Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV [1 ed.] 9783428541218, 9783428141210

Das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union ist – obwohl immer wieder als K

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Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV [1 ed.]
 9783428541218, 9783428141210

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1269

Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV Von

Meike Schönemeyer

Duncker & Humblot · Berlin

MEIKE SCHÖNEMEYER

Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1269

Die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV

Von

Meike Schönemeyer

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Buch Bücher de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-14121-0 (Print) ISBN 978-3-428-54121-8 (E-Book) ISBN 978-3-428-84121-9 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im September 2012 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur wurden bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt. Danken möchte ich all denjenigen, die mich bei der Entstehung der Arbeit begleitet und unterstützt haben. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Christian Hillgruber. Die Idee zu dieser Untersuchung ist im Rahmen meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Herrn Prof. Dr. Hillgruber im Jahr 2008 entstanden. Besonders hilfreich für die Erstellung der Arbeit war die stete Bereitschaft von Herrn Prof. Dr. Hillgruber, die im Laufe der Bearbeitung auf­ tretenden juristischen Fragestellungen und mögliche Lösungsansätze kontrovers zu diskutieren. Durch diese wissenschaftlichen Gespräche sind viele neue Ideen entstanden. Für die schnelle Erstellung des Zweitgutachtens möchte ich herzlich Herrn Prof. Dr. Dr. Wolfgang Durner LL. M. danken. Zuletzt danke ich meiner Familie und ganz besonders meinen Eltern für ihre Unterstützung während meines Studiums und meiner Promotion. Bonn, im Februar 2014

Meike Schönemeyer

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 B. Grundlagen der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I. Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 1. Geltung des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Vorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 a) Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 b) Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3. Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Aufgabe und Stellung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 III. Vorlagepflicht der Fachgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1. Vorlagepflicht der Fachgerichte nach der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . 28 a) Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 aa) Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 bb) Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 cc) Konsequenzen für die Vorlagepflicht des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . 32 b) Vorlagegegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 aa) Auslegungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 bb) Gültigkeitsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 cc) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 c) Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 d) Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 e) Ausnahmen von der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 f) Bindung an Entscheidungen des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 2. Verletzung der Vorlagepflicht durch die Fachgerichte nach der Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3. Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

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Inhaltsverzeichnis

C. Vorlagepflicht des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 I. BVerfG als einzelstaatliches Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 II. BVerfG als letztinstanzliches Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 III. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage berechtigten Gerichten . . . . . . . 55 2. Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage verpflichteten Gerichten . . . . . . 57 3. Kriterien zur Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . 60 a) Entscheidungserheblichkeit bei der konkreten Normenkontrolle . . . . . . . 61 b) Entscheidungserheblichkeit bei dem Vorabentscheidungsverfahren . . . . . 62 IV. Bindung des BVerfG an Entscheidungen des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 V. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 D. Vorlagepflichtige Konstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 I. Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 2. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 II. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 III. Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 1. Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 2. Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 1. Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag als Prüfungsgegenstand . . . . . . . . . . 85 a) Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 aa) Formelle Voraussetzungen für die Übertragung von Hoheitsrechten . 88 bb) Materielle Anforderungen an die Übertragung von Hoheitsrechten . . 90 b) Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 aa) Kontrolle vor Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes . . . . . . . . . . . . 92 bb) Kontrolle nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes . . . . . . . . . . . 92 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Inhaltsverzeichnis

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c) Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 bb) Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 d) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 aa) Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 bb) Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 e) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 aa) Erneute Prüfung des Zustimmungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Erstmalige Prüfung des Zustimmungsgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 f) Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 g) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 a) Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 aa) Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 bb) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 aa) Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 bb) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 aa) Auslegung der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Gültigkeit der Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 d) Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 e) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 3. Nichtumsetzung einer Richtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Zulässigkeitsvoraussetzungen Bund-Länder-Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 aa) Parteifähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 bb) Angriffsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 cc) Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 dd) Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 ee) Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 b) Prüfungsmaßstab des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 c) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 d) Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 e) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 4. Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Zulässigkeitsvoraussetzungen Bund-Länder-Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 aa) Parteifähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

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Inhaltsverzeichnis bb) Angriffsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 cc) Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 dd) Anrufung des Bundesrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 ee) Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 ff) Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 b) Prüfungsmaßstab des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 c) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 e) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5. Nichtausfertigung eines Umsetzungsgesetzes zu einer Richtlinie . . . . . . . . . 143 a) Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 b) Prüfungsmaßstab des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 c) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 d) Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 e) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6. Nationale Vollzugsakte zu europäischem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Mögliche Fallgestaltungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 aa) Verfassungsbeschwerde wegen willkürlicher Nichtvorlage des Fachgerichts an den EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 bb) Verfassungsbeschwerde gegen das letztinstanzliche verwaltungsgerichtliche Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 cc) Verfassungsbeschwerde vor Erschöpfung des Rechtsweges . . . . . . . . 153 b) Zulässigkeitsvoraussetzungen Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . 154 aa) Beschwerdegegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 bb) Rechtswegerschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 c) Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht Abs. Absatz a. E. am Ende AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union a. F. alte Fassung AG Aktiengesellschaft Alt. Alternative AöR Archiv des öffentlichen Rechts Art. Artikel Aufl. Auflage AWD Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters Bayerische Verwaltungsblätter BayVBl. Bd. Band BeckOK Beck’scher Online-Kommentar BGBl. Bundesgesetzblatt BSSichG Beitragssatzsicherungsgesetz BT Bundestag BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerfGK Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bzw. beziehungsweise ders. derselbe d. h. das heißt DÖV Die öffentliche Verwaltung DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt EG Europäische Gemeinschaft EGV Vertrag über die Europäische Gemeinschaft EL Ergänzungslieferung EMRK Europäische Menschenrechtskonvention EU Europäische Union EuGH Gerichtshof der Europäischen Union/Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft EuGRZ Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuR Europarecht EUV Vertrag über die Europäische Union EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EVR Europäischer Verwaltungsrechtsschutz EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWGV Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft f. folgende

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Abkürzungsverzeichnis

ff. fortfolgende gem. gemäß GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung HGlG Hessisches Gleichbehandlungsgesetz Hs. Halbsatz HStR Handbuch des Staatsrechts HV Verfassung des Landes Hessen i. S. d. im Sinne des/der i. S. v. im Sinne von i. V. m. in Verbindung mit Jura Juristische Ausbildung JuS Juristische Schulung lit. littera (Buchstabe) m. w. N. mit weiteren Nachweisen n. F. neue Fassung NJ Neue Justiz NJW Neue Juristische Wochenschrift NPD Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nr. Nummer NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Rd. Randnummer Rs. Rechtssache S. Seite Slg. Entscheidungssammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Gerichts erster Instanz (EuG) sog. sogenannte(r,s) u. a. und andere USA United States of America VerfO Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union VGH Verfassungsgerichtshof vgl. vergleiche Vorb. Vorbemerkung VwGO Verwaltungsgerichtsordnung ZEuS Zeitschrift für europarechtliche Studien zit. zitiert ZPO Zivilprozessordnung ZZP Zeitschrift für Zivilprozess

A. Einführung I. Problemaufriss Über das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gerichtshof der Europäischen Union ist in der rechtswissenschaftlichen Literatur viel geschrieben worden1. Wurde es vom Bundesverfassungsgericht in dem Maastricht-Urteil noch als Kooperationsverhältnis beschrieben2, finden sich dazu im Lissabon-Urteil keine Ausführungen mehr3. Der Honeywell-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Juli 20104 wurde im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vielfach als erneuter Schritt in Richtung Kooperation zwischen Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Union gewertet5. Im Kern geht es um die Frage, welchem Gericht im Konfliktfall die Letztentscheidungskompetenz zukommt6. 1 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 62 ff., 84 ff.; Bergmann, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, Kapitel A III., Rd. 1, 16 ff. (S. 129 f., 136 ff.); Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 35. EL Stand Mai 2011, Vorb. Rd. 291 ff.; Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art.  93 GG Rd. 39 ff.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 23 ff., 358 ff.; Sturm/Detterbeck, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd.  25 ff. 2 BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht. Zum Kooperationsverhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Union statt vieler: Funk-Rüffert, Kooperation von Europäischem Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht im Bereich des Grundrechtsschutzes, Berlin 1999; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 360 (364 ff.). 3 BVerfGE 123, 267 – Lissabon. Vgl. Bergmann/Karpenstein, Identitäts- und Ultra-viresKontrolle durch das BVerfG – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, ZEuS 2009, 529 (539); Sauer, Europas Richter Hand in Hand? – Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH nach Honeywell –, EuZW 2011, 94 (95). 4 BVerfGE 126, 286 – Honeywell. 5 Statt vieler: Pötters/Traut, Die Ultra-vires-Kontrolle des BVerfG nach „Honeywell“ – Neues zum Kooperationsverhältnis von BVerfG und EuGH?, EuR 2011, 580; Sauer, Europas Richter Hand in Hand? – Das Kooperationsverhältnis zwischen BVerfG und EuGH nach Honey­well –, EuZW 2011, 94. 6 Vgl. Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005; Hirsch, Europäischer Gerichtshof und Bundesverfassungsgericht – Kooperation oder Konfrontation?, NJW 1996, 2457 ff.; Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung; das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Letztentscheidung über Ultra vires-Akte in Mehrebenensystemen; eine rechtsvergleichende Betrachtung von Konflikten zwischen Gerichten am Beispiel der EU und der USA, 2000; Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, S. 157 ff.; Zuck/Lenz, Verfassungs­ gerichtlicher Rechtsschutz gegen Europa – Prozessuale Möglichkeiten vor den Fachgerichten und dem BVerfG gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1997, 1193.

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A. Einführung

Dieses Problem spitzt sich zu, wenn es um die Pflicht des Bundesverfassungs­ gerichts zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV7 geht. In seiner Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht eine Bindung an Art. 267 AEUV grundsätzlich anerkannt. Bereits im Solange I-Beschluss 1974 hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt: „Inzidentfragen aus dem Gemeinschaftsrecht kann das Bundesverfassungsgericht … selbst entscheiden, sofern nicht die Voraussetzungen des auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlichen Art. 177 des Vertrages [Art. 267 AEUV n. F.] vorliegen …“8

In dem fünf Jahre später ergangenen Vielleicht-Beschluss hält das Bundes­ verfassungsgericht noch deutlicher fest: „Der Senat sieht im vorliegenden Verfahren keinen Anlass, die Richtigkeit und Klarheit der im Ausgangsverfahren gefällten Vorabentscheidung des Gerichtshofs, soweit sie das Gemeinschaftsrecht betrifft, in Zweifel zu ziehen; er ist deshalb nicht gehalten, die dem Gerichtshof vom Verwaltungsgericht vorgelegten Fragen neuerlich gem. Art. 177 Abs. 3 EWGV [Art. 267 Abs. 3 AEUV n. F.] vorzulegen.“9

Auch in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdaten­ speicherung vom 2. März 2010 nimmt der Erste Senat eine grundsätzliche Bindung auch des Bundesverfassungsgerichts an Art. 267 AEUV an, erachtet aber im konkreten Fall eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union als nicht entscheidungserheblich10. Wörtlich heißt es in der Entscheidung: „Die Verfassungsbeschwerden geben keinen Anlass für ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gem. Art. 267 AEUV. Zwar könnte eine entsprechende Vorlage durch das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 37, 271 [282]) insbesondere in Betracht kommen, wenn die Auslegung oder die Wirksamkeit von Gemeinschafts- beziehungsweise Unionsrecht in Frage stehen, das Vorrang vor innerstaatlichem Recht beansprucht und dessen Umsetzung vom Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes geprüft wird. Jedoch kann eine solche Vorlage nur dann zulässig und geboten sein, wenn es auf die Auslegung beziehungsweise Wirksamkeit des Unionsrechts ankommt.“11

Trotz dieser grundsätzlichen Anerkennung einer Bindung an die Vorschrift des Art. 267 AEUV hat das Bundesverfassungsgericht dem Gerichtshof der Euro­

7 Im Folgenden wird die seit dem Inkrafttreten des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) am 01.12.2009 gültige Fassung des Art. 267 AEUV über das Vorabentscheidungsverfahren verwendet, auch wenn auf ältere Fassungen Bezug genommen wird. 8 BVerfGE 37, 271 (282) – Solange I. 9 BVerfGE 52, 187 (201) – Vielleicht. 10 BVerfGE 125, 260 (308) – Vorratsdatenspeicherung. 11 BVerfGE 125, 260 (308) – Vorratsdatenspeicherung.

I. Problemaufriss

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päischen Union bis heute noch keine Frage des Unionsrechts zur Vorabentscheidung vorgelegt12. Sucht man in der rechtswissenschaftlichen Literatur Antworten auf die Frage nach einer Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union, ergibt sich ein uneinheitliches Bild. Vorwiegend im staatsrechtlichen Schrifttum finden sich Stimmen, die mit verschiedenen Begründungen eine Vorlage des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union ablehnen13. Andere erkennen zwar eine grundsätzliche Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV an, gehen jedoch – bei im Grunde unstreitig bestehender Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgericht – wegen in der Regel fehlender Entscheidungserheblichkeit der Vorlage für den Ausgangsrechtsstreit von deren grundsätzlicher Unzulässigkeit aus14. Auf der anderen Seite findet sich in vielen, insbesondere europarechtlichen, Veröffentlichungen der teils pauschale, teils ausführlich begründete Hinweis, auch das Bundesverfassungsgericht sei als innerstaatliches Verfassungsgericht von der Vorlagepflicht des Art. 267 Abs. 3 AEUV erfasst15. Der Blick auf andere europäische Verfassungsgerichte und die Landesverfassungsgerichtsbarkeit ergibt ein ebenso gespaltenes Bild. Neben einigen mitglied 12

Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs der Europäischen Union, Jahresbericht 2010, S. 111, http://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7032/, zuletzt abgerufen am 11.04.2012. Neben der Vielzahl der Vorlagen der fünf obersten Bundesgerichte ist der Staatsgerichtshof des Landes Hessen mit einem Vorabentscheidungsersuchen für den Zeitraum 1952 bis 2010 aufgelistet, nicht jedoch das Bundesverfassungsgericht. 13 Broß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Vorabentscheidungsverfahren, 2005, 108 (113 f.); Jaeger/Broß, Die Beziehungen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den übrigen einzelstaatlichen Rechtsprechungsorganen – einschließlich der diesbezüglichen Interferenz des Handelns der europäischen Rechtsprechungsorgane, EuGRZ 2004, 1 (15). Für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts und der Verfassungsgerichte der Länder an den Gerichtshof der Europäischen Union verneinend: Cremer, Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 177 EGV und mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte – Zum Verhältnis von unionsrechtlicher Vorlagepflicht und abstrakter Normenkontrolle, BayVBl. 1999, 266 ff. (270). 14 Statt vieler: Kirchhof, Justiz in Europa – Perspektiven und Grenzen, Vortrag Deutscher Richtertag 1995, Tagungsbericht, NJW 1996, 106 (107). 15 Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 (531 ff.); Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, EuR 2002, 239 ff.; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 24; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 43; Störmer, Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 177 EGV durch Landesverfassungsgerichte, NJ 1998, 337 (341); Warnke, Die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV in der Rechtsprechungspraxis des BVerfG, 2004. Die Vorlagepflicht für den Bayerischen Verfassungsgerichtshof bejahend: Hirsch, Vorabentscheidungsvorlagen zum Europäischen Gerichtshof durch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit, 1997, S. 45 ff.

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A. Einführung

staatlichen Verfassungsgerichten, die mit den unterschiedlichsten Begründungen Vorlagen an den Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV generell ablehnen16, gibt es auch solche, die von der Möglichkeit einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union rege Gebrauch machen. Zu den mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten, die den Gerichtshof der Europäischen Union bisher am häufigsten mit Vorlagen befasst haben, gehört der Österreichische Verfassungsgerichtshof. Seit dem Beitritt Österreichs zur Euro­ päischen Union im Jahr 1995 hat der Österreichische Verfassungsgerichtshof insgesamt vier Ersuchen um Vorabentscheidung an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet17. Von den Landesverfassungsgerichten hat bisher lediglich der Staatsgerichtshof des Landes Hessen mit Beschluss vom 16. April 1997 ein anhängiges Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union mehrere Fragen zur Vorabentscheidung gem. Art. 267 AEUV vorgelegt18.

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Siehe zu der Vorlagepraxis anderer mitgliedstaatlicher Verfassungsgerichte die rechtsvergleichenden Übersichten bei: Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, EuR 2002, 239 (252 ff.), und Warnke, Die Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EGV in der Rechtsprechungspraxis des BVerfG, 2004, S.  83 ff. 17 Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs der Europäischen Union, Jahresbericht 2010, S. 112, http://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7032/, zuletzt abgerufen am 11.04.2012. Zu den Vorlagen des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs siehe: Korinek, Vorabentscheidungsverfahren über Vorlagen von Verfassungsgerichten, 2005, S. 90 (100 ff.). 18 Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs der Europäischen Union, Jahresbericht 2010, S. 111, http://curia.europa.eu/jcms/jcms/Jo2_7032/, zuletzt abgerufen am 11.04.2012. Der Vorlagebeschluss des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen ist abgedruckt in EuGRZ 1997, 213 ff. Die auf die Vorlage ergangene Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union findet sich in der amtlichen Sammlung, EuGH Rs. C-158/97, Slg. 2000, I-1875 – Badeck. Dem Staatsgerichtshof des Landes Hessen stellten sich im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens, mit dem die Antragssteller die Feststellung der Unvereinbarkeit mehrerer Vorschriften des Hessischen Gleichbehandlungsgesetzes (HGlG) mit der Verfassung des Landes Hessen (HV) begehrten, die Frage nach der Auslegung mehrerer Artikel der Richtlinie 76/207/EWG vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung der Gleichbehandlung von Männern und Frauen (Amtsblatt Nr. L 039 vom 12.02.1976, S. 40; EuGRZ 1997, 213 ff.). Zu Recht kritisch zur Entscheidungserheblichkeit der Frage nach der Auslegung der Richtlinie für die vom Staatsgerichtshof des Landes Hessen zu entscheidende Frage der Vereinbarkeit des Hessischen Gleichbehandlungsgesetzes mit Bestimmungen der hessischen Landesverfassung mangels Heranziehung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht als Prüfungsmaßstab des Staatsgerichtshofs des Landes Hessen: Cremer, Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 177 EGV und mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte – Zum Verhältnis von gemeinschaftsrechtlicher Vorlagepflicht und abstrakter Normenkontrolle, BayVBl. 1999, 266 (267 ff.); Störmer, Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 177 EGV durch Landesverfassungsgerichte, NJ 1998, 337 (338 ff.). Siehe zur Heranziehung von Unionsrecht als Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungs­ gerichts die Kapitel: Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab, D. I., S. 69 ff., und Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab, D.II., S. 72 ff.

II. Gang der Untersuchung

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Neben den Verfassungsgerichten, die eine Vorlageverpflichtung an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV generell ablehnen, und denjenigen, die eine rege Vorlagepraxis handhaben, sind auch solche Verfassungsgerichte anzutreffen, die zunächst Vorlagen an den Gerichtshof der Europäischen Union abgelehnt, in Abkehr von ihrer bisherigen Praxis dann aber in jüngerer Zeit Ersuchen um Vorabentscheidungen an den Gerichtshof der Europäischen Union gerichtet haben. In die letzte Kategorie einzuordnen ist der italienische Corte costituzionale, der zunächst Vorlagen mit der Begründung verweigert hat, er sei kein Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV19, im Jahr 2008 dann jedoch mit Beschluss ein bei ihm anhängiges Verfahren ausgesetzt und Fragen des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegt hat20. Die divergierenden Ansichten im rechtswissenschaftlichen Schrifttum und die unterschiedliche Praxis der Verfassungsgerichte der Europäischen Union werfen die Frage auf, ob das Bundesverfassungsgericht als Verfassungsgericht eines Mitgliedstaates tatsächlich vom Anwendungsbereich des Art. 267 AEUV erfasst wird, so dass bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union besteht. Ist eine generelle Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts anzunehmen, stellt sich die weiterführende Frage, in welchen Konstellationen das Bundesverfassungsgericht Fragen des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorlegen muss. Dieser Untersuchung wird – soweit es um verfassungsrechtliche Fragen geht – die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde gelegt. Auf abweichende Ansichten in der rechtswissenschaftlichen Literatur wird – soweit für die Arbeit erforderlich – in den Fußnoten verwiesen. Bei europarechtlichen Fragen ist für diese Arbeit die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union maßgeblich. Bei unterschiedlichen Lösungsansätzen des Bundesverfassungsgerichts und des Gerichtshofs der Europäischen Union werden beide Ansichten herausgearbeitet und die Konsequenzen für das Thema dieser Arbeit aufgezeigt.

II. Gang der Untersuchung Zunächst wird in dem Kapitel „Grundlagen der Arbeit“ das Verhältnis des europäischen Unionsrechts zum nationalen Recht sowie die Aufgabe und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland herausgearbeitet und die Auswirkungen auf eine mögliche Vorlagepflicht des 19

Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Euro­ päischen Gerichtshof, EuR 2002, 239 (253 m. w. N.). 20 Der Vorlagebeschluss des italienischen Corte costituzionale vom 13. Februar 2008, Nr. 103/2008, ist zu finden auf der Internetseite http://www.cortecostituzionale.it/, zuletzt abgerufen am 11.04.2012. Die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 2. Juli 2009, Rs. C-169/08, sind abgedruckt in EuGRZ 2009, 418.

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A. Einführung

Bundesverfassungsgerichts erörtert. Im Anschluss daran werden die Voraussetzungen für eine gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV bestehende Vorlagepflicht der Fachgerichte unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union näher umrissen, da von dem Umfang und der Reichweite einer Vorlagepflicht der Fachgerichte der Umfang und die Reichweite einer für das Bundesverfassungsgericht bestehenden Vorlagepflicht abhängt. In diesem Zusammenhang ist auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungs­gerichts zur Verletzung der Vorlagepflicht durch die Fachgerichte und der damit zusammenhängenden Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG einzugehen. Sodann wird in dem Kapitel „Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts“ untersucht, ob das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV als einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union trifft, wann im Ausgangsverfahren auftretende Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts entscheidungserheblich sind und inwieweit das Bundesverfassungsgericht an im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens ergangene Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union gebunden ist. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung wird anschließend in dem Kapitel „Vorlagepflichtige Konstellationen“ darauf gerichtet, in welchen Konstellationen sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des europäischen Unionsrechts stellen können, die eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. Ausgehend von der These, dass sich dem Bundesverfassungsgericht von vornherein nur dann entscheidungserhebliche Fragen stellen können, wenn Unionsrecht unmittelbar oder mittelbar Prüfungsmaßstab oder Prüfungs­ gegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist, ist zunächst zu erörtern, in welchen Konstellationen Unionsrecht als unmittelbarer oder mittelbarer Prüfungsmaßstab oder Prüfungsgegenstand vom Bundesverfassungsgericht herangezogen werden kann und ob bei einer möglichen Prüfung entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts beim Bundesverfassungsgericht auftreten können, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungs­ gerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. Nachdem auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen der in Betracht kommenden verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten eingegangen worden ist, ist besonderes Augenmerk auf die Frage zu richten, welchen Prüfungsmaßstab das Bundesverfassungsgericht in der jeweiligen verfassungsgerichtlichen Verfahrensart anwendet und wann Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts in einem beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsrechtsstreit entscheidungserheblich sind, so dass eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. Zum besseren Verständ-

II. Gang der Untersuchung

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nis werden die Überlegungen zu Beginn bzw. am Ende des jeweiligen Kapitels auf ein fiktives Beispiel angewendet. Die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit werden schließlich am Ende dieser Untersuchung in einem Fazit zusammengefasst. Ziel dieser Arbeit ist es, aufzuzeigen, dass – entgegen einiger Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur21 – sehr wohl Konstellationen denkbar sind, in denen sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellen, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. Ob ein Auftreten der im Folgenden zu untersuchenden Konstellationen hingegen sehr wahrscheinlich ist, kann nicht abschließend beurteilt werden und ist daher nicht Gegenstand dieser Arbeit. Auch nicht einzugehen ist auf die Frage, welche europarechtlichen Sanktionen bei einer in einem konkreten Einzelfall vom Bundesverfassungsgericht nicht erfolgten Vorlage denkbar sind22 und wie eine bestehende Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Gerichtshof der Euro­ päischen Union gem. Art. 267 AEUV effektiv durchgesetzt werden kann23.

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Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (15 Fn. 13). Zu den Voraussetzungen, unter denen gegen die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 258 f. AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werden kann wegen Nichtbeachtung der Vorlagepflicht durch ein mitgliedstaatliches Gericht mit der Möglichkeit der Verhängung eines Zwangsgeldes gem. Art. 260 Abs. 2 AEUV siehe: Ehricke, in: Streinz, EUV/ AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rd. 49; Lenski/Mayer, Vertragsverletzungsverfahren wegen Nichtvorlage durch oberste Gerichte?, EuZW 2005, 225 ff.; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 50. 23 Zu dem nach dem Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30.06.2009 (BVerfGE 123, 267) aufkommenden Vorschlag, die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen des Unionsrechts in einen § 13 a BVerfGG n. F. aufzunehmen, siehe: Bergmann/Karpenstein, Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, ZEuS 2009, 529 (539). 22

B. Grundlagen der Arbeit Bevor auf die Frage nach einer Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts eingegangen werden kann, sind zunächst als Grundlagen dieser Arbeit das Verhältnis des Unionsrechts zum nationalen Recht, die Aufgabe und Stellung des Bundesverfassungsgerichts nach dem Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz und die Vorlagepflicht der Fachgerichte jeweils nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverfassungsgerichts herauszuarbeiten. Denn daraus ergeben sich Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts, auf die am Ende des Kapitels eingegangen werden wird.

I. Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht Grundlegend für das Verständnis der Thematik dieser Arbeit ist das Verhältnis des europäischen Unionsrechts zum nationalen Recht24. Denn die Unionsrechtsordnung und die nationalen Rechtsordnungen stehen keinesfalls isoliert neben­ einander; vielmehr beeinflussen sich beide Rechtsordnungen gegenseitig und sind voneinander abhängig25. Diese Verzahnung des Unionsrechts mit dem Recht der Mitgliedstaaten wird an dem in dieser Arbeit näher zu untersuchenden Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV besonders deutlich26. Die Frage des Verhältnisses von Unionsrecht und mitgliedstaatlichem Recht ist zum einen dann relevant, wenn eine Kollision zweier Normen, d. h. einer Bestimmung des Unionsrechts mit einer nationalen Regelung, in Frage steht27. Existieren zwei Normen, die beide denselben Sachverhalt regeln, aber unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen28, stellt sich die Frage, welche Norm vorrangig ist und ob es sich um einen Geltungs- oder Anwendungsvorrang handelt29. Zum anderen ist das Verhältnis des Unionsrechts zum innerstaatlichen Recht aber auch für den Umfang 24

Die nachfolgende Darstellung orientiert sich an den Beiträgen von Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 190 ff. und der übersichtlichen Aufarbeitung bei Herrmann, Examens-­ Repetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 28 ff., 54 ff. 25 BVerfGE 29, 198 (210); 37, 271 (278); Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 193, 197 ff. 26 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 193, 197 ff. 27 Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 54. 28 Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rd. 42. 29 Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 54.

I. Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht

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der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der mitgliedstaatlichen Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, bei der Kontrolle europarechtlich determinierter Prüfungsgegenstände erheblich30. In der rechtswissenschaftlichen Literatur werden die in diesem Zusammenhang verwendeten Terminologien mit teils unterschiedlicher Bedeutung gebraucht. Aus diesem Grund sind die in dieser Arbeit verwendeten Begriffe zunächst zu definieren und voneinander abzugrenzen. Ist von der Geltung einer Norm die Rede, geht es um die Frage, auf welcher rechtlichen Grundlage die Rechtsnorm als Teil einer Rechtsordnung ihren Befolgungsanspruch erhebt31. Im Unterschied dazu meint die Anwendbarkeit einer Norm, dass die Rechtsnorm aufgrund ihres Inhalts auf ein bestimmtes Rechtsverhältnis angewendet werden kann und dadurch rechtliche Wirkung erzeugt, so dass der Einzelne bestimmte Rechte herleiten kann oder ihm Pflichten auferlegt werden32. Bei der Frage des Vorrangs einer unionsrechtlichen Norm ist zwischen einem Geltungs- und einem Anwendungsvorrang zu differenzieren. Geht man von einem Geltungsvorrang des europäischen Unionsrechts aus, ist das entgegenstehende natio­nale Recht automatisch nichtig33. Bei einem Anwendungsvorrang verdrängt die fragliche Unionsrechtsnorm hingegen im konkreten Fall lediglich die kollidierende innerstaatliche Rechtsnorm34, führt aber nicht zu deren Nichtigkeit. Dies hat zur Folge, dass die mitgliedstaatliche Norm auf rein innerstaatliche Sachverhalte weiterhin Anwendung findet und bei Aufhebung der unionsrechtlichen Norm wieder in vollem Umfang anwendbar ist. 1. Geltung des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung Bei der Herleitung der rechtlichen Grundlage für die Geltung des Unionsrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung stehen sich im Wesentlichen zwei Sichtweisen – die unionsrechtliche und die verfassungsrechtliche – gegenüber. Nach der Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Union erlangt das Unionsrecht durch die vorbehaltlose Ratifikation in den Mitgliedstaaten unmittelbare Geltung, ohne dass ein Transformationsakt erforderlich ist35. Denn in den Unionsverträgen selbst ist der Rechtsbefehl zur unmittelbaren Geltung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten enthalten. 30

Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 196. Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 29; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rd. 37. 32 Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 29; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rd. 37. 33 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 222. 34 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 222. 35 Vgl. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25) – Van Gend & Loos; Biervert, in: Schwarze, EUKommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 249 Rd. 5. 31

22

B. Grundlagen der Arbeit

Im Gegensatz dazu leitet das Bundesverfassungsgericht die unmittelbare Geltung des Unionsrechts aus dem in dem Zustimmungsgesetz zu den Unionsverträgen enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl ab36. Ohne das deutsche Zustimmungsgesetz gilt das Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland nicht und ist damit nicht von den deutschen Staatsorganen anzuwenden. Diese unterschiedlichen Begründungsansätze zur Geltung des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung haben Auswirkungen auf den Vorrang des Unionsrechts. 2. Vorrang des Unionsrechts Übereinstimmend gehen der Gerichtshof der Europäischen Union und das Bundesverfassungsgericht von einem Vorrang des europäischen Unionsrechts vor dem nationalen Recht aus, wobei sich die Begründungen des Vorrangs erheblich voneinander unterscheiden. Dies hat insbesondere Auswirkung auf die Frage der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts bei der Kontrolle unionsrechtlich bedingter Prüfungsgegenstände. a) Rechtsprechung des EuGH In der Entscheidung Costa/ENEL hat der Gerichtshof der Europäischen Union den Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Recht festgestellt. Das europäische Unionsrecht bildet eine eigene Rechtsordnung, das auch gegenüber später erlassenem mitgliedstaatlichen Recht Vorrang genießt. „Durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist. … Dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fliessenden Recht können wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“37

In der Simmenthal II-Entscheidung hat der Gerichtshof der Europäischen Union diese Rechtsprechung weiterentwickelt und den Vorrang des Unionsrechts auf das

36 37

BVerfGE 73, 339 (367 f., 375); 89, 155 (187 f.). EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1256 f. Rd. 3) – Costa/ENEL.

I. Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht

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nationale Verfassungsrecht erstreckt38. Diese Entscheidung wurde verschiedentlich so interpretiert, dass der Gerichtshof der Europäischen Union zu einem Geltungsvorrang des Unionsrechts tendiere39, der zu einer Nichtigkeit entgegenstehender nationaler Rechtsvorschriften führe. In der Entscheidung IN.CO.GE.’90 u. a. aus dem Jahr 1998 stellt der Gerichtshof der Europäischen Union jedoch klar, dass es sich bei dem Vorrang des Unionsrechts um einen Anwendungsvorrang, nicht um einen Gültigkeitsvorrang handelt40. Kollidierende Rechtsvorschriften des nationalen Rechts sind demnach nicht ungültig, sondern finden lediglich in dem konkreten Einzelfall keine Anwendung. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union kommt allen nationalen Gerichten eine Verwerfungsbefugnis von unionsrechtlichen Bestimmungen entgegenstehenden nationalen Vorschriften zu41. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das europäische Unionsrecht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union einen umfassenden Vorrang vor jedem innerstaatlichen Recht, unabhängig von dessen Rang, und damit auch vor dem nationalen Verfassungsrecht genießt. Ordnet eine innerstaatliche Norm eine andere Rechtsfolge an als eine Bestimmung des Unionsrechts, hat die nationale Regelung außer Anwendung zu bleiben. Es besteht eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur uneingeschränkten Durchsetzung des Unionsrechts. b) Rechtsprechung des BVerfG Auch das Bundesverfassungsgericht erkennt den Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht grundsätzlich an. Im Gegensatz zum Gerichtshof der Europäischen Union geht das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht von einer Los­ lösung des primären und sekundären Unionsrechts von seiner völkerrechtlichen Grundlage aus, sondern betont, dass sich ein Anwendungsvorrang des Unionsrechts aus dem in dem Zustimmungsgesetz zu den Unionsverträgen enthaltenen Rechts­anwendungsbefehl ergibt42. Der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht liegt die Vorstellung zugrunde43, dass die Unionsverträge, ursprünglich als völkerrechtliche Verträge geschlossen, einen innerstaatlichen Vollzugsbefehl erfordern, damit das Unionsrecht als Völkerrecht in der nationalen Rechtsordnung anzuwenden ist (sog. Vollzugstheorie44). Entsprechend führt das Bundesverfassungsgericht aus: 38

EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 f. – Simmenthal II. Statt vieler: Pechstein, Entscheidungen des EuGH, 6. Aufl. 2011, Nr. 2 Vorbemerkungen, S.  3 f.; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 219. 40 EuGH, Verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307 Rd. 2 – IN.CO.GE.’90 u. a. 41 Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 64. 42 BVerfGE 85, 191 (204); 123, 267 (400); 126, 286 (301 f.). 43 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 225. 44 Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 9. 39

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B. Grundlagen der Arbeit „Art. 24 Abs. 1 GG [Art. 23 Abs. 1 GG n. F.] besagt bei sachgerechter Auslegung nicht nur, dass die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen überhaupt zulässig ist, sondern auch, dass die Hoheitsakte ihrer Organe … vom ursprünglich ausschließlichen Hoheitsträger anzuerkennen sind.“45

Im Solange I-Beschluss stellt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts fest: „Art. 24 GG [Art. 23 GG n. F.] ermächtigt nicht eigentlich zur Übertragung von Hoheitsrechten, sondern öffnet die nationale Rechtsordnung (in der angegebenen Begrenzung) derart, dass der ausschließliche Herrschaftsanspruch der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich des Grundgesetzes zurückgenommen und der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit eines Rechts aus anderer Quelle innerhalb des staatlichen Herrschafts­ bereichs Raum gelassen wird.“46

Begründet wird der Vorrang des Unionsrechts in Abgrenzung zu der Recht­ sprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union mit der im Grundgesetz enthaltenen verfassungsrechtlichen Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten, die zunächst auf Art. 24 Abs. 1 GG gestützt wurde, nach Einführung der neuen Fassung des Art. 23 Abs. 1 GG im Jahr 1993 auf diese Bestimmung. So führt der Zweite Senat im Kloppenburg-Beschluss vom 8. April 1987 aus: „Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall eines Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 GG [Art. 23 Abs. 1 GG n. F.] der innerstaat­ liche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist…. Art. 24 Abs. 1 GG [Art. 23 Abs. 1 GG n. F.] enthält die verfassungsrechtliche Ermächtigung für die Billigung dieser Vorrangregel durch den Gesetzgeber und ihre Anwendung durch die rechtsprechende Gewalt im Einzelfall …“47

Die Übertragung von Hoheitsrechten und der damit verbundene Vorrang des Unionsrechts sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht schrankenlos gegeben. Zunächst leitete das Bundesverfassungsgericht die noch ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Schranken aus einer verfassungsrechtlichen Gesamtschau von Art. 24 Abs. 1 GG ab, seit 1993 sind sie in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und 3 GG normiert. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts reicht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur so weit, wie das Grundgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlaubt, und ist damit kein absoluter Vorrang48.

45

BVerfGE 31, 145 (174). BVerfGE 37, 271 (280) – Solange I. 47 BVerfGE 75, 223 (244 f.) – Kloppenburg. 48 Zu weiteren in der Literatur vertretenen Auffassungen zur Begründung des Vorrangs des Unionsrechts siehe: Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 202 ff. m. w. N. 46

II. Aufgabe und Stellung des BVerfG

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Die wichtigste Konsequenz der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht darin, dass das europäische Unionsrecht in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nur insoweit von den Staatsorganen anzuwenden und durchzusetzen ist, wie der im Zustimmungsgesetz zu den unionsrechtlichen Verträgen enthaltene Rechtsanwendungsbefehl reicht. Die verfassungsrechtliche Grenze für die Geltung des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG49. Diese Schranke bildet – neben den Anforderungen der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG – zugleich den Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Überprüfung der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union und der Anwendbarkeit des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland50. 3. Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des BVerfG Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Herleitung des Vorrangs des Unionsrechts aus dem in dem Zustimmungsgesetz enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl und die dadurch bedingten verfassungsrechtlichen Grenzen haben Auswirkungen auf den Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle mit unionsrechtlichen Berührungspunkten, insbesondere auf den vom Bundesverfassungsgericht anzuwendenden Prüfungsmaßstab. Bei der Ermittlung möglicher vorlagepflichtiger Konstellationen ist auf diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts näher einzugehen und es sind die Konsequenzen für eine mögliche eigene Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts zu untersuchen.

II. Aufgabe und Stellung des BVerfG Zur Ermittlung möglicher Konstellationen, bei denen das Bundesverfassungsgericht eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV trifft, kann die besondere Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichten nicht unbeachtet bleiben. Aus diesem Grund sind zunächst Ausführungen zur Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach dem Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz unentbehrlich, um dann am Ende 49 Siehe unten: Materielle Anforderungen an die Übertragung von Hoheitsrechten, D.IV.1. a)bb), S. 90 f. 50 Siehe zu der Entwicklung und dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Umfang der eigenen Kontrollbefugnis bezüglich unionsrechtlich determinierter Rechtsakte die Ausführungen in dem Kapitel: Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsgegenstand, D.III., S. 80 ff.

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B. Grundlagen der Arbeit

des Kapitels die Konsequenzen, die sich aus der besonderen Stellung des Bundesverfassungsgerichts für mögliche vorlagepflichtige Konstellationen ergeben, aufzuzeigen. Gem. Art. 92 GG ist die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut, die durch das Bundesverfassungsgericht, durch die im Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt wird. § 1 Abs. 1 BVerfGG schreibt fest, dass das Bundesverfassungsgericht ein allen übrigen Verfassungsorganen gegenüber selbstständiger und unabhängiger Gerichtshof des Bundes ist. Mangels verfassungsrechtlicher Generalklausel51 ist das Bundesverfassungsgericht nur zuständig, wenn dies ausdrücklich im Grundgesetz oder im Bundesverfassungsgerichtsgesetz bestimmt ist (sog. Enumerationsprinzip)52. Regelungen über die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts finden sich in Art. 93 GG und § 13 BVerfGG. Aus diesen Normen wird deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Aufgabe hat, Entscheidungen der Gerichte, Maßnahmen der Exekutive und Akte der Gesetzgebung zu kontrollieren und Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen zu entscheiden53. Entscheidungen der Fachgerichte überprüft das Bundesverfassungsgericht nach Erschöpfung des Rechtsweges gem. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG im Rahmen der Urteilsverfassungsbeschwerde54, wobei es gegenüber den Fachgerichten keine allgemeine Rechtskontrolle ausübt55, sondern nur die Verletzung von „spezifischem Verfassungsrecht“ prüft56. Das Bundesverfassungsgericht soll nicht als „Superrevisionsinstanz“ fungieren57. Gerichtsentscheidungen der Fachgerichte kontrolliert es nach seiner eigenen Rechtsprechung nur daraufhin, ob Auslegungsfehler vorhanden sind, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen und in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind (sog. Hecksche Formel)58. Eine Kontrolle des einfachen Rechts erfolgt damit durch das Bundesverfassungs­

51

Vgl. BVerfGE 1, 396 (408). Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art.  93 GG Rd. 1, 78; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 9. 53 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 4 ff. 54 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 32; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 4. 55 Sturm/Detterbeck, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 17. 56 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 32; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 4; Wieland, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 93 GG Rd. 34. 57 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 32; Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 93 GG Rd. 8; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 4. 58 BVerfGE 18, 85 (93); Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 32; Wieland, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 93 GG Rd. 34. 52

II. Aufgabe und Stellung des BVerfG

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gericht grundsätzlich nicht; hierzu sind vielmehr die Fachgerichte abschließend zuständig59. Zum Umfang der Überprüfung der Auslegung des einfachen Rechts im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle führt das Bundesverfassungsgericht entsprechend aus: „Das Bundesverfassungsgericht ist bei der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt. GG auf eine verfassungsrechtliche Kontrolle beschränkt. Es prüft in diesem Verfahren die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundes- oder Landesrecht mit dem Grundgesetz. Die Auslegung des einfachen Rechts ist hingegen grundsätzlich Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle weitgehend entzogen (vgl. BVerfGE 18, 85 [92 f.]). Daher hat das Bundesverfassungs­ gericht auch bei der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt. GG die Auslegung zugrunde zu legen, welche die Vorschrift in der fachgerichtlichen Rechtsprechung erfahren hat. Es kann nur dann einschreiten und eine andere Auslegung vorgeben, wenn die fachgerichtliche Interpretation der Norm die Tragweite verfassungsrechtliche Grundsätze nicht hinreichend berücksichtigt oder im Ergebnis zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung von Verfassungsrechten führt (vgl. BVerfGE 85, 248 [258]).“60

Den Fachgerichten kommt mithin die Aufgabe zu, das einfache Recht auszulegen und auf den konkreten Rechtsstreit anzuwenden61 und dabei die Grundrechte des Bürgers zu wahren und durchzusetzen62. Erst wenn die Fachgerichte dieser Aufgabe nicht nachkommen, kann das Bundesverfassungsgericht angerufen werden und gewährleistet den erforderlichen Grundrechtsschutz63. Da Unionsrecht in der Regel im unmittelbar mitgliedstaatlichen Vollzug oder im mittelbar mitgliedstaatlichen Vollzug von deutschen Behörden angewendet wird64 und die Rechtmäßigkeitskontrolle der deutschen Vollzugsakte zu unmittelbar wirkendem Unionsrecht oder deutschem Umsetzungsrecht den Fachgerichten obliegt, stellen sich entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts grundsätzlich den Fachgerichten mit der Folge, dass spätestens das letztinstanzliche Fachgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet ist65. Für eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts sind daher Konstellationen zu ermitteln, bei denen sich das Bundesverfassungsgericht mit Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts kraft der in Art. 93 und § 13 BVerfGG zugewiesenen Auf 59 Morgenthaler, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 93 GG Rd. 8. 60 BVerfGE 101, 239 (257). 61 Wieland, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 93 GG Rd. 34. 62 BVerfGE 104, 220 (236). 63 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 32. 64 Zum Vollzug des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten siehe das Kapitel: Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht, D.IV.4., S. 131 (137 f.). 65 Siehe unten: Mögliche Fallgestaltungen, D.IV.6.a), S. 151 f.

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B. Grundlagen der Arbeit

gaben zu befassen hat. In welcher Weise eine solche Befassung des Bundesverfassungsgerichts in zulässiger Weise erfolgen kann bzw. erfolgen muss, ist in einem späteren Kapitel ausführlich zu beleuchten66.

III. Vorlagepflicht der Fachgerichte Nicht unberücksichtigt bleiben kann für diese Untersuchung die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Durchsetzung der unionsrechtlich bestehenden Vorlagepflicht der Fachgerichte, da sich daraus unmittelbar Auswirkungen auf Umfang und Reichweite einer möglichen eigenen Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV ergeben. Bevor auf diese Rechtsprechung näher eingegangen werden wird und die Konsequenzen für die Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts näher beleuchtet werden, sind zunächst die europarechtlichen Voraussetzungen des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV in Bezug auf die Fachgerichte herauszuarbeiten. 1. Vorlagepflicht der Fachgerichte nach der Rechtsprechung des EuGH Für das Verständnis der Arbeit unerlässlich ist die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens, insbesondere die Arbeitsteilung zwischen dem Gerichtshof der Europäischen Union und den mitgliedstaatlichen Gerichten, sowie der vom Gerichthof der Europäischen Union im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens anzuwendende Prüfungsumfang bzw. -maßstab. Aus diesem Grund ist zunächst auf die Funktion und das Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens sowie die Auswirkungen auf eine mögliche eigene Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts einzugehen, um anschließend die Vorlagepflicht der Fachgerichte nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union näher zu beleuchten67. a) Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentschei­ dung gem. Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV über die Auslegung der Verträge und gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union. 66

Siehe unten: Vorlagepflichtige Konstellationen, D., S. 66 ff. Die Herausarbeitung der europarechtlichen Voraussetzungen des Vorabentscheidungsverfahrens orientiert sich an der grundlegenden Darstellung bei: Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995. 67

III. Vorlagepflicht der Fachgerichte

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aa) Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens Die Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union primär in der Wahrung der Rechtseinheit der Europäischen Union68. Denn die nationalen Behörden wenden unmittelbar in den Mitgliedstaaten wirkendes Unionsrecht im sog. unmittelbar mitgliedstaatlichen Vollzug bzw. nationales Umsetzungsrecht im sog. mittelbar mitgliedstaatlichen Vollzug an69. Durch den mitgliedstaatlichen Vollzug des Unionsrechts und die unterschiedlichen Rechtstraditionen und Auslegungsmethoden der mitgliedstaatlichen Gerichte besteht die Gefahr einer Rechtszersplitterung70. Um dies zu vermeiden, sichert das Vorabentscheidungsverfahren eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Gerichte. Zur Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens führt der Gerichtshof der Europäischen Union im Rheinmühlen-Urteil vom 16. Januar 1974 entsprechend aus: „Art. 177 [Art. 267 AEUV n. F.] ist von entscheidender Bedeutung dafür, dass das vom Vertrag geschaffene Recht wirklich gemeinsames Recht bleibt: er soll gewährleisten, dass dieses Recht in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft immer die gleiche Wirkung hat. Auf diese Weise soll er unterschiedliche Auslegungen des Gemeinschaftsrechts verhindern, das die nationalen Gerichte anzuwenden haben …“71

In dem drei Jahre später ergangenen Hoffmann-La Roche-Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union heißt es: „Art. 177 [Art. 267 AEUV n. F.] hat zum Ziel, die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherzustellen; in diesem Rahmen soll Abs. 3 insbesondere verhindern, dass sich in einem Mitgliedstaat eine nationale Rechtsprechung herausbildet, die mit den Normen des Gemeinschaftsrechts nicht in Einklang steht.“72

Mit dem Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV wird dem nationalen Gericht ein Verfahren zur Verfügung gestellt, mit dem Schwierigkeiten bei der 68

EuGH Rs. 166/73, Slg. 1974, 33 (38 Rd. 2) – Rheinmühlen-Düsseldorf/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel; EuGH, Rs. 107/76, Slg. 1977, 957 (972 Rd. 5) – Hoffmann-La Roche AG/Centrafarm Vertriebsgesellschaft pharmazeutischer Erzeugnisse mbH; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S.  43 ff.; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 3223; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 6. 69 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 536, 539 ff., 548 ff. In Abgrenzung dazu wird bei dem unionsunmittelbaren Vollzug das Unionsrecht von den Organen der Europäischen Union selbst vollzogen (Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 533 ff., 537 f.). 70 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 6; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 6. 71 EuGH Rs. 166/73, Slg. 1974, 33 (38 Rd. 2) – Rheinmühlen-Düsseldorf/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel. 72 EuGH, Rs. 107/76, Slg. 1977, 957 (972 Rd. 5) – Hoffmann-La Roche AG/Centrafarm Vertriebsgesellschaft pharmazeutischer Erzeugnisse mbH.

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B. Grundlagen der Arbeit

Anwendung des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung ausgeräumt werden können73. Neben der Sicherung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten gewährleistet das Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV zudem einen zusätzlichen Individualrechtsschutz74. Die auf Unionsebene gegebene Beschränkung der Klagebefugnis gem. Art. 263 Abs. 4 AEUV wird durch die Möglichkeit der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens partiell wieder ausgeglichen75. Allerdings können die Parteien des Ausgangsverfahrens eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union lediglich anregen76. Die Entscheidung, ob eine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts für den nationalen Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, obliegt dem nationalen Gericht77. Schließlich erfolgt im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens inzident eine Kontrolle des Sekundärrechts am Maßstab des höherrangigen Unionsrechts78. Die mitgliedstaatlichen Gerichte prüfen zwar die Vereinbarkeit des Sekundärrechts mit dem primären Unionsrecht, die Verwerfungskompetenz bezüglich des sekundären Unionsrechts kommt jedoch allein dem Gerichtshof der Europäischen Union zu79. Daneben wird dem Gerichtshof der Europäischen Union durch das Vorabentscheidungsverfahren die Möglichkeit eröffnet, das primäre und sekundäre Unionsrecht auszulegen80. Zur Sicherung der einheitlichen Wirkung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten ist dem Gerichtshof der Europäischen Union mit dem Vorabentscheidungsverfahren ein Auslegungsmonopol hinsichtlich des Unionsrechts zugewiesen81.

73 EuGH Rs. 166/73, Slg. 1974, 33 (38 Rd. 2) – Rheinmühlen-Düsseldorf/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel. 74 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 8; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 3224; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 8. 75 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 49; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 8. 76 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 94 f.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 8. 77 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 94. 78 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 3228. 79 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 10. 80 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 3228. 81 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 6.

III. Vorlagepflicht der Fachgerichte

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bb) Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens Das Vorabentscheidungsverfahren ist als Zwischenverfahren ausgestattet und setzt eine Aufgabenverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof der Europäischen Union voraus82. Das Verfahren beginnt und endet vor den mitgliedstaatlichen Gerichten83. Stellen sich dem nationalen Richter für die Entscheidung seines Rechtsstreits erhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts, kann bzw. muss er das Verfahren aussetzen und die für den konkreten Rechtsstreit entscheidungserheblichen Fragen dem Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV bzw. Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorabentscheidung vorlegen. Handelt es sich um eine Frage der Auslegung des Unionsrechts, ermittelt der Gerichtshof der Europäischen Union den Inhalt und die Reichweite der unionsrechtlichen Norm84. Hat die Vorlagefrage die Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes zum Gegenstand, prüft der Gerichtshof der Europäischen Union die formelle und materielle Rechtmäßigkeit des Unionsrechtsaktes und entscheidet über die Nichtigkeit der vorgelegten Norm85. Prüfungsmaßstab für die Gültigkeit eines sekundären Unionsrechtsakts ist das höherrangige Unionsrecht86. Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet in seinem Urteil abstrakt über die von dem nationalen Gericht gestellte Frage der Auslegung des Unionsrechts oder der Gültigkeit von sekundären Unionsrechtsakten. Über den konkreten vor dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreit entscheidet unter Zugrundelegung des Auslegungs- oder Gültigkeitsergebnisses des Gerichtshofs der Europäischen Union das nationale Gericht. Herr des Verfahrens ist das nationale Gericht87. Dieses beurteilt auch die Notwendigkeit einer Vorlage, formuliert die Vorlagefrage, setzt das Ver 82 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2004, Art. 234 EGV Rd. 4; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 11. 83 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 11. 84 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 77; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 17. Zu den Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Union siehe Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 77 ff. und Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 4 Rd. 5. 85 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S.  74 f.; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 20. 86 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S.  75 f.; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 22; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 13. 87 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2004, Art. 234 EGV Rd. 5; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 11.

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B. Grundlagen der Arbeit

fahren aus und legt die Frage zur Vorabentscheidung dem Gerichtshof der Europäischen Union vor. Nach der abstrakten Beantwortung der Vorlagefrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union wendet das Ausgangsgericht das Unionsrecht auf den konkreten Fall an und entscheidet den nationalen Rechtsstreit endgültig88. Aus dem Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens als Zwischenverfahren folgt, dass dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht die Kompetenz zukommt, über die Rechtmäßigkeit des mitgliedstaatlichen Rechts oder die Anwendung des Unionsrechts durch die mitgliedstaatlichen Gerichte zu entscheiden89. Dies ist allein Aufgabe der nationalen Gerichte. Zudem folgt aus dem Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens als Zwischenverfahren und der klaren Aufgabenverteilung zwischen den Gerichten auch, dass zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem Gerichtshof der Europäischen Union kein Hierarchieverhältnis – also kein Verhältnis der Über- Unterordnung – besteht90. Der Gerichtshof der Europäischen Union beantwortet eine von den nationalen Gerichten vorgelegte Frage des Unionsrechts, damit diese unter Zugrundelegung der Antwort des Gerichtshofs der Europäischen Union den nationalen Rechtsstreit entscheiden können. Der Gerichtshof der Europäischen Union und die mitgliedstaatlichen Gerichte werden damit aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten tätig91. cc) Konsequenzen für die Vorlagepflicht des BVerfG Aus dem Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens als Zwischenverfahren folgt für die hier zu untersuchende Fragestellung der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts, dass sich – bei ggf. bestehender Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts – beide Gerichte auf gleicher Höhe gegenüberstehen. Ein Hierarchieverhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht, das dem Gerichtshof der Europäischen Union unter Umständen Fragen des Unionsrechts zur Vorabentscheidung vorlegen muss, und dem Gerichtshof der Europäischen Union, der kraft Unionsrecht die Kompetenz hat, über die Fragen des Unionsrechts zu entscheiden, ist damit nicht begründet. Beide Gerichte werden vielmehr aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten und mit unterschiedlichen Kompetenzen tätig.

88 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 11. 89 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S.  80 f. 90 Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2004, Art. 234 EGV Rd. 5; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 11. 91 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 11.

III. Vorlagepflicht der Fachgerichte

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b) Vorlagegegenstand Eine Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte besteht für entscheidungserhebliche Fragen, die sich auf die Auslegung der Verträge (Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV) oder auf die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Europäischen Union (Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV) beziehen. Wie bereits herausgearbeitet, kommt dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht die Kompetenz zu, Fragen des nationalen Rechts zu beantworten92. Unzulässig sind daher Vorlagefragen, die die Auslegung oder die Gültigkeit des nationalen Rechts oder die Vereinbarkeit einer nationalen Vorschrift mit dem Unionsrecht zum Gegenstand haben93. Der Gerichtshof der Europäischen Union deutet jedoch – soweit möglich – unzulässige Fragen nach der Vereinbarkeit einer nationalen Norm mit dem europäischen Recht in eine Frage der Auslegung des Unionsrechts um94. aa) Auslegungsfragen Fragen der Auslegung können sich auf die Auslegung der Verträge (Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV) und auf die Handlungen der Organe, der Einrichtungen oder der sonstigen Stellen der Europäischen Union (Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV) beziehen. Handlungen der Unionsorgane sind alle von Organen, Hilfsorganen oder sonstigen Einrichtungen der Union erlassen Rechtsakte (sog. sekundäres oder abgeleitetes Unionsrecht) mit Außenwirkung, unabhängig davon, ob der Akt unmittelbare Wirkung entfaltet oder nur für die Mitgliedstaaten verpflichtend ist95. Neben den in Art. 288 AEUV genannten Rechtsakten werden darüber hinaus aufgrund der weiten Formulierung des Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV aber auch atypische Handlungsformen von der Auslegungsbefugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union erfasst, wie Entschließungen und Beschlüsse96. Fragen der Auslegung können sich somit auf das gesamte sekundäre Unionsrecht beziehen. Bis zum Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages war in der rechtswissenschaftlichen Literatur umstritten, was unter dem Begriff des „Vertrages“ i. S. d. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EGV a. F. zu verstehen war. Einigkeit bestand darüber, dass die Auslegungsbefugnis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft unstreitig den 92

Siehe oben: Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens, B.III.1.a)bb), S. 31 (32 Fn. 89). Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 19; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S.  71 f. 94 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 19 f.; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 72; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 5. 95 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 55. 96 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 9. 93

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B. Grundlagen der Arbeit

Vertrag über die Europäische Gemeinschaft (EGV) selbst erfasste. Ob daneben aber das gesamte europäische Primärrecht, d. h. alle Gründungs-, Änderungsund Ergänzungsverträge der Europäischen Gemeinschaft von der Auslegungsbefugnis des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft erfasst waren, wurde kontrovers diskutiert. Neben einigen Vertretern der Lehre, die alle Bestimmungen des primären Gemeinschaftsrecht, die in der Normenhierarchie der Gemeinschaftsordnung materiell Verfassungsrang einnehmen, unter den Begriff des Vertrages i. S. v. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EGV a. F. fassten97, mit der Konsequenz, dass nach dieser Auffassung der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der Vorabentscheidung auch über die Auslegung des Vertrags über die Europäische Union (EUV a. F.) entscheiden konnte, lehnte die herrschende Meinung in der Literatur98 eine solche Ausdehnung des Begriffs des Vertrages gem. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EGV a. F. mit der Begründung ab, der Vertrag über die Euro­päische Union regele in Art. 35 EUV a. F. und Art. 46 EUV a. F. selbst, inwieweit in seinem Anwendungsbereich Vorabentscheidungsverfahren zugelassen und geboten sein sollten. Seit dem Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages erstreckt sich die Auslegungsbefugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union auf die Auslegung „der Verträge“, mithin neben den Bestimmungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV n. F.) auch auf den Vertrag über die Europäische Union (EUV n. F.). Die Vorlagepflicht der nationalen Gerichte gem. Art. 267 Abs. 3 i. V. m. Abs. 1 lit. a) und lit. b) AEUV erstreckt sich demnach auf Aus­ legungsfragen bezüglich des gesamten europäischen Primär- und Sekundärrechts sowie auf Fragen der Gültigkeit bezüglich der Handlungen der Organe, der Einrichtungen und der sonstigen Stellen der Europäischen Union. Auf den unter der alten Rechtslage bestehenden Streit, wieweit die Verpflichtung zur Vorlage der nationalen Gerichte in Bezug auf Fragen der Auslegung des Unionsrechts reicht, kommt es nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages mithin nicht mehr an. bb) Gültigkeitsfragen Gegenstand der Gültigkeitsprüfung gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV sind Handlungen der Organe, der Einrichtungen und der sonstigen Stellen der Union. Von der Kontrollbefugnis des Gerichtshofs der Europäischen Union erfasst wird das gesamte sekundäre Unionsrecht. Fragen der Gültigkeit, d. h. solche nach der rechtlichen Existenz bestimmter Unionsrechtsakte99 können nur in Bezug auf die 97 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 53 f. m. w. N.; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 7. 98 Ehricke, in: Streinz, EUV/EGV, Vorauflage, Art. 234 Rd. 16; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Vorauflage 3. Aufl. 2007, Art. 234 EGV Rd. 7. 99 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 53.

III. Vorlagepflicht der Fachgerichte

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Handlungen der Organe der Union gestellt werden (Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV). Aus einem Vergleich des Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV mit dem Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV lässt sich folgern, dass die Gültigkeit der Primärverträge selbst, etwa am Maßstab von Unionsgrundrechten, vom Gerichtshof der Europäischen Union nicht überprüft werden kann100. cc) Resümee Die Vorlagepflicht der letztinstanzlichen Gerichte an den Gerichtshof der Europäischen Union besteht mithin gem. Art. 267 Abs. 1 lit. a) und lit. b) Alt. 2 AEUV für Fragen der Auslegung des primären und des sekundären Unionsrechts und gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV für Fragen der Gültigkeit des sekundären Unionsrechts. Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit soll in dieser Arbeit trotz der insoweit bestehenden Ungenauigkeit von Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts als Vorlagegegenstand gesprochen werden, wenngleich Fragen der Gültigkeit der Unionsverträge mangels tauglichen Prüfungsmaßstabs kein zulässiger Vorlagegegenstand im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV sind. c) Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte Ein deutsches Gericht ist gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet, wenn dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. Wie zu ermitteln ist, ob ein Gericht letztinstanzlich i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheidet, war in der europarechtlichen Literatur lange Zeit umstritten101. Eine Ansicht stellte darauf ab, ob das Gericht das hierarchisch oberste des Mitgliedstaates sei (sog. abstrakte Betrachtungsweise). Dagegen hat sich der Gerichtshof der Europäischen Union mittlerweile der konkreten Betrachtungsweise angeschlossen102, wonach es lediglich darauf ankommt, ob im konkreten Fall noch Rechtsmittel gegen eine Entscheidung eingelegt werden können. Ist dies nach den

100 Vgl. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 73. 101 Siehe zu diesem Streit: Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EGVertrag, 2. Aufl. 1995, S. 109 ff.; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 41; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 57. Wegener geht davon aus, dass dieser Streit vom Gerichtshof der Europäischen Union noch nicht abschließend entschieden ist (Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 27 [Fn. 110]). 102 EuGH, Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839 Rd. 15 – Lyckeskog; Schwarze, in: Schwarze, EUKommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 41.

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B. Grundlagen der Arbeit

nationalen Vorschriften nicht mehr möglich, ist ein letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV gegeben103. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union besteht ausnahmsweise auch für unterinstanzliche Gerichte eine Pflicht zur Vorlage, wenn das nationale Gericht zu der Auffassung gelangt, dass eine sekundäre Unionsrechtsnorm ungültig ist104. In diesem Fall trifft auch ein nicht-letztinstanzliches Gericht i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV die Pflicht, dem Gerichtshof der Euro­ päischen Union die Frage der Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes zur Vorabentscheidung vorzulegen. d) Entscheidungserheblichkeit Aus einer Zusammenschau von Art. 267 Abs. 2 und Abs. 3 AEUV ergibt sich, dass eine Vorlagepflicht eines letztinstanzlichen Gerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV nur dann besteht, wenn das Gericht eine Entscheidung über eine unionsrechtliche Frage für den Erlass seines Urteils für erforderlich hält (Art. 267 Abs. 2 AEUV). Entscheidungserheblichkeit besteht dann, wenn der Tenor der Entscheidung des nationalen Gerichts von der Beantwortung der Vorlagefrage abhängt105. e) Ausnahmen von der Vorlagepflicht Zu der grundsätzlich für alle letztinstanzlichen Gerichte gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV bestehenden Vorlagepflicht hat der Gerichtshof der Europäischen Union Ausnahmen entwickelt. So müssen mitgliedstaatliche Gerichte entscheidungs­ erhebliche Fragen des Unionsrechts dann nicht vorlegen, wenn die gestellte Frage bereits Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens gewesen ist, eine ge­ sicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu dieser Frage bereits existiert oder die richtige Anwendung des Unionsrechts offenkundig ist106. Des Weiteren entfällt eine Vorlagepflicht in der Regel in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes107, wenn im Hauptsacheverfahren eine erneute Prüfung der im 103 Konsequenz dieser Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist, dass in der Bundesrepublik Deutschland Amtsgerichte etwa dann letztinstanzlich i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheiden, wenn gem. § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO der Wert des Beschwerdegegenstandes 600 € nicht übersteigt und eine Berufung damit nicht zulässig ist (Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 41). 104 EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 (4237 Rd. 13 ff.) – Foto-Frost; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 47. 105 Vgl. BVerfGE 10, 258 (261); 22, 175 (176 f.); 47, 146 (165); Herrmann, Examens-Repe­ titorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 100. Siehe dazu ausführlich das Kapitel: Entscheidungserheblichkeit bei dem Vorabentscheidungsverfahren, C.III.3.b), S. 62 f. 106 EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3429 f. Rd. 14, 16) – C. I. L. F. I. T. 107 Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 44, 48 f.

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summarischen Verfahren nur vorläufig entschiedenen Rechtsfrage möglich ist und die Verpflichtung, den Gerichtshof der Europäischen Union anzurufen, im Hauptsacheverfahren zum Zuge kommt108. f) Bindung an Entscheidungen des EuGH Die im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union binden neben dem vorlegenden Gericht alle im Ausgangsverfahren mit der Rechtssache befassten Gerichte („Inter-partes“-Wirkung)109, d. h. insbesondere das Rechtsmittelgericht bei einer Vorlage durch ein Untergericht, das Instanzgericht nach einer Zurückverweisung durch das Rechtsmittelgericht und das Gericht der Hauptsache bei einer Entscheidung im summarischen Verfahren110. Die Bindungswirkung der Vorabentscheidung besteht darin, dass das vorlegende Gericht die vom Gerichtshof der Europäischen Union vorgenommene Auslegung des Unionsrechts auf den konkreten Ausgangsrechtsstreit anwendet oder für ungültig erklärtes sekundäres Unionsrecht außer Anwendung lässt111. Eine erneute Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union kommt bei fehlender Klarheit des Vorabentscheidungsurteils in Betracht112. Zur Beantwortung der Frage, ob im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union über das Ausgangsverfahren hinaus Bindungswirkung „erga omnes“ entfalten, ist zu differenzieren zwischen Auslegungsfragen i. S. d. Art. 267 Abs. 1 lit. a) und lit. b) Alt. 2 AEUV und Vorlagefragen nach der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten i. S. d. Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV113. Vorabentscheidungsurteile des Gerichtshofs der Euro­ 108 EuGH, Rs. 107/76, Slg. 1977, 957 (972 Rd. 5) – Hoffmann-La Roche AG/Centrafarm Vertriebsgesellschaft pharmazeutischer Erzeugnisse mbH. 109 EuGH, Rs. 29/68, Slg. 1969, 165 (178 Rd. 3) – Milch-, Fett- und Eierkontor/Hauptzollamt Saarbrücken; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 55; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 68; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 47. 110 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S.  148 f. 111 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 56; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 149. 112 EuGH, Rs. 29/68, Slg. 1969, 165 (178 Rd. 3) – Milch-, Fett- und Eierkontor/Hauptzollamt Saarbrücken; vgl. EuGH, Rs. C-206/94, Slg. 1996, I – 2357 (2367 Rd. 22 ff.) – Paletta II; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 56; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 149; ­Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 68. 113 Siehe dazu m. w. N.: Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 57 ff.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd.  48 f.

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päischen Union, mit denen Sekundärrechtsakte für ungültig erklärt werden, sind von den mitgliedstaatlichen Gerichten mit der Folge zu beachten, dass der für ungültig erklärte Sekundärrechtsakt bei der Entscheidung der mitgliedstaatlichen Gerichte nicht anzuwenden ist114, wohingegen Urteile, mit denen die Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes bestätigt wird, keine „Erga-omnes“-Wirkung entfalten, da der Gerichtshof der Europäischen Union lediglich über eine bestimmte Rechtsfrage abhängig von der Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts entscheidet und neue, bislang nicht in die Prüfung einbezogene Gesichtspunkte eine andere Be­urteilung erforderlich machen können115. Bzgl. der Bindungswirkung von Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung des europäischen Unionsrechts findet sich in der rechtswissenschaftlichen Literatur übereinstimmend die Einschätzung, dass Auslegungsurteile unmittelbar nur die Gerichte des Ausgangsverfahrens binden116. Da die letztinstanzlichen mitgliedstaatlichen Gerichte nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union aber ausnahmsweise entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts dann nicht dem Gerichtshofs der Europäischen Union vorlegen müssen, wenn die Vorlagefrage bereits Gegenstand einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gewesen ist117, ist daraus zu schließen, dass den Auslegungsentscheidungen eine „Erga omnes“ - Wirkung118 bzw. eine „Leitfunktion“ und „Präjudizwirkung“ für andere Verfahren, in denen es um die gleichen oder ähnliche unionsrechtliche Vorfragen geht119, zukommt. 2. Verletzung der Vorlagepflicht durch die Fachgerichte nach der Rechtsprechung des BVerfG Im Solange II-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht die bis dahin nicht entschiedene Frage, ob der Gerichtshof der Europäischen Union gesetzlicher Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist, positiv beantwortet120. Eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wenn der unionsrechtlich bestehenden Verpflichtung zur Vorlage einer Frage an den Gerichtshof der Euro­ päischen Union in willkürlicher Weise nicht nachgekommen wird121. 114 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 58; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 70. 115 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 48. 116 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 153. 117 Siehe oben: Ausnahmen von der Vorlagepflicht, B.III.1.e), S. 36 Fn. 106. 118 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 60. 119 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S.  153 f. 120 BVerfGE 73, 339 (366 ff.) – Solange II. 121 BVerfGE 82, 159 (194); 126, 286 (316).

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Eine nähere Ausgestaltung des Willkürbegriffs hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in dem grundlegenden Beschluss vom 31. Mai 1990 vorgenommen122 und im Honeywell-Beschluss vom 6. Juli 2010 bestätigt123. Die Nichteinleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV verletzt demnach die Garantie des gesetzlichen Richters gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der seiner Auffassung nach bestehenden Entscheidungserheblichkeit einer zweifelhaften unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), es in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft) oder wenn das Gericht trotz Fehlens oder nicht abschließender Aussagen einer Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen seine Entscheidung auf eine bestimmte Deutung des Europarechts stützt, obwohl mögliche Gegenauffassungen eindeutig vorzuziehen sind (Unvollständigkeit der Rechtsprechung)124. Zu verneinen ist ein Verstoß in der letzten Fallgruppe bereits dann, wenn das Gericht die entscheidungserhebliche Frage in zumindest vertretbarer Weise beantwortet hat125. 3. Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des BVerfG Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsrechtlichen Durchsetzung der unionsrechtlich bestehenden Vorlagepflicht der Fachgerichte hat unmittelbar Auswirkungen auf die eigene Verpflichtung des Bundesverfassungsgerichts zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV. Denn der Beschwerdeführer kann eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch eine in willkürlicher Weise unterbliebene Vorlage durch die Fachgerichte mit der Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, § 13 Nr. 8a, § 90 Abs. 1 BVerfGG i. V. m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG beim Bundesverfassungsgericht rügen. Ist die Verfassungsbeschwerde zulässig und begründet, stellt das Bundesverfassungsgericht gem. § 95 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG fest, dass das grundrechtsgleiche Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Nichteinleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Gerichtshof der Europäischen Union verletzt ist. Gleichzeitig hebt das Bundesverfassungsgericht die fachgerichtliche Entscheidung, die Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist, auf und verweist die Sache gem. § 95 Abs. 2 BVerfGG an das zuständige Gericht zurück. Verweist das Bundesverfassungsgericht den Rechtsstreit an das Fachgericht zurück, ist dieses verpflichtet, die Sache erneut zu prüfen und für den Ausgangs 122

BVerfGE 82, 159. BVerfGE 126, 286 – Honeywell. 124 BVerfGE 82, 159 (195 f.). 125 BVerfGE 126, 286 (316 f.) – Honeywell. 123

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rechtsstreit entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung gem. Art. 267 AEUV vorzulegen. Bei einer Verletzung der Vorlagepflicht durch ein Fachgericht legt mithin das zuständige Gericht, nicht hingegen das Bundesverfassungsgericht, entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union vor. Eine Vorlage des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union erfolgt nicht126. Hintergrund dieser Rechtsprechung ist zum einen, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde nur die Verletzung von „spezifischem Verfassungsrecht“ prüft, was nur der Fall ist, wenn Willkür in der gerichtlichen Entscheidung liegt127. Es will über Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zu einem „obersten Vorlagenkontrollgericht“128 werden, dass jeden Verfahrensfehler der Fachgerichte korrigiert, denn damit würde die Anwendung des einfachen Rechts auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben werden129. Zum anderen ist das Bundesverfassungsgericht keine „Superrevisionsinstanz“, womit ihm grundsätzlich nicht die Kompetenz zukommt, den Rechtsstreit im Ausgangsverfahren abschließend zu entscheiden (sog. Durchentscheiden)130, vielmehr hebt es die Sache auf und verweist sie an ein Fachgericht zurück. Auch diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist in der Literatur gelegentlich auf Kritik gestoßen. Bemängelt wird unter anderem, die Rückverwei 126

Zuck/Lenz, Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Europa – Prozessuale Möglichkeiten vor den Fachgerichten und dem BVerfG gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1997, 1193 (1199). 127 Degenhart, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 101 GG Rd. 17. Zur Kritik an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur fachgerichtlichen Willkür einer Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union: Bäcker, Altes und Neues zum EuGH als gesetzlicher Richter, NJW 2011, 270 ff.; Schröder, Die Vorlagepflicht zum EuGH aus europarechtlicher und nationaler Perspektive, EuR 2011, 808 ff.; Thüsing/Pötters/Traut, Der EuGH als gesetzlicher Richter i. S. v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, NZA 2010, 930 ff. Für die in dieser Arbeit zu untersuchende Fragestellung einer Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichthof der Europäischen Union kann die Frage, in welcher Weise der Willkürbegriff auszugestalten ist, offen bleiben. Zwar mag eine präzisiere Ausgestaltung zu einer effektiveren Durchsetzung und Anwendung des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland führen, weil dadurch für den Einzelnen über das Verfassungsbeschwerdeverfahren eine breitere Möglichkeit eröffnet wird, Vorlagen an den Gerichtshof der Europäischen Union bei Unterlassen der Fachgerichte zu erreichen. Das Bundesverfassungsgericht selbst legt im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde wegen Nichtvorlage an den Gerichthof der Europäischen Union aber in keinem Fall an den Gerichtshof der Europäischen Union vor, sondern es hebt lediglich die Entscheidungen der Fachgerichte auf und weist die Sache zurück, so dass sich Konsequenzen für eine eigene Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts nicht ergeben. 128 BVerfGE 126, 286 (316) – Honeywell. 129 Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 101 GG Rd. 20. 130 Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95 BVerfGG Rd. 65.

III. Vorlagepflicht der Fachgerichte

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sung an die Fachgerichte und die dadurch entstehende Zeitverzögerung verletze die Garantie des effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 6 EMRK131. Zur Lösung dieses Problems wird vorgeschlagen, das Bundesverfassungsgericht solle die Vorlagefrage selbst formulieren und an den Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung weiterleiten132. Trotz dieser Einwände wird dieser Arbeit die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die willkürliche Nichtvorlage einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts durch ein Fachgericht als geltendes Recht (vgl. § 31 BVerfGG) zugrunde gelegt. Stellen sich einem Fachgericht in dem gerade beschriebenen Umfang entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts, sind somit immer die Fachgerichte zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet. Eine Vorlage des Bundesverfassungsgerichts erfolgt – auch bei Begründetheit der Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch die Nichtvorlage eines Fachgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union trotz bestehender europarechtlicher Verpflichtung – nicht133.

131

Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof – zugleich Anmerkung zum Beschluss vom 22. November 2001 – 2 BvB 1–3/01 (NPD-Verbot), EuR 2002, 239 (249 f.). 132 Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof – zugleich Anmerkung zum Beschluss vom 22. November 2001 – 2 BvB 1–3/01 (NPD-Verbot), EuR 2002, 239 (249 f.). 133 Siehe zu der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der Verfassungsbeschwerde überhaupt „letztinstanzlich“ i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheidet und damit zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet ist, das Kapitel: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 ff.

C. Vorlagepflicht des BVerfG Nachdem bei der Vorlagepflicht der Fachgerichte die Voraussetzungen des Art. 267 AEUV kurz angerissen wurden, sind nun die europarechtlichen Bestimmungen für die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Gerichtshof der Europäischen Union in Bezug auf das Bundesverfassungsgericht näher zu beleuchten. Eine Pflicht zur Vorlage besteht für das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV dann, wenn das Bundesverfassungsgericht als einzelstaatliches Gericht entscheidet, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können (letztinstanzliches Gericht) und sich dem Bundesverfassungsgericht in einem schwebenden Verfahren entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellen.

I. BVerfG als einzelstaatliches Gericht Gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV kann jedes Gericht eines Mitgliedstaates dem Gerichtshof der Europäischen Union eine Frage des Unionsrechts vorlegen, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Stellt sich eine Frage des Unionsrechts in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, ist dieses Gericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union verpflichtet. Fraglich ist, ob das Bundesverfassungsgericht als Gericht eines Mitgliedstaates bzw. als einzelstaatliches Gericht vom Anwendungsbereich der Vorschrift des Art. 267 AEUV über das Vorabentscheidungsverfahren erfasst wird. Eine Legaldefinition des Begriffs des Gerichts findet sich in den Unionsverträgen nicht134. Was unter einem Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV zu verstehen ist, ist aus einem Vergleich der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in Übereinstimmung mit den Zielen und dem Sinn des Vorabentscheidungsverfahrens zu ermitteln135. Da es sich um einen autonomen unionsrechtlichen Gerichtsbegriff handelt136, 134

Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 24. EL März 2009, P. II. Rd. 113. Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 84; ders., Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 24. EL März 2009, P. II. Rd. 113. 136 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 29; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd.  21; Schwarze, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 25; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 18. 135

I. BVerfG als einzelstaatliches Gericht

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kommt es für die Einordnung als Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV nicht auf die mitgliedstaatliche Bezeichnung, sondern allein auf die Funktion und Stellung im Rechtsschutzsystem der Mitgliedstaaten an137. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in einer Reihe von Entscheidungen herausgearbeitet, welche Anforderungen an ein Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV zu stellen sind138. Entscheidend für die Einordnung als Gericht im unionsrechtlichen Sinne ist, dass eine durch oder aufgrund eines Gesetzes errichtete, unabhängige Instanz eine ständige und obligatorische Gerichtsbarkeit ausübt, deren verbindliche Entscheidungen unter Anwendung von Rechtsnormen zustande kommen und auf rechtsstaatlichen Grundsätzen beruhen139. Das Bundesverfassungsgericht übt als selbstständige und unabhängige Instanz eine ständige und obligatorische Gerichtsbarkeit über die ihm durch das Grund­ gesetz (Art. 93 GG) und das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (§ 13 BVerfGG) zugewiesenen verfassungsrechtlichen Streitigkeiten aus140. Es entscheidet verbindlich über einen Verfassungsrechtsstreit in einem gerichtsförmigen Verfahren am Maßstab von Rechtsnormen141. Nach der Funktion und der Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland erfüllt das Bundesverfassungsgericht alle vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Anforderungen an den unionsrechtlichen Gerichtsbegriff und ist mithin ein einzelstaatliches Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV142. 137 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 84; ders., Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 24. EL März 2009, P. II. Rd. 114. 138 Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 29. 139 EuGH, Rs. 61/65, Slg. 1966, 584 – Vaassen-Goebbels/Vorstand des Beamtenfonds voor het Mijnbedrijf. Siehe zur Ausgestaltung des Begriffs des „einzelstaatlichen Gerichts“ durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union m. w. N.: Borchardt, in: Lenz/ Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 22; Dauses, Handbuch des EUWirtschaftsrechts, 24. EL März 2009, P. II. Rd. 115, Rd. 117; Schwarze, in: Schwarze, EUKommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 234 EGV Rd. 25 f.; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 18. 140 So auch: Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 90; Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 (531 ff.). 141 Sturm/Detterbeck, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 10 f. 142 In der rechtswissenschaftlichen Literatur werden die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte überwiegend als „einzelstaatliches Gericht“ i. S. d. Art. 267 Abs. 2 AEUV eingeordnet: Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 23; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 20. So auch der Staatsgerichtshof des Landes Hessen (EuGRZ 1997, 213 ff.) und der Österreichische Verfassungsgerichtshof (EuGRZ 1999, 365 ff.). Die unionsrechtliche Gerichtseigenschaft des Bundesverfassungsgerichts i. S. d. Art. 267 AEUV bejahend: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, 24. EL März 2009, P. II. Rd.  128 ff.; Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, 2001, S. 112; Zuck/ Lenz, Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Europa – Prozessuale Möglichkeiten vor den Fachgerichten und dem BVerfG gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1997, 1193 (1199); Zuleeg, Bananen und Grundrechte – Anlass zum Konflikt zwischen europäischer und deutscher Gerichtsbarkeit, NJW 1997, 1201 (1205).

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

Im Schrifttum wird dieses Ergebnis vereinzelt in Frage gestellt. Teils werden ohne nähere Begründung die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten von einer Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV ausgenommen143, teils wird angeführt, dass Bundesverfassungsgericht stehe außerhalb eines regulären Instanzenzugs, sei nur für die Prüfung von Verfassungsverstößen zuständig und damit schon nicht von dem Anwendungsbereich des Art. 267 AEUV erfasst144. Auch wird gelegentlich die Eigenschaft des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan (§ 1 BVerfGG) herangezogen, die einer Einordnung als Gericht i. S. d. Art. 267 AEUV entgegenstehe145. Gegen eine solche Sicht spricht aber schon der Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens. Das Vorabentscheidungsverfahren soll die ordnungsgemäße Anwendung und die einheitliche Auslegung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherstellen und insbesondere verhindern, dass es innerhalb der Europäischen Union zu voneinander abweichenden Gerichtsentscheidungen zu Fragen des Unionsrechts kommt146. Um eine einheitliche Anwendung zu gewährleisten und der Gefahr einer Rechtszersplitterung vorzubeugen, sichert das Vorabentscheidungsverfahren ein Auslegungsmonopol des Gerichtshofs der Europäischen Union147. Die Rechtseinheit innerhalb der Europäischen Union wäre aber auch gefährdet, wenn die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte von dem Anwendungsbereich der Vorschrift ausgenommen wären148, obwohl diese, Unionsrecht auslegen und anwenden. Berücksichtigt man die besondere Stellung der Verfassungsgerichte im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland und die Tatsache, dass neben dem Bundesverfassungsgericht die Landesverfassungsgerichte dann konsequenterweise ebenfalls von der Vorlagepflicht ausgenommen sein müssten, was dazu führen würde, dass allein in der Bundesrepublik Deutschland eine erhebliche Zahl von Gerichten ausgenommen wäre, für die keine Vorlagepflicht bestünde, kann für die Verfassungsgerichte nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift nichts anders gelten als für die Fachgerichte149.

143 Schumann, Das Verhältnis des deutschen Richters zum Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, ZZP 78 (1965), 77 (102). 144 Broß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Vorabentscheidungsverfahren, 2005, 108 (113 f.). 145 Broß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Vorabentscheidungsverfahren, 2005, 108 (114); vgl. Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 (531 f.). 146 EuGH Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 – C. I. L. F. I. T. Siehe oben: Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens, B.III.1.a)aa), S. 29 ff. 147 Siehe oben: Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens, B.III.1.a)aa), S. 29 (30 Fn. 81). 148 Flick, Handeln „ultra vires“ der Europäischen Gemeinschaft, 2001, S. 112; Zuck/Lenz, Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Europa – Prozessuale Möglichkeiten vor den Fachgerichten und dem BVerfG gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1997, 1193 (1199). 149 Siehe oben: Vorlagepflicht der Fachgerichte, B.III., S. 28 ff.

I. BVerfG als einzelstaatliches Gericht

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Ein weiteres Argument für die grundsätzliche Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts kann auch aus der – teils regen – Vorlagepraxis der anderen europäischen Verfassungsgerichte gewonnen werden150. Sind Vorlagen im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV unzulässig, muss der Gerichtshof der Europäischen Union den Antrag auf Vorabentscheidung zurückweisen. Der Gerichtshof der Europäischen Union prüft, ob der vorlegenden Stelle ein Vorlagerecht bzw. eine Vorlagepflicht gem. Art. 267 AEUV zukommt. Die Vorlagen europäischer Verfassungsgerichte, wie die des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs151, wurden vom Gerichtshof der Europäischen Union aber stets beantwortet und damit gerade nicht zurückgewiesen. Auch aus dieser Praxis des Gerichtshofs der Europäischen Union kann der Schluss gezogen werden, dass aus unionsrechtlicher Sicht auch die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte unter den Begriff des letztinstanzlichen Gerichts gem. Art. 267 AEUV fallen. Da allein der Gerichtshof der Europäischen Union den Art. 267 AEUV letztverbindlich auslegt – wozu er durch die Ratifikation des völkerrechtlichen Vertrages durch die Mitgliedstaaten ermächtigt wurde und was über den in dem deutschen Zustimmungsgesetz zu dem Primärvertrag enthaltenen Rechtsanwendungsbefehl (Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) von den deutschen Gerichten unmittelbar zu beachtendes innerstaatliches Recht ist – ist diese Sicht auch maßgeblich152. Auch dem Argument, die Eigenschaft des Bundesverfassungsgericht als Verfassungsorgan (§ 1 BVerfGG) stehe einer Einordnung als einzelstaatliches Gericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV im Wege153, kann nicht zugestimmt werden. Denn nach vorherrschender Ansicht werden aus der Verfassungsorganeigenschaft des Bundesverfassungsgerichts lediglich bestimmte statusrechtliche Rechtsfolgen abgeleitet, wie etwa das Recht auf einen eigenen Haushalt und die Geschäftsordnungsautonomie154. Die gleichzeitige Stellung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland unterstreicht seine hervorgehobene, unabhängige und selbstständige Stellung, ändert aber nichts an der Zuordnung zur rechtsprechenden Gewalt155. Nicht überzeugen kann auch die in manchen Beiträgen in der rechtswissenschaftlichen Literatur angedeutete These, dass Bundesverfassungsgericht sei zwar 150

Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (16). Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (16). 152 Sofern nicht ausnahmsweise unter Überwindung der vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten hohen Anforderungen an eine Ultra-vires-Kontrolle wegen ersichtlicher Kompetenzüberschreitung (BVerfGE 126, 286 [304 f.]) die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Bundesrepublik Deutschland nicht anzuwenden ist (BVerfGE 123, 267 [400 f.]; 126, 286 [304 f.]). 153 Broß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Vorabentscheidungsverfahren, 2005, 108 (114). 154 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art.  93 GG Rd. 13, Art. 94 Rd. 23; Sturm/Detterbeck, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 8. 155 Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 (531 f.). 151

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union berechtigt, es treffe aber in keinem Fall eine Pflicht zu einer solchen Vorlage156. Denn eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union durch mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte ist keinesfalls fakultativ. Sind Verfassungsgerichte der Europäischen Union letztinstanzliche Gerichte i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV, dann müssen diese dem Gerichtshof der Europäischen Union entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts vorlegen und dieser muss darüber entscheiden. Nimmt man mitgliedstaatliche Verfassungsgerichte hingegen von dem Begriff des „Gericht eines Mitgliedstaates“ i. S. d. Art. 267 Abs. 2 AEUV aus, dann dürfen sie Fragen des europäischen Unionsrecht dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht zur Vorabentscheidung vorlegen bzw. dieser muss die Vor­ lagefragen als unzulässig zurückweisen. Entscheidet das Bundesverfassungsgericht in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren „letztinstanzlich“ i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV, dann trifft es immer eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichthof der Europäischen Union, in keinem Fall hat es lediglich ein Recht zur Vorlage i. S. d. Art. 267 Abs. 2 AEUV, denn das Recht zur Vorlage nach Art. 267 Abs. 2 AEUV kommt nur den Instanz­ gerichten, nicht aber den letztinstanzlich entscheidenden Gerichten zu. Beim Bundesverfassungsgericht verdichtet sich somit das einem mitgliedstaatlichen Gericht gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV grundsätzlich zustehende Recht zur Vorlage zu einer Pflicht zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen an den Gerichtshof der Europäischen Union. Lehnt man die Einordnung des Bundesverfassungsgerichts entgegen der hier vertretenen Auffassung als einzelstaatliches Gericht i. S. d. Art. 267 Abs. 2 AEUV ab, steht dem Bundesverfassungsgericht auch kein Vorlagerecht gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV zu, d. h., es dürfte dann konsequenter Weise in keinem Fall Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrecht dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorlegen. Schließlich geht selbst das Bundesverfassungsgericht in einer Reihe von Entscheidungen von einer grundsätzlich bestehenden eigenen Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV aus, ungeachtet der Tatsache, dass es bisher noch keine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts dem Gerichtshof der 156 Vgl. Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 (533). Siehe auch die Unterscheidung zwischen Recht und Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union für den Hessischen Staatsgerichtshof bei: Störmer, Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 177 EGV durch Landesverfassungsgerichte, NJ 1998, 337 (341). Einige Vertreter gehen zwar von einer grundsätzlich bestehenden Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV aus, erwägen aber in Fällen, in denen die Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht vorliegen, eine „freiwillige“ Vorlage des Bundesverfassungsgerichts, um dem Gerichtshof der Europäischen Union im Falle eines möglicherweise kompetenzwidrigen Urteils die Gelegenheit zur Selbstkorrektur zu geben (Zuck/ Lenz, Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Europa – Prozessuale Möglichkeiten vor den Fachgerichten und dem BVerfG gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1997, 1193 [1199]).

II. BVerfG als letztinstanzliches Gericht

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Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorlegt hat157. So stellt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Solange I-Beschluss fest, dass Inzidentfragen aus dem Unionsrecht vom Bundesverfassungsgericht selbst entschieden werden können, sofern nicht die Voraussetzungen des auch für das Bundesverfassungsgericht verbindlichen Art. 177 des Vertrages (Art. 267 AEUV n. F.) vorliegen158. Später führt der Zweite Senat in dem Vielleicht-Beschluss aus, dass er nicht gehalten sei, die dem Gerichtshof vom Verwaltungsgericht vorgelegten Fragen neuerlich gem. Art. 177 Abs. 3 EWGV (Art. 267 Abs. 3 AEUV n. F.) vorzulegen159. Auch im Solange II-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union in Erwägung gezogen160. Im NPD-Verbotsverfahren lehnte das Bundesverfassungsgericht zwar den Antrag der NPD auf Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen des Art. 234 Abs. 1 lit. a) EGV (Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV n. F.) in dem konkreten Fall nicht vorliegen und Fragen der Auslegung des Unionsrecht keiner Klärung bedürften161. Eine Vorlage ist aber nicht mit der Begründung unterblieben, dass für das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV keine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union besteht162. In der zur Vorratsdatenspeicherung ergangenen Entscheidung zieht das Bundesverfassungsgericht ebenfalls eine Vorlage in Erwägung, wenngleich im konkreten Fall mit der Begründung der fehlenden Entscheidungserheblichkeit eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union unterblieb163. Das Bundesverfassungsgericht ist mithin nach dem unionsrechtlichen Begriff als „Gericht“ i. S. d. Art. 267 AEUV einzuordnen.

II. BVerfG als letztinstanzliches Gericht Erfüllt das Bundesverfassungsgericht alle Anforderungen an den unionsrechtlichen Gerichtsbegriff gem. Art. 267 AEUV, besteht eine Vorlagepflicht für das Bundesverfassungsgericht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV nur, wenn die Entscheidungen des Bundesverfassungs­ gerichts selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefoch 157

Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (15 Fn. 12). BVerfGE 37, 271 (282) – Solange I. Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (14 Fn. 8). Zu dieser Entscheidung und der Frage der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts: Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 ff. 159 BVerfGE 52, 187 (201) – Vielleicht. Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (14 Fn. 9). 160 BVerfGE 73, 339 (371) – Solange II. 161 BVerfGE 104, 214 (218) – NPD-Verbotsverfahren. 162 Siehe zu diesem Beschluss die Anmerkung von: Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, EuR 2002, 239 ff. 163 BVerfGE 125, 260 (308) – Vorratsdatenspeicherung. Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (14 Fn. 10, 11). 158

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

ten werden können. Im Gegensatz zu dem Begriff des einzelstaatlichen Gerichts, der autonom unionsrechtlich auszulegen ist164, bestimmt sich die Zuordnung eines letztinstanzlichen Gerichts wegen des eindeutigen Wortlauts des Art. 267 Abs. 3 AEUV („einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“) allein nach dem mitgliedstaatlichen Recht, wenngleich der Begriff des Rechtsmittels ebenfalls unionsrechtlich zu interpretieren ist165. Unter den Begriff des Rechtsmittels fallen alle ordentlichen Rechtsbehelfe, mit denen die von einem Gericht erlassene Entscheidung durch ein höheres Gericht in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht überprüft werden kann166. Nach deutschem Recht sind dies die Berufung, die Revision und die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision167, nicht dagegen die außerordentlichen Rechtsbehelfe, wie etwa die Verfassungsbeschwerde168. Denn würde man die Verfassungsbeschwerde als Rechtsmittel i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV ansehen, wäre ausschließlich das Bundesverfassungsgericht vorlageverpflichtet169. Das Bundesverfassungsgericht muss, um grundsätzlich vorlagepflichtig zu sein, in letzter Instanz entscheiden. In der europarechtlichen Literatur war lange Zeit umstritten, wie zu ermitteln ist, ob ein Gericht letztinstanzlich i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheidet170. Nach der abstrakten Betrachtungsweise sollten nur die hierarchisch obersten Gerichte der Mitgliedstaaten vorlageverpflichtet sein, was in der Bundesrepublik Deutschland die fünf obersten Gerichtshöfe, das Bundesverfassungsgericht und die Landeverfassungsgerichte wären171. Nach der konkreten Betrachtungsweise kommt es darauf an, ob abhängig von der jeweiligen Verfahrensart und der Natur der zu treffenden Entscheidung im konkreten Einzelfall Rechtsmittel gegen die Entscheidung eingelegt werden können, unabhängig von der Stellung des Gerichts in der Gerichtshierarchie172. 164

Siehe oben: BVerfG als einzelstaatliches Gericht, C. I., S. 42 Fn. 136. Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 42. 166 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 41; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 111. 167 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 26. 168 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 111; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 42; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, 45. EL Stand August 2011, Art. 267 AEUV Rd. 53; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 26. 169 Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 (540); Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 58. 170 Siehe oben: Vorlagepflicht mitgliedstaatlicher Gerichte, B.III.1.c), S. 35. 171 Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand 15. EL März 2009, P. II. 4. b) aa) aaa), Rd. 177. 172 Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand 15. EL März 2009, P. II. 4. b) aa) aaa), Rd. 179. 165

II. BVerfG als letztinstanzliches Gericht

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Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich nach der konkreten Betrachtungsweise für das Bundesverfassungsgericht insoweit, als zwar generell gegen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Rechtsmittel zu höherrangigen Gerichten nicht gegeben sind. Man könnte allenfalls darüber nachdenken, ob die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einer Einordnung des Bundesverfassungsgerichts als letztinstanzlich i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV entgegensteht. Dagegen spricht aber schon, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kein Gericht des innerstaatlichen Rechtswegs ist. Bedenken gegen eine pauschale Einordnung des Bundesverfassungsgerichts als „letztinstanzlich“ ergeben sich jedoch daraus, dass es nicht in allen verfassungsgerichtlichen Verfahren abschließend über den Rechtsstreit entscheidet. Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG ist als Zwischenverfahren ausgestaltet173. Das Gericht des Ausgangsverfahren setzt das Verfahren von Amts wegen nach Einholung der Entscheidung des Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 GG fort; das Zwischenverfahren selbst ist durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beendet174. Bei der Verfassungsbeschwerde kann das Bundesverfassungsgericht, sofern ein Rechtsweg eröffnet war, die fachgerichtlichen Entscheidungen aufheben175 und gem. § 95 Abs. 2 BVerfGG an ein zuständiges Gericht zurückverweisen. Fraglich ist daher, ob dies der Einordnung des Bundesverfassungsgerichts als „letztinstanzlich“ i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV entgegensteht oder ob zur Bestimmung des Bundesverfassungsgerichts als „letztinstanzlich“ i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht vielmehr zwischen den verfassungsgerichtlichen Verfahren zu differenzieren ist176. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird vertreten, das Bundesverfassungsgericht sei – unabhängig von der konkreten verfassungsgerichtlichen Verfahrensart – neben den letztentscheidenden Fachgerichten, die als „letztinstanzlich“ 173 Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 100 Rd. 1. 174 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 861. 175 Zu der Frage, welche Entscheidungen das Bundesverfassungsgericht aufhebt, siehe: Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95 BVerfGG Rd. 45 f. 176 Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum findet sich überwiegend der pauschale Hinweis, auch das Bundesverfassungsgericht sei als letztinstanzliches Gericht vorlageverpflichtet. Siehe: Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 43; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2004, Art. 234 EGV Rd. 65; Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 26; Zuck/Lenz, Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Europa – Prozessuale Möglichkeiten vor den Fachgerichten und dem BVerfG gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1997, 1193 (1199); Zuleeg, Bananen und Grundrechte – Anlass zum Konflikt zwischen europäischer und deutscher Gerichtsbarkeit, NJW 1997, 1201 (1205). In einigen Beiträgen wird das Bundesverfassungsgericht sowohl nach der abstrakten als auch nach der konkreten Betrachtungsweise als letztinstanzlich eingeordnet (Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 [534 Fn. 22]).

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV anzusehen seien, „zusätzlich letztentscheidendes“ Gericht177. Andere meinen, eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts würde im Verfahren der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG ausscheiden, da die Richtervorlage ein objektives Zwischenverfahren darstelle178. Auch die Verfassungsbeschwerde scheide als außerordentlicher Rechtsbehelf zur Begründung einer Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV aus179. Gegen die erste Sichtweise spricht bereits der Wortlaut des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Denn danach ist nur ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Vorlage verpflichtet. Ordnete man das Bundesverfassungsgericht als „zusätzlich letztentscheidendes“ Gericht ein, wären im Ergebnis zwei Gerichte vorlageverpflichtet, was vom Wortlaut des Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht geboten ist. Die ratio des Art. 267 Abs. 3 AEUV, wonach verhindert werden soll, dass sich in den Mitgliedstaaten eine Rechtsprechung herausbildet, die nicht mit dem Unionsrecht in Einklang zu bringen ist180, ist bereits erfüllt, wenn das letztinstanzliche Fachgericht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet ist. Der zweiten Meinung ist zwar darin zuzustimmen, dass es sich bei der Verfassungsbeschwerde um einen außerordentlichen Rechtsbehelf handelt mit der Folge, dass er bei der Bestimmung, ob gegen eine Entscheidung der Instanzgerichte ein Rechtsmittel des innerstaatlichen Rechts noch möglich ist, außer Betracht bleibt181. Denn andernfalls wäre nur das Bundesverfassungsgericht, in keinem Fall aber das Fachgericht vorlagepflichtig i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV, was eine einheitliche, mit dem Europarecht in Einklang zu bringende Rechtsprechung der Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland gefährden würde. Das Verfahren der Verfassungsbeschwerde kann aber nicht generell von einer Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts ausgenommen werden182. Denn entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde, bei der ein Rechtsweg gem. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht eröffnet ist, würde es bei 177

Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Euro­ päischen Gerichtshof, EuR 2002, 239 (252). 178 Bergmann/Karpenstein, Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, ZEuS 2009, 529 (541). 179 Bergmann/Karpenstein, Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, ZEuS 2009, 529 (541). 180 EuGH, Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839 Rd. 14 – Lyckeskog; Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 39. 181 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 f. 182 Siehe zu einer derartigen Überlegung, die im Ergebnis zutreffend abgelehnt wird: Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 (540); bejahend hingegen: Bergmann/Karpenstein, Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, ZEuS 2009, 529 (541).

II. BVerfG als letztinstanzliches Gericht

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einer derartigen Betrachtungsweise in diesem Verfahren überhaupt kein zur Vorlage verpflichtetes Gericht i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV geben. Auch bei der ausnahmsweise zulässigen „Vorab-Verfassungsbeschwerde“ gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG183 würde mangels einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Fachgerichts kein zur Vorlage verpflichtetes Gericht existieren. Dies würde aber den Zweck des Art. 267 Abs. 3 AEUV, zu verhindern, dass sich in den Mitgliedstaaten eine Rechtsprechung herausbildet, die mit dem Unionsrecht nicht zu verein­ baren ist, konterkarieren. Zur Bestimmung, wann das Bundesverfassungsgericht „letztinstanzlich“ entscheidet, ist vielmehr danach zu differenzieren, ob das Bundesverfassungsgericht selbst abschließend über den Verfassungsrechtsstreit urteilt, was nur der Fall ist, wenn es nach dem Verfassungsprozessrecht originär und allein zur Entscheidung berufen ist184; das Bundesverfassungsgericht muss in erster und letzter Instanz über den Verfassungsrechtsstreit befinden185. Geht der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ein Verfahren bei einem Instanzgericht voraus oder folgt es ihr nach186, ist immer das letztinstanzliche Fachgericht zur Vorlage für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblicher Fragen des Unionsrechts verpflichtet. Für eine derartige Sichtweise spricht zum einen, dass bei einer Differenzierung zwischen den verfassungsgerichtlichen Verfahren lediglich ein Gericht, entweder das Bundesverfassungsgericht oder das Fachgericht, letztinstanzlich entscheidet und damit zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet ist und das Bundesverfassungsgericht nicht zusätzlich zu dem letztinstanzlichen Fachgericht eine Vorlagepflicht trifft. Zum anderen besteht für die Fachgerichte auch nach einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung etwa im konkreten Normenkontrollverfahren oder einer Urteilsverfassungsbeschwerde gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV das Recht bzw. gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV die Pflicht, eventuell neu auftretende entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen. Der Zweck der Vor­lageverpflichtung, eine einheitliche, europarechtskonforme Rechtsprechung in den Mitgliedstaaten zu sichern, wird auch beim Ausschluss des Bundesverfassungsgerichts in den sogleich näher zu beleuchtenden Verfahrensarten durch die Fachgerichte erfüllt. Übertragen auf die verfassungsgerichtlichen Verfahren entscheidet das Bundesverfassungsgericht bei der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 183

Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95 BVerfGG Rd. 66. Broß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Vorabentscheidungsverfahren, 2005, 108 (132). 185 Broß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Vorabentscheidungsverfahren, 2005, 108 (129). 186 Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 (1975), 530 (538 f.). Eine Vorlagepflicht bejahend für die Fälle, in denen die Fachgerichte nicht unmittelbar angerufen werden können: Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 3819 ff. 184

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

GG als Zwischeninstanz über die Grundgesetz- bzw. Bundesrechtmäßigkeit von Bundes- bzw. Landesgesetzen und damit nicht „letztinstanzlich“ i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV. Bei der Verfassungsbeschwerde ist zwischen der Urteils- und der Rechtssatzverfassungsbeschwerde zu differenzieren. Im ersten Fall befindet das Bundes­ verfassungsgericht darüber, ob die (letztinstanzliche) Entscheidung des Fach­ gerichts den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt, hebt bei begründeter Verfassungsbeschwerde die Entscheidung auf und verweist die Sache gem. § 95 Abs. 2 BVerfGG an ein zuständiges Gericht zurück. Ausnahmsweise kann das Bundesverfassungsgericht bei der Urteilsverfassungsbeschwerde in der Sache „durch-entscheiden“187. Dies kommt in Betracht, wenn es zur Klaglosstellung des Beschwerdeführers keiner erneuten Entscheidung des Fachgerichts bedarf, was bei aufzuhebenden belastenden Verwaltungsakten der Fall sein kann188. Selbst dann muss allerdings in der Regel wegen der noch ausstehenden Entscheidung der Kosten des Rechtsstreits an das Fachgericht zurückverwiesen werden189. Bei der Urteilsverfassungsbeschwerde entscheidet mithin das Fachgericht und nicht das Bundesverfassungsgericht letztinstanzlich i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV. Bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde ist zur Beurteilung der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht als „letztinstanzlich“ i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV einzuordnen ist, danach zu differenzieren, ob ein Rechtsweg gegen die streitgegenständliche Rechtsnorm zur Verwaltungsgerichtsbarkeit eröffnet ist. Ist gegen eine untergesetzliche Rechtsnorm eine verwaltungsgerichtliche Normenkontrolle gem. § 47 Abs. 1 VwGO statthaft190 oder besteht die Möglichkeit der Erhebung einer Feststellungsklage gem. § 43 VwGO191, entscheidet das Bundesverfassungsgericht nicht „letztinstanzlich“ i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV. Ist Gegenstand einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde hingegen ein formelles Gesetz, ist nach herrschender Ansicht ein fachgerichtlicher Rechtsbehelf nicht möglich192. In diesem

187 Clemens, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, Vorauflage 1992, Kapitel V. B. II. 2. Rd. 43 (S. 153); Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95 BVerfGG Rd.  65 f. 188 Clemens, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, Vorauflage 1992, Kapitel V. B. II. 2. Rd. 43 (S. 153). 189 Clemens, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, Vorauflage 1992, Kapitel V. B. II. 2. Rd. 45 (S.  153 f.); Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95 BVerfGG Rd. 67. 190 Siehe zu der Frage, gegen welche untergesetzlichen Rechtsnormen eine verwaltungs­ gerichtliche Normenkontrolle gem. § 47 VwGO statthaft ist, die Darstellung bei: Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 47 Rd. 21 ff. 191 Vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 25. Februar 2004 – 1 BvR 2016/01 (NVwZ 2004, 977 (979). 192 Statt vieler: Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 212, 263 b, 407.

II. BVerfG als letztinstanzliches Gericht

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Fall ist eine letztinstanzliche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV gegeben. Eine Vorlagepflicht besteht für das Bundesverfassungsgericht auch dann, wenn es ausnahmsweise gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vor Erschöpfung des Rechtweges entscheidet – soweit die Entscheidung des Bundesverfassungs­ gerichts zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem noch keine letztinstanzliche fach­ gerichtliche Entscheidung vorliegt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts abschließend ist, d. h. keine Zurückverweisung an das Fachgericht wegen der Kostenentscheidung erfolgt193. Denn in dieser Konstellation entscheidet das Bundesverfassungsgericht ausnahmsweise gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG „durch“194. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht nur letztinstanzlich i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheidet, wenn es in erster und letzter Instanz für den Verfassungsrechtsstreit zuständig ist, was nur der Fall ist, wenn der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung kein Verfahren bei anderen Gerichten vorausgeht bzw. nachfolgt. Übertragen auf die verfassungsgerichtlichen Verfahren bedeutet dies, dass das Bundesverfassungsgericht bei der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG und der Urteilsverfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG nicht letztinstanzlich entscheidet. Für mögliche vorlagepflichtige Konstellationen kommen aus diesem Grund nur diejenigen Verfahren in Betracht, in denen das Bundesverfassungsgericht originär, d. h. in erster und letzter Instanz urteilt. Eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts kann insbesondere im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, im Bund-Länder-Streit, im Organstreitverfahren195, bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde – sofern nicht ein verwaltungsgerichtlicher Rechtsweg eröffnet ist – und bei einer abschließenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Ver­ fassungsbeschwerdeverfahren vor Erschöpfung des Rechtsweges aufgrund des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG bestehen. Diesen Verfahren ist bei der Ermittlung

In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird, basierend auf einer Kammerentscheidung des Ersten Senats (BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 25. Februar 2004 – 1 BvR 2016/01; NVwZ 2004, 977 [979]) vertreten, dass der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde gegen formelle Gesetze die Erhebung einer Feststellungsklage gem. § 43 VwGO vor dem zuständigen Verwaltungsgericht erfordere (siehe dazu: Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 219 ff. m. w. N.). Folgt man dieser Ansicht, würde das Bundesverfassungsgericht nur dann letztinstanzlich i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheiden, wenn die Erhebung einer Feststellungsklage mangels feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses i. S. d. § 43 Abs. 1 VwGO nicht statthaft wäre. 193 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (52 Fn. 189). 194 Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95 BVerfGG Rd. 65 ff. 195 Insoweit auch zustimmend: Bergmann/Karpenstein: Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, ZEuS 2009, 529 (541 Fn. 58).

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

möglicher vorlagepflichtiger Konstellationen des Bundesverfassungsgerichts besondere Aufmerksamkeit zu widmen196. Dieser Arbeit ist somit der Ansatz zugrunde zu legen, dass sich dem Bundes­ verfassungsgericht entscheidungserhebliche unionsrechtliche Fragen, die eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union begründen, nur dann stellen können, wenn vor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung noch kein Fachgericht mit der Rechtssache betraut war bzw. nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts damit betraut sein wird.

III. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage Entscheidet das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV als Gericht, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, mithin letztinstanzlich, stellt sich die anschließende Frage, welche weiteren Voraussetzungen für eine Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage von Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union vorliegen müssen. Gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV besteht für ein Gericht eines Mitgliedstaates ein Recht zur Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Gerichtshof der Europäischen Union, wenn das Gericht eine Entscheidung über eine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Bei isolierter Betrachtung des Art. 267 Abs. 3 AEUV könnte man annehmen, dass eine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts bei einem letztinstanzlichen und damit vorlagepflichtigen Gericht in jedem Fall, und nicht nur dann, wenn das nationale Gericht eine Entscheidung über eine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält (vgl. Art. 267 Abs. 2 AEUV), vorgelegt werden muss. Aus diesem Grund ist zunächst zu untersuchen, ob das Tatbestandmerkmal der Entscheidungserheblichkeit, das Voraussetzung für ein Vorlagerecht gem. 196 Eine originäre Zuständigkeit des Bundesverfassungsgericht ist darüber hinaus im Parteiverbotsverfahren gem. Art. 21 Abs. 2 GG, dem Verfahren der Grundrechtsverwirkung gem. Art. 18 GG, der Wahlprüfungsbeschwerde gem. Art. 41 Abs. 2 GG und beim Erlass einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts gem. § 32 BVerfGG gegeben. Treten in diesen Verfahren für die bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung entscheidungserhebliche Vorfragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts auf, trifft das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union, beim Erlass einer einstweiligen Anordnung i. S. d. § 32 BVerfGG nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union allerdings dann nicht, wenn im Hauptsacheverfahren die Verpflichtung zur Anrufung des Gerichtshofs der Europäischen Union erfüllt werden kann (siehe oben: Ausnahmen von der Vorlagepflicht, B.III.1.e), S. 36). Für die weitere Untersuchung sollen diese Verfahren jedoch außer Betracht bleiben.

III. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage

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Art. 267 Abs. 2 AEUV ist, auch auf vorlagepflichtige Gerichte gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV Anwendung findet. Zur Beantwortung dieser Frage ist herauszuarbeiten, wie das Merkmal der Entscheidungserheblichkeit gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu verstehen ist und in welchem Umfang die Entscheidung des nationalen Gerichts einer Überprüfung durch den Gerichtshof der Europäischen Union zugänglich ist. Anschließend wird erörtert, ob das Tatbestandsmerkmals der Entscheidungserheblichkeit des Art. 267 Abs. 2 AEUV auch auf zur Vorlage verpflichtete Gerichte zu übertragen ist und inwieweit die Entscheidung des nationalen Gerichts durch den Gerichtshof der Europäischen Union überprüft werden kann. Sodann wird die Frage geklärt, welche Kriterien das nationale Gericht zur Beurteilung, ob die Beantwortung einer Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage des Unionsrechts für den nationalen Rechtsstreit entscheidungserheblich ist, heranzieht. 1. Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage berechtigten Gerichten Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist die Prüfung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für den nationalen Ausgangsrechtsstreit bei einem zur Vorlage berechtigten Gericht gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV Sache des nationalen Gerichts, dem insoweit ein Beurteilungsspielraum zukommt197. Begründet wird der Beurteilungsspielraum des natio­nalen Gerichts mit der Erwägung, dass allein das mitgliedstaatliche Gericht eine unmittelbare Kenntnis des Sachverhalts und des Parteivorbringens besitzt, die Verantwortung für die zu erlassende Entscheidung trägt und damit am besten in der Lage ist, die Erheblichkeit der im Rechtsstreit aufgeworfenen Rechtsfragen und die Notwendigkeit einer Vorabentscheidung für das eigene Urteil zu beurteilen198. Maßgeblich ist dabei allein die subjektive Sicht des Prozessrichters, objektiv bestehende Unklarheiten sind dabei irrelevant199. Fehlt dem Prozessrichter die subjektive Gewissheit über die Gültigkeit oder die Auslegung des Unionsrechts, 197 EuGH Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045 (3062) – Foglia/Novello; EuGH Rs. 5/77, Slg. 1977, 1555 (1573) – Tedeschi/Denkavit; EuGH Rs. 209–213/84, Slg. 1986, 1425 (1460) – Asjes; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 97; Ehricke, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 267 AEUV Rd. 36. 198 EuGH Rs. 53/79, Slg. 1980, 273 (281) – Office National des pensions pour travailleurs salaries/Fioravante Damiani; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 97 f.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 49. 199 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 96; ders., Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Stand 24. EL März 2009, P. II. 4. a) aa), Rd. 140; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Aufl. 2004, Art. 234 EGV Rd. 52.

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

steht ihm gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV ein Vorlagerecht zu200. Denn andernfalls, also wenn der Gerichtshof der Europäischen Union die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für den nationalen Rechtsstreit beurteilen müsste, müsste er über Fragen des nationalen Rechts befinden201, wozu der Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen des Art. 267 AEUV jedoch keine Kompetenz hat. Die Frage nach der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage ist damit allein eine Entscheidung des nationalen Gerichts. Der Gerichtshof der Europäischen Union kann die Entscheidung des nationalen Richters hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage nur in sehr engen Grenzen auf eine ggf. bestehende Unzulässigkeit202 der Vorlage überprüfen203. So kann der Gerichtshof der Europäischen Union eine Vorlage daraufhin kontrollieren, ob alle Informationen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zu dem Ausgangsrechtsstreit vorliegen, ob die Vorlagefragen in Zusammenhang mit dem Ausgangsrechtsstreit stehen und ob das Problem hypothetischer Natur ist204. Bei der Überprüfung einer Vorlage gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV kann der Gerichtshof der Europäischen Union von einem nationalen Gericht vorgelegte Fragen kontrollieren und ggf. zurückweisen. Diese Kontrolle durch den Gerichtshof der Europäischen Union dient dazu, missbräuchliche Vorlagen mitgliedstaatlicher Gerichte zu verhindern und sicherzustellen, dass nur diejenigen Fragen zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union gelangen, deren Beantwortung für den nationalen Ausgangsrechtsstreit tatsächlich entscheidungs­ erheblich sind205.

200

Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 96. 201 Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 98. 202 Siehe zu der Kritik, die Bezeichnung der Vorlage als „unzulässig“ verkenne die Eigenschaft des Vorabentscheidungsverfahrens als Zwischenverfahren und verwische die Grenzen zu den Klageverfahren: Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 108. 203 Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 23. 204 Siehe zu diesen Fallgruppen mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen die Darstellungen bei: Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge, 5. Aufl. 2010, Art. 267 AEUV Rd. 25 ff.; Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S.  102 ff.; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 45 ff. 205 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 47.

III. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage

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2. Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage verpflichteten Gerichten Fraglich ist, ob das Tatbestandsmerkmal der Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV berechtigten Gerichten auch auf zur Vorlage verpflichtete Gerichte gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zu übertragen ist. Gegen die Annahme, dass das Tatbestandsmerkmal der Entscheidungserheblichkeit auch bei vorlagepflichtigen Gerichten gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV Anwendung findet, könnte der Wortlaut des Art. 267 Abs. 3 AEUV sprechen, der die Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage bei letztinstanzlichen Gerichten nicht explizit festschreibt206. Des Weiteren könnten sich Bedenken daraus ergeben, eine Pflicht eines letztinstanzlichen Gerichts anzunehmen, die aber nur dann greift, wenn das nationale Gericht, also der streitentscheidende Richter, die Einholung einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits für erforderlich hält. Die Beurteilung der Erforderlichkeit des Art. 267 Abs. 2 AEUV ist – wie gerade herausgearbeitet207 – eine subjektive Einschätzung des mit der Rechtssache befassten Richters und kann daher vom Gerichtshof der Europäischen Union nur in sehr engen Grenzen auf eine Unzulässigkeit der Vorlage überprüft werden. Dem nationalen Gericht kommt dabei ein Beurteilungsspielraum zu. Eine Pflicht zur Vorlage auf der einen Seite und ein Beurteilungsspielraum bei der Frage der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für den Ausgangsrechtsstreit auf der anderen Seite stehen aber in einem gewissen Spannungsverhältnis. Denn eine Pflicht beinhaltet gerade, dass nur eine bestimmte Handlung oder Maßnahme zulässig ist, wohingegen ein Beurteilungsspielraum eine Wahlmöglichkeit zwischen mehreren zulässigen Handlungsoptionen einräumt. Daher könnte man argumentieren, dass das Tatbestandsmerkmal der Entscheidungserheblichkeit i. S. d. Art. 267 Abs. 2 AEUV als einschränkendes Merkmal für nationale Gerichte, die ein Recht zur Vorlage haben, zwar zutreffend ist, um die Zahl der Vorlagen nicht ausufern zu lassen, für gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage verpflichtete Gerichte aber gerade nicht passt. Bei vorlagepflichtigen Gerichten besteht nämlich nicht die Gefahr des Missbrauchs, dass zu viele Gerichte Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union adressieren, ohne dass die Beantwortung der Vorlagefragen für den Ausgangsrechtsstreit relevant wären, sondern vielmehr die umgekehrte Gefahr, das vorlagepflichtige Gerichte in missbräuchlicher Weise Vorlagen an den Gerichtshof der Europäischen Union mit der Begründung der fehlenden Entscheidungserheblichkeit für den nationalen Rechtsstreit unterlassen, obwohl

206

Vgl. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 51. 207 Siehe oben: Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage berechtigten Gerichten, C.III.2., S.  55 f.

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

die Beantwortung der Fragen für den Ausgangsrechtsstreit aus Sicht eines unbefangenen Juristen bei vernünftiger Betrachtungsweise208 sehr wohl entscheidungserheblich sind. Bedenklich erscheint bei der Übertragung des Tatbestandsmerkmals der Entscheidungserheblichkeit aus Art. 267 Abs. 2 AEUV auf den Art. 267 Abs. 3 AEUV, dass bei den zur Vorlage verpflichteten Gerichten anders als bei den zur Vorlage berechtigten Gerichten, deren Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nicht vom Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens überprüft werden kann. Kommt ein nationales Gericht zu dem Schluss, dass es eine Vorabentscheidung für den Erlass des Urteils in dem Ausgangsrechtsstreit nicht benötigt, hat der Gerichtshof der Europäischen Union von Amts wegen keine Möglichkeit, diese Entscheidung zu kontrollieren. Es bleibt allenfalls die Möglichkeit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 258 AEUV durch einen Mitgliedstaat oder gem. Art. 259 AEUV durch die Europäische Kommission, in dessen Rahmen die Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit von Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts der zur Vorlage verpflichteten Richter überprüft werden könnte209. Für eine Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte bei Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für den Ausgangsrechtsstreit spricht allerdings, dass Art. 267 Abs. 3 AEUV einen qualifizierten Fall des allgemeinen Art. 267 Abs. 2 AEUV darstellt und das Merkmal der Erforderlichkeit der Vorabentscheidung somit auch für diesen Absatz gelten muss210. Zudem würde bei Verneinung der Erforderlichkeit der Einholung einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union auch bei letztinstanzlichen Gerichten das sinnwidrige Ergebnis entstehen, dass sie Fragen vorlegen müssten, die sie für den Ausgangsrechtsstreit als irrelevant ansehen211. Des Weiteren kann mit dem Sinn und Zweck der Prüfung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage durch das nationale Gericht argumentiert werden. Das vorlegende Gericht trägt die Verantwortung für die im Ausgangsrechtsstreit zu fällende Entscheidung und muss das Unionsrecht auf den konkreten Einzelfall anwenden212. Das innerstaatliche Gericht ermittelt den Sach 208 Diese Umschreibung erfolgt in Anlehnung an die Bestimmung eines vernünftigen Zweifels im Rahmen der Acte-clair-Doktrin (Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EG-Vertrag, 2. Aufl. 1995, S. 114). 209 Siehe oben: Gang der Untersuchung, A.II., S. 17 (19 Fn. 22). 210 Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 47; Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 3297; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 51. 211 Everling, Das Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1986, S. 47; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 10 Rd. 51. 212 Siehe oben: Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage berechtigten Gerichten, C.III.1., S.  55 f.

III. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage

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verhalt und verfügt damit allein über eine unmittelbare Kenntnis der Geschehnisse und des Parteivorbringens. Nur der nationale Richter ist in der Lage, die Erforderlichkeit und die Zweckdienlichkeit einer Vorlage für den Ausgangsrechtsstreit zu beurteilen. All diese Gründe, die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dazu führen, dass den nationalen Gerichten gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Beantwortung der Frage der Entscheidungserheblichkeit zuerkannt wird, sprechen dafür, das Merkmal der Entscheidungserheblichkeit auch bei letztinstanzlichen Gerichten anzuwenden. Denn auch diese sind mit dem nationalen Rechtsstreit am besten betraut und können die Frage der Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union beantworten. Unterlässt das Bundesverfassungsgericht als vorlagepflichtiges Gericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV die Vorlage einer Frage der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts wegen fehlender Entscheidungserheblichkeit für den Ausgangsrechtsstreit, besteht für den Gerichtshof der Europäischen Union keine Möglichkeit, diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von Amts wegen im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV zu überprüfen. Der Gerichtshof der Europäischen Union müsste nämlich dann zum einen Kenntnis über eine solche unterlassene Vorlage und den konkreten Inhalt der Akten erlangen, was wohl kaum möglich ist, und zum anderen über Fragen des nationalen Rechts entscheiden, wofür er aber im Rahmen des Art. 267 AEUV keine Zuständigkeit besitzt. Es käme allenfalls, wie bereits angedeutet, bei Vorliegen der Voraussetzungen die Durchführung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Initiative der Europäischen Kommission oder eines Mitgliedstaates der Europäischen Union bei einer unterlassenen Vorlage trotz insoweit bestehender Entscheidungserheblichkeit für den Ausgangsrechtsstreit in Betracht. Darauf soll im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht eingegangen werden213. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Tatbestandsmerkmal der Entscheidungserheblichkeit des Art. 267 Abs. 2 AEUV auch auf zur Vorlage verpflichtete Gerichte gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV, mithin auch auf das Bundesverfassungsgericht, Anwendung findet. Eine Pflicht zur Vorlage von Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts besteht somit für das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV nur dann, wenn die Beantwortung der Frage für den beim Bundesverfassungsgericht anhängigen Verfassungsrechtsstreit entscheidungserheblich ist. In einem nächsten Schritt ist nun zu ermitteln, welche Kriterien durch die Richter des Bundesverfassungsgerichts zur Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage i. S. d. Art. 267 AEUV heranzuziehen sind. 213 Siehe oben: Gang der Untersuchung, A.II., S. 17 (19 Fn. 22) und Entscheidungserheb­ lichkeit bei zur Vorlage verpflichteten Gerichten, C.III.2., S. 57 (58 Fn. 209).

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

3. Kriterien zur Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit Bei der Beantwortung der Frage, wann Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts für einen Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich sind, erweist sich als problematisch, dass sich die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage in der Regel nur in einem konkreten Einzelfall bestimmen lässt. Dennoch ist es unumgänglich, möglichst genaue Kriterien für die Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit für das nationale Gericht herauszuarbeiten. Wenn auch die Entscheidung des nationalen Richters bei einer unterbliebenen Vorlage des letztinstanzlichen Gerichts trotz bestehender Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV vom Gerichtshof der Europäischen Union nicht unmittelbar von Amts wegen überprüft werden kann214, wird die Frage der Entscheidungserheblichkeit spätestens dann relevant, wenn etwa durch die Europäische Kommission gem. Art. 258 AEUV oder durch einen Mitgliedstaat gem. Art. 259 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen unterlassener Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens durch ein deutsches Gericht eingeleitet wird. Mittelbar wird bei einem Vertragsverletzungsverfahren die Beurteilung des nationalen Gerichts in Bezug auf die Entscheidungserheblichkeit der Beantwortung einer Vorlagefrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union überprüft. Zur Entwicklung von Kriterien zur Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit einer Vorlagefrage i. S. d. Art. 267 AEUV kann zwar nicht direkt auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage im Rahmen der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG zurückgegriffen werden, da Art. 267 AEUV als europarechtliche Norm allein vom Gerichtshof der Europäischen Union, nicht aber vom Bundesverfassungsgericht letztverbindlich ausgelegt werden darf. Dennoch können zur Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage i. S. d. Art. 267 AEUV aus einem Vergleich zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage bei der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG Anregungen gewonnen werden. Im Folgenden soll daher unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen dem Verfahren der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG und dem Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV Kriterien dafür entwickelt werden, wann eine Vorlagefrage für den nationalen Rechtsstreit entscheidungserheblich ist. Dafür soll zunächst unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgearbeitet werden, wann eine Vorlage im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG entscheidungserheblich ist. Im Anschluss soll erörtert werden, inwieweit die zur konkreten Normenkontrolle herausgearbeiteten Kriterien zur Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit einer Vorlage auf das Vorabentscheidungsverfah 214 Siehe oben: Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage verpflichteten Gerichten, C.III.2., S.  57 ff.

III. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage

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ren übertragbar sind und wann eine Vorlage bei Gültigkeitsfragen gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV bzw. bei Fragen der Auslegung gem. Art. 267 Abs. 1 lit. a) und b) Alt. 2 AEUV zur Entscheidung des Rechtsstreits durch das Ausgangsgericht erforderlich ist. a) Entscheidungserheblichkeit bei der konkreten Normenkontrolle Gem. Art. 100 Abs. 1 GG ist ein Gericht, das ein Gesetz für verfassungs­widrig hält, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, verpflichtet, das Verfahren auszusetzen und bei einer Verletzung der Verfassung eines Landes, die Entscheidung des für Verfassungsstreitigkeiten zuständigen Gerichts des Landes, wenn es sich um die Verletzung des Grundgesetzes handelt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, einzuholen. Das Tatbestandsmerkmal der Entscheidungserheblichkeit gem. Art. 100 Abs. 1 GG dient in erster Linie dazu, eine unnötige Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts zu vermeiden215. Entscheidungserheblich ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Norm dann, wenn die Endentscheidung von der Gültigkeit des für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes abhängt216. Das Verfahren der Normenkontrolle ist nur dann gerechtfertigt, wenn die Entscheidung der verfassungsrechtlichen Frage zur abschließenden Beurteilung des konkreten gerichtlichen Verfahrens unerlässlich ist217. Eine Vorlage ist in der Regel dann entscheidungserheblich, wenn die Entscheidungsformel von der Gültigkeit oder Ungültigkeit der Norm abhängt und jeweils anders ausfiele218. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht ist eine Norm somit dann entscheidungserheblich i. S. d. Art. 100 Abs. 1 GG, wenn das Gericht im Ausgangs­ verfahren bei Ungültigkeit der Norm anders entscheiden müsste als bei deren Gültigkeit219. Dies ist der Fall, wenn der Tenor der Entscheidung bei Ungültigkeit der vorzulegenden Norm ein anderer wäre als bei deren Gültigkeit220. Zur Beurteilung der Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Frage ist die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgeblich, sofern sie nicht offensichtlich unhaltbar ist221. Ist die Rechtsauffassung offensichtlich unhaltbar, ist die Vorlage nicht entscheidungserheblich, was zur Unzulässigkeit der Vorlage führt222. 215

BVerfGE 11, 330 (335); 63, 1 (27). BVerfGE 50, 108 (113); 76, 100 (104); 78, 201 (203); 79, 240 (243); 85, 337 (343). 217 BVerfGE 50, 108 (113); 76, 100 (104); 78, 201 (203); 79, 240 (243); 85, 337 (343). 218 BVerfGE 10, 258 (261); 47, 146 (165). 219 BVerfGE 22, 175 (176 f.); Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 100 GG Rd. 18 m. w. N. 220 Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 100 GG Rd. 18. 221 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit BVerfGE 7, 171 (175); vgl. zuletzt: BVerfGE 116, 164 (179). 222 BVerfGE 31, 47 (52); 45, 376 (385); 65, 132 (137). 216

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

b) Entscheidungserheblichkeit bei dem Vorabentscheidungsverfahren Gem. Art. 267 Abs. 2 i. V. m. Abs. 3 AEUV ist ein letztinstanzliches Gericht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet, wenn es eine Entscheidung über eine Frage der Auslegung oder der Gültigkeit (Art. 267 Abs. 1 lit. a) und lit. b) AEUV) für erforderlich hält. Im Unterschied zur konkreten Normenkontrolle, die lediglich Fragen nach der Gültigkeit eine Gesetzes zum Gegenstand hat (Art. 100 Abs. 1 GG), können sich bei dem Vorabentscheidungsverfahren, wie bereits herausgearbeitet223, auch Fragen nach der Auslegung des primären und sekundären Unionsrechts stellen224. Zur Entwicklung von Kriterien zur Bestimmung der Entscheidungserheblichkeit beim Vorabentscheidungsverfahren ist daher zwischen Fragen der Auslegung und solchen der Gültigkeit des Unionsrechts zu differenzieren. Bei der Gültigkeitsprüfung ist ein Rückgriff auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidungserheblichkeit im Rahmen der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG unter Berücksichtigung der Unterschiede zu Art. 267 AEUV zweckmäßig225. Eine Vorlagefrage hinsichtlich der Gültigkeit eines sekundären Unionsrechtsaktes ist dann entscheidungserheblich, wenn der vorlegende Richter Zweifel an dessen Gültigkeit hat und bei Ungültigkeit des sekundären Unionsrechtsakts der Tenor der Entscheidung im Ausgangsrechtsstreit anders ausfallen würde als bei dessen Gültigkeit226. Im Gegensatz zu Art. 100 Abs. 1 GG erfordert Art. 267 AEUV nicht, dass der Richter von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt ist. Zweifel an der Gültigkeit des sekundären Unionsrechtsakts sind bei Art. 267 AEUV ausreichend227. Fraglich ist, wann Fragen der Auslegung für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich i. S. d. Art. 267 AEUV sind. In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird vertreten, dass dies dann der Fall ist, wenn der vorlegende Richter Zweifel an der richtigen Auslegung des Unionsrechts hat und die Auslegungsfrage für den zu entscheidenden Rechtsstreit in irgendeiner Weise relevant werden kann228. 223

Siehe oben: Auslegungsfragen, B.III.1.b)aa), S. 33 f. Ress, Die Entscheidungserheblichkeit im Vorlageverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag im Vergleich zu Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG, in: Martinek/Schmidt/Wadle: Festschrift für Günther Jahr zum siebzigsten Geburtstag, 1993, 339 (365). 225 Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die europäischen Gemeinschaften, 1964, S. 125; Selmer, Zur Entscheidungserheblichkeit der Gültigkeitsfrage bei der Vorlage nach Art. 177 des EWG-Vertrages, AWD 1968, 424 (425 Fn. 6). 226 Vgl. BVerfGE 10, 258 (261); 22, 175 (176 f.); 47, 146 (165); vgl. oben: Entscheidungserheblichkeit bei der konkreten Normenkontrolle, C.III.3.a), S. 61). 227 Ress, Die Entscheidungserheblichkeit im Vorlageverfahren nach Art. 177 EWG-Vertrag im Vergleich zu Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG, in: Martinek/Schmidt/Wadle: Festschrift für Günther Jahr zum siebzigsten Geburtstag, 1993, S. 339 (364). 228 Tomuschat, Die gerichtliche Vorabentscheidung nach den Verträgen über die europäischen Gemeinschaften, 1964, S. 125 f. 224

IV. Bindung des BVerfG an Entscheidungen des EuGH

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Dieses weite Verständnis, das bei zur Vorlage berechtigten Gerichten gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV zutreffend sein mag, kann zur Ermittlung der Entscheidungserheblichkeit bei zur Vorlage gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichteten Gericht nicht herangezogen werden. Denn dann würde die Vorlagepflicht in Bezug auf Auslegungsfragen ausufern. Es sind daher die durch das Bundesverfassungs­ gericht zu Art. 100 Abs. 1 GG entwickelten Kriterien sinngemäß auf das Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV zu übertragen. Für die Entscheidungserheblichkeit muss das einschränkende Merkmal hinzutreten, dass der Tenor der Entscheidung im Ausgangsrechtsstreit bei einer Auslegung anders ausfällt als bei einer anderen Auslegung. Entscheidungserheblich sind die Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts mithin dann, wenn der Tenor der Entscheidung im Ausgangsverfahren von der Beantwortung der Vorlagefrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union abhängt229.

IV. Bindung des BVerfG an Entscheidungen des EuGH Das Bundesverfassungsgericht ist an Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union, die im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV ergehen, wie jedes andere mitgliedstaatliche Gericht gebunden230. Dies bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht die vom Gerichtshof der Europäischen Union vorgenommene Auslegung des Primär- und Sekundärrechts bzw. den für gültig erklärten Sekundärrechtsakt bei seiner verfassungsgerichtlichen Entscheidung beachtet bzw. bei Ungültigkeitserklärung den Sekundärrechtsakt bei der Entscheidung der verfassungsrechtlichen Streitigkeit außer Anwendung lässt231. Fraglich ist, ob eine Ausnahme für diejenigen Fälle anzunehmen ist, in denen ein kompetenzwidriges Handeln der Organe der Europäischen Union vorliegt. Nach der Rechtsprechung des Gerichthofs der Europäischen Union scheidet eine derartige Ausnahme aus. Denn das Unionsrecht genießt einen umfassenden Vorrang vor jedem innerstaatlichen Recht, unabhängig von dessen Rang, und damit auch vor dem nationalen Verfassungsrecht232.

229 Vgl. BVerfGE 10, 258 (261); 22, 175 (176 f.); 47, 146 (165); Herrmann, Examens-Repe­ titorium Europarecht, Staatsrecht III, 3. Aufl. 2011, Rd. 100; siehe oben: Entscheidungserheblichkeit, B.III.1.d), S. 36 Fn. 105. 230 Vgl. Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 178 f. Vgl. oben: Bindung an Entscheidungen des EuGH, B.III.1.f), S.  37 f. 231 Vgl. oben: Bindung an Entscheidungen des EuGH, B.III.1.f), S. 37 (Fn. 111). 232 Siehe oben: Rechtsprechung des EuGH, B. I.2.a), S. 22 f.

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C. Vorlagepflicht des BVerfG

In der rechtswissenschaftlichen Literatur wird vertreten, die Verbindlichkeit der Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union sei begrenzt durch die Reichweite des Vorranges des Unionsrechts, da andernfalls die verfassungsrechtliche Ausnahme vom Vorrang des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland durch die Bindungswirkung der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union überspielt werde233. Richtigerweise ist dies aber keine Frage der Bindungswirkung des Bundes­ verfassungsgerichts an die im Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union. Denn selbst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird eine Bindung an die Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union anerkannt234. Vielmehr geht es bei einer Kompetenzüberschreitung um die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht nach ggf. bestehender Pflicht zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV235 unter Zugrundlegung des Ergebnisses der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ein Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG feststellt und damit unter Beachtung der Auslegungs- oder Gültigkeitsentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union eine eigene, verfassungsrechtliche Entscheidung trifft236.

V. Resümee Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bundesverfassungsgericht als „Gericht“ vom Anwendungsbereich des Art. 267 AEUV erfasst wird. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet letztinstanzlich in den verfassungsgerichtlichen 233 Zuck/Lenz, Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Europa – Prozessuale Möglichkeiten vor den Fachgerichten und dem BVerfG gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1997, 1193 (1199, 1200). 234 Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (14 f.). 235 Siehe zu der umstrittenen Frage, ob für das Bundesverfassungsgericht vor Feststellung eines Ultra-vires-Handelns der Organe der Europäischen Union eine Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union besteht, das Kapitel: Erneute Prüfung des Zustimmungsgesetzes, D.IV.1.e)aa), S. 102 ff. 236 Vgl. Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 181. A. A. Sauer, der davon ausgeht, dass aufgrund identischer Prüfungsmaßstäbe des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Bundesverfassungs­gerichts das Bundesverfassungsgericht bei der Kompetenzkontrolle von Unionsrecht nur eine eigene Auslegung des Unionsrechts vornehmen und der des Gerichtshofshofs der Europäischen Union entgegensetzen kann (Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, S.  192 f.). Zu möglichen entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts bei einer Kontrolle des Zustimmungsgesetzes als Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts siehe unten: Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG, D.IV.1.e), S. 101 ff.

V. Resümee

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Verfahren, in denen es in erster und letzter Instanz abschließend über einen Verfassungsrechtsstreit befindet; der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung mithin kein Verfahren bei anderen Gerichten vorausgeht oder nachfolgt bzw. wenn ausnahmsweise gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG der Rechtsweg zu den Fach­ gerichten vor Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nicht beschritten bzw. nicht erschöpft werden muss. Eine Pflicht zur Vorlage von Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unions­rechts besteht somit für das Bundesverfassungsgericht dann, wenn die Beantwortung der Vorlagefrage für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich ist. Dies ist bei Fragen der Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes der Fall, wenn der Tenor der Entscheidung bei Gültigkeit des Sekundärrechtsaktes anders ausfällt als bei dessen Ungültigkeit. Fragen der Auslegung des primären oder sekundären Unions­rechts sind dann für den Ausgangsrechtsstreit des Bundesverfassungs­ gerichts entscheidungserheblich, wenn der Tenor der Entscheidung bei einer Auslegungsmöglichkeit anders ausfällt als bei einer anderen Auslegung. Ist von einer grundsätzlichen europarechtlichen Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen des Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV auszugehen, ist nun zu untersuchen, in welchen verfassungsprozessualen Konstellationen sich diese Pflicht des Bundesverfassungsgerichts realisieren könnte.

D. Vorlagepflichtige Konstellationen Nachdem gezeigt wurde, dass das Bundesverfassungsgericht als Gericht eines Mitgliedstaates von dem Anwendungsbereich des Art. 267 AEUV erfasst wird und damit auch für das Bundesverfassungsgericht eine Pflicht zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht, ist nun zu untersuchen, in welchen Konstellationen sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder Gültigkeit des Unions­rechts stellen können. Ziel der Untersuchung ist es, nachzuweisen, dass beim Bundesverfassungsgericht – entgegen einiger Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur237 – bei den einzelnen verfassungsgerichtlichen Verfahren sehr wohl entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts auftreten können, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. Betrachtet man die verfassungsgerichtlichen Verfahren, sind für mögliche vorlagepflichtige Konstellationen diejenigen Verfahren von vornherein auszuschließen, bei denen Fachgerichte zuvor mit der Rechtssache befasst waren bzw. sich nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erneut mit der Sache zu befassen haben238. Denn in diesen Fällen sind – spätestens die letztinstanzlichen – Fachgerichte zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des europäischen Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet239. Die europarechtlichen Fragen sind – unterstellt, die Fachgerichte kommen ihrer Vorlagepflicht nach – bereits geklärt, wenn die Sache zum Bundesverfassungsgericht gelangt. Sind die Fachgerichte ihr nicht nachgekommen, so liegt bei einer in willkürlicher Weise unterlassenen Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gerade darin ein Verfassungsverstoß, dessen Behebung zur Zurückweisung mit anschließender Pflicht zur Befolgung der Vorlagepflicht durch das Fachgericht führt240. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet in diesen Verfahren nicht letztinstanzlich i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV, so dass europarechtlich keine Pflicht für das Bundesver-

237

Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (15 Fn. 13). Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (51). 239 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (51). 240 Siehe oben: Verletzung der Vorlagepflicht durch die Fachgerichte nach der Rechtsprechung des BVerfG, B.III.2, S.38 f., und Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des BVerfG, B.III.3., S.39 ff. 238

D. Vorlagepflichtige Konstellationen

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fassungsgericht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union, sondern für das letztinstanzliche Fachgericht besteht241. Entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts, die eine eigene ­Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union begründen, können sich dem Bundesverfassungsgericht aus diesem Grund im Verfahren der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG von vornherein nicht stellen. Im Rahmen dieses Verfahrens legen die Fachgerichte dem Bundesverfassungsgericht ein formelles, nachkonstitutionelles Bundes- oder Landesgesetz vor242. Stellen sich den Fachgerichten für das Ausgangsverfahren entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts, sind diese zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet. Da das konkrete Normenkontrollverfahren als Zwischenverfahren ausgestaltet ist, entscheidet das Bundesverfassungsgericht hier auch nicht letztinstanzlich gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV243, sondern das jeweilige Fachgericht mit der Folge, dass dieses zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet ist244. Das Verfahren der Verfassungsbeschwerde scheidet grundsätzlich aus, wenn ein Rechtsweg zu den Fachgerichten eröffnet ist245. Denn auch in diesem Fall sind bereits Fachgerichte mit der Rechtsstreitigkeit befasst, so dass das letztinstanzliche Gericht beim Auftreten entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts die Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 AEUV trifft. Ausnahmsweise ist das Bundes­ verfassungsgericht bei einer Verfassungsbeschwerde vor Erschöpfung des Rechts 241

Vgl. oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (51 f.). Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 100 GG Rd. 7, 10. 243 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (49 ff., 51 ff.). 244 Zur Alternativität einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 AEUV bzw. an das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 GG siehe die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in dem Beschluss vom 11. Juli 2006: „Ist die gemeinschaftsrechtliche und verfassungsrechtliche Rechtslage strittig, gibt es … aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts keine feste Rangfolge unter den vom Fachgericht ggf. einzuleitenden Zwischenverfahren nach Art. 234 Abs. 2, 3 EG [Art. 267 Abs. 2, 3 AEUV n. F.] und Art. 100 Abs. 1 GG. Zwar kann es ohne vorherige Klärung der europarechtlichen Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften dazu kommen, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes überprüft, das wegen des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts gar nicht angewandt werden darf. Umgekehrt bliebe aber ohne Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der Vorabentscheidung für den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften offen, ob die Vorabentscheidung eine nach innerstaatlichen Maßstäben im Übrigen gültige und deshalb entscheidungserhebliche Norm betrifft. In dieser Situation darf ein Gericht, das sowohl europarechtliche als auch verfassungsrechtliche Zweifel hat, nach eigenen Zweckmäßigkeitserwägungen entscheiden, welches Zwischenverfahren es zunächst einleitet (BVerfGE 116, 202 (214 f.)“. 245 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (52 f.). 242

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

weges zuständig, wenn die Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG erfüllt sind. In diesem Fall kann das Bundesverfassungsgericht über eine Grundrechtsverletzung durch einen Akt der öffentlichen Gewalt abschließend entscheiden246. Dieser Ausnahmekonstellation ist in der folgenden Bearbeitung zur Ermittlung möglicher vorlagepflichtiger Konstellationen besondere Aufmerksamkeit zu widmen247. Denn entscheidet das Bundesverfassungsgericht abschließend, trifft dieses – und nicht die Fachgerichte – die Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV248. Besondere Bedeutung kommt dem Verfahren der Verfassungsbeschwerde für die zu untersuchende Fragestellung der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts allerdings dann zu, wenn kein Rechtsweg gegen einen Akt der öffentlichen Gewalt gegeben ist und das Bundesverfassungsgericht mithin vom Beschwerdeführer unmittelbar angerufen werden kann. Hierauf soll insbesondere bei europarechtlich determinierten nationalen Gesetzen249 und dem deutschen Zustimmungsgesetz zu einem unionsrechtlichen Vertrag250 eingegangen werden. Besonders relevant für mögliche vorlagepflichtige Konstellationen sind diejenigen verfassungsgerichtlichen Verfahren, bei denen das Bundesverfassungsgericht originär und abschließend entscheidet251. Denn in diesem Fall sind möglicherweise auftretende Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts nicht bereits durch eine Vorlage der Fachgerichte an den Gerichtshof der Europäischen Union beantwortet. Näher zu untersuchen sind daher neben der Rechtssatzverfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG gegen formelle Gesetze das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, der BundLänder-Streit gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG und das Organstreitverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG252. Befasst sich das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines verfassungs­ gerichtlichen Verfahrens mit rein innerstaatlichen Sachverhalten, die keinerlei Bezug zum europäischen Unionsrecht aufweisen, können sich entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrecht nicht stellen, so dass eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV von vornherein ausscheidet. Handelt es sich hingegen um 246 Vgl. Stark, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 95 BVerfGG Rd. 66. 247 Siehe unten: Nationale Vollzugsakte zu europäischem Unionsrecht, D.IV.6., S. 149 ff. 248 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (53). 249 Siehe unten: Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie, D.IV.2., S. 108 ff. 250 Siehe unten: Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag als Prüfungsgegenstand, D.IV.1., S.  85 ff. 251 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (51 ff.). 252 Vgl. Bergmann/Karpenstein, Identitäts- und Ultra-vires-Kontrolle durch das BVerfG – zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Vorlageverpflichtung, ZEuS 2009, 529 (541 Fn. 58); Broß, Das deutsche Bundesverfassungsgericht und das Vorabentscheidungsverfahren, 2005, 108 (129).

I. Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab

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Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, die in irgendeiner Weise einen Bezug zu dem europäischen Unionsrecht aufweisen, sind (Vor-)Fragen der Aus­ legung oder Gültigkeit des Unionsrechts für die vom Bundesverfassungsgericht zu treffende Entscheidung denkbar. Ein solcher Bezug zum europäischen Unionsrecht kommt in Betracht, wenn Europarecht unmittelbar oder mittelbar als Prüfungsmaßstab oder Prüfungsgegenstand253 bei einem verfassungsgerichtlichen Verfahrens fungiert. Im Folgenden ist zu untersuchen, im Rahmen welcher verfassungsgerichtlicher Verfahren europäisches Unionsrecht unmittelbar oder mittelbar Prüfungsmaßstab oder Prüfungsgegenstand sein kann und welchen Prüfungsmaßstab das Bundesverfassungsgericht bei einer möglichen verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Unionsrechts anwendet. Auf eine vollständige Darstellung aller in Betracht kommenden verfassungsgerichtlichen Verfahren wird dabei verzichtet. Vielmehr werden nur diejenigen – gerade herausgearbeiteten – Verfahrensarten näher untersucht werden, bei denen das Bundesverfassungsgericht „letztinstanzlich“ i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheidet und damit die Möglichkeit besteht, dass sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellen. Im Anschluss daran wird der Frage nachgegangen, wann Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts für das verfassungsgerichtliche Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sind. Lassen sich auf diesem Wege geeignete Vorlagegegenstände eines Vorabentscheidungsverfahrens ermitteln, besteht für das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Pflicht zur Vorlage dieser entscheidungserheblichen Fragen an den Gerichtshof der Europäischen Union. Zur besseren Anschaulichkeit der abstrakt vorgenommenen Ausführungen wird – soweit zum besseren Verständnis erforderlich – zu Beginn bzw. am Ende des jeweiligen Kapitels ein fiktives Beispiel gebildet unter Berücksichtigung der Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit entscheidungserhebliche Fragen des Bundesverfassungsgerichts denkbar sind.

I. Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab Zu untersuchen ist, ob europäisches Unionsrecht in bundesverfassungsgerichtlichen Verfahren unmittelbarer als Prüfungsmaßstab herangezogen werden kann und ob sich dem Bundesverfassungsgericht dabei als Vorfrage entscheidungs­ 253 Zu europäischem Unionsrecht als Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgericht siehe: Eibach, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften als Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts, 1986; Ost, Europarecht vor dem Bundesverfassungsgericht – Verfahrensrechtliche Probleme der Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht, NVwZ 2001, 399 ff.; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989 S. 141 ff.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

erhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellen können, die eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird in Erwägung gezogen, den Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 ff. BVerfGG auf unionsrechtliche Grundfreiheiten und Grundrechte der Europäischen Union zu erweitern254. Würde man eine derartige Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts annehmen, wären entscheidungserhebliche Vorfragen, etwa bzgl. der konkreten Auslegung primär- oder sekundärrechtlicher Bestimmungen oder nach der Gültigkeit einzelner Sekundärrechtsakte, die als Prüfungsmaßstab für einen Akt der öffentlichen Gewalt dienen, denkbar. In diesem Fall würde eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV bestehen255. Auch wäre denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 ff. BVerfGG bundes- oder landesgesetzliche Regelungen unmittelbar am Maßstab des europäischen Unionsrechts, etwa am Maßstab der europäischen Grundfreiheiten, prüft256. Auch hierbei könnten entscheidungserhebliche Fragen nach der Auslegung primärvertraglicher bzw. sekundärrechtlicher Bestimmungen sowie Fragen nach der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten im Vorfeld der eigentlichen verfassungsrechtlichen Prüfung des Bundesverfassungsgerichts auftreten, die eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen würden.

254

Frenz, Die Verfassungsbeschwerde als Verfahren zur Durchsetzung gemeinschaftsrechtlich verliehener Rechte, DÖV 1995, 414 (416 ff.); Giegerich, Die Verfassungsbeschwerde an der Schnittstelle von deutschem, internationalem und supranationalem Recht, in: Grabenwarter, Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 101 (116 ff.). 255 So im Ergebnis auch: Frenz, Die Verfassungsbeschwerde als Verfahren zur Durchsetzung gemeinschaftsrechtlich verliehener Rechte, DÖV 1995, 414 f.; Giegerich, Die Verfassungsbeschwerde an der Schnittstelle von deutschem, internationalem und supranationalem Recht, in: Grabenwarter, Allgemeinheit der Grundrechte und Vielfalt der Gesellschaft, 1994, S. 101 (120); vgl. Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 366. 256 Eine mittelbare Heranziehung von europäischem Unionsrecht als Prüfungsmaßstab für Landesrecht über das deutsche Zustimmungsgesetz zu dem Unionsvertrag wäre zwar auch im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 GG, § 13 Nr. 11, § 80 ff. BVerfGG möglich. Da das Bundesverfassungsgericht hierbei nicht „letztinstanzlich“ gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV entscheidet, soll dieses Verfahren für die hier zu untersuchende Fragestellung einer möglichen eigenen Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts außer Betracht bleiben.

I. Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab

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1. Prüfungsmaßstab Eine derartige Erweiterung des Prüfungsmaßstabs des Bundesverfassungs­ gerichts, wie sie von einigen vorgeschlagen wird, ist jedoch abzulehnen. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts257 und der herrschenden Meinung in der Literatur258 scheidet Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts aus. Mittels der Verfassungsbeschwerde ist lediglich eine Verletzung der Grundrechte des I. Abschnitts des Grundgesetzes und der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG explizit erwähnten grundrechtsgleichen Rechte rügefähig, wobei die Aufzählung in­ soweit abschließend ist259. Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht in der Sportwetten-Entscheidung260 anlässlich einer Verfassungsbeschwerde, mit der der Beschwerdeführer unter anderem die Verletzung von europäischem Unionsrecht geltend gemacht hat, ausgeführt: „Unzulässig ist allerdings die Rüge der Verletzung europäischen Gemeinschaftsrechts. Gemeinschaftsrechtlich begründete Rechte gehören nicht zu den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten, gegen deren Verletzung nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG mit der Verfassungsbeschwerde vorgegangen werden kann (vgl. BVerfGE 110, 141 [154 f.]). Ein möglicher Verstoß gegen europäisches Gemeinschaftsrecht ist auch nicht mit der Begründung rügefähig, angesichts des Anwendungsvorrangs des europäischen Gemeinschaftsrechts könnte es ggf. schon an einem anwendbaren, den Gesetzesvorbehalt eines Grundrechts ausfüllenden Gesetz und damit an einer Beschränkung der grundrechtlichen Gewährleistung fehlen. Denn für die insoweit maßgebliche Frage der Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Norm des einfachen Rechts mit den Bestimmungen des europäischen Gemeinschaftsrechts ist das Bundesverfassungsgericht nicht zuständig (vgl. BVerfGE 31, 145 [174 f.]; 82, 159 [191]).“261

Prüfungsmaßstab des verfassungsgerichtlichen abstrakten Normenkontrollverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 ff. BVerfGG ist für Bundes- und Landesrecht das Grundgesetz; Landesrecht kann auch am Maßstab des höherrangigen sonstigen Bundesrechts gemessen werden. Dies umfasst aber kein europäisches Unionsrecht262. 257

BVerfGE 31, 145 (174); 82, 159 (191); 92, 365 (392); 114, 196 (220); 115, 276 (299 f.). Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 35. EL Stand Mai 2011, § 76 BVerfGG Rd. 354a; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 57 (59); Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 967; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 366. 259 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 467, 470; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 106, 126; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 334a. 260 BVerfGE 115, 276 – Sportwetten. 261 BVerfGE 115, 276 (299 f.) – Sportwetten. 262 Vgl. Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 62. 258

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens gegen bundesrechtliche Bestimmungen des Beitragssatzsicherungsgesetzes (BSSichG)263, mit dem die Landesregierungen von Baden-Württemberg und des Saarlands unter anderem die Unvereinbarkeit der fraglichen Bestimmung mit europäischen Grundfreiheiten geltend gemacht hatten, entschieden: „Unzulässig sind … [die Anträge], soweit die Antragstellerinnen beanstanden, Art. 1 Nr. 8 BSSichG … sei unvereinbar mit Art. 28 EGV [Art. 34 AEUV n. F.]. Das Bundesverfassungsgericht ist zur Entscheidung der Frage, ob eine innerstaatliche Norm des einfachen Rechts mit einer vorrangigen Bestimmung des europäischen Gemeinschaftsrechts oder eines völkerrechtlichen Vertrages vereinbar ist, nicht zuständig (vgl. BVerfGE 31, 145 [174]; 82, 159 [191]; 92, 365 [392]). Die Lösung eines solchen Normenkonflikts ist der insoweit nicht durch Art. 100 GG beschränkten Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der zuständigen Fachgerichte überlassen (vgl. BVerfGE 31, 145 [174 f.]; 82, 159 [191]).“264

Aus der enumerativen Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 93 GG und § 13 BVerfGG ergibt sich mithin, dass unmittelbarer Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts das Grundgesetz – im Einzelfall auch einfaches Bundesrecht265 –, jedenfalls aber kein europäisches Unionsrecht ist266. 2. Resümee Im Ergebnis scheidet europäisches Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts in den hier relevanten Verfahren der Verfassungsbeschwerde und abstrakten Normenkontrolle aus. Entscheidungserhebliche, vorlagepflichtige Fragen des Unionsrechts stellen sich dem Bundesverfassungsgericht insoweit nicht.

II. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab Europäisches Unionsrecht könnte mittelbar über das deutsche Zustimmungsgesetz zu den unionsrechtlichen Verträgen Prüfungsmaßstab im Rahmen eines abstrakten verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 ff. BVerfGG bei der Überprüfung von Landesrecht am Maßstab des Zustimmungsgesetzes als Bundesrecht sein. 263

BVerfGE 114, 196. BVerfGE 114, 196 (220). 265 Bei den verfassungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und Art. 100 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 GG zieht das Bundesverfassungsgericht einfaches Bundesrecht als Prüfungsmaßstab für Landesrecht heran. So für die abstrakte Normenkontrolle BVerfGE 1, 184 (195 f.), für die konkrete Normenkontrolle BVerfGE 67, 1 (11). 266 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 962. 264

II. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab

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Für die hier relevante Fragestellung, wann sich dem Bundesverfassungsgericht selbst entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unions­rechts stellen, ist das verfassungsgerichtliche Verfahren der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG, § 13 Nr. 11, § 80 ff. BVerfGG hingegen von vornherein auszuschließen. Denn würden sich dem Fachgericht im Rahmen der Prüfung eines Landesgesetzes an dem Zustimmungsgesetz als Bundesgesetz und darüber mittelbar an dem europäischen Unionsrecht selbst Auslegungs- bzw. Gültigkeitsfragen des Unionsrechts stellen, würde das letztinstanzliche Fachgericht die Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV treffen267. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet im Verfahren der konkreten Normenkontrolle zudem nicht letztinstanzlich i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV, so dass eine europarechtliche Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage in diesem Verfahren nicht besteht268. Zur Ermittlung möglicher vorlagepflichtiger Konstellationen eignet sich mithin nur das verfassungsgerichtliche Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG. In diesem Verfahren ist das Bundesverfassungsgericht originär zuständig und entscheidet abschließend über den Rechtsstreit. Denkbar wäre eine Konstellation, in der ein Antragsberechtigter einer abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG ein Landesgesetz für unvereinbar mit dem deutschen Zustimmungsgesetz als Bundesrecht und darüber mittelbar mit Vorschriften des primären bzw. sekundären Unionsrechts hält und einen entsprechenden Antrag auf Durchführung einer Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht stellt. Im Vorfeld der verfassungsgerichtlichen Prüfung der Vereinbarkeit des Landesgesetzes mit dem Zustimmungsgesetz und darüber mittelbar mit dem unionsrechtlichen Vertrag bzw. dem Sekundärrecht selbst, könnten sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung bzw. der Gültigkeit des Unionsrechts stellen, auf den das Zustimmungsgesetz Bezug nimmt. Bevor auf die Frage eingegangen wird, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt mittelbar über das „sonstige Bundesrecht“ i. S. v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG europäisches Primär- bzw. Sekundärrecht als Prüfungsmaßstab für Landesrecht heranziehen kann – was im Ergebnis verneint 267

Siehe oben: Vorlagepflicht der Fachgerichte, B.III., S. 28 ff. Nimmt man mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Möglichkeit einer Ultra-vires-Kontrolle an, wäre zwar denkbar, dass das Fachgericht das Zustimmungsgesetz zu den unionsrechtlichen Verträgen wegen eines möglichen Verstoßes gegen Art. 23 Abs. 1 Satz 1 bzw. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. In diesem Fall müsste das Fachgericht aber gleichwohl selbst für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegen. 268 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (49, 51).

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

wird – werden zur besseren Anschaulichkeit drei Beispiele entwickelt, bei denen sich dem Bundesverfassungsgericht – unterstellt, es prüft mittelbar über das „sonstige Bundesrecht“ Landesrecht am Maßstab des Unionsrechts – entscheidungs­ erhebliche Fragen der Auslegung bzw. der Gültigkeit stellen könnten, die eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. 1. Beispiele Entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung einer primärvertraglichen Norm gem. Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV für das Bundesverfassungsgericht wären denkbar, wenn in einem Bundesland ein Landesgesetz bestünde, das zwar mit bundesgesetzlichen und grundgesetzlichen Regelungen zu vereinbaren ist269, dem jedoch auf europäischer Ebene eine primärvertragliche Norm entgegensteht. Wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts wird in den fachgerichtlichen Verfahren das Landesgesetz wegen entgegenstehendem Unionsrechts unangewendet bleiben müssen. Fraglich ist, ob das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus in dem Verfahren der abstrakten Normenkontrolle eine Unanwendbarkeit der landesgesetzlichen Bestimmung wegen entgegenstehendem Unionsrecht feststellen kann. Im Normalfall erklärt das Bundesverfassungsgericht gem. § 78 Satz 1 BVerfGG das Gesetz für nichtig, wenn es zu der Überzeugung gelangt, dass Landesrecht mit sonstigen Bundesrecht unvereinbar ist. Diese Rechtsfolge ist aber wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht bei einer Un 269 Das Bundesverfassungsgericht prüft bei der abstrakten Normenkontrolle als Vorfrage, ob das Bundesrecht, das als Maßstab für das Landesrecht herangezogen wird, seinerseits mit dem Grundgesetz vereinbar ist (M. Graßhof, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 76 BVerfGG Rd. 38; Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 66). In dieser Konstellation hätte das Bundesverfassungsgericht zunächst eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 1 (Identitätskontrolle) bzw. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG (Ultra-vires-Kontrolle) zu prüfen, ob das Zustimmungsgesetz, das dem Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland den Rechtsanwendungsbefehl erteilt, mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Vgl. zur Identitätskontrolle: BVerfGE 75, 223 (235, 242); 89, 155 (188); 113, 273 (296); 123, 267 (353) und zur Ultra-vires-Kontrolle: BVerfGE 123, 286 (303); 126, 286 (303). Folgt man der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ultra-vires-Kontrolle, würde bei Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Zustimmungsgesetzes wegen Verstoßes gegen Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG mangels verfassungskonformen Bundesgesetzes die „Bundesrechtswidrigkeit“ des Landesgesetzes entfallen. Vor Ausspruch der Verfassungswidrigkeit hätte das Bundesverfassungsgericht nach seiner eigenen Recht­sprechung „dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Handlungen zu geben, soweit er die aufgeworfenen Fragen noch nicht geklärt hat (BVerfGE 126, 286 [Leitsatz 1. b)] – Honeywell)“. In der hier zu untersuchenden Fallkonstellation ist davon auszugehen, dass das Zustimmungsgesetz verfassungsgemäß ist.

II. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab

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vereinbarkeit des Landesrechts mit dem Zustimmungsgesetz als Bundesrecht und darüber mittelbar mit dem europäischen Unionsrecht nicht herbeizuführen, da bei Aufhebung oder Änderung des Unionsrechts das Landesgesetz durchaus mangels fortdauernder Unvereinbarkeit mit europäischem Unionsrecht zu einem späteren Zeitpunkt wieder anwendbar sein kann. Vielmehr wäre der Entscheidungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts dahingehend zu modifizieren, dass die Unanwendbarkeit des Landesgesetzes wegen Unvereinbarkeit mit dem Zustimmungsgesetz und darüber mittelbar mit dem Unionsrecht festgestellt würde270. Würde man eine Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts annehmen, könnte ein Antragsberechtigter im Verfahren der abstrakten Normen­kontrolle einen Antrag auf Prüfung der Vereinbarkeit des Landesgesetzes mit Bundesrecht stellen. Über das deutsche Zustimmungsgesetz zu dem primärrechtlichen Vertrag als Bundesgesetz würde das Landesgesetz am Maßstab des Zustimmungsgesetzes, mithin mittelbar am Maßstab der primärvertraglichen Bestimmung, gemessen werden. Im Rahmen dieser Prüfung könnte sich dem Bundesverfassungsgericht die Frage nach einer möglichen unmittelbaren Wirkung der entgegenstehenden primärvertraglichen Bestimmung stellen (Konstellation 1), da nur bei einer unmittelbaren Wirkung eine Kollision mit nationalem Recht entsteht und das Unionsrecht dem nationalen Recht in der Anwendung vorgeht271. Möglich wäre auch eine Konstellation, in der dem Bundesverfassungsgericht ein Landesgesetz als Antragsgegenstand im abstrakten Normenkontrollverfahren vorliegt und fraglich ist, ob eine nicht fristgerecht in nationales Recht umgesetzte Richtlinie die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung in der Bundesrepublik Deutschland erfüllt (Konstellation 2). Schließlich könnten sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen nach der Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes als Vorfrage der eigentlichen verfassungsrechtlichen Prüfung möglicherweise auch dann stellen, wenn fraglich ist, ob eine Verordnung gegen höherrangiges Unionsrecht verstößt (Konstellation 3). 2. Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG Im Vorfeld der verfassungsgerichtlichen Prüfung der Vereinbarkeit des Landesgesetzes mit dem Zustimmungsgesetz zu dem unionsrechtlichen Vertrag als „sonstiges Bundesrecht“ im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 76 Abs. 1 BVerfGG könnten sich dem Bundesverfas 270 Vgl. zu dem modifizierten Rechtsfolgenausspruch des Bundesverfassungsgerichts bei einer von Frenz befürworteten Kontrolle bei der Verfassungsbeschwerde am Maßstab von unionsrechtlichen Grundrechten und Grundfreiheiten: Frenz, Die Verfassungsbeschwerde als Verfahren zur Durchsetzung unionsrechtlich verliehener Rechte, DÖV 1995, 414 (418 f.). 271 Siehe oben: Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Recht, B. I., S. 20 ff.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

sungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung bzw. der Gültigkeit des Primär- und Sekundärrechts, dem die Zustimmung erteilt wird, stellen. In Konstellation 1 könnte sich im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Prüfung, ob das Landesgesetz wegen Verstoßes gegen das Zustimmungsgesetz als Bundesrecht unanwendbar ist, dem Bundesverfassungsgericht die für den Verfassungsrechtsstreit entscheidungserhebliche Vorfrage stellen, ob die fragliche Vorschrift des primären Unionsrechts unmittelbare Wirkung entfaltet. Entscheidungserheblich ist die Frage nach der Auslegung einer primärvertraglichen Bestimmung, wenn der Tenor der Entscheidung im Ausgangsrechtsstreit bei einer Auslegung anders ausfällt als bei einer anderen Auslegung272. Würde die primärvertragliche Bestimmung nach einer Auslegung unmittelbare Wirkung entfalten, wäre das Landesgesetz wegen Verstoßes gegen das Bundesgesetz unanwendbar. Der Antrag im abstrakten Normenkontrollverfahren wäre begründet und das Bundesverfassungsgericht würde im Tenor der Entscheidung die Unanwendbarkeit des Landesgesetzes bzw. der maßgeblichen Bestimmung feststellen. Würde eine andere Auslegung hingegen ergeben, dass die primärvertragliche Bestimmung keine unmittelbare Wirkung entfaltet, würde kein Bundesgesetzverstoß durch das Landesgesetz vorliegen. Der Antrag wäre unbegründet. Im Tenor der Entscheidung würde das Bundesverfassungsgericht den Antrag zurückweisen. In dieser Konstellation wäre somit die Entscheidungserheblichkeit der Frage nach der richtigen Auslegung der primärvertraglichen Bestimmung für das verfassungsgerichtliche Verfahren gegeben. Geht man davon aus, dass über das Zustimmungsgesetz zu den unionsrechtlichen Verträgen neben dem Primärrecht mittelbar auch sekundäres Unionsrecht als Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgericht für Landesrecht im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle herangezogen werden kann, könnte beim Bundesverfassungsgericht etwa die Frage auftreten, ob die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung einer von der Bundesrepublik Deutschland nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie vorliegen (Konstellation 2). Würde nach einer Auslegungsalternative die Richtlinie unmittelbare Wirkung entfalten, wäre das Landesgesetz wegen des Anwendungsvorrangs aufgrund der unmittelbaren Wirkung der Richtlinie nicht anzuwenden. Würde nach einer anderen Auslegung die Richtlinie hingegen keine unmittelbare Wirkung entfalten, wäre das Landesgesetz weiterhin anwendbar und es würde kein Verstoß gegen das Zustimmungsgesetz als Bundesrecht und darüber mittelbar gegen sekundäres Unionsrecht vorliegen. Die Frage, ob die Richtlinie unmittelbare Wirkung entfaltet, wäre in dieser Konstellation entscheidungserheblich.

272 Vgl. oben: Entscheidungserheblichkeit bei dem Vorabentscheidungsverfahren, C.III.3.b), S. 62 (63 Fn. 229).

II. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab

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Eine für das abstrakte Normenkontrollverfahren entscheidungserhebliche Vorfrage des Bundesverfassungsgerichts wäre auch bzgl. der Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes denkbar. Liegt eine gem. Art. 288 Abs. 2 Satz 2 AEUV unmittelbar in der Bundesrepublik Deutschland wirkende Verordnung vor, wäre bei Feststellung eines Verstoßes der Verordnung gegen höherrangiges Unionsrecht durch den Gerichtshof der Europäischen Union das Landesgesetz mangels Bundesrechtsverstoß weiterhin anwendbar (Konstellation 3). Der Antrag im konkreten Normenkontrollverfahren wäre unbegründet. Würde der Gerichtshof der Europäischen Union hingegen die Gültigkeit der Verordnung bestätigen, läge ein Bundesrechtsverstoß des Landesgesetzes vor und das Bundesverfassungsgericht würde die Unanwendbarkeit des Landesgesetzes bzw. der einschlägigen Bestimmung­ feststellen. Bei unterstellter Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts von Landesrecht am Maßstab des Unionsrechts über das Zustimmungsgesetz als Bundesrecht wären entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung von primär- und sekundärrechtlichen Bestimmungen des Europarechts und der Gültigkeit von Sekundärrechtsakten denkbar. 3. Prüfungsmaßstab Fraglich ist allerdings, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt Landesrecht am Maßstab des Zustimmungsgesetzes und darüber mittelbar am Maßstab von primärem bzw. sekundärem Unionsrecht als „sonstiges Bundesrecht“ i. S. v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 76 Abs. 1 BVerfGG prüft. Für eine solche Prüfung würde zwar eine effektive Durchsetzung und An­ wendung des europäischen Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland sprechen. Denn einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, mit der die Un­anwendbarkeit eines Landesgesetzes wegen Verstoßes gegen das Zustimmungsgesetz als Bundesrecht und darüber mittelbar mit europäischem Unionsrecht festgestellt würde, käme aufgrund der Wirkung der Entscheidung, sie würde – zumindest solange der Anwendungsvorrang des Unionsrechts besteht – Gesetzeskraft i. S. v. § 31 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG entfalten, wohl eine stärkere Signalwirkung und Beachtung zu als einer auf einen Einzelfall bezogenen Entscheidung eines Fachgerichts, in der einzelne Bestimmungen wegen entgegenstehendem Unionsrecht nicht angewendet werden. Gegen eine derartige Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts spricht indes, dass mittels der abstrakten Normenkontrolle der umfassende Schutz der Bundesrechtsordnung gegenüber dem Landesrecht gewährleistet werden soll273. 273 Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 65.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Die abstrakte Normenkontrolle dient der Sicherung des Vorranges des von Bundesorganen gesetzten Rechts vor Landesrecht gem. Art. 31 GG. Bundesrecht i. S. v. Art. 31 GG umfasst das von den Organen des Bundes gesetzte Recht274. Unionsrecht ist aber als Recht aus autonomer Quelle kein von Bundesorganen gesetztes Recht275. Zudem besteht die Wirkung des deutschen Zustimmungsgesetzes zu dem Unions­recht gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG darin, dass dem Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland der Befehl zur Anwendung erteilt wird. Das Zustimmungsgesetz selbst nimmt zwar den Rang eines einfachen Bundesgesetzes ein276 und ist damit als solches Bestandteil der Bundesrechts­ ordnung277. Da das Zustimmungsgesetz selbst aus sich heraus inhaltsleer ist und lediglich auf die entsprechenden Vorschriften des Unionsrechts Bezug nimmt278, macht es das Unionsrecht jedoch nicht zu „sonstigem Bundesrecht“279. Es bleibt Recht aus einer autonomen Quelle. Eine derartige Erweiterung der Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungs­ gerichts wäre auch nicht mit der nach dem Grundgesetz festgelegten Stellung des Bundesverfassungsgerichts zu vereinbaren. Es wacht nach der Konzeption des Grundgesetzes über die Einhaltung der Grundrechte und der sonstigen verfassungsrechtlichen Bestimmungen, deren Verletzung mit den im Grundgesetz und Bundesverfassungsgerichtsgesetz vorgesehenen Verfahren gerügt werden kann, Art. 93 GG und § 13 BVerfGG. Die Entscheidung über einen Anwendungsvorrang von europarechtlichen Vorschriften in einem konkreten Einzelfall obliegt hingegen den Fachgerichten. Die Prüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht am Maßstab des Bundesrechts ist zum Schutz der Autorität des Landesgesetzgebers beim Bundesverfassungsgericht konzentriert280. Die Fachgerichte dürfen über die Gültigkeit von Landesrecht wegen Verstoßes gegen Bundesrecht nicht entscheiden, vielmehr trifft sie in diesem Fall eine Vorlagepflicht an das Bundesverfassungsgericht gem. Art. 100 Abs. 1 Satz 2 GG, das über die Frage der Gültigkeit des Landesgesetzes mit Gesetzeskraft gem. § 31 Abs. 2 BVerfGG entscheidet. Bei einem bloßen Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor landesrechtlichen Bestimmungen besteht aber gerade kein Grund, den Landesgesetzgeber durch eine Entscheidung über die Gültigkeit des Landesgesetzes, die in Gesetzeskraft erwächst, zu schützen, da bei Auf 274

Huber, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 31 GG Rd. 10. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 524a. 276 Butzer/Haas, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 59 GG Rd. 116; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 62. 277 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 524a. 278 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 15. 279 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 524a. 280 Müller-Terpitz, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 100 GG Rd. 3. 275

II. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab

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hebung oder Änderung der entgegenstehenden europarechtlichen Vorschriften der Anwendungsvorrang nicht mehr bestehen würde. Eine fehlende Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts ist zudem Ausfluss der durch das Grundgesetz und der Rechtsprechung entwickelten Auf­ gabenverteilung zwischen Bundesverfassungsgericht, Gerichtshof der Europäischen Union und den Fachgerichten. Die Fachgerichte legen dem Gerichtshof der Europäischen Union im Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV abstrakte Fragen der Auslegung bzw. der Gültigkeit des Unionsrechts vor, über den konkreten Rechtsstreit entscheiden die Fachgerichte unter Zugrundelegung der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union eigenständig281. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet hingegen über die Grundgesetz- bzw. Bundesgesetzmäßigkeit, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Eine Notwendigkeit für eine Prüfung des Bundesverfassungsgerichts mittelbar am Maßstab des Unionsrechts besteht nicht. Letztlich spricht gegen eine Prüfungskompetenz des Bundesverfassungs­gerichts am Maßstab von europäischem Unionsrecht mittelbar über das deutsche Zustimmungsgesetz zu den Verträgen auch, dass andernfalls gewisse Wertungswidersprüche zwischen Bundes- und Landesrecht auftreten würden. Bundesrecht würde mangels Heranziehung von europäischem Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab lediglich am Maßstab des Grundgesetzes gemessen werden282, Landesrecht hingegen gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG am Maßstab des Grundgesetzes und über das Zustimmungsgesetz mittelbar zudem am Maßstab des europäischen Unionsrechts. Im Ergebnis ist Prüfungsmaßstab für Landesrecht im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle mithin das Grundgesetz und das von den Bundesorganen gesetzte Bundesrecht, nicht aber primäres bzw. sekundäres Unionsrecht. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab scheidet somit aus. 4. Resümee Europäisches Unionsrecht ist vom Bundesverfassungsgericht auch nicht als mittelbarer Prüfungsmaßstab verfassungsgerichtlicher Verfahren heranzuziehen, so dass sich dem Bundesverfassungsgericht keine entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung bzw. der Gültigkeit des Unionsrechts als Vorfrage der eigenen verfassungsgerichtlichen Prüfung stellen. Würde das Bundesverfassungsgericht entgegen der hier vertretenen Auf­fassung über das Zustimmungsgesetz zu den unionsrechtlichen Verträgen mittelbar Primär- bzw. Sekundärrecht als Prüfungsmaßstab im Rahmen einer abstrakten Nor 281

Siehe oben: Vorabentscheidungsverfahren gem. Art. 267 AEUV, B.III.1.a), S. 28 ff. Siehe oben: Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab, D. I., S. 69 ff.

282

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

menkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG heranziehen, wären Konstellationen denkbar, in denen sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung des Primär- bzw. Sekundärrechts oder der Gültigkeit des Sekundärrechts stellen, die eine eigene Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen.

III. Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsgegenstand In diesem Kapitel ist zu untersuchen, ob europäisches Unionsrecht unmittelbar Prüfungsgegenstand verfassungsgerichtlicher Verfahren ist und beim Bundes­ verfassungsgericht dabei entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts auftreten können, die eine Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. 1. Primärrecht Primäres Unionsrecht kommt als unmittelbarer Prüfungsgegenstand verfassungsgerichtlicher Verfahren nicht in Betracht283. Denn durch das Zusammenwirken der Mitgliedstaaten hat das Primärrecht seinen Ursprung nicht allein in der deutschen öffentlichen Gewalt, sondern stellt ein Recht aus autonomer Quelle dar284, das nicht unmittelbar dem deutschen Gesetzgeber zugerechnet werden kann. Das Unionsrecht begründet eine eigene Rechtsordnung und kann daher nicht unmittelbarer Prüfungsgegenstand verfassungsgerichtlicher Verfahren sein285. 2. Sekundärrecht Inwieweit sekundäre Unionsrechtsakte unmittelbar Prüfungsgegenstände verfassungsgerichtlicher Verfahren sein können, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unterschiedlich beantwortet worden. Zunächst ging das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass Verordnungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft kein tauglicher Prüfungsgegenstand einer Verfassungsbeschwerde seien286. Mit der Übertragung von Hoheitsrechten gem. Art. 24 Abs. 1 GG (heute Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG) sei eine neue öffent 283 Eibach, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften als Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts, 1986, S. 23 ff.; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 2 ff. (Rd. 3, 5); Streinz, Bundesverfassungs­ gerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989 S. 141 ff. 284 BVerfGE 22, 293 (296); 37, 271 (277 f.). 285 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 598. 286 BVerfGE 1, 10; 6, 15 (18); 6, 290 (295); 22, 91 (92); 22, 293 (295).

III. Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsgegenstand

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liche Gewalt geschaffen worden, die gegenüber der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten selbstständig und unabhängig sei287. Die von den Gemeinschaftsorganen im Rahmen ihrer vertragsgemäßen Kompetenzen erlassenen Rechtsvorschriften, das sekundäre Gemeinschaftsrecht, bildeten eine eigene Rechtsordnung, deren Normen weder Völkerrecht noch nationales Recht seien288. Das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht der Mitgliedstaaten seien zwei selbstständige, voneinander verschiedene Rechtsordnungen, das Gemeinschaftsrecht fließe aus einer autonomen Quelle289. Verordnungen seien somit keine Akte der deutschen öffentlichen Gewalt, eine Verfassungsbeschwerde mithin unzulässig290. In der Eurocontrol IEntscheidung hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt im Sinne dieser Rechtsprechung festgestellt, dass nur Akte der deutschen, an das Grundgesetz gebundenen, staatlichen Gewalt als Akt der öffentlichen Gewalt i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG anzusehen seien291. Seit dem Solange I-Beschluss von 1974292 nimmt das Bundesverfassungs­gericht grundsätzlich für sich in Anspruch, sekundäres Gemeinschaftsrecht zwar nicht unmittelbar als Prüfungsgegenstand, sehr wohl aber mittelbar über die Anwendung durch deutsche Behörden oder Gerichte auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes zu überprüfen293. Prüfungsgegenstand sei mangels eines Aktes der deutschen Staatsgewalt zwar nicht die Verordnung selbst, vollziehe aber eine Verwaltungsbehörde oder handhabe ein Gericht der Bundesrepublik Deutschland eine Verordnung, liege darin Ausübung deutscher Staatsgewalt mit der Folge, dass auch Verwaltungsbehörde und Gericht an das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland gebunden seien294. Die Mehrheit des Senats ging damals davon aus, dass auf Gemeinschaftsebene ein den deutschen Grundrechten adäquater Grundrechtskatalog noch nicht bestehe und damit die Vorlage eines Gerichts der Bundesrepublik Deutschland an das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines konkreten Normenkontrollverfahrens gem. Art. 100 Abs. 1 GG nach Einholung der gem. Art. 267 AEUV geforderten Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft durch das Ausgangsgericht zulässig und geboten sei295. Das Bundesverfassungsgericht sei aufgrund der Besonderheiten des Verhältnisses von nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht darauf beschränkt, die Unanwendbarkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts durch die Verwaltungsbehörden oder Gerichte der Bundesrepublik Deutschland festzustellen, soweit sie mit einer Grundrechtsgarantie 287

BVerfGE 22, 293 (296). BVerfGE 22, 293 (296). 289 BVerfGE 22, 293 (296). 290 BVerfGE 22, 293 (295). 291 BVerfGE 58, 1 (27) – Eurocontrol I. 292 BVerfGE 37, 271 – Solange I. 293 BVerfGE 37, 271 (284 f.) – Solange I. 294 BVerfGE 37, 271 (283) – Solange I. 295 BVerfGE 37, 271 (285) – Solange I. 288

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

des Grundgesetzes kollidiere296. Begründet wurde diese Prüfungskompetenz mit dem in Art. 24 GG (heute Art. 23 Abs. 1 GG) enthaltenen Vorbehalt, wonach die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruhe, zu der insbesondere der Grundrechtsteil gehöre, nicht ohne Verfassungsänderung durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtungen geändert werden dürfe297. Solange auf Gemeinschaftsebene nicht ein den deutschen Grundrechten vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet war, behielt sich das Bundesverfassungsgericht mithin die Prüfung der Grundrechtskonformität des sekundären Gemeinschaftsrechts am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes vor. Entschieden wurde diese Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts lediglich für die Frage nach der Vereinbarkeit von sekundärem Gemeinschaftsrecht mit dem Grundrechtsteil der Verfassung. Offen gelassen wurde dagegen, ob das Bundesverfassungsgericht sekundäres Gemeinschaftsrecht auf seine Verfassungskonformität außerhalb des Grundrechtsteils überprüfen konnte298. Eine zu dieser Entscheidung ergangene abweichende Meinung des Zweiten Senats ging hingegen von der Prämisse aus, dass dem Bundesverfassungsgericht nicht die Kompetenz zukomme, Normen des sekundären Gemeinschaftsrechts auf ihre Grundrechtskonformität zu überprüfen299. Als Argument wurde angeführt, dass die Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 24 GG (heute Art. 23 Abs. 1 GG) Hoheitsrechte auf eine zwischenstaatliche Einrichtung übertragen habe, wodurch ein Träger autonomer Hoheitsgewalt entstanden sei, dessen Rechtsetzung keiner nationalen Kontrolle unterliege, sondern eine eigenständige autonome Rechtsordnung darstelle300. Die von den gemeinschaftsrechtlichen Organen erlassenen Rechtsakte können nach dieser Ansicht daher nicht am Maßstab des innerstaatlichen Rechts gemessen werden. Die in dem Solange I-Beschluss angenommene Prüfungskompetenz behielt sich das Bundesverfassungsgericht in den folgenden Entscheidungen grundsätzlich vor, verzichtete jedoch unter bestimmten, im Laufe der Zeit näher konkretisierten Voraussetzungen auf deren Ausübung301. In der Solange II-Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht 1986 die Erreichung eines dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene fest und prüft Rechtsakte der Gemeinschaft seitdem solange nicht mehr am Maßstab des Grundgesetzes, solange der Grundrechtsschutz auf Gemeinschaftsebene im Wesentlichen dem des Grundgesetzes vergleichbar bleibt302. Gerichtsvorlagen im 296

BVerfGE 37, 271 (284) – Solange I. BVerfGE 37, 271 (279 f.) – Solange I. 298 BVerfGE 37, 271 (277) – Solange I. 299 BVerfGE 37, 271 (291 ff. – abweichende Meinung). 300 BVerfGE 37, 271 (295 f. – abweichende Meinung). 301 BVerfGE 73, 339 – Solange II; BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfGE 102, 147 – Bananen­markt. 302 BVerfGE 73, 339 (378 ff., 387) – Solange II. 297

III. Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsgegenstand

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Rahmen einer konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 Abs. 1 GG und Verfassungsbeschwerden mit der Behauptung einer Grundrechtsverletzung durch europäische Rechtsakte sind daher fortan prinzipiell unzulässig303. Diese Rechtsprechung hat der Zweite Senat 1993 anlässlich einer Verfassungsbeschwerde gegen das deutsche Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Maastricht bestätigt und ausgeführt, Grundrechtsschutz gegenüber Rechtsakten der EG in Kooperation mit dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft zu gewährleisten304. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft sichere Grundrechtsschutz im Einzelfall, das Bundesverfassungsgericht beschränke sich dagegen auf die generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards305. In Abkehr von seiner früheren Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht die Frage, ob sekundäres Gemeinschaftsrecht als Akt der öffentlichen Gewalt unmittelbar Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein kann, positiv beantwortet und dazu ausgeführt: „Auch Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation betreffen die Grundrechtsberechtigten in Deutschland. Sie berühren damit die Gewährleistungen des Grundgesetzes und die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts, die den Grundrechtsschutz in Deutschland und insoweit nicht nur gegenüber deutschen Staatsorganen zum Gegenstand haben …“306

In einem späteren Abschnitt behält sich das Bundesverfassungsgericht vor, Handlungen der Gemeinschaftsorgane auf die Einhaltung der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte zu überprüfen und ggf. für in der Bundesrepublik Deutschland unanwendbar zu erklären: „Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unionsvertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die vom Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wären, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht mehr verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen (vgl. BVerfGE 58, 1 [30 f.]; 75, 223 [235, 242]).“307

Mit dem Bananenmarkt-Beschluss hat das Verfassungsgericht die Anforderungen an die Zulässigkeit einer Gerichtsvorlage im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle an das Bundesverfassungsgericht und einer Individualverfassungsbeschwerde konkretisiert: „Sonach sind … Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, [die eine Verletzung von Grundrechten des Grundgesetzes durch Sekundärrecht geltend machen] von 303

BVerfGE 73, 339 (387) – Solange II. BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht. 305 BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht. 306 BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht. 307 BVerfGE 89, 155 (188) – Maastricht. 304

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechts­ entwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Er­ gehen der Solange II-Entscheidung (BVerfGE 73, 339 [378 bis 381]) unter den erforder­ lichen Grundrechtsstandard abgesunken ist. Deshalb muss die Begründung der Vorlage eines nationalen Gerichts oder einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung von Grundrechten durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend macht, im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsstandard generell nicht gewährleistet wird. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler Ebene und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das Bundes­ verfassungsgericht sie in BVerfGE 73, 339 (378 bis 381) geleistet hat.“308

Es ist somit nicht ausreichend, wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass in dem konkreten Fall der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft den grundrechtlichen Mindeststandard nicht sicherstellt, sondern es muss nachgewiesen werden, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft diesen generell nicht mehr gewährleistet. Diese Rechtsprechungslinie ist auch mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Lissabon-Vertrag beibehalten worden309. Aufgrund der sehr hohen Anforderungen, die nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für eine unmittelbarer Kontrolle sekundärer Unionsrechtsakte durch das Bundesverfassungsgericht erfüllt sein müssen – was gegenwärtig nicht der Fall ist – sollen für die Untersuchung möglicher vorlagepflichtige Konstellationen des Bundesverfassungsgerichts sekundäre Unionsrechtsakte als unmittelbarer Prüfungsgegenstand außer Betracht bleiben310. 3. Resümee Sowohl Primär- als auch Sekundärrecht scheidet nach dem gegenwärtigen Stand der Rechtsprechung als unmittelbarer Prüfungsgegenstand verfassungs­ gerichtlicher Verfahren aus.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand Scheidet eine unmittelbare Kontrolle des primären und sekundären Unionsrechts durch das Bundesverfassungsgericht aus, kommt eine mittelbare Über­ prüfung des europäischen Unionsrechts anhand des deutschen Zustimmungs­ 308

BVerfGE 102, 147 (164) – Bananenmarkt. BVerfGE 123, 267 (334) – Lissabon. 310 Im Übrigen käme eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen einen Sekundärrechtsakt nur dann in Betracht, wenn der Beschwerdeführer durch diesen Rechtsakt unmittelbar und nicht erst durch dessen Vollzug betroffen ist, was allenfalls bei unionsrechtlichen Verordnungen der Fall sein kann (siehe dazu Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 978 mit Fn. 13). 309

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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gesetzes zu den europarechtlichen Verträgen in Betracht311. Auch können legislative Akte zur Umsetzung oder Ausführung von sekundärem Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland oder Vollzugsakte, die die Anwendung von unmittelbar wirkenden Bestimmungen des europäischen Unionsrechts oder der deutschen Umsetzungsakte zu sekundärem Unionsrecht zum Gegenstand haben, Prüfungsgegenstand verfassungsgerichtlicher Verfahren sein312. Der Schwerpunkt dieser Arbeit soll aus diesem Grund zur Ermittlung entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts, die sich dem Bundesverfassungsgericht stellen können und eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, auf der mittelbaren Kontrolle des Europäischen Unionsrechts durch das Bundesverfassungsgericht liegen. 1. Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag als Prüfungsgegenstand Denkbar ist, dass sich dem Bundesverfassungsgericht anlässlich der Prüfung des Zustimmungsgesetzes zu einem Unionsvertrag entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung primärvertraglicher Normen des Unionsrechts im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 13 Nr. 6, § 76 ff. BVerfGG oder einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 13 Nr. 8a, § 90 ff. BVerfGG stellen könnten. Bevor auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen und den Prüfungsmaßstab dieser Verfahrensarten eingegangen wird und am Ende des Kapitels mögliche vor­ lagepflichtige Fragen herausgearbeitet und anhand eines Beispiels veranschaulicht werden, ist nach allgemeinen Ausführungen zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union nach dem Zeitpunkt einer etwaig stattfindenden verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Zustimmungsgesetzes zu differenzieren. a) Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU Verfassungsrechtliche Grundlage für die Übertragung von Hoheitsrechten war bis zur Einführung des neuen Art. 23 GG im Jahr 1992 Art. 24 Abs. 1 GG. Für die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen gilt Art. 24 Abs. 1 GG zwar fort, wird heute jedoch bei der Übertragung von Hoheits-

311 Siehe sogleich unten: Zustimmungsgesetz zum Unionsvertrag als Prüfungsgegenstand, D.IV.1., S. 85 ff. 312 Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, EVR, 1. EL Stand Juli 1998 und 2. EL Stand November 1999, Rd. 498, 505 ff.; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 13 ff., 32 ff.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

rechten auf die Europäische Union durch den spezielleren Art. 23 GG verdrängt313. Die zu Art. 24 Abs. 1 GG ergangene Rechtsprechung kann insoweit auf Art. 23 Abs. 1 GG übertragen werden. Gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG kann der Bund durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Das Tat­bestandsmerkmal der Übertragung von Hoheitsrechten meint, dass die vom Adressaten der Übertragung (die Europäischen Union) gesetzten Rechtsakte unmittelbar im innerstaatlichen Rechtsraum Wirkung entfalten, ohne dass ein weiterer Umsetzungsakt deutscher Staatsorgane erforderlich ist314. Kennzeichnend für eine Übertragung von Hoheitsrechten ist damit die Durchgriffswirkung in den staatlichen Herrschaftsbereich315. So hat die unionsrechtliche Verordnung gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung und wirkt in jedem Mitgliedstaat unmittelbar. Bei der Übertragung von Hoheitsrechten gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach die Mitgliedstaaten Herren der Verträge sind und einzelne, hinreichend bestimmte, wenn auch weitreichende Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen können316. Eine Übertragung der gesamten der Bundesrepublik Deutschland zukommenden Hoheitsgewalt ist nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG nicht möglich, die Kompetenz-Kompetenz muss bei den Mitgliedstaaten verbleiben317. Da Hoheitsrechte auf die Europäische Union durch völkerrechtliche Verträge übertragen werden, ist auf Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG einzugehen. Dieser beinhaltet, dass Verträge, welche die politischen Beziehungen des Bundes regeln oder sich auf Gegenstände der Bundesgesetzgebung beziehen, der Zustimmung oder der Mitwirkung der jeweils für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften in Form eines Bundesgesetzes bedürfen. Fraglich ist, in welchem Verhältnis Art. 59 Abs. 2 GG zu Art. 23 Abs. 1 GG steht. Einige Vertreter in der Lehre sehen Art. 23 Abs. 1 GG bzw. Art. 24 Abs. 1 GG im Verhältnis zu Art. 59 Abs. 2 GG als leges specialis und damit als abschließend an318. Diese Ansicht hat zur Folge, dass lediglich ein Bundesgesetz gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Euro­päische Union erforderlich ist.

313

Classen, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 23 GG Rd. 1; Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 24 GG Rd. 2. 314 Classen, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 24 GG Rd. 5; Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 17; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 56. 315 Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 56. 316 BVerfGE 123, 267 (347 ff.) – Lissabon. 317 BVerfGE 58, 1 (37); 89, 155, (187 f.; 192, 199); 104, 151 (210); 123, 267 (349 ff.); Classen, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 23 GG Rd. 10 und Art. 24 GG Rd. 9. 318 Pernice, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23 GG Rd. 17, 121.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Die besseren Gründe sprechen zwar gegen diese Ansicht. Denn die unionsrechtlichen Gründungs- und Änderungsverträge werden nach wie vor als völkerrechtliche Verträge zwischen den Mitgliedstaaten geschlossen319, was sowohl ein Vertragsgesetz i. S. d. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erfordert als auch ein Integrations- bzw. Zustimmungsgesetz gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. Allein durch ein Bundesgesetz gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG können Hoheitsrechte nicht übertragen werden. Vielmehr bedarf es als ersten Schritt eines völkerrechtlichen Vertrages zwischen den Mitgliedstaaten, der aber gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG die politischen Beziehungen des Bundes regelt und aus diesem Grund ein Vertragsgesetz gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erfordert320. Da in der Praxis der Bundesgesetzgeber jedoch lediglich ein Gesetz beschließt, dass sowohl Vertragsgesetz gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG als auch Integrations- bzw. Zustimmungsgesetz gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG ist321 und dem Bundesgesetz damit eine Doppelfunktion zukommt322, kann der Streit nach dem Verhältnis von Art. 59 Abs. 2 GG zu Art. 23 Abs. 1 GG für die in dieser Arbeit zu untersuchende Frage offen bleiben. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält das deutsche Zustimmungsgesetz zu dem völkerrechtlichen Vertrag den Rechtsanwendungs­ befehl für das Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland323. Den Hoheitsakten der Europäischen Union kommt in der nationalen Rechtsordnung durch das Zustimmungsgesetz unmittelbare Geltung zu. Der folgenden Untersuchung zur Ermittlung von vorlagepflichtigen Konstellationen soll die Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts zugrunde gelegt werden. Da im Rahmen einer bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle ggf. auch das formell ordnungsgemäße Zustandekommen des Zustimmungsgesetzes überprüft werden kann, ist zunächst auf die formellen Voraussetzungen für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union einzugehen.

319 Butzer/Haas, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 59 GG Rd. 14; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 62. 320 Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 62 f. 321 Butzer/Haas, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 59 GG Rd. 14. 322 Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 63. 323 Siehe oben: Geltung des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung, B. I.1., S. 21 (22 Fn. 36). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union enthält der völkerrechtliche Vertrag selbst den Geltungsgrund für das Unionsrecht in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (siehe oben: Geltung des Unionsrechts in der nationalen Rechtsordnung, B. I.1., S. 21 (Fn 35).

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

aa) Formelle Voraussetzungen für die Übertragung von Hoheitsrechten Eine Übertragung von Hoheitsrechten ist nicht schrankenlos möglich. Gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG gilt für die Begründung der Europäischen Union sowie für die Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen und vergleichbarer Regelungen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, Art. 79 Abs. 2 und Abs. 3 GG. Art. 79 Abs. 2 GG schreibt fest, dass ein solches Gesetz der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates bedarf. Fraglich ist, ob jede Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union durch Bundesgesetz, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit des Art. 79 Abs. 2 GG erfordert. Im Schrifttum ist das Verhältnis von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zu Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG umstritten324. Nach allgemeiner, zustimmungswürdiger Ansicht stellt jede Übertragung von Hoheitsrechten durch ein deutsches Gesetz eine Änderung der grundgesetzlichen Zuständigkeiten dar und kommt somit materiell einer Verfassungsänderung gleich325, die der Zweidrittelmehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG bedarf. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass dann der Anwendungsbereich des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG leer liefe und eine Übertragung von Hoheitsrechten durch einfaches Gesetz nicht mehr in Betracht käme326. Aus diesem Grund schlagen einige wegen der Integrationsoffenheit des Grundgesetzes eine restriktive Handhabung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG vor und wollen zwischen einer Übertragung von Hoheitsrechten mit der materiellen Qualität einer Verfassungsänderung und einer solchen ohne unterscheiden327. Nur diejenigen Akte, die über die Übertragung hinaus materiell Verfassungsinhalte betreffen, sollen nach dieser Ansicht der verfassungsändernden Mehrheit des Art. 23 Abs. 1

324 Classen, in Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Vorauflage 5. Aufl. 2005, Art. 23 GG Rd. 19; Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 23; Pernice, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23 GG Rd. 89 f.; Scholz, in: Maunz/ Dürig, GG, Bd. IV, 56. EL Stand Oktober 2009, Art. 23 GG Rd. 118; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 71 ff. 325 Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, 417 (423); Classen, in Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Vorauflage 5. Aufl. 2005, Art. 23 Rd. 19; Herdegen, Die Belastbarkeit des Verfassungsgefüges auf dem Weg zur Europäischen Union, EuGRZ 1992, 589 (592); Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 23; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 72. 326 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. IV, 56. EL Stand Oktober 2009, Art. 23 GG Rd. 118. 327 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. IV, 56. EL Stand Oktober 2009, Art. 23 GG Rd. 118.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG unterliegen328. Gegen eine solche Interpretation des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG spricht aber, dass eine derartige Unterscheidung nach einer Übertragung von Hoheitsrechten mit der materiellen Qualität einer Verfassungsänderung und einer solchen ohne schwer praktikabel sein wird und eine hinreichende Bestimmtheit vermissen lässt329. Andere gehen zwar mit der herrschenden Meinung grundsätzlich von dem Erfordernis der Zweidrittelmehrheit bei jeder Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union aus, wollen davon aber unerhebliche, die Geschäftsgrundlage der Verträge nicht berührende Änderungen ausnehmen330. Wiederum andere erachten den Anwendungsbereich des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nur bei Verlagerung von im Grundgesetz ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen (Art. 88 GG), bei der inhaltlichen Modifikation von Rechten und Regelungen (Art. 16 a, Art. 19 Abs. 3 GG) oder bei Berührung von Grundsätzen der Verfassung (etwa Art. 20 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG) als gegeben331. Bei lediglich mittelbaren Auswirkungen eines Integrationsgesetzes auf das Grundgesetz solle ein einfaches Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zur Übertragung von Hoheitsrechten ausreichend sein332. Diesen Ansätzen kann nicht zugestimmt werden. Denn zum einen ergeben sich auch hier wieder Abgrenzungsschwierigkeiten, wann unerhebliche, die Geschäftsgrundlage der Verträge nicht berührende Änderungen vorliegen. Zum anderen ist die genaue Ausgestaltung der unionsrechtlichen Vorschriften, die aufgrund der übertragenen Hoheitsrechte durch die Organe der Europäischen Union erlassen werden, zum Zeitpunkt der Abstimmung über das die Hoheitsrechte übertragende deutsche Gesetz nicht vorhersehbar333. Die Möglichkeit einer Grundgesetzänderung durch eine entsprechende Handhabung der übertragenen Kompetenzen durch die europäischen Organe besteht folglich bei jedem Übertragungsakt. Daher muss auch jeder Übertragungsakt den Anforderungen der Verfassungsänderung genügen. Für die herrschende Meinung, jede Übertragung von Hoheitsrechten der Zweidrittelmehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG zu unterwerfen, spricht die Rechtsklarheit und -sicherheit, die diese Lösung bietet. Probleme der Abgrenzung, die auftreten, wenn man nach dem materiellen Gehalt der Verfassungsänderung unterscheiden will oder unerhebliche, die Geschäftsgrundlage 328

Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. IV, 56. EL Stand Oktober 2009, Art. 23 GG Rd. 118; Scholz, Europäische Union und deutscher Bundesstaat, NVwZ 1993, 817 (821). 329 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 237. 330 Rechtsansicht der Bundesregierung im Rahmen der Verfassungsreform, BT-Drucksache 12/3338, S. 12; Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 23 m. w. N. 331 Pernice, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23 GG Rd. 90. 332 Pernice, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23 GG Rd. 90. 333 Classen, in Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Vorauflage 5. Aufl. 2005, Art. 23 GG Rd. 19.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

der Verträge nicht berührende Änderungen der verfassungsändernden Mehrheit entziehen will, entstehen nicht. Auch die Befürchtung, dass eine Zweidrittelmehrheit für jede Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union integrationshemmend wirken könnte, ist wohl eher fern liegend. Denn erfordert ein Gesetz zwei Drittel der Stimmen der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates, besteht die Notwendigkeit, Mehrheiten zu bilden, was Anlass für eine aktive Diskussion in den gesetzgebenden Körperschaften und der Öffentlichkeit bietet. Dieser Prozess kann integrationsfördernd sein und zu einer breiteren Akzeptanz des europarechtlichen Vertrages, dem die Zustimmung erteilt werden soll, in der Bundesrepublik Deutschland führen. Im Ergebnis bedarf somit jedes Gesetz zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 2 GG. bb) Materielle Anforderungen an die Übertragung von Hoheitsrechten Auch in materieller Hinsicht ist die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union nicht unbegrenzt möglich, sondern unterliegt den in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG normierten verfassungsrechtlichen Grenzen334. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG enthält bestimmte Strukturmerkmale, denen die Europäische Union als Adressat der Übertragung von Hoheitsrechten genügen muss335. Die Übertragung von Hoheitsrechten ist nur statthaft, wenn die Europäische Union demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen genügt, dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen dem deutschen Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet336. Zwar ist die Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG in Anlehnung an Art. 79 Abs. 3 GG formuliert, bei der Interpretation dieser Norm können jedoch nicht die zu Art. 79 Abs. 3 GG anerkannten Aussagen einfach übertragen werden337. Vielmehr ist Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG in einem europäischen Sinn aus 334 Vor der Einführung des Art. 23 Abs. 1 GG n. F. war bei der Integrationsermächtigung des Art. 24 Abs. 1 GG umstritten, ob und ggf. welchen Schranken der Integrationsgesetzgeber bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf eine zwischenstaatliche Einrichtung unterworfen ist. Siehe zu den verschiedenen Ansätzen: Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. IV, 30. EL Stand Dezember 1992, Art. 24 Abs. 1 GG Rd. 68 ff. 335 Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 29. 336 Zur näheren Ausgestaltung dieser Prinzipien siehe: Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 9 ff; Pernice, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art.  23 GG Rd. 52 ff.; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art.  23 GG Rd.  20 ff.; Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 23 GG Rd.  14 ff. 337 Classen, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 23 GG Rd. 16.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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zulegen. Denn die Europäische Union setzt sich aus Mitgliedstaaten zusammen, die unterschiedliche Verfassungstraditionen und Interpretationen der genannten Prinzipien aufweisen338. Neben der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG schreibt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG vor, dass die Identität der geltenden Verfassung im Zuge der europäischen Integration als absolute Schranke des Grundgesetzes gewahrt sein muss339. Gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG gilt für die Begründung der Europäischen Union sowie für die Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen, durch die das Grundgesetz geändert oder ergänzt wird, neben Art. 79 Abs. 2 GG auch Art. 79 Abs. 3 GG. Diese verfassungsrechtliche Vorschrift bestimmt unter anderem, dass eine Änderung des Grundgesetzes, durch die die in Art. 1 GG und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig ist. Im Unterschied zu Art. 23 Abs. 1 Abs. 1 Satz 1 GG, der verfassungsrechtliche Vorgaben an den Adressaten der Übertragung festschreibt, bestimmt Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG die absoluten Schranken dessen, was übertragen werden darf, in Bezug auf den Übertragungsgegenstand340. So ist über Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG neben der deutschen Rechtsstaatlichkeit, der deutschen Sozialstaatlichkeit und der Bundesstaatlichkeit die deutsche Demokratie als unantastbares Verfassungsprinzip geschützt341. Eine Beeinträchtigung dieses Prinzips durch die Europäische Integration droht etwa, wenn zunehmend Hoheitsrechte übertragen werden und für den Deutschen Bundestag keine Aufgabenfelder von eigenständigem Gewicht verbleiben und damit ein Bedeutungsverlust des Parlaments einhergeht342. Die Schranken der Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG stellen den relevanten Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Verfassungsmäßigkeitskontrolle des Zustimmungsgesetzes dar343. 338

Classen, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 23 GG Rd. 16; Pernice, in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23 GG Rd. 51. 339 BVerfGE 89, 155 (179); 123, 267 (348, 354 f.); Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 29. 340 Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 92. 341 Hillgruber, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 29. 342 BVerfGE 89, 155 (186) – Maastricht; Classen, in Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 23 GG Rd. 28. 343 BVerfGE 123, 267 (349 ff.) – Lissabon; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 88; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 24 ff.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 975; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 365a; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 GG Rd. 98; Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 36. Siehe zum Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Kontrolle des Zustimmungsgesetzes sogleich unten: Prüfungsmaßstab, D.IV.1.d), S. 98 ff.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

b) Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Nachdem die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union erläutert wurden, ist zur Ermittlung von vorlagepflichtigen Konstellationen zu erörtern, wann das Bundesverfassungsgericht eine Überprüfung des Zustimmungsgesetzes durchführen kann. aa) Kontrolle vor Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes In Betracht kommt eine präventive Kontrolle des Zustimmungsgesetzes mit dem Ziel, das Gesetz vor Inkrafttreten gem. § 78 Satz 1 BVerfGG bzw. § 95 Abs. 3 Satz 1 BVerfGG für nichtig zu erklären und damit zu verhindern, dass es bei Wirksamwerden dem Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland den Rechtsanwendungsbefehl erteilt und zur unmittelbaren Anwendbarkeit der unionsrechtlichen Bestimmungen führt344. Um ein Auseinanderfallen von völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Verpflichtungen zu vermeiden, ist eine Überprüfung des Zustimmungsgesetzes nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens in Bundestag und Bundesrat, aber bereits vor Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes, zulässig345. Bei einer Kontrolle des Zustimmungsgesetzes vor Inkrafttreten und damit auch vor Wirksamwerden des unionsrechtlichen Vertrages346 besitzt der Gerichtshof der Europäischen Union aber (noch) keine Kompetenz zur Auslegung des noch nicht wirksamen Unionsvertrages i. S. d. Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV. Die Kompetenz zur Auslegung des deutschen Zustimmungsgesetzes und darüber mittelbar über den völkerrechtlichen Vertrag selbst liegt vielmehr zu diesem Zeitpunkt (noch) ausschließlich bei den Mitgliedstaaten und deren Gerichten347. Entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung der primärvertraglichen Bestimmungen, denen die Zustimmung mit dem Vertragsgesetz erteilt werden sollen, begründen mithin zu diesem Zeitpunkt keine Vorlageverpflichtung des Bundesverfassungsgerichts. bb) Kontrolle nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes Möglich wäre darüber hinaus eine Überprüfung des Zustimmungsgesetzes nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes und des Unionsvertrages. In dieser Kategorie sind zwei Fälle zu unterscheiden. In der ersten Konstellation hat eine 344

So etwa bei BVerfGE 89, 155 – Maastricht und BVerfGE 123, 267 – Lissabon. BVerfGE 1, 396 (413); 2, 143 (169); 24, 33 (54); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 544; Streinz, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 59 GG Rd. 74. 346 Zum Zeitpunkt der innerstaatlichen Anwendung des völkerrechtlichen Vertrages siehe: Butzer/Haas, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 59 GG Rd. 115. 347 Kempen/Hillgruber, Völkerrecht, 2007, § 12 Rd. 62. 345

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Überprüfung des Zustimmungsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht vor Inkrafttreten nicht stattgefunden, so dass das Zustimmungsgesetz nach Inkraft­ treten erstmalig Kontrollgegenstand eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens ist. In diesem Fall ist eine Überprüfung des Zustimmungsgesetzes unter Beachtung der Zulässigkeitsvoraussetzungen in allen in Betracht kommenden Verfahrens­ arten möglich und dem Bundesverfassungsgericht könnten sich die noch näher herauszuarbeitenden, entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung bzw. Gültigkeit der Normen des Unionsrechts stellen348. Hat das Bundesverfassungsgericht hingegen – wie in der Regel üblich – das Zustimmungsgesetz vor Inkrafttreten einer präventiven Verfassungsmäßigkeitskontrolle unterzogen und eine verfassungskonforme Auslegung der Bestimmungen des Primärvertrages vorgenommen, ist fraglich, ob es zu einem späteren Zeitpunkt nach Inkrafttreten erneut über dessen Verfassungsmäßigkeit entscheiden kann oder ob dem die materielle Rechts- bzw. Gesetzeskraft der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgericht i. S. d. § 31 Abs. 2 BVerfGG entgegensteht. Grundsätzlich ist eine erneute Überprüfung einer Norm, die im Tenor einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für mit dem Grundgesetz vereinbar (bzw. unvereinbar) erklärt worden ist, unzulässig. Denn die Rechtskraft der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt eine ungeschriebene negative Sachentscheidungsvoraussetzung dar349 und führt zur Unzulässigkeit einer erneuten verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Die materielle Rechtskraft der Entscheidung findet jedoch dann ihre Grenzen, wenn sich der Verfahrensgegenstand oder die tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse geändert haben350. Der Verfahrensgegenstand wird durch den verfahrenseinleitenden Antrag und den der Entscheidung zugrunde liegenden Lebenssachverhalt bestimmt351. Möglicherweise könnte aufgrund unterschiedlicher Prüfungsmaßstäbe die Rechtskraft der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einer erneuten Entscheidung nicht entgegenstehen, wenn die erste Entscheidung beispielsweise in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren ergangen wäre und in einem zweiten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eine abstrakte Normenkontrolle anhängig gemacht werden würde. So sind die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts über den Vertrag über die Europäische Union352 und den Lissabonvertrag353 unter anderem anläss 348

Siehe unten: Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG, D.IV.1.e), S. 101 ff. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1423; Bethge, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 29. EL Stand Oktober 2008, § 31 BVerfGG Rd. 43. 350 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1426 ff.; Heusch, in: Umbach/ Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 31 BVerfGG Rd. 49. 351 Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 31 BVerfGG Rd. 43. 352 BVerfGE 89, 155 – Maastricht. 353 BVerfGE 123, 267 – Lissabon. 349

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

lich einer Verfassungsbeschwerde vor Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes und des Unionsvertrages ergangen. In diesem Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht geprüft, ob Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als grundrechtsgleiches Recht i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG durch das Zustimmungsgesetz zu dem Unionsvertrag verletzt ist354. Würde nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes und des Unionsvertrages ein Antrag auf Durchführung einer abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 13 Nr. 6, § 76 BVerfGG gestellt werden, wären der Prüfungsmaßstab bei der abstrakten Normenkontrolle nicht nur die als verletzt gerügten verfassungsbeschwerdefähigen Rechte des Beschwerdeführers, sondern es würde eine umfassende Kontrolle am Maßstab der Verfassung, allerdings wiederum modifiziert355, stattfinden. Gegen eine solche Sichtweise spricht aber, dass das Bundesverfassungsgericht, sofern die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, dass Zustimmungsgesetz nicht nur am Maßstab der als verletzt gerügten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte, sondern umfassend am Maßstab der Verfassung prüft356. Dies ist jedoch genau derselbe Prüfungsmaßstab, den das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Begründetheitsprüfung bei der abstrakten Normenkontrolle heranzieht. Aufgrund der identischen Prüfungsmaßstäbe bei der Verfassungsbeschwerde und der abstrakten Normenkontrolle liegen in diesem Beispiel keine unterschiedlichen Verfahrensgegenstände vor, so dass die Rechtskraft der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Zulässigkeit einer erneuten Prüfung des Zustimmungs­ gesetzes im Wege stehen würde. Denkbar wäre aber, dass sich nach Ergehen der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes neue rechtliche Verhältnisse ergeben, die eine erneute Prüfung des Zustimmungsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht ermöglichen. Da das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung des Zustimmungsgesetzes vor Inkrafttreten die Auslegung des Zustimmungsgesetzes und darüber mittelbar die Auslegung des Unionsvertrages selbst vornimmt357, könnte sich nach Inkrafttreten des Unionsvertrages eine divergierende Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union entwickeln, die von der vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung der primärvertraglichen Bestimmung vor Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes abweicht. In diesem Fall würden aufgrund einer mög­licherweise kompetenzwidrigen, vom Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes nicht mehr gedeckten Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union neue rechtliche Tatsachen vorliegen, die eine erneute Überprüfung 354 Zur Beschwerdebefugnis siehe sogleich unten: Verfassungsbeschwerde, D.IV.1.c)aa), S.  96 f. 355 Zum Prüfungsmaßstab siehe sogleich unten: Abstrakte Normenkontrolle, D.IV.1.d)bb), S. 101. 356 Siehe unten: Verfassungsbeschwerde, D.IV.1.d)aa), S. 98 Fn. 376. 357 Siehe oben: Kontrolle vor Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes, D.IV.1.b)aa), S. 92.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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des Zustimmungsgesetzes trotz einer bereits ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ermöglichen. Wie beispielhaft gezeigt wurde, sind somit durchaus Situationen denkbar, in denen die Rechtskraft bzw. die Gesetzeskraft einer bereits ergangenen Entscheidung einer erneuten Verfassungsmäßigkeitskontrolle des Zustimmungsgesetzes nicht im Wege steht. cc) Zwischenergebnis Entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung des Unionsvertrages, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV i. V. m. Art. 267 Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union begründen, können sich dem Bundesverfassungsgerichts mithin erst nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes und des Primärvertrages stellen. Das Zustimmungsgesetz kann bei Vorliegen der oben herausgearbeiteten Voraussetzungen neben einer erstmaligen Kontrolle (vor oder) nach Inkrafttreten auch einer erneuten Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zugänglich sein, sofern dem die materielle Rechts- bzw. Gesetzeskraft der ersten Entscheidung des Bundes­ verfassungsgerichts nicht entgegensteht. Bevor gezeigt werden soll, welche entscheidungserheblichen Fragen eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV bei Kontrolle des Zustimmungsgesetzes nach Inkrafttreten bei erstmaliger oder erneuter Überprüfung begründen könnten, ist zunächst auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen und den Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Verfassungsbeschwerde und der abstrakten Normenkontrolle einzugehen. c) Zulässigkeitsvoraussetzungen aa) Verfassungsbeschwerde Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 Abs. 1 BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt. Das Zustimmungsgesetz, nicht hingegen der völkerrechtliche Vertrag, ist als Akt der Legislative tauglicher Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde358. Dabei bildet das Zustimmungsgesetz gleichwohl lediglich formal den Prüfungsgegenstand, da es aus sich heraus inhaltsleer ist359. Es bezieht seinen Inhalt vielmehr aus 358

BVerfGE 89, 155 – Maastricht; BVerfGE 123, 267 – Lissabon; Hopfauf, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Grundgesetz, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 177, 179. 359 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 15.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

den von ihm in Bezug genommenen Vorschriften des Unionsvertrages, denen es die Zustimmung erteilt360. So lautet beispielsweise Art. 1 des (deutschen Zustimmungs-)Gesetzes zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union: „Dem in Maastricht am 7. Februar 1992 von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichneten Vertrag über die Europäische Union einschließlich der 17 Protokolle sowie den Erklärungen, wie sie in der Schlussakte vom selben Tag aufgeführt sind, wird zugestimmt.“361

Um beschwerdebefugt zu sein, muss der Beschwerdeführer gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 Abs. 1 BVerfGG behaupten, durch den Akt der öffentlichen Gewalt in Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Nach dem Sachvortrag des Beschwerdeführers muss eine eigene Grundrechtsverletzung als möglich erscheinen und der Beschwerdeführer muss durch den Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein362. Die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung besteht von vornherein nur dann, wenn Grundrechte Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts sind. Wie bei den allgemeinen Voraussetzungen der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union bereits angedeutet363, und wie an späterer Stelle noch weiter auszuführen ist364, prüft das Bundesverfassungsgericht das Zustimmungsgesetz materiell-rechtlich daraufhin, ob sich die mittels des Zustimmungsgesetzes zu dem Gründungs- oder Änderungsvertrag auf die Europäische Union zu übertragenden Hoheitsrechte in den Grenzen der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG halten. Für die Beschwerdebefugnis bedeutet der modifizierte Prüfungsmaßstab, dass der Beschwerdeführer behaupten muss, durch das Zustimmungsgesetz in Grundrechten oder grundrechtgleichen Rechten verletzt zu sein, die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG geschützt sind. Fraglich ist, auf welche verfassungsbeschwerdefähigen Rechte der Beschwerdeführer seine Verfassungsbeschwerde stützen kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Beschwerde­ befugnis gegeben, wenn die Möglichkeit der Verletzung des Wahlrechts gem. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG als grundrechtsgleiches Recht i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG besteht365. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet das subjektive Recht, an der Wahl zum Bundestag teilzunehmen und legitimiert die Ausübung der Staatsgewalt auf Bundesebene366. Verbleiben dem gewählten Staatsorgan keine in hinreichendem Maß bestehenden Aufgaben und 360

Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 15. 361 BGBl. II 1992, 1251. 362 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 336; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 166. 363 Siehe oben: Materielle Anforderungen an die Übertragung, D.IV.1.a)bb), S. 90 f. 364 Siehe unten: Prüfungsmaßstab, D.IV.1.d), S. 98 ff. 365 BVerfGE 89, 155 (171 ff.) – Maastricht; BVerfGE 123, 267 (329 ff.; 340 ff.) – Lissabon. 366 BVerfGE 123, 267 (330) – Lissabon.

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Befugnisse, ist das durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG geschützte Demokratieprinzip verletzt367. Das Demokratieprinzip gehört aber gem. Art. 79 Abs. 3 GG zu den un­antastbaren Prinzipien der Verfassung. Rügt der Beschwerdeführer die Aushöhlung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages durch die Übertragung von Hoheitsrechten als eine Verletzung des Demokratieprinzips, ist zugleich eine Verletzung seines grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG hinreichend substantiiert dargelegt368. Weiter müsste die Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz gem. § 93 Abs. 3 BVerfGG innerhalb eines Jahres seit Inkrafttreten erhoben werden. Aufgrund dieser Jahresfrist ist zwar eine erstmalige Kontrolle des Zustimmungsgesetzes nach Inkrafttreten denkbar369, für eine wiederholte Kontrolle bei Änderung der rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse370 bietet sich die abstrakte Normenkontrolle als fristungebundene verfassungsgerichtliche Verfahrensart an, soweit sie zulässig ist371. Ein Rechtsweg i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG gegen das Zustimmungsgesetz ist nicht eröffnet. Eine Verfassungsbeschwerde gegen das Zustimmungsgesetz nach Inkrafttreten wäre damit unter den herausgearbeiteten Bedingungen zulässig.

367

BVerfGE 123, 267 (330) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (329 f.) – Lissabon. Vgl. zur Kritik an der Maastricht-Entscheidung, dass die für eine Verfassungsbeschwerde erforderliche individuelle Grundrechtsverletzung nicht gegeben sei, weil Art. 79 Abs. 3 GG lediglich objektive Verfassungsprinzipien schütze: Classen, in Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 24 GG Rd. 42 Fn. 194 m. w. N. Vorgeschlagen wird, eine Verfassungsbeschwerde – wenn kein spezielleres Grundrecht einschlägig ist – auf Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG zu stützen mit der Begründung, dass eine die Grenzen der Integrationsgewalt überschreitende Norm nicht zur verfassungs­ mäßigen Ordnung gehöre und damit keine belastenden Maßnahmen rechtfertigen könne (Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, EVR, 2. EL Stand November 1999, Rd. 509; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 22). Wiederum andere leiten aus Art. 20 Abs. 4 GG ein dem Widerstandsrecht vorgelagertes Recht ab, wenn die gem. Art. 79 Abs. 3 GG als unabänderlich festgeschriebenen Verfassungsgrundlagen ganz oder teilweise beseitigt werden. Die Beschwerdebefugnis würde nach dieser Ansicht gem. Art. 20 Abs. 4 GG i. V. m. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG bestehen (siehe dazu die Zitierung der Beschwerdeschrift des Prozessvertreters Murswiek, in: BVerfGE 123, 267 (312 ff.) – Lissabon). Zur Kritik, das Bundesverfassungsgericht erkaufe sich über Art. 38 GG unter Aufgabe der Zulässigkeitsvoraussetzung der Unmittelbarkeit, Selbstbetroffenheit und Gegenwärtigkeit der Verfassungsbeschwerde den Zugriff auf eine Ultra-vires-Kontrolle, was zu einer verfassungsprozessualen Popularklage führe, m. w. N. Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 565. 369 Siehe oben: Kontrolle nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes, D.IV.1.b)bb), S. 92 f. 370 Siehe oben: Kontrolle nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes, D.IV.1.b)bb), S. 92 (94 f.). 371 Siehe sogleich unten: Abstrakte Normenkontrolle, D.IV.1.c)bb), S. 98. 368

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

bb) Abstrakte Normenkontrolle Antragsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle ist gem. Art 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 76 Abs. 1 BVerfGG Bundes- oder Landesrecht. Dies umfasst alle in Geltung gesetzten Bundes- und Landesrechtsnormen, gleich welcher Rangstufe372. Unproblematisch ist das deutsche Zustimmungsgesetz zu europäischem Primärrecht als Bundesrecht i. S. v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 13 Nr. 6, § 76 BVerfGG tauglicher Antragsgegenstand einer abstrakten Normenkontrolle373. Wie bei der Verfassungsbeschwerde bildet das Zustimmungsgesetz lediglich formal den Antragsgegenstand und erfährt seinen konkreten Inhalt erst aus den Vorschriften des völkerrechtlichen Vertrages, dem es die Zustimmung erteilt374. Im Gegensatz zu der Verfassungsbeschwerde erfordert die abstrakte Normenkontrolle jedoch keine Beschwerdebefugnis einer natürlichen oder juristischen Person, sondern es sind nur die in Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG Genannten – die Bundesregierung, die Landesregierungen und ein Viertel der Mitglieder des Bundestages – antragsberechtigt. Darüber hinaus müsste der Antragsteller für das objektive Klarstellungsinteresse die Nichtigkeit bzw. die Unanwendbarkeit bestimmter Normen des Unionsvertrages, auf den das Zustimmungsgesetz Bezug nimmt, geltend machen375. d) Prüfungsmaßstab aa) Verfassungsbeschwerde Ist die Verfassungsbeschwerde zulässig, prüft das Bundesverfassungsgericht den Akt öffentlicher Gewalt nicht nur am Maßstab der als verletzt gerügten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte, sondern umfassend am Maßstab der formellen und materiellen Normen des Grundgesetzes376. Diese umfassende Verfassungsbindung erfährt Modifikationen377, wenn es um die Mitwirkung der 372

Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 502. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 100; Löwer, Zuständigkeiten und Verfahren des Bundesverfassungsgerichts, in: Isensee/ Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 70 Rd. 64; Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 24; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989, S. 157 f.; Sturm, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 55. 374 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 15; vgl. oben: Verfassungsbeschwerde, D.IV.1.c)aa), S. 95 f. 375 Zum objektiven Klarstellungsinteresse als Antragsgrund im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle siehe unten: Zulässigkeitsvoraussetzungen, D.IV.2.b)aa), S. 114 (115). 376 BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 174; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd.  198 m. w. N. 377 Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 365. 373

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Bundesrepublik Deutschland an der Europäischen Union geht. Die Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG gestattet eine Relativierung verfassungsrechtlicher Prinzipien und befreit den Integrationsgesetzgeber von seiner strikten Verfassungsbindung378. Zur Begründung der eingeschränkten Kontrolle führt das Bundesverfassungsgericht in dem Solange II-Beschluss379 aus: „Die Ermächtigung [zur Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen] auf Grund des Art. 24 Abs. 1 GG [jetzt Art. 23 Abs. 1 GG] ist indessen nicht ohne verfassungsrechtliche Grenzen. Die Vorschrift ermächtigt nicht dazu, im Wege der Einräumung von Hoheitsrechten für zwischenstaatliche Einrichtungen die Identität der geltenden Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in ihr Grundgefüge, in die sie konstituierenden Strukturen, aufzugeben …. Ein unverzichtbares, zum Grund­ gefüge der geltenden Verfassung gehörendes Essential sind jedenfalls die Rechtsprinzipien, die dem Grundrechtsteil des Grundgesetzes zugrunde liegen …. Art. 24 Abs. 1 GG [jetzt Art. 23 Abs. 1 GG] gestattet nicht vorbehaltlos, diese Rechtsprinzipien zu relativieren. Sofern und soweit mithin einer zwischenstaatlichen Einrichtung im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG [jetzt Art. 23 Abs. 1 GG] Hoheitsgewalt eingeräumt wird, die im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist, muss, wenn damit der nach Maßgabe des Grundgesetz bestehende Rechtsschutz entfallen soll, statt dessen eine Grundrechtsgeltung gewährleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommt.“380

Das Bundesverfassungsgericht stellt an späterer Stelle fest, dass das vom Gerichts­hof der Europäischen Union praktizierte Rechtsschutzsystem diesen Anforderungen entspricht381. Werden Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen, ist der Gesetzgeber somit aufgrund des durch den Gerichtshof der Europäischen Union gewährleisteten Grundrechtsschutzes von seiner grundsätzlich gem. Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG bestehenden umfassenden Verfassungsbindung befreit382. Die Schranken der Übertragbarkeit von Hoheitsrechten auf die Europäische Union stellen Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und Art. 23 Abs. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG (sog. Identitätskontrolle383) dar384. Diese verfassungsrechtlichen Schranken für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union bil-

378 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 24. 379 BVerfGE 73, 339 – Solange II. 380 BVerfGE 73, 339 (375 f.) – Solange II. 381 BVerfGE 73, 339 (383 ff.) – Solange II. 382 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 24; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 365 f. 383 BVerfGE 123, 267 (353) – Lissabon; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. IV, 56. EL Stand Oktober 2009, Art. 23 GG Rd. 40. 384 Siehe oben: Materielle Anforderungen an die Übertragung von Hoheitsrechten, D.IV.1.a) bb), S. 90 ff.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

den den relevanten Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der materiell-rechtlichen Kontrolle des deutschen Zustimmungsgesetzes385. Darüber hinaus kommt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Hinblick auf die Anwendung des Europäischen Vertrages eine­ Ultra-vires-Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts in Betracht, soweit geltend gemacht wird, dass die europäischen Organe die Vertragsvorschriften in einer Weise auslegen und anwenden, die nicht (mehr) vom Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes gedeckt ist386. Zu einer derartigen Prüfung würde das Bundesverfassungsgericht nach seiner eigenen Rechtsprechung jedoch nur gelangen, wenn „ersichtlich ist, dass Handlungen der europäischen Organe und Einrichtungen außerhalb der übertragenen Kompetenzen ergangen sind (vgl. BVerfGE 123, 267 [353, 400]). Ersichtlich ist ein Verstoß gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nur dann, wenn die europäischen Organe und Einrichtungen die Grenzen ihrer Kompetenzen in einer das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung spezifisch verletzenden Art überschritten haben (Art. 23 Abs. 1 GG), der Kompetenzverstoß mit anderen Worten hinreichend qualifiziert ist (…). Dies bedeutet, dass das kompetenzwidrige Handeln der Unionsgewalt offensichtlich ist und der angegriffene Akt im Kompetenzgefüge zwischen Mitgliedstaaten und Union im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und die rechtsstaatliche Gesetzesbindung erheblich ins Gewicht fällt …“387

Bei der Ultra-vires-Kontrolle handelt es sich, angeknüpft an das Zustimmungsgesetz als Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts, rechtstechnisch um eine Frage der Auslegung des Primärrechts388. Überprüft wird, ob euro­päische Organe primärrechtliche Vorschriften in einer Weise auslegen und anwenden, in der sie nicht mehr vom Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes gedeckt sind. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können sowohl die Ultra-vires- als auch die Identitätskontrolle dazu führen, dass (primäres) Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland für unanwendbar erklärt wird389. Ausschließlich zuständig für eine Ultra-vires-Feststellung bzw. die Feststellung der Verletzung der Verfassungsidentität der Bundesrepublik Deutschland ist das Bundesverfassungsgericht390. Ultra-vires-Kontrolle und Identitätskontrolle sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in allen verfassungsprozessualen Verfahren möglich391, mithin auch bei einer in zulässiger Weise erfolgenden 385

Siehe oben: Materielle Anforderungen an die Übertragung von Hoheitsrechten, D.IV.1.a) bb), S. 90 (91 Fn. 343). 386 BVerfGE 89, 155 (188, 210) – Maastricht; BVerfGE 123, 267 (353 ff.) – Lissabon; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 361. 387 BVerfGE 126, 286 (304 f.) – Honeywell. 388 Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, S. 180. 389 BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon 390 BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon; BVerfGE 126, 286 (304) – Honeywell. 391 BVerfGE 123, 267 (354 f.) – Lissabon.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Überprüfung des Zustimmungsgesetzes im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde und einer abstrakten Normenkontrolle. bb) Abstrakte Normenkontrolle Bei der abstrakten Normenkontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht nicht wie bei der Verfassungsbeschwerde am Maßstab der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte, deren Verletzung der Beschwerdeführer rügt, sondern es misst auf Antrag der gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG Antragsberechtigten Bundesrecht am Maßstab des Grundgesetzes und Landesrecht am Maßstab des Grundgesetzes oder des sonstigen Bundesrechts, vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 BVerfGG392. Allerdings erfährt dieser grundsätzliche Prüfungsmaßstab der abstrakten Normenkontrolle bei der Kontrolle des deutschen Zustimmungsgesetzes wie bei der Verfassungsbeschwerde auch eine Verengung393. Denn die Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG gestattet eine Relativierung grundrechtlicher Gewährleistungen und verfassungsrechtlicher Prinzipien und befreit den Integrationsgeber von seiner strikten Verfassungsbindung394. Das Zustimmungsgesetz zu dem Gründungs- oder Änderungsvertrag ist auch bei einer abstrakten Normenkontrolle vom Bundesverfassungsgericht auf ein formell ordnungsgemäßes Zustandekommen unter Einhaltung von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG hin zu kontrollieren. Materiell-rechtlich prüft das Bundesverfassungsgericht eingeschränkt, ob die Europäische Union als Adressat der Übertragung von Hoheitsrechten den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG entspricht und ob sich die übertragenen Hoheitsrechte in den Grenzen des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG halten. e) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG Ist die Verfassungsbeschwerde bzw. die abstrakte Normenkontrolle zulässig, prüft das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des deutschen Zustimmungsgesetzes eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 1 und Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG. Wie bereits herausgearbeitet wurde395, können sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung primärvertraglicher Bestimmungen des Unionsrechts, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, 392 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 107. 393 Vgl. oben: Verfassungsbeschwerde, D.IV.1.d)aa), S. 98 ff. 394 Rengeling/Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 24; siehe oben: Verfassungsbeschwerde, D.IV.1.d)aa), S. 98 f. 395 Siehe oben: Zeitpunkt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, D.IV.1.b), S. 92 ff.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

erst nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes stellen. Da in der Regel eine verfassungsgerichtliche Kontrolle des Zustimmungsgesetzes vor Inkrafttreten erfolgt, ist zunächst zu untersuchen, ob und ggf. welche entscheidungserheblichen Fragen sich dem Bundesverfassungsgericht bei einer in verfassungsprozessual zulässiger Weise erfolgten erneuten Prüfung des Zustimmungsgesetzes stellen könnten, bevor erörtert wird, welche entscheidungserheblichen Fragen sich dem Bundesverfassungsgericht bei einer erstmaligen Kontrolle des Zustimmungsgesetzes nach Inkrafttreten stellen könnten. aa) Erneute Prüfung des Zustimmungsgesetzes Hat das Bundesverfassungsgericht das Zustimmungsgesetz und darüber mittelbar den Primärrechtsvertrag anlässlich einer Entscheidung vor Inkrafttreten des Primärvertrages in einer bestimmten, verfassungskonformen Weise ausgelegt, ist fraglich, ob sich dem Bundesverfassungsgericht bei einer erneuten verfassungs­ gerichtlichen Prüfung nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung des primären Unionsrechts stellen könnten. Zu einer derartigen Prüfung würde das Bundesverfassungsgericht nach dem bisher Herausgearbeiteten überhaupt nur dann gelangen, wenn die Rechts- bzw. Gesetzeskraft der ersten Entscheidung einer erneuten Prüfung des Zustimmungsgesetzes nicht entgegensteht und ein Kompetenzverstoß der Organe der Europäischen Union offensichtlich und hinreichend qualifiziert ist. Würde das Bundesverfassungsgericht unter diesen Voraussetzungen einen Kompetenzverstoß prüfen, wäre fraglich, ob bei einer Ultra-vires-Kontrolle eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV überhaupt angenommen werden kann. Nach den Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts in der Honeywell-Entscheidung ist vor einer Ultra-vires-Kontrolle „dem Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV die Gelegenheit zur Vertragsauslegung sowie zur Entscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der fraglichen Handlungen zu geben. Solange der Gerichtshof keine Gelegenheit hatte, über die aufgeworfenen unionsrechtlichen Fragen zu entscheiden, darf das Bundesverfassungsgericht für Deutschland keine Unanwendbarkeit des Unionsrechts feststellen (vgl. BVerfGE 123, 267 [353]).“396

In der rechtswissenschaftlichen Literatur finden sich Überlegungen, wonach aus verfassungsrechtlicher Sicht ein Vorabentscheidungsverfahren an den Gerichtshof der Europäischen Union bei einer Kompetenzüberschreitung entbehrlich sei, denn unabhängig von der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union würde das Verfassungsrecht gebieten, dass dem kompetenzwidrigen 396

BVerfGE 126, 286 (304) – Honeywell.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Rechtsakt der Unionsorgane die innerstaatliche Anerkennung versagt werde397. Dies könnte umso mehr gelten, da eine Ultra-vires-Kontrolle nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erst bei einer offensichtlichen Kompetenzüberschreitung der Organe der Europäischen Union zulässig ist. Andere vertreten, dass im Falle einer Ultra-vires-Feststellung eine Vorlagepflicht grundsätzlich bestehe, es sei denn, dass die Fachgerichte eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union eingeholt haben398. Auf die hier zu untersuchenden Konstellation einer Verfassungsbeschwerde bzw. abstrakten Normenkontrolle unmittelbar gegen das Zustimmungsgesetz übertragen, würde eine durch die Fachgerichte eingeholte Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht vorliegen und das Bundesverfassungsgericht wäre mithin zur Vorlage verpflichtet. Wiederum andere differenzieren bei einer Vorlagepflicht zwischen Primär- und Sekundärrechtsakten. Für die Auslegung bzw. Gültigkeitsprüfung von Sekundärrechtsakten sei zunächst der Gerichtshof der Europäischen Union zuständig, so dass prinzipiell im Streitfall für das Bundesverfassungsgericht die Pflicht bestehe, die Frage, ob ein bestimmter Rechtsakt vom Primärrecht gedeckt ist oder sich als ausbrechender Rechtsakt darstellt, dem Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen399. Bei Primärrecht sei das Bundesverfassungsgericht hingegen wegen Verletzung des Art. 23 Abs. 1 GG berechtigt, in voller Eigenständigkeit über die Verfassungskonformität zu entscheiden, insbesondere wenn die Handhabung durch die Orange der Europäischen Union sich als tatsächliche Vertragsänderung oder Vertragserweiterung darstelle400. Bei einer Auslegung primär­vertraglicher Bestimmungen im Vorfeld einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Zustimmungsgesetzes zu dem Primärvertrag durch das Bundesverfassungsgericht würde somit nach dieser Ansicht eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union entfallen. Geht man unter Zugrundelegung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als geltendes Recht i. S. d. § 31 BVerfGG von einer grundsätzlich bestehenden Vorlageverpflichtung des Bundesverfassungsgerichts im Falle einer ­Ultra-vires-Prüfung aus, könnte eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts dennoch entfallen, wenn man die Rechtsprechung des Gerichtshofs der 397 Siehe diese im Ergebnis abgelehnte Überlegung bei: Herdegen, Europarecht, 13. Aufl. 2011, § 10 Rd. 28. 398 Zuck/Lenz, Verfassungsgerichtlicher Rechtsschutz gegen Europa – Prozessuale Möglichkeiten vor den Fachgerichten und dem BVerfG gegen Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft, NJW 1997, 1193 (1200). 399 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. IV, 56. EL Stand Oktober 2009, Art. 23 GG Rd. 41. 400 Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. IV, 56. EL Stand Oktober 2009, Art. 23 GG Rd. 41. Scholz schlägt zur Achtung der Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union vor, das Bundesverfassungsgericht möge vor einer eigenen Entscheidung die streitige Auslegungsfrage dennoch vorlegen (Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. IV, 56. EL Stand Oktober 2009, Art. 23 GG Rd. 41).

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Europäischen Union zur Ausnahme von einer grundsätzlich bestehenden Vorlagepflicht401 auf das Bundesverfassungsgericht überträgt. Keine Vorlagepflicht besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dann, wenn die gestellte Frage bereits Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens gewesen ist, eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union existiert oder die richtige Anwendung des Unionsrechts offenkundig ist402. In dieser Weise könnte auch der letzte Halbsatz im Leitsatz der Honeywell-Entscheidung zu verstehen sein, wonach dem Gerichtshof der Europäischen Union vor der Annahme eines Ultra-vires-Aktes Gelegenheit zur Vertragsauslegung zu ge­ geben ist, soweit er die aufgeworfene Frage noch nicht geklärt hat403. Legt man dieses Verständnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungs­ gerichts dieser Untersuchung zugrunde, würde eine Vorlagepflicht in der hier gebildeten Konstellation entfallen, da bereits eine eindeutige und gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung des primären Unionsrechts vorliegt, denn andernfalls wäre ein Kompetenzverstoß nicht offensichtlich und das Bundesverfassungsgericht würde gar nicht zu einer Ultra-viresKontrolle gelangen. Interpretiert man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedoch dahingehend, dass vor einer Ultra-vires-Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht in jedem Fall, d. h. auch wenn bereits einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung der fraglichen primärvertraglichen Norm existiert, zu erfolgen hat404, müssten die Fragen der Aus­legung des primären Unionsrechts für den vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Verfassungsrechtsstreit zudem entscheidungserheblich sein, damit für das Bundesverfassungsgericht eine Pflicht zur Vorlage dieser Auslegungsfragen an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. Entscheidungserheblich für das verfassungsgerichtliche Verfahren ist eine Auslegungsfrage bezüglich des primären Unionsrechts dann, wenn der Tenor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung bei einer Auslegung des primären Unionsrechts anders ausfällt als bei einer anderen Auslegung405. Dabei könnte sich dem Bundesverfassungsgericht die Frage stellen, in welcher Weise eine bestimmte Norm des unionsrechtlichen Vertrages auszulegen ist, d. h. ob die streitgegenständliche Bestimmung des Primärvertrages in der vom Bun 401

Siehe oben: Ausnahmen von der Vorlagepflicht, B.III.1.e), S. 36 f. EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3429 f. Rd. 14, 16) – C. I. L. F. I. T. Siehe oben: Ausnahmen von der Vorlagepflicht, B.III.1.e), S. 36. 403 BVerfGE 126, 286 [Leitsatz 1. b)] – Honeywell. 404 In der Literatur wird überwiegend angenommen, das Bundesverfassungsgericht müsse generell vor Feststellung eines Ultra-vires-Aktes eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union durchführen, was teils mit der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten gem. Art. 4 Abs. 3 EUV (Herdegen, Europarecht, 13. Aufl. 2011, § 10 Rd. 28) begründet wird. 405 Vgl. oben: Entscheidungserheblichkeit bei dem Vorabentscheidungsverfahren, C.III.3.b), S.  62 f. 402

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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desverfassungsgericht anlässlich der verfassungsgerichtlichen Prüfung des Zustimmungsgesetzes vorgenommenen Auslegung vor Inkrafttreten des Vertrages weiterhin in einer derartigen Art und Weise auslegbar ist. Entscheidungserheblich und damit für das Bundesverfassungsgericht eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründend wäre die Frage nach der Auslegung der primärvertraglichen Norm für den vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Verfassungsrechtsstreit, wenn nach einer Auslegung die primärrechtliche Norm gegen Verfassungsprinzipien des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen würde mit der Folge, dass das Bundesverfassungsgericht die Unanwendbarkeit dieser primärrechtlichen Vorschrift in der Bundesrepublik Deutschland feststellen müsste406, nach einer anderen Auslegung ein Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG hingegen nicht bestehen würde mit der Folge der – weiterhin bestehenden – Anwend­ barkeit der streitgegenständlichen primärrechtlichen Vorschrift in der Bundes­ republik Deutschland. bb) Erstmalige Prüfung des Zustimmungsgesetzes Ist eine verfassungsgerichtliche Kontrolle vor Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes hingegen nicht erfolgt, könnten sich dem Bundesverfassungsgericht im Vorfeld der verfassungsgerichtlichen Prüfung dieselben entscheidungserheblichen Fragen nach einer möglichen verfassungskonformen Auslegung stellen wie bei einer erneuten Prüfung nach Inkrafttreten mit dem einzigen Unterschied, dass das Bundesverfassungsgericht erst nach Inkrafttreten anlässlich der Verfassungsbeschwerde bzw. abstrakten Normenkontrolle die verfassungskonforme Auslegung in Kenntnis einer ggf. abweichenden Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung der primärvertraglichen Bestimmung vornimmt. cc) Zwischenergebnis Nimmt man mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Ultravires-Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts an und wäre keine Ausnahme von einer grundsätzlich bestehenden Vorlagepflicht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union einschlägig, würde eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV i. V. m. Art. 267 Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union bestehen, wenn das Ergebnis der verfassungsgerichtlichen Prüfung im Ausgangsverfahren von der Auslegung des primären Unionsrechts durch den Gerichtshof der Europäischen Union abhängt. 406

Vgl. BVerfGE 123, 267 (354) – Lissabon.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

f) Beispiel Zum besseren Verständnis sollen die oben vorgenommenen Ausführungen auf ein fiktives Beispiel angewendet werden, dass lediglich zeigen soll, wann sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung primärvertraglicher Normen stellen könnten, die eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. So könnte bei einer in verfassungsprozessual zulässiger Weise erfolgten erneuten verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Zustimmungsgesetzes nach dessen Inkrafttreten die Frage auftauchen, ob beispielsweise Art. 311 Abs. 1 AEUV der Europäischen Union die Befugnis einräumt, selbstständig ihre Zuständigkeiten zu begründen und damit eine Kompetenz-Kompetenz der Europäische Union enthält407. Gem. Art. 311 Abs. 1 AEUV stattet sich die Europäische Union mit den erforderlichen Mitteln aus, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik durchführen zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Maastricht-Entscheidung Art. F Abs. 3 EUV a. F. bereits dahingehend verfassungskonform ausgelegt, dass diese Vorschrift die Europäische Union nicht ermächtigt, sich aus eigener Macht die Finanzmittel und sonstigen Handlungsmittel zu verschaffen, die sie zur Erfüllung ihrer Zwecke für erforderlich hält408. In der Lissabon-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht zu Art. 311 Abs. 1 AEUV ausgeführt, dieser sei auch weiterhin als politisch-programmatische Absichtserklärung zu verstehen, die keine Zuständigkeit der Europäischen Union und damit erst recht keine KompetenzKompetenz derselben begründe409. Nach Inkrafttreten des Primärvertrages könnten die Organe der E ­ uropäischen Union von der Vorschrift allerdings in einer Weise Gebrauch machen, dass faktisch eine Kompetenz-Kompetenz begründet wäre. Interpretiert man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dahingehend, dass vor einer ­Ultravires-Feststellung eine erneute Vorlage der für den Verfassungsrechtsstreit entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung der Normen des primärrechtlichen Vertrages nicht erforderlich ist, da eine Ultra-vires-Kontrolle erst bei Vorliegen eines offensichtlichen Kompetenzverstoßes in Betracht kommt und damit die durch den Gerichtshof der Europäischen Union erfolgte Auslegung der Vor-

407 Diese Frage hat sich dem Bundesverfassungsgericht anlässlich der präventiven Kontrolle des Zustimmungsgesetzes in der Lissabon-Entscheidung gestellt (BVerfGE 123, 267 [392 ff.]). Das Bundesverfassungsgericht hat die Vorschriften des Lissaboner Vertrages dahingehend ausgelegt, dass sie dem europäischen Integrationsverband nicht die KompetenzKompetenz verschaffen. Dazu führt es in der Entscheidung aus, dass Art. 311 Abs. 1 AEUV dahingehend verfassungskonform auszulegen sei, dass das in den Vorschriften in Aussicht genommene Integrationsprogramm durch die deutschen Gesetzgebungsorgane noch vorher­ sehbar und bestimmbar sein muss (BVerfGE 123, 267 [392 f.]). 408 BVerfGE 89, 155 (194 ff.) – Maastricht. 409 BVerfGE 123, 267 (393) – Lissabon.

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schrift feststeht410, würde das Bundesverfassungsgericht ohne erneute Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union über die verfassungsrechtliche Frage entscheiden. Geht man hingegen davon aus, dass auch bei einer Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht eine erneute Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union erfolgen muss, müsste die Frage der Auslegung der Vorschrift des primärrechtlichen Vertrages für den vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Verfassungsrechtsstreit entscheidungserheblich sein, damit eine Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. Entscheidungserheblich ist die Vorlagefrage dann, wenn bei einer Auslegung der Tenor der verfassungsgerichtlichen Entscheidung anders ausfällt als bei einer anderen Auslegung411. Dem Bundesverfassungsgericht könnte sich die Frage stellen, ob Art. 311 Abs. 1 AEUV weiterhin verfassungskonform dahingehend auszulegen ist, dass keine Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union begründet wird i. S. d. vom Bundesverfassungsgericht vorgenommenen Auslegung der primärvertraglichen Vorschrift vor Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes und des Primärvertrages. Diese Frage müsste, um eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union zu begründen, für den Verfassungsrechtsstreit entscheidungserheblich sein. Ist Art. 311 Abs. 1 AEUV in einer Weise auszulegen, dass eine Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union besteht, würde staatsrechtlich – neben einem Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG – ein Verstoß gegen das Gebot der hinreichend gesetzlichen Bestimmtheit der eingeräumten Hoheitsrechte bestehen, wäre aus diesem Grund mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG nicht zu vereinbaren und in der Bundesrepublik Deutschland nicht anzuwenden. Ist die Norm hingegen (weiterhin) in einer Weise auszulegen, dass eine Kompetenz-Kompetenz der Europäischen Union nicht eingeräumt ist, würde kein Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG bzw. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG bestehen mit der Folge der (weiterhin) bestehenden Anwendbarkeit der Norm in der Bundesrepublik Deutschland. Der Tenor der Entscheidung des Bundesverfassungs­gerichts würde bei einer Auslegung des Art. 311 Abs. 1 AEUV anders ausfallen als bei einer anderen Auslegung, so dass die Frage nach der Auslegung des Art. 311 Abs. 1 AEUV für das vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidende verfassungsgerichtliche Verfahren entscheidungserheblich wäre und eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union bestehen würde. In diesem konstruierten, hypothetischem Beispiel, das lediglich zeigen soll, wann eventuell auftretende Auslegungsfragen primärvertraglicher Bestimmungen entscheidungserheblich sind, ist die Frage nach dem Bestehen einer Kom­pe­ 410

Siehe oben: Erneute Prüfung des Zustimmungsgesetzes, D.IV.1.e)aa), S. 102 (103 f.). Vgl. oben: Entscheidungserheblichkeit bei dem Vorabentscheidungsverfahren, C.III.3.b), S. 62 (62 f.). 411

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tenz-Kompetenz für die Europäische Union entscheidungserheblich für den verfassungsgerichtlichen Rechtsstreit, denn davon hängt die Verfassungsmäßigkeit des Zustimmungsgesetzes ab. g) Resümee Nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes und des Unionsvertrages sind Fragen der Auslegung des primären Unionsrechts mithin entscheidungserheblich, wenn von deren Beantwortung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Ausgangsrechtsstreit, d. h. die Feststellung der Unanwendbarkeit der fraglichen Norm des Primärrechts in der Bundesrepublik Deutschland abhängt, sofern man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ultra-vires-Kontrolle dahin gehend versteht, dass vor Feststellung einer Kompetenzüberschreitung in jedem Fall eine Pflicht zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung primärvertraglicher Vorschriften an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV i. V. m. Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. 2. Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie Vorlagepflichtige Fragen könnten sich dem Bundesverfassungsgericht stellen, wenn Prüfungsgegenstand ein deutsches Umsetzungsgesetz zu einer unionsrechtlichen Richtlinie im Rahmen einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 13 Nr. 8a, § 90 ff. BVerfGG oder einer abstrakten Normenkontrolle gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 13 Nr. 6, § 76 ff. BVerfGG ist. Gem. Art. 288 Abs. 1 AEUV erlassen die Organe der Europäischen Union Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse, sprechen Empfehlungen aus oder geben Stellungnahmen ab. Richtlinien sind gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV hinsichtlich des zu erreichenden Ziels für die Mitgliedstaaten verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und Mittel. Durch die Richtlinie wird der Rechtszustand bestimmt, der von den Mitgliedstaaten innerhalb einer bestimmten Frist herzustellen und beizubehalten ist412. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, den Inhalt der Richtlinie vollständig, hinreichend bestimmt, klar und transparent in nationales Recht umzusetzen413. Eine Pflicht zur Übernahme des Wortlauts der Richtlinie besteht für die Mitgliedstaaten jedoch nicht; der um­ gesetzte Rechtsakt muss aber mit den Vorgaben der unionsrechtlichen Richtlinie

412

Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 20. EL Stand August 2002, Art. 249 EGV Rd. 133; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rd. 76. 413 EuGH Rs. 102/79, Slg. 1980, S. 1473 – Kommission/Belgien.

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übereinstimmen414. Die Bestimmungen der Richtlinie sind von den Mitgliedstaaten in zwingendes und verbindliches Recht umzusetzen. Eine Verwaltungspraxis, welche die Verwaltung beliebig ändern kann und die nur unzureichend bekannt ist, genügt für eine Umsetzung nicht415. Ob in der Bundesrepublik Deutschland dem Bund oder den Bundesländern die Gesetzgebungszuständigkeit zur Umsetzung der Richtlinie in Bundes- bzw. Landesrecht zukommt, richtet sich nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung der Art. 70 ff. GG416. Der nationale Rechtsakt zur Umsetzung der Richtlinie ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union richtlinienkonform gem. Art. 288 AEUV i. V. m. Art. 4 Abs. 3 EUV (Art. 10 EGV a. F.) zu interpretieren417. Bereits vor Ablauf der in der Richtlinie bestimmten Frist zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten entfaltet die Richtlinie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union eine Vorwirkung in der Art und Weise, dass die Mitgliedstaaten dem Ziel der Richtlinie entgegenstehende Vorschriften nicht erlassen dürfen418, was teils aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV enthaltenen Loyalitätsprinzip, teils aus dem völkerrechtlichen Frustrationsverbot abgeleitet wird419. Ist die Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist nicht oder nur teilweise in nationales Recht umgesetzt, entfalten diejenigen Bestimmungen der Richtlinie, die nicht oder nicht vollständig umgesetzt wurden, dann unmittelbare Wirkung, wenn sie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind420 und gehen den Bestimmungen eines entgegenstehenden deutschen Gesetzes in der Anwendung vor421. Für die in dieser Arbeit zu untersuchende Fragestellung der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts sind im Folgenden insbesondere die sich bei der Richtlinienumsetzung durch die Mitgliedstaaten ergebenden Grenzfälle – d. h. ob eine Richtlinie vollständig oder nur teilweise umgesetzt wurde – und die sich daraus

414 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 20. EL Stand August 2002, Art. 249 EGV Rd. 140. 415 EuGH Rs. 102/79, Slg. 1980, S. 1473 – Kommission/Belgien. 416 Degenhart, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 70 GG Rd. 25; Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 53. EL Stand Oktober 2008, Art. 70 GG Rd. 36 f., 31. Siehe dazu unten: Nichtumsetzung einer Richtlinie D.IV.3., S. 122 ff. 417 EuGH Rs. 14/83, Slg. 1984, S. 1891 (Rd. 15) – von Colson und Kamann/Land NordrheinWestfalen. 418 EuGH Rs. C-129/96, Slg. 1997, I-7411 – Inter-Environnement Wallonie ASBL/Région wallonne; EuGH Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Rd. 67) – Mangold; Nettesheim, in: Grabitz/ Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 20. EL Stand August 2002, Art. 249 EGV Rd. 138. 419 Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rd. 83 f. m. w. N. 420 EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, S. 1337 – von Duyn/Home Office; EuGH Rs. 148/78, Slg. 1979, S. 1629 – Ratti; EuGH Rs. 8/81, Slg. 1982, S. 53 – Becker/Finanzamt MünsterInnenstadt. Zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung siehe vertieft: Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 1058 ff.; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rd. 106 ff. 421 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 20. EL Stand August 2002, Art. 249 EGV Rd. 140, 154 ff.

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möglicherweise für das Bundesverfassungsgericht ergebenden, entscheidungs­ erheblichen Fragen der Auslegung der Richtlinie, näher zu beleuchten422. Verordnungen entfalten gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung, sind in all ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Verordnungen bedürfen im Unterschied zu Richtlinien keines Transformationsaktes in nationales Recht und sind in den Mitgliedstaaten mit dem Inkrafttreten anzuwenden423. Trotz der unmittelbaren Wirkung, die die Verordnung in den Mitgliedstaaten entfaltet, besteht für den Unionsgesetzgeber die Möglichkeit, die Mitgliedstaaten zum Erlass von Durchführungsmaßnahmen zu verpflichten424, wobei den nationalen Gesetzgebern bei der Durchführung der Verordnung Ermessensspielräume eingeräumt werden können425. Aus Gründen der besseren Darstellbarkeit sollen mögliche für das Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen, die eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, anhand eines Umsetzungsgesetzes zu einer Richtlinie ermittelt werden. Die Ausführungen gelten jedoch entsprechend, wenn zulässiger Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde oder einer abstrakten Normenkontrolle eine bundes- oder landesgesetzliche Durchführungsvorschrift zu einer unionsrechtlichen Verordnung ist426. In den folgenden Kapiteln ist zwischen normativen Akten zur Umsetzung von Richtlinien bzw. zur Ausführung von Bestimmungen von Verordnungen und den administrativen Vollzugsakten427, d. h. der Anwendung dieser durch die Mitgliedstaaten erlassenen nationalen Vorschriften, zu differenzieren und die verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten im Hinblick darauf zu untersuchen, ob und in welchen Konstellationen diese Umsetzungs-, Ausführungs- und Vollzugsakte Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts sein können und welchen entscheidungserheblichen Fragen sich dem Bundesverfassungsgericht bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit des zugrunde liegenden Sekundärrechtsaktes stellen können. 422

Siehe unten: Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG D.IV.2.c), S. 116 ff. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 20. EL Stand August 2002, Art. 249 EGV Rd. 121. 424 EuGH Rs. C-251/91, Slg. 1992, I-05599 – Roland Teulie; Biervert, in: Schwarze, EUKommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 249 EGV Rd. 20; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 20. EL Stand August 2002, Art. 249 EGV Rd. 121. 425 Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 875 f., 877 ff. 426 Zur abstrakten Normenkontrolle siehe: Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 70 a. E. 427 Vgl. zu den – teils unterschiedlich – verwendeten Terminologien: Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 32 ff., 48 f.;­ Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik, 1987, S. 95. 423

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Bevor mögliche entscheidungserhebliche Fragen, die im Vorfeld der verfassungsrechtlichen Kontrolle des Umsetzungsgesetzes beim Bundesverfassungsgericht auftreten können, herausgearbeitet werden, ist zunächst auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen und den vom Bundesverfassungsgericht anzuwendenden Prüfungsmaßstab in beiden Verfahrensarten einzugehen. Anschließend sind zum besseren Verständnis die zunächst abstrakt vorgenommenen Ausführungen am Ende dieses Kapitels auf ein fiktives Beispiel anzuwenden. a) Verfassungsbeschwerde aa) Zulässigkeitsvoraussetzungen Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 Abs. 1 BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt. Umsetzungsakte zu einer unionsrechtlichen Richtlinie sind, unabhängig davon, ob sie als förmliches Parlamentsgesetz oder als untergesetzliche Rechtsnorm erlassen werden428, taugliche Beschwerdegegenstände einer Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 Abs. 1 BVerfGG429. Um beschwerdebefugt zu sein, muss der Beschwerdeführer gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 Abs. 1 BVerfGG behaupten, durch den Akt der öffentlichen Gewalt in Grundrechten oder grundrechtgleichen Rechten verletzt zu sein. Nach dem Sachvortrag des Beschwerdeführers muss eine eigene Grundrechtsverletzung als möglich erscheinen und der Beschwerdeführer muss durch den Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein430. Ist Beschwerdegegenstand ein deutsches Umsetzungsgesetz zu einer 428 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 37; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 177, 179. 429 Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum findet sich die Überlegung, ein Umsetzungsakt deutscher Staatsorgane zu einer unionsrechtlichen Richtlinie sei nur insoweit tauglicher Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde, als der Umsetzungsakt nicht durch die Richtlinie determiniert sei (Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 214. So wohl auch Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 333). Gegen eine solche Differenzierung spricht jedoch, dass Beschwerdegegenstand einer Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 Abs. 1 BVerfGG nach dem eindeutigen Wortlaut jeder Akt der öffentlichen Gewalt ist und damit jedes Bundes- oder Landesrecht, das zur Umsetzung einer Richtlinie erlassen wird. Die Differenzierung zwischen Umsetzungsakten mit und ohne Umsetzungsspielraum wird vielmehr bei der Frage nach der Beschwerdebefugnis relevant, nämlich dann, ob der Beschwerdeführer eine Verletzung irgendeines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts rügen kann oder nur eines solchen, dass über Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG geschützt wird. 430 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 336; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 166.

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unionsrechtlichen Richtlinie, ist danach zu differenzieren, ob die Richtlinie den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung Gestaltungsspielraum einräumt oder ob der Gesetzgeber zwingende Vorgaben des Unionsrechts in nationales Recht umsetzen muss. Soweit dem deutschen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht Ermessen zukommt, ist dieser gem. Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG umfassend an das Grundgesetz, insbesondere an die Grundrechte, gebunden431. Der Gesetzgeber kann und muss seiner gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV bestehenden unionsrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie in einer verfassungskonformen Weise nachkommen432. Der Beschwerdeführer ist somit bei einem deutschen Gesetz, das eine Richtlinie mit Ermessensspielraum umsetzt, dann beschwerdebefugt, wenn die Möglichkeit der Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. § 90 Abs. 1 BVerfGG besteht. Soweit es sich dagegen um ein Gesetz handelt, das zwingende unionsrechtliche Vorgaben in nationales Recht umsetzt, womit den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie kein Gestaltungsspielraum eingeräumt ist, ist der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts und damit der Kreis der beschwerdefähigen Rechte des Beschwerdeführers zu modifizieren433. Denn in dieser Konstellation kann der Gesetzgeber seiner gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV bestehenden unionsrechtlichen Verpflichtung zur Umsetzung der Richtlinie nur unter Verstoß gegen die gem. Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG bestehende umfassende Bindung an das Grundgesetz nachkommen. Da in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG aber gleichzeitig die verfassungsrechtliche Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union enthalten ist, ist der Gesetzgeber bei unionsrechtlich determinierten Verfassungsverstößen insoweit von seiner Grundgesetzbindung befreit, wie die Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG reicht434. Das Bundesverfassungsgericht prüft bei Umsetzungsgesetzen, die zwingende Vorgaben einer Richtlinie in deutsches Recht umsetzen und bei denen dem Gesetzgeber kein Gestaltungsspielraum zugestanden ist, lediglich, ob 431

Frenz, Handbuch Europarecht, Bd. 5, Wirkungen und Rechtsschutz, 2010, Rd. 3804. Vgl. zur abstrakten Normenkontrolle: Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. El Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 70. 432 Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungs­ gericht, 2005, S. 271 f.; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 47. Zur Grundrechtsbindung des deutschen Gesetzgebers bei der Umsetzung des Rahmen­ beschluss über den Europäischen Haftbefehl gem. Art. 34 EUV a. F. siehe die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Europäischen Haftbefehl: BVerfGE 113, 273. 433 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 44. 434 Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 273; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 45; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 246.

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ein Verstoß gegen die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG enthaltenen Verfassungsprinzipien vorliegt435. Der Beschwerdeführer ist mithin bei einem Umsetzungsgesetz ohne durch die Richtlinie eingeräumtes Ermessen nur dann beschwerdebefugt, wenn er die Verletzung eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts geltend machen kann, das über Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG geschützt wird. Besteht Unklarheit darüber, ob bzw. inwieweit eine Richtlinie den Mitgliedstaaten Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung einräumt bzw. in welchem Umfang ein Ermessen des Gesetzgebers besteht, muss zugunsten des Beschwerdeführers seine Beschwerdebefugnis bereits dann als gegeben angenommen werden, wenn er die Verletzung eines verfassungsbeschwerdefähigen Rechts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG geltend macht. Ob die Richtlinie tatsächlich Ermessen einräumt mit der Folge, dass das Bundesverfassungsgericht das Umsetzungsgesetz umfassend am Maßstab der Verfassung prüft oder bei zwingenden unionsrechtlichen Vorgaben nur eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG, ist dann eine Frage der Begründetheit, die die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht berührt. Der Beschwerdeführer muss auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch den Beschwerdegegenstand betroffen sein. Unmittelbar durch das Gesetz betroffen ist der Beschwerdeführer nur, wenn kein weiterer Vollzugsakt erforderlich ist436. Ergeht ein Vollzugsakt zu dem Gesetz, ist aber der Rechtsweg zu den Fachgerichten eröffnet437, so dass bei Auftreten entscheidungserheblicher Fragen der Gültigkeit oder der Auslegung der Richtlinie spätestens für das letztinstanzliche Fachgericht die Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. Eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich mithin nur dann, wenn der Beschwerdeführer unmittelbar durch das deutsche Umsetzungsgesetz zu der Richtlinie betroffen ist438. 435 BVerfGE 118, 79 (95) – Treibhausgas/Emissionshandel; BVerfGE 121, 1 (15); BVerfG 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 12. Mai 1989 – 2 BvQ 3/89 (NJW 1990, 974); 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 9. Juli 1992 – 2 BvR 1096/92 (DÖV 1992, 1010); 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 9. Januar 2001 – 1 BvR 1036/99 (NJW 2001, 1267 [1268]); BVerfGK 3, 331 (334); Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 680 f.; Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 272 f.; Degenhart, Staatsrecht I, 27. Aufl. 2011, Rd. 255, 259; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 45; Voßkuhle, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 93 GG Rd. 84a, 84c. 436 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 373. 437 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 37. 438 Vgl. Ost, Europarecht vor dem Bundesverfassungsgericht – Verfahrensrechtliche Probleme der Befassung des Bundesverfassungsgerichts mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht, NVwZ 2001, 399 (400).

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Die Verfassungsbeschwerde gegen das Umsetzungsgesetz muss darüber hinaus gem. § 93 Abs. 3 BVerfGG innerhalb eines Jahres seit Inkrafttreten unter Beachtung der gem. § 23 Abs. 1 BVerfGG erforderlichen Schriftform erhoben werden. bb) Prüfungsmaßstab Ist die Verfassungsbeschwerde gegen das Umsetzungsgesetz zulässig, prüft das Bundesverfassungsgericht die beanstandete Maßnahme nicht nur am Maßstab der als verletzt gerügten Grundrechte und grundrechtgleichen Rechte, sondern umfassend am Maßstab der formellen und materiellen Normen der Verfassung439. Denn ein Grundrechtseingriff durch ein Gesetz ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Gesetz seinerseits formell und materiell verfassungsgemäß ist440. Liegt ein Umsetzungsgesetz vor, das zwingende Vorgaben des Unionsrechts umsetzt, erfolgt die Kontrolle eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG. Neben der verfassungsgerichtlichen Kontrolle des Umsetzungsgesetzes mittels einer Verfassungsbeschwerde ist eine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes auf Antrag auch im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle denkbar. Bevor auf mögliche entscheidungserhebliche Fragen des Bundesverfassungsgerichts, die eine Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, eingegangen werden soll, sind zunächst die Zulässigkeitsvoraussetzungen und der vom Bundesverfassungsgericht anzuwendende Prüfungsmaßstab bei der abstrakten Normenkontrolle herauszuarbeiten. b) Abstrakte Normenkontrolle aa) Zulässigkeitsvoraussetzungen Antragsgegenstand einer abstrakten Normenkontrolle ist gem. Art 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 76 Abs. 1 BVerfGG Bundes- oder Landesrecht. Dies umfasst alle in Geltung gesetzten Bundes- und Landesrechtsnormen gleich welcher Rangstufe441 und damit auch untergesetzliche Normen wie Rechtsverordnungen und Satzungen442. Richtlinien müssen gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV durch die Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt werden. Diese Pflicht ergibt sich für die Bundesrepublik Deutschland aus Art. 288 Abs. 3 AEUV. Die Kompetenz zur Um 439 BVerfGE 6, 32 (41) – Elfes; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 174; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 198 m. w. N. Siehe oben: Verfassungsbeschwerde, D.IV.1.d)aa), S. 98. 440 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 468. 441 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 502. 442 BVerfGE 1, 117 (126); 101, 1 (30); 106, 1 (12).

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setzung einer Richtlinie in deutsches Recht bestimmt sich nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung der Art. 70 ff. GG443. Je nachdem, ob der Bund oder die Länder zur Umsetzung nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung zuständig sind, ist das entsprechende bundes- oder landesrechtliche Umsetzungsgesetz tauglicher Antragsgegenstand der abstrakten Normenkontrolle444. Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG i. V. m. § 13 Nr. 6, § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG sind im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle die Bundesregierung, die Landesregierungen und ein Viertel der Mitglieder des Bundestages antragsberechtigt. Weiter ist als Antragsgrund im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle ein objektives Klarstellungsinteresse erforderlich. Gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG ge­ nügen dafür Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel über die förmliche oder sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht. § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG formuliert im Unterschied dazu enger, dass der Antragsteller die Norm für nichtig halten muss. Ob mit der überwiegenden Ansicht in der Literatur von einer Teilnichtigkeit des § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG auszugehen ist, eine verfassungskonforme weite Auslegung des § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG geboten ist oder § 76 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG von der Regelungsermächtigung an den Gesetzgeber in Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG gedeckt ist445, kann dahin gestellt bleiben. Denn der Antragsteller wird bei der Überprüfung eines Umsetzungsaktes zu einer unionsrechtlichen Richt­linie die Nichtigkeit des Umsetzungsaktes vortragen446. bb) Prüfungsmaßstab Liegt dem Bundesverfassungsgericht ein zulässiger Antrag auf Durchführung einer abstrakten Normenkontrolle vor, prüft das Bundesverfassungsgericht Bundesrecht am Maßstab des Grundgesetzes und Landesrecht am Maßstab des Grundgesetzes und des sonstigen Bundesrechts, welches das gesamte höherrangige Bundesrecht umfasst447. Dabei kontrolliert das Bundesverfassungsgericht die Norm grundsätzlich umfassend auf ihre förmliche und sachliche Vereinbarkeit mit dem 443

Siehe oben: Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie, D.IV.2., S. 108 (109 Fn. 416). Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 676, 680 f.; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 39; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 502 m. w. N.; Rozek, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 38, 70. 445 Siehe zum Streitstand: Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 104 m. w. N. 446 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 104. 447 Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 62. 444

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Grundgesetz448. Denn primärer Zweck der abstrakten Normenkontrolle ist es, sicherzustellen, dass das Grundgesetz nicht durch Rechtsnormen des Bundes und der Länder verletzt wird449. Dieser verfassungsgerichtliche Prüfungsmaßstab ist zu modifizieren, wenn zwingende europarechtliche Vorgaben umgesetzt werden müssen450. Ist den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht kein Ermessensspielraum eingeräumt, prüft das Bundesverfassungsgericht eingeschränkt, ob ein Verstoß gegen die Grenzen der Integrationsermächtigung gem. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG durch den Umsetzungsakt vorliegt451. Räumt die Richtlinie den Mitgliedstaaten hingegen Umsetzungsspielraum ein, prüft das Bundesverfassungsgericht den Umsetzungsakt umfassend am Maßstab der Ver­ fassung452. c) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG Im Vorfeld der Verfassungsmäßigkeitsprüfung des Umsetzungsgesetzes prüft das Bundesverfassungsgericht als Vorfrage die Gültigkeit der Richtlinie, die die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Umsetzung in nationales Recht enthält und legt sie aus. Im Rahmen dieser Vorprüfung könnte sowohl bei der Verfassungsbeschwerde als auch im Rahmen der abstrakten Normenkontrolle die Frage auftreten, ob bzw. in welchem Umfang dem nationalen Gesetzgeber durch die Richtlinie Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung eingeräumt ist, was als eine Frage der Auslegung eines Sekundärrechtsaktes im Sinne Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 2 AEUV eine zulässige Vorlagefrage an den Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens ist. Auch wäre denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht die Richtlinie, die die Verpflichtung zur Umsetzung in

448 Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 64; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 526. 449 BVerfGE 1, 184 (195 ff.). 450 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 44 f.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 526a. 451 BVerfGE 118, 79 (95) – Treibhausgas/Emissionshandel; BVerfG 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 12. Mai 1989 – 2 BvQ 3/89 (NJW 1990, 974); 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 9. Juli 1992 – 2 BvR 1096/92 (DÖV 1992, 1010); 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 9. Januar 2001 – 1 BvR 1036/99 (NJW 2001, 1267 [1268]); BVerfGK 3, 331 (334); Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 70. 452 BVerfGE 118, 79 (95) – Treibhausgas/Emissionshandel; BVerfG 2. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 12. Mai 1989 – 2 BvQ 3/89 (NJW 1990, 974); 3. Kammer des Zweiten Senats, Beschluss vom 9. Juli 1992 – 2 BvR 1096/92 (DÖV 1992, 1010); 2. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 9. Januar 2001 – 1 BvR 1036/99 (NJW 2001, 1267 [1268]); BVerfGK 3, 331 (334); Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 70.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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nationales Recht enthält, für ungültig hält, etwa weil nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ein Verstoß gegen höherrangiges Unionsrecht, beispielsweise gegen Unionsgrundrechte oder die unionsrechtliche Kompetenzordnung, vorliegt. Dies ist als eine Frage der Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes ebenfalls eine zulässige Vorlagefrage i. S. d. Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV. Das Bundesverfassungsgericht ist zur Vorlage dieser Fragen des Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union dann verpflichtet, wenn deren Beantwortung für den Ausgangsrechtsstreit, d. h. für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes, entscheidungserheblich ist. Denn den nationalen Gerichten kommt zwar in Art. 267 AEUV die Aufgabe zu, die Auslegung und die Gültigkeit von Sekundärrechtakten zu prüfen, die Kompetenz zur letztverbindlichen Auslegung bzw. zur Feststellung der Ungültigkeit eines Sekundärrechtsaktes453 ist aber gem. Art. 267 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union zugewiesen. aa) Auslegung der Richtlinie Problematisch ist, wann die Frage, ob bzw. in welchem Umfang eine Richt­ linie den Mitgliedstaaten Umsetzungsspielraum belässt, entscheidungserheblich ist. Wird dem Gesetzgeber durch die Richtlinie Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung in nationales Recht eingeräumt, prüft das Bundesverfassungsgericht das Umsetzungsgesetz, soweit Umsetzungsspielraum besteht, umfassend am Maßstab des Grundgesetzes. Ist die Richtlinie hingegen so zu verstehen, dass den Mitgliedstaaten keinerlei Umsetzungsspielraum zuerkannt wird, prüft das Bundesverfassungsgericht das Umsetzungsgesetz eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG. Die Frage nach dem Bestehen bzw. der Reichweite des durch die Richtlinie für die Mitgliedstaaten eingeräumten Umsetzungsspielraums ist somit für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes entscheidungserheblich, da von der Beantwortung dieser Frage durch den Gerichtshof der Europäischen Union der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung des Umsetzungsgesetzes454 – ob das Grund­

453

EuGH Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 – Foto Frost. Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungs­ gericht, 2005, S. 274 f.; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 963b. Rozek geht davon aus, dass nur die Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie zu einer entscheidungserheblichen Vorfrage bei der Prüfung eines Umsetzungsgesetzes aufgrund des unterschiedlichen vom Bundesverfassungsgericht anzuwendenden Prüfungsmaßstabes werden kann (Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 70; siehe dazu sogleich unten: Gültigkeit der Richtlinie, D.IV.2.c) bb), S. 118 f.). Dies muss dann konsequenterweise aber auch für Fragen der richtigen Auslegung einer Richtlinie gelten, denn davon kann ebenfalls der vom Bundesverfassungsgericht anzuwendende Prüfungsmaßstab abhängen. 454

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

gesetz umfassend als Prüfungsmaßstab herangezogen werden kann oder ob nur das Einhalten der Grenzen der Integrationsermächtigung der Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG kontrolliert wird – abhängt. bb) Gültigkeit der Richtlinie Neben der Frage nach dem Bestehen bzw. der Reichweite eines möglicherweise durch die Richtlinie eingeräumten Umsetzungsspielraums kann auch die Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie zu einer für die verfassungsgerichtlichen Prüfung des Umsetzungsgesetzes entscheidungserheblichen Vorfrage werden455, wenn es sich um eine Richtlinie handelt, die dem Gesetzgeber kein Umsetzungsermessen einräumt. So wäre etwa denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht eine Richtlinie, die den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung in nationales Recht kein Ermessen einräumt, nach Prüfung am Maßstab des höherrangigen Unionsrechts aufgrund eines von ihm ermittelten Verstoßes gegen die unionsrechtliche Kompetenzordnung für rechtswidrig und daher für nichtig bzw. für vom Zustimmungsgesetz nicht gedeckt hält. Eine solche Konstellation könnte auftreten, wenn die Unionsorgane beispielsweise in Form einer Richtlinie gehandelt haben, obwohl sie nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts nach der unionsrechtlichen Kompetenzordnung eine Verordnung hätten erlassen müssen456. Die Wahl einer falschen Handlungsform durch die Unionsorgane und eine dadurch möglicherweise bedingte Nichtigkeit des Sekundärrechtsaktes berührt zwar die Wirksamkeit des deutschen Umsetzungsgesetzes nicht457, kann aber Auswirkungen auf den vom Bundesverfassungs 455 Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 274 f; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 963b; Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 70. 456 Die Unionsorgane dürfen nur dann Rechtsakte erlassen, wenn Kompetenzvorschriften der unionsrechtlichen Verträge eine derartige Ermächtigung enthalten. Dabei ordnen bestimmte Vorschriften einen Formenzwang an, so legt Art. 109 AEUV beispielsweise fest, dass der Rat nur in Form einer Verordnung handeln darf. Besteht eine solche Anordnung nicht, kommt den Unionsorganen grundsätzlich Ermessen zu, welcher Handlungsformen sie sich bedienen (Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 249 EGV Rd. 11 f.; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 AEUV Rd. 10). 457 Vgl. BVerfGE 118, 79 (97) – Treibhausgas/Emissionshandel. Einige Stimmen in der Literatur gehen davon aus, dass die Nichtigkeit einer Richtlinie die Nichtigkeit des nationalen Umsetzungsgesetzes zur Folge hat. Der Gesetzgeber sei in diesem Fall einem verfassungsrelevanten Begründungsfehler unterlegen und es liege daher ein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vor (Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, 20. EL Stand August 2002, Art. 249 EGV Rd. 186, und dem folgend: Heck, Rechtsschutz gegen durch EG-Richtlinien determiniertes Gesetzesrecht, NVwZ 2008, 523 (524 f.), und Payandeh, Die Nichtigkeit von EG-Richtlinien: Konsequenzen für den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt im Lichte des Demokratieprinzips, DVBl. 2007, 741).

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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gerichts bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung des Umsetzungsgesetzes anzuwendenden Prüfungsmaßstab haben. Ist die Richtlinie ohne Umsetzungsspielraum aufgrund eines Kompetenz­ verstoßes nichtig, prüft das Bundesverfassungsgericht das deutsche Umsetzungsgesetz umfassend am Maßstab des Grundgesetzes; andernfalls, d. h. bei Gültigkeit der Richtlinie ohne Umsetzungsspielraum, wendet das Bundesverfassungsgericht den eingeschränkten Prüfungsmaßstab des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG an. Die Frage der Gültigkeit der Richtlinie ohne Gestaltungsspielraum wegen eines möglicherweise gegebenen Verstoßes gegen die Kompetenzordnung ist für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht in diesem Fall auch entscheidungserheblich, weil davon der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes abhängt458. Soweit eine Richtlinie dem deutschen Gesetzgeber Ermessen bei der Umsetzung in nationales Recht einräumt, kann die Frage nach der Gültigkeit der Richt­ linie für den vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Verfassungsrechtsstreit nicht entscheidungserheblich sein. Denn sowohl bei deren Gültigkeit als auch bei deren Ungültigkeit prüft das Bundesverfassungsgericht das deutsche Umsetzungsgesetz umfassend am Maßstab des Grundgesetzes. Bei einer Richtlinie mit Umsetzungsermessen hängt somit der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes nicht von der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union ab. d) Beispiel Zur besseren Anschaulichkeit sollen die oben vorgenommenen abstrakten Ausführungen auf ein fiktives, stark vereinfachtes Beispiel angewendet werden. Es soll damit gezeigt werden, dass entgegen der pauschalen Äußerungen mancher

458

Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 274 f. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 963b; Rozek, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 20. EL Stand Juni 2001, § 76 BVerfGG Rd. 70. Nimmt man mit der Ultra-vires-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 89, 155 [188]; 123, 267 [400 f.]) an, dass eine Richtlinie als ausbrechender Rechtsakt in der Bundesrepublik Deutschland unangewendet bleiben muss, wenn sie nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage im Primärrecht findet, wäre die Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie für den Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes nicht entscheidungserheblich. Denn sowohl bei deren Gültigkeit als auch bei deren Ungültigkeit würde das Bundesverfassungsgericht das deutsche Umsetzungsgesetz zu der in der Bundesrepublik Deutschland nicht anwendbaren Richtlinie umfassend am Maßstab des Grundgesetzes prüfen.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur459 sehr wohl Konstellationen denkbar sind, in denen eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. Ob ein Auftreten der untersuchten Konstellation und der zur besseren Verständlichkeit gebildeten Beispiele dagegen sehr wahrscheinlich ist, soll hier nicht erörtert werden. Der Deutsche Bundestag könnte in einem beschleunigtem Gesetzgebungs­ verfahren gestützt auf eine unionsrechtliche Richtlinie ein Umsetzungsgesetz beschließen, wonach Unternehmern der Futtermittelwirtschaft verboten wird, bestimmte, in dem Gesetz näher geregelte proteinhaltige Erzeugnisse und Fette an Nutztiere, die zur Gewinnung von Lebensmitteln bestimmt sind, zu verfüttern460. Gegen dieses Gesetz könnte sich ein betroffener Unternehmer mit einer Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i. V. m. § 13 Nr. 8 a, § 90 Abs. 1 BVerfGG wenden und substantiiert vortragen, vor Inkrafttreten des Gesetzes größere Mengen an Mischfutter hergestellt zu haben, die nunmehr aufgrund des Verbots nicht mehr verfüttert werden dürfen und damit wertlos geworden sind461. Problematisch bei der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde ist allein die Beschwerdebefugnis. Besteht Unklarheit darüber, ob dem nationalen Gesetzgeber durch die Richtlinie ein Umsetzungsermessen eingeräumt ist oder nicht, besteht die Möglichkeit, dass der Futtermittelunternehmer durch das Verbotsgesetz in seinen durch Art. 14 GG, Art. 12 GG und Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Grundrechten verletzt ist. Ob tatsächlich ein Umsetzungsermessen besteht und das Bundesverfassungsgericht aus diesem Grund eine Grundrechtsverletzung umfassend prüft oder bei fehlendem Umsetzungsermessen eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG, ist dann eine Frage der Begründetheit. Auch ist in dem gebildeten Beispiel die unmittelbare Betroffenheit des Beschwerdeführers gegeben, denn das Umsetzungsgesetz verbietet dem Unternehmer das Verfüttern bestimmter proteinhaltiger Erzeugnisse und Fette unmittelbar, so dass kein weiterer Vollzugsakt erforderlich und ein Rechtsweg gegen das Parlamentsgesetz zu den Fachgerichten nicht eröffnet ist. Der Beschwerdeführer ist somit beschwerdebefugt. Die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde liegen vor. Bevor das Bundesverfassungsgericht in der Begründetheit der Verfassungs­ beschwerde die Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes prüft, muss es 459

Siehe oben: Problemaufriss, A. I., S. 13 (15 Fn. 13). Das Beispiel ist entfernt angelehnt an den der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde liegenden Sachverhalt: BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 25. Februar 2004 – 1 BvR 2016/01 (NVwZ 2004, 977). Siehe ferner § 1 der damals gültigen Fassung des Gesetzes über das Verbot des Verfütterns, des innergemeinschaftlichen Verbringens und der Ausfuhr bestimmter Futtermittel (Verfütterungsverbots­­ gesetz, BGBl. I, 1635). 461 Vgl. BVerfG, 3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 25. Februar 2004 – 1 BvR 2016/01 (NVwZ 2004, 977). 460

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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zunächst die Richtlinie auslegen und deren Vereinbarkeit mit höherrangigem Unions­recht kontrollieren. Ist der Richtlinie nicht eindeutig zu entnehmen, ob den Mitgliedstaaten Umsetzungsermessen eingeräumt ist bzw. in welchem Umfang, wäre diese Frage für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes entscheidungserheblich, denn von deren Beantwortung durch den Gerichtshof der Europäischen Union hängt der eigene Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ab. Soweit Umsetzungsermessen für die Mitgliedstaaten besteht, prüft das Bundesverfassungsgericht das Umsetzungsgesetz an den vom Beschwerdeführer als verletzt gerügten Grundrechten, in dem hier gebildeten Beispiel an Art. 14 GG, Art. 12 und Art. 2 Abs. 1 GG, und darüber hinaus umfassend am Maßstab des Grundgesetzes462. Begründet die Richtlinie kein Umsetzungsermessen, prüft das Bundesverfassungsgericht nur eine Verletzung derjenigen Rechte, die durch Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG geschützt sind. In dieser Konstellation ist die Frage nach dem Bestehen bzw. der Reichweite eines den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie eingeräumten Umsetzungsermessens für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes entscheidungserheblich, denn davon hängt ab, ob das Bundesverfassungsgericht eine umfassende Kontrolle des Umsetzungsgesetzes vornimmt oder nur eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG prüft. Das Bundesverfassungsgericht ist in dieser Konstellation gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet, die Frage nach dem Bestehen eines durch die Richtlinie eingeräumten Umsetzungsspielraums zur Vorabentscheidung an den Gerichtshof der Europäischen Union vorzulegen, um den eigenen Prüfungsmaßstab für die anschließende Verfassungsmäßigkeitsprüfung zu ermitteln. Dieselben entscheidungserheblichen Fragen stellen sich dem Bundesverfassungsgericht auch, wenn das Umsetzungsgesetz zu der unionsrechtlichen Richt­ linie in dem gerade gebildeten Beispiel im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts ist. e) Resümee Ist ein deutsches Umsetzungsgesetz zu einer unionsrechtlichen Richtlinie Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde bzw. einer abstrakten Normenkontrolle, sind Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der Richtlinie dann entscheidungserheblich und begründen gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union, wenn von deren Beantwortung der vom Bundesverfassungsgericht im verfassungsgerichtlichen Ausgangsverfahren anzuwendende Prüfungsmaßstab – entweder umfassend am

462

Siehe oben: Prüfungsmaßstab, D.IV.2.a)bb), S. 114 (Fn. 439).

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Maßstab des Grundgesetzes oder eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG – abhängt. 3. Nichtumsetzung einer Richtlinie Neben der unmittelbaren verfassungsgerichtlichen Überprüfung eines Umsetzungsgesetzes zu einer Richtlinie im Rahmen der Verfassungsbeschwerde und der abstrakten Normenkontrolle463 könnten sich dem Bundesverfassungs­gericht darüber hinaus vorlagepflichtige, entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts im Rahmen eines Bund-Länder-Streits gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 13 Nr. 7, § 68 ff. BVerfGG stellen, wenn die Bundesregierung für den Bund vor dem Bundesverfassungsgericht die Feststellung begehrt, dass die Nichtumsetzung einer Richtlinie in Landesrecht den Antragsteller in seinem Recht auf bundesfreundliches Verhalten in Verbindung mit Art. 23 GG verletzt464. Ob der Bund oder die Bundesländer innerstaatlich zur Umsetzung einer europäischen Richt­ linie zuständig sind, richtet sich nach überwiegender Ansicht nach Art. 30 GG und Art. 70 ff. GG465. So wäre denkbar, dass ein Bundesland eine Unionsrichtlinie nicht in Landesrecht umsetzt, obwohl den Ländern nach Art. 30 GG und Art. 70 ff. GG für die in der Richtlinie geregelte Materie die Gesetzgebungskompetenz zukommt466.

463

Siehe oben: Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie, D.IV.2., S. 108 ff. Zum Bund-Länder-Streit bei der normativen Durchführung des Unionsrechts siehe: Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 41; Rengeling, Das Zusammenwirken von Europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem, insbesondere deutschem Recht, DVBl. 1986, 306 (312); Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik, 1987, S. 107 f. 465 Degenhart, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 70 GG Rd. 25; Erbguth, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 30 GG Rd. 30; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 30 GG Rd. 13; Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 53. EL Stand Oktober 2008, Art. 70 GG Rd. 36 f., 31. Siehe oben: Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie, D.IV.2., S. 108 (109). Zum Teil finden sich auch Überlegungen, entweder der Bund (Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 53. EL Stand Oktober 2008, Art. 70 GG Rd. 37 Fn. 6 m. w. N.) oder die Länder (Baier, Bundesstaat und Europäische Integration, 2006, S. 66 f.) seien ausschließlich für die Richt­ linienumsetzung zuständig. Auch wenden einige die Art. 70 ff. GG analog an, da der Ver­ fassungsgeber bei der Konstituierung des Grundgesetzes noch kein sekundäres Unionsrecht gekannt habe (Haslach, Zuständigkeitskonflikte bei der Umsetzung von EG-Richtlinien?, DÖV 2004, 12 [15]). Gegen die Ansicht, die dem Bund die ausschließliche Zuständigkeit aus Gründen der effektiven Durchsetzung des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland zusprechen möchte, spricht, dass die normative Umsetzung von Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu einer innerstaatlichen Kompetenzverschiebung führen kann (Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 53. EL Stand Oktober 2008, Art. 70 GG Rd. 37). 466 Das Vorgehen des Bundes gegen ein Bundesland wegen einer nicht bzw. nicht vollständig umgesetzten Richtlinie in Landesrecht vor dem Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Bund-Länder-Streits ist von den Rechtsschutzmöglichkeiten auf europäischer Ebene zu unter 464

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Entscheidungserhebliche Fragen des Bundesverfassungsgerichts, die eine Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union begründen, wären auch denkbar, wenn ein Bundesland trotz insoweit bestehender Gesetzgebungszuständigkeit Ausführungsvorschriften zu einer Verordnung nicht erlässt467. Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit soll die folgende Untersuchung anhand der Nichtumsetzung einer Richtlinie durch ein Bundesland vorgenommen werden, wenngleich sie entsprechend auch für Ausführungsvorschriften zu einer Verordnung gelten. Bevor erörtert wird, ob sich dem Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsgerichtlichen Prüfung einer Rechtsverletzung des Bundes oder der Länder bei der Nichtumsetzung einer Richtlinie im Rahmen eines Bund-Länder-Streits entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts stellen können, werden zunächst unter besonderer Berücksichtigung der Antragsbefugnis die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Bund-Länder-Streits herausgearbeitet, bevor am Ende dieses Kapitels die abstrakt vorzunehmenden Ausführungen auf ein konkretes, fiktives Beispiel angewendet werden.

scheiden. Unterlässt ein Bundesland die Umsetzung einer Richtlinie, kann von der EU-Kommission gem. Art. 258 AEUV bzw. von einem Mitgliedstaat gem. Art. 259 AEUV ein Vertragsverletzungsverfahren nur gegen die Bundesrepublik Deutschland als Gesamtstaat wegen Verletzung einer Verpflichtung zur Umsetzung des Unionsrechts eingeleitet werden – mit der Möglichkeit der Verhängung eines Pauschalbetrages oder Zwangsgeldes gem. Art. 260 Abs. 2 AEUV bei Nichtbeachtung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union. Siehe dazu: Cremer in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 260 AEUV Rd. 9 ff. Die Länder haften dem Bund gem. Art. 104a Abs. 6 Satz 1 GG, wenn dieser wegen der Nichtausführung von Unionsrechts trotz innerstaatlicher Zuständigkeit der Länder zur Zahlung eines Pauschalbetrages oder Zwangsgeldes gem. Art. 260 Abs. 2 AEUV verurteilt worden ist. Einzelheiten der Lastentragung sind insbesondere in § 1 und § 3 des Lastentragungsgesetzes (BGBl. I 2006, 2098 [2105 f.]) geregelt (Kube in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 104a GG Rd. 60 f.). Der durch die Föderalismusreform 2006 eingeführte Art. 104 a Abs. 6 GG geht seitdem der Haftungsregelung des Art. 104 a Abs. 5 GG als spezieller vor (Kube in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 104a GG Rd. 52, 58). Zur Haftung der Bundesländer vor Einführung des Art. 104a Abs. 6 GG siehe BVerfGE 116, 271 (313 ff.); Baier, Bundesstaat und Europäische Integration, 2006, S. 226 f., 231 ff.; Dederer, Regress des Bundes gegen ein Land bei Ver­letzung von EG-Recht, NVwZ 2001, 258 (259 ff.). 467 Siehe dazu oben: Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie, D.IV.2., S. 108 ff., insbesondere S. 110 Fn. 424 f.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

a) Zulässigkeitsvoraussetzungen Bund-Länder-Streit aa) Parteifähigkeit Parteifähig im Bund-Länder-Streit sind der Bund und die Länder, nicht hingegen die Bundes- und die Landesregierung468. Gem. § 68 BVerfGG sind die gesetzlichen Vertreter für den Bund die Bundesregierung und für das Land die jeweilige Landesregierung469. Da Bundes- und Landesregierungen Kollegialorgane sind, muss für einen wirksamen Antrag im Bund-Länder-Streit ein entsprechender Kabinettsbeschluss vorliegen470. Kommt ein Bundesland einer Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie nicht nach, ist gem. § 68 BVerfGG der Bund Antragsteller und das jeweilige Bundesland Antragsgegner im Bund-Länder-Streit. bb) Angriffsgegenstand Angriffsgegenstand im Bund-Länder-Streit ist gem. § 69 i. V. m. § 64 Abs. 1 BVerfGG eine Maßnahme oder ein Unterlassen des Antragsgegners. Ein vom Bundesverfassungsgericht überprüfbares Unterlassen besteht in dem Außerachtlassen einer Handlungspflicht471. Die Nichtumsetzung einer Richtlinie trotz einer für das Bundesland bestehenden Gesetzgebungszuständigkeit472 ist als Unterlassen ein zulässiger Angriffsgegenstand im Bund-Länder-Streit. cc) Antragsbefugnis Weiter müsste die Bundesregierung, um gem. § 69 i. V. m. § 64 Abs. 1 BVerfGG antragsbefugt zu sein, geltend machen, dass der Bund durch die Nichtumsetzung der Richtlinie in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt ist. Der Antragsteller müsste bei einem Unterlassen darlegen,

468

So die überwiegende Ansicht im rechtswissenschaftlichen Schrifttum (Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1072 m. w. N.; Hillgruber/Goos, Verfassungs­ prozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 422 ff.) und wohl auch die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, die sich aus der Tenorierung stattgebender Entscheidungen entnehmen lässt, etwa in BVerfGE 8, 122 (124) – Hessische Atombefragung „Das Land Hessen hat gegen den Grundsatz bundesfreundlichen Verhaltens verstoßen …“ (Hillgruber/Goos, Verfassungs­ prozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 425). 469 Schorkopf, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 68, 69 BVerfGG Rd. 2. 470 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 15. EL Stand April 1997, § 68 BVerfGG Rd. 12; Hillgruber/Goss, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 426. 471 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 15. EL Stand April 1997, § 69 BVerfGG Rd. 46. 472 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1083.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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dass er möglicherweise einen Anspruch darauf hat, dass der Antragsgegner einer Handlungspflicht nachkommt473. Aus dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des bundes- bzw. länderfreundlichen Verhaltens ergibt sich für den Bund und die Länder die Rechtspflicht, bei der Ausübung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und die Belange der Länder zu nehmen474, wobei der Grundsatz der Bundestreue für sich genommen keine verfassungsrechtlichen Rechte und Pflichten zwischen dem Bund und den Ländern begründen, sondern nur in Verbindung mit einem bereits zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsverhältnis herangezogen werden kann475. Mit der Rechtspflicht korrespondiert ein für den Bund bzw. die Bundesländer im Bund-LänderStreit durchsetzbarer Anspruch auf bundes- bzw. länderfreundliches Verhalten476. Aus diesem verfassungsrechtlichen Prinzip des bundesfreundlichen Verhaltens in Verbindung mit Art. 23 GG lässt sich für die Bundesländer die Pflicht zur Umsetzung einer Unionsrichtlinie in Landesrecht ableiten, wenn nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung den Ländern dafür die Gesetzgebungszuständigkeit zugewiesen ist477. Aus dieser Pflicht der Länder ergibt sich spiegelbildlich für den Bund ein Anspruch darauf, dass die Länder ihrer Umsetzungspflicht nachkommen478. Unterlässt ein Bundesland die gesetzgeberische Umsetzung einer Richtlinie, besteht somit die Möglichkeit, dass der Bund dadurch in seinem Recht auf bundesfreundliches Verhalten der Länder in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG verletzt wird, und er ist somit im Bund-Länder-Streit antragsbefugt.

473

Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 444. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 454; Huster/Rux in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 20 GG Rd. 31; Schnapp, in: Münch/Kunig, GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 20 GG Rd. 14. 475 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1078; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 455. 476 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 454. 477 Baier, Bundesstaat und Europäische Integration, 2006, S. 215 f., 223; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1083; Grabitz, Die Rechtssetzungsbefugnis von Bund und Ländern bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht, AöR 111 (1986), 1 (13 ff.); Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001, S. 62 ff.; ders., Zuständigkeitskonflikte bei der Umsetzung von EG-Richtlinien?, DÖV 2004, 12 (14 f.); Rengeling, Das Zusammenwirken von Europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem, insbesondere deutschem Recht, DVBl. 1986, 306 (312); Streinz, in: Isensee/Kirchhof, HStR VII, Der Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch deutsche Staatsorgane, 1992, § 182 Rd. 53; Uhle, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 53. EL Stand Oktober 2008, Art. 70 GG Rd. 53 f.; Weber, Die Bundesländer und die Reform des Gemeinschaftsvertrages, DVBl. 1986, 800 (802). 478 Baier, Bundesstaat und Europäische Integration, 2006, S. 223. 474

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

dd) Frist Der Antrag der Bundesregierung muss gem. § 69 i. V. m. § 64 Abs. 3 BVerfGG innerhalb einer Frist von sechs Monaten gestellt werden. Diese Frist beginnt bei einem Unterlassen des Antragsgegners erst bei einer ernsthaften und endgültigen Weigerung des Antragsgegners479. Die Landesregierung muss deutlich zu erkennen geben, dass sie sich weigert, ein entsprechendes Umsetzungsgesetz in den Landtag einzubringen. Ab diesem Zeitpunkt muss die Bundesregierung innerhalb von sechs Monaten den Antrag beim Bundesverfassungsgericht stellen. ee) Rechtsschutzbedürfnis Folgt eine mögliche Rechtsverletzung des Antragstellers aus dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens, muss der Antragsteller den Antragsgegner vor Klageerhebung förmlich um die Beachtung seiner Pflicht ersuchen, damit ein Rechtsschutzinteresse gegeben ist480. Der Bund muss die Länder demnach ausdrücklich um Erfüllung ihrer Umsetzungsverpflichtung ersuchen481. Erst nach Weigerung des Bundeslandes zur Umsetzung der Richtlinie ist das Rechtsschutzbedürfnis des Bundes gegeben. Das Rechtsschutzbedürfnis des Bundes entfällt auch dann nicht, wenn der Bund gegen ein Land mittels des Bundeszwanges gem. Art. 37 GG vorgehen kann482. Denn ein Bund-Länder-Streit ist in aller Regel das mildere Mittel gegenüber der Bundesintervention, die im Verhältnis zu den Bundesländern eine ultima ratio ist483. Dies gilt insbesondere dann, wenn nicht sicher feststeht, ob ein Bundesland überhaupt zur Umsetzung einer Richtlinie verpflichtet ist bzw. ob es einer unstreitig bestehenden Umsetzungspflicht durch den Erlass eines Landesgesetzes nach eigenem Vortrag bereits nachgekommen ist484.

479

Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 466. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 472. 481 Baier, Bundesstaat und Europäische Integration, 2006, S. 224. 482 Dem Bund kommt nach herrschender Lehre im Rahmen des Bundeszwanges gem. Art. 37 GG eine eigene Durchführungskompetenz zum Erlass von Landesgesetzen zu, wenn ein Land seiner Verpflichtung zur Umsetzung einer Richtlinie in Landesrecht nicht nachkommt: Gra­ bitz, Die Rechtssetzungsbefugnis von Bund und Ländern bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht, AöR 111 (1986), 1 (32); Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001, S. 67 f.; vgl. Erbguth, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 37 GG Rd. 12. 483 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 15. EL Stand April 1997, § 69 BVerfGG Rd. 101. 484 Siehe zu der zuletzt geschilderten Konstellation: Haslach, Die Umsetzung von EGRichtlinien durch die Länder, 2001, S. 68 f. 480

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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b) Prüfungsmaßstab des BVerfG Ist der Antrag der Bundesregierung im Bund-Länder-Streit zulässig, prüft das Bundesverfassungsgericht, ob die Nichtumsetzung der Richtlinie durch das Bundesland den Bund in seinem Recht auf bundesfreundliches Verhalten der Länder verletzt, und stellt dies ggf. gem. § 69 i. V. m. § 67 Satz 1, 2 BVerfGG fest. c) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG Als Vorfrage der Feststellung einer Rechtsverletzung des Bundes durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie in Landesrecht könnte sich dem Bundesverfassungsgericht die Frage stellen, ob die Richtlinie überhaupt eine – wie von der Bundesregierung behauptete – Umsetzungspflicht für die Bundesländer begründet bzw. in welchem Umfang eine Umsetzungspflicht besteht485. Auch könnte bei dem Bundesverfassungsgericht die Frage auftreten, ob ein Bundesland durch ein gesetzgeberisches Tätigwerden – wie von dem Bundesland selbst vorgetragen – einer aus der Richtlinie für die Bundesländer resultierenden Umsetzungspflicht bereits vollständig nachgekommen ist486. Eine Umsetzungspflicht der Mitgliedstaaten besteht dann nicht, wenn die Auslegung der Richtlinie keine in dem von der Bundesregierung geltend gemachten Umfang bestehende Umsetzungspflicht für die Länder ergibt, das Bundesland durch eine gesetzgeberische Maßnahme die Zielvorgaben der Richtlinie bereits erfüllt hat487 oder wenn die Richtlinie, die eine Umsetzungspflicht anordnet, wegen Verstoß gegen höherrangiges Unionsrecht, beispielsweise weil der Europäischen Union keine Kompetenz zum Erlass einer Richtlinie in dieser Materie zukommt, ungültig ist. Ist die Beantwortung dieser Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der Richtlinie (Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV) für die Prüfung der Rechtsverletzung des Bundes entscheidungserheblich, besteht für das Bundesverfassungsgericht

485

Kössinger geht zutreffend von einer Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV aus, wenn ein Land durch den Erlass einer Ausführungsnorm gegen die aus dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens fließende innerstaatliche Ausführungspflicht verstoßen hat und sich Fragen der Auslegung des Unionsvertrages i. S. d. Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV ergeben (Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Bundesstaat, 1989, S. 158). Konsequenterweise muss dann aber auch eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts bestehen, wenn ein Bundesland den Erlass einer Ausführungsnorm trotz einer insoweit bestehenden unionsrechtlichen Rechtspflicht unterlassen hat und sich Fragen der Auslegung und bei Sekundärrechtsakten auch Fragen der Gültigkeit des Rechtsaktes i. S. d. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV stellen. 486 Siehe für den Fall der Anwendung von Bundeszwang gem. Art. 37 GG: Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001, S. 68 Fn. 158. 487 Vgl. Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001, S. 68 Fn. 158.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV die Pflicht zur Einholung einer Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union488. Ergibt die Prüfung der Gültigkeit der Richtlinie bzw. die Auslegung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, dass eine unionsrechtliche Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht besteht489 und kommt nach dem Grundgesetz den Ländern für die Umsetzung die Gesetzgebungszuständigkeit zu, stellt das Bundesverfassungsgericht im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union gem. § 69 i. V. m. § 67 Satz 1, 2 BVerfGG fest, dass durch die Nichtumsetzung der Richtlinie in Landesrecht der Bund in seinem Recht auf bundesfreundliches Verhalten der Länder verletzt ist. Ergibt die Auslegung der Richtlinie durch den Gerichtshof der Europäischen Union hingegen, dass eine derartige Umsetzungspflicht nicht in dem von der Bundesregierung geltend gemachten Umfang besteht oder kommt der Gerichtshof der Europäischen Union bei der Gültigkeitsprüfung der Richtlinie zu dem Ergebnis, dass diese ungültig ist und eine Umsetzungspflicht der Mitgliedstaaten damit nicht besteht, ergeht die Feststellung durch das Bundesverfassungsgericht, dass das Recht des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten durch die beanstandete Maßnahme nicht verletzt ist. Die Frage nach dem Bestehen bzw. der Reichweite einer unionsrechtlichen Pflicht zur Umsetzung einer Richtlinie ist für den Ausgangsrechtsstreit, d. h. für die Feststellung einer Verletzung des Rechts des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten der Länder entscheidungserheblich, weil von der Auslegung bzw. der Gültigkeit der Richtlinie durch den Gerichtshof der Europäischen Union das Ergebnis der verfassungsgerichtlichen Prüfung, d. h. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Bund-Länder-Streit, abhängt. d) Beispiel Auch in diesem Kapitel sollen die abstrakten Ausführungen zu möglichen entscheidungserheblichen unionsrechtlichen Fragen des Bundesverfassungsgerichts zur besseren Verständlichkeit auf ein fiktives, stark vereinfachtes Beispiel angewendet werden. 488

Zutreffend geht auch Haslach von der Annahme aus, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen des Bund-Länder-Streits eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Euro­ päischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV trifft, wenn die Auslegung des europäischen Unionsrechts bei der Anwendung von Bundeszwang gem. Art. 37 GG wegen der Weigerung eines Bundesland zur Umsetzung einer Unionsrichtlinie streitentscheidend ist (Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001, S. 69). 489 Folgt man der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Ultra-vires-Kontrolle, ist davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgericht ein kompetenzwidriges Verhalten der Unionsorgane geprüft, aber nicht festgestellt hat.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Angenommen, der Rat der Europäischen Union erlässt eine Richtlinie, nach der Unionsbürgern an ihrem Wohnsitz ein aktives und passives Wahlrecht durch die Mitgliedstaaten einzuräumen ist, unabhängig davon, ob die Unionsbürger die Staatsangehörigkeit des Wohnsitzmitgliedstaates besitzen, wobei in der Richtlinie nicht näher geregelt ist, für welche Wahlen die Richtlinie Geltung beansprucht490. Das Bundesland X nimmt die Umsetzung der Richtlinie in Landesrecht mit der Begründung nicht vor, es sei für die Umsetzung nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung nicht zuständig. Alternativ könnte das Bundesland auch davon ausgehen, mit einem bereits in Kraft getretenem Gesetz seiner Umsetzungspflicht vollständig nachgekommen zu sein. In der letzten Konstellation hält der Bund das Landesgesetz aber nicht für ausreichend zur vollständigen Umsetzung der ­Richtlinie. Die Bundesregierung könnte nun als Antragstellerin im Bund-Länder-Streit vor dem Bundesverfassungsgericht gem. § 69 i. V. m. § 67 Satz 1 BVerfGG die Feststellung begehren, dass die Nichtumsetzung der Richtlinie durch das Bundesland X in Landesrecht den Bund in seinen Recht auf bundesfreundliches Verhalten in Verbindung mit Art. 23 GG der Länder verletzt. In der zweiten Alternative könnte der Bund die Feststellung begehren, dass durch die nicht vollständige Umsetzung der Richtlinie in Landesrecht der Bund in seinem Recht auf bundesfreundliches Verhalten in Verbindung mit Art. 23 GG der Länder beeinträchtigt ist. Das Rechtsschutzinteresse des Bundes entfällt auch nicht dadurch, dass die Möglichkeit besteht, im Rahmen des Bundeszwangs gem. Art. 37 GG gegen das Bundesland X vorzugehen, denn ein Verfassungsrechtsstreit ist in der Regel das mildere Mittel und die Intervention des Bundes die ultima ratio491. Das Bundesverfassungsgericht prüft im Rahmen der Begründetheit des BundLänder-Streits, ob der Bund durch die Nichtumsetzung bzw. eine möglicherweise nicht vollständige Umsetzung der Richtlinie durch das Bundesland X in seinem Recht auf bundesfreundliches Verhalten der Länder in Verbindung mit Art. 23 GG verletzt ist, und stellt dies ggf. fest. Als Vorfrage vor der Feststellung einer möglichen Rechtsverletzung untersucht das Bundesverfassungsgericht, ob die Richt­linie überhaupt einen Bereich regelt, für den nach dem Grundgesetz den Bundesländern die Gesetzgebungskompetenz zukommt und damit eine Um 490 Das Beispiel ist angelehnt an die Kommunalwahl-Richtlinie 94/80/EG des Rates der Europäischen Union vom 19. Dezember 1994, Nr. L 368/38 „über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen“. Entgegen dem hier gebildeten Fall bezieht sich die Kommunalwahl-Richtlinie ihrem Wortlaut nach eindeutig auf Kommunalwahlen. Dafür liegt die Gesetzgebungszuständigkeit gem. Art. 30, 70 ff. GG aber unstreitig bei den Bundesländern, so dass die Bundesländer die Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht trifft (Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001, S. 282). Zur Kommunalwahl-Richtlinie allgemein und ihre Umsetzung durch die Bundesländer siehe vertieft: Haslach, Die Umsetzung von EG-Richtlinien durch die Länder, 2001, S. 272 ff., 283 ff. 491 Siehe oben: Rechtsschutzbedürfnis, D.IV.3.a)ee), S. 126 Fn. 483.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

setzungspflicht für die Länder begründet ist. Denn andernfalls kommt durch die Nichtumsetzung keine Verletzung des Rechts des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten der Länder in Verbindung mit Art. 23 GG in Betracht. Im Rahmen dieser Vorprüfung könnte das Bundesverfassungsgericht zu der Überzeugung gelangen, dass die Richtlinie wegen Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrechts ungültig ist. Dies wäre etwa denkbar, wenn nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts in den primärvertraglichen Regelungen keine – oder nicht in dem vom Rat der Europäischen Union gebrauchten Umfang genutzte – Kompetenz zugunsten der Europäischen Union für den Erlass einer derartigen Richtlinie enthalten ist492. Die Frage nach der Gültigkeit eines Sekundärrechtsaktes ist aber eine Frage, für deren Beantwortung der Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 1 AEUV allein zuständig ist. Ist die Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie für die Feststellung einer Verletzung des Rechts des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten der Länder entscheidungserheblich, besteht für das Bundesverfassungsgericht eine Verpflichtung zur Vorlage dieser Frage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV. Entscheidungserheblichkeit ist in diesem Beispiel gegeben, denn kommt der Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Ergebnis, dass in dem unionsrechtlichen Vertrag tatsächlich keine oder nicht in dem vom Rat der Europäischen Union gebrauchtem Umfang genutzte Ermächtigung zum Erlass von sekundärrechtlichen Bestimmungen im Bereich des Wahlrechts enthalten ist und die Richtlinie damit mangels Kompetenz der der Europäischen Union (teilweise) ungültig ist, besteht keine Umsetzungspflicht der Länder, so dass der Antrag im Bund-Länder-Streit unbegründet ist. Ist die Richtlinie hingegen gültig und beinhaltet sie eine Pflicht der Bundesländer zur Umsetzung in Landesrecht, weil ihnen dafür gem. Art. 30 GG und Art. 70 ff. GG die Gesetzgebungskompetenz zukommt und sie dieser Pflicht nicht oder nicht vollständig nachgekommen sind, liegt in der Nichtumsetzung durch die Bundesländer eine Rechtsverletzung des Bundes. Dasselbe gilt, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Prüfung der Richtlinie zwar an deren Gültigkeit keine Zweifel hat, jedoch der Ansicht ist, dass nicht eindeutig aus der Richtlinie ersichtlich ist, auf welche Wahlen – Kommunal-, Landtags- oder Bundestagswahlen – sich die Pflicht zur Einrichtung eines Unionsbürgerwahlrechts bezieht. In diesem Fall ist die Frage nach der Auslegung für die Feststellung einer Rechtsverletzung des Bundes im Bund-Länder-Streit entscheidungserheblich, denn bei Bestehen einer Verpflichtung zur Schaffung eines Kommunalwahlrechts für Unionsbürger kommt den Ländern gem. Art. 30 GG und Art. 70 GG die Gesetzgebungskompetenz dafür zu, so dass bei Unterlassen der

492 Entgegen dem hier gebildeten, fiktiven Beispiel ist der Erlass der Kommunalwahl-Richtlinie auf die Kompetenz der Europäischen Union in Art. 22 Abs. 1 Satz 1 AEUV gestützt.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Richtlinienumsetzung in Landesrecht eine Verletzung des Rechts des Bundes auf bundestreues Verhalten der Länder gegeben ist. e) Resümee Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich dem Bundesverfassungs­ gericht zur Feststellung einer Verletzung des Rechts des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten der Länder durch die Nichtumsetzung einer Richtlinie entscheidungserhebliche Fragen nach der Auslegung bzw. der Gültigkeit der Richtlinie stellen können, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen ist dann gegeben, wenn das Ergebnis im Bund-Länder-Streit, d. h. die Feststellung der Rechtsverletzung des Bundes durch das Bundesland, von der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts abhängt. 4. Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht Möglich wäre neben den bereits ermittelten Konstellationen das Auftreten von vorlagepflichtigen Fragen beim Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Bund-Länder-Streits gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 13 Nr. 7, § 68 ff. BVerfGG, wenn ein Bundesland unmittelbar wirkendes Unionsrecht nicht oder unrichtig vollzieht493. Kommt den Bundesländern nach dem Grundgesetz die Kompetenz zum Vollzug von unmittelbar wirkenden Vorschriften des Unionsrechts gem. Art. 83 ff. GG direkt oder analog zu494, wäre denkbar, dass Landesbehörden oder – sofern die Bundesländer die Zuständigkeit zum Vollzug des Unionsrechts an die Kommunen als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen haben – Kommunalbehörden die entsprechenden Verwaltungsakte zum Vollzug der unmittelbar wirkenden Vorschriften des primären und sekundären Unionsrecht generell nicht er-

493 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutzes in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 48, 41; Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 84 GG Rd. 11; Kössinger, Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Bundesstaat, 1989, S. 157 f.; Rengeling, Das Zusammenwirken von Europäischem Gemeinschaftsrecht und nationalem, insbesondere deutschem Recht, DVBl. 1986, 306 (312). 494 Siehe zu der in der Literatur umstrittenen Frage, ob unmittelbar wirkendes Unionsrecht von den Ländern in jedem Fall gem. Art. 83 f. GG analog auszuführen ist, die Art. 83 f. GG direkt heranzuziehen sind oder ob vielmehr danach zu differenzieren ist, wem nach dem Grundgesetz für die fragliche Regelungsmaterie fiktiv die Gesetzgebungskompetenz zustehen würde (Suerbaum, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 83 Rd. 18 ff. m. w. N.), sogleich die Ausführungen weiter unten: Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht, D.IV.4., S. 131 (133 ff.).

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

lassen und die Landesregierung nicht von ihrer Aufsichts- und Weisungsbefugnis gegenüber den Landes- bzw. Kommunalbehörden Gebrauch macht495. Aus Gründen einer übersichtlicheren Darstellung sollen mögliche entscheidungserhebliche Fragen, die sich dem Bundesverfassungsgerichts im Rahmen eines Bund-Länder-Streits stellen könnten und eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, anhand einer Kommunalbehörde untersucht werden, die unmittelbar wirkende Vorschriften des Unionsrechts generell nicht bzw. nicht ordnungsgemäß vollzieht. Die Ausführungen gelten jedoch entsprechend, wenn eine Landesbehörde den Vollzug von Normen des unmittelbar wirkenden Unionsrechts generell unterlässt. Eine derartige Fallkonstellation käme beim Vollzug aller unmittelbar wirken­ den Normen des Unionsrechts in Betracht. Unmittelbare Wirkungen entfalten sowohl primär- als auch sekundärrechtliche Bestimmungen, wenn sie unbedingt und inhaltlich so bestimmt sind, dass sie ohne weitere Konkretisierung anwendbar sind496. Für Verordnungen ist die unmittelbare Wirkung ausdrücklich in Art. 288 Abs. 2 AEUV angeordnet497. Nach dieser Bestimmung hat die Verordnung allgemeine Geltung, ist in all ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Richtlinien entfalten im Gegensatz zu unionsrechtlichen Verordnungen nur ausnahmsweise unmittelbare Wirkung. Sie sind gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV durch die Mitgliedstaaten in innerstaatliches Recht umzusetzen. Kommen die Mitgliedstaaten dieser Umsetzungspflicht nicht nach, entfalten Richtlinien­bestimmungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dann unmittelbare Wirkung, wenn sie nach Fristablauf nicht oder unzureichend von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt wurden und die Bestimmungen inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind498. Rechtsfolge einer unmittelbaren Wirkung ist, dass auch die Verwaltungsbehörden die Bestimmungen der Richtlinie anwenden müssen, selbst wenn den unionsrechtlichen Regelungen in der Richtlinie nationales Recht entgegensteht499. Entscheidungen, die an einen Mitgliedstaat gerichtet sind, können unter denselben Voraussetzungen wie eine Richtlinie unmittelbare Wirkung entfalten500. 495

Vgl. BVerfGE 8, 122 (129 ff., 141) – Hessische Atombefragung; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1082, 1078. 496 EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, S. 1337 – von Duyn/Home Office; EuGH Rs. 148/78, Slg. 1979, S. 1629 – Ratti; EuGH Rs. 8/81, Slg. 1982, S. 53 – Becker/Finanzamt MünsterInnenstadt. Biervert, in: Schwarze, EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 249 EGV Rd. 28 ff.; Endler, in: Kuhla/Hüttenbrink, Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2002, L. Rd. 27 ff.; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 Rd. 48 ff. 497 Endler, in: Kuhla/Hüttenbrink, Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2002, L. Rd. 29. 498 Siehe zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien m. w. N.: Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4 Auflage 2011, Art. 288 AEUV Rd. 51 ff.; Schroeder, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 288 Rd. 106 ff. 499 Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4 Auflage 2011, Art. 288 AEUV Rd. 73 f. 500 Endler, in: Kuhla/Hüttenbrink, Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2002, L. Rd. 32 m. w. N.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Vollzogen wird das Unionsrecht grundsätzlich – soweit nicht ausnahmsweise aufgrund einer ausdrücklichen Regelung im Primärrecht durch die Unionsorgane selbst (unmittelbarer oder direkter Vollzug)501 – durch die Mitgliedstaaten. Unmittelbar anwendbare Vorschriften des Unionsrechts werden von den Mitgliedstaaten im unmittelbar mitgliedstaatlichen oder indirekten Vollzug ausgeführt502, wobei sich das Verfahren in der Regel nach mitgliedstaatlichem Verwaltungsverfahrensrecht richtet503. Im Unterschied dazu erfordert der mittelbar mitgliedstaatliche Vollzug die Umsetzung des Unionsrechts in nationales Recht504. Gegenüber der Europäischen Union trifft die unionsrechtliche Pflicht zum ordnungsgemäßen Vollzug des Unionsrechts zwar den Bund505, mit der Folge, dass der Bund gegenüber der Europäischen Union für den nichtordnungsgemäßen Vollzug der Länder haftet. Denn das Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 258 f. AEUV richtet sich nur gegen die Bundesrepublik Deutschland als Mitgliedstaat, nicht jedoch gegen staatliche Untergliederungen wie die Bundesländer506. Bei Nichtbeachtung des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union besteht im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 260 Abs. 2 AEUV die Möglichkeit, dem Bund ein Pauschalbetrag oder ein Zwangsgeld aufzuerlegen, da der Nichtvollzug des Unions­rechts einen Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen Unionsrecht darstellt. Waren die Länder für den Vollzug des Unionsrechts zuständig, haften sie dem Bund gegenüber gem. Art. 104a Abs. 6 GG507. Ob dem Bund oder den Ländern innerstaatlich die Pflicht zum ordnungsgemäßen Vollzug des unmittelbar wirkenden Unionsrechts zukommt, richtet sich nach mitgliedstaatlichem Recht, mithin nach den Vorschriften des Grundgesetzes508. Gem. Art. 30 GG sind die Länder zuständig, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zulässt. Nach Art. 83 f. GG führen die Länder Bundesgesetze als eigene Angelegenheit aus, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt. Da sich im Grundgesetz keine ausdrücklichen Regelungen darüber finden, wer zum Vollzug des unmittelbar wirkenden Unionsrechts zuständig ist509, ist fraglich, nach welchen Vorschriften des Grundgesetzes sich der Vollzug von unmittelbar wirkendem Unionsrecht richtet. 501 Endler, in: Kuhla/Hüttenbrink, Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2002, L. Rd. 43 ff.; Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 83 GG Rd. 5; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 533 ff.; 537 f. 502 Endler, in: Kuhla/Hüttenbrink, Verwaltungsprozess, 3. Aufl. 2002, L. Rd. 50 ff.; Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 83 GG Rd. 6 f.; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 536, 539 ff., 548 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof, HStR VII, 1992, § 182 Rd. 4. 503 Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 548; ders., in: Isensee/Kirchhof, HStR VII, 1992, § 182 Rd. 23. 504 Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 83 GG Rd. 6. 505 Streinz, in: Isensee/Kirchhof, HStR VII, Der Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch deutsche Staatsorgane, 1992, § 182 Rd. 44. 506 Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 84 GG Rd. 15. 507 Siehe dazu oben: Nichtumsetzung einer Richtlinie, D.IV.3., S. 122 (122 f. Fn. 466). 508 Trute, in Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 83 GG Rd. 64 ff. 509 Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 83 GG Rd. 7.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Die Staatspraxis und ein Teil der Lehre wenden die Art. 83 ff. GG für den Vollzug des unmittelbar wirkenden Unionsrechts analog an510, da unmittelbar wirkendes Unionsrecht nicht als Bundesrecht i. S. d. VIII. Abschnitts des Grundgesetzes vollzogen werde511. Dies hat zur Folge, dass dem Bund die Rechtsaufsicht gem. Art. 84 Abs. 3 GG analog über die gesamte Ausführung des unmittelbar wirkenden Unionsrechts gegenüber den Ländern zukommt. Andere differenzieren danach, wem innerstaatlich für die jeweilige Materie fiktiv die Gesetzgebungskompetenz zustehen würde512. Begründet wird dieser Ansatz mit der im ersten Rundfunkurteil vorgenommenen Äußerung des Bundesverfassungsgerichts, die äußere Grenze der Verwaltungsbefugnis des Bundes sei die ihm zugewiesene Gesetzgebungskompetenz513. Für den Vollzug einer unmittelbar wirkenden Vorschrift des Unionsrechts wären die Art. 83 ff. GG analog nach dieser Ansicht dann anzuwenden, wenn die Regelung des Unionsrechts nach der fiktiven Gesetzgebungskompetenz in die Zuständigkeit des Bundes fallen würde514. Andernfalls wären die Länder für den Vollzug gem. Art. 30 GG zuständig515. Danach würde die Rechtsaufsicht des Bundes nur für die Fälle der Anwendbarkeit der Art. 83 GG analog greifen, im Übrigen müsste der Bund bei der nicht ordnungsgemäßen Ausführung des Unionsrechts auf Mittel wie etwa den Bundeszwang nach Art. 37 GG zurückgreifen516. Man könnte auch die Vorschriften der Art. 83 ff. GG direkt anwenden, mit der Begründung, dass das deutsche Zustimmungsgesetz zu den unionsrechtlichen Verträgen, mit dem der Rechtsanwendungsbefehl für das unmittelbar wirkende Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland erteilt wird, den Rang eines einfachen Bundesgesetz einnimmt und damit unmittelbar wirkendes Unionsrecht generell über das Zustimmungsgesetz als „Bundesgesetz“ i. S. d. Art. 83 ff. GG ausgeführt wird. Auch gibt es Überlegungen, den Begriff des „Bundesgesetzes“ derart weit auszulegen, dass darunter alle Normen fallen, die auf einer höheren 510 Broß/Mayer, in: Münch/Kunig, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2012, Art. 83 GG Rd. 21; Dittmann, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 83 GG Rd. 20; Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, Altauflage 21. EL, Art. 83 GG Rd. 51; Streinz, Europarecht, 8. Aufl. 2008, Rd. 540; Weber, Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik, 1987, S. 47 f., 108; Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften im innerstaatlichen Bereich, 1969, S. 212, 223. 511 Dittmann, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 83 GG Rd. 20. 512 Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 83 GG Rd. 4; Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 84 GG Rd. 11; Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 83 GG Rd. 5; Kirchhof, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 54. EL Stand Januar 2009, Art. 83 GG Rd. 71, 126; Suerbaum, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 83 GG Rd. 18 ff., Art. 84 GG Rd. 14; Trute, in Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 83 GG Rd. 66. 513 BVerfGE 12, 205 (229); Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 83 GG Rd. 7. 514 Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 84 GG Rd. 11. 515 Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 84 GG Rd. 11. 516 Trute, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 83 GG Rd. 66.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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Ebene als der der Länder entstanden sind, mit der Begründung, dass die Autoren des Grundgesetzes diese europarechtliche Frage nicht vorhergesehen haben und bei Beantwortung entweder dem Bund oder dem Land die Vollzugskompetenz zugewiesen hätten517. Art. 83 GG enthalte die Grundaussage, dass das höherrangige Recht des Bundes von den Landesverwaltungen ausgeführt werde518. Auch wenn man dieser Interpretation folgt, wären die Art. 83 f. GG direkt anzuwenden. Letztlich kann dieser Streit für die hier zu untersuchende Fragestellung offen bleiben, denn selbst nach der differenzierenden Ansicht sind Regelungsbereiche denkbar, in denen dem Bund fiktiv die Gesetzgebungszuständigkeit zukäme mit der Folge, dass das unmittelbar wirkende Unionsrecht in der Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 83 f. GG analog ausgeführt wird. Im Ergebnis kann auch offen bleiben, ob die Art. 83 f. GG auf die hier zu untersuchende Konstellation des Vollzugs von unmittelbar wirkendem Unionsrecht direkt oder analog anzuwenden sind. Für die weitere Untersuchung ist eine Konstellation zu wählen, in der selbst nach der vermittelnden Ansicht dem Bund für den Bereich des unmittelbar zu vollziehenden Unionsrechts fiktiv die Gesetzgebungskompetenz zukäme und damit nach dieser Ansicht die Art. 83 f. GG analog anzuwenden wären. Mit der herrschenden Meinung soll aus Gründen der übersichtlicheren Darstellung für die weitere Untersuchung Art. 83 f. GG analog herangezogen werden. Stellt nun die Bundesregierung Mängel bei der Ausführung des unmittelbar wirkenden Unionsrechts im Rahmen der Bundesaufsicht über die Länder gem. Art. 84 Abs. 3 Satz 1 GG analog fest und erteilt dem Bundesland eine sog. Mängelrüge519, wäre das Bundesland nach dem Grundsatz der Bundestreue in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG verpflichtet, gegenüber den Kommunalbehörden im Wege der Kommunalaufsicht einzuschreiten, denn dem Bund stehen im Regelfall gegenüber den Kommunalbehörden keinerlei Aufsichts- und Weisungsbefugnisse zu520. Beseitigt das Land die von der Bundesregierung gerügten Mängel bei der Ausführung des unmittelbar wirkenden Unionsrechts nicht, müsste die Bundesregierung zunächst gem. Art. 84 Abs. 4 Satz 1 GG analog auf Antrag einen Beschluss des Bundesrates herbeiführen, ob das Land das Recht des Bundes auf bundestreues Verhalten der Länder in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG durch 517

Kirchhof, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 54. EL Stand Januar 2009, Art. 83 GG Rd. 69. Kirchhof, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 54. EL Stand Januar 2009, Art. 83 GG Rd. 69 f. 519 Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 84 GG Rd. 19. 520 Adressat der Aufsichtsmaßnahme der Bundesregierung nach Art. 84 Abs. 3 GG ist zunächst das Land, da die Kommunen im Verhältnis zum Bund Teil der Länderverwaltung sind; die Länder sind ihrerseits verpflichtet, im Wege der Kommunalaufsicht die Ausführung der Bundesgesetze auf ihre Gesetzmäßigkeit hin zu überwachen (Trute, in Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 84 GG Rd. 88). Für den Bund selbst gibt es im Regelfall aufgrund der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes keinerlei Möglichkeit, gegenüber den Kommunalbehörden Weisungen zu erteilen. Für besondere Fälle kann der Bundesregierung gem. Art. 84 Abs. 5 GG die Befugnis verliehen werden, Einzelweisungen zu erteilen. 518

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

den Nichtvollzug des unmittelbar wirkenden Unionsrechts verletzt hat 521. Stellt der Bundesrat eine derartige Rechtverletzung zum Nachteil des Bundes nicht fest, könnte die Bundesregierung als Antragsstellerin gem. § 68 BVerfGG das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Bund-Länder-Streits gem. Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG analog anrufen (Fall 1)522. Stellt der Bundesrat hingegen eine entsprechende Rechtsverletzung zum Nachteil des Bundes fest, könnte die Landesregierung gem. Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG analog einen Antrag vor dem Bundesverfassungsgericht stellten (Fall 2). Bevor die Frage erörtert wird, wann sich dem Bundesverfassungsgericht bei der Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht durch die Bundesländer entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unions­rechts stellen können, ist zunächst herauszuarbeiten, ob ein Bund-LänderStreit in der in diesem Kapitel zu erörternden Konstellation der Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht durch ein Bundesland zulässig wäre und welchen Prüfungsmaßstab das Bundesverfassungsgericht anwenden würde, bevor am Ende des Kapitels die gewonnenen Erkenntnisse auf ein fiktives Beispiel angewendet werden. a) Zulässigkeitsvoraussetzungen Bund-Länder-Streit aa) Parteifähigkeit Parteifähig im Bund-Länder-Streit sind gem. § 68 BVerfGG der Bund und die Länder, nicht hingegen die Bundes- oder Landesregierung523. Vollzieht eine Kommunalbehörde eines Bundeslandes unmittelbar wirkendes Unionsrecht generell nicht oder nicht ordnungsgemäß und schreitet die Landesregierung nicht im Wege der Kommunalaufsicht ein, ist entweder, wenn der Bundesrat keine Rechtsverletzung gem. Art. 84 Abs. 4 Satz 1 GG analog festgestellt hat (Fall 1), der Bund gem. § 68 BVerfGG Antragsteller und das jeweilige Bundesland Antragsgegner oder, wenn der Bundesrat eine Rechtsverletzung zum Nachteil des Bundes festgestellt hat, das jeweilige Bundesland Antragsteller und der Bund Antrags­gegner (Fall 2)524.

521

Siehe zum Angriffsgegenstand sogleich unten: Angriffsgegenstand, D.IV.4.a)bb), S. 137. Siehe zur Anrufung des Bundesrates als Sachentscheidungsvoraussetzung für den BundLänder-Streit unten: Anrufung des Bundesrates, D.IV.4.a)dd), S. 138 f. 523 Siehe zur Parteifähigkeit oben: Zulässigkeitsvoraussetzungen Bund-Länder-Streit, D.IV. 3.a), S. 124. 524 Siehe oben: Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht, D.IV.4, S. 131 ff. 522

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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bb) Angriffsgegenstand Angriffsgegenstand im Bund-Länder-Streit ist gem. § 69 i. V. m. § 64 Abs. 1 BVerfGG eine Maßnahme oder ein Unterlassen des Antragsgegners. Das Unter­ lassen bedeutet die Außerachtlassung einer Handlungspflicht525. Aufgrund des Charakters des Bund-Länder-Streits als Verfassungsstreitigkeit muss zwischen dem Bund und den Ländern ein materielles Verfassungsrechtsverhältnis bestehen, aus dem sich gegenseitige Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder entnehmen lassen526. Eine verfassungsrechtliche Pflicht der Bundesländer zur Ausführung von Bestimmungen des unmittelbar wirkenden Unionsrechts ergibt sich aus dem Grundsatz der Bundestreue in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG527. Führt eine Kommunalbehörde unmittelbar wirkende Vorschriften des Unionsrechts generell nicht oder unrichtig aus, ergibt sich für die Landesregierung aus dem Grundsatz der Bundestreue in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG die Pflicht, im Wege der Kommunalaufsicht gegen die Behörde einzuschreiten528. Aus dem Prinzip der Bundestreue ergibt sich das für den Bund-Länder-Streit erforderliche verfassungsrechtliche Rechtsverhältnis529. Wird die Landesregierung nicht tätig, stellt dieses Unterlassen einen tauglichen Angriffsgegenstand eines Bund-Länder-Streits gem. § 69 i. V. m. § 64 Abs. 1 BVerfGG dar. cc) Antragsbefugnis Der Antragsteller müsste, um gem. § 69 i. V. m. § 64 Abs. 1 BVerfGG antrags­ befugt zu sein, geltend machen, dass er durch die Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt ist. Für die Antragsbefugnis ist die Möglichkeit einer Rechtsverletzung ausreichend, ob diese tatsächlich vorliegt, wird in der Begründet­heit geprüft.

525

Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 15. EL Stand April 1997, § 69 BVerfGG Rd. 46. 526 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 15. EL Stand April 1997, § 69 BVerfGG Rd. 19. 527 Hermes, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 84 GG Rd. 11.; Streinz, in: Isensee/ Kirchhof, HStR VII, Der Vollzug des Europäischen Gemeinschaftsrechts durch deutsche Staatsorgane, 1992, § 182 Rd. 45, 60; Weber: Rechtsfragen der Durchführung des Gemeinschaftsrechts in der Bundesrepublik, 1987, S. 31, 68. Vgl. auch: Huster/Rux, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 20 Rd. 33. 528 Vgl. BVerfGE 8, 122 (129 ff., 141) – Hessische Atombefragung; Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1082, 1078. 529 Vgl. Detterbeck, Streitgegenstand und Entscheidungswirkungen im Öffentlichen Recht, 1995, S. 407 f.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Wie gerade herausgearbeitet, ergibt sich für die Bundesländer aus dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG die verfassungsrechtliche Pflicht, unmittelbar wirkende Vorschriften des Unionsrechts zu vollziehen530, falls notwendig durch Ausübung der Aufsichts- und Weisungsbefugnis gegenüber der Kommunalbehörde531. Aus dem Grundsatz der Bundestreue in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG ergibt sich mithin für den Bund ein Anspruch darauf, dass die Bundesländer das unmittelbar wirkende Unionsrecht ordnungsgemäß ausführen532. Unterlässt ein Bundesland die Einwirkung auf die Kommunalbehörde, besteht die Möglichkeit, dass der Bund dadurch in seinem verfassungsrechtlich verankerten Recht auf bundesfreundliches Verhalten der Länder in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG verletzt ist. Der Bund ist damit gem. § 69 i. V. m. § 64 Abs. 1 BVerfGG antragsbefugt. dd) Anrufung des Bundesrates Stellt die Bundesregierung fest, dass ein Bundesland unmittelbar wirkendes Unionsrecht nicht ordnungsgemäß vollzogen hat und erteilt dem Bundesland eine Mängelrüge (vgl. Art. 84 Abs. 4 Satz 1 Hs. 1 GG analog), ist fraglich, ob bei Weigerung des Bundeslandes zur Beseitigung dieses Mangels in Form des Einschreitens gegenüber der Kommunalbehörde die Anrufung des Bundesrats durch die Bundesregierung gem. Art. 84 Abs. 4 Satz 1 2. Hs. GG analog eine notwendige Sachentscheidungsvoraussetzung für einen Bund-Länder-Streit darstellt. Die herrschende Lehre geht davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht erst nach Befassung des Bundesrates angerufen werden kann und Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG verdrängt533. Stellt die Bundesregierung bei der Ausführung des unmittelbar wirkenden Unionsrechts durch ein Bundesland Mängel fest (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 GG analog), muss die Bundesregierung vor Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts somit den Bundesrat anrufen. Bestätigt der Bundesrat die von der Bundesregierung festgestellten Mängel nicht, kann die Bundesregierung einen (zulässigen) Antrag im Bund-Länder-Streit gem. Art. 84 Abs. 4 Satz 2 GG analog stellen (Fall 1)534. Erachtet der Bundesrat hingegen die durch die Bundesregierung festgestellten Mängeln bei dem Vollzug des unmittelbar wirkenden Unionsrechts als gegeben 530

Siehe oben: Angriffsgegenstand, D.IV.4.a)bb), S. 137. Siehe oben: Angriffsgegenstand, D.IV.4.a)bb), S. 137. 532 Siehe oben: Antragsbefugnis, D.IV.3.a)cc), S. 124 f. 533 Siehe zur umfassenden Darstellung des Meinungsstreits: Lerche, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, Altauflage 24. EL, Art. 84 GG Rd. 178 ff. So auch: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1087. A. A. Kössinger: Die Durchführung des Europäischen Gemeinschaftsrechts im Bundesstaat, 1989, S. 158. 534 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1088. 531

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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und stellt eine Rechtverletzung zum Nachteil des Bundes fest, wäre die Landesregierung für das Land Antragstellerin und die Bundesregierung würde für den Bund als Antragsgegnerin gem. § 68 BVerfGG auftreten (Fall 2). ee) Frist Gem. § 70 BVerfGG müsste der Antrag der Bundes- bzw. Landesregierung innerhalb eines Monats nach der Beschlussfassung des Bundesrates erfolgen. ff) Rechtsschutzbedürfnis Folgt eine mögliche Rechtsverletzung des Antragstellers aus dem Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens535, müsste der Antragsteller den Antragsgegner vor Klageerhebung förmlich um die Beachtung seiner Pflicht ersuchen, damit ein Rechtsschutzinteresse gegeben ist536. Der Bund müsste das Bundesland demnach ausdrücklich zum Einschreiten gegenüber der Kommunalbehörde im Rahmen der Kommunalaufsicht auffordern und damit zur Sicherstellung eines ordnungs­ gemäßen Vollzug des Unionsrechts auffordern. Erst nach erteilter Mängelrüge der Bundesregierung i. S. d. Art. 84 Abs. 4 Satz 1 GG analog und Weigerung der Landesregierung zur Anweisung der Kommunalbehörde zum ordnungsgemäßen Vollzug des Unionsrechts wäre das Rechtsschutzbedürfnis des Bundes im Bund-Länder-Streit gegeben. Das Rechtsschutzinteresse im Bund-Länder-Streit entfällt, wenn der gerügte Verstoß einen nicht schwerwiegenden Mangel bei der Gesetzesausführung darstellt537. Die Zusage einer Korrektur durch die oberste Landesbehörde lässt das Rechtsschutzinteresse des Bundes entfallen538. In der hier zu untersuchenden Konstellation ist daher davon auszugehen, dass die entsprechenden Kommunal­ behörden die streitgegenständlichen unmittelbar wirkenden Vorschriften des Unions­rechts generell nicht vollziehen und eine Zusage zur Änderung dieser Praxis nicht vorliegt. b) Prüfungsmaßstab des BVerfG Ist der Antrag zulässig, prüft das Bundesverfassungsgericht, ob das Unter­lassen des aufsichtsrechtlichen Einschreitens der Landesregierung beim Vollzug des unmittelbar wirkenden Unionsrechts trotz einer für das Bundesland bestehenden 535

Siehe oben: Antragsbefugnis, D.IV.4.a)cc), S. 137 f. Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 472. 537 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1094. 538 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 1094. 536

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Pflicht das Recht des Bundes aus dem Grundsatz der Bundestreue in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG verletzt. Das Bundesverfassungsgericht untersucht, ob die von der Bundesregierung festgestellten Mängel bei der Ausführung des Unionsrechts tatsächlich vorliegen. c) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG Im Rahmen der Prüfung, ob beispielsweise eine Verordnung von den Kommunalbehörden eines Bundeslandes ordnungsgemäß ausgeführt worden ist, könnte sich dem Bundesverfassungsgericht unter Umständen die Vorfrage stellen, ob bzw. in welchem Umfang die Verordnung eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zum Vollzug enthält. Eine solche Verpflichtung könnte dann entfallen, wenn die Verordnung entweder wegen Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrecht nichtig ist (vgl. Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV) oder wenn die Auslegung der Verordnung ergibt, dass eine Vollzugspflicht nicht bzw. nicht in dem von der Bundesregierung geltend gemachtem Umfang besteht (vgl. Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 2 AEUV)539. Die Frage nach der Gültigkeit bzw. der Auslegung der Verordnung begründet dann eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV, wenn die Beantwortung für die Feststellung der Rechtsverletzung zum Nachteil des Bundes im Bund-Länder-Streit entscheidungserheblich ist. Ist die Verordnung gültig bzw. begründet sie eine in dem von der Bundesregierung geltend gemachten Umfang bestehende Vollzugspflicht der Mitgliedstaaten, wäre das Bundesland aus dem Grundsatz der Bundestreue in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG zum Einschreiten im Wege der Kommunalaufsicht gegenüber der Kommunalbehörde verpflichtet und der Bund in seinem daraus folgenden verfassungsrechtlichen Anspruch auf Einschreiten verletzt. Ist die Verordnung hingegen ungültig oder beinhaltet sie keine bzw. keine in dem von der Bundesregierung geltend gemachten Umfang bestehende Vollzugspflicht, wäre eine Rechtsverletzung zum Nachteil des Bundes nicht gegeben. Die Frage nach dem Bestehen bzw. der Reichweite einer durch die Verordnung begründeten Vollzugspflicht der Mitgliedstaaten wäre entscheidungserheblich, da hiervon die Feststellung der Rechtsverletzung zum Nachteil des Bundes und damit das Ergebnis im Bund-LänderStreit abhängt. Sind die Länder zum Vollzug unmittelbar wirkender Bestimmungen des Primärrechts oder einer unmittelbar wirkenden Richtlinie aus dem Grundsatz der Bundestreue in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich verpflichtet und unterlässt eine Landesbehörde den Vollzug, könnten sich dem Bundes­ 539 Vgl. zu der Möglichkeit, dass Verordnungen mit eingeschränkten räumlichen Geltungsumfang nur für einen Teil der Mitgliedstaaten ihre unmittelbare Wirkung entfalten: Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4 Auflage 2011, Art. 288 AEUV Rd. 22 m. w. N.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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verfassungsgericht in beiden Fällen entscheidungserhebliche Fragen danach stellen, ob die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung der primär- oder sekundärrechtlichen Bestimmung überhaupt vorliegen540. Denn ob eine Norm die von dem Gerichtshof der Europäischen Union entwickelten Kriterien für die unmittelbare Wirkung erfüllt, entscheidet letztverbindlich der Gerichtshof der Europäischen Union. Hängt von der Beantwortung der Frage nach der unmittelbaren Wirkung die Feststellung der Verletzung verfassungsrechtlicher Pflichten der Länder gegenüber dem Bund im Bund-Länder-Streit ab, ist die Frage entscheidungserheblich541. d) Beispiel Auch hier soll zur besseren Verständlichkeit ein fiktives, stark vereinfachtes Beispiel gebildet werden, um aufzuzeigen, welche entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts sich dem Bundesverfassungsgericht anlässlich der verfassungsrechtlichen Prüfung stellen können, die eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. Angenommen, eine Verordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten zur zwangsweisen Destillation einer bestimmten, in der Verordnung näher festgelegten Menge Wein pro Mitgliedstaat, um dadurch ein auf dem Markt vorhandenes Über 540 Siehe zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung von Primärrecht und Richt­ linien oben: Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht, D.IV.4., S. 131 (132). 541 Keine entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts würden sich dem Bundesverfassungsgerichts in Abgrenzung zu dem gerade er­örterten Fall des unmittelbar mitgliedstaatlichen Vollzugs von Unionsrecht stellen, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Bund-Länder-Streits nach erfolgter Mängelrüge der Bundesregierung über den Nichtvollzug von Umsetzungsrecht zu Unionsrecht zu entscheiden hätte. Bei dem mittelbar mitgliedstaatlichen Vollzug von Unionsrecht wenden die Mitgliedstaaten Vorschriften an, die die nationalen Gesetzgeber zur Umsetzung von Unionsrecht erlassen haben (Trute, in Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 83 GG Rd. 58), was beispielsweise der Vollzug eines zur Umsetzung einer Richtlinie gem. Art. 288 Abs. 3 AEUV erlassenen Bundesgesetz ist. In diesem Fall führen die Länder die Bundesgesetze unproblematisch gem. Art. 83 f. GG als eigene Angelegenheit aus. Vollziehen Kommunalbehörden generell das Umsetzungsgesetz nicht und schreitet die Landesregierung gegenüber den Kommunalbehörden nicht im Rahmen der Kommunalaufsicht ein, liegt in jedem Fall eine Verletzung des Bundes in seinem Recht auf bundesfreundlichen Verhalten i. V. m. Art. 23 Abs. 1 GG vor. Denn sowohl bei Gültigkeit als auch bei Ungültigkeit der Richtlinie ergibt sich für das Bundesland die Vollzugspflicht unmittelbar aus dem Bundesgesetz, das die Richtlinie in nationales Recht umsetzt. Die Ungültigkeit der Richtlinie würde aber die Wirksamkeit des Bundesgesetzes nicht berühren. Entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der Richtlinie, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, stellen sich dem Bundesverfassungsgericht daher nicht.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

angebot von Wein in der Europäischen Union zu reduzieren542 und zu verhindern, dass in einem Weinjahr mit besonders hohen Erträgen der Weinpreis verfällt543. Die Verordnung beinhaltet die Pflicht der Mitgliedstaaten, nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht zu bestimmen, welche Winzer welche Mengen Wein zwangsweise zu destillieren haben, um die in der Verordnung pro Mitgliedstaat festgelegte Gesamtmenge des zwangsweise zu destillierenden Weins zu erreichen. Es ist davon auszugehen, dass die Verordnung durch die jeweils zuständige Kommunalbehörde durch Verwaltungsakt im Wege des unmittelbar mitgliedstaatlichen Vollzugs und nicht durch ein Ausführungsgesetz im Rahmen des mittelbar mitgliedstaatlichen Vollzugs auszuführen ist. Unterlässt nun die zuständige Kommunalbehörde generell den Erlass der Verwaltungsakte, die die Winzer zur zwangsweisen Destillation einer vorgegebenen Menge Wein verpflichten, und weigert sich die Landesregierung nach Aufforderung und Mängelrüge durch die Bundesregierung zum Einschreiten gegenüber der Kommunalbehörde im Wege der Kommunalaufsicht, kann der Bund gegen das Land im Wege des Bund-Länder-Streits gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 13 Nr. 7, § 68 ff. BVerfGG vor dem Bundesverfassungsgericht die Feststellung begehren, dass sein Recht auf bundesfreundliches Verhalten des Bundeslandes in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG durch das Nichteinschreiten der Landesregierung verletzt ist. Im Rahmen des Bund-Länder-Streits könnten sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen sowohl der Auslegung (Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 2 AEUV) als auch der Gültigkeit der Verordnung (Art. 267 Abs. 1 lit. b) Alt. 1 AEUV) stellen. Bestehen Auslegungsunklarheiten bei der Verordnung, beispielsweise weil ihr nicht eindeutig zu entnehmen ist, ob die Pflicht zur zwangsweisen Durchführung der Weindestillation alle Mitgliedstaaten trifft, oder nur solche, die eine bestimmte Herstellungsmenge überschreiten544, könnte dies eine entscheidungserhebliche Frage der Auslegung der Verordnung sein. Denn würde eine Pflicht zur zwangsweisen Durchführung der Weindestillation für die Bundesrepublik Deutschland nicht bestehen, stellt das Nichteinschreiten der Landesregierung gegenüber der Kommunalbehörde keine Rechtverletzung zum Nachteil des Bundes dar, und der Antrag im Bund-Länder-Streit wäre unbegründet. Andernfalls, wenn die Auslegung der Verordnung eine Pflicht der Bundesrepublik Deutschland zur zwangsweisen Durchführung der Weindestillation ergibt, würde durch das Nicht 542

Das Beispiel ist entfernt angelehnt an die Verordnung 555/2008 der EU-Kommission vom 27. Juni 2008, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union, L 170/1 ff. vom 30. Juni 2008 und die Verordnung 479/2008 des Rates vom 29. April 2008, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union, L 148/1 ff. vom 6. Juni 2008; vgl. insbesondere Art. 18 Abs. 1 der Verordnung. Siehe ferner den Sachverhalt zu Fall 14 Teil I, Der mitgliedstaatliche Vollzug von Unionsrecht, bei: Musil/Burchard, Klausurenkurs im Europarecht, 2. Aufl. 2011, Rd. 313. 543 Musil/Burchard, Klausurenkurs im Europarecht, 2. Aufl. 2011, Rd. 313 Teil I. 544 Siehe oben: Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG, D.IV.4.c), S. 140 Fn. 539.

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einschreiten der Landesregierung gegenüber der Kommunalbehörde der Bund in seinem verfassungsmäßigen Recht auf bundesfreundliches Verhalten des Bundeslandes in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG verletzt sein. In diesem Fall ist die Frage nach dem Bestehen einer durch die europäische Verordnung begründeten Vollzugspflicht der Mitgliedstaaten für die Beantwortung der Frage der Rechtsverletzung zum Nachteil des Bundes im Bund-Länder-Streit entscheidungserheblich und diese Auslegungsfrage muss vom Bundesverfassungsgericht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung vorgelegt werden. Auch könnten sich dem Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der europäischen Verordnung Zweifel hinsichtlich der Gültigkeit der Verordnung ergeben. Ein möglicher Grund könnte hier sein, dass nach Auffassung des Bundes­ verfassungsgerichts in den primärrechtlichen Vorschriften der Europäischen Union keine Ermächtigung erteilt ist zum Erlass einer Verordnung zur zwangsweisen Durchführung der Weindestillation. Die Frage der Gültigkeit der Ver­ordnung wäre dann für den Ausgangsrechtsstreit auch entscheidungserheblich. Denn ist die Verordnung gültig, begründet sie eine Vollzugspflicht für die Bundesländer. Ein Unterlassen des Einschreitens der Landesregierung würde eine Verletzung des Rechts des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten des Bundeslandes in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG darstellen. Ist sie dagegen ungültig, besteht keine Vollzugspflicht und damit auch keine Rechtsverletzung zum Nachteil des Bundes. Die Frage der Gültigkeit der Verordnung ist damit entscheidungserheblich und von dem Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV vorzulegen. e) Resümee Beim Nichteinschreiten einer Landesregierung gegenüber Landes- oder Kommunalbehörden, die unmittelbar wirkendes Unionsrecht nicht oder nicht ordnungsgemäß vollziehen, sind Fragen nach dem Bestehen bzw. der Reichweite einer durch eine Vorschrift des unmittelbar wirkenden Unionsrechts begründeten Vollzugspflicht der Mitgliedstaaten entscheidungserheblich, wenn davon die Feststellung der Verletzung des Rechts des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten der Länder in Verbindung Art. 23 Abs. 1 GG und damit das Ergebnis des Bund-­ Länder-Streits abhängt. 5. Nichtausfertigung eines Umsetzungsgesetzes zu einer Richtlinie Neben den bereits ermittelten Konstellation könnten sich dem Bundesverfassungsgericht vorlagepflichtige Fragen des Unionsrechts stellen, wenn der Bundespräsident ein Umsetzungsgesetz zu einer unionsrechtlichen Richtlinie wegen eines von ihm ermittelten Verstoßes gegen das Grundgesetz nicht gem. Art. 82 Abs. 1

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Satz 1 GG ausfertigt und verkündet545. Eine solche Weigerung des Bundespräsidenten ist im Rahmen eines Organstreitverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, i. V. m. § 13 Nr. 5, § 63 ff. BVerfGG einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht zugänglich546. Denkbar ist, dass der Bundestag als Antragsteller gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 63 BVerfGG im Organstreit die Feststellung begehrt, dass er durch die Nichtausfertigung des Umsetzungsgesetzes durch den Bundespräsidenten547 in seinem ihm durch das Grundgesetz zugewiesenen Recht zur Gesetzgebung verletzt ist548. Um zu ermitteln, ob sich dem Bundesverfassungsgericht als Vorfragen der Rechtverletzung des Antragstellers entscheidungserhebliche Fragen der ­Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellen können, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. 545 In der Bundesrepublik Deutschland hat es der Bundespräsident bislang in acht Fällen abgelehnt, ein Gesetz auszufertigen und zu verkünden (http://www.bundespraesident.de/ DE/Amt-und-Aufgaben/Wirken-im-Inland/Amtliche-Funktionen/amtliche-funktionen-node. html, zuletzt abgerufen am 11.04.2012). Von der in diesem Kapitel zu untersuchenden Konstellation zu unterscheiden ist die Frage, ob der Bundespräsident die Ausfertigung eines Gesetzes gem. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG wegen Verstoßes gegen europäisches Unionsrecht verweigern darf. Siehe dazu m. w. N.: Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 82 GG, Rd. 13 ff.; Neumann: Die gemeinschaftsrechtliche Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten, DVBl. 2007, 1335 ff. Gegen die Heranziehung des Unionsrechts als Prüfungsmaßstab für den Bundespräsidenten spricht aber schon, dass im Falle der Unvereinbarkeit einer nationalen Norm mit unionsrechtlichen Vorgaben die entgegenstehenden Normen nicht nichtig sind, sondern das Unionsrecht dem nationalen Recht lediglich in der Anwendung vorgeht (Bauer, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2006, Art. 82 GG Rd. 14 m. w. N.). Zudem spricht gegen die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten, dass in diesem Fall der Prüfungsmaßstab des Bundespräsidenten weiter wäre als der des Bundesverfassungsgerichts (vgl. Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 82 GG, Rd. 12). Denn das Bundesverfassungsgericht prüft ein Umsetzungsgesetz zu einer Unionsrichtlinie entweder eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG oder umfassend am Maßstab der Verfassung, jedenfalls aber nicht am Maßstab des Unionsrechts (siehe die Kapitel oben: Unionsrecht als unmittelbarer Prüfungsmaßstab, D. I., S.69 ff., und Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsmaßstab, D.II., S.72 ff.). 546 Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten in der grundgesetzlichen Demokratie, in: Isensee/Kirchhof, HStR III, 3. Aufl. 2005, § 61 Rd. 46; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 40; ders., Das Zusammenwirken von Europäischen Gemeinschaftsrecht und nationalem, insbesondere deutschem Recht, DVBl. 1986, 306 (312); Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 82 GG Rd. 20. 547 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 40; ders., Das Zusammenwirken von Europäischen Gemeinschaftsrecht und nationalem, insbesondere deutschem Recht, DVBl. 1986, 306 (312). 548 Zur Antragsbefugnis siehe sogleich unten: Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreits, D.IV.5.a), S. 145 f.

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Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, sind zunächst die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreits und der vom Bundesverfassungsgericht anzuwendende Prüfungsmaßstab herauszuarbeiten, bevor am Ende des Kapitels die Ergebnisse auf ein fiktives Beispiel angewendet werden. a) Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreits Wendet sich der Bundestag gegen die Nichtausfertigung eines Gesetzes durch den Bundespräsidenten, ist der Bundestag als Antragsteller gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 63 BVerfGG im Organstreit parteifähig. Der Bundespräsident ist als oberstes Bundesorgan gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 63 BVerfGG tauglicher Antragsgegner im Organstreit. Der Antragsteller muss, um gem. § 64 Abs. 1 BVerfGG antragsbefugt zu sein, geltend machen, dass er oder das Organ, dem er angehört, durch die Maßnahme oder das Unterlassen des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grund­ gesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Ein Unterlassen ist nur dann ein tauglicher Antragsgegenstand, wenn eine verfassungs­rechtliche Pflicht des Antragsgegners zu einem bestimmten Handeln besteht549. Bei der Antragsbefugnis ist das Wesen des Organstreits zu berücksichtigen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über den Umfang der den Verfassungsorganen durch das Grundgesetz zugewiesenen Kompetenzen550, so dass zwischen den Beteiligten ein verfassungsrechtliches Rechtsverhältnis bestehen muss551, aus dem sich gegenseitige Rechte und Pflichten der Verfassungsorgane ableiten lassen. Der Bundespräsident hat gem. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG das Recht, nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommene Gesetze nach Gegenzeichnung auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Dieses Recht des Bundespräsidenten verstärkt sich bei verfassungsmäßigen Gesetzen zu einer Pflicht zur Ausfertigung552. Korrespondierend zu dieser Pflicht des Bundespräsidenten steht das in Art. 77 Abs. 1 GG enthaltene Gesetzgebungsrecht des Bundestags zur Ausfertigung des verfassungsgemäßen Gesetzes durch den Bundespräsident553. Der Bundestag hat spiegelbildlich zu der Pflicht des Bundespräsidenten 549

Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 90. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 80. 551 BVerfGE 1, 208 (211); 2, 143 (155 f., 159); 20, 18 (23 f.); 45, 1 (29); 60, 374 (379); Benda/ Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 989; Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rd. 94; Umbach, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 63, 64 BVerfGG Rd. 132 ff. 552 Schnapp, Ist der Bundespräsident verpflichtet, verfassungsgemäße Gesetze auszufertigen?, JuS 1995, 286 (287 ff., 290). 553 Schnapp, Ist der Bundespräsident verpflichtet, verfassungsgemäße Gesetze auszufertigen?, JuS 1995, 286 (289 f.). 550

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zur Ausfertigung gem. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG ein Recht zur Ausfertigung verfassungsgemäßer Gesetze aus dem Gesetzgebungsrecht des Bundestages nach Art. 77 Abs. 1 GG554. Unterlässt der Bundespräsident die Ausfertigung eines Gesetzes, was somit als Unterlassen ein tauglicher Antragsgegenstand im Organstreitverfahren ist555, muss der Bundestag, um gem. § 64 Abs. 1 BVerfGG antragsbefugt zu sein, geltend machen, durch das Unterlassen des Bundespräsidenten trotz einer gem. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG bestehenden Rechtspflicht zur Ausfertigung verfassungsmäßiger Gesetze in seinem aus Art. 77 Abs. 1 GG resultierenden Gesetzgebungsrecht verletzt zu sein. Der Antrag muss darüber hinaus gem. § 64 Abs. 3 BVerfGG innerhalb von sechs Monaten gestellt werden. Bei einem Unterlassen beginnt die Frist zu dem Zeitpunkt, zu dem der Antragsgegner sich erkennbar, eindeutig und endgültig weigert, der vom Antragsteller begehrten Handlung nachzukommen556. Sieht der Bundespräsident sich außerstande, das Gesetz wegen eines Verfassungsverstoßes auszufertigen und zu verkünden, wird er dieses Ergebnis den gesetzgebenden Organen mitteilen557. Der Bundestag muss den Antrag vor dem Bundesverfassungsgericht sodann innerhalb von sechs Monaten ab Mitteilung der Nichtausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten stellen. b) Prüfungsmaßstab des BVerfG Ist der Antrag im Organstreit zulässig, prüft das Bundesverfassungsgericht, ob durch die Nichtausfertigung des Umsetzungsgesetzes durch den Bundespräsidenten der Bundestag in seinem Gesetzgebungsrecht aus Art. 77 Abs. 1 GG verletzt ist558, und stellt dies bei Begründetheit gem. § 67 Satz 1 und Satz 2 BVerfGG fest. Eine derartige Rechtsverletzung des Bundestages besteht dann, wenn der Bundespräsident zur Ausfertigung des Umsetzungsgesetzes gem. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet und die Weigerung des Bundespräsidenten zur Ausfertigung damit unberechtigt ist. Der Bundespräsident hat die Pflicht zur Ausfertigung des Umsetzungsgesetzes, wenn es weder formell noch materiell – sofern man dem Bundespräsidenten ein materielles Prüfungsrecht zuerkennt559 – verfassungswid 554 Vgl. Umbach, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, 2. Aufl. 2005, § 63, 64 BVerfGG Rd. 141. 555 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 21. EL Stand Juli 2002, § 64 BVerfGG Rd. 39. 556 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 385. 557 Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 82 GG Rd. 19. 558 Siehe oben: Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreits, D.IV.5.a), S. 145 f. 559 Die umstrittene Frage, ob neben dem weitgehend anerkannten formellen Prüfungsrecht dem Bundespräsidenten darüber hinaus ein materielles Prüfungsrecht zuzuerkennen ist, kann für die in dieser Arbeit zu untersuchende Fragestellung der Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV offen bleiben.

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rig ist560. Inzident prüft das Bundesverfassungsgericht damit im Organstreitverfahren die Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes als Vorfrage zur Beantwortung der Frage der Rechtsverletzung. c) Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG Fraglich ist, ob sich dem Bundesverfassungsgericht bei der inzidenten Verfassungsmäßigkeitsprüfung entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der Richtlinie, die die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Um­ setzung in nationales Recht begründet, stellen, die eine Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen. Im Rahmen der formellen Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes prüft das Bundesverfassungsgericht das ordnungsgemäße Zustandekommen des Gesetzes, d. h. die Einhaltung der Gesetzgebungszuständigkeit und des Gesetzgebungsverfahrens, was allein staatsrechtlich nach den Vorschriften des Grundgesetzes zu beurteilen ist. Möglich wäre, dass, bevor durch das Bundesverfassungsgericht ermittelt werden kann, wem die Gesetzgebungskompetenz für eine bestimmte durch die Richtlinie vorgegebene Regelungsmaterie zukommt, sich dem Bundesverfassungsgericht die Frage nach der Auslegung der Richtlinie stellt. Eine Frage nach der Auslegung der Richtlinie ist dann für die Prüfung der formellen Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes entscheidungserheblich, wenn nach einer Auslegungsalternative der Richtlinie dem Bund, nach einer anderen den Ländern die Gesetzgebungszuständigkeit für eine bestimmte Materie zukommt. In diesem Fall hängt das Ergebnis der formellen Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes von der Auslegung der Richtlinie durch den Europäischen Gerichtshof ab und das Bundesverfassungsgericht müsste die Frage nach der Auslegung der Richtlinie im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens dem Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegen.

Siehe zu der Reichweite des Prüfungsrechts des Bundespräsidenten: Bauer, in: Dreier, GG, Bd. III, 2. Aufl. 2006, Art. 82 GG Rd. 12 f.; Lehnguth: Die Verweigerung der Ausfertigung von Gesetzen durch den Bundespräsidenten und das weitere Verfahren, DÖV 1992, 439 (441 ff.); Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 3. EL Stand Januar 1960, Art. 82 GG Rd. 2; Nierhaus, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 82 GG Rd. 5 ff.; Pieper, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Edition 13, Stand 01.01.2012, Art. 82 GG Rd. 1 ff.; Sannwald, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, 12. Aufl. 2011, Art. 82 GG Rd. 16; Schoch: Die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten im Gesetzgebungsverfahren, Jura 2007, 354 (357 ff.). Selbst wenn man nur von einem formellen Prüfungsrecht des Bundespräsidenten ausgeht, können sich dem Bundesverfassungsgericht als Vorfrage zur Feststellung einer Rechtsverletzung des Antragstellers entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit der Richtlinie, die die Mitgliedstaaten zur Umsetzung verpflichtet, stellen. Siehe dazu sogleich weiter unten: Entscheidungserhebliche Fragen des BVerfG, D.IV.5.c), S. 147. 560 Siehe oben: Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreits, D.IV.5.a), S. 145 f.

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Im Vorfeld der materiellen Verfassungsmäßigkeitsprüfung des Umsetzungsgesetzes können sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen nach dem Bestehen bzw. der Reichweite eines ggf. durch die Richtlinie für den nationalen Gesetzgeber eingeräumten Umsetzungsermessens stellen561. Ist den Mitgliedstaaten kein Umsetzungsspielraum durch die Richtlinie eingeräumt, prüft das Bundesverfassungsgericht das Gesetz eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG. Kommt den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung hingegen Ermessen zu oder ist die Richtlinie wegen Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrecht ungültig562, prüft das Bundesverfassungsgericht, soweit das Umsetzungsermessen reicht, das Gesetz umfassend am Maßstab der Verfassung. Die Frage nach dem Bestehen bzw. der Reichweite eines durch eine Richtlinie eingeräumten Umsetzungsspielraums ist somit auch in dieser Konstellation entscheidungserheblich für den Ausgangsrechtsstreit, denn davon hängt der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts bei der inzidenten Verfassungs­ mäßigkeitsprüfung des Umsetzungsgesetzes zu einer Richtlinie im Organstreit ab. d) Beispiel Zur besseren Anschaulichkeit soll auch hier ein wiederum fiktives, stark vereinfachtes Beispiel gebildet werden, um deutlich zu machen, wann sich dem Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Organstreitverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 63 ff. BVerfGG anlässlich einer Weigerung des Bundespräsidenten, ein deutsches Umsetzungsgesetz zu einer Unionsrichtlinie gem. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG auszufertigen, entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts stellen könnten. Angenommen, der deutsche Bundestag beschließt – veranlasst durch eine unionsrechtliche Richtlinie – ein Gesetz, wonach Betreibern einer Industrieanlage eine Geldzahlungspflicht für den Ausstoß schädlicher Emissionen bei Überschreiten eines bestimmten, in dem Gesetz näher festgelegten Grenzwertes auferlegt wird563. Der Bundespräsident könnte nach verfassungsrechtlicher Prüfung die Ausfertigung des Umsetzungsgesetzes mit der Begründung verweigern, dem Bund fehle für eine derartige Regelung die Gesetzgebungskompetenz. Der Bundestag könnte nun im Rahmen eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht gem. § 67 Satz 1 und Satz 2 BVerfGG die Feststellung begehren, dass die Nichtausfertigung des deutschen Umsetzungsgesetzes zu der Unionsrichtlinie den Bundestag in seinem Recht auf Gesetzgebung gem. Art. 77 Abs. 1 GG verletzt. Sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen des Organstreitverfahrens gegeben, prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der formellen Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes, ob dem Bund für den Bereich des Ausstoßes 561

Siehe oben: Auslegung der Richtlinie, D.IV.2.c)aa), S. 117 f. Siehe oben: Gültigkeit der Richtlinie, D.IV.2.c)bb), S. 118 f. 563 Das Beispiel ist angelehnt an: BVerfGE 118, 79 – Treibhausgas/Emissionshandel. 562

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schädliche Emissionen tatsächlich gem. Art. 70 ff. GG die Gesetzgebungskompetenz zusteht. Lässt die Richtlinie mehrere mögliche Auslegungsergebnisse zu und fällt nach einer Auslegung dem Bund nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 24 Var. 2 GG die Gesetzgebungskompetenz zu, nach einer anderen Auslegung aber den Ländern, wäre die Frage nach der Auslegung der Richtlinie für die Feststellung der Rechtsverletzung im Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblich. e) Resümee Festzuhalten ist, dass sich dem Bundesverfassungsgericht anlässlich der inzidenten Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Umsetzungsgesetzes zu einer Richt­ linie zur Ermittlung der Verfassungsmäßigkeit der Nichtausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten, entscheidungserhebliche, europarechtliche Fragen stellen können. Entscheidungserheblich sind die Fragen nach der Auslegung der Richtlinie zum einen, wenn davon die formelle Verfassungsmäßigkeit des Umsetzungsgesetzes abhängt. Zum anderen kann bei der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit der vom Bundesverfassungsgericht anzuwendende Prüfungsmaßstab von der Beantwortung der Frage nach dem Bestehen bzw. der Reichweite eines durch die Richtlinie eingeräumten Umsetzungsspielraums abhängen. Stellen sich dem Bundesverfassungsgericht diese Fragen, ist es zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet. 6. Nationale Vollzugsakte zu europäischem Unionsrecht Zu untersuchen ist, ob sich für das Bundesverfassungsgericht vorlagepflichtige Konstellationen bei einer Entscheidung im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde vor Erschöpfung des Rechtsweges i. S. v. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG564 gegen 564

Feige geht davon aus, dass bei einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor Erschöpfung des Rechtswegs i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG das Bundesverfassungsgericht Fragen der Auslegung oder Gültigkeit des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen müsse und damit die Arbeit zu leisten habe, die im Normalfall die Instanzgerichte vorzunehmen haben (Feige, Bundesverfassungsgericht und Vorabentscheidungskompetenz des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, AöR 100 [1975], 530 [542 f.]). Büdenbender hält eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts bei Vollzugsakten zu unmittelbar wirkendem Unionsrecht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV für gegeben, wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer zulässigen Verfassungsbeschwerde über die Anwendung von Unionsrecht durch deutsche Behörden zu entscheiden habe und der erlassene deutsche Vollzugsakt möglicherweise in durch Art. 23 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers eingreife (Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 248 f.). Entscheidungserheblich sei die Frage nach der Gültigkeit bzw. der Auslegung des Sekundärrechtsaktes, da bei Unwirksamkeit eine Verpflichtung deutscher Behörden zur Anwendung des Sekundärrechtsaktes in der Bundesrepublik Deutschland ausscheide

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Vollzugsakte einer deutschen Behörde zu europäischem Unionsrecht565 ergeben könnten. Dies würde voraussetzen, dass Vollzugsakte zu europäischem Unionsrecht überhaupt in zulässiger Weise vom Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde überprüft werden können und einer Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union nicht die Besonderheiten der Verfahrensnorm des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG entgegenstehen. Nach der dieser Arbeit zugrunde gelegten These ist das Bundesverfassungsgericht nur dann als „letztinstanzliches Gericht“ i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV mit der Folge einer eigenen Pflicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union einzuordnen, wenn eine Entscheidung der Fachgerichte (noch) nicht vorliegt und es selbst abschließend über den Verfassungsrechtsstreit urteilt566. Denn andernfalls sind die Fachgerichte und nicht das Bundesverfassungsgericht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union verpflichtet567. Nationale Vollzugsakte zu europäischem Unionsrecht sind zum einen bei un­ mittelbar wirkenden Vorschriften des Unionsrechts möglich568. In Betracht kommt ein von einer deutschen Behörde abgelehnter Vollzugsakt zu einer nicht fristgerecht in den Mitgliedstaaten umgesetzten Richtlinie, die unbedingt und hinreichend genau ist569. Denkbar ist aber auch ein ablehnender Bescheid einer deutschen Behörde zu einer unionsrechtlichen Verordnung oder zu unmittelbar wirkenden Vorschriften des Primärrechts. Zum anderen könnte Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts ein Vollzugsakt einer deutschen Behörde zu einem deutschen Rechtsakt sein, der sekundäres Unionsrecht in nationales Recht umsetzt oder dessen Ausführung in nationalem Recht regelt570. Dies wäre denkbar, wenn ein Ver(Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 248 f., 229 ff., 242 ff.). Eine solche Verpflichtung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV bestehe auch dann, wenn die Fachgerichte bereits eine Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union auf Grundlage des Art. 267 AEUV eingeholt haben, es sei denn, dass Bundesverfassungsgericht stimme mit der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zur Gültigkeit des Sekundärrechtsaktes überein (Büdenbender, Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005, S. 249). 565 Zur Möglichkeit bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegen Vollzugsakte deutscher Behörden siehe: Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 35 Rd. 48 f.; Sauer, Jurisdiktionskonflikte in Mehrebenensystemen, 2008, S. 175 f.; Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1989 S. 188 ff. (191 f.). 566 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (51). 567 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 (51). 568 Zum unmittelbar mitgliedstaatlichen Vollzug des Unionsrechts siehe oben: Nichtaus­ führung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht, D.IV.4., S. 131 (S. 133 Fn. 502). 569 Zu den Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie siehe oben: Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie, D.IV.2., S. 108 (S. 109 Fn. 420). 570 Zum mittelbar mitgliedstaatlichen Vollzug des Unionsrechts siehe oben: Nichtausführung von unmittelbar wirkendem Unionsrecht, D.IV.4., S. 131 (S. 133 Fn. 504).

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waltungsakt von einer deutschen Behörde zu einem Um­setzungsgesetz zu einer unionsrechtlichen Richtlinie erlassen wird. Möglich ist aber auch, dass ein Verwaltungsakt zu deutschen Ausführungsvorschriften zu einer unionsrechtlichen Verordnung ergeht. Denn eine Verordnung entfaltet zwar gem. Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbare Wirkung, dennoch kann den Mitgliedstaaten der Erlass von Ausführungsvorschriften zu einer Verordnung überlassen werden571. Die Untersuchung wird im Folgenden aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit anhand eines behördlichen Vollzugsaktes zu einer unmittelbar wirkenden Bestimmung einer nicht fristgerecht in deutsches Recht umgesetzten Richtlinie, die unbedingt und hinreichend genau ist, vorgenommen werden. Die Ausführungen gelten jedoch entsprechend für einen Vollzugsakt zu Umsetzungsgesetzen bzw. Ausführungsvorschriften des sekundären Unionsrechts, über die das Bundesverfassungsgericht vor Erschöpfung des Rechtsweges gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG entscheidet. a) Mögliche Fallgestaltungen Verweigert eine deutsche Behörde den Erlass eines begünstigenden Verwaltungsaktes, der seine Rechtsgrundlage in unmittelbar wirkenden Vorschriften einer nicht fristgerecht in deutsches Recht umgesetzten Richtlinie findet, mit der Begründung entgegenstehender nationaler Regelungen, müsste der Betroffene zunächst vor dem zuständigen deutschen Verwaltungsgericht Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 2 Alt. 2 VwGO auf Erlass des abgelehnten, begünstigenden Verwaltungsaktes erheben. Das Verwaltungsgericht würde in dieser Konstellation prüfen, ob die unmittelbar wirkenden Vorschriften der nicht fristgerecht um­ gesetzten Richtlinie, die als Anspruchsgrundlage für den vom Antragsteller begehrten begünstigenden Verwaltungsakt in Betracht kommen, mit höherrangigem Unionsrecht vereinbar sind572 und den entgegenstehenden deutschen Bestimmungen in der Anwendung vorgehen573. Stellen sich dem Verwaltungsgericht im Rahmen dieser Prüfung entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts, muss spätestens das letztinstanzliche Gericht diese Fragen bei Entscheidungserheblichkeit für den Ausgangsrechtsstreit dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegen574. Entscheidungserheblich 571

Siehe oben: Umsetzungsgesetz zu einer Richtlinie, D.IV.2., S. 108 (S. 110 Fn. 424). Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 36 Rd.  31 f. 573 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Rechtsschutz in der EU, 2. Aufl. 2003, § 36 Rd.  34 f.; Schmidt-Aßmann, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 22. EL Stand September 2011, Rd. 110. 574 Siehe oben: Vorlagepflicht der Fachgerichte nach der Rechtsprechung des EuGH, B.III.1., S.  28 ff. 572

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

für das Verwaltungsgericht könnte etwa die Frage sein, ob eine nicht fristgerecht in nationales Recht umgesetzte Richtlinie die vom Gerichtshof der Europäischen Union aufgestellten Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung entfaltet, d. h. inhaltlich unbedingt und hinreichend bestimmt ist. Denn entfaltet die Richtlinie unmittelbare Wirkung mit der Folge, dass der Antragsteller unmittelbar einen Anspruch auf Erlass des begünstigenden Verwaltungsaktes aus einer Bestimmung dieser Richtlinie hat, würden diese Vorschriften den entgegenstehenden nationalen Regelungen vorgehen und die verwaltungsgerichtliche Klage wäre im Ergebnis begründet. Andernfalls, d. h. bei fehlender unmittelbarer Wirkung, würde kein Anspruch des Antragstellers aus europarechtlichen Bestimmungen bestehen und die Klage wäre unbegründet. Ebenfalls wäre denkbar, dass sich dem Gericht die für den Verwaltungsrechtsstreit entscheidungserhebliche Frage nach der Gültigkeit der Richtlinie stellt. Denn wäre die Richtlinie wegen Verstoßes gegen höherrangiges Unionsrecht ungültig, bestünde kein Anspruch des Klägers auf Erlass des begünstigenden Verwaltungsaktes; wäre sie gültig, hingegen schon. aa) Verfassungsbeschwerde wegen willkürlicher Nichtvorlage des Fachgerichts an den EuGH Unterbleibt in dem obigen Beispiel eine Vorlage der entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts durch das Fachgericht an den Gerichtshof der Europäischen Union in willkürlicher Weise, kann der Beschwerdeführer das grundrechtsgleiche Recht auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG mit der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht als verletzt rügen575. Ist diese Verfassungsbeschwerde wegen einer in willkürlicher Weise unterlassenen Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union begründet, hebt das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts gem. § 95 Abs. 2 i. V. m. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auf und verweist die Sache an das zuständige Fachgericht zurück576. Im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Prüfung der Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter wegen unterlassener Vorlage des Fachgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union legt das Bundesverfassungsgericht aber die entscheidungserheblichen Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht selbst vor577. Diese Aufgabe ist nach Zurückverweisung der Rechtssache an das Fachgericht vielmehr von dem Fachgericht zu erfüllen. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet in dieser Konstellation nicht „letztinstanzlich“ i. S. v. Art. 267 Abs. 3 AEUV578. 575 Siehe oben: Verletzung der Vorlagepflicht durch die Fachgerichte nach der Rechtsprechung des BVerfG, B.III.2., S. 38 f. 576 Siehe oben: Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des BVerfG, B.III.3., S. 39 ff. 577 Siehe oben: Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des BVerfG, B.III.3., S. 39 ff. 578 Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 ff.

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Bei einer in willkürlicher Weise unterlassenen Vorlage für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserheblicher Fragen durch ein Fachgericht und eine hiergegen gerichtete, begründete Verfassungsbeschwerde trifft das Bundesverfassungsgericht selbst mithin keine Verpflichtung zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union579. bb) Verfassungsbeschwerde gegen das letztinstanzliche verwaltungsgerichtliche Urteil Zudem kann der Betroffene nach Erschöpfung des verwaltungsgerichtlichen Rechtsweges gegen das letztinstanzliche Urteil Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht erheben, wenn durch das Urteil die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung des Beschwerdeführers besteht. In dieser Konstellation sind die entscheidungserheblichen Fragen der Aus­legung oder der Gültigkeit des Unionsrechts ebenfalls bereits durch die Fach­gerichte geklärt, wenn man davon ausgeht, dass die Fachgerichte einer bestehenden Vorlagepflicht an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV nachkommen. Eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts besteht mangels entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unions­rechts in dieser Konstellation ebenfalls nicht. cc) Verfassungsbeschwerde vor Erschöpfung des Rechtsweges Entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unions­ rechts, die eine Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, könnten sich dem Bundesverfassungsgericht – unabhängig von den gerade aufgezeigten Fallgestaltungen – nur dann stellen, wenn das Bundesverfassungsgericht bei einer behaupteten Grundrechtsverletzung ausnahmsweise vor Erschöpfung des Rechtsweges gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG über die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers entscheidet und die entscheidungserheblichen Fragen des Unions­rechts noch nicht durch eine Vorlage der Fachgerichte an den Gerichtshof der Europäischen Union beantwortet sind580.

579

Siehe oben: Auswirkungen auf die Vorlagepflicht des BVerfG, B.III.3., S. 39 ff. Siehe oben: BVerfG als letztinstanzliches Gericht, C.II., S. 47 ff.

580

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

b) Zulässigkeitsvoraussetzungen Verfassungsbeschwerde Fraglich ist, ob eine Verfassungsbeschwerde in dieser Konstellation zulässig ist. Zwar kommt grundsätzlich auch eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Vollzugsakt einer Behörde als Akt der öffentlichen Gewalt i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG in Betracht. Problematisch ist aber, ob das Bundesverfassungsgericht nach § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vor Erschöpfung des Rechts­ weges entscheiden würde, wenn entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts unbeantwortet sind. aa) Beschwerdegegenstand Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde ist gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG jeder Akt der öffentlichen Gewalt. Gem. Art. 1 Abs. 3 GG ist neben der Gesetzgebung und der Rechtsprechung auch die vollziehende Gewalt an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden, so dass die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung unproblematisch zur öffentlichen Gewalt i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG zählt581. Wegen des Gebots der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG und dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung gem. § 90 Abs. 2 BVerfGG vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde sind Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Akte der vollziehenden Gewalt nur in seltenen Fällen unmittelbarer Beschwerde­ gegenstand einer Verfassungsbeschwerde582, vielmehr sind in der Regel Gerichtsentscheidungen und Gesetze Beschwerdegegenstand. Denn im Normalfall beruhen Vollzugsakte der Verwaltung auf einem grundrechtswidrigen Gesetz583 – vgl. § 95 Abs. 3 Satz BVerfGG – so dass Beschwerdegegenstand nach Erschöpfung des Rechtsweges die rechtskräftige, letztinstanzliche Gerichtsentscheidung in Verbindung mit dem angefochtenen Hoheitsakt ist. Ist die letztinstanzliche Entscheidung in Verbindung mit dem Verwaltungsakt Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde, ist das letztentscheidende Fachgericht vorlagepflichtig, so dass eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts ausscheidet584. 581

Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 536, 551, Bethge, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 184; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Grundwerk Stand 1971, Art. 93 GG Rd. 69; Sturm/ Detterbeck, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 93 GG Rd. 87. 582 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 551; Bethge, in: Maunz/ Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 183 f.; Hartmann, in: Pieroth/Silberkuhl, Verfassungsbeschwerde, 2008, § 90 Rd. 77; Hövel, Die Urteils-Verfassungsbeschwerde als einzig erforderliche Verfassungsbeschwerde in der Rechtspraxis?, NVwZ 1993, 549. 583 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 183. 584 Siehe oben: Verfassungsbeschwerde gegen das letztinstanzliche verwaltungsgerichtliche Urteil, D.IV.6.a)bb), S. 153.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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In der hier zu erörternden Konstellation sind aber genau diejenigen Fälle zu untersuchen, in denen Vollzugsakte der Verwaltung zu unmittelbar wirkendem Unions­recht unmittelbar Beschwerdegegenstand der Verfassungsbeschwerde sind, weil das Bundesverfassungsgericht vor Erschöpfung des Rechtsweges gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 GG entscheidet und damit keine letztinstanzliche verwaltungsgerichtliche Entscheidung vorliegt. Maßnahmen der Verwaltung als Akte der öffentlichen Gewalt können nur dann separat mittels der Verfassungsbeschwerde angefochten werden, wenn andernfalls Rechtsschutz durch die Fachgerichte zur Gewährleistung eines effektiven Grundrechtsschutzes zu spät käme585. Nur wenn die Fachgerichte nicht bereits mit der Rechtssache befasst sind, eröffnet sich die Möglichkeit, dass sich dem Bundesverfassungsgericht selbst, und nicht den Fachgerichten, entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts stellen, die eine Vorlagepflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV an den Gerichtshof der Europäischen Union begründen. Lehnt eine deutsche Behörde den Erlass eines begünstigenden Verwaltungsaktes zu einer unmittelbar wirkenden Vorschrift des Unionsrechts auf Antrag des Betroffenen ab, ist diese Ablehnung selbst ein Verwaltungsakt gem. § 35 S. 1 VwVfG, als solcher ein Akt der Exekutive und damit unmittelbar tauglicher Beschwerde­ gegenstand einer Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG586. bb) Rechtswegerschöpfung Damit sich dem Bundesverfassungsgericht selbst – und nicht den Fachgerichten – entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts als Vorfragen der verfassungsrechtlichen Prüfung stellen, muss das Bundesverfassungsgericht über eine verfassungsrechtliche Frage vor Erschöpfung des Rechtsweges entscheiden. Grundsätzlich ist die Verfassungsbeschwerde gegen Verwaltungsakte gem. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG erst nach Erschöpfung des Rechtsweges zulässig. Der Beschwerdeführer muss alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ergreifen, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung zu beseitigen, wozu insbesondere die Beschreitung des fachgerichtlichen Rechtsweges gehört587, nicht aber

585 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 184 a. Siehe zu den Voraussetzungen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor Erschöpfung des Rechtsweges sogleich unten: Rechtswegerschöpfung, D.IV.6.b)bb), S. 155 ff. 586 Vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 397; Hömig, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 35. EL Stand Mai 2011, § 92 BVerfGG Rd. 11; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Grundwerk Stand 1971, Art. 93 GG Rd. 69. 587 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 383.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

Rechtsschutzmöglichkeiten, die dem Beschwerdeführer auf europäischer Ebene zustehen588. Denn die Verfassungsbeschwerde greift als ein außerordentlicher Rechtsbehelf nur dann, wenn die Fachgerichte ihrer Aufgabe zur Wahrung und Durchsetzung der Grundrechte nicht nachgekommen sind589. Die mit dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bezweckte vorherige Anrufung der Fachgerichte soll eine umfassende Vorprüfung des Beschwerdevorbringens sicherstellen und dem Bundesverfassungsgericht ein in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreiten590 und damit eine Entlastung des Bundesverfassungsgerichts gewährleisten591. Ausnahmsweise kann das Bundesverfassungsgericht aber über eine vor Erschöpfung des Rechtsweges eingelegte Verfassungsbeschwerde gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG sofort entscheiden, wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist (Alt. 1) oder dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht, wenn er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen wird (Alt. 2). Daneben kommt eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor Erschöpfung des Rechtswegs wegen Unzumutbarkeit der vorherigen Anrufung der Fachgerichte in Betracht592. Ob die Voraussetzungen für eine Entscheidung vor Erschöpfung des Rechtswegs vorliegen, obliegt der Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts. Eine Pflicht, bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vor Erschöpfung des Rechtsweges zu entscheiden, besteht für das Bundesverfassungsgericht hingegen nicht593. Von allgemeiner Bedeutung ist die Verfassungsbeschwerde, wenn die angefochtene Norm grundsätzliche verfassungsrechtliche Fragen aufwirft und die zu erwartende Entscheidung über den Einzelfall hinaus Klarheit über die Rechtslage in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle schafft und eine fachgerichtliche Vorklärung in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht nicht erforderlich ist594. Geht es um einen Vollzugsakt einer deutschen Behörde zu einer nicht frist­ gerecht umgesetzten Richtlinie, ist es Aufgabe des (letztinstanzlichen) Fachgerichts, die Auslegung bzw. die Gültigkeit der Richtlinie durch die Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union bei Entscheidungs-

588

Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 BVerfGG Rd. 111. BVerfGE 47, 182 (191); 49, 252 (258); 63, 77 (79); 73, 322 (327); 96, 27 (40); 104, 220 (236); 107, 395 (414). 590 BVerfGE 72, 39 (43); 77, 381 (401); 78, 155 (160); 120, 274 (300). 591 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 205a. 592 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 228 ff.; Maunz, in: Maunz/ Dürig, GG, Bd. VI, Grundwerk Stand 1971, Art. 93 GG Rd. 70; Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 BVerfGG Rd. 124 ff. 593 Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, Grundwerk Stand 1971, Art. 93 GG Rd. 72. 594 BVerfGE 27, 88 (98); 68, 176 (185); 98, 218 (243); 101, 54 (74); 102, 197 (210); 108, 370 (386); Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 398. 589

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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erheblichkeit für den Ausgangsrechtsstreit, d. h. für die Prüfung der Rechtsmäßigkeit des abgelehnten Verwaltungsaktes, gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zu klären. Eine fachgerichtliche Vorklärung in rechtlicher Hinsicht, nämlich die Frage nach der Auslegung bzw. der Gültigkeit der Richtlinie, ist in dieser Konstellation sehr wohl erforderlich. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor Erschöpfung des Rechtsweges gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 BVerfGG wegen allgemeiner Bedeutung scheidet in diesem Fall aus. In Betracht kommt eine Vorabentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wenn dem Beschwerdeführer andernfalls ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entsteht, wenn er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen wird. Dies setzt einen intensiven Grundrechtseingriff voraus, der auch bei Erfolg des Rechtsmittels nicht mehr beseitigt werden kann und daher irreparabel ist595. Der Nachteil darf dabei nicht nur in der Beschwer aus dem angegriffenen Hoheitsakt bestehen, sondern muss sich vielmehr aus der gebotenen Rechtswegerschöpfung und der damit einhergehenden zeitlichen Verzögerung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeben596. Wann ein derartiger schwerer und unabwendbarer Nachteil für den Beschwerdeführer vorliegt, richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Das Bundesverfassungsgericht hat einen schweren und unabwendbaren Nachteil für den Beschwerdeführer angenommen, wenn das Durchlaufen des fachgerichtlichen Rechtsweges im Hinblick auf das hohe Lebensalter des Beschwerdeführers und der Bedeutung der verfassungsrechtlichen Rügen unzumutbar erscheint597. Ein schwerer und unabwendbarer Nachteil kommt jedoch nicht in Betracht, wenn eine Entscheidung im Rechtsweg ebenfalls Abhilfe schaffen kann, was nur ausnahmsweise nicht der Fall sein wird598. In der hier zu untersuchenden Konstellation einer Verfassungsbeschwerde gegen einen administrativen Vollzugsakt zu einer in der Bundesrepublik Deutschland nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie, die unbedingt und hinreichend genau ist, ist aber regelmäßig Rechtsschutz durch die Fachgerichte, ggf. im einstweiligen Rechtsschutz, zu erlangen. Eine Entscheidung der Fachgerichte schafft mithin Abhilfe, so dass ein unabwendbarer Nachteil nicht vorliegt. Eine weitere ungeschriebene Ausnahme vom Grundsatz der Rechtswegerschöpfung ist möglich, wenn zwar die Tatbestandsvoraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht vorliegen, aber eine Verweisung des Beschwerdeführers auf den fachgerichtlichen Rechtsweg unzumutbar ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg schon einmal beschritten hat und aufgrund eindeutiger gesetzlicher Regelungen mit keinem günstigen Ergebnis rech-

595

Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 399. 596 Sperlich, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 BVerfGG Rd. 158. 597 BVerfGK 3, 277 (283). 598 Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 227.

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D. Vorlagepflichtige Konstellationen

nen kann oder eine gefestigte jüngere und einheitliche höchstrichterliche Rechtsprechung existiert599. Auch bei dieser ungeschriebenen Ausnahme zu § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG würde das Bundesverfassungsgericht wohl nicht vor Erschöpfung des Rechtsweges entscheiden. Dagegen spricht, dass es widersinnig wäre, auf der einen Seite eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vor Erschöpfung des Rechtswegs wegen einer drohenden irreversiblen Grundrechtsverletzung aufgrund des mit der Beschreitung des Rechtsweges eintretenden Zeitverlusts anzunehmen, dann aber mögliche entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 AEUV vorzulegen. Zwar besteht die Möglichkeit, vor dem Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 104a VerfO ein beschleunigtes Verfahren durchzuführen, was bei einer Vorlage des Bundesverfassungsgerichts bei entsprechender Begründung wohl erfolgen würde600. Aber selbst ein beschleunigtes Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union würde derart lange dauern, dass die Grundrechtsverletzung längst eingetreten wäre. Zudem ist bei den Ausnahmen zu § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zu berücksichtigen, dass durch diese Vorschrift dem Bundesverfassungsgericht ein nicht überprüfbares Ermessen eingeräumt ist601, ob es vor Erschöpfung des Rechtsweges entscheidet. Selbst beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht mithin das Durchschreiten des Rechtswegs fordern, was insbesondere der Fall sein wird, wenn eine umfangreiche Aufklärung entscheidungserheblicher Tatsachen oder einfachrechtlicher Fragen erforderlich ist602. Würde sich dem Bundesverfassungsgericht als Vorfrage der eigentlichen Prüfung einer Grundrechtsverletzung entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts stellen, würde es mit hoher Wahrscheinlichkeit aufgrund dessen keine Entscheidung nach § 90 Abs. 2 Satz BVerfGG treffen, sondern diese Fragen durch die Fachgerichte klären lassen. Aus diesen Gründen wird in allen drei Fallgruppen eine Vorabentscheidung des Bundesverfassungsgerichts gem. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG ausscheiden. 599 BVerfGE 9, 3 (7 f.); 47, 1 (17 f.); 49, 24 (51); 56, 363 (380); 69, 188 (202); 78, 155 (160). Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rd. 228 f.; Sperlich, in: Umbach/ Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 90 BVerfGG Rd. 124 ff. 600 In der Literatur wird bei einer als Eilsache des Bundesverfassungsgerichts ausgewiesenen Vorlage mit einer Verfahrensdauer von unter 3 Monaten gerechnet. So die Überlegun­ gen zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum NDP-Verbotsverfahren (BVerfGE 104, 214) bei: Mayer, Das Bundesverfassungsgericht und die Verpflichtung zur Vorlage an den Europäischen Gerichtshof, EuR 2002, 239 (245). Zum beschleunigten Verfahren gem. Art. 104a VerfO siehe: Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 267 AEUV Rd. 43. 601 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, 32. EL Stand März 2010, § 90 BVerfGG Rd. 397. 602 Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht, 3. Aufl. 2012, Rd. 591.

IV. Unionsrecht als mittelbarer Prüfungsgegenstand

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c) Resümee Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bundesverfassungsgericht bei einer gegen einen deutschen Vollzugsakt zu europäischem Unionsrecht erhobenen Verfassungsbeschwerde mangels Vorliegen der Voraussetzungen des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht vor Erschöpfung des Rechtsweges entscheiden würde. Vielmehr ist der fachgerichtliche Rechtsweg zur Beseitigung des Vollzugsakts zu beschreiten mit der Folge, dass mögliche, für den Ausgangsrechtsstreit entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts dem Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV von den Fachgerichten vorzulegen sind. Entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, stellen sich dem Bundesverfassungsgericht in dieser Konstellation mithin nicht.

E. Fazit Das Bundesverfassungsgericht ist als „einzelstaatliches Gericht“ vom Anwendungsbereich des Art. 267 AEUV erfasst. Es trifft als „letztinstanzliches Gericht“ i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Pflicht zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union, wenn es in originärer Zuständigkeit allein zur Entscheidung berufen ist und damit in erster und in letzter Instanz abschließend über die ihm durch Art. 93 GG und § 13 BVerfGG zugewiesenen Verfassungsrechtsstreitigkeiten entscheidet. Das einem mitgliedstaatlichen Gericht grundsätzlich gem. Art. 267 Abs. 2 AEUV zustehende Recht zur Vorlage verdichtet sich beim Bundes­ verfassungsgericht zu einer Pflicht zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen an den Gerichtshof der Europäischen Union. In Bezug auf die verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten entscheidet das Bundes­verfassungsgericht in den Verfahren, in denen vor oder nach der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung ein Instanzgericht mit der Sache befasst ist, nicht „letztinstanzlich“ i. S. d. Art. 267 Abs. 3 AEUV. In diesen Fällen trifft nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern das letztinstanzliche Fachgericht die Pflicht zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union. Im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde und der konkreten Normenkontrolle trifft das Bundesverfassungsgericht mithin keine Vorlageverpflichtung. Dasselbe gilt, wenn bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde ein Rechtsweg gegen die streitgegenständliche Rechtsnorm eröffnet ist. Auch bei einer in willkürlicher Weise unterlassenen Vorlage eines Fachgerichts trotz bestehender unionsrechtlicher Vorlagepflicht und einer hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG legt das Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts nicht dem Gerichtshof der Europäischen Union vor. Vielmehr hebt es die Entscheidung des Fachgerichts auf und verweist die Sache an das Fachgericht zurück. Auch in dieser Konstellation ist beim Auftreten entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts das letztinstanzliche Fachgericht, nicht aber das Bundesverfassungsgericht, zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet. Entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts an den Gerichtshof der Europäischen Union gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV begründen, können

E. Fazit

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sich dem Bundesverfassungsgericht weder bei einer Kontrolle deutscher Akte am Maßstab des Unionsrechts noch bei einer Überprüfung des primären und sekundären Unions­rechts am Maßstab des Grundgesetzes stellen. Denn das Bundesverfassungsgericht nimmt im Rahmen seiner Zuständigkeit weder unmittelbar noch mittelbar Prüfungen am Maßstab des Unionsrechts vor. Auch überprüft das Bundesverfassungsgericht primäres oder sekundäres Unionsrecht im Rahmen eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens nicht unmittelbar am Maßstab der Grundrechte bzw. des Grundgesetzes. Vorlagepflichtige Konstellationen können beim Bundesverfassungsgericht jedoch auftreten, wenn europäisches Unionsrecht mittelbar Prüfungsgegenstand eines bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens ist. Mittelbar kann europäisches Unionsrecht über das deutsche Zustimmungsgesetz zu den Unionsverträgen Prüfungsgegenstand des Bundesverfassungsgerichts sein. Prüft das Bundesverfassungsgericht nach Inkrafttreten des Zustimmungsgesetzes und des völkerrechtlichen Vertrages das Zustimmungsgesetz anlässlich einer Verfassungsbeschwerde bzw. einer abstrakten Normenkontrolle erstmalig oder in verfassungsrechtlich zulässiger Weise erneut, sind Fragen der Auslegung des primären Unionsrechts entscheidungserheblich, wenn von deren Beantwortung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Ausgangsrechtsstreit, d. h. die Feststellung der Unanwendbarkeit des Primärrechts in der Bundesrepublik Deutschland, abhängt. Ist Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde oder einer abstrakten Normenkontrolle ein deutsches Umsetzungsgesetz zu einer unionsrechtlichen Richtlinie, sind Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts für das verfassungsgerichtliche Verfahren entscheidungserheblich, wenn von deren Beantwortung der vom Bundesverfassungsgericht bei der Verfassungsmäßigkeitsprüfung des Umsetzungsgesetzes anzuwendende Prüfungsmaßstab – entweder umfassend am Maßstab des Grundgesetzes, wenn und soweit die unionsrechtliche Richtlinie den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung Ermessen einräumt, oder eingeschränkt an Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG, wenn und soweit für den Gesetzgeber kein Umsetzungsspielraum besteht – abhängt. Unterlässt ein Bundesland trotz einer unionsrechtlich bestehenden Pflicht die Umsetzung einer Richtlinie in Landesrecht, ist im Rahmen eines Bund-LänderStreits die Frage nach der Auslegung bzw. der Gültigkeit der Richtlinie für den Verfassungsrechtsstreit entscheidungserheblich, wenn von der Beantwortung der Vorlagefrage durch den Gerichtshof der Europäischen Union abhängt, ob das Recht des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten der Länder verletzt ist oder nicht. Beim Nichteinschreiten einer Landesregierung gegenüber Landes- oder Kommunalbehörden, die unmittelbar wirkendes Unionsrecht nicht oder nicht ordnungs­ gemäß vollziehen, sind Fragen nach dem Bestehen bzw. der Reichweite einer

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E. Fazit

durch eine Vorschrift des unmittelbar wirkenden Unionsrechts begründeten Vollzugspflicht der Mitgliedstaaten im Rahmen eines Bund-Länder-Streits entscheidungserheblich, wenn davon die Feststellung der Verletzung des Rechts des Bundes auf bundesfreundliches Verhalten der Länder in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG abhängt. Wird eine Weigerung des Bundespräsidenten zur Ausfertigung eines Umsetzungsgesetzes zu einer unionsrechtlichen Richtlinie wegen eines von diesem ermittelten Verfassungsverstoßes im Wege des Organstreitverfahrens einer bundesverfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich, können sich dem Bundesverfassungsgericht entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung der Richtlinie zur Ermittlung der formellen Verfassungsmäßigkeit des auszufertigenden Umsetzungsgesetzes und damit zur Feststellung der Rechtsverletzung zum Nachteil des Antragstellers im Organstreit stellen. Fragen der Auslegung der Richtlinie, insbesondere nach der Reichweite eines ggf. bestehenden Umsetzungsermessens für den nationalen Gesetzgeber, sind dann entscheidungserheblich, wenn davon der vom Bundesverfassungsgericht bei der inzidenten Prüfung der Verfassungs­ mäßigkeit des Umsetzungsgesetzes anzuwendende Prüfungsmaßstab – entweder umfassend am Maßstab der Verfassung bzw. eingeschränkt am Maßstab von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG – abhängt. Vorlagepflichtige, entscheidungserhebliche Fragen anlässlich einer Individualverfassungsbeschwerde gegen einen Vollzugsakt einer deutschen Behörde zu unmittelbar wirkenden Vorschriften des Unionsrechts bzw. solchen, die der Umsetzung bzw. der Ausführung in deutsches Recht bedürfen, stellen sich dem Bundesverfassungsgericht bei einer möglichen Entscheidung des Bundesverfassungs­gerichts vor Erschöpfung des Rechtsweges i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG nicht. Denn sind Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts als Vorfrage der verfassungsgerichtlichen Prüfung entscheidungserheblich, scheidet ein Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts i. S. d. § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG aus. Auch in dieser Konstellation trifft die Vorlagepflicht das letztinstanzliche Fachgericht, das Rechtschutz gegen einen möglicherweise rechtswidrigen Vollzugsakt zu europäischem Unionsrecht gewährt. Aus alledem folgt, dass Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts für das Bundesverfassungsgericht zum einen dann entscheidungserheblich sind, wenn von deren Beantwortung durch den Gerichtshof der Europäischen Union das Prüfungsergebnis, d. h. die Verfassungsmäßigkeit oder die Verfassungswidrigkeit des Prüfungsgegenstands, abhängt. Zum anderen ist die Entscheidungserheblichkeit auch dann gegeben, wenn durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union der vom Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen Prüfung anzuwendende Prüfungsmaßstab beeinflusst wird. Neben dem Organstreit und dem Bund-Länder-Streit ist das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle dasjenige, bei dem sich dem Bundesverfassungsgericht am ehesten entscheidungserhebliche Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit

E. Fazit

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des Unionsrechts stellen können, die eine Vorlagepflicht des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 267 Abs. 3 AEUV auslösen. Denn im Vergleich zur Rechtssatzverfassungsbeschwerde ist die Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht bei der abstrakten Normenkontrolle nicht von der Jahresfrist des § 93 Abs. 3 BVerfGG abhängig. Wie mit dieser Untersuchung gezeigt wurde, sind mithin Konstellationen denkbar, in denen das Bundesverfassungsgericht eine Pflicht gem. Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage entscheidungserheblicher Fragen der Auslegung oder der Gültigkeit des Unionsrechts an den Gerichtshof der Europäischen Union trifft. Eine Hauptursache dafür, dass eine solche Pflicht nur in den wenigen ermittelten Fallkonstellationen besteht, liegt in der grundgesetzlichen Aufgabenverteilung zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den Fachgerichten. Denn wie herausgearbeitet wurde, legen die Fachgerichte das einfache Recht aus, wenden es an und gewähren Rechtsschutz gegen Vollzugsakte zu europäischem Unionsrecht. Entscheidungserhebliche Fragen des Unionsrechts werden somit in der Regel auf der Ebene der Fachgerichte dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt.

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Sachverzeichnis abstrakte Normenkontrolle 27, 53, 68, 70, 72 ff., 85 ff., 108 ff. –– Antragsberechtigung  98, 115 –– Antragsgegenstand  98, 114 f. –– Klarstellungsinteresse  98, 115 –– Prüfungsmaßstab des BVerfG  101, 115 f. –– Zulässigkeitsvoraussetzungen  98, 114 f. Bananenmarkt-Entscheidung  83 f. Bindungswirkung – EuGH-Entscheidung 37 f., 63 f. Bund-Länder-Streit  53, 68, 122 ff., 131 ff. –– Angriffsgegenstand  124 f., 137 f. –– Antragsbefugnis  124 f., 137 f. –– Frist  126, 139 –– Parteifähigkeit  124, 136 –– Prüfungsmaßstab des BVerfG  127, 139 f. –– Rechtsschutzbedürfnis  126, 139 –– Zulässigkeitsvoraussetzungen  124 ff., 136 ff. Bundesaufsicht 135 Bundespräsident –– Nichtausfertigung Gesetz  143 ff. –– Prüfungsrecht  146 f. Bundesrat  135 f., 138 f. Bundesregierung  122 ff., 135, 138 f. Bundestreue  122 ff., 135 ff. Bundeszwang  126, 128 BVerfG –– Einstweilige Anordnung  54 –– Letztentscheidungskompetenz 13 –– Verhältnis zu Fachgerichten  25 ff. –– Verhältnis zum EuGH  13 ff., 32 –– Vorlagepflichtige Konstellationen  75 ff., 101 ff., 116 ff., 127 ff., 140 ff., 147 ff. –– Zuständigkeit  25 ff. Costa/ENEL-Entscheidung 22 Entscheidungserheblichkeit siehe Vorabentscheidungsverfahren

EuGH –– Auslegungsfragen  31, 33 f., 37 f. –– Gültigkeitsfragen  31, 34 f., 37 f. –– Prüfungsmaßstab 31 –– Verhältnis zum BVerfG  13 ff., 32 –– Verwerfungskompetenz 30 Europäische Verfassungsgerichte  15 ff., 45 –– Corte costituzionale  17 –– Österreichischer VGH  16, 45 Europarecht siehe Unionsrecht Fachgerichte –– Vorlagepflicht an BVerfG  67 –– Vorlagepflicht an EuGH 27, 28 ff., 67, 151 f. –– Vorlagepflicht an EuGH, Verletzung  38 ff., 66, 152 f. Gemeinschaftsrecht siehe Unionsrecht Hessischer Staatsgerichtshof  16 Hoheitsrechte, Übertragung  22, 23 ff. 80 ff., 85 ff. –– Schranken  24 f., 88 ff., 99 ff. Honeywell-Entscheidung  13, 39 ff., 102 Kommunalaufsicht  135 ff. Kompetenzüberschreitung siehe Ultra-viresAkt konkrete Normenkontrolle 49, 60 ff., 67, 73 Kooperationsverhältnis 13 Landesverfassungsgerichte  15 f. Land – Haftung gegenüber Bund  133 Letztentscheidungskompetenz siehe BVerfG Lissabon-Entscheidung  13, 84, 106 ff. Lissaboner Vertrag  33 f., 93 f. Maastricht-Entscheidung  13, 83, 93 f., 106

Sachverzeichnis Organstreit  53, 68, 143 ff. –– Antragsbefugnis  145 f. –– Frist 146 –– Parteifähigkeit 145 –– Prüfungsmaßstab BVerfG  146 f. –– Zulässigkeitsvoraussetzungen  145 f.

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–– Umsetzungsermessen  111 ff. –– Umsetzungspflicht, Reichweite  127 f. Unionsrecht –– Anwendungsvorrang  20 f., 64 –– Geltungsvorrang  20 f. –– Prüfungsmaßstab Bundespräsident  144 –– unmittelbare Wirkung  132, 150 f. Parteiverbotsverfahren 54 –– Verhältnis zu nationalem Recht  20 ff. Prüfungsgegenstand des BVerfG  80 ff. –– Vollzug  27, 29, 131 ff., 149 ff. –– Nichtausfertigung Umsetzungsgesetz  143 ff. Verfassungsbeschwerde  48, 49, 52 ff., 67 f., –– Nichtausführung Unionsrecht  131 ff. 70, 80 ff., 85 ff., 108 ff., 149 ff. –– Nichtumsetzung Richtlinie  122 ff. –– Beschwerdebefugnis  96 f., 111 ff., 120 –– Primärrecht 80 –– Beschwerdegegenstand  95 f., 111, 154 f. –– Sekundärrecht  80 ff. –– Frist  97, 114 –– Umsetzungsgesetz zu Richtlinie  108 ff. –– Prüfungsmaßstab des BVerfG  98 ff., 114 –– Vollzugsakte zu Unionsrecht  149 ff. –– Recht auf gesetzlichen Richter, Verletzung  –– Zustimmungsgesetz zu EU-Vertrag 68, 152 f. 85 ff. –– Rechtswegerschöpfung  26, 153, 154 ff. Prüfungsmaßstab des BVerfG  25, 69 ff. –– Rechtswegerschöpfung, keine  53 f., 67 f., –– abstrakte Normenkontrolle  101, 115 ff. 149 ff., 153, 154 ff. –– Bund-Länder-Streit  127, 139 f. –– Zulässigkeitsvoraussetzungen  95 ff., 111, –– Nichtausfertigung Umsetzungsgesetz 146 f. 154 ff. –– Nichtausführung Unionsrecht  139 f. Verordnung –– Nichtumsetzung Richtlinie  127 –– Durchführungsvorschrift  110, 151 –– Organstreit  146 f. –– unmittelbare Wirkung  132 –– Umsetzungsgesetz zu Richtlinie  114, 115 f. Vertragsverletzungsverfahren  19, 59, 60, 123, –– Unionsrecht  69 ff., 72 ff. 133 –– Verfassungsbeschwerde  26 f., 98 ff., 114 Vorabentscheidungsverfahren  14 ff., 28 ff. –– Zustimmungsgesetz  96, 98 ff. –– Auslegungsfragen  33 f. –– Bindungswirkung  37 f. Recht auf gesetzlichen Richter  38 ff., 152 f. –– Entscheidungserheblichkeit  36, 54 ff. Richtlinie –– Gültigkeitsfragen  34 f. –– Nichtumsetzung  122 ff., 143 ff. –– Vorlagegegenstand  33 ff. –– unmittelbare Wirkung  109, 132, 150 –– Vorlagepflicht an EuGH  35 f., 48 ff. –– Vorlagepflicht an EuGH, Ausnahmen  Solange I-Entscheidung  14, 24, 47, 81 f. 36 f., 103 f. Solange II-Entscheidung  38, 47, 82 f., 99 Vorlagepflicht BVerfG 15, 17, 27 f., 39 ff., 42 f. Ultra-vires-Akt  45, 64, 73, 74, 83, 97, 100 f., –– einzelstaatliches Gericht  42 ff., 48 102 ff., 119, 128 –– Entscheidungserheblichkeit  15, 54 ff. 108  ff., Umsetzungsgesetz zu Richtlinie  –– letztinstanzliches Gericht  47 ff., 150, 152 f. 122 ff., 143 ff. Vorlagepflicht Fachgerichte siehe Fachgerichte –– Bundespräsident, Nichtausfertigung  143 ff. vorlagepflichtige Konstellationen des BVerfG –– Gesetzgebungskompetenz  109, 122, 129 ff. siehe BVerfG –– Nichtigkeit 118 Vorratsdatenspeicherung  14, 47 –– Prüfungsmaßstab BVerfG 112  f., 114, 115 f. Wahlprüfungsbeschwerde 54

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Sachverzeichnis

Zulässigkeitsvoraussetzungen –– abstrakte Normenkontrolle  98, 114 f. –– Bund-Länder-Streit  124 ff., 136 ff. –– Organstreit  145 f. –– Verfassungsbeschwerde 95 ff., 111 ff., 154 ff.

Zustimmungsgesetz zu EU-Vertrag  68, 72 ff., 85 ff. –– präventive Kontrolle  92 –– Prüfungsgegenstand des BVerfG  68, 85 ff. –– Rechtsanwendungsbefehl 22, 23 ff., 45, 87