David Gauthiers moralischer Kontraktualismus: Eine kritische Analyse 3110327430, 9783110327434

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David Gauthiers moralischer Kontraktualismus: Eine kritische Analyse
 3110327430, 9783110327434

Table of contents :
Inhalt
I. Einleitung
A. Gauthiers Projekt des moralischen Kontraktualismus:Morals by Agreement
B. Gleichheit als zentrale Konzeption in MbA
C. Argumentationsgang
II. Die Argumentation in MbA
A. Die Problemstellung
B. Der Lösungsweg
III. Gleichheit in der Verhandlung
A. Möglichkeiten der Verteilung des Kooperationsertrages
B. Verhandlungstheorien in der RCT
C. Gauthiers Antwort auf das Verhandlungsproblem
D. Kritik an der Herleitung und den Verteilungsergebnissen desMRC-Prinzips
E. Das MRC-Prinzip im langfristigen Einsatz unter wechselndenRandbedingungen
F. AKM-P1-Verteilung als Alternative zum MRC-Prinzip
G. Rationalität im Verhandlungsverfahren
H. Zusammenfassung
IV. Gleichheit im Proviso
A. Inhalt des Provisos und seine argumentative Stellung in der TheorieGauthiers
B. Kritische Analyse des Provisos
C. Ergebnis
V. Fazit
VI. Literatur

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Raffael Iturrizaga David Gauthiers moralischer Kontraktualismus

PRACTICAL PHILOSOPHY Herausgegeben von / Edited by Herlinde Pauer-Studer • Neil Roughley Peter Schaber • Ralf Stoecker Band 9 / Volume 9

Raffael Iturrizaga

David Gauthiers moralischer Kontraktualismus Eine kritische Analyse

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Inhalt I. Einleitung................................................................................................ 7 A. Gauthiers Projekt des moralischen Kontraktualismus: Morals by Agreement ........................................................................................ 11 1. Moral versus Rationalität oder Moral durch Rationalität?............. 11 2. Reichweite der Theorie Gauthiers.................................................. 29 B. Gleichheit als zentrale Konzeption in MbA ...................................... 36 C. Argumentationsgang ........................................................................47 II. Die Argumentation in MbA ................................................................. 49 A. Die Problemstellung......................................................................... 53 B. Der Lösungsweg...............................................................................54 III. Gleichheit in der Verhandlung ........................................................... 71 A. Möglichkeiten der Verteilung des Kooperationsertrages ................. 74 B. Verhandlungstheorien in der RCT.................................................... 81 1. Das Selbstverständnis der Verhandlungstheorien .......................... 85 2. Nashs Verhandlungstheorie ......................................................... 100 3. Die asymmetrische Nash-Lösung von Kalai................................ 116 4. Die Monotonie-Lösung von Kalai-Smorodinsky......................... 118 C. Gauthiers Antwort auf das Verhandlungsproblem ......................... 123 1. Das MRC-Prinzip ........................................................................ 125 2. Herleitung des MRC-Prinzips in MbA ......................................... 133 3. Das MRC-Prinzip als ein Prinzip der Gerechtigkeit .................... 145 D. Kritik an der Herleitung und den Verteilungsergebnissen des MRC-Prinzips ................................................................................ 155 1. Axiomatische oder kompetitive Verhandlungstheorie? ............... 156 2. 2-Personen- oder n-Personen-Spiel? ............................................ 162 3. Kooperationsteilnahme als Verteilungskriterium......................... 163 4. Das MRC-Prinzip als ein proportionales Verteilungsprinzip....... 169 5. Bevorzugung der Schwachen durch das MRC-Prinzip................ 185 6. Zusammenfassung ....................................................................... 188 E. Das MRC-Prinzip im langfristigen Einsatz unter wechselnden Randbedingungen ........................................................................... 188

F. AKM-P1-Verteilung als Alternative zum MRC-Prinzip .................203 G. Rationalität im Verhandlungsverfahren..........................................211 1. Zwei Konzepte der Rationalität....................................................211 2. Annahme der Gleichheit der Rationalität .....................................253 H. Zusammenfassung ......................................................................... 266 IV. Gleichheit im Proviso .......................................................................275 A. Inhalt des Provisos und seine argumentative Stellung in der Theorie Gauthiers............................................................................277 B. Kritische Analyse des Provisos.......................................................291 1. Unparteilichkeit der Anfangsbedingungen ...................................292 2. Unproduktive Transfers................................................................299 3. Gauthiers Ablehnung von Zwang und Drohstrategien .................308 4. Kosten des Provisos für die Mächtigen ........................................327 5. Annahme der Gleichverteilung von Rationalität und Macht ........335 6. Stabilität .......................................................................................341 7. Unparteilichkeit als das Resultat von Robinson-Handlungen ......344 C. Ergebnis ......................................................................................... 347 V. Fazit .................................................................................................. 353 VI. Literatur ............................................................................................359

I. Einleitung Zwei Tendenzen beeinflussen im 20. Jahrhundert die Entwicklung der Gesellschaften in zunehmendem Maße: Säkularisierung und Globalisierung. Die Säkularisierung hat ihren Ursprung und heute noch größten Einfluss in der westlichen Welt, dringt aber durch die Globalisierung verstärkt auch in andere, mehr traditionsorientierte und religiös verankerte Gesellschaften vor. Die Globalisierung manifestiert sich unter anderem in der ständigen Ausweitung von Kommunikationsnetzen, der Internationalisierung von Wirtschaftsprozessen und des Wissenschaftsbetriebs. Die Mobilitätssteigerung und die allgemein verfügbaren Kommunikationstechnologien überwinden im Grunde jede geografische, politische oder kulturelle Grenze. Eine noch intensivere wechselseitige Durchdringung von verschiedenen Kulturen erleben wir durch Migrations- und Flüchtlingsbewegungen. Das Phänomen des kulturellen Pluralismus bzw. der multikulturellen Gesellschaft ist heute in den Industrienationen fester Bestandteil der Realität. Während in der erstgenannten Gruppe von Globalisierungsphänomenen Interaktionen zwischen den Mitgliedern verschiedener Kulturen nur zeitlich und auf bestimmte Handlungssituationen begrenzt sind, sind sie in multikulturellen Gesellschaften permanent und auf allen Ebenen anzutreffen. In beiden Fällen der Interaktionen, im letztgenannten offensichtlich dringlicher als im ersten, bedarf es auf Dauer einer von allen beteiligten Akteuren akzeptierten Handlungsgrundlage, einem Regelwerk über erlaubte und verbotene, erwünschte und unerwünschte Handlungsweisen; in nuce: einer Moral. Bisher war Moral meistens in religiösen oder partikular bedingten Auffassungen verankert. Nun stellen aber Säkularisierung und Globalisierung gerade diese überkommenen, religiösen oder partikularen Auffassungen als Basis der Moral in Frage, da diese Auffassungen der verschiedenen Kulturen in vielen Fällen nicht miteinander vereinbar sind und daher als gemeinsame Grundlage ausfallen. Gleichzeitig bringen die beiden Tendenzen eine fast unüberschaubare Vielfalt an Wertvorstellungen, Lebensauffassungen und Lebensweisen in einem Lebensraum oder in delokalisierten Handlungsstrukturen miteinander in Verbindung. Eine moderne Moral muss also unabhängig von dieser Vielfalt und ohne die Möglichkeit zum Rückgriff auf eine bereits etablierte moralische Basis bestehen können, wenn sie Personen mit so verschiedenen Überzeugun-

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gen einbinden soll. Eine weitere Herausforderung für eine moderne Moral besteht in dem enorm beschleunigten Fortschritt, insbesondere von Wissen und Technologien, der zu sich ständig wandelnden Problemstellungen führt, auf die die Moral eine Antwort geben können sollte. Die Moral kann daher die heute an sie gestellten Anforderungen nicht nur in Gestalt eines starren Systems von Handlungsnormen erfüllen, sondern muss auch ein Prozedere für das Generieren neuer Handlungsnormen bei sich ändernden Ausgangsbedingungen bereitstellen und begründen. In einem solchen Szenario wird eine Moraltheorie benötigt, die mit schwachen Annahmen auskommt und dennoch zu substantiellen Ergebnissen gelangt. Die kontraktualistische Moraltheorie, die David Gauthier vor allem in seinem Buch Morals by Agreement (1986) - nachfolgend mit MbA abgekürzt entfaltet hat, ist ein Versuch, eine solche Moral zu entwickeln. Darüber hinaus besitzt sie noch einige weitere attraktive Charakteristika. Wenn Gauthiers Theorie ihre Ansprüche einlösen könnte, hätte man einen sehr starken Konkurrenten im Wettstreit der Moraltheorien. Was ist hier mit „schwachen“ Annahmen gemeint? Es sind Annahmen, die auf kontroverse, nur partikulare Inhalte verzichten, nicht umfangreich und nicht komplex sind. Solche Annahmen erleichtern es, dass eine Theorie von Personen mit den verschiedensten moralischen Standpunkten und auch unter sich ändernden Lebensbedingungen oder Meinungen akzeptiert werden kann. Starke Annahmen dagegen wären in der Moral z. B. die Annahme metaphysischer Entitäten wie objektiver Werte, einer absoluten Vernunft oder religiöser Konzeptionen, die allesamt stark begründungsbedürftig sind und keinesfalls als allgemein akzeptiert vorausgesetzt werden können. Gleiches gilt für individuelle moralische Präferenzen oder Dispositionen in spezifischen Konzeptionen der Fairness, des Guten, eines Sinns für Gerechtigkeit oder bestimmter Tugenden wie Aufrichtigkeit oder Treue. Die Individuen in der Theorie Gauthiers müssen keine spezifischen Präferenzen oder Dispositionen besitzen. Nur eines wird von ihnen vorausgesetzt: Sie handeln rational. Diese Einschränkung ist die einzige substantielle Anforderung Gauthiers an die Teilnehmer der Moral. Er geht dabei von einem sehr verbreiteten und vergleichsweise unkontroversen Konzept der Rationalität aus, das im Kern in der Nutzenmaximierung individueller Interessen besteht. Zugegebenermaßen ist die Anwendung dieses Rationalitätskonzeptes auf die Moral keineswegs unkontrovers. Was an dieser

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Form der Rationalität für eine Moraltheorie jedoch zweifellos attraktiv ist, ist ihre klare und einfache Überprüfbarkeit. Durch die größtenteils sehr klar definierte Struktur des Rationalitätskonzeptes ist eine für Moraltheorien ungewöhnlich detaillierte Prüfung von Gauthiers Theorie möglich. Der zweite Grundbaustein dieser vertragstheoretischen Moralkonzeption neben der Rationalität sind die Interessen der Individuen. Das Ziel und die intellektuelle Herausforderung der Theorie ist es, aus beiden Grundbausteinen eine Konzeption zu konstruieren, die in ihrem Ergebnis mit den gewöhnlichen moralischen Vorstellungen übereinstimmt und somit die Bezeichnung „Moral“ zu Recht trägt. Das zentrale Element, mit dem vertragstheoretische Moraltheorien diese Herausforderung bewältigen, ist die Übereinkunft der Mitglieder der Gesellschaft in Form eines Vertrages, an dessen Zustandekommen und Einhaltung alle ein Interesse haben. Ein weiterer Aspekt von MbA, der es als Moraltheorie attraktiv macht, ist, dass nicht nur die Frage nach den Inhalten der Moral („Was soll ich tun?“) beantwortet wird, sondern auch die Frage nach der Motivation oder Begründung der Moral („Warum soll ich moralisch sein bzw. warum soll ich meine geschlossenen Verträge einhalten?“). Wir haben es hier also mit einer in mehrerer Hinsicht umfassenden Theorie zu tun. Alle aufgezählten Punkte zusammen machen eine eingehende Auseinandersetzung mit der Theorie Gauthiers lohnenswert. Gauthiers Theorie verpflichtet sich mit aller Konsequenz der Beschränkung auf individuelle Interessen und Rationalität. Die Radikalität seines Vorhabens offenbart sich darin, dass er Moral nicht nur primär oder zu wesentlichen Teilen, sondern ausschließlich aus Rationalität generieren will. Annahmen wie objektive Werte, metaphysische Entitäten oder individuelle Affekte schließt er aus seiner Theorie aus. „It [Morals by Agreement; Anm. d. Verf.] is an attempt to write moral theory for adults, for persons who live consciously in a post-anthropomorphic, post-theocentric, post-technocratic world. It is an attempt to allay the fear, or suspicion, or hope, that without a foundation in objective value or objective reason, in sympathy or sociality, the moral enterprise must fail.“ 1

1

D. Gauthier: "Moral Artifice" (1988), 385.

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Rationalität wird in Gauthiers Theorie in Form der Rational Choice Theory (RCT) expliziert, die die Gesamtheit von Entscheidungs- und Spieltheorie umfasst.2 Seine Moraltheorie konstruiert er als einen Bestandteil der RCT. Sie konstituiert sich aus genau denjenigen rationalen Prinzipien der Entscheidung, die die Verfolgung eigener Interessen unparteiisch zugunsten anderer einschränken. Der Rationalitätsbegriff in der RCT orientiert sich an der Konzeption von Bayes und ist durch den Schlüsselbegriff der individuellen Nutzenmaximierung gekennzeichnet. Der Schlüsselbegriff für die Moralkonzeption Gauthiers ist die Unparteilichkeit im Sinne einer gleichen Berücksichtigung der Interessen aller jeweils betroffenen Individuen. Ausgehend von dem genannten Rationalitätsbegriff ist folglich Moral bei Gauthier dem Wesen nach eine Einschränkung nutzenmaximierenden Handelns. Er stellt sich daher die Aufgabe zu zeigen, dass es für einen Akteur rational ist, die Verfolgung der eigenen Interessen zugunsten anderer Akteure einzuschränken. Das bedeutet, dass altruistisches Handeln - also ein Handeln, bei dem ohne Gegenleistung aus freien Stücken auf die Maximierung des eigenen Nutzens verzichtet wird - nicht Teil der Moral in Gauthiers Theorie ist. Vielmehr ist Gauthiers Theorie erneut ein Versuch, das Hobbessche Problem zu lösen: Das Paradox, dass es der Verfolgung des Eigennutzens dient, die Verfolgung des Eigennutzens einzuschränken. Den Schlüssel zur Lösung des Problems sieht Gauthier in der Idee einer wechselseitigen Kooperation, die in einer Vereinbarung fixiert wird. Damit ist Gauthiers Theorie neben diversen Theorien des Kontraktualismus der politischen Philosophie eine der sehr wenigen eines rein moralischen Kontraktualismus.3 Das meint einen Kontraktualismus ohne ein staatlich institutionalisiertes Gewaltmonopol zur Gewährleistung der Vertragstreue der Vertragsparteien. Die häufigste Kritik an kontraktualistischen Moralkonzepten richtet sich gegen das aus ihm folgende Ergebnis, das am Ende als Moral bezeichnet wird. In der Regel zielt dieser Typ von Kritik darauf, den kontraktualistischen Moralbegriff mit einem anderen Moralbegriff zu konfrontieren, 2

R. Hegselmann: “Spieltheorie„ (1995), 1392: “Die Spieltheorie ist eine allgemeine Theorie des rationalen Entscheidens unter Bedingungen strategischer Interdependenz der Akteure.“ In Abgrenzung dazu, ist die Entscheidungstheorie als eine allgemeine Theorie des rationalen Entscheidens ohne strategische Interdependenzen zu verstehen. 3

Vgl. z. B. P. Stemmer: Handeln zugunsten anderer (2000).

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von dem eine weit reichende Akzeptanz behauptet wird, und den kontraktualistischen Moralbegriff demgegenüber als insuffizient zu erweisen. Im Gegensatz zu diesem Typ von externer Kritik möchte ich in der vorliegenden Arbeit eine theorieimmanente Kritik angehen. Gauthiers Theorie wird anhand der Annahmen, Kriterien und Zielsetzungen geprüft, die er selber für seine Theorie explizit oder implizit voraussetzt. So wird beispielsweise geprüft, ob er in jedem Fall dem von ihm vorausgesetzten Rationalitätsbegriff folgt oder ob das von ihm vorgeschlagene Verteilungsprinzip tatsächlich zu den von ihm behaupteten Resultaten führt. Die Vorteile einer theorieimmanenten gegenüber einer externen Kritik sind offensichtlich: Eine externe Kritik geht ihrerseits von einem bestimmten Standpunkt aus. Das Ergebnis einer solchen Kritik kann nur sein, dass die kritisierte Theorie nicht mit dem vom Kritiker eingenommenen Standpunkt vereinbar ist. Die Resultate der externen Kritik sind also nur für diejenigen relevant, die den Standpunkt des Kritikers teilen. Die theorieimmanente Kritik kann hingegen von jedem geteilt werden. Außerdem erübrigt sich eine externe Kritik, wenn eine immanente Kritik erfolgreich ist.

A. Gauthiers Projekt des moralischen Kontraktualismus: Morals by Agreement In diesem Abschnitt wird die Theorie Gauthiers in ihrem moralphilosophischen Umfeld positioniert und gegen inhaltlich nahe stehende Theorien abgegrenzt. Es werden die grundsätzlichen Annahmen Gauthiers, seine Darstellung des zugrunde liegenden Problems sowie Anspruch und die Reichweite seiner Theorie skizziert. Dann werden Stück für Stück im Rahmen der kritischen Analyse von Kapitel III seine wesentlichen Argumente präsentiert.

1. Moral versus Rationalität oder Moral durch Rationalität? Der Ausgangspunkt der Argumentation in MbA ist die scheinbar unüberwindbare Kluft zwischen Rationalität und Moral, die durch die entgegengesetzte

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Stellung der beiden Begriffe in Bezug auf die Verfolgung des Eigeninteresses entsteht. Während das Perfektionieren der uneingeschränkten Verfolgung des Eigeninteresses als Aufgabe der Rationalität gesehen wird, besteht das Wesen der Moral gerade in der Einschränkung der Verfolgung des Eigeninteresses. „Morality has been traditionally conceived as embracing the entire range of justifiable constraints on preference-based choice.“ 4 Die Herausforderung für eine rationale Theorie der Moral besteht in der Zusammenführung dieser beiden Antipoden. Aber nicht etwa dadurch, dass man den Anspruch einer der beiden oder beider Positionen reduziert. Die Lösung Gauthiers in MbA besteht darin, zu zeigen, dass sich der Begriff der Moral unmittelbar aus dem Begriff der Rationalität ableiten lässt. Am Ende soll die Einsicht stehen, dass es rational geboten ist, moralische Entscheidungen zu treffen. „To choose rationally, one must choose morally. This is a strong claim.“ 5 Moralität ist in einer solchen Konzeption nicht mehr ein Gegenpol zur Rationalität, sondern vielmehr eine Frucht derselben. Bei dieser Problemstellung ist klar, dass sehr viel davon abhängt, was man genau unter den Begriffen Rationalität und Moral versteht. Der Weg Gauthiers von einem zum anderen Begriff führt über den Kontraktualismus und die RCT. Der Zusammenhang zwischen Kontraktualismus und RCT sowie die Einordnung der Theorie Gauthiers in den Kontraktualismus wird uns am Ende dieses Abschnitts beschäftigen. Zunächst gehe ich auf Gauthiers inhaltliche Bestimmung der Begriffe Rationalität und Moral ein. Gauthiers Rationalitätsbegriff. 6 Gauthier verwendet den Begriff der Rationalität im Sinne der ökonomischen Rationalität. 7 So ist der formale Rahmen seiner Argumentation die RCT, die sich als Explikation eines ökonomischen Rationalitätsbegriffes versteht. Der Kern dieses Begriffes ist die Idee der individuellen Nutzenmaximierung. Danach ist eine Entscheidung

4

D. Gauthier: "Bargaining Our Way Into Morality" (1979), 15f.

5

MbA, 4.

6

Auf den Begriff der Rationalität wird in Abs. III.G noch sehr detailliert eingegangen, weshalb er hier zu Beginn nur grob skizziert wird.

7

MbA, 3.

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dann rational, wenn die Option gewählt wird, die den größten Nutzen für das Individuum hat, das diese Entscheidung trifft. „The rationality which may be exhibited in choice is conceived in maximizing terms. A numerical measure is applied to the alternative possibilities, and choice among them is rational if and only if one endeavours to realize that possibility which has been assigned the greatest number.“ 8 Dabei fällt für Gauthier die Maximierung des Nutzens in weiten Teilen mit einer Anhäufung materieller Güter zusammen. „We suppose that human beings are maximizers of individual advantage, or utility, which accrues to them primarily from the appropriation and use of material goods. In widely prevailing conditions of moderate scarcity, the total supply of these goods can be increased through cooperative action.“ 9 Prinzipiell richtet sich die Nutzenmaximierung aber auf alle Arten von Gütern. Gauthiers Moralbegriff. Da Gauthier eine religions- und metaphysikfreie Moral konzipieren will, fokussiert sein Moralbegriff auf die funktionale Dimension von Moral. Das, was Moral seiner Meinung nach primär bewirkt, ist Unparteilichkeit, d. h. die gleichrangige Berücksichtigung der Interessen aller betroffenen Individuen, ganz egal, wer sie im Einzelfall sein mögen. Damit fungiert Moral als Gegenpol zur Macht. Denn es ist die Macht, die in einem moralfreien Raum über die Gewichtung der Interessen entscheidet; und Macht ist in der Realität nicht gleich verteilt. So gesehen scheint Moral im Sinne einer Egalisierung dieser Gewichtungen eine Einschränkung für die Mächtigen und ein Vorteil für die Schwachen zu sein. Einer solchen Konzeption von Moral würden die Mächtigen rationalerweise nicht freiwillig zustimmen. Wenn Moral aber die Zustimmung aller Teilnehmer haben soll und das ist die Vorgabe Gauthiers - , dann muss sie auch für die Mächtigen von Vorteil sein. Nun gibt es in der RCT die Konzeption der Kooperation, die

8

D. Gauthier: "Bargaining Our Way Into Morality" (1979), 15.

9

D. Gauthier: "The Social Contract" (1978), 47.

14

sich hier als Lösung anbietet.10 Dabei ist für Gauthier die besondere Bedeutung kooperativer Handlungen gegenüber ausschließlich am Markt orientierter Handlungen wichtig. Marktinteraktionen sind Tauschgeschäfte, bei denen alle Interaktionsteilnehmer allein durch eine Umverteilung der Güter einen Vorteil erlangen, ohne dass jedoch zusätzliche Güter produziert werden. Kooperative Interaktionen hingegen können produktiv sein, d. h. für jeden Teilnehmer stehen potenziell mehr Güter zur Verfügung.11 Das macht sie für Nutzenmaximierer attraktiv. Der Anspruch dieser Konzeption ist, unter Berücksichtigung der Interessen aller Teilnehmer den Nutzen für alle Teilnehmer auf ein Niveau zu heben, das kein Teilnehmer im Alleingang erreichen könnte. Vor allem auf Grund der letztgenannten Eigenschaft versteht Gauthier Kooperation als die Manifestation von Moral auf der Ebene rationalen Handelns. „It may then seem plausible to identify rational cooperation with morality, not in supposing that rational cooperation requires us to do whatever we ordinarily take to be morally right, but rather that it requires us to do what on reflection seems reasonable and justifiable in our moral practices. It enables us to subsume morality under rationality; what cannot be so subsumed we regard as irrational, and cease to consider moral.“ 12 Daraus geht hervor, dass Gauthier Moral der Rationalität unterordnet. Moral ist eine Teilmenge des rationalen Handelns. Als Kooperation ist Moral immer zum wechselseitigen Vorteil der Interakteure. Dabei weist er darauf hin, dass diese Moral nicht identisch ist mit der traditionellen Moral, sondern der Teil 10

M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 23: „Wenn exogene Mechanismen existieren, die die Einhaltung von Verträgen bindend durchsetzen können, so ändert sich die gesamte Spielsituation. Man spricht dann von kooperativen Spielen. Häufig kann etwa die Existenz eines Rechtssystems die Einhaltung von Verträgen durchsetzen. Voraussetzung dafür ist, dass die legalen Institutionen Vertragsverletzungen überprüfen können und in der Lage sind, bei Abweichen wirksame Sanktionen zu ergreifen.“

11

D. Gauthier: "The Social Contract" (1978), 47: “In widely prevailing conditions of moderate scarcity, the total supply of these goods can be increased through cooperative action.“

12

D. Gauthier: "Rational Co-operation" (1974), 58.

15

der traditionellen Moral ist, der sich rational rechtfertigen lässt. Alles, was sich nicht rechtfertigen lässt, kann auch keine Moral in seinem Sinne sein. „Yet we may agree that the moral constraints arising from what are, in the fullest sense, conditions of mutual advantage, do not correspond in every respect to the 'plain duties' of conventional morality. Animals, the unborn, the congenitally handicapped and defective, fall beyond the pale of a morality tied to mutuality. The disposition to comply with moral constraints, without which moral relationships fall victim to the scorn of the Foole, may be rationally defended only within the scope of expected benefit.“ 13 Das Abgrenzungskriterium zur traditionellen Moral ist der wechselseitige Vorteil. Daher ist Gauthiers Anspruch auch nicht, eine traditionelle Moral zu konzipieren, sondern nur eine mögliche Form der Moral, genauer: die Moral einer bürgerlichen Gesellschaft.14 Diese Moral des wechselseitigen Vorteils setzt Gauthier mit der des homo oeconomicus gleich. „Rational cooperation constitutes the morality of economic men.“ 15 Der Anknüpfungspunkt des homo oeconomicus bei der Kooperation ist der wechselseitige Vorteil. An für ihn vorteilhaften Interaktionen hat der homo oeconomicus natürlich ein Interesse. Daran, dass andere Individuen von dieser Interaktion ebenfalls profitieren, hat er nur ein mittelbares Interesse. Es garantiert ihm, dass die anderen Individuen den für ihn vorteilhaften Interaktionen keinen Widerstand entgegensetzen werden. Diese aus Sicht des homo oeconomicus nicht intendierte Wirkung kooperativen Handelns trägt aber wesentlich zu dessen moralischen Charakter bei. Moral als rationale Kooperation hat den Zweck, das Wohlergehen jedes Beteiligten zu verbessern. So sind die Prinzipien der Kooperation, denen alle Teilnehmer rationalerweise freiwillig zustimmen können, aus der Sicht jedes einzelnen Teilnehmers ein Teil einer umfassenden Strategie der individuellen Nutzenmaximierung. Gleichzeitig funktioniert Kooperation nur mit der freiwilligen Zustimmung aller Teilnehmer. D. h.: Kooperation basiert auf Wechselseitigkeit. Sie ist nur möglich, wenn sich alle Kooperationsteilnehmer 13

MbA, 268.

14

D. Gauthier: "Rational Co-operation" (1974), 62.

15

Ebda.

16

kooperativ verhalten und auf gegebenenfalls mögliche Vorteile durch nichtkooperatives Handeln verzichten. Dafür wird den Kooperationsteilnehmern ein größerer Vorteil bei Einhaltung der Kooperation in Aussicht gestellt, als sie ihn ohne die Kooperation erreichen könnten. Die Idee einer wechselseitig rationalen Kooperation besteht also darin, dass man durch den Verzicht auf einen kleineren Vorteil aufgrund nicht-kooperativen Handelns einen größeren Vorteil durch kooperatives Handeln erlangen kann. Aus diesem Grund versteht Gauthier Moral als ein System rationaler Einschränkungen mit dem Effekt der optimalen Verfolgung der Eigeninteressen. „Morality, we shall argue, can be generated as a rational constraint from the non-moral premisses of rational choice.“ 16 Auf dem Weg der RCT will Gauthier den Übergang von nicht-moralischen Annahmen zur Moral vollziehen. Dabei besteht das Wesen der Moral in der Einschränkung des nutzenmaximierenden Handelns. Es ist aber nicht eine beliebige Einschränkung, die Gauthier hier einführt; es ist für den moralischen Status dieser Einschränkung von Bedeutung, dass sie unparteilich ist. Danach legen sich individuelle Nutzenmaximierer freiwillig unparteiliche Selbstbeschränkungen auf, um an Kooperationen und deren Gewinnen partizipieren zu können. Unter Eigeninteressen versteht Gauthier alle Interessen, die ein Individuum hat; nicht etwa nur die Interessen des Individuums, die das Individuum selbst und dessen Wohlergehen zum Gegenstand hat. Interessen mit altruistischem Inhalt sind hier gleichermaßen zugelassen. Der Gegenstand des Interesses bleibt bei Gauthier völlig unbestimmt. Mit dieser Unbestimmtheit will Gauthier dem einfachen Tatbestand Rechnung tragen, dass Menschen unterschiedliche Interessen haben. Und diese Diversität soll in seine Theorie der Moral einbezogen werden können. Gauthiers Konzeption der Unparteilichkeit. Für Gauthier ist Unparteilichkeit, wie gesagt, das zentrale Kriterium für Moral.17 Zusammen mit dem Kriterium der Rationalität bildet sie den Kristallisationspunkt seiner Moral. 16 17

MbA, 4.

Diese Auffassung findet man bei den verschiedensten moralphilosophischen Positionen: z. B. bei K. Baier als Vertreter einer kantischen Position in The Moral Point of View, bei R. Hare als einem Vetreter des Utilitarismus in Language of Morals oder bei G. Harman als Vertreter einer kontraktualistischen Position in The Nature of Morality.

17

„We claim to demonstrate that there are rational constraints [diese werden durch Guthiers Verhandlungsprinzip spezifiziert; Anm. d. Verf.], and that these constraints are impartial. We then identify morality with these demonstrated constraints, but whether their content corresponds to that of conventional moral principles is a further question, which we shall not examine in detail.“ 18 Aufgrund der wichtigen Rolle der Unparteilichkeit und der Tatsache, dass sich sein Verständnis deutlich von dem der traditionellen Moral unterscheidet, hätte man erwarten können, dass Gauthier sein Verständnis dieses Begriffes klar expliziert.19 Eine solche Explikation sucht man in MbA jedoch vergeblich. Zudem ist noch anzumerken, dass Gauthier den Begriff der Unparteilichkeit an einigen Stellen durch den Begriff der Fairness ersetzt. Untersucht man die verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs der Unparteilichkeit, so stellt man fest, dass für Gauthier die Akzeptanz aller betroffenen Teilnehmer zentral ist. „We focus on the co-operative choice of a joint strategy, which is impartial because it is acceptable from every standpoint, by every person involved.“20 18

MbA, 6.

19

Die dem Begriff der Unparteilichkeit in der traditionellen Moral zugrunde liegende Intuition besteht darin, dass das Entscheidungsverhalten gegenüber anderen Personen nicht davon abhängen soll, wer diese Personen sind. Die Intuition besteht also im Kern in einer Negation bzw. einem Verbot. Sie besagt nicht, wie man sich anderen gegenüber verhalten soll, insbesondere nicht, dass man alle anderen gleich behandeln soll. Für den Kontext von Entscheidungen, wie sie uns in der RCT begegnen, führt Gert eine sehr griffige Formulierung an. B. Gert: „Moral Impartiality“ (1996), 81: "Any decision that is made in ignorance of who will benefit or be harmed by that decision is necessarily an impartial decision. This provides us with a perfect test of impartiality."

20

MbA, 151. Diese Definition entspricht dem Grundsatz D der Diskursethik von J. Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (1999), 103: „Ist nun aber gezeigt, wie der Universalisierungsgrundsatz auf dem Wege der transzendentalpragmatischen Ableitung aus Argumentationsvoraussetzungen begründet werden kann, kann die Diskursethik selbst auf den sparsamen Grundsatz >D< gebracht werden, dass nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“

18

In dieser Erklärung der Unparteilichkeit finden wir das Spezifikum des Unparteilichkeitsbegriffes von Gauthier. Es ist nicht der Standpunkt eines neutralen Beobachters, der moral point of view, der der Idee der Unparteilichkeit bei ihm zugrunde liegt, sondern die Integration der Standpunkte aller Teilnehmer.21 Eine Entscheidung muss nicht von einem übergeordneten Standpunkt aus akzeptabel sein, um unparteiisch zu sein, sondern vom Standpunkt jedes Betroffenen aus.22 In dem folgenden Zitat präzisiert er, wie die Interessen aller Teilnehmer berücksichtigt werden sollen. „Individual choice is rational in so far as it is utility-maximizing. Is there an analogue to utility-maximization for agreement or cooperative choice? Since it is to be voluntary, it must reflect, and in some sense reflect equally, the preferences of each person.“ 23 In diesem Zitat deutet Gauthier nur an, was er in seinem Verhandlungsprinzip dann in die Tat umsetzt. Die Interessen aller Teilnehmer werden in gleicher Weise bei der Verteilung der Kooperationsgewinne berücksichtigt, da nur in dieser Form die Verteilung die freiwillige Zustimmung aller Teilnehmer erhalten wird. Damit unterscheidet sich das Verteilungsergebnis im Sinne der Unparteilichkeit von Gauthier nicht von dem Verteilungsergebnis, das von einem moral point of view zu Stande käme. „The basic idea is that each individual's interests are equally important: from the moral point of view, there are no privileged 21

In Kapitel VIII „The Archimedean Point" in MbA will Gauthier zeigen, dass das Ergebnis seines Prozesses auch der Prüfung von einem neutralen Standpunkt standhalten kann. MbA, 266f.: „Moral theory offers an Archimedean point analysis of human interaction. The theory of rational choice offers an analysis from the standpoint of each interacting individual. In exhibiting the harmony between these analyses, we have shown that the moral demand for impartiality can be accommodated within the rational demand for individual utility-maximization by attending to the conditions of agreed interaction among equally rational persons.” 22

Vgl. dazu Th. Nagel: Equality and Partiality (1991), 3. Für Nagel ist dieser „standpoint of the collectivity" eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Individuum für Unparteilichkeit ansprechbar ist und somit überhaupt moralisch sein kann. Da in Gauthiers Theorie den Individuen eine solche oder eine ähnliche Eigenschaft fehlt, kann nach Nagle seine Theorie nicht das Kriterium der Unparteilichkeit erfüllen. Deshalb lehnt Nagel in Ebda., 34 den von Gauthier eingeschlagenen Weg zur Moral ab. 23

MbA, 122.

19

persons ... We must acknowledge that other people's welfare is just as important as our own.“ 24 In diesem Zitat wird der Zusammenhang zwischen dem moral point of view und einer gleichen Gewichtung der Interessen angedeutet. Vom moral point of view sind alle Interessen gleich wichtig und werden dementsprechend in einer Entscheidung auch gleich gewichtet. Solange Interaktionen das Kriterium der Unparteilichkeit erfüllen, sind sie für Gauthier rational akzeptabel und es treten keine moralischen Konflikte auf. Solche Interaktionen müssen zur Vermeidung moralischer Konflikte demnach nicht durch spezielle Regeln eingeschränkt werden. Dies sieht er in den Interaktionen des Marktes25 realisiert, also Interaktionen, die der Theorie des freien Marktes entsprechen. Sobald Interaktionen nicht mehr MarktInteraktionen entsprechen, können sie moralische Konflikte enthalten bzw. zu solchen führen. Ein Weg, diesen Konflikten zu begegnen, ist die Kooperation. Als Interaktionsform übernimmt die Kooperation die Aufgabe der nichtMarktinteraktionen, Unparteilichkeit zu gewährleisten. Dabei bedarf es bei der Kooperation im Gegensatz zum Markt, der als ein unsichtbares Selbstregulationsprinzip wirkt, einer ausdrücklichen Festlegung kooperativer Interaktionen. „Interaction that achieves impartiality without constraint constitutes a morally free zone, from which the externalities are absent that lead utility-maximizers into free-ridership and parasitism. But co-operative interaction faces these externalities; cooperation is the visible hand restraining persons from taking advantage of their fellows, but restraining them impartially and in a way beneficial to all. Such restraint commands rational acceptance; this is the idea underlying morals by agreement.“ 26

24

J. Rachels: The Elements of Moral Philosophy (1992), 12.

25

Eine genauere Bestimmung der Konzeption des Marktes erfolgt auf S. 54f.

26

MbA, 150f.

20

Erst mit dem Auftreten von Externalitäten27 wird es notwendig, Korrekturmechanismen zu konzipieren, um Verhältnisse herzustellen, denen die allgemeine Zustimmung sicher ist. Gauthiers Vorschlag für diesen Fall ist die rationale Verhandlung. Wie der Markt als Interaktionsform Rationalität und Unparteilichkeit vereint, so tut dies auch die rationale Verhandlung unter anderen Bedingungen, nämlich in Gegenwart von Externalitäten. „Impartiality and rationality coincide in bargaining.“ 28 Unparteilichkeit wird in Gauthiers Theorie nicht dadurch erreicht, dass die Individuen ein unmittelbares Interesse an unparteilichen Regeln hätten. Ein solches Vorgehen finden wir z. B. bei Nagel, der jedem Individuum einen „standpoint of the collectivity", also einen Gemeinschaftssinn, zuschreibt; oder bei Rawls, der jedem Individuum einen „sense of justice“ zuschreibt.29 Diese Eigenschaften sind in diesen Konzeptionen der Grund, weshalb Individuen für an sie gerichtete Forderungen, die aus dem Kriterium der Unparteilichkeit resultieren, überhaupt empfänglich sind. Die Individuen in Gauthiers Theorie hätten nur dann ein Interesse an Unparteilichkeit, wenn sich zeigen sollte, dass es ausschließlich die unparteilichen Regeln sind, die ihren Nutzen maximieren. Genau das versucht Gauthier für seine in MbA entwickelten Lösungskonzepte zu zeigen. In ihnen sollen Rationalität und Unparteilichkeit koinzidieren. Um die Unparteilichkeit seiner Konzeptionen noch besser abzusichern, argumentiert Gauthier im Kapitel VIII „The Archimedean Point“ in MbA, dass man vom unparteilichen Standpunkt des archimedischen Punktes zu den gleichen Prinzipien gelangt wie vom Standpunkt des individuellen Nutzenmaximierers in der RCT. 27

Ebda, 87: „The existence of unowned factors or products, or the presence of public goods or interdependent utilities, may give rise to economic externalities. The absence of externalities, however they might arise, is a further condition of perfect competition. An externality arises whenever an act of production or exchange or consumption affects the utility of some person who is not party, or who is unwillingly party to it.”

28 29

Ebda, 155.

Th. Nagel: Equality and Partiality (1991), 3. Für Nagel ist dieser „standpoint of the collectivity" eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Individuum für Unparteilichkeit ansprechbar ist und somit überhaupt moralisch sein kann. Da in Gauthiers Theorie den Individuen eine solche oder eine ähnliche Eigenschaft fehlt, kann seine Theorie nicht das Kriterium der Unparteilichkeit erfüllen. Deshalb lehnt Nagel in Ebda., 34 den von Gauthier eingeschlagenen Weg zur Moral ab.

21

„Moral theory offers an Archimedean point analysis of human interaction. The theory of rational choice offers an analysis from the standpoint of each interacting individual. In exhibiting the harmony between these analyses, we have shown that the moral demand for impartiality can be accommodated within the rational demand for individual utility-maximization by attending to the conditions of agreed interaction among equally rational persons.“30 Dass es zu dieser Koinzidenz kommt, liegt, wie in Abs. III.G.2 noch gezeigt wird, wesentlich an der empirischen Annahme der Gleichverteilung der Rationalität unter den Individuen. Diese Annahme hat durch ihre Auswirkungen auf die Entscheidungen der Individuen eine ähnliche Funktion wie die Einnahme des „moral point of view“. Wenn es um die Nutzenverteilung in einer Gruppe geht, dann hat die Anwendung des Kriteriums der Unparteilichkeit für einige Teilnehmer Vorteile, für andere Nachteile, und für wieder andere macht die Anwendung keinen Unterschied. Im Naturzustand, in dem an die Stelle der Unparteilichkeit kein anderes regulatives Prinzip tritt, sondern die Individuen dem freien Spiel der Kräfte ausgesetzt sind, ist es die Macht, welche die Gewichtung der Interessen bestimmt. Ist diese Analyse zutreffend, dann sind es die Mächtigen, die offensichtlich durch das Prinzip der Unparteilichkeit benachteiligt werden, und die Schwachen bzw. Machtlosen sind die Nutznießer dieses Prinzips. Denn die Interessen der Mächtigen werden bei unparteilichen Entscheidungen geringer gewichtet als im Naturzustand und die Interessen der Schwachen werden stärker gewichtet als im Naturzustand. Versteht man Moral wesentlich als Unparteilichkeit, dann ist die primäre Funktion der Moral faktisch der Schutz der Schwachen. Eine rationale Theorie der Moral muss die Mächtigen davon überzeugen, dass es für sie von Vorteil ist, einem Prinzip zuzustimmen, durch das ihre Interessen geringer gewichtet werden, als es ohne dieses Prinzip der Fall wäre. Sie muss also zeigen, dass das Prinzip der Unparteilichkeit zum Vorteil aller ist. Hier kommt auch bei Gauthier die Idee der Kooperation zum Zug, die bei gleicher Berücksichtigung der Interessen aller Teilnehmer einen höheren Nutzen für alle Teilnehmer ermöglichen soll. 30

MbA, 266f.

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Moral als Teil der RCT. Nachdem die Ausgangssituation mit der Beschreibung der Begriffe Rationalität und Moral geklärt ist und auch das Ziel der Argumentation genannt ist, nämlich Moral als Teilbereich rationalen Handelns auszuweisen, soll Gauthiers methodischer Weg dorthin erläutert werden. Bei dem vorliegenden Problem wären mehrere Lösungsstrategien denkbar. Man könnte z. B. eine den beiden Begriffen übergeordnete Konzeption entwickeln, in die dann beide Begriffe integriert werden könnten und in der sich deren Gegensätze aufheben. Es wäre auch denkbar, dass man, vom Begriff der Moral ausgehend, nachweist, dass die wesentlichen Normen oder Inhalte der traditionellen Moral letzten Endes immer zu nutzenmaximierenden Ergebnissen für alle Teilnehmer führen. Gauthier wählt aber die Rationalität als Ausgangspunkt und Rahmen seiner Argumentation. Er entwickelt Moral als eine Dimension von Rationalität, wobei Rationalität in Form der RCT in Erscheinung tritt.31 Die RCT bezieht sich auf zwei Grundelemente des Entscheidungsprozesses: die Präferenzen und die Entscheidungsprinzipien. Die Entscheidungsprinzipien haben die Funktion, die möglichen Handlungsergebnisse anhand vorgegebener Präferenzen zu bewerten. Gegenstand der RCT sind die Entscheidungsprinzipien und die Formalisierung von Präferenzen, nicht aber deren Inhalt. Dieser wird hier als gegeben vorausgesetzt und nicht auf seine Rationalität hin befragt. Wo ist nun in diesem System Moral zu lokalisieren? In den Entscheidungsprinzipien, in den Präferenzen, in beiden oder in einer übergeordneten Struktur? Einige Autoren, wie z. B. Hegselmann, gehen davon aus, dass Moral in den Präferenzen einer Person zu finden

31

Dieses Anliegen findet man auch schon bei J. C. Harsanyi in Rational behavior and bargaining equilibrium in games and social situations (1977), 9f. Er versteht Ethik als ein Entscheiden im Sinne des Allgemeinwohls, womit sie für ihn wie für Gauthier ein spezielles Teilgebiet der RCT ist.

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ist.32 Daraus folgt, dass die Frage der Moral im Rahmen der RCT nicht beantwortet werden kann, da sich die RCT nicht mit den Inhalten der Präferenzen beschäftigt. Gauthier hingegen will in seiner Theorie zeigen, dass es ungeachtet der Inhalte der Präferenzen rational ist, moralisch zu handeln, und sucht daher auch nach einer Antwort im Rahmen der RCT. „We shall develop a theory of morals as part of the theory of rational choice. We shall argue that the rational principles for making choices, or decisions among possible actions, include some that constrain the actor pursuing his own interest in an impartial way. These we identify as moral principles.“ 33 So versucht Gauthier aufzuzeigen, dass in bestimmten moralisch relevanten Entscheidungssituationen, nämlich der Verteilung von Kooperationsgewinnen, rationale Entscheidungsprinzipien etabliert werden können, die zudem moralisch sind und daher zu moralischem Verhalten und moralischen Dispositionen führen. MbA als eine kontraktualistische Moraltheorie. Wie schon aus dem Titel Morals by Agreement zu ersehen ist, versteht Gauthier seine Moraltheorie als moralischen Kontraktualismus. Der Kontraktualismus gibt in seiner Argumentation die Formulierung der Problemstellung und damit das Paradigma für die gesuchte Lösung vor, die mit den Instrumenten der RCT präzise expliziert und gelöst werden soll. Die zu lösende Frage im Kontraktualismus lautet: Wie sollten sich ausschließlich eigeninteressierte Individuen in Interessenkonflikten, die in Interaktionen untereinander entstehen, rationalerweise entscheiden, damit es zu dem für alle Beteiligten vorteilhaftesten Ergebnis kommt? Die Antwort wird in operationalisierter Form durch das Konstrukt einer Vereinba32

R. Hegselmann: „Ist es rational, moralisch zu sein?" (1992), 165. Für Hegselmann lautet die adäquate Frage nach dem Verhältnis von Rationalität und Moral: Kann es, von ausschließlich selbstinteressierten bzw. egoistischen Präferenzen ausgehend, rational sein, moralisch zu handeln? Nun bedeutet für Hegselmann, moralisch zu handeln, aufgrund moralischer Präferenzen zu handeln. Dieser Ansatz mündet darin, dass man nachweist, dass es auch für eine Person mit ausschließlich egoistischen Präferenzen rational ist, einen Teil dieser Präferenzen durch moralische Präferenzen zu ersetzen oder das bestehende Set von Präferenzen durch zusätzliche moralische Präferenzen zu ergänzen. 33

MbA, 2f.

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rung oder eines Vertrages gegeben.34 Danach sollten sich die Individuen so entscheiden, wie sich rationale Akteure bei einer Vereinbarung über die zur Diskussion stehenden Interessenkonflikte entscheiden würden. Hier müssen Verhandlungsprinzipien angegeben werden, die rationale Akteure in einer solchen Situation befolgen sollten. Was für Prinzipien dies sind, ist Gegenstand der Verhandlungstheorien der RCT. Das Verhältnis von Kontraktualismus und RCT in der Theorie Gauthiers ist also so zu verstehen, dass der Kontraktualismus als Paradigma fungiert, in dem mit Mitteln der RCT eine Lösung konstruiert wird. Die Anwendung der Verhandlungsprinzipien erfordert aber nicht, dass die Akteure tatsächlich miteinander verhandeln. Wenn alle Teilnehmer die rationalen Verhandlungsprinzipien kennen, über die relevanten Präferenzen der anderen Teilnehmer vollständig informiert sind und auch kooperieren wollen, dann wissen sie auch, zu welchem Ergebnis eine Verhandlung nach rationalen Verhandlungsprinzipien führen würde, und können daher auch ohne eine reale Verhandlung eine entsprechende Strategie wählen. Dieses hypothetische Vorgehen erspart den mit einer realen Verhandlung verbundenen Aufwand. Es ist wichtig zu betonen, dass die Funktion des Vertrages oder der Vereinbarung in diesem Typ von moralischem Kontraktualismus nicht darin besteht, die Verbindlichkeit oder Einhaltung der vereinbarten Normen zu sichern. Es werden hier zwei Aspekte von Verträgen unterscheiden: ihre Verbindlichkeit und ihre auf Freiwilligkeit beruhende Zustimmungsfähigkeit. Als gesellschaftliche oder juristische Institution haben Verträge eine Verbindlichkeit für die Vertragsparteien, die auf entsprechenden staatlichen oder anderweitigen institutionalisierten Sanktionen beruht. Eine solche Verbind34

In der moralphilosophischen Diskussion wird in diesem Kontext sowohl der Begriff der Vereinbarung (agreement) als auch der Begriff des Vertrages (contract) verwendet, ohne diese genau voneinander abzugrenzen. Der Grund dafür ist, dass in kontraktualistischen Theorien der mit diesen Begriffen bezeichnete Sachverhalt innerhalb der einzelnen Theorien verschiedene Stadien durchläuft, die,genau genommen, jeweils anders bezeichnet werden müssten. Im Alltagssprachgebrauch steht im Begriff der Vereinbarung die Übereinstimmung der Meinungen der beteiligten Personen und der Einigungsprozess im Vordergrund. Der Begriff des Vertrages hingegen stellt den bindenden Charakter, die Erzwingbarkeit der Vertragsinhalte und die formale Gestalt in den Vordergrund. So gesehen ist der Vertrag der stärkere Begriff, da er die Vereinbarung voraussetzt.

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lichkeit ist zunächst völlig unabhängig von der Rationalität des Inhaltes des Vertrages. Es kann sowohl für rationale als auch für nicht rationale Verträge durch Sanktionen eine Verbindlichkeit erwirkt werden. Für den moralischen Kontraktualismus ist diese Verbindlichkeit von Verträgen nicht von Interesse, denn er soll ohne die Konstruktion eines für solche Zwecke notwendigen staatlichen Gewaltmonopols auskommen. Der zweite Aspekt der Zustimmungsfähigkeit zielt auf eine die Vertragseinhaltung sichernde Eigendynamik von Verträgen, die aus ihrem Inhalt resultiert. Verträge sind gekennzeichnet durch die Freiwilligkeit der Teilnahme, d. h. man kann davon ausgehen, dass bei Vertragsabschluss beide bzw. alle Vertragsparteien ein Interesse am Vertragsabschluss haben. Dieses Interesse gründet sich auf einem wechselseitigen Vorteil, der aber nur durch die allseitige Vertragseinhaltung hervorgebracht werden kann. So werden z. B. Kauf- oder Arbeitsverträge von einem wechselseitigen Vorteil angetrieben. Wenn ein Bäcker für 2 € ein Brot verkauft, dann sind beim Verlassen der Bäckerei sowohl der Kunde als auch der Bäcker zufriedener als zuvor, obwohl nur gleichwertige Güter ausgetauscht wurden. In Bezug auf die Güter ist bei diesem Tausch kein Mehrwert entstanden. Der Mehrwert ist auf der Ebene des individuellen Nutzens entstanden. Der Besitz von den zusätzlichen 2 € hat für den Bäcker einen größeren Nutzen, als weiterhin sein verkauftes Brot zu besitzen. Genau umgekehrt verhält es sich für den Käufer. Der entstehende Mehrwert auf der Ebene des individuellen Nutzens ist der antreibende Faktor zum Güteraustausch. Auch wenn beim Kauf eines Brotes in der Regel kein expliziter Vertrag zwischen dem Bäcker und dem Kunden abgeschlossen wird, so wird juristisch gesehen doch ein Kaufvertrag abgeschlossen. Für den Verzicht auf einen expliziten Vertragsabschluss in dieser Situation gibt es mehrere Gründe, die uns das Wesen eines Vertrages, das auch der Idee des Kontraktualismus zugrunde liegt, etwas deutlicher machen. Ein Kriterium für einen expliziten Vertragsabschluss ist der Wert der ausgetauschten Güter. Bei Gütern mit sehr geringem Wert ist der Aufwand eines expliziten Vertragsabschlusses größer als der Nutzen, der durch den Gütertausch für die Tauschpartner entsteht. Bei Gütern mit höherem Wert dient ein Vertrag auch als Eigentumsausweis. Damit ist gewährleistet, dass der neue Eigentümer die ihm im Bezug auf das erstandene Gut zustehenden Rechte einfordern kann. Ein weiterer Grund ist

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die Art des Güteraustausches. Würden die Teilnehmer ihre jeweiligen Güter oder anderweitige Vertragsleistungen nicht gleichzeitig dem anderen zukommen lassen, dann wäre ein expliziter Vertragsabschluss wahrscheinlicher. Denn wenn der eine Vertragspartner seine Leistung schon erbracht hat, dann gibt es für den anderen Vertragspartner ohne einen expliziten Vertrag möglicherweise keinen zwingenden Grund mehr, seine Vertragsleistung ebenfalls zu erfüllen. In einem solchen Fall hat ein Vertrag die Funktion, die noch ausstehenden Leistungen vom anderen Vertragspartner gegebenenfalls erzwingen zu können. Dort also, wo durch die Nichterfüllung der Vertragsbedingungen ein einseitiger Vorteil für den einen Vertragspartner auf Kosten des anderen möglich ist, ist das Abschließen eines expliziten Vertrages zu erwarten. Eine Aufgabe des moralischen Kontraktualismus besteht nun darin, Prinzipien für das Abschließen von Verträgen zu konstruieren, so dass das wechselseitige Interesse an der Einhaltung der Verträge auch ohne staatliche Sanktionen dauerhaft bestehen bleibt. Die Verträge müssen derart sein, dass es nicht nur im Interesse aller Teilnehmer ist, sie abzuschließen, sondern sie später auch jederzeit einzuhalten. Dann erst ist es nämlich denkbar, dass Verträge auch ohne staatliche Sanktionsandrohungen eingehalten werden. Die zugrunde liegende Intuition besteht also nicht darin, dass man aufgrund eines realen oder hypothetischen Vertrages moralisch handeln sollte. Vielmehr soll der Handlungsgrund moralischen Handelns in der Rationalität der geforderten Handlungen liegen, d. h. im Nachweis des wechselseitigen Vorteils des moralischen Handelns. Als Nachweismethode für den wechselseitigen Vorteil wird der Vertragsabschluss durch rationale Vertragsparteien gewählt. Wenn ausschließlich selbstinteressierte Individuen einen Vertrag über die zu prüfende moralische Handlung abschließen würden und sie auch gute Gründe hätten, diesen Vertrag ohne staatliche Sanktionen einzuhalten, dann ist diese moralische Handlung nach der RCT rational. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der Weg über den Vertragsabschluss die einzig mögliche Nachweismethode ist. Die Konstruktion des Vertrages hat in dieser Konzeption eine instrumentelle und heuristische, aber keine begründende Funktion. Reziprozität ist die notwendige Voraussetzung für das Einhalten von Vereinbarungen. Das heißt, kontraktualistische Theorien wie auch die Theorie Gauthiers können nur zeigen, dass es für einen rationalen Akteur nur dann

27

geboten ist, sich an eine Vereinbarung über kooperatives oder moralisches Verhalten zu halten, wenn sich auch alle anderen Teilnehmer an die Vereinbarung halten. Wenn Gauthier sagt: „For the contractarian, morality must be mutual“ 35, dann nicht deshalb, weil Reziprozität für den Kontraktualisten ein notwendiger Bestandteil der Moral ist, sondern weil Reziprozität ein notwendiger Bestandteil einer Vereinbarung ist. Diese Konzeption der Vereinbarung sorgt im Kontraktualismus für die allgemeine Zustimmungsfähigkeit des Ergebnisses und ist somit unverzichtbar für eine gemeinsame Strategie rationaler Akteure. Entfernt man den Gedanken der Reziprozität aus der kontraktualistischen Moralkonzeption, dann müsste der Kontraktualist einen moralischen Skeptiker überzeugen, dass es rational ist, sich moralisch zu verhalten, selbst wenn sich die anderen (vielleicht sogar alle anderen) nicht moralisch verhalten. Dann entfällt aber die Idee der Kooperation, die zum Kern der kontraktualistischen Moralkonzeption gehört. Gauthiers Theorie kann also maximal zeigen, dass es rational ist, moralisch zu sein, wenn man die begründete Erwartung hat, dass auch alle anderen moralisch sind. Mit den bisher angeführten Rahmenbedingungen steht Gauthiers Kontraktualismus im Wesentlichen in der Tradition von Hobbes. Zunächst voneinander unabhängig agierende Individuen schließen sich zu einer Kooperationsgemeinschaft zusammen, um von einem Zustand der permanenten gegenseitigen Destruktion zu einem friedlichen Zusammenleben zu gelangen. Aber Gauthier integriert auch eine Konzeption, die nicht dem Hobbesschen Kontraktualismus entstammt, sondern von Locke stammt. Es ist das so genannte Proviso, das Kriterien für die Ausgangsbedingungen der Vertragsverhandlungen angibt. Während man es bei Hobbes im Naturzustand mit einer tabula rasa zu tun hat, die sich im Zustand des Krieges eines jeden gegen jeden manifestiert, geht Locke von bestimmten gottgegebenen Naturrechten aus, die die Basis für den Gesellschaftsvertrag bilden. Das Proviso ist bei Locke eine moralische Basis, von der ausgehend auf rationale Weise weitere Normen konstruiert werden können. Aber die dabei vorausgesetzte Akzeptanz dieser moralischen Basis ist bei Locke nicht das Ergebnis rationaler Überlegungen der Teilnehmer, sondern Teil eines Weltbildes oder Glaubens, das

35

D. Gauthier: Moral Dealing (1990), 2.

28

bzw. den Locke für seine Vertragsteilnehmer einfach voraussetzt.36 Nun kann Gauthier in seiner Argumentation ein solches theologisch verankertes Weltbild für seine Vertragsteilnehmer nicht voraussetzen. Seine Argumentation für die Annahme eines Provisos greift denn auch auf das Eigeninteresse der Teilnehmer zurück. Gauthier versucht zu zeigen, dass eine erfolgreiche Implementierung eines Gesellschaftsvertrages implizit die Akzeptanz bestimmter als moralisch zu bezeichnender Anfangsbedingungen voraussetzt. Wenn man also auf die Vorteile durch einen funktionierenden Gesellschaftsvertrag nicht verzichten und nicht in einem Zustand allseitiger Destruktion verharren will, dann ist es rational, diese moralischen Anfangsbedingungen zu akzeptieren. Mit dieser Argumentation bleibt Gauthier der Hobbesschen Form des Kontraktualismus treu, da er keine Annahmen machen muss, die er nicht durch einen Rekurs auf das individuelle Eigeninteresse begründen kann. Jedoch kann Gauthier, so wie auch Hume, einen Grundbegriff der traditionellen Moral nicht durch seine Theorie herleiten: die Verpflichtung. Seine Theorie kann und will auch nicht zeigen, dass man verpflichtet ist, bestimmte moralische Normen zu befolgen, sondern sie will zeigen, dass es rational ist, diese Normen zu befolgen. Moralische Rechte und Pflichten sind bei Gauthier Teil des Provisos, das man unter bestimmten Bedingungen rationalerweise akzeptieren kann.37 Damit verliert der Bergriff der Verpflichtung den Aspekt des Kategorischen, der für diesen Begriff jedoch konstitutiv ist. Gauthier redet somit zwar von Rechten und Pflichten, kann aber faktisch nur Klugheitsgebote begründen und das auch nur unter bestimmten Bedingungen der Gleichheit. Die fehlende Begründung des Begriffs der moralischen Verpflichtung in der Konzeption Gauthiers ist ein wesentlicher Grund, weshalb einige seiner Kritiker bestreiten, dass seine Theorie dem Anspruch einer Moral gerecht wird. Diese Kritik setzt voraus, dass der Begriff der Verpflichtung konstitutiv 36

Moderne Vertreter dieser als schwacher Kontraktualismus bezeichneten Position sind z. B. Rawls und Harsanyi, die ihren Individuen im Ausgangszustand bestimmte moralisch relevante Auffassungen zuschreiben, wie z. B. Gerechtigkeitsvorstellungen. Vgl. dazu Th. Schmidt: Die Idee des Sozialvertrags (2000), 37. Auch Scanlon mit seiner universalistischen Annahme, dass alle Menschen eine hinreichend starke Präferenz haben, ihre Handlungen anderen gegenüber mit guten Gründen rechtfertigen zu können, ist dieser Position zuzurechnen. Vgl. Th. M. Scanlon: „Contractualism and Utilitarism" (1982).

37

MbA, 209f., 230-232.

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für Moral ist und dass es die behauptete kategorische Verpflichtung tatsächlich gibt bzw. begründbar ist. Aber genau das ist es, was Gauthier in der Moralphilosophie nicht gefunden hat, und weshalb er sich überhaupt erst veranlasst sieht, einen eigenen Ansatz jenseits dieser Begriffe zu suchen. Das Fehlen von kategorischen Begriffen in seiner Theorie ist aus Sicht Gauthiers kein Mangel, sondern gerade ihre Stärke.

2. Reichweite der Theorie Gauthiers Gauthier hat seine Theorie über mehrere Jahrzehnte hinweg entwickelt. Während dieser Zeit sind Elemente modifiziert worden und andere hinzugekommen. Darüber hinaus hat sich aber auch die Ausgangsfragestellung und in der Folge die Reichweite oder Tragweite seiner Theorie als Antwort auf diese Frage geändert. Man kann hier sehr deutlich zwei Phasen unterscheiden: vor MbA und nach MbA. Diese Entwicklung findet sich in der Struktur von MbA wieder und gibt auch einigen Aufschluss über die Logik und Gewichtung seiner Argumentation in MbA. Vor MbA war der Gegenstand von Gauthiers Theorie ausschließlich die distributive Gerechtigkeit. Er gab mit seiner Verhandlungstheorie eine Antwort auf die Frage nach einer gerechten Güterverteilung in einer Gesellschaft von Nutzenmaximierern. In MbA entwickelt er zusätzlich die Konzeption des Provisos. Erst durch die Einführung des Provisos in seine Theorie wird es für Gauthier möglich, über eine Gerechtigkeitstheorie hinausgehend elementare Begriffe der Moral, wie das Recht auf Eigentum oder das Recht auf leibliche Unversehrtheit, in seine Theorie zu integrieren. Die argumentative Stellung des Provisos als notwendige Bedingung für eine erfolgreiche Verhandlung macht jedoch deutlich, dass das zentrale Element in der Moraltheorie Gauthiers nach wie vor die distributive Gerechtigkeit und die sie generierende Verhandlungstheorie ist. Die von Gauthier in Aussicht gestellte optimale Güterverteilung wäre der entscheidende Grund für einen Nutzenmaximierer, sich auf die Argumentation Gauthiers einzulassen. Moral fällt hier als Nebenprodukt von nutzenmaximierenden Strategien an. Gauthier bietet dem Nutzenmaximierer nicht eine Moral an und versucht ihm dann zu zeigen, dass diese auch rational ist. Vielmehr bietet er ihm für ein Problem der

30

Nutzenmaximierung eine rationale Lösung an und zeigt, dass diese Lösung Moral voraussetzt. Moral ist hier Teil einer Lösung für ein Nutzenmaximierungsproblem. Für den homo oeconomicus ist diese Argumentationsweise sehr eingängig. Hingegen ist sie für einige Moralphilosophen eher Anlass zur Skepsis. 1. Phase: Gauthiers Moraltheorie als eine Theorie der distributiven Gerechtigkeit. In seinem Aufsatz „Bargaining Our Way Into Morality" (1979) unterteilt Gauthier die Moral grob in zwei Bereiche: die Moral der distributiven Gerechtigkeit auf der einen und alle anderen Bereiche auf der anderen Seite. Im Kontraktualismus ist seiner Ansicht nach der zentrale Bereich der Moral die Konzeption der Gerechtigkeit.38 „Then contractarian morality determines the distribution of surplus utility.“ 39 Die kontraktualistische Moral setzt dort ein, wo die unsichtbare Hand des Marktes nicht mehr zu optimalen Ergebnissen führt. Das heißt, die kontraktualistische Moral ist die Lösung für ein Problem, das im Rahmen einer Produktions- und Verteilungsfrage entsteht. Das Prinzip, das die Verteilung des kooperativen Surplus in Gauthiers Theorie regelt, ist das „principle of minimax relative concession“ (MRC-Prinzip).40 Das MRC-Prinzip ist ein Verteilungsprinzip. Demzufolge kann in moralischer Hinsicht durch das MRC-Prinzip nur die Frage der distributiven Gerechtigkeit geregelt werden. In „Bargaining Our Way Into Morality" bezeichnet Gauthier die distributive Gerechtigkeit als Bindeglied zwischen Moral und rationaler Entscheidung. Die distributive Gerechtigkeit ist für ihn zu diesem Zeitpunkt der einzige Bereich der Moral, der der Rationalität in Gestalt der RCT, genauer seinem MRC-Prinzip zugänglich ist. Die Befolgung des MRC-Prinzips ist für ihn die notwendige Bedingung für eine gerechte Vereinbarung über eine Güterverteilung. Eine Vereinbarung ist demnach dann und nur dann gerecht, wenn sie dem MRC-Prinzip entspricht.41

38

D. Gauthier: "Economic Rationality and Moral Constraints" (1978), 92.

39

Ebda, 93.

40

Das MRC-Prinzip ist der Kern der Verhandlungstheorie Gauthiers und wird ausführlich im Abs. III.C ab S. 123 besprochen.

41

D. Gauthier: „Economic Rationality and Moral Constraints" (1978), 93.

31

Das MRC-Prinzip ist in seinem Wirkungshorizont ganz klar beschränkt: Die schon seit Jahrhunderten diskutierte Spannung zwischen Moral und Rationalität wird durch dieses Prinzip nur für den Bereich der distributiven Gerechtigkeit gelöst. Für die übrigen Bereiche der Moral schließt Gauthier eine entsprechende Lösung sogar explizit aus. „But firm foundation provided for the constraints on preferencebased choice required by distributive justice does not extend to those other constraints which are embraced in our traditional conception of morality. This is why our framework of moral concepts is outmoded. ... My aim in this paper is to show you how we bargain our way into that part of morality which constitutes distributive justice.“ 42 Am Ende dieses Aufsatzes zieht er das Resümee: „The optimistic conclusion is that the argument which I have presented grounds a part, and a not unimportant part, of traditional morality, on a strictly rational footing. ... I have established the rationality of distributive justice, as that constraint on preferencebased choice required by minimax concession. The pessimistic conclusion is that no similar argument will put the remainder, or any important part of the remainder, of traditional morality on a similarly rational footing. I have not shown this, but we may easily see that the only constraints on preference-based choice which are compatible with our conceptions of value and reason must be those which it is mutually advantageous for us to accept, and these are simply the constraints required by minimax concession. Having abandoned all religious or metaphysical props for morality, we are left with no justification for principles some of which, at least, we are unwilling to abandon.“43 Diese pessimistische Einschätzung wird durch die Erweiterung seiner Theorie in MbA zumindest teilweise hinfällig. Dennoch kann man auch für MbA sagen, dass der unmittelbare Nachweis der Rationalität nur für den Bereich der distributiven Gerechtigkeit geführt wird. Weitere Bereiche der Moral führt 42

D. Gauthier: „Bargaining Our Way Into Morality" (1979), 16.

43

Ebda, 25.

32

Gauthier lediglich als notwendige Bedingung für das Erreichen der distributiven Gerechtigkeit ein. Er weist nicht die Rationalität der traditionell als fundamental angesehenen Elemente der Moral nach, z. B. das Eigentumsrechts. Mit dieser Gewichtung der distributiven Gerechtigkeit gegenüber den anderen Elementen der Moral liegt Gauthier quer zum Grundverständnis traditioneller Moraltheorien. 2. Phase: MbA als eine Theorie der Moralität. In MbA führt Gauthier das Proviso ein und entwickelt im Zusammenhang mit der Vertragstreue die Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung (constrained maximization) zu einem zentralen Element seiner Theorie. Die Einführung dieser zwei neuen Konzeptionen bedingt zwei wesentliche Veränderungen in der Theorie Gauthiers: 1. Durch die Einführung des Provisos werden elementare moralische Rechte und Pflichten, wie das Recht auf Eigentum oder auf Unversehrtheit des eigenen Körpers, Bestandteile der Theorie Gauthiers. Damit erweitert er seine Theorie von einer Theorie der distributiven Gerechtigkeit zu einer allgemeinen Moraltheorie. Genau das hatte er zuvor noch für aussichtslos gehalten. 2. Die Einführung der Konzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung zielt auf die innere Haltung des Individuums: Es soll nicht nur moralisch handeln, sondern es soll auch moralisch sein. Damit wird Gauthiers Theorie zu einer Theorie der Moralität im Sinne einer Grundüberzeugung oder Haltung des Individuums. Der zweite genannte Aspekt soll an dieser Stelle noch etwas ausführlicher erläutert werden, da er nicht nur eine Inhaltliche Veränderung der Theorie Gauthiers anzeigt, sondern eine Veränderung im Charakter der Theorie. Die Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung führt ihren Träger nicht nur in Verteilungsfragen zu moralischen Entscheidungen, sondern macht aus ihm eine grundsätzlich kooperative Person. Diese Erweiterung reflektiert Gauthier in MbA nicht ausführlich. Erst 1993 in seinem Aufsatz „Between Hobbes and Rawls" thematisiert er den Status seiner Theorie sehr klar. Dort sieht Gauthier seine Theorie in MbA als einen Mittelweg zwischen den entsprechenden kontraktualistischen Theorien von Hobbes und Rawls an. Beide Autoren stellen eine Theorie der Moral vor, die eine Antwort auf die Frage sein will, warum eine rationale Person gerecht bzw. moralisch handeln sollte. Gauthier ist mit beiden Antworten nicht zufrieden,

33

da er in ihnen keinen überzeugenden Übergang von Rationalität zur Moral sieht. Bei Hobbes werden die Akteure als strikte individuelle Nutzenmaximierer definiert und als solche beugen sie sich aus Klugheitserwägungen den Verordnungen der Obrigkeit, halten Verträge und handeln in diesem Sinne gerecht. Würde der Staat aufhören zu existieren, so würden sich die Menschen wieder wie im Naturzustand verhalten und die Verträge brechen. Gauthier kritisiert an dieser Konzeption, dass sie nur die Umstände, nicht aber die Menschen selbst verändert. Hobbes ändert die äußeren Umstände so, dass es auch für individuelle Nutzenmaximierer rational ist, sich gerecht zu verhalten. Dieses Verhalten verdient nach Gauthiers Meinung aber nicht die Bezeichnung „moralisch", da dieses gerechte Handeln nicht von autonomen Individuen ausgeführt wird. Die Menschen müssen bei Hobbes ihr Recht auf Selbstbestimmung an den Staat abgeben, der allein die ultimative Instanz für das richtige Verhalten ist. Damit handeln sie zwar gerecht, sind aber keine gerechten Menschen.44 Dieser Unterschied unterstreicht, dass die Hobbessche Theorie nur eine politische, nicht aber eine moralische Lösung des Problems ist.45 Mit der Aufgabe ihrer Selbstbestimmung geben sie zudem ihren Status als rationale Akteure auf.46 Somit handeln die Menschen bei Hobbes zwar gerecht, sind aber weder moralische noch rationale Individuen. Bei Rawls hingegen handeln die Individuen zwar als Personen gerecht, aber dies tun sie nur aufgrund der Annahme, dass für das Personsein der Besitz der beiden moral powers konstitutiv ist: der Gerechtigkeitssinn (sense of justice) und der Begriff des Guten (concept of good).47 Rawls gelingt es insofern auch nicht, den Übergang von einem ausschließlich rationalen Individuum zu einem moralischen Individuum zu begründen. Er geht schon von einem moralischen Individuum aus und zeigt dann, warum es für dieses Individuum rational ist, gerecht zu handeln. Das Ziel der Theorie Gauthiers ist es aber zu zeigen, dass es für rationale, nicht-moralische Individuen rational 44

D. Gauthier: „Between Hobbes and Rawls" (1993), 35: „Hobbesian subjects may perform just acts, but do they become just persons? ”

45

MbA, 163.

46

D. Gauthier: „Between Hobbes and Rawls" (1993), 35.

47

J. Rawls: Political Liberalism (1993), 19.

34

ist, moralische Individuen zu werden. Moralische Personen werden sie dadurch, dass sie sich entscheiden, bestimmte Dispositionen auszubilden, die dann zu einem moralischen Handeln führen.48 In diesem Zusammenhang spricht Gauthier von der moralischen Transformation der Person.49 Diese Transformation der Person muss nach Gauthiers Meinung stattfinden, da nur so gewährleistet werden kann, dass Personen auch dann Verträge einhalten, wenn es zu ihrem Nachteil ist. Nur mit solchen Personen wird man Verträge abschließen und nur solche Personen werden daher in den Genuss kommen, an für sie vorteilhaften Kooperationen teilzunehmen. „If we are to relate morality, or more specifically justice, to rationality, we must show not only the rational basis for agreeing to justice by making the social contract, but also the rational basis for adhering to justice by committing oneself to abide by the contract.“ 50 Dieses Verhalten soll bei Gauthier nicht nur simuliert werden, wie dies bei Hobbes der Fall ist, sondern es soll dem Wesen des rationalen Akteurs entspringen. Dann erst ist der Kontraktualismus für Gauthier eine echte Moral. „My implicit concern has been to respond to the charge that a contractarian theory, because it defends constraints on each individuals's pursuit of her good only within the context of mutual benefit, offers only the simulation of morality. But neither recognition of the rights of one's fellows nor commitment to abide by mutually agreed principles is a simulation. If these are required for rational interaction, then, beginning from 'as narrow and morally neutral a conception of rational agency as can plausibly be drawn', we may develop an ethics that does 'not deviate wildly from ... our strongest moral convictions and that takes 'the inviolability and dignity of moral personality as fundamental' (Wolff, 48

Die Konzeption einer Nutzenmaximierung über die Aneignung von Dispositionen findet sich u. a. auch bei M. C. Baurmann: Der Markt der Tugend (1996), 324ff. Dort findet man auch weitere Verweise auf ähnliche Konzeptionen. 49

D. Gauthier: „Between Hobbes and Rawls" (1993), 34, 36.

50

Ebda, 31.

35

1977, p. 13). Between Hobbes and Rawls we may hope to have found the loveliest idea of all.“ 51 Im Verlauf dieser Arbeit wird deutlich werden, dass Gauthier dieses Anliegen in MbA tatsächlich verfolgt hat. Moralisch zu sein, bedeutet, die Disposition zur unbedingten Einhaltung von Verträgen zu haben, die bei Gauthier mit der Disposition des eingeschränkten Nutzenmaximierers (constrained maximizer) gleichgesetzt wird. Diese Disposition entspricht nach Gauthiers Einschätzung der Disposition des sense of justice bei Rawls.52 Der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden Dispositionen besteht darin, dass der sense of justice bei Rawls einfach als empirisch gegeben angenommen wird, während die Disposition des eingeschränkten Nutzenmaximierers bei Gauthier von einem individuellen Nutzenmaximierer in einer rationalen Entscheidung gewählt wird.53 Das heißt: Es ist rational, sich diese Disposition anzueignen. Gauthier gibt sich nicht mit einem Verständnis von Moralität zufrieden, das das moralische Verhalten lediglich als Epiphänomen des rationalen Handelns einstuft. „We can understand neither the equal recognition that each gives to her fellows, nor the commitment that each undertakes to comply with the terms of agreement, if we treat moral personality as a mere epiphenomenon of rational interaction.“ 54 Wenn Gauthier in MbA sagt, dass er seine Theorie als einen Bestandteil der RCT ansieht, dann steht genau dieses Anliegen dahinter. Die Moralität soll im Kern der Rationalität implementiert werden. Dies geschieht u. a. dadurch, dass das Verhandlungsergebnis nach seinem MRC-Prinzip von ihm als ein moralisches Ergebnis ausgewiesen wird. „I want to focus simply on the idea of investing the bargaining outcome, whatever it may be, with moral significance. This is the core idea of contractarian ethics.“ 55 51

D. Gauthier: „Between Hobbes and Rawls" (1993), 39. Verweis auf Robert P. Wolff: Understanding Rawls: a reconstruction and critique of a theory of justice (1977). 52

D. Gauthier: „Between Hobbes and Rawls" (1993), 37.

53

MbA, 183.

54

D. Gauthier: „Between Hobbes and Rawls" (1993), 38.

55

Ebda, 26.

36

Dass Gauthier dem Element der Verhandlung über die Güterverteilung nach wie vor eine so zentrale Stellung einräumt, zeigt, dass seine Theorie im Kern eine Theorie der Gerechtigkeit geblieben ist. MbA ist eine Theorie der distributiven Gerechtigkeit für eine Wirtschaftsgemeinschaft, für deren Realisierung sich einige Grundelemente der Moral als unverzichtbar erweisen.56 Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier noch auf die von Gauthier intendierte Dimension der Anwendung seiner Theorie hingewiesen. Er differenziert die zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Makroebene und auf der Mikroebene. Als Makroebene sieht Gauthier die fundamentalen Strukturen unserer Gesellschaft in Institutionen und allgemein geltenden Prinzipien an. Die Mikroebene ist die Dimension der individuellen, zwischenmenschlichen Beziehungen. Seine Moraltheorie bezieht er nur auf die Makroebene. Eine Anwendung auf die Mikroebene verwirft er als absurde Vorstellung.57 Nachdem wir in den letzten beiden Abschnitten ein Profil der Theorie Gauthiers gezeichnet haben, wird in den nächsten beiden Abschnitten beschrieben, aus welcher Perspektive die vorliegende Arbeit seine Theorie untersucht und dann die Durchführung der nachfolgenden kritischen Analyse skizziert.

B. Gleichheit als zentrale Konzeption in MbA Ausgehend von der zuvor vorgenommenen Positionierung der Theorie Gauthiers im moralphilosophischen Umfeld, wenden wir uns dem zentralen Thema der kritischen Analyse in dieser Arbeit zu. Der Ansatzpunkt für die kritische Analyse wird der Begriff der Gleichheit sein. Gleichheit wird in MbA zwar explizit nicht besonders thematisiert, spielt aber implizit in den wichtigen Elementen der Theorie eine tragende Rolle. Dies ist eigentlich auch nicht anders zu erwarten, da das Kriterium der Gleichheit für jede Moraltheorie ein wichtiges Thema ist. Denn Gleichheit ist eine strukturelle oder formale 56

A. Weale: „Justice, social union and the separateness of persons" (1993), 76.

57

Gauthier in H. Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft (2000), 111f.

37

Eigenschaft anderer grundlegender Begriffe der Moral, wie z. B. Gerechtigkeit, Fairness oder Unparteilichkeit. Den letztgenannten Begriff haben wir schon als das zentrale Definiens in Gauthiers Moralbegriff kennen gelernt. Ohne einen Rückgriff auf den Begriff der Gleichheit kann man diese Begriffe nicht definieren. Gleichheit ist also nicht nur als Verteilungsgleichheit im Kontext sozialer Gerechtigkeit in der Moralphilosophie von Bedeutung, wenn das auch der zurzeit am intensivsten diskutierte Aspekt der Gleichheit ist. Grundbedeutung des Begriffes Gleichheit. Gleichheit (Æσότης, aequitas, aequalitas, égalité, equality) steht in erster Annäherung für die Übereinstimmung von Gegenständen, Personen oder Sachverhalten in einem bestimmten Merkmal, bei gleichzeitiger Verschiedenheit in anderen Merkmalen. Beim Verhältnis der Übereinstimmung wird als tertium comparationis ein Standard vorausgesetzt, auf den bezogen die Dinge oder Personen nicht unterscheidbar sind. Von absoluter Gleichheit zu sprechen, ist daher falsch. Die Aussage „die zwei Fahrräder sind gleich“ ist unvollständig, wenn nicht angegeben wird, in welcher Hinsicht sie gleich sind. Erst dann, wenn wir hinzufügen, dass sie die gleiche Farbe, die gleiche Ausstattung oder das gleiche Gewicht haben, wird die Aussage vollständig und verständlich. Wo der Begriff der Gleichheit verwendet wird, ist häufig auch der Begriff der Egalität oder seine Derivate anzutreffen: Egalitär, Egalitarismus und egalitaristisch.58 Der Egalitarismus ist ein Ideal in der Soziologie und der politischen Theorie, das Gerechtigkeit in einer Form der sozialen bzw. politischen Gleichheit realisiert sieht. Er ist dadurch gekennzeichnet, dass er Gerechtigkeit relational, als die Gleichheit der einen mit den anderen, versteht. In Bezug auf was - auf welche Güter oder Eigenschaften - diese Gleichheit hergestellt werden soll, darin unterscheiden sich die verschiedenen Positionen des Egalitarismus. J. Rawls z. B. vertritt eine Gleichheit der Grundgüter, R. Dworkin eine der Ressourcen oder J. 58

Die Verwendung dieser beiden Begriffe ist nicht ganz unproblematisch, was sich an Ausdrücken wie „nicht-egalitärer Gleichheit“ zeigt; bei D. Herwig, Gleichbehandlung und Egalisierung als konkurrierende Modelle von Gerechtigkeit, 37. Herwig konstatiert in op. cit., 55, dass es in der Diskussion um die Gleichheit keine allgemein akzeptierte Terminologie gibt. Der englische Terminus „equality" umfasst Gleichheit und Egalität im hier genannten Sinne, wobei Egalität oftmals durch die Ergänzung „principle of equality" bezeichnet wird.

38

Roemer eine der Chancen zur Erlangung von Wohlergehen.59 In dieser Arbeit wird der Begriff egalitär im Hinblick auf diese verschiedenen Positionen unspezifisch verwendet, d. h. es wird kein bestimmtes Kritierium der Gleichheit angenommen. Der subjektive Charakter des Begriffes Gleichheit. Der entscheidende Punkt bei der Urteilsbildung über Gleichheit oder Ungleichheit von Dingen und Personen ist die Auswahl oder die Spezifizierung des relevanten Standards.60 Bei Kontroversen um die Gleichheit geht es auch meistens um die Frage, welcher der relevante Standard für einen Vergleich ist. Hier tritt das subjektive und interessegeleitete Element dieses Begriffes zum Vorschein. Gleichheit ist keine Eigenschaft von Dingen, sondern eine Relation von Eigenschaften. Ist der Standard klar, dann lässt sich Gleichheit objektiv feststellen. Gleichheit in normativen Fragen ist als Interesse, Ideal oder Wunsch zu verstehen, nicht aber als ein a priori gegebenes Gebot. Die letzte Begründung der Bemühungen um Gleichheit ist ein Wollen oder eine Überzeugung, dass ein Zustand einer bestimmten Gleichheit oder ein Zustand einer bestimmten Ungleichheit in einer Sozietät ein besseres Leben ermöglicht.61 Gleichheit als moralisches Ideal wird als ein Gestaltungsprinzip verstanden, das prinzipiell völlig unabhängig vom Grad der faktischen Gleichheit der Menschen oder der Umstände ist.62 59

Einen Überblick über die neuere Egalitarismus-Debatte findet man bei A. Krebs: Gleichheit oder Gerechtigkeit (2000), 7-37.

60

P. Westen: Speaking of Equality (1990), 121: „Persons or tangible things are identical in (normatively) relevant respects to the extent that they are identical as measured by standards of comparison that are (normatively) appropriate to states of affairs one wishes to bring about.” 61 62

T. B. Bottomore: Elite und Gesellschaft (1969),133.

Eine Übersicht über die verschiedenen Verwendungsweisen bzw. Formulierungen des Begriffes der Gleichheit als moralischem Prinzip in der philosophischen Diskussion findet man bei D. Herwig: Gleichbehandlung und Egalisierung als konkurrierende Modelle von Gerechtigkeit (1984), 41f. Dort listet sie folgende Bedeutungsvarianten auf. Das Prinzip der Gleichheit bedeutet: A(a) , dass Regeln ohne Ansehen der Person angewandt werden sollen (impartiality, universalisability, generalization bzw. Rechtsanwendungs-Gleichheit, Allgemeinheitscharakter von Regeln.)

39

Dieser subjektivistischen Erklärung stehen objektivistische Positionen gegenüber, die in der Gleichheit als moralischem Prinzip ein Entsprechungsprinzip sehen.63 Ein bestimmter Grad an gesellschaftlicher Gleichheit ist nach dieser Vorstellung aufgrund einer natürlich und objektiv vorgegebenen Ranggleichheit der Menschen moralisch geboten. Im Hintergrund steht hier eine stoisch-christlich motivierte Konzeption der Naturrechte, die eine grundsätzliche, moralisch relevante Gleichheit aller Menschen als objektiv vorgegeben ansieht. Exemplarisch kommt diese Idee in den Menschenrechten zur Geltung. Dort wird vorausgesetzt, dass alle Menschen frei und gleich an Rechten geboren werden und es auch bleiben. Eine kontraktualistische Position, wie sie Gauthier vertritt, begreift Moral grundsätzlich als Konstrukt einer menschlichen Gemeinschaft. Damit ist die Idee eines objektiven und moralisch relevanten Gleichheitsprinzips grundsätzlich unvereinbar. Im Rahmen seiner Theorie müssen egalitäre Annahmen oder Prinzipien hinsichtlich einer Sozietät als rational akzeptabel für alle Teilnehmer, insbesondere den Mächtigen, ausgewiesen werden. Prinzipiell gilt in einer rationalen Theorie der Moral, dass die Einführung von Prinzipien wie Unparteilichkeit, Gerechtigkeit oder Chancengleichheit

(b) , dass allen (verschiedenen) Interessen bzw. allen Angehörigen einer Klasse (Species) gleiche Berücksichtigung oder Achtung zusteht (equal consideration, equality of respect). (c) , dass Gleiche gleich behandelt werden sollen. (d) , dass Gleichbehandlung geboten ist, sofern ein zureichender (relevanter) Grund für Ungleichbehandlung nicht gegeben ist bzw. dass nur Ungleichbehandlung der Rechtfertigung bedarf, Gleichbehandlung nicht. (e) , dass alle ungerechtfertigten Ungleichheiten bzw. Ungleichbehandlungen eliminiert werden sollen. (f) , dass die Hinsichten, in denen die Menschen gleich sind, als wesentlich gelten sollen (Ungleichheiten dagegen als unwesentlich). Fortsetzung: (g) , dass alle Menschen völlig gleich behandelt werden sollen (each one count for one). (h) , dass alle sozialen Ungleichheiten aufgehoben werden sollen. (i) , dass alle Menschen so gleich als irgend möglich bzw. völlig gleich sein sollen (Aufhebung oder Ausgleich aller sozialen und natürlichen Ungleichheiten).“ 63

So vertreten z. B. von R. Dahrendorf: Gesellschaft und Freiheit (1961) oder Ch. Perelmann: Über die Gerechtigkeit (1967).

40

gegenüber jedem Individuum gerechtfertigt werden können muss. Bei einem individuellen Nutzenmaximierer heißt das, dass man den Vorteil für ihn durch die Einführung eines solchen Prinzips nachweisen können muss. Genau das ist der Gegenstand der Analyse im Hauptteil dieser Arbeit. Die Rolle der Gleichheit in kontraktualistischen Theorien. Kontraktualistische Moraltheorien bauen auf einer Grundidee auf, die der Argumentation eine gewisse Struktur vorgibt. Sie besteht im kontraktualistischen Szenario, das immer drei Elemente enthält: 1. Ein Naturzustand, in dem keine Moral existiert. 2. Eine Verhandlung mit dem Ziel, in einer Vereinbarung moralische Normen festzulegen. 3. Der Endzustand einer moralischen Gemeinschaft, in dem die Verhandlungsergebnisse umgesetzt werden und somit eine Moral etabliert wird. Diese Reihenfolge entspricht dem zeitlichen Ablauf eines fiktiven Verhandlungsprozesses. Um die Bedeutung der Gleichheit in der Theoriebildung einer kontraktualistischen Moral klar zu machen, werde ich ihre Rolle auf jeder dieser Stufen beschreiben und die Wechselwirkung zwischen den Stufen herausarbeiten.

41 Stufe

Bezugsgrößen der Gleichheit

1. Naturzustand Vormoralischer Zustand, für den bestimmte Annahmen über die Güterverteilung, die Machtverhältnisse und die Fähigkeiten der Teilnehmer gemacht werden.

(empirische) Präsozietät.

Zustandseigenschaften

einer

Egalitäre oder inegalitäre Verteilung der Güter, Macht oder Fähigkeiten (EG-1/IE-1).

Bei Gauthier wird dies in Form des Provisos gemacht. 2. Verhandlung Verhandlung über die Güterverteilung im Rahmen einer Kooperation aufgrund rationaler Erwägungen, die in einer Vereinbarung mündet. Die Verhandlungsprinzipien formuliert Gauthier im MRC-Prinzip.

Verhandlungsprinzipien Verhandlungsprinzipien, die zu einem egalitären oder zu einem inegalitären Zustand durch die Umsetzung der ausgehandelten Vereinbarungen führen. (EG-2/IE-2).

3. Moralische Gemeinschaft Umsetzung der Vereinbarung

Güterverteilungen Egalitäre oder (EG-3/IE-3)

inegalitäre

Güterverteilungen

Tab. 1: 3-Stufen-Schema des kontraktualistischen Szenarios

Egalität bzw. Inegalität auf diesen Stufen hängen voneinander ab. Diese Abhängigkeit ist in der nachfolgenden Tabelle 2 dargestellt. Für den Fall von inegalitären Verhandlungsprinzipien wird von proportionalen Verteilungsprinzipien ausgegangen, da diese im Kontext der Theorie Gauthiers die nahe liegenden Alternativen zu egalitären Verteilungsprinzipien sind. Bei proportionalen Verteilungsprinzipien entspricht das Verhältnis zwischen der Größe des individuellen Kooperationsbeitrages und der Größe der gesamten Kooperationseinlage dem Verhältnis zwischen der Größe des individuellen Anteils am Kooperationsertrag und der Größe des gesamten Kooperationsertrages.64 Andere inegalitäre Verteilungsprinzipien sind zwar in beliebiger Vielfalt denkbar, spielen aber in der Diskussion der distributiven Gerechtigkeit keine Rolle und können hier deshalb unberücksichtigt bleiben.

64

Festlegung der Terminologie für Kooperationen erfolgt auf S. 171.

42

Naturzustand

Verhandlungsprinzipien

Moralische Gemeinschaft

A

B

C

EG-1 v IE-1

EG-1

IE-1

+

+

+

EG-2

IE-2

IE-2

9

9

9

EG-3

EG-3

IE-3

Tab. 2: Verknüpfungen der Egalität

Aus den beiden Tabellen geht der Wirkungszusammenhang der Egalität auf die verschiedenen Ebenen der kontraktualistischen Moral hervor. Bei Annahme eines bestimmten Ausgangszustandes kann man sehen, welche Möglichkeiten es gibt, einen angestrebten Endzustand einer moralischen Gemeinschaft zu erreichen. Egalitäre Verhandlungsprinzipien führen per definitionem ungeachtet der Art des Naturzustandes immer zu egalitären Endzuständen. Inegalitäre, d. h. proportionale Verhandlungsprinzipien transponieren den Typ des Naturzustandes in den Endzustand. Proportionale Verhandlungsprinzipien können die Differenzen des Naturzustandes im Endzustand verstärken oder vermindern, aber sie können vorhandene Differenzen nicht eliminieren. Möchte man einen egalitären Endzustand erreichen, dann gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder man macht die Annahme eines egalitären Ausgangszustandes oder man setzt egalitäre Verhandlungsprinzipien ein. Beide Varianten sind gegenüber den Mächtigen im Naturzustand einem erhöhten Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Warum sollen gerade die Eigenschaften als Kriterium für Güterverteilungen herangezogen werden, die alle Individuen im gleichen Maße haben? Durch Verwendung dieses Kriteriums geht den Mächtigen ihr bisheriger Vorteil bei der Güterverteilung verloren. Die gleiche Frage werden die Mächtigen bezüglich egalitärer Verteilungsprinzipien stellen. Diese kritischen Anfragen muss eine kontraktualistische Moraltheorie für die Mächtigen befriedigend beantworten können, da sie die freiwillige Zustimmung aller beteiligten Individuen benötigt. Diese Problematik wird uns bei Gauthier immer wieder begegnen. Zentrale Rolle der Gleichheit in MbA. Beim Thema Gleichheit sind im Alltag aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion tief verwurzelte Intuitionen im Spiel. So z. B. die als praesumptio aequalitatis bezeichnete

43

Vorstellung, dass die Gleichverteilung die gerechte Verteilung ist, wenn keine hinreichenden Gründe für eine andere Verteilung vorliegen. Argumentativ wird in der praesumptio aequalitatis das onus probandi der Position zugewiesen, die von einer Gleichverteilung oder Gleichbehandlung abweicht. Dieser Intuition zu folgen, bedeutet aber im Rahmen der Theorie Gauthiers, die Antwort auf eine der Theorie zugrunde liegende Frage vorwegzunehmen. Diese Intuition hat also moralische Relevanz, ist eine moralische Position, die wie jede andere Position in der Moral begründungsbedürftig ist. Für eine Theorie wie die RCT, die in vielen Bereichen den common sense wiedergeben will, ist die Übernahme solcher Intuitionen ganz wesentlich, um ihre Verankerung in der Realität zu sichern. Hier berechtigt allein das Faktum, dass eine solche Intuition weit verbreitet ist, deren Übernahme. Eine Pflicht zur Begründung des Inhaltes der Intuition besteht nicht. Wenn die RCT aber nun zur Argumentation in einer Moraltheorie verwendet wird, kann man diese moralisch relevanten Intuitionen nicht einfach ohne Begründung en bloc mit der RCT übernehmen. Methodisch ist die Identifizierung dieser Intuition nicht ganz trivial, da sie teilweise in sehr tiefen Schichten der Theorie verborgen ist. So betrifft die praesumptio aequalitatis insbesondere formale Strukturen, in denen sie dann in Gestalt einer Symmetrieannahme in Erscheinung treten kann. Symmetrische Strukturen erscheinen uns vielfach einfacher als asymmetrische, weshalb wir sie ad hoc auch eher akzeptieren als asymmetrische. Diese Tatsache ist für die Analyse der Theorie Gauthiers von besonderer Bedeutung, denn formale Strukturen spielen dort eine wichtige Rolle. Die RCT ist eine rein formale Theorie. Besonders deutlich wird das an seiner Verhandlungstheorie, die er auch als Formalismus vorstellt. Damit wird ein Ineinandergreifen von formaler Gleichheit oder Symmetrie und moralisch relevanter Gleichheit unvermeidlich. Formale Strukturen oder Annahmen können hier über quantitative Aussagen unmittelbare Auswirkungen auf die moralischen Aussagen der Theorie haben. Damit kann leicht unbemerkt ein Übergang von scheinbar deskriptiven zu normativen Sätzen stattfinden. Deswegen müssen egalitäre Annahmen auch in formalen Teilen der Argumentation Gauthiers mit besonderer Aufmerksamkeit analysiert werden. Analoges gilt für empirische Annahmen über die Gleichheit. Diese sind auch nicht normativ, können aber ebenso Auswirkungen auf normative Aussagen der Theorie haben.

44

Wie schon gesagt wurde, ist Gleichheit ein wesentliches Kennzeichen von Moral. Das bedeutet, dass egalitäre Annahmen in einer Moraltheorie immer potenzielle Kandidaten für moralische Annahmen sind. Gauthier hat den Anspruch, ausgehend von moralfreien Annahmen nur auf dem Wege der Rationalität zur Moral gelangen. Angesichts dieses Anspruchs ist es klar, dass in einer kritischen Analyse sämtliche egalitären Annahmen in der Argumentation Gauthiers sorgfältigst auf ihre moralische Relevanz hin geprüft werden müssen. Da Gauthier seine Theorie als Teil der RCT konzipiert und mit den entsprechenden Formalismen argumentiert, sind insbesondere egalitäre Annahmen in diesen Formalismen auf ihre moralische Relevanz hin zu prüfen. Das ist auch ein Grund, weshalb sich das Kriterium der Gleichheit so gut eignet, um die Theorie Gauthiers zu analysieren. Gleichheit ist eine Eigenschaft, die formal klar formuliert und dementsprechend auch erkannt werden kann und zugleich ein wichtiges Kriterium basaler moralischer Prinzipien ist. Sie stellt damit einen zur Analyse gut geeigneten Schnittpunkt zwischen der formalen und inhaltlichen Ebene der Argumentation dar. Es gibt noch weitere Gründe, gerade den Begriff der Gleichheit in der Analyse der Theorie Gauthiers in den Mittelpunkt zu stellen. In der Argumentation seiner zentralen Konzeptionen in MbA trifft man regelmäßig an entscheidenden Stellen auf das Problem der Gleichheit. Das trifft auf sein Verhandlungsprinzip, das Proviso und auf seinen modifizierten Rationalitätsbegriff zu. Zudem gibt es einige Passagen, die durchblicken lassen, dass der Begriff der Gleichheit implizit in seiner Theorie eine ganz zentrale Rolle spielt. Als prominentester Beleg sei hier nur der abschließende Satz aus dem Kapitel über das Proviso angeführt, das zugleich der Abschluss der Darstellung der wesentlichen Elemente seiner Moraltheorie in MbA ist: „Morals arise in and from the agreement of equals.A 65 Aber auch schon in der Einleitung macht Gauthier deutlich, dass Ungleichheiten die Erreichung der Moral auf dem Wege der Rationalität verhindern. „Only beings whose physical and mental capacities are either roughly equal or mutually complementary can expect to find cooperation beneficial to all. Humans benefit from their interaction with horses, but they do not co-operate with horses and may not 65

MbA, 232.

45

benefit them. Among unequals, one party may benefit most by coercing the other, and on our theory would have no reason to refrain.A 66 Diese Statements Gauthiers müssen mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht werden, da sein ausdrückliches Anliegen und sein Unterscheidungsmerkmal gegenüber anderen Moraltheorien ist, dass er die Individualität der Teilnehmer einer moralischen Gemeinschaft voll berücksichtigen will. Konzeptionen der Moral, die ihre Prinzipien oder ihre Begründung aus einem übergeordnetem Prinzip, wie z. B. Kant aus einer metaphysischen Vernunft, ableiten oder die sämtliche Unterschiede zwischen Menschen als moralisch irrelevant einstufen, wie dies Rawls durch seinen Schleier des Unwissens tut, stoßen aufgrund ihrer schematischen oder stark reduzierten Sicht vom Menschen nicht zwangsweise auf das Problem der Gleichheit. Gauthier hingegen stößt allein bedingt durch seinen individualistisch orientierten Ansatz auf das Problem der Gleichheit. Eine Moral, die die Vielfalt der menschlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Interessen und Besitzverhältnisse als ihr Fundament deklariert, hat ein Fundament voller Ungleichheiten. Will sie diese Ungleichheiten berücksichtigen und dennoch ein gewisses Maß an Gleichheit im Ergebnis sicherstellen, so muss sie einen überzeugenden Weg von der Ungleichheit zur Gleichheit anbieten können. Insofern hat sich Gauthier im Vergleich zu vielen anderen Ansätzen der Moralphilosophie einen schwereren Weg ausgesucht. Der Vorzug dieses Weges, wenn er denn tatsächlich zu seinem angestrebten Ziel gelangt, besteht darin, dass die weitgehende Abwesenheit von Idealisierungen und Vereinfachungen eine größere Realitätsnähe bietet. Auch bei Gauthiers Vorläufer Hobbes spielt Gleichheit eine fundamentale Rolle. Bei ihm lösen die Menschen im Naturzustand ihre Interessenkonflikte durch Macht, d. h. in letzter Konsequenz durch physische Gewalt. Aus diesem Zustand kommen sie aber zu einem Vertrag über die wechselseitige Zuerkennung von Rechten und Pflichten. Die Voraussetzung für das Zustandekommen eines solchen Vertrages ist eine Gleichheit unter den Menschen, nämlich die Gleichheit der Fähigkeit, den anderen zu verletzen oder Schaden zuzufügen. Man kann auch sagen, dass alle Menschen 66

Ebda, 17.

46

gleich stark oder gleich mächtig sein müssen. Denn nur dann ist ein Vertragsabschluss zum wechselseitigen Vorteil aller Teilnehmer möglich. Haben einige Menschen viel mehr Macht als andere, dann können sie zum einen verhindern, dass sie selber von den anderen geschädigt werden, und zum anderen die anderen viel stärker schädigen. Durch einen Vertragsabschluss, der schädigende Interaktionen ausschließt, würde die Situation der Mächtigen nur verschlechtert werden. Daher werden sie rationalerweise an einem solchem Vertragsabschluss kein Interesse haben. An diese Vorstellung von Hobbes, dass die Menschen trotz ihrer Individualität ein beachtliches Maß an empirischer, also physischer und geistiger Gleichheit aufweisen, knüpft Gauthier unmittelbar an. Diese Annahme ist seiner Meinung nach keine moralische Annahme. „Die von Hobbes vorausgesetzte Gleichheit ist m. E. keine moralische Gleichheit. Er geht von der Idee physischer und geistiger Gleichheit aus. Wichtig an der Hobbesschen Gleichheitsvorstellung ist der Gedanke, dass niemand bereit ist, schlechtere Vertragsbedingungen hinzunehmen, als jemand anderes sie hat. Hobbes sagt: Wenn die Menschen von Natur aus gleich sind, dann sind sie gleich. Sind sie von Natur aus nicht gleich, werden sie sich nur auf solche Friedensbedingungen einlassen, die sie als Gleiche behandeln, und dann können wir von Gleichheit ausgehen. Dem würde ich zustimmen.“ 67 Die letzte Schlussfolgerung Gauthiers ist problematisch. Warum sollten faktisch ungleiche Menschen die Forderung stellen, sich als Gleiche zu behandeln? Der Wunsch eines mächtigen Nutzenmaximierers in einer solchen Situation würde doch nicht sein, dass er genauso wie alle anderen behandelt wird, sondern dass er besser als alle anderen behandelt wird. Weshalb sollte ein Mächtiger rationalerweise auf die aus seiner Macht resultierenden Vorteile freiwillig verzichten? Warum soll er sich mit der Gleichheit begnügen, wenn er für sich wesentlich bessere Resultate erzielen kann? Diese Schlussfolgerung wird noch problematischer, wenn man sich in die Situation derjenigen hineinversetzt, deren Ungleichheit darin besteht, dass sie den anderen in allen oder vielen physischen und geistigen Eigenschaften überlegen sind. 67

D. Gauthier in H. Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft (2000), 103f.

47

Die Hobbessche Gleichheitsannahme ist für kontraktualistische Theorien immer eine Einschränkung. Moral kann von der Warte des Kontraktualismus aus nur unter gleich mächtigen Personen etabliert werden. Diese Machtgleichheit ist aber in der Realität in faktischen oder potentiellen moralischen Gemeinschaften wohl nie oder selten anzutreffen. Wenn diese Annahme kontraktualistischer Moraltheorien in der Realität nicht erfüllt ist, dann können diese Theorien weder einen erklärenden noch einen normativen Anspruch einlösen. Sie können lediglich zeigen, dass es in einer Welt gleich mächtiger rationaler Akteure rational wäre, sich moralisch zu verhalten. Es wird zu klären sein, in welcher Hinsicht die Teilnehmer an der Moral bei Gauthier gleich sein müssen. Ich werde untersuchen, inwieweit die Bedingung der Gleichheit für Gauthiers Moraltheorie zum kritischen Problem wird, wie er in seiner Argumentation zu dieser Einschränkung kommt und ob sie sich nicht ganz oder zumindest teilweise vermeiden lässt.

C. Argumentationsgang Im Zentrum dieser Arbeit steht die kritische Analyse der Theorie Gauthiers. Am Anfang steht eine komprimierte Darstellung der Argumentation Gauthiers in MbA (Abs. II). Daran schließt sich als Hauptteil die Analyse der zwei zentralen Elemente der Theorie an, der Verhandlungstheorie (Abs. III) und des Provisos (Abs. IV). Im Abschnitt über die Verhandlungstheorie werden zunächst die impliziten Hintergründe und Annahmen der RCT expliziert, um ein vollständigeres Bild der Theorie zu bekommen. Die Elemente der RCT, die Gauthier von anderen Konzeptionen übernimmt, werden auf egalitäre und moralische Annahmen hin überprüft, um zu klären, ob die Theorie tatsächlich auf einem moralfreien Fundament aufbaut. In der Untersuchung der Verhandlungstheorie wird die Wichtigkeit des zugrunde liegenden Rationalitätsbegriffes zum Vorschein kommen. Die Bedeutung dieses Begriffes wird dann noch gesondert behandelt (Abs III.G). Im Abschnitt IV wird das Proviso behandelt, das für die Einführung der Moral in die Theorie Gauthiers das entscheidende Element ist. Hier geht es um die Festlegung der Anfangsbedingungen der Verhandlung, die u. a. moralische Rechte beinhaltet. Im Fazit (Abs. V) werden die Ergebnisse des Hauptteils abschließend beurteilt.

48

Aus der geschilderten Vorgehensweise ist zu ersehen, dass sich die kritische Analyse auf eine immanente Kritik beschränkt, die die Konsistenz der Theorie prüft. Der von Gauthier zugrunde gelegte Rationalitätsbegriff und Moralbegriff oder die kontraktualistische Grundidee werden nicht in Frage gestellt. Die sich hieraus ergebende Kritik an der Theorie ist wesentlich effektiver einzuschätzen als eine Kritik, die sich auf die Kohärenz der Theorie mit einem externen Moralbegriff stützt. Gegen einen solchen externen Moralbegriff lassen sich von Gauthiers Position aus immer berechtigte Einwände formulieren. Externe Kritik ist immer nur für denjenigen überzeugend, der den Standpunkt und die Annahmen der externen Kritik teilt. Stichhaltige immanente Kritik hat die berechtigte Aussicht, auch von den Vertretern der kritisierten Position akzeptiert zu werden und somit zu einem Fortschritt in der Theoriebildung beizutragen. Daneben spielt noch ein mehr ästhetischer Grund für diese Art der Kritik eine Rolle. Der erste Eindruck, den man von der Theorie Gauthiers hat, ist, dass man es mit einer sehr konzisen und stringenten Argumentation zu tun hat. Diese Stärke der Theorie Gauthiers fordert geradezu dazu heraus, der Theorie genau auf dieser Ebene der Argumentation kritisch zu entgegnen.

II. Die Argumentation in MbA In der nachfolgenden kritischen Analyse wird die Theorie Gauthiers aus verschiedenen Perspektiven und auf sehr unterschiedlichem Detailniveau untersucht werden. Es werden sowohl die Theorie übergreifende Strukturen und Annahmen bearbeitet werden als auch formale und andere Details. Damit die jeweilige Analyse richtig in den Gesamtzusammenhang und die Theorie Gauthiers eingeordnet werden kann, werde ich in Abs. II zuerst den Gedankengang (Problemstellung und Lösung) in MbA skizzieren, wobei die für uns relevanten Abschnitte etwas eingehender behandelt werden. Die kritische Analyse ist in Anlehnung an den Aufbau der Theorie Gauthiers in zwei Teile gegliedert: die Verhandlungstheorie (III) und das Proviso (IV). Die beiden Konzeptionen sind zwar in der Theorie Gauthiers argumentativ miteinander verbunden, werden aber in MbA unabhängig voneinander entwickelt und haben auch eine inhaltliche Eigenständigkeit. Zu Beginn von Abs. III werden wir uns mit den Voraussetzungen der Verhandlungstheorie beschäftigen. Hier geht es insbesondere um übergeordnete Annahmen der RCT, die Gauthier nicht expliziert. In den Abs. III.C bis III.E wird auf einzelne kritische Bereiche der Verhandlungstheorie von Gauthier eingegangen. Im Verlauf der Kritik an Gauthiers Theorie kristallisiert sich immer deutlicher eine alternative Lösung heraus, die in Abs. III.F dann explizit als Skizze vorgestellt wird. An verschiedenen Stellen der Analyse stoßen wir auf Inkonsistenzen des Rationalitätsbegriffes bei Gauthier. Da dieser Begriff für das Selbstverständnis der Theorie zentral ist, wird er gesondert im Abs. III.G diskutiert. Diese Diskussion liefert für einige der zuvor aufgeworfenen Kritikpunkte den gemeinsamen Hintergrund und macht zugleich deren Tragweite deutlich. Analog zum vorhergehenden Abschnitt über die Verhandlungstheorie wird auch beim Proviso in Abs. IV zuerst die Konzeption erläutert (Abs. IV.A) und dann einzelne Aspekte kritisch untersucht (Abs, IV.B). Zum Abschluss wird in Abs. V ein Fazit aus der gesamten kritischen Analyse gezogen. Der Anspruch Gauthiers in MbA ist, keine moralischen Annahmen in die Argumentation für seine Moraltheorie einfließen zu lassen. „Our theory must generate, strictly as rational principles for choice, and so without introducing prior moral assumptions, con-

50

straints on the pursuit of individual interest or advantage that, being impartial, satisfy the traditional understanding of morality.“ 68 Dieser Anspruch wird für die kritische Analyse im Rahmen der spieltheoretischen Überlegungen Gauthiers von besonderer Bedeutung sein. Er will rationale Einschränkungen für die individuelle Nutzenmaximierung einführen, die letztlich zu moralischem Handeln führen. Hält man sich vor Augen, dass hier mit rational69 im Wesentlichen nichts anderes als nutzenmaximierend gemeint ist, dann erscheint dieses Vorhaben Gauthiers einigermaßen paradox: Er möchte nutzenmaximierende Prinzipien zur Einschränkung der Nutzenmaximierung einführen. Der Ansatzpunkt für Gauthiers Überlegungen ist die mögliche Ineffizienz von Strategien der individuellen Nutzenmaximierung, die in der Spieltheorie im Rahmen des Themas Pareto-Optimalität behandelt wird. Diese Ineffizienz resultiert aus einer Veränderung des Standpunktes, von dem aus eine Strategie beurteilt wird. Nutzenmaximierung in der RCT wird vom Standpunkt des Individuums gesehen. Es geht um den Nutzen des Individuums. Strategien, von denen mehrere Individuen betroffen sind, lassen sich jedoch auch vom Standpunkt der Gruppe beurteilen. Hier geht es dann um den Nutzen der Gruppe insgesamt. Wenn alle Spieler70 die für sie dominante Strategie wählen, kann es sein, dass die Summe des Nutzens aller Spieler zusammen kleiner ist als die Summe des Nutzens aller Spieler, wenn alle oder einige eine alternative, nämlich eine kooperative Strategie wählen würden. Aus Sicht der Gruppe würde mit den durchgehend dominanten Strategien Nutzen verschenkt. Würden die Spieler die alternativen Strategien wählen, könnte man theoretisch den zusätzlich gewonnen Nutzen auf alle Spieler verteilen. Voraussetzung dafür sind die beliebige Teilbarkeit und die Übertragbarkeit des Nutzens. Damit könnte dann aus der Perspektive jedes Individuums diese Wahl der kooperativen Strategie nutzenmaximierend sein. Um dieses Ziel erreichen zu können, müssten jedoch zuvor wesentliche 68

MbA, 6.

69

Vgl. die Definition des Rationalitätsbegriffes bei Gauthier auf S. 12.

70

Derjenige Spieler ist in der RCT ein idealrationaler Akteur, der vollständige Information, vollständig geordnete Präferenzen und einen vollkommenen inneren Rechner besitzt. Die Hauptmaxime seiner Entscheidung ist die individuelle Nutzenmaximierung. Vgl. A. Hügli: „Wahl, rationale" ( 2004), 23.

51

Rahmenbedingungen geschaffen werden. Zum einen muss sichergestellt werden, dass alle Spieler tatsächlich auch die kooperative Strategie wählen und befolgen. Zum anderen muss die Frage geklärt werden, wie der durch die kooperative Strategiewahl entstandene zusätzliche Nutzen unter den beteiligten Spielern verteilt wird. Die erste Rahmenbedingung hat mit dem Problem zu kämpfen, dass kooperative Strategien ohne weitere Sicherungsvorkehrungen zu einem sehr instabilen Zustand in der Gruppe führen. Der Grund dafür ist, dass es für jeden beteiligten Spieler große Anreize gibt, diese Strategie für sich über Bord zu werfen. In vielen kooperativen Spielsituationen können einige Spieler noch mehr Nutzen erreichen als im Fall, dass die ganze Gruppe die dominante Strategie verfolgt; wenn sie anstelle der kooperativen die dominante Strategie wählen, was man in der Spieltheorie als Defektieren bezeichnet. Diejenigen Spieler, die sich weiterhin an die kooperative Strategie halten, werden hingegen durch diesen Weg weniger Nutzen haben als wenn die ganze Gruppe die dominante Strategie verfolgen würde. Wenn jedoch eine Mehrzahl oder alle von der kooperativen Strategie defektieren, wird es keinen zusätzlichen Nutzen der kooperativen Strategie mehr geben. Der Ansatzpunkt der Moraltheorie Gauthiers sind die genannten rationalen Einschränkungen nutzenmaximierenden Handelns im Kontext von Kooperationen. Er konstruiert in seiner Theorie diese Einschränkungen so, dass sie rational und unparteilich zugleich sind. Dabei steht er immer unter der Anforderung, keine unbegründeten moralischen Annahmen machen zu dürfen, denn er will ja zeigen, dass es rational ist, moralisch zu handeln. Dies ist für die nachfolgende kritische Analyse der zentrale Ansatzpunkt: Es soll aufgezeigt werden, dass Gauthier explizit oder implizit moralische Annahmen in seine Argumentation einfließen lässt. Insbesondere beim Aufdecken der impliziten moralischen Annahmen wird die Gleichheit eine wichtige Rolle spielen. Wenn man unparteiliche Inhalte aus dem Kontext der Moral in der RCT abbildet, dann sind die entsprechenden Begriffe oder Formalismen in der RCT durch die Eigenschaft der Gleichheit gekennzeichnet. So wird z. B. eine unparteiliche Handlung im Rahmen der RCT dadurch wiedergegeben, dass die Interessen aller involvierten Interakteure mit einem gleich großen Gewich-

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tungsfaktor versehen werden.71 In der Weise fungiert Gleichheit als Brücke zwischen Moral bzw. Unparteilichkeit und RCT. Wenn also egalitäre Annahmen in der Theorie Gauthiers erscheinen, dann sind dies potenzielle Kandidaten für unparteiliche Annahmen. Natürlich trifft dies nicht auf alle egalitären Annahmen zu. Um dies im Einzelfall zu überprüfen, muss man die entsprechenden Formalismen, Begriffe oder Strukturen der RCT auf konkrete Handlungen und Personen anwenden. Dann kann man entscheiden, ob die genannten Elemente der RCT moralisch von Bedeutung sind. Ist dies der Fall, dann müsste Gauthier eine in der RCT nachvollziehbare Begründung für diese Annahme anführen können. Wenn er z. B. nachweisen könnte, dass es nutzenmaximierend ist, einmal gegebene Versprechen auch einzuhalten, dann könnte er diese moralische Annahme der Vertragstreue legitimerweise in seine Argumentation aufnehmen. Ohne einen solchen Nachweis wäre die Annahme hingegen nicht legitim. Bevor wir zu dieser kritischen Auseinandersetzung kommen können, wird, wie angekündigt, zunächst die Argumentation in MbA im Überblick dargestellt. In der Einleitung habe ich das Projekt Gauthiers in seinem moralischen Kontext und Anspruch charakterisiert. Diese Charakterisierung soll nun in den folgenden beiden Abschnitten durch einen Blick auf die innere Struktur der Theorie in MbA vervollständigt werden. Dabei werde ich mich auf die Teile der Argumentation beschränken, die zum Verständnis der Theorie Gauthiers und für die nachfolgende Analyse notwendig sind. Dies bedeutet, dass ich mich in der Darstellung auf die Kapitel IV-VII von MbA konzentrieren werde. Die Kapitel I-III sind im Wesentlichen der Darstellung einiger Grundlagen der RCT gewidmet, auf denen Gauthier seine eigene Theorie entwickelt. Lediglich die Idee, den Markt als moralisch neutrale Zone zu verstehen, hebt sich deutlich von den herkömmlichen Vorstellungen der RCT 71

Die genaue formale Umsetzung dieses Kriteriums ist bei J. C. Harsanyi zu sehen: Rational behavior and bargaining equilibrium in games and social situations (1977), 48ff.. In die Entscheidung eines nicht moralisch disponierten individuellen Nutzenmaximierers gehen die Interessen der anderen Personen in der Regel nicht ein, d. h. sie werden mit dem Faktor 0 gewichtet. Insofern ist eine davon abweichende Gewichtung der Interessen bei einer unparteilichen Entscheidung aus Sicht des Nutzenmaximierers immer begründungsbedürftig.

53

ab. Ansonsten hat er nur vereinzelt Modifikationen vorgenommen, die speziell auf sein Argumentationsziel abgestimmt sind. Im Kapitel VIII wird die Konzeption des Archimedischen Punktes entwickelt, um zu überprüfen, ob die in vorgehenden Kapiteln entwickelte Theorie tatsächlich das Kriterium der Unparteilichkeit erfüllt und damit ihrem Anspruch als Moraltheorie gerecht wird. Obgleich Gauthier selber sie als Kernkonzeption seiner Theorie bezeichnet, fügt sie seiner Theorie nichts substanziell Neues hinzu, sondern dient der Übersetzung seines Verständnisses von Unparteilichkeit in ein der Moralphilosophie geläufigeres Verständnis, wie man es etwa bei Rawls findet. Die verbleibenden Kapitel IX-XI gehen nach Gauthiers eigener Aussage über den Rahmen der RCT hinaus und beschäftigen sich mit der Frage, wie die von ihm vorgeschlagene Lösung im größeren Kontext der Ideengeschichte zu interpretieren und einzuordnen sei. Hier handelt es sich vielfach um mehr spekulative Fragegestellungen.72

A. Die Problemstellung Für das Verständnis und die Beurteilung einer Theorie ist die Kenntnis der Problem- oder Fragestellung essentiell. Ob man die Theorie Gauthiers als gelungen oder nicht gelungen bewerten kann, hängt natürlich davon ab, ob er das gestellte Problem gelöst hat. Deswegen werden hier die drei Probleme formuliert, die Gauthier mit seiner Theorie in MbA lösen will: 1. Es soll die Rationalität von Vereinbarungen über soziale Kooperation nachgewiesen werden. Dieser Nachweis erfolgt über die Beantwortung der Frage: Welchen Kriterien muss eine Kooperationsvereinbarung entsprechen bzw. auf welchem Wege muss eine Kooperationsvereinbarung zu Stande kommen, damit es für alle potenziellen Kooperationsteilnehmer rational ist, dieser Vereinbarung zuzustimmen? Gauthiers Antwort auf diese Frage ist das MRC-Prinzip. 2. Es soll die Rationalität der Vertragstreue in sozialen Kooperationen nachgewiesen werden. Dieser Nachweis erfolgt über die Beantwortung der Frage: Unter welchen Bedingungen ist es rational, Kooperationsvereinbarungen nach dem MRC-Prinzip nicht nur zuzustimmen, sondern diese auch zu befolgen? 72

MbA, 20.

54

Gauthiers Antwort auf diese Frage ist die Konzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung (constrained maximization). 3. Wie müssen die Ausgangsbedingungen für die Kooperationsverhandlungen sein, damit es für jeden potenziellen Kooperationsteilnehmer rational ist, an den Kooperationsverhandlungen teilzunehmen? Diese Frage beantwortet Gauthier mit seiner Konzeption des Provisos.

B. Der Lösungsweg Entscheidungen im idealen Markt. Gauthier beginnt seine Argumentation in MbA, indem er die Grundlagen der RCT, auf die er seine Theorie aufbaut, Schritt für Schritt entwickelt.73 Dabei bleibt er bis auf seine neue Konzeption der considered preferences74 im Rahmen der klassischen RCT. Er macht die für sein weiteres Vorgehen wichtige Unterscheidung zwischen parametrischen und strategischen Entscheidungen, die für die Unterscheidung zwischen Entscheidungs- und Spieltheorie maßgeblich ist. In parametrischen Entscheidungssituationen stehen alle Optionen und die mit ihnen verbundenen Parameter fest. Die Entscheidung besteht allein darin, die beste der möglichen Optionen zu wählen. In strategischen Entscheidungssituationen hingegen hängen die möglichen Optionen von den noch ausstehenden Entscheidungen anderer Interakteure ab. Diese noch offenen Entscheidungen muss man bei seiner eigenen Entscheidung antizipieren und einkalkulieren, was man dann als Strategie bezeichnet. Ein typisches Beispiel für eine strategische Entscheidung ist das Festlegen eines Spielzuges beim Schach. Gauthier entwickelt, anknüpfend an die parametrische Entscheidung, das Konzept des idealen Marktes. Der ideale Markt zeichnet sich u. a. dadurch

73

Auch wenn die Kenntnis dieser Grundlagen zum vollen Verständnis der Argumentation natürlich unerlässlich sind, ist eine befriedigende Darstellung in diesem Rahmen nicht möglich. Um dennoch das Nachvollziehen der Argumentation zu ermöglichen, werden für diesen Kontext zentrale Begriffe in Fußnoten kurz erläutert und Verweise auf die einschlägige Literatur angegeben. 74

MbA, 32f: „Preferences are considered if and only if there is no conflict between their behavioral and attitudinal dimensions and they are stable under experience and reflection.”

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aus, dass es nur private Güter75 gibt, wechselseitiges Desinteresse zwischen den Teilnehmern herrscht, keine Externalitäten76 existieren, jedem Teilnehmer eine individuelle Güterausstattung zukommt und weder Zwang noch Betrug existieren. Die Akteure stehen ausschließlich in parametrischen Entscheidungssituationen und das bei Abwesenheit von Unsicherheit der Entscheidungsergebnisse. Das Resultat der Interaktionen unter diesen Bedingungen ist ein perfekter Wettbewerb mit dem Ziel, das Optimum an Produktivität und Warenaustausch zu gewährleisten. Jeder Marktteilnehmer ist durch seine Nutzenfunktion und seine Güterausstattung vollständig beschrieben. Eigentum und die entsprechenden Eigentumsrechte werden in der Interaktionsform des Marktes als gegeben vorausgesetzt, aber nicht durch den Markt begründet.77 Diese werden bei Gauthier im Proviso hergeleitet. Der Markt ist also nicht mit einem rechtsfreien Naturzustand zu verwechseln. Unter diesen Bedingungen des idealen Marktes führen rationale Entscheidungen der Teilnehmer zu einem Gleichgewichtszustand, der auch pareto-optimal78 ist. Jeder Spieler hat die für sich nutzenmaximierende Option gewählt und es gibt keine Konstellation der Entscheidungen, die für einen der Spieler zu noch mehr Nutzen führen würde, ohne dass ein anderer Spieler weniger Nutzen hätte. Nutzenmaximierung und Pareto-Optimalität koinzidieren im idealen Markt, der damit von dem zentralen Problem der strategischen Rationalität verschont bleibt, nämlich dem gleich noch zu diskutierenden Gefangenen-Dilemma.79 Aus dieser Koinzidenz folgert er, dass der Markt ein moralfreier Raum ist.

75

Hierunter versteht man Güter, die im Gegensatz zu öffentlichen Gütern von nur einer Person genutzt werden können. 76

Vgl. Fußnote 27 auf S. 20.

77

MbA, 86.

78

Eine Verhandlungslösung ist dann pareto-optimal, wenn es keine andere Lösung gibt, bei der ein Spieler besser gestellt ist, ohne dass ein anderer Spieler schlechter gestellt ist. Weitere Einzelheiten siehe Definition auf S. 105. 79

MbA, 83: „Conceived as an ideal type, the perfect market, as we shall see, guarantees the coincidence of equilibrium and optimality, and so its structure is the very antithesis of the Prisoner=s Dilemma.”

56

„Since the market outcome is both in equilibrium and optimal, its operation is shown to be rational, and since it proceeds through the free activity of individuals, we claim that its rationality leaves no place for moral assessment.“ 80 Wenn man Moral, wie Gauthier es tut, als eine Einschränkung des nutzenmaximierenden Handelns versteht, dann gibt es unter Marktbedingungen keinen Grund für die Einschränkung der individuellen Nutzenmaximierung, denn eine Einschränkung könnte hier zu keinem besseren Ergebnis führen. Eine kontraktualistische Moral ist an die Bedingung des wechselseitigen Vorteils gebunden und hätte hier keinen Ansatzpunkt. Die Erlangung eines paretooptimalen Zustandes oder die Maximierung des kollektiven Nutzens ist in Marktsituationen eine nicht intendierte Wirkung der Entscheidungen zur individuellen Nutzenmaximierung. Gibt es aber ein für alle Teilnehmer besseres Ergebnis, das jedoch mit nutzenmaximierenden Entscheidungen aufgrund von Interessenkonflikten zwischen den Teilnehmer nicht erreichbar ist, dann sieht Gauthier darin einen Ansatzpunkt für Moral in Form von Handlungseinschränkungen. Deren Einführung kann nur dadurch gerechtfertigt werden, dass die Verfolgung individuell nutzenmaximierender Strategien nicht zum optimalen Ergebnis für alle Teilnehmer führt, d. h. nicht paretooptimal ist. Moral hat für Gauthier nur dort eine Existenzberechtigung, wo es Interessenkonflikte gibt. In seiner Konzeption des Marktes als eines moralfreien Raumes betont Gauthier, dass man Marktinteraktionen nicht moralisch bewerten kann, da keine Interessenkonflikte vorliegen. Marktinteraktionen können also nicht moralisch richtige oder falsche Handlungen sein, sondern sind prinzipiell moralisch indifferent. Damit grenzt er seine Position deutlich von den Vertretern eines Laissez-faire-Marktverständnisses ab, die die uneingeschränkten Marktinteraktionen als moralisch positiv bewerten. Wichtig ist noch zu betonen, dass Gauthier diese Konzeption des Marktes als eines moralfreien Raumes nur als ein Ideal versteht und nicht als Beschreibung realer Marktinteraktionen. Letzteres trifft für ihn deshalb nicht zu, weil in realen Marktinteraktionen die Anfangsbedingungen der Interaktionen in Hinblick auf die Güterverteilung untrennbar mit dem Ergebnis der 80

Ebda, 94. Dieser These des Marktes als moralischer Freizone ist das ganze Kap. IV (The Marktet: Freedom from Morality) in MbA gewidmet.

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Marktinteraktion verbunden sind. In Gauthiers Theorie werden aber die Anfangs- und Endverteilungen in Marktinteraktionen konzeptionell von den Marktinteraktionen selbst getrennt. Die Frage der Anfangsverteilung thematisiert Gauthier separat in seiner Konzeption des Proviso. Diese Anfangsverteilung ist nach seiner Meinung im Gegensatz zu den Marktinteraktionen moralisch beurteilbar. Sie kann fair oder unfair sein. Eine faire Anfangsverteilung der Güter führt über Marktinteraktionen auch zu einer fairen Endverteilung im Handlungsergebnis. Entsprechendes gilt für unfaire Verteilungen. Die Marktinteratkionen sind hier neutral. Sie transferieren die Fairness bzw. Unfairness aus dem Anfangszustand in den Endzustand. Noch eine weitere Anmerkung zur Konzeption des Marktes als moralfreier Zone. Dass der Markt eine moralfreie Zone ist, bedeutet nur, dass es in einem voll funktionsfähigen Markt keinen Bedarf für die Einführung einer Moral gibt. Aber es bedeutet nicht, dass die Konzeption des Marktes bei Gauthier nicht Moral voraussetzt. Als Ort des Güteraustauschs setzt der Markt natürlich mindestens ein basales Recht auf Eigentum voraus. Ohne ein solches würde der Begriff des Güteraustausches keinen Sinn ergeben.81 Geringe Reichweite des idealen Marktes. Die Konzeption des Marktes hat durch ihre idealisierende Definition nur begrenzte Einsatzmöglichkeiten. Das heißt, sie führt in Fällen jenseits der idealen Anforderungen nicht zu einer Koinzidenz von Equilibrium und Pareto-Optimalität. Ein von Gauthier angeführter Fall ist die Existenz von Externalitäten. Als Externalitäten werden positive oder negative Auswirkungen von Interaktionen auf Personen bezeichnet, die an diesen Interaktionen nicht oder zumindest nicht freiwillig beteiligt sind.82 Hierzu kann durch die Existenz von freien Gütern kommen.83

81

Ebda, 222: „Market and co-operative practice presuppose individual rights. These rights are morally provided in the proviso. And the rights so grounded prove to be familiar ones of our tradition - rights to person and to property.”

82

Vgl. Fußnote 27 auf S. 20.

58

Dies sind Güter, die von mehreren Personen genutzt werden können, durch diese Nutzung nicht verbraucht werden und gegen diese Nutzung auch nicht wirkungsvoll geschützt werden können. Unter diesen Umständen werden Nutzenmaximierer zu Trittbrettfahrern oder Schmarotzern, indem sie Güter anderer Individuen nutzen, ohne eine Gegenleistung zu erbringen. Einem solchem Verhalten werden die betroffenen Personen nicht freiwillig zustimmen. Da im Markt Zwang und Betrug ausgeschlossen sind, verletzt die Existenz von Externalitäten die Bedingungen des Marktes. Gauthier führt hier das Beispiel eines Leuchtturms an. Wenn sich eine Gruppe von Reedern zusammenschließt, um den Bau eines Leuchtturms gemeinsam zu finanzieren, dann können sie in der Regel nicht verhindern, dass auch Schiffe anderer Reedereien diesen Leuchtturm nutzen, ohne dass sie sich an den Kosten beteiligt haben. Da jeder das Recht hat, sich frei auf dem Meer zu bewegen und das Leuchtturmsignal für jeden sichtbar ist, kann die Nutzung des Leuchtturms nicht auf die Gruppe der Betreiber beschränkt werden. Zum anderen haben die Betreiber keinen unmittelbaren Nachteil dadurch, dass auch andere den Leuchtturm nutzen. Das Lichtsignal bzw. genauer gesagt: dessen Orientierungsfunktion ist ein Gut, das durch die Nutzung nicht verbraucht wird. Das Meer und die Orientierungsfunktion des Leuchtturms sind in diesem Beispiel öffentliche Güter. Eine andere Überschreitung der Grenzen des Konzeptes des idealen Marktes ist die Einbeziehung strategischer Entscheidungssituationen. Für

83

Die Verwendung von „free goods" bei Gauthier entspricht dem Begriff der „public goods" in der Ökonomie. Diese sind durch zwei Kriterien definiert: 1. Jointness of supply (Prinzip der Nichtrivalität). Die Nutzung eines öffentlichen Gutes durch Person A beeinträchtigt nicht die Nutzung desselben Gutes durch Person B. Dies betrifft Güter, die bei der Nutzung nicht aufgebraucht werden. 2. Impossibility of exclusion. Man kann nicht verhindern, dass jemand ein öffentliches Gut nutzt. Vgl. dazu R. Hardin: Collective Action (1982), 17. Gauthier spricht von „free" und nicht von „public goods", da in der Ökonomie die öffentlichen Güter üblicherweise vom Staat zur Verfügung gestellt werden. Da bei Gauthier im Naturzustand natürlich kein Staat existiert, sind diese Güter bei ihm ohne Besitzer, also frei. Sowohl in der Ökonomie als auch bei Gauthier ist der kritische Punkt an den freien bzw. öffentlichen Gütern, dass sie durch Marktmechanismen nicht effizient bereit gestellt werden können. Vgl. hierzu M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 8f. und MbA, 88 Abs. 2.

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einen Teil der strategischen Entscheidungssituationen kann die Spieltheorie Lösungen anbieten, die sowohl dem Anspruch der Nutzenmaximierung als auch dem Kriterium der Pareto-Optimalität entsprechen. Dies sind die Fälle, in denen es genau ein Equilibrium84 gibt, das zudem eine pareto-optimale Lösung ist. Sobald es aber mehr als ein Equilibrium gibt oder GefangenenDilemma-Situationen auftreten, kann die Spieltheorie, wenn sie sich auf kompetitive, das heißt nicht-kooperative Strategien beschränkt, keine befriedigende pareto-optimale Lösung mehr anbieten. Ein Gefangenen-Dilemma ist eine Situation, in der zwei Spieler, die beide ihre dominanten Strategien85 und damit die Strategien des Nash-Equilibriums wählen, dennoch zu keinem pareto-optimalen Ergebnis kommen, obwohl es ein solches gibt. Das Equilibrium ist nicht pareto-optimal, wenn noch mindestens eine mögliche Kombination von dominierten individuellen Strategien existiert, bei der beide Spieler besser gestellt wären als im Equilibrium. Kooperation als die Lösung für das Versagen des Marktes. Sowohl im Fall des Gefangenen-Dilemmas als auch bei den zuvor ausgeführten Entscheidungssituationen, bei denen Externalitäten im Spiel sind, kann ein Wechsel der Interaktionsform vom Wettbewerb zur Kooperation die Erreichung des Optimums ermöglichen. Die Situation des Wettbewerbs unterscheidet sich in der Spieltheorie in Abgrenzung zur Kooperation durch die Abwesenheit bindender Verträge, die von exogenen Mechanismen durchgesetzt werden können. Kooperatives Handeln basiert auf der Befolgung einer gemeinsamen Strategie, die in einer rationalen Verhandlung von allen beteiligten Spielern gemeinsam festgelegt werden kann und deren Befolgung nach der klassischen Definition des Begriffs auch erzwungen werden kann. In 84

M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 10: Eine Strategiekombination ist dann ein Nash-Gleichgewicht [d. h. ein Equilibrium; Anm. d. Verf.], wenn die Gleichgewichtsstrategie jedes Spielers seinen (erwarteten) Nutzen maximiert, vorausgesetzt, dass alle anderen Spieler ihre Gleichgewichtsstrategie spielen.

85

Eine Strategie oder Entscheidung wird dann als dominant bezeichnet, wenn sie im Vergleich zu allen anderen alternativen Strategien eines Spielers den höchsten Erwartungsnutzen verspricht, ganz gleich, welche Strategien die Gegenspieler wählen werden. Die verbleibenden alternativen Strategien des Spielers werden als dominierte Strategien bezeichnet.

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realen Kooperationen wird dieser Zwang oftmals durch eine Institution wie dem Staat ausgeübt. Für das spieltheoretische Modell der Kooperation ist es aber irrelevant, auf welche Weise oder durch wen dieser Zwang ausgeübt wird. Wichtig ist, dass er auf die Kooperationsteilnehmer ausgeübt werden kann. Nachfolgend werden einige Definitionen der Konzeption der Kooperation angegeben, die jeweils verschiedene Aspekte derselben Grundidee wiedergeben und so zusammengenommen ein umfassendes Bild ergeben. Wie löst Kooperation das Problem des Gefangenendilemmas? NidaRümelin gibt eine Definition von Kooperation, die genau diese Frage beantwortet. „Bei gegebener subjektiver Bewertung der Handlungskonsequenzen einer Situation handelt es sich dann um ein Gefangenendilemma, wenn es für jeden Interaktionsbeteiligten eine dominante Strategie (im Sinne dieser KonsequenzenBewertungen) gibt, die, von beiden gewählt, zu einem paretoineffizienten Ergebnis (wiederum im Sinne der genannten Konsequenzen-Bewertung) führt. Kooperation ist dann dadurch definiert, dass eine Person in einer solchen Situation die dominierte Strategie wählt, die ein gegenüber dem Ergebnis der Kombination dominanter Strategien pareto-besseres Resultat hat (unter der Bedingung, dass auch die andere Person die dominierte Strategie wählt).“ 86 Ausschlaggebend für die Wahl der dominierten Strategie ist auch in dieser Situation das Kriterium der Nutzenmaximierung und nicht etwa eine besondere Neigung der Spieler zur Kooperation. Die kooperative Strategie hat unter den genannten Bedingungen einen höheren Erwartungsnutzen. Man könnte auch sagen, dass die Realisierung der genannten Randbedingungen die Entscheidungssituation so verändert, dass die dominierte Strategie nun zur dominierenden wird. Hier kommt die Interdependenz strategischer Entscheidung deutlich zur Geltung. Neben diesen genannten Kriterien der Kooperation gibt es aber noch einige weitere wichtige Kriterien kooperativen Handelns, wie man sie bei

86

J. Nida-Rümelin: „Normbefolgung und Optimierung" (1994), 320.

61

Holler und Illing beschrieben findet.87 1. Kooperatives Handeln wird aufgrund einer von den Akteuren in einer Absprache (Kommunikation muss möglich sein) gemeinsam festgelegten Strategie bestimmt. 2. Das kooperative Handeln erzielt einen Vorteil für alle beteiligten Akteure, den sie bei nichtkooperativem Handeln nicht erlangen könnten. 3. Die Einhaltung von kooperativen Strategien ist durchsetzbar (z. B. durch den Staat o. ä.). Gauthiers Definition von Kooperation stellt die Notwendigkeit einer wechselseitigen Vereinbarung als Vorbedingung der Kooperation in den Mittelpunkt. „Why cooperate? To achieve mutual advantageous states of affairs. But why is cooperation necessary? To answer this, we must first consider what is involved in cooperation. I propose this account: a number of persons cooperate, or act in a cooperative manner, if and only if each acts in a way determined by their mutual agreement. So characterized, cooperation depends, not on common objectives, but on common principles of action. These common principles are what is necessary to achieve mutual advantage.“ 88 Hinsichtlich des gemeinsamen Handlungszwecks findet man bei Myerson die genau entgegengesetzte Auffassung: „The term cooperate means to act together, with a common purpose.“ 89 Gauthier will diese stark einschränkende Annahme von gemeinsamen Interessen für seine Theorie vermeiden. Er hat das Ziel, gerade auch Interaktionsteilnehmer mit konfligierenden Interessen in einer Kooperationsgemeinschaft zusammen zu bringen. Was sie dann als Kooperationsgemeinschaft verbindet, sind rational ausgehandelte gemeinsame Strategien der Kooperation, durch die ihre konfligierenden Interessen maximal realisiert werden können. Gauthier setzt Kooperation mit der Teilnahme an der Gesellschaft gleich, da sich eine Person, die sich für die Teilnahme an einer Kooperation entscheidet, die Kooperation der Beibehaltung des Naturzustandes vorzieht. Kooperatives Handeln ist damit Handeln, das Gesellschaft konstituiert. Gesellschaft ist für Gauthier hier ein Instrument, das ihre Teil87

M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 6.

88

D. Gauthier: „Rational Co-operation" (1974), 53.

89

R. B. Myerson: Game Theory (1991), 370.

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nehmer akzeptieren, um Vorteile zu haben, die sie ohne dieses Instrument nicht haben könnten.90 Bei der Entscheidung über eine kooperative Strategie kommt im Vergleich zu parametrischen und nicht-kooperativen strategischen Entscheidungen ein wesentliches neues Element hinzu. In parametrischen und nicht-kooperativen strategischen Entscheidungssituationen kann das Individuum unabhängig von den Entscheidungen anderer Interaktionsteilnehmer seine nutzenmaximierende bzw. dominante Strategie wählen. Dies ist bei der Wahl kooperativer Strategien in zweifacher Hinsicht nicht mehr möglich. Bei der Wahl kooperativer Strategien sind zwei Schritte zu gehen: 1. Die Entscheidung für oder gegen Kooperation. 2. Die Entscheidung für eine ganz bestimmte kooperative Strategie. Zu 1: Der Vorteil einer kooperativen Strategie kommt einem Spieler nur dann wirklich zu, wenn auch alle anderen Spieler die kooperative Strategie wählen. Wählen die anderen Spieler eine Equilibrium-Strategie, dann fährt er mit der kooperativen Strategie eventuell noch schlechter als wenn er sich für die Equilibrium-Strategie entschieden hätte. Es ist aus seiner Sicht nur dann rational, sich für die kooperative Strategie zu entscheiden, wenn er sich sicher sein kann, dass auch alle anderen Spieler die kooperative Strategie wählen. Um diese Sicherheit zu erlangen, müssen sich die Spieler hinsichtlich der Entscheidung über die Kooperation absprechen. Kooperatives Handeln ist seinem Wesen nach reziprok und damit von vornherein von beiden bzw. allen beteiligten Interaktionsteilnehmern abhängig. Zu 2: In Marktinteraktionen bekommt eine Person genau den Gewinn zugeteilt, der durch die Investition der Person entstanden ist. Dies geschieht durch die unsichtbare Hand des Marktes. Bei kooperativen Interaktionen muss diese Funktion der unsichtbaren Hand durch einen artifiziellen Mechanismus ersetzt werden, denn hier kann man der einzelnen Investition nicht automatisch einen bestimmten Gewinn zuordnen. Das liegt daran, dass der Kooperationsbeitrag des einzelnen Individuums für sich genommen noch zu gar keinem Kooperationsgewinn führt. Erst zusammen mit den Kooperationsbeiträgen der anderen Teilnehmer bekommt der Kooperationsbeitrag des einzelnen auch eine Funktion für den Kooperationsgewinn. Dann kann er 90

D. Gauthier: „Rational Co-operation" (1974), 59f.

63

sogar ein unverzichtbarer Beitrag für das Zustandekommen eines Kooperationsgewinnes sein. Gauthier führt hier als Beispiel die Situation zwischen dem Goldsucher McGee und dem Bankier Grasp an. McGee hat in seinem Claim eine Goldader gefunden, besitzt aber nicht die notwendigen $100, um die Schürfrechte zu erwerben. Grasp ist die einzige Person in Dawson City, die ihm $100 leihen könnte. Jeder der beiden Personen kann mit seