssystem an das Vorliegen eines Gesetz­ gebungsaktes knüpft. Während in manchen Bereichen der Gesetzgebungsakt in der Tat eine herausgehobene Stellung einnimmt, fehlt es in anderen an der Zuweisung spezifischer Aufgaben zu der Rechtsform des formellen Gesetzes, dem Gesetz­gebungsakt. 1. Bestandskraft Von einem an der Spitze einer Normenhierarchie stehenden formellen Gesetz erwartet man gemeinhin eine verstärkte Abschirmung gegenüber der Judika­tive.1320 Fast in allen Rechtsordnungen lässt sich beobachten, dass gegen formelle Gesetze kaum geklagt werden kann und sie deshalb, wenn überhaupt, nur unter erschwerten Bedingungen von Gerichten aufgehoben werden können.1321 Die aus dem deutschen Recht bekannte Gesetzesverfassungsbeschwerde stellt insoweit fast schon eine Ausnahme dar, wobei selbst dieser Rechtsbehelf nur relativ selten tatsächlich zur Aufhebung eines formellen Gesetzes führt.1322 In anderen Rechtsordnungen, insbesondere der englischen mit ihrer strikten Betonung der parliamentary sovereignty, ist der Gedanke, dass Gerichte parlamentarische Gesetze aufheben können, schlichtweg verpönt.1323 Hinter dieser relativen „Unantastbarkeit“ formeller Gesetze stehen wichtige verfassungsrechtliche Prinzipien, die das Konzept des formellen Gesetzes abstützen: Gewaltenteilung und Demokratieprinzip verbieten es, dass ein in geringerem Maße demokratisch legitimiertes Organ (die Gerichte) die Rechtsakte des am meisten demokratisch legitimierten Organs auf 1319 An der erforderlichen Strenge des EuGH zweifelnd Hofmann, ELJ 2009, 482 (488) und Craig, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S. 109 (116 f.). 1320 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (550). 1321 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 532; Schönberger, EuR 2003, 600 625). 1322 Vgl. Everling, EuZW 2010, 572 (573, insbes. Fn. 7). 1323 Deshalb gibt es im englischen Recht auch nach der Einführung des Human Rights Acts, der schließlich auch die Legislative in grundrechtliche Bahnen lenken soll, keine Möglichkeit der gerichtlichen Aufhebung eines Parlamentsgesetzes. Die parliamentary sovereignty wird hochgehalten; die Gerichte können nur eine declaration of incompatibility aussprechen.

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heben; zumindest gebieten diese Prinzipien, die Möglichkeit gerichtlicher Kassation einzuschränken.1324 Ebenso mögen für die eingeschränkte Justiziabilität von formellen Gesetzen Gesichtspunkte der Funktionalität sprechen: Das demokratisch hochwertige Verfahren ist in der Regel aufwendiger; die Ergebnisse dieses Verfahrens sollen nicht allzu leicht wieder zur Disposition stehen. Die Etablierung einer Hierarchie ermöglicht es, formellen Gesetzen im Hinblick auf die Justiziabilität von Rechtsakten eine herausgehobene Stellung einzuräumen: Die Bestimmung verschiedener Hierarchieebenen von Rechtsakten schafft die Grundlage, für das Vorgehen gegen niederrangige Normen gericht­ lichen Zugang zu eröffnen, ihn zugleich aber für Angriffe gegen formelle Gesetze zu beschränken. Dies stärkt wiederum die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation des hoheitlichen Handelns: Das formelle Gesetz als Mittel sachlichinhaltlicher Legitimation ist mit einer erhöhten Bestandskraft ausgezeichnet.1325 Auf diese Weise vermag es besser seine Aufgabe zu erfüllen, eine allgemeine und dauernde Ordnung zu errichten; im Gegensatz dazu darf die untergesetz­liche Norm gerichtlicher Kontrolle in stärkerem Maße unterworfen werden, zielt sie doch auf „das Vorübergehende, Veränderliche, Zweckbedingte und die Ausführung der Gesetze“.1326 Damit zeigt sich, dass die Frage, ob ein Gesetzgebungsakt gerichtlicher Kontrolle nur unter erschwerten Voraussetzungen unterworfen ist, ein wichtiges Kriterium dafür ist, ob der Gesetzgebungsakt seiner Rolle als Vermittler sachlich-inhalt­ lich demokratischer Legitimation nachkommen kann und ob oder zu welchem Grad ein „echtes“ formelles Gesetzes in die Rechtsordnung Einzug gehalten hat. Entscheidend für die Antwort auf diese Frage ist, inwiefern insbesondere Individualklagen gegen Gesetzgebungsakte möglich sind. Solche Klagen, mit denen die Verletzung subjektiver Rechte geltend gemacht wird, sind im Hinblick auf den Schutz des demokratischen Legitimationsanspruchs des formellen Gesetzes besonders bedenklich; klagt hingegen ein demokratisch legitimiertes Organ (z. B. die privilegierten Kläger gemäß Art. 263 AEUV) können die Bedenken dadurch abgemildert werden, dass der Initiator des Verfahrens seinerseits gewisse, wenn auch teilweise nur mittelbare, demokratische Legitimation genießt.1327 Von besonderem Interesse ist daher, wie sich die Klagemöglichkeit juristischer oder natürlicher 1324

Zu diesem Aspekt McDonnell, in: FS Bieber, S.  373 (376 f.); Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (762). 1325 Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, S. 96; statt einer judiziellen Kontrolle unterliegt legislatives Handeln stärkerer politischer Kontrolle, s. Hofmann/Türk, ELJ 2007, 253 (268). Damit die politische Kontrolle wirksam ist, ist die Forumsfunktion des legislativen Verfahrens von herausgehobener Bedeutung; „[D]ie formell hierarchisch höchste Stellung nimmt … eine Norm ein, die die größte Änderungsresistenz aufweist.“ s. Hofmann, Normenhierarchien, S. 20 f. 1326 Vgl. für das Beispiel des deutschen Rechts (Gesetz/Verordnung) Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 331. 1327 Vgl. Möllers, Gewaltengliederung, S. 155.

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Personen gegen Gesetzgebungsakte nach dem Vertrag von Lissabon darstellen. Hierzu bestimmt Art. 263 Abs. 4: „Jede natürliche oder juristische Person kann unter den Bedingungen nach Absätzen 1 und 2 gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben.“

Grundsätzlich erweitert der AEUV damit die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzelnen im Vergleich zur früheren Rechtslage. „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ können, anders als noch unter der Ägide des EGV1328, vom Einzelnen bereits im Falle nur unmittelbarer Betroffenheit dem EuGH vorgelegt werden. Der weitergehende Nachweis einer auch individuellen Betroffenheit ist dem­gegenüber nicht mehr erforderlich.1329 Fraglich ist nun, ob diese erleichterte Klagemöglichkeit auch für Gesetzgebungsakte gilt. Dies hängt davon ab, ob Gesetzgebungsakte zu den „Rechtsakten mit Verordnungscharakter“ i. S. d. Art.  263 Abs.  4 AEUV zählen. Auf Grundlage der noch im Verfassungsvertrag avisierten Änderungen wäre die Antwort auf diese Frage leichter gefallen. Dort war nach ganz überwiegender Ansicht mit der Verwendung der Begriffe „Gesetz“ und „Rahmengesetz“ als besondere Handlungsformen für Gesetzgebungsakte klargestellt, dass sie keinen Verordnungscharakter besaßen.1330 Schließlich fand die Bezeichnung „(Europäische) Verordnung“ nur auf Rechtsakte ohne Gesetzescharakter Anwendung. Gesetzgebungsakte waren damit im Verfassungsvertrag von der erleichterten Direktklage ausgenommen. Wäre der Verfassungsvertrag in Kraft getreten, hätten sich Gesetzgebungsakte also einer besonderen Bestandskraft erfreuen können, und dies wäre auch hinreichend deutlich zum Ausdruck gekommen.1331 1328 Dort galt das Erfordernis „unmittelbarer und individueller Betroffenheit“ sowie die hierzu entwickelnde „Plaumann-Formel“, EuGH, Rs. C-25/62 (Plaumann), Slg. 1963, 213, S. 238. 1329 Kokott/Dervisopoulos/Henze, EuGRZ 2008, 14.  1330 Mayer, DVBl 2004, 606 (610 ff.); Streinz/Ohler/Herrmann, Die neue Verfassung für Europa, S.  77; Obwexer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S.  237 (256); ­Everling, EuZW 2010, 572 (573); a. A. Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (551 u. 556 f.); s. aber Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 38 f.: Dem Konvent wurde als Alternative zur Formulierung „regulatory act“ auch die Formulierung „act of general application“ vorgeschlagen; die Mehrzahl der Konventsmitglieder befürwortete aber die Bezeichnung „regulatory act“, um eine Unterscheidung zum „legislative act“ zu ermöglichen und damit den individuellen Rechtsschutz gegen Legislativ­ akte einzuschränken. 1331 Jedoch auch schon hinsichtlich der – im Vergleich deutlich klareren – Rechtslage nach dem Verfassungsvertrag kritisch: McDonnell, FS Bieber, S. 372 (386): „… with regard to judicial protection, the Constitutional Treaty would not make full use of the possibilities offered by the new hierarchy of acts it introduces, because it has failed to harmonize the terminology used in different parts of the Treaty.“ Ähnlich Flogaitis/Pottakis, EuConst 1(2005), 108 (109): „Probably the intention of the phrasing [regulatory acts] is to protect European laws against direct proceedings of individuals, but the term seems to leave the Court ample room for manoeuvre.“

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Weniger einfach und deshalb konfliktträchtiger gestaltet sich die Auslegung des Begriffes des „Rechtsaktes mit Verordnungscharakter“ auf Grundlage des AEUV. Der Begriff „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ wird an keiner anderen Stelle in den Verträgen erwähnt.1332 Und „Verordnungen“ kennt der Vertrag von Lissabon in der Form von Gesetzgebungsakten als auch als Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. Diese Begriffsverwendung macht es vielen schwierig, wenn nicht gar unmöglich1333, „Gesetzgebungsakten“, insbesondere, wenn sie als „Verordnung“ ergehen, den „Verordnungscharakter“ abzusprechen.1334 Während manche nur diese vermeintliche Widersprüchlichkeit thematisieren und damit an Begrifflichkeiten haften bleiben, versucht Bast, den Gebrauch des Begriffs „Verordnungscharakter“ auf andere Weise zu erklären. Der „Verordnungscharakter“ einer Regelung solle nicht die Stellung des Rechtsaktes in der Normenhierarchie bezeichnen, sondern lediglich den normativen Charakter einer Regelung.1335 Aber auch ein solches Verständnis des Rechtsakts mit Verordnungscharakter greift wohl zu kurz. Zwar schwingt im Begriff „Verordnungscharakter“ sicherlich der Gedanke der Normativität mit. Gleichermaßen mit Berechtigung könnte man dem Begriff der Verordnung eine weitere Bedeutung entnehmen: Er könnte sich ebenso gut auf den Erlass eines Rechtsaktes durch ein anderes Organ als die Legislative in einem anderen Verfahren als dem Gesetzgebungsverfahren beziehen. Einen solchen Sprachgebrauch pflegt dabei nicht nur das deutsche Grundgesetz in Art. 80 GG; während die Normativität gemeinhin Attribute sowohl des Gesetzes als auch der Verordnung sind, unterscheidet sich die Verordnung i. S. d. Art. 80 GG von dem Gesetz allein durch ihren exekutiven Ursprung. Sie ist ein nur materielles Gesetz im Gegensatz zu einem formellen Gesetz.1336 Entsprechende Begriffsverwendungen sind auch dem französischen Recht nicht unbekannt. Dort wird die autonome exekutive Rechtsetzungsbefugnis als „pouvoir réglementaire“1337 1332 Thiele, EuR 2010, 30 (43); Obwexer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 237 (256). 1333 Obwexer, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 237 (256); Everling, EuR Beiheft 1, 2009, 71 (74). 1334 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (551). 1335 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (551). 1336 Vgl. zum in Einzelnen unklaren Verordnungsbegriff des Art.  80 GG Uhle, in: Epping/ Hillgruber, GG, Art. 80 Rn. 2; klar ist aber, dass eine „Verordnung“ nicht vom Gesetzgeber erlassen wird. 1337 Knemeyer, S.  94; zum französischen Sprachgebrauch s. auch: Pactet/Mélin-Soucramanien, Droit Constitutionnel, S. 599: „Les textes à valeur législative sont des textes organiquement réglementaires, parce qu’ils ont été pris par une autorité exécutive, mais matériellement législatifs parce qu’ils portent sur des matières législatives …“ (Hervorhebung durch Verf.); zu der vorherrschenden Koppelung der Begriffe „Gesetz“ und „Verordnung“ an ein bestimmtes Erlassorgan s. auch (wenn auch kritisch) von Bogdandy, Gubernative Rechtsetzung, S. 162 f. und die Übersicht auf S. 303. Zwar werden Handlungsformen der Exekutive bisweilen auch mit dem Gesetzesbegriff in Verbindung gebracht, jedoch zeigt stets ein weiteres Wort, wie beispielsweise „Decreto Legge“ (Spanien) oder „Decreto Legislativo“ (Italien) den nicht-legislativen Ursprung an.

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bezeichnet. Wenn aber auch ein solches Verständnis möglich ist  – nämlich ein Verständnis des Verordnungscharakters als Hinweis auf ein (exekutives) in Abgrenzung zu einem legislativen Erlassverfahren – ist nicht von vorneherein „ausgeschlossen“, dass eine Verordnung keinen Verordnungscharakter hat.1338 „Verordnung“ bezeichnet nur die Handlungsform, die nun mal nach der unglücklichen Konzeption des Lissabonner Vertrags auf zwei Ebenen auftauchen kann (auf Gesetzgebungsebene und auf Nicht-Gesetzgebungs- oder eben: Verordnungsebene), während „Verordnungscharakter“ die hierarchische Einordnung der betreffenden Handlungsform als Gesetzgebungsakt oder als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter betrifft. Für dieses Verständnis spricht nicht zuletzt auch eine systematische Wortlautauslegung. Die einzige andere Stelle, an der der „Charakter“ eines Rechtsakts eine Rolle spielt, betrifft die Abgrenzung von Gesetzgebungsakten und eben Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. Schon die Parallelität zu dieser Formulierung streitet für ein Verständnis des Verordnungscharakters als Hinweis auf den anderen, nämlich exekutiven, Ursprung der Regelung: Schließlich bezeichnet auch „Gesetzescharakter“ den Erlass eines Rechtsaktes im Gesetzgebungsverfahren und bezeichnet so den legislativen Ursprung der Norm, wie sich aus einer Gesamtschau der Art.  288–290 AEUV, insbesondere aus Art.  289 Abs.  3, 290 Abs.  1 AEUV, ergibt. Schließlich liefert auch die Entstehungsgeschichte der Vorschriften gute Gründe für diese Interpretation von Art.  263 Abs.  4 Alt. 3 AEUV.1339 Wenn  – wie von der herrschenden Meinung ganz überwiegend (mit Ausnahme von Bast) – angenommen wurde, der Verfassungsvertrag noch den Rechtsschutz nur für Rechtsakte ohne Gesetzescharakter privilegieren wollte1340, hätte man eine deutliche Willensäußerung erwartet, welche die Abkehr und die Erweiterung des privilegierten Rechtsschutzes auch gegen Gesetzgebungsakte anzeigt. Daran fehlt es aber.1341 Das Mandat der Regierungskonferenz 2007 erwähnt nicht die Absicht, das Rechtsschutzregime bei Nichtigkeitsklagen zu verändern oder gar auszuweiten.1342 Die Änderungen des Lissabon-Vertrags bezogen sich vielmehr schwerpunktmäßig nur

1338

So aber Everling, EuR Beiheft 1, 2009, 71 (74). s. dazu Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 37 ff., S. 38: „The legal service assumed that the intention of the authors was to refer to binding non-legislative acts of general application.“ (Hervorhebung durch Verf.) Die Regierungskonferenz befasste sich mit der Frage nicht mehr, und auch das Mandat für den Reformvertrag erwähnte die Frage nicht. 1340 s. dazu auch Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts  – Oranges into apples?, S.  3; ­Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (762). 1341 s. eine umfassende Untersuchung der Entstehungsgeschichte bei Cremer, DÖV 2010, 58 (62 f.). 1342 Dies gesteht auch Everling, EuZW 2010, 572 (575) zu; Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, S 116. 1339

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auf den Verzicht auf jedwede Verfassungssymbolik.1343 Hingegen sollten die „Folgen“ der Unterscheidung von Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter trotz der Abschaffung der Bezeichnung Gesetz und Rahmengesetz gerade beibehalten werden.1344 Die Verhandlungen standen überdies unter großem Zeitdruck. Diese Umstände könnten erklären, warum der Referenzrahmen für die Einführung des Begriffs „Rechtsakt mit Verordnungscharakters“, nämlich die Bezeichnung „Gesetz/Rahmengesetz“, verlassen wurde, ohne zugleich die Formulierung „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ zu beseitigen. Vielleicht wurde dies schlicht vergessen. Oder aber, und das ist wahrscheinlicher, eine Anpassung wurde nicht für erforderlich gehalten angesichts der Tatsache, dass die Unterscheidung von Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter in den Reformvertrag übernommen wurde. Letztlich wurde schließlich nur das symbolträchtige Gesetz umbenannt in Verordnung, und daher trägt diese Art der Verordnung nur „zufällig“ den gleichen Namen wie eine andere Art von Rechtsakten – nämlich Rechtsakte ohne Gesetzescharakter. Es handelte sich um eine Änderung nur der Form, nicht der Substanz.1345 Inhaltlich-legitimatorisch unterschieden sich diese Handlungsebenen aber ebenso wie sich Europäisches (Rahmen-)Gesetz und Rechtsakte ohne Gesetzescharakter im Verfassungsvertrag unterschieden. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Bezeichnung „Rechtsakt mit Verordnungscharakter“ gewissermaßen die positive Umschreibung für „Rechtsakt ohne Gesetzescharakter“ darstellt und Gesetzgebungsakte nicht umfasst.1346 Daraus folgt, dass nur Rechtsakte ohne Gesetzescharakter (oder eben Rechtsakte mit Verordnungscharakter) unter den vereinfachten Voraussetzungen des Art. 263 Abs. 4 Alt. 3 AEUV von juristischen oder natürlichen Personen mit der Nichtigkeitsklagte angegriffen werden können. Gesetzgebungsakte können auch weiterhin nur unter den – engen – Voraussetzungen einer „unmittelbaren und individuellen Betroffenheit“ von juristischen oder natürlichen Personen angefochten werden. Gesetz­gebungsakten kommt damit im Vergleich zu Rechtsakten ohne Gesetzes­ charakter ein erhöhtes Maß an Abschirmung gegenüber justizieller Kontrolle zugute. 2. Rechtsmacht zur Delegation Zudem dürfen allein Gesetzgebungsakte, also solche, die regelmäßig unter gleichberechtigter Teilnahme des Parlaments ergehen, Befugnisse gemäß Art. 290 AEUV delegieren. Dies bedeutet, dass im Regelfall das Parlament gleichberechtigt mitreden kann, wenn der Rat delegiert. Die inter-institutionellen Spannungen zwi 1343

Piris, The Lisbon Treaty, S. 34 ff. Mandat für die Regierungskonferenz unter Z 19 lit. v. 1345 Vgl. Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, S. 209 (210). 1346 So im Ergebnis auch Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761 (1766); Terhechte, EuR 2008, 143 (186); Pech, EuConst 6 (2010), 359 (392); Thiele, EuR 2010, 30 (43 f.). 1344

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schen dem Rat und dem Parlament, das sich seiner Mitspracherechte dadurch beraubt sah, dass gemäß Art. 202 EGV allein der Rat die Durchführungsbefugnisse übertrug, weichen damit einer „Demokratisierung“ des Delegationsvorgangs.1347 Zugleich bedeutet dies eine weitere Aufwertung des Gesetzgebungsaktes im System der Rechtsakte, weil mit ihm eine Rechtsmacht verbunden ist, die anderen Rechtsakten fehlt. 3. Gesetzesvorbehalte (Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes) Formelle Gesetze in einem Rechtssystem sind ein Mittel, um sachlich-inhaltliche Legitimation zu gewährleisten. Aus diesem Grund wird ihnen die Regelung bestimmter Bereiche vorbehalten: Charakteristisch für ein formelles Gesetz sind Gesetzesvorbehalte.1348 a) Wesentlichkeit Jedenfalls an einer Stelle ist dem Gesetzgebungsakt ein bestimmter Bereich vorbehalten: Art. 290 AEUV formuliert ausdrücklich einen Vorbehalt des Gesetz­ gebungsaktes (dazu s. oben). Gemäß Art. 290 sind die „wesentlichen Bereiche“ dem Gesetzgebungsakt vorbehalten.1349 Demgegenüber darf die Kommission nur die „nicht wesentlichen Bestandteile regeln“, und dies nur in „Rechtsakten ohne Gesetzescharakter“. Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass sich die Qualität der demokratischen Legitimation an der Bedeutung der zu regelnden Materie orientieren soll.1350 Der Vertrag zieht mithin an dieser Stelle eine Kompetenzgrenze zwischen der Legislative und der Exekutive. Ob an weiteren Stellen ein solcher Vor­ behalt besteht, ist indessen zweifelhaft. b) Allgemeiner Gesetzesvorbehalt? Angesichts des expliziten Vorbehalts in Art. 290 AEUV stellt sich die Frage, ob hinter oder neben diesem speziellen Vorbehalt ein  allgemeiner  Grundsatz steht: Gibt es einen „allgemeinen Gesetzesvorbehalt“, der die Zuständigkeitsbereiche der Legislative und der Exekutive abgrenzt, indem er bestimmte Regelungen der

1347 Schütze, Shapening the Separation of Powers through  a Hierarchy of Norms?, EIPA ­Working Paper 2005/W/01, S. 14. 1348 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (549). 1349 Zur Auslegung des Begriffs der Wesentlichkeit, s. oben unter § 2 D. 1350 Jedenfalls vom vertragssystematischen Regelfall ausgehend, zu Defiziten, s. oben unter § 7 A. III. 3. 

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Legislative vorbehält und dem Zugriff der Exekutive entzieht?1351 Muss im Gemeinschaftsrecht nach Lissabon also über den Fall des Art. 290 AEUV hinaus die Abgrenzung zwischen dem Zuständigkeitsbereich des „Gesetzgebers“ von den Kompetenzen der Exekutive mit Hilfe des neu bestimmten Maßstabs der Wesentlichkeit vorgenommen werden? Am Beispiel des Wettbewerbsrechts wird zu zeigen sein, dass ein allgemeiner demokratischer „Wesentlichkeitsvorbehalt“ überall dort scheitert, wo die Funktion der Gesetzgebung als solche nicht primärrechtlich anerkannt ist [aa)]. Auch im Übrigen steht ein allgemeiner Vorbehalt des Gesetzes aufgrund der oben beschriebenen systematischen Inkonsistenzen auf tönernen Füßen [bb)]. aa) „Allgemeiner Gesetzesvorbehalt“ im Wettbewerbsrecht: Zum Leitlinien(un)wesen der Kommission Vor allem im Wettbewerbsrecht wird das „Leitlinien(un)wesen“ der Kommission beklagt.1352 Auf der Grundlage von Art. 103 AEUV (ex-Art. 83 EGV) hat der Rat die Verordnung 1/2003 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags (jetzt: Art.  101 und 102 AEUV) niedergelegten Wettbewerbsregeln erlassen. Der Rat begnügt sich an vielen Stellen jedoch mit sehr unspezifischen Regelungen. Insbesondere die Verhängung von Bußgeldern determiniert die Verordnung des Rates nur in geringem Maß.1353 Die Kommission genießt daher bei der Anwendung dieser Verordnung sehr weitgehendes Ermessen.1354 In Ausfüllung dieses Ermessens hat die Kommission Leitlinien geschaffen. Diese Leitlinien der Kommission sind häufig die einzige Grundlage für die Ausrichtung und Anwendung des Kartellrechts.1355 So stammt etwa die Kronzeugenregelung nicht aus der Grundverordnung des Rates, sondern ist allein ein Geschöpf der „Leniency-Bekanntmachtung“ der Kommission.1356 Die Leitlinien sind dabei jedenfalls für die Kommission selbst bindend (Gedanke der Selbstbindung der Verwaltung)1357, werden darüber hinaus aber sogar mehr oder weniger offen von den europäischen Gerichten als Prüfmaßstab herangezogen.1358 Ihre (Außen-)Wirkungen sind damit 1351 Vgl. zu dieser Funktion des allgemeinen Vorbehalts des formellen Gesetzes Ossenbühl, HStR III, 2. Aufl. 1996, § 62 Rn. 17; Hilf/Classen, in: FS Selmer, S. 71 (72). 1352 Weiß, EWS 2010, 257 ff.; zur Problematik, s. auch, Schwarze, EuR 2009, 171 ff.; ­allgemein zum Phänomen der „Verwaltungsvorschriften“ der Kommission, s. Groß, DÖV 2004, 20 ff. 1353 Dazu im Einzelnen, Schwarze, EuR 2009, 171 (174). 1354 Schwarze, EuR 2009, 171 (175) spricht sogar vom „praktisch unbegrenzten Ermessen der Kommission“. 1355 Weiß, EWS 2010, 257. 1356 Mitteilung der Kommission über den Erlass und die Ermäßigung von Geldbußen in Kartell­sachen, ABl. EU 2006, Nr. C 298, 17.  1357 Siegel, NVwZ 2008, 620; Groß, DÖV 2004, 20 (23). 1358 EuG, T-38/02 (Danone), Slg. 2005, II-4407 Rn. 524; EuGH, Rs. C-397/03 (ADM), Slg. 2006, I-4429 Rn. 93.

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ganz beträchtlich; sie lassen sich daher nur bedingt noch als bloß interne Verwaltungsvorschriften einordnen. Sie nähern sich in ihrer Wirkweise Durchführungsvorschriften.1359 Angesichts der Neuregelung in Art. 290 AEUV und der Einführung einer ausdrücklichen Delegationsgrenze der „Wesentlichkeit“ hält Weiß diese Praxis für äußerst bedenklich. Wie bei der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen gemäß Art. 290 AEUV müsse die Grundverordnung des Gesetzgebers (Rat mit Anhörung des Parlaments) aus Art. 103 AEUV aus demokratischen Gründen das Wesentliche regeln und dürfe der Exekutive (Kommission) nicht einen derart weiten Spielraum lassen.1360 Weiß propagiert damit so etwas wie einen allgemeinen Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes auch jenseits des expliziten Vorbehalts, den Art. 290 AEUV in das Gemeinschaftsrecht inkorporiert. Es ist indes angesichts systematischer Verwerfungen zweifelhaft, ob der hinter Art.  290 AEUV stehende Gedanke eines durch Delegation bewirkten demokratischen Legitimationsverzichts für das Wettbewerbsrecht fruchtbar gemacht werden kann und generell nach dem Vorbild des Art.  290 AEUV die Zuständigkeitsbereiche von Rat/Parlament auf der einen und Kommission auf der anderen Seite voneinander unterschieden werden können. (1) VO 1/2003 als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter: Zur konstitutiven Bedeutung der Bezeichnung als Gesetzgebungsverfahren Die Ansicht von Weiß basiert auf einem Fehlschluss, der in sehr deutlicher Weise die oben beschriebenen Inkonsistenzen bei der Einordnung der verschiedenen Materien als „legislativ“ und „nicht-legislativ“ vor Augen führt: Weiß geht davon aus, dass es sich bei der Verordnung des Rates auf Grundlage von Art. 103 AEUV um einen Gesetzgebungsakt handele. Dies ist indes nicht der Fall. Die meisten Autoren halten ohne weitere Begründung Art. 103 AEUV für eine nichtlegislative Ermächtigung; sie kritisieren gerade diese Einordnung.1361 Weiß hingegen begründet seine anderslautende Ansicht: Der Rat erlasse gemäß Art.  103 AEUV Verordnungen unter Beteiligung des Parlaments. Dabei regele er inhaltlich wichtige Fragen. Trotz der fehlenden Bezeichnung handele es sich bei Art. 103 AEUV daher um einen Anwendungsfall des besonderen Gesetzgebungsverfahrens: 1359

Weiß, EWS 2010, 256 (258); Groß, DÖV 2004, 20 (23); Härtel, Handbuch Europäischer Rechtsetzung, § 11 Rn. 33 spricht von der „normativen Kraft des Faktischen“, die die eigentlich unverbindlichen Mitteilungen der Kommission mit erheblichen faktischen Bindungswirkungen ausstattet. 1360 Weiß, in. EWS 2010, 257 (259 ff.). 1361 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. (489) 552; Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 22, 27 f.; Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (754).

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„Angesichts der fehlenden Systematik bei der Bezeichnung als besonderes Gesetzgebungsverfahren im AEUV“ komme der Klassifizierung nämlich keine konstitutive Bedeutung zu.1362 So sehr der Befund hinsichtlich der fehlenden Systematik zutrifft, so wenig ist er geeignet, die formale Definition der Gesetzgebungsakte in Art. 289 Abs. 3 AEUV zu überspielen. Art. 289 Abs. 3 AEUV macht dabei gerade nicht schon alle Rechtsakte, die unter Beteiligung von Rat und Parlament ergehen, zu Gesetzgebungsakten. Ebenso wenig stellt die Vorschrift darauf ab, dass unter Beteiligung von Rat und Parlament ergangene Rechtsakte mit „wesentlichem Inhalt“ Gesetzgebungsakte sind. Vielmehr ist allein das Verfahren ausschlaggebend für die Einordnung! Und weil es eben mehrere Rechtsetzungsverfahren gibt und allein die beteiligten Organe nicht auf die Art des Verfahrens rückschließen lassen, bedarf es des ausdrücklichen „Labels“ des Gesetzgebungsverfahren, um ein Verfahren tatsächlich als solches einordnen – und die in diesem Verfahren ergehenden Rechtsakte entsprechend als „Gesetzgebungsakte“ qualifizieren zu können. Ein solches Verständnis entspricht nicht nur der formellen, allein auf das Verfahren abstellenden Definition, sondern auch der Intention der Vertragsautoren und der Systematik der Verträge: Eine Vielzahl von Vorschriften ordnet ausdrücklich an, dass das ordentliche oder ein besonderes Gesetzgebungsverfahren Anwendung findet. In drei Fällen können Rat und Parlament zwischen einem legislativen und nicht-legislativen Erlassverfahren wählen1363; selbst dort ist das Gesetzgebungs­ verfahren jeweils ausdrücklich erwähnt. In zwei von diesen drei Fällen unterscheidet sich das Annahmeverfahren selbst gar nicht danach, ob nun das Gesetzgebungs- oder ein nicht-legislatives Verfahren Anwendung findet: Jeweils handelt der Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments. Die Bezeichnung als Gesetzgebungsverfahren hat dann eindeutig konstitutive Wirkung. Im Umkehrschluss gilt: Diejenigen Ermächtigungen, die das besondere Gesetz­ gebungsverfahren nicht im Namen führen, sind keine Gesetzgebungsverfahren, daraus hervorgehende Rechtsakte keine Gesetzgebungsakte.1364 Die Vertragsautoren legten besonderen Wert darauf, genau bestimmen zu können, wann der Rat als Gesetzgeber handelt und wann nicht.1365 Dies ist entscheidend dafür, ob die besonderen Sicherungen des Gesetzgebungsverfahrens eingreifen oder nicht. Und weil der Rat sowohl als Gesetzgeber handeln kann als auch als Exekutivorgan, ist ein zweifelsfreies Kriterium wie eben die ausdrückliche Bezeichnung in den einzelnen Ermächtigungsgrundlagen das nächstliegende Mittel, um eine sichere Einord 1362

Weiß, EWS 2010, 257 (260). In Art. 352, 203 und 349 AEUV. 1364 So auch Schusterschitz, in: Hummer/Obwexer, S. 209 (226). 1365 Hierauf lenkten die Experten die besondere Aufmerksamkeit des Konvents, CONV 618/03: „The working party of experts would like to draw the Convention’s attention to the need to make a precise breakdown between the Council’s legislative and non-legislative competences.“ Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 25. 1363

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nung zu gewährleisten. Die Möglichkeit, die Weiß ins Spiel bringt, nämlich danach zu entscheiden, ob die von Rat und Parlamente geregelte Materie „wesentlich“ ist oder nicht, machte die angestrebte Klarheit zunichte. (2) Keine Übertragbarkeit des Vorbehaltsgedankens aus Art. 290 AEUV Handelt es sich bei Art. 103 AEUV somit um eine nicht-legislative Ermächtigung, so ist die auf dieser Grundlage ergehende Verordnung „nur“ ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter. Dann ist aber die Forderung von Weiß, Art. 290 AEUV mit seinem Vorbehalt des Wesentlichen müsse auf das Verhältnis der Grundverordnung 1/2003 und der diese Verordnung konkretisierenden Leitlinien der Kommission Anwendung finden, zweifelhaft: Art. 290 AEUV setzt der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen in Gesetzgebungsakten Grenzen. Nur diese zeichnen sich nach der Systematik des Vertrages zwingend und automatisch durch eine besondere legitimatorische Kraft aus. Nur hinter ihnen steht vertragssystematisch das europäische Demokratieprinzip. Rechtsakten ohne Gesetzescharakter fehlt dieses automatische Verknüpftsein mit dem europäischen Demokratieprinzip. Konstruktiv stellt sich das Verhältnis der VO 1/2003 und der Leitlinien der Kommission damit anders dar als die Beziehung zwischen einem Gesetzgebungsakt und dem auf diesem beruhenden delegierten Rechtsakt ohne Gesetzescharakter: Während bei letzteren die Übertragung als automatischer Legitimationsverzicht konzipiert ist, trifft dies auf die VO 1/2003 und die diese umsetzenden Leitlinien der Kommission nicht zu: Dort ist sowohl die Basisregelung als auch die konkretisierende Regelung ein Exekutivakt, vertragssystemtisch steht das Demokratieprinzip hinter dem einen so wenig wie hinter dem anderen. Wenn aber konstruktiv schon hinter der Grundregelung nicht das europäische Demokratieprinzip steht, gebietet es der Vertrag in dogmatischer Hinsicht nicht, aus demokratischen Gründen von der Basisverordnung ein bestimmtes Regelungsminimum zu verlangen.1366 Das Verhältnis zwischen der Basisverordnung 1/2003 und den Leitlinien der Kommission entspricht damit allenfalls dem zwischen einem „alten“ Basisrechtsakt und einer Durchführungsregelung der Kommission gemäß Art. 202, 211 EGV; dort wohnte der Übertragung von Durchführungsbefugnissen bisweilen rein „zufällig“ ein Legitimationsverzicht inne. Diese Einbußen im demokratischen Legitimationsniveau waren aber immer nur Reflex der gerade einschlägigen primärrechtlichen Zuständigkeitsverteilung. Aus diesem Grund hatte der EuGH den Brückenschlag zum Demokratieprinzip bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Rat/Parlament und Kommission im Zusammenhang mit den Durchführungsbefugnissen 1366

Dafür gibt es natürlich dennoch zahlreiche andere Gründe, z. B. das institutionelle Gleichgewicht oder das allgemeine Gebot gesetzlicher Bestimmtheit oder das Erfordernis eines materiellen Rechtssatzes als Grundlage, das die „Leitlinien“ der Kommission nicht unbedingt erfüllen können, s, dazu Schwarze, EUR 2009, 171 ff.

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  277

nicht gewagt oder schlicht nicht für nötig gehalten. Es handelte sich eben nicht um die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Legislative vom Kompetenzbereich der Exekutive. Die VO 1/2003, die wegen Art. 103 AEUV weiter als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter zu qualifizieren ist, zeigt damit sehr deutlich die systematischen Defizite der „Etikettierung“, wie sie der Vertrag von Lissabon in den verschiedenen Rechtsgrundlagen vorgenommen hat, und die Folgen dieser (willkürlichen1367) Etikettierung auf das Gesamtsystem der Rechtsakte. Denn natürlich hat Weiß recht mit seiner Feststellung, dass die Grundverordnung 1/2003, die der Rat nach Anhörung des Parlaments erlässt, rein tatsächlich demokratisch-legitimatorisch gegenüber den „Leitlinien“ der Kommission vorzugswürdig ist und die weitreichenden Regelungen durch die Kommission dem Demokratieniveau Schaden zufügen, zumal die Regelungen einen für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft sehr „wesentlichen“ Bereich betreffen. Der Vertrag verpasst es aber, diesen tatsächlichen Befund systematisch umzusetzen. Er erkennt die besondere demokratische Leistung der Grundverordnung gegenüber den Leitlinien nicht an, schlicht und ergreifend, indem er ihr das Label „Gesetzgebungsakt“ versagt. Er schlägt dem Rechtsanwender damit zugleich das Argument aus den Händen oder schwächt es zumindest entscheidend, es müsse – wie i. R. d. Art 290 AEUV – zwischen der Grund­verordnung und den abgeleiteten Leitlinien der Kommission demokratisch begründete Delegationsgrenzen bzw. eine entsprechende Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Rat/ Parlament als Legislative und Kommission als Exekutive geben. Der Vertrag erkennt schlicht nicht an, dass der Rat auf Grundlage von Art. 103 AEUV als Gesetzgeber handelt. Der Gedanke, der Art. 290 AEUV zugrunde liegt, kann damit nicht auf alle Bereiche des Gemeinschaftsrechts übertragen werden. Die Zuständigkeiten der demokratischen „Legislative“ und der weniger demokratischen „Exekutive“ können durch eine Konstruktion eines „allgemeinen Vorbehalt des Gesetzgebungsakts“ überall dort nicht abgegrenzt werden, wo die Verträge darauf verzichtet haben, für wichtige Fragen des Gemeinwesens die Form des Gesetzgebungsaktes zu reservieren und damit die Funktion der Gesetzgebung nicht anerkennen. Ebenfalls muss aus einem dogmatischen Blickwinkel der Versuch scheitern, den Gedanken eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts „erst recht“ auf das Verhältnis zwischen dem Basisrechtsakt und den Leitlinien der Kommission zu übertragen1368: „Wenn schon ein Gesetzgebungsakt nur beschränkt delegieren darf, dann ist erst recht ein bloßer Rechtsakt ohne Gesetzescharakter diesen Beschränkungen unterworfen.“ Ein erst-recht-Schluss setzte voraus, dass die Friktionen, die einer Übertragung gemäß Art.  290 AEUV innewohnen, im Verhältnis zwischen 1367

Dougan, ELRev. 2003, 763 (784). So ähnlich aber Schwarze, EuR 2009, 171 (179), der allerdings nicht auf die ermächti­ gende Regelung, sondern die abgeleiteten Leitlinien abstellt, für die „erst recht“ dieselben Maßstäbe gelten müssten wie für delegierte Rechtsakte. 1368

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der VO 1/2003 und den zugehörigen Leitlinien der Kommission sogar verstärkt auftreten.1369 Das ist aber nicht der Fall, weil die VO 1/2003 als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter vertragssystematisch nicht mit der gleichen demokratischen Würde ausgestattet ist wie ein Gesetzgebungsakt und deshalb weitreichende Spielräume für die Kommission vertragssystematisch nicht ebenso als demokratisches Problem wahrgenommen werden können wie dies bei einer Delegation gemäß Art. 290 AEUV der Fall ist. Als Ausweg bleibt, in Anlehnung an die bisherige Wesentlichkeitsrechtsprechung,  – wenn schon nicht unter einem demokratischen Blickwinkel  – so doch zumindest unter dem Blickwinkel des institutionellen Gleichgewichts zu fordern, dass die primärrechtlich angeordnete Zuständigkeit nicht dadurch unterlaufen wird, dass die primärrechtlich zuständigen Organe sich auf bloße Pauschalregelungen beschränken und die inhaltliche Ausgestaltung vollständig dem Rechtsanwender  – der Kommission  – überlassen. Die wesentlichen Grundzüge muss der Basisrechtsakt eben auch dann, wenn er kein Gesetzgebungsakt ist, selbst regeln. In diesem Zusammenhang könnte man ggfs. noch den bereits oben erwähnten Gedanken1370 fruchtbar machen, dass jedenfalls Art. 290 und 291 AEUV ­gemeinsam die Formen abgeleiteter Rechtsetzung durch die Union abschließend bestimmen.1371 Diese Regelungen dürfen nicht dadurch unterlaufen werden, dass Rat (und Parlament) Pauschalregelungen aufstellen, ohne Konkretisierungsbefugnisse auf die Kommission zu übertragen, so dass die Kommission dann im Prozess der Rechtsanwendung die Konkretisierung im Einzelfall oder eben durch „Verwaltungsvorschriften“ (Mitteilungen/Leitlinien) vornimmt. bb) Allgemeiner Gesetzesvorbehalt im Übrigen Wo könnte der Gedanke eines „allgemeinen Gesetzesvorbehalts“ im Gemeinschaftsrecht noch eine Rolle spielen? Wie gezeigt, ist das Konzept eines allgemeinen Gesetzesvorbehalts zur Abgrenzung der Bereiche der Legislative und der Exekutive obsolet, wenn das Primärrecht kein Gesetzgebungsverfahren vorsieht: Das Primärrecht kennt dann schlicht schon keinen Legislativbereich; diesem kann dann auch nichts aus demokratischen Gründen1372 vorbehalten sein. Mit dem Blick auf die primärrechtlichen Ermächtigungen ist der Fokus auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gelenkt: Die Gemeinschaft ist nicht zuständig, wenn sie sich nicht auf eine Einzelermächtigung stützen kann. Die einzelnen Gemeinschaftsorgane können ebenfalls nur handeln, sofern sie hierzu 1369

Zu den Voraussetzungen eines „erst-recht-Schlusses“, Larenz, Methodenlehre, S. 389 f. s. oben § 6 C. 1371 Zum schon bisher insoweit wohl abschließenden Charakter des Art. 203, 3. Spiegelstrich EGV, s. EuGH, Rs. C-133/06 (Parlament/Rat), Slg. 2008, I-3198, dazu Gundel, JA 2008, 910 ff. 1372 Wohl aber aus anderen Gründen, wie etwa dem allgemeinen rechtsstaatlichen Gebot der der gesetzlichen Bestimmtheit, s. dazu etwa Schwarze, EuR 2009, 171 (174 f.). 1370

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ermächtigt sind.1373 In der Regel erschließt sich die Verbandskompetenz über die Organkompetenz.1374 Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und der Gesetzesvorbehalt fallen dann in eins; sie sind funktionale Äquivalente1375: Ordnet das Primärrecht ein Gesetzgebungsverfahren an, hat das Primärrecht nicht nur über die Kompetenz der Union entschieden, sondern auch erst einmal selbst die Abgrenzung zwischen dem Zuständigkeitsbereich des Legislative und der Exekutive vorgenommen. Die konkrete Organzuständigkeit beantwortet sich dann nur aus der konkreten Zuständigkeitsnorm, nicht aber aus allgemeinen Grund­sätzen wie dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt oder dem institutionellen Gleichgewicht.1376 Für diese Grundsätze ist kein Raum, soweit das Primärrecht selbst die Entscheidung über die Zuständigkeit getroffen hat. Die Frage nach der Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der Legislative und der Exekutive wird erst dann wieder relevant, wenn die jeweils einschlägige primärrechtliche Einzelermächtigung die Zuständigkeit der Legislativ- bzw. Exekutivorgane nicht (mehr) determiniert. Dies ist nach dem Vertrag von Lissabon primär in zwei Konstellationen der Fall: Zum einen bei der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen bzw. bei der Frage, wie viel die (als solche handelnde) Gesetzgeber selbst regeln müssen. Zum anderen in den Fällen, in denen der Vertrag Rat und Parlament sowohl Handeln in der Form des Gesetzgebungs­aktes als auch durch Rechtsakte ohne Gesetzescharakter erlaubt. (1) Allgemeiner Gesetzesvorbehalt und Regelungsdichte Die Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen eröffnet einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt neuen Anwendungsraum. Die begrenzte Einzelermächtigung, die Rat und Parlament zum Erlass eines Gesetzgebungsaktes ermächtigt, ordnet erst einmal nur an, dass überhaupt Rat und Parlament legislativ regeln müssen („ob“). Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung bestimmt aber nicht, wie viel und wie genau die Legislativorgane mit ihrem Gesetzgebungsakt die betreffende Regelungsmaterie abdecken müssen.1377 Hier kann ein allgemeiner Gesetzesvorbehalt seine Wirkung entfalten: Er bestimmt, über welche Fragen die Legislative selbst entscheiden muss und welche Entscheidungen sie der Exekutive überlassen darf. Ein beträchtlicher Teil  der Übertragung von Rechtsetzungsbe­ fugnissen ist bereits durch den speziellen Gesetzesvorbehalt in Art.  290 AEUV 1373

Ohler, JZ 2006, 359 (360). von Bogdandy/Bast, EuGRZ 2001, 441 (445); Pieper, Subsidiarität, S. 186. 1375 Vgl. zum Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als mögliches funktionelles Äquivalent eines Gesetzesvorbehalts auf Gemeinschaftsebene, Rieckhoff, Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, S. 129 f.; Ohler, JZ 2006, 359 (360); Schreiber, Verwaltungskompetenzen, S. 55. 1376 Vgl. Ohler, JZ 2006, 359 (360). 1377 Die begrenzte Einzelermächtigung verhält sich zum Prinzip der Gewaltenteilung neutral, vgl. Ohler, JZ 2006, 359 (360). 1374

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

abgedeckt. Hier bleibt kein Raum für einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt. Hingegen ist Art. 291 AEUV unmittelbar nicht zu entnehmen, dass Wesentliches nicht auf die Kommission übertragen werden darf. Sofern aber die Übertragung in Gesetzgebungsakten stattfindet, findet durch die Übertragung von Durchführungsbefugnissen wie bei der Delegation auf die Kommission zwingend und automatisch ein Legitimationsverzicht statt. Deshalb spricht viel dafür, auch im Rahmen des Art.  291 AEUV eine Übertragung wesentlicher Regelungsbestandteile auszuschließen.1378 Darüber hinaus sollte als Regel gelten, dass in denjenigen Bereichen, in denen primärrechtlich das Handeln durch Gesetzgebungsakt vorgeschrieben ist, immer das Wesentliche durch den Gesetzgeber zu regeln und der der Exekutive belassene Spielraum entsprechend zu begrenzen ist. Ein zu weitgehendes „Leitlinien(un)wesen“ der Kommission müsste damit zumindest dort auch mit demokratischen1379 Argumenten überzeugend angegangen werden können, wo der von der Kommission umzusetzende Basisrechtsakt ein Gesetzgebungsakt ist.1380 Dabei ist dem Wesentlichen – wie i. R. d. Art. 290 AEUV – eine andere Bedeutung beizulegen als nach bisherigem Verständnis: Der Respekt vor der demokratisch-legitimatorischen Leistung des Gesetzgebungsakts muss die Bestimmung des Bereichs des Wesentlichen leiten. (2) Allgemeiner Gesetzesvorbehalt und primärrechtliche Wahlfreiheit zwischen legislativem und exekutivem Handeln durch Rat und Parlament Rat und Parlament sind zwar als europäische Gesetzgeber konzipiert. Sie können aber gemeinsam auch Rechtsakte ohne Gesetzescharakter erlassen; sie sind dann gleichsam als Exekutivorgane tätig. Bisweilen sind sie sogar auf die exekutive Handlungsebene beschränkt, wie etwa  – bedauerlicherweise  – im Wettbewerbsrecht. In einigen wenigen Fällen lässt das Primärrecht offen, ob Rat und Parlament in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einen Gesetzgebungsakt erlassen oder durch einen Exekutivakt handeln.1381 Primärrechtlich bestimmt ist dann zwar, welche Organe tatsächlich für den betreffenden Rechtsakt zuständig sind, es ist klar, dass jeweils der Rat, u. U. nach Anhörung des Parlaments handelt. Offen ist aber, ob der Rat (u. U. nach Anhörung des Parlaments) in seiner Eigen 1378

Zu dieser Frage s. schon oben unter § 5 B. II. Und nicht nur mit dem relativen Argument des institutionellen Gleichgewichts. 1380 s. Beispiele bei Groß, DÖV 2004, 20 (21 ff.). Unter diesem Gesichtspunkt könnte etwa die Ermächtigung der Kommission in Art. 23 k der Verordnung (EG) Nr. 178/2002, Leitlinien zu erlassen problematisch sein. Die Verordnung beruht auf primärrechtlichen Ermächtigungen, die nun das ordentliche Gesetzgebungsverfahren vorsehen. 1381 In Art. 349 und 352 AEUV unterscheidet sich das Verfahren zum Erlass eines Rechtsaktes ohne Gesetzescharakter bzw. eines Gesetzgebungsaktes gar nicht: In beiden Fällen erfolgt eine Anhörung des Parlaments. In Art. 203 AEUV ist die Parlamentsanhörung nur für den Fall des Gesetzgebungsverfahrens vorgesehen. 1379

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  281

schaft als Gesetzgebungsorgan handelt. Insoweit ist Raum für einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt, der bestimmt, ob der Rat (bzw. Parlament) als Exekutive handeln darf oder seine Rolle als Legislativorgan wahrnehmen muss: Nur wenn er als Legislativorgan im Legislativverfahren handelt, finden die zusätzlichen demokratischen Legitimationsfaktoren, die an den Gesetzgebungsakt geknüpft sind, Anwendung. Deshalb ist dafür zu plädieren, dass der Gedanke des „Wesentlichkeitsvorbehalts“ auch in diesem Zusammenhang die Entscheidung über das anwendbare Verfahren bestimmt. Ob diese Plädoyers für einen allgemeinen Gesetzesvorbehalt in der Praxis jedoch auf fruchtbaren Boden stoßen werden, ist zweifelhaft. Wiederum könnten hier die Inkonsistenzen bei der primärrechtlichen Einordnung der Regelungsmaterien als Hemmschuh für die dogmatische (Fort)Entwicklung eines allgemeinen Vorbehaltsgedankens wirken: Wenn der Vertrag für wichtige Dinge das Handeln durch Rechtsakt ohne Gesetzescharakter anordnet, wird es schwierig, ihm die Grundentscheidung zu entnehmen, alles Wesentliche durch Gesetzgebungsakt zu regeln. Schwierig ist es angesichts der inkonsequenten, wenig an materiellen Kriterien orientierten primärrechtlichen Einordnung von Rechtsakten als legislativ oder nicht legislativ zudem, allgemeine Kriterien zu entwickeln, um diejenigen Situationen zu bestimmen, in denen legislatives Handeln angezeigt ist.1382 c) Der Gesetzesvorbehalt der Grundrechtecharta als Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes? Die Charta der Grundrechte enthält einen Gesetzesvorbehalt. Art.  52 Abs.  1 GrCh bestimmt: „Jede Einschränkung  der Ausübung der in dieser Charta an­ erkannten Rechte und Freiheiten muss gesetzlich vorgesehen sein.“ Oben wurden die zwei wesentlichen unterschiedlichen Arten von Gesetzesvorbehalten vorgestellt: Von dem rein materiellen Rechtssatzvorbehalt ist der formelle Gesetzesvorbehalt zu unterscheiden.1383 Welchen dieser beiden Gesetzesvorbehalte meint Art.  52 Abs.  1 GrCh? Formuliert er einen formell verstandenen Gesetzesvorbehalt und will gemeinschaftsrechtliche Eingriffe in Grundrechte nur aufgrund von Gesetzgebungs­akten erlauben? Oder begnügt er sich mit einem Vorbehalt des materiellen Gesetzes, so dass die Unionsorgane schon aufgrund von Rechtsakten ohne Gesetzescharakter Grundrechtseingriffe vornehmen dürfen? Fast alles spricht dafür, dass Art.  52 Abs.  1 GrCh als Eingriffsgrundlage lediglich einen materiellen Rechtsatz verlangt und sich die Grundrechtecharta die grundlegende Unterscheidung von Gesetzgebungsakt und Rechtsakt ohne Gesetzescharakter nicht zunutze macht: Hier wirken sich die systematischen Schwächen bei der Einstufung der Befugnisse in die nicht-legislativen und legislativen Schub 1382

Zweifelnd auch Dougan, CMLRev. 2008, 617 (648). s. oben unter § 2 C. I.

1383

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

laden wieder aus. Schon unter dem Aspekt der Zweckmäßigkeit nähme es sich sehr merkwürdig aus, wenn just in dem grundrechtssensiblen Bereich des Wettbewerbsrechts1384, in dem zahlreiche nicht-legislative Rechtsetzungsbefugnisse der Kommission und des Rates existieren, Grundrechtseingriffe schon mangels taug­ lichen Instruments per se nicht möglich wären.1385 Auch der Wortlaut von Art.  52 GrCh gibt wenig Argumentationsmaterial für einen formell verstandenen Gesetzesvorbehalt her. Insoweit war die Rechtslage nach dem Verfassungsvertrag noch aussichtsreicher, obgleich ebenfalls bei Weitem nicht zweifelsfrei.1386 Dort konnte das Erfordernis, Grundrechtseingriffe müssten „gesetzlich“ vorgesehen sein, zumindest noch als Bezugnahme auf die Handlungsform des (Rahmen)Gesetzes verstanden werden.1387 Schon dieses nicht allzu zwingende Argument hat durch die terminologische Neuausrichtung des LissabonVertrags an Gewicht verloren.1388 Gegen ein Verständnis des Merkmals „gesetzlich vorgesehen“ als Erfordernis einer formellgesetzlichen Grundlage in Form eines Gesetzgebungsaktes spricht weiter die Entstehungsgeschichte. Der Vorschlag des Legal Service des Rates in der Regierungskonferenz, die Formulierung „gesetzlich vorgesehen“ durch „in einem Gesetzgebungsakt vorgesehen“ zu ersetzen, wurde abgelehnt1389 – vermutlich gerade wegen der Folgen, die eine solche Beschränkung in Bereichen wie dem Wettbewerbsrecht nach sich gezogen hätte.1390 Die „Erklärung betreffend die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ deutet ebenfalls eher in die Richtung eines nur materiell verstandenen Gesetzesvorbehalts.1391 Ausdrücklich wird dort auf die frühere Rechtsprechung des EuGH verwiesen, der den Gesetzesvorbehalt bisher allein unter rechtsstaatlichen Gründen entwickelt hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat überdies bisher die vergleichbaren Klauseln der EMRK nicht dazu genutzt, Gewaltenteilungsgesichtspunkte zu thematisieren und hat nicht verlangt, dass die „gesetzliche“ Grundlage für einen Eingriff von bestimmten, demokratisch vorzugswürdigen Organen erlassen worden sein müsste.1392 1384

Man denke nur an die Verhängung von Bußgeldern. Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (550). 1386 Gegen eine Auslegung des Merkmals „gesetzlich“ von Art. 52 GrCh i. S. v. formellgesetzlich auch unter Geltung des Verfassungsvertrags Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (695). 1387 So auch Hofmann, A critical analysis of Acts in the Draft Treaty Establishing a Constitution for Europe, EIoP Vol. 7 (2003), No. 9, S. 10 f. 1388 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (550). 1389 s. den Vorschlag in CIG 4/1/03, S. 160 f. 1390 Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 40. 1391 Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (695). 1392 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (550); Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 40. 1385

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  283

„Gesetzlich“ i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GrCh meint somit wesentlich mehr als „Gesetzgebungsakte“. Es wurde versäumt, den Gesetzesvorbehalt der Charta durch demokratische Gesichtspunkte und solche der Gewaltenteilung zu verstärken. Auch dies hängt mit den Inkonsistenzen zusammen, welche die Rolle des Gesetz­ gebungsaktes im System des Gemeinschaftsrechts begleiten. IV. Hierarchisierung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter Der Vertrag von Lissabon unterscheidet zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter. Ist mit der neuen Unterscheidung zwischen diesen beiden Kategorien eine normhierarchische Abstufung verwirklicht? Das normhierarchische Bild, das der Vertrag von Lissabon zeichnet, leidet an vielen Unklarheiten. So handelt der Gesetzgeber nicht immer durch Gesetzgebungsakt. Zudem ist für viele wichtige Materien nicht das Regelungsinstrument des Gesetzgebungsaktes vorgesehen. „The desire to bestow upon the Union  a clearer hierarchy of Norms for the sake of enhancing the transparency of its activities, has therefore been undermined by a combination of shallow conception and poor execution.“1393 Ob man eine normhierarchische Abstufung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter verwirklicht sieht, hängt davon ab, welches Gewicht man den vorhandenen Inkonsistenzen beilegt1394: Kann sich das grundsätzliche System, in dem die Kategorie des Gesetzgebungsaktes systematisch mit Legitimationsfaktoren verknüpft ist, durchsetzen, oder lässt sich von einem solchen System angesichts der korrumpierenden Inkonsistenzen schon nicht mehr sprechen? Meines Erachtens hebt der Vertrag die Normstufe des Gesetzgebungsaktes in einer Art und Weise aus dem Korpus des Sekundärrechts hervor, die den Vorrang dieser Rechtsaktebene rechtfertigt. Die verschiedenen Kategorien sind als solche erkennbar (wenn auch nicht unmittelbar an der Bezeichnung1395). Die Inkonsistenzen bei der Etablierung dieser Hierarchie können (noch) als „erforderliche Zwischentöne“ entschuldigt werden, auf die europäisches Handeln, zumal in sensiblen Bereichen, noch immer angewiesen ist, die aber das grundsätzliche System noch erkennen lassen.1396 Sie spiegeln wider, dass sich die Union nach wie vor in einem Prozess befindet, von dem nur klar ist, dass er die Union von dem Prototyp einer internationalen Organisation zunehmend entfernt hat. Nimmt man die grundlegende 1393

Dougan, CMLRev. 636 (647); Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (764). „Too many particularities“, um klare normhierarchische Schnitte machen zu können, gibt es aber nach der Ansicht folgender Autoren: Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (764); Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S.  489 (546 ff.); Bumke, in: Schuppert/ Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (692). 1395 Streinz/Ohler/Hermann, Der Vertrag von Lissabon, S. 98. 1396 Lenaerts, EuConst 1 (2005), 57 (61): „necessary nuances“. 1394

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Teil 3: Einordnung der Durchführungsakte und delegierten Rechtsakte 

Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter ernst, sollte ein allgemeines Vorrangverhältnis zumindest zwischen diesen beiden Ebenen – den Gesetzgebungsakten auf der einen und den Rechtsakten ohne Gesetzescharakter auf der anderen Seite  – trotz aller verunklarender Zwischentöne anerkannt werden.1397 Der Vertrag trifft unterscheidet zwischen zwei Ebenen von Rechtsakten. Dabei verknüpft er diese Ebenen mit einem unterschiedlichen Grad an demokratischer Legitimation.1398 Zwar trifft es zu, dass rein tatsächlich die Unterscheidung zwischen beiden Kategorien nicht auf einer „schlüssigen Skala prozeduraler Legitimation“ beruht.1399 Rechtlich-systematisch ist aber eine solche Skala prozeduraler Legitimation verwirklicht, weil allein die Kategorie des Gesetzgebungsaktes stets ein bestimmtes Mindestmaß an Legitimation aufweist. Überdies sind bestimmte Rechtsfolgen an die Kategorie des Gesetzgebungsaktes geknüpft. Ein umfassender Vorbehaltsgedanke lässt sich dem Primärrecht zwar nur unter Schwierigkeiten entnehmen. Zumindest ein ausdrücklicher Vorbehalt des Gesetzgebungsaktes ist aber in Art. 290 AEUV verankert. Schließlich sind Gesetzgebungsakte schwerer gerichtlich angreifbar; und nur durch sie darf die Kommission zum Erlass delegierter Rechtsakte ermächtigt werden. Diese Kombination von Kategorisierung, Verknüpfung der Kategorisierung mit einer bestimmten Legitimationsleistung und bestimmten Rechtsfolgen genügen meines Erachtens, um eine Hierarchie zwischen Gesetzgebungsakt und Rechtsakt ohne Gesetzescharakter verwirklicht zu sehen. Das grundsätzliche System, in dem der Gesetzgebungsakt die höchste Stufe in der Hierarchie des von den Gemeinschaftsorganen erlassenen Rechts einnimmt, bleibt erkennbar. Für die delegierten Rechtsakte gilt damit: Sie sind nicht nur im jeweiligen Ableitungsverhältnis, sondern gegenüber allen Gesetzgebungsakten nachrangig. Entsprechend sind Durchführungsakte nachrangig gegenüber Gesetzgebungsakten sowie gegenüber denjenigen Rechtsakten ohne Gesetzescharakter, auf denen sie beruhen. Der Vorrang der Gesetzgebungsakte ist auch gegenüber primärrechtsunmittelbaren Rechtsakten ohne Gesetzescharakter verwirklicht1400, weil die Kategorisierung nicht parallel zur Unterscheidung von Basisrechtsakt und abgeleitetem Recht erfolgt, sondern an die unterschiedlichen verfahrensmäßigen Sicherungen von Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter anknüpft.

1397 Hofmann, ELJ 2009, 482 (503); de Witte, in: Griller/Ziller, The Lisbon Treaty, S.  79 (91); Everling, EuZW 2010, 572 (575); Möstl, Der Vertrag von Lissabon, S. 98; ders., DVBl 2011, 1076 (1077): „klarere Hierarchisierung“; für den Verfassungsvertrag bejahend Schütze, ­Shapening the Separation of Powers through  a Hierarchy of Norms, EIPA Working Paper 2005/W/01, S. 17; Nettesheim, EuR 2006, 737 (769). 1398 A. A. Bumke, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 (692): „[Für den generellen Vorrang von Gesetzgebungsakten] spricht letztlich … nur, dass die Unterscheidung von Gesetzes und Nichtgesetz gebraucht … ist.“ 1399 Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 489 (549). 1400 s. (zum Verfassungsvertrag) Nettesheim, EuR 2006, 737 (769).

§ 7 Einbettung der Vorschriften in den Gesamtzusammenhang: Normenhierarchie  285

B. Keine Hierarchie innerhalb der Rechtsakte ohne Gesetzescharakter Der grundlegenden Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter liegt die Idee zugrunde, formelle und materielle Rechtsetzung voneinander zu unterscheiden und so demokratische Legitimation durch das formelle Gesetz herzustellen. Innerhalb der untergesetzlichen Hierarchie­ebene kennt der Vertrag von Lissabon (neben den verschiedenen Handlungsformen, die nicht als Anknüpfung für eine Normenhierarchie taugen) weitere Kategorien von Rechtsakten: Das untergesetzliche Recht lässt sich unterteilen in primärrechtsunmittelbare Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte. Kann auch hier ein ordnendes Prinzip hinter der Trias der nicht-legislativen Rechtsakte ausgemacht werden, das es erlaubt, normhierarchische Schnitte in das untergesetzliche Recht zu schlagen? I. Unterscheidung exekutiver und quasi-legislativer Rechtsetzung als Grundlage einer Hierarchisierung des untergesetzlichen Rechts? Im Verhältnis zwischen delegierter Rechtsetzung und Durchführungsakten ist ein strukturierendes Prinzip durchaus erkennbar: Delegierte Rechtsakte sind eine Form quasi-legislativer Rechtserzeugung. Wie Gesetzgebungsakte stecken sie  – wenn auch beschränkt auf einen nicht-wesentlichen Bereich – in der Breite den Regelungsgehalt der unionalen Rechtsakte ab. Sie unterscheiden sich damit in ihrer Funktion von den exekutiven Durchführungsakten, deren Aufgabe es nicht ist, in den Bestand einer Regelung hineinzuwirken, d. h. sie zu ändern oder zu ergänzen, sondern eine bereits vollständig bestehende Regelung zur Anwendung zu bringen, entweder durch eine Konkretisierung des materiellen Regelungsprogramms oder durch Regeln zur Frage, wie das Recht angewandt werden soll. Ob sich aber tatsächlich ein Rangverhältnis zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung etablieren lässt, ist fraglich. Wiederum sind es die primärrechtsunmittelbaren Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, die Anlass zu Zweifeln geben, ob das strukturierende Prinzip seine Wirkung tatsächlich vollständig entfalten kann.1401 Denn: Wo ist die Kategorie der primärrechtsunmittelbaren Rechtsakte ohne Gesetzescharakter einzuordnen? Handelt es sich um Rechtsetzung oder Rechts­ 1401 Die Zweifel wiegen hier sogar noch schwerer als bei der Unterscheidung zwischen Gesetzesrecht und untergesetzlichen Rechtsakten. Die primärrechtsunmittelbaren Rechtsakte ohne Gesetzescharakter bilden nämlich bei der angedachten Hierarchisierung des untergesetzlichen Rechts eine eigene Kategorie, während sie bei der Unterscheidung zwischen Gesetzgebungs­ akten und Rechtsakten ohne Gesetzescharakter nur ein Bestandteil der einen Kategorie (Rechtsakte ohne Gesetzescharakter) waren und deshalb dem legitimatorischen Vorsprung der Gesetzgebungsakte keinen unmittelbaren Schaden zufügen konnten.

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anwendung? Wäre der Vertrag von Lissabon den Vorschlägen der Gruppe IX gefolgt, wäre eine Einordnung möglich gewesen. Die Gruppe hatte vorgeschlagen, primärrechtsunmittelbare untergesetzliche Rechtsakten in Fällen vorzusehen, „in denen die Organe exekutive Aufgaben wahrnehmen und in einem bestimmten Bereich die politischen Entscheidungen, die im Vertrag vorgegeben wurden, weiter ausgestalten.“1402 Wären diese Vorgaben beachtet worden, wäre untergesetzliches Sekundärrecht ebenfalls materielles Durchführungsrecht und als Rechtsanwendung der delegierten Rechtsetzung nachgeordnet. Indes beschränken sich die untergesetzlichen Rechtsakte des Sekundärrechts nicht darauf, schon primärrechtlich getroffene Entscheidungen durchzuführen; vielfach werden sehr wichtige politische Entscheidungen in der Form primärrechtsunmittelbarer untergesetzlicher Rechtsakte getroffen.1403 Nur schwer in normhierarchisches Denken fügt sich weiter der Umstand ein, dass sich gemessen an allgemeinen legitimatorischen Maßstäben die primärrechtsunmittelbaren Rechtsakte ohne Gesetzescharakter als demokratisch wertvoller erweisen als delegierte Rechtsakte. Bisweilen ordnet das Primärrecht an, dass Rat und Parlament gemeinsam in untergesetzlicher Rechtsaktform handeln.1404 Warum dann ein solcher Rechtsakt delegierter Rechtsetzung im Rang nachgehen sollte, ist nicht ersichtlich. Angesichts dieser Inkonsistenzen ist zweifelhaft, ob sich innerhalb der untergesetzlichen Hierarchieebene weitere Rangregeln durchsetzen werden; die das geltende Recht kennzeichnende Verwobenheit scheint insofern mit Blick auf das untergesetzliche Recht fortzubestehen.1405 II. Primärrechtsunmittelbarkeit als Grundlage für eine Hierarchisierung der untergesetzlichen Rechtsakte? Bliebe noch, die Primärrechtsunmittelbarkeit als Ordnungsprinzip und Anknüpfungspunkt für eine Hierarchisierung des untergesetzlichen Rechts zu begreifen. Tatsächlich lässt sich diese Unterscheidung treffen. Es gibt sekundärrechtliche Rechtsakte ohne Gesetzescharakter und tertiärrechtliche (Durchführungsrechtsakte und delegierte Rechtsakte). Verstünde man die Primärrechtsunmittelbarkeit als hierarchisierendes Element im untergesetzlichen Recht, wären primärrechtsunmittelbare Rechtsakte ohne Gesetzescharakter gegenüber den nur abgeleiteten 1402

CONV 424/02, S. 13. Lenaerts/Desomer, ELJ 2005, 744 (754); Bast, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. (489) 552; s. auch die Kritik im Konvent insbesondere an der Einordnung der Wettbewerbsregeln als nicht-legislativ CONV 821/02, S. 21 ff. : „competition and state aid [are] of an legislative nature with a clear impact on the rights of citizens.“ Krit. Zur Einordnung des Wettbewerbsrechts als nicht-legislative Materie, s. auch Liisberg, Jean Monnet Working Paper 01/06, The EU constitutional Treaty and its distinction between legislative and non-legislative acts – Oranges into apples?, S. 22, 27 f. 1404 So etwa im Wettbewerbsrecht, s. Art. 103 AEUV. 1405 Nettesheim, EuR 2006, 737 (779). 1403

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Rechtsakten ohne Gesetzescharakter vorrangig. Indes lässt die Vertragssystematik nicht erkennen, dass diese – tatsächlich mögliche Unterscheidung – erkannt und mit irgendwelchen Rechtsfolgen ausgestattet würde. Insbesondere knüpft der Vertrag an die Tatsache, dass sich primärrechtsunmittelbare Rechtsakte ohne Gesetzescharakter gegenüber abgeleiteten Rechtsakten als legitimatorisch vorzugswürdig erweisen, keinerlei Rechtsfolgen. Der Vertrag erkennt die unterschiedlichen Formen der untergesetzlichen Rechtsakte nicht als unterschiedliche Kategorien an. Demnach scheidet auch die Primärrechtsunmittelbarkeit als hierarchisierendes Prinzip aus.

§ 8 Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse A. Die Unklarheiten der bisherigen Durchführung In den bisherigen Verträgen regelte allein die Vorschrift des Art. 202, 3. Spiegelstrich die Übertragung von sog. „Durchführungsbefugnissen“ auf die Kommission. Als übertragendes Organ war lediglich der Rat vorgesehen, das Parlament blieb außen vor. Bei der Durchführungsrechtsetzung durch die Kommission setzte sich die Benachteiligung des Parlaments fort. Die Kommission konnte frei von primärrechtlichen Bestimmungen, die etwa eine Beteiligung des Parlaments für die Setzung des Sekundärrechts vorsahen, tertiärrechtliche Durchführungsrechtsakte erlassen. Die Forderungen des Parlaments nach mehr Mitsprache bei der Durchführungsrechtsetzung trugen zwar nach langen Kämpfen durchaus manche Früchte. Sie ließen sich angesichts der stetig steigenden primärrechtlichen Mitspracherechte bis hin zur Gleichberechtigung des Parlaments bei der Rechtsetzung im Mitentscheidungsverfahren auch nur schwer völlig ignorieren. Der Durchsetzungskraft der parlamentarischen Forderungen war jedoch der unklare Charakter der Durchführungsakte abträglich: Handelte es sich tatsächlich um eine aus dem staatlichen Recht bekannte Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen, die naturgemäß der Kontrolle des „Gesetzgebers“ als dem eigentlich zuständigen Organ unterliegen sollte? Gab es das Konzept eines Gesetzgebers überhaupt? Oder handelte es sich um eine ganze andere Art von Recht, nämlich solches Recht, das eigentlich den Vollzug und damit den „natürlichen“ Verantwortungsbereich der Mitgliedstaaten betraf? Angesichts dieser Unklarheit war es schwierig, diejenigen Kriterien zu benennen, die einer Übertragung von Durchführungsbefugnissen Grenzen setzen sollten. Entsprechend großzügig zeigte sich die Rechtsprechung gegenüber sehr weitgehenden Befugnisübertragungen. Der Vertrag von Lissabon unterscheidet nun zwei Rechtsgrundlagen für die Übertragung von Befugnissen. Art. 291 AEUV knüpft an alte Begrifflichkeiten an und regelt die Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission. Art. 290 AEUV regelt den Erlass delegierter Rechtsakte, zu denen die Kommission in Gesetzgebungsakten ermächtigt werden kann.

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B. Delegation Art. 290 AEUV sondert die quasi-legislativen Befugnisse, also solche, deren Erlass „eigentlich“ dem Gesetzgeber obliegt, aus dem bislang einheitlich geregelten Gemenge verschiedenartiger Durchführungsbefugnisse aus. Schon der Komitologiebeschluss von 2006 war einen Schritt in diese Richtung gegangen, indem er die Befugnis zur Änderung oder Ergänzung von Basisrechtsakten – also quasi-legislative Befugnisse – mit relativ weitgehenden Mitspracherechten des Parlaments versah. Der Vertrag von Lissabon verankert in begrüßenswerter Deutlichkeit nun schon primärrechtlich, dass es sich bei delegierten Befugnissen um solche quasilegislativer Natur handelt. Damit einher geht eine klarere Bestimmbarkeit der Friktionen, die mit einer Übertragung solcher Befugnissen einhergehen: Ein Übertragungsakt nach Art. 290 AEUV reibt sich nicht nur mit der Zuständigkeitsordnung oder dem „institutionellen Gleichgewicht“, indem er eine Ausnahmezuständigkeit der Kommission für eigentlich legislative Maßnahmen begründet. Darüber hinaus führt er zu einem Absinken des demokratischen Legitimationsniveaus. Auf Grundlage der alten Verträge gelang es nicht, die Übertragung von Durchführungsbefugnissen als Legitimationsverzicht zu verstehen. Es fehlte eine Ebene von Rechtsakten, die mit einer besonderen demokratischen Dignität ausgestattet war. Die Übertragung von Befugnissen, die dazu führte, dass eine Regelung statt in einem Basisrechtsakt in einem Durchführungsakt erfolgte, führte nicht systematisch-automatisch zu einem Absinken des Legitimationsniveaus, sondern allenfalls kontingent, weil der Basisrechtsakt wegen der Beteiligung von Rat und Parlament als den beiden Stützen des europäischen Demokratieprinzips „zufälligerweise“ von Rat und Parlament zu erlassen war. Hingegen fehlte eine Regel, die Rat und Parlament stets für den Erlass von Basisrechtsakten für zuständig erklärt und den durch die Übertragung bewirkten Legitimationsverlust so von seinem Charakter der Zufälligkeit befreit hätte. Der Vertrag von Lissabon konzipiert die Übertragung von quasi-legislativen Befugnissen nunmehr als automatischen Legitimationsverzicht. Allein Gesetz­ gebungsakte können die Kommission zum Erlass von delegierten Rechtsakten ermächtigen. Gesetzgebungsakte sind rein formell definiert: Nur Rat und Parlament sind „in Gesetzgebungsverfahren“ in der Lage, Gesetzgebungsakte zu erlassen. Gesetzgebungsakte unterliegen außerdem weiteren Anforderungen, die vor allem ein Mehr an Öffentlichkeit herstellen. In dem „Basisrechtsakt“, der die Befugnis zum Erlass delegierter Rechtsakte überträgt, sind immer und zwingend verschiedene Legitimationsfaktoren gebündelt. Für den von der Kommission zu erlassenden delegierten Rechtsakt gilt das nicht mehr. Die Übertragung bewirkt also vertragssystematisch immer ein Absinken im demokratischen Legitimationsniveau. Der in Art. 290 AEUV vorgesehene Vorbehalt, dass das Wesentliche im Gesetz­ gebungsakt zu regeln ist, ist damit – anders als nach alter Rechtslage – demokratisch fundiert: Weil die Delegation zu einem verringerten Niveau demokratischer Legitimation führt – und nicht nur weil die Übertragung die primärrechtliche Zu-

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ständigkeitsordnung modifiziert  –, muss der Gesetzgebungsakt das Wesentliche regeln. An dieser demokratischen Bruchlinie muss das Kriterium der Wesentlichkeit (neu) ausgerichtet werden. Es nimmt die aus dem staatlichen Recht bekannte Funktion wahr, einer demokratisch vorzugswürdigen Regelungsform bestimmte wichtige Materien vorzubehalten. Art. 290 AEUV normiert einen formellen Gesetzesvorbehalt für das europäische Recht.

C. Durchführung Während Art. 290 AEUV die quasi-legislativen Befugnisse Rat und Parlament als den Gesetzgebern der Europäischen Union zuordnet, weist Art.  291 Abs.  1 AEUV den Mitgliedstaaten die Verantwortung für die Durchführung der gemeinschaftlichen Rechtsakte zu. Diese führen das Gemeinschaftsrecht nach ihrem innerstaatlichen Recht durch. Nur sofern es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf, darf ein gemeinschaftlicher Rechtsakt die Kommission mit der Durchführung des Gemeinschaftsrechts betrauen und ihr die hierzu erforderlichen Durchführungsbefugnisse übertragen. Lediglich ausnahmsweise besitzt die Gemeinschaftsebene die Verbandskompetenz zur Durchführung des von ihr gesetzten Rechts. Schon in den allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften ist dieses Konzept angelegt und die Union verbandskompetentiell auf „gesetzgeberische“ Aktivitäten und den „Erlass verbindlicher Rechtsakte“ beschränkt; die Mitgliedstaaten hingegen sind auch dort, wo die Gemeinschaft ausschließlich zuständig ist, mit der Durchführung des Unionsrechts betraut (Art.  2 Abs.  1 AEUV). Die Verbandskompetenz der Union bezieht sich somit immer nur auf die Rechtsetzung minus der Durchführung. Aus diesem Befund folgt zunächst, dass sich der Begriff der Durchführung in Art. 291 AEUV einem Wandel unterzogen hat: Er ist weiter als nach altem Recht. Art.  202, 3.  Spiegelstrich EGV bezog sich nur auf die unionale Durchführung. Die Mitgliedstaaten spielten bei der Frage der Übertragung schon vertragssystematisch, aber auch in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte kaum eine Rolle. Der neue Begriff der Durchführung ist hingegen Bestandteil der vertikalen Zuständigkeitsordnung und bezieht sich auch auf die mitgliedstaatliche Tätigkeit, die ebenfalls als Durchführung bezeichnet ist. Dabei sind die Mitgliedstaaten grundsätzlich für die Durchführung zuständig, während die unionale Durchführungszuständigkeit einem Rechtfertigungs­ bedürfnis unterliegt und damit nur ausnahmsweise gilt. Den Mitgliedstaaten ist die Durchführung nun als Recht zugwiesen. Nach alter Rechtslage ließ sich den Verträgen nur die Pflicht der Mitgliedstaaten entnehmen, das Unionsrecht durchzuführen bzw. – nach damals präziserer Terminologie – nach ihrem innerstaat­lichen Recht zu implementieren; dem hierzu viel zitierten Grundsatz des indirekten Vollzugs sowie der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie kam nur deskriptive, aber keine präskriptive Bedeutung zu. Unter dem Regime des Art. 291 AEUV bezeich-

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net hingegen der – weit verstandene – Begriff der Durchführung einen Bereich, der von der unionalen Zuständigkeit ausgenommen und den Mitgliedstaaten als Kompetenz zugewiesen ist. Der daraus resultierende Gewinn an mitgliedstaatlicher Souveränität ist allerdings relativ. Die den Mitgliedstaaten als Recht zugewiesene Aufgabe der „Durchführung“ bezieht sich immer akzessorisch auf gesetztes Unionsrecht. Die Kompetenz zum Erlass von Unionsrecht ist aber nach wie vor nicht auf eine bestimmte Art von – beispielsweise materiell programmierendem – Recht beschränkt. Ebenso wenig lässt sich dem Begriff der Durchführung ein ex ante feststehender und den Mitgliedstaaten als solcher zugewiesener Kern-Kompetenzbereich entnehmen. Dieses Konzept hat zur Folge, dass die Durchführung schlicht da beginnt, wo der Rechtsetzer zu regeln aufhört. Was Durchführung ist, bestimmt allein der Rechtsetzer und damit die Union. Der Begriff der Durchführung ist relativ. Auch auf der Grundlage des neuen Art. 291 AEUV lässt sich ein feststehender Kernbereich mitgliedstaatlicher Souveränität nicht begründen. Zumindest entwirft Art. 291 AEUV aber einen, sogar: doppelten, „mitgliedstaatlichen Schutzbereich“ der Durchführung. Zum einen führen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht durch; zum anderen gehen sie hierbei nach ihrem innerstaatlichen Recht vor. In diesen „doppelten“ Schutzbereichs zugunsten der Mitgliedstaaten kann die Union, sofern es einheitlicher Bedingungen für die Durchführung bedarf, auf grundsätzlich zwei verschiedene Arten eingreifen. Sie kann, indem sie in ihren Rechtsakten der Kommission die entsprechenden Durchführungsbefugnisse überträgt, entweder das von ihr gesetzte Recht selbst anwenden oder sie kann es anwendbar machen. Letzteres kann durch den Erlass der für einen einheitlichen Vollzug notwendigen Verfahrensregeln geschehen, aber auch durch die nähere Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe. Wie weit die Union im Wege der Durchführung in die Gewährleistung des Art.  291 Abs.  1 AEUV eingreifen darf, unterliegt den Grenzen der Subsidiarität bzw. Verhältnismäßigkeit, die auf die Frage der Durchführung separat Anwendung finden. Dies hat durch die Neuregelung zumindest eine Klarstellung erfahren.

D. Abgrenzungsproblematik Gerade die vom Durchführungsbegriff des Art. 291 AEUV erfasste Konkretisie­ rung unbestimmter Rechtsbegriffe wirft die Frage nach der Abgrenzung zu Art. 290 AEUV auf, auf dessen Grundlage die Kommission auch zur „Ergänzung“ von Gesetzgebungsakten ermächtigt werden kann. In der Tat steht zu befürchten, dass es hier zu Abgrenzungsschwierigkeiten kommen wird. Richtschnur für die Abgrenzung müssen die unterschiedlichen Funktionen von delegierten und Durchführungsrechtsakten sein. Delegierte Rechtsakte sind quasi-legislativ, sie treffen selbst neue Regelungen; sie ergänzen einen Basisrechtsakt also in der Breite. Durchführungsakte erlangen Bedeutung in einem exekutiven Zusammenhang. Sie

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setzen eine vollständige Regelung voraus und bringen diese nur noch zur Anwendung; Konkretisierung bedeutet damit eine genauerer Regelung in der Tiefe. Entwickelt wurde hier das Bild eines Röhrensystems: Delegierte Rechtsakte fügen dem System ein Teilstück hinzu. Durchführungsakte verengen die Rohre innen und lenken deren Inhalt so in präzisere Bahnen oder sie enthalten „Verkehrs­ regeln“ für das Röhrensystem.

E. Normenhierarchie Zuletzt wurde in dieser Arbeit die Frage behandelt, inwiefern sich delegierte Rechtsakte und Durchführungsrechtsakte als Bestandteil einer Normen­hierarchie darstellen. Ersichtlich wollten die Vertragsautoren mit dem Gesetzgebungsakt an der Spitze eine Unterscheidung zwischen gesetzlichen und untergesetzlichen Rechtsakten, zu denen auch die beiden hier behandelten Formen abgeleiteter Rechtsetzung zählen, etablieren. Als hierarchisierendes Moment kommt allein die besondere Legitimationsleistung der Gesetzgebungsakte in Betracht. Bereits im Zusammenhang mit der Delegation wurde gezeigt, dass die Kategorie des Gesetzgebungsaktes mit verschiedenen Legitimationsfaktoren verknüpft ist. Dies begründete seine hervorgehobene Stellung zumindest im Verhältnis zum von ihm abgeleiteten delegierten Rechtsakt. Eine andere, weitergehende Frage ist, ob der Gesetzgebungsakt auch im Gesamtsystem der Rechtsakte diese hervor­ gehobene Stellung behaupten kann. Insbesondere die Existenz primärrechtsunmittelbarer Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, die bisweilen auch zur Regelung wichtiger Fragen herangezogen und von Rat und Parlament erlassen werden, hat Zweifel hervorgerufen, ob der Vertrag konsequent die besondere legitimatorische Qualität des Gesetzgebungsaktes anerkennt und ihm die Stellung eines formellen Gesetzes an der Spitze einer Normenhierarchie zuweist. Nach hier vertretener Ansicht lässt die vertragliche Systematik trotz aller Inkonsistenz eine Normenhierarchie mit den Ebenen des gesetzlichen und des untergesetzlichen Rechts noch hinreichend deutlich erkennen. Hingegen fehlen innerhalb des untergesetz­ lichen Rechts Anhaltspunkte für eine systematische Kategorisierung, die norm­ hierarchische Schnitte rechtfertigen würden.

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SUMMARY The transfer of legislative powers is also and in particular on the European level an often employed instrument to satisfy modern societies’ craving for norms. Since the 1960’s, the concept is known in Europe: The council empowers the Commission with the capacity to adopt “implementing acts” in the so called comitology procedure. The Lisbon treaty now introduces two different kinds of power transfer: Art. 290 TFEU provides for the possibility to delegate legislative power to the Commission; Art. 291 TFEU deals with the implementation of acts. Both provisions address different levels of relations. The delegation is relevant in a horizontal setting which is in particular emphasized by the caveat in Art. 290 AEUV stating that the basic act must contain the “essential elements” of an area. Art. 291 TFEU concerns on the contrary the vertical relationship of the EU to its member states. This study analyses the purpose and the background of delegating as well as of implementing acts and tries to establish a connection to the hierarchy of norms which seems to emerge within European secondary law.

RÉSUMÉ Le transfert de pouvoir législatif est aussi et surtout au niveau Européen un instrument souvent utilisé pour satisfaire la recherche de normes d’une société moderne. Depuis les années 1960, le concept est connu en Europe: Le Conseil autorise la Commission d’adapter les actes d’exécution par la procédure de comitologie. Le traité de Lisbonne introduit deux formes de transfert de pouvoir législatif: Art. 290 TFUE prévoit l’adoption d’actes délégués; Art. 291 TFUE stipule que des compétences d’exécution peuvent être conférées à la Commission. Les deux provisions font partie des régimes différents. La délégation concerne les relations horizontales ce qui est souligné par la restriction en Art. 290 TFUE que les éléments essentiels d’un domaine sont réservés à l’acte législatif et ne peuvent donc pas faire l’objet d’une délégation de pouvoir. Art. 291 TFUE s’occupe, au contraire, avec les relations verticales entre l’Union Européenne et les états membres. Cette étude analyse l’objectif et le contexte des actes déléguées ainsi que des actes d’exécution et essaie d’établir un lien avec la hiérarchie des normes qui semble être en train d’émerger de la loi Européenne.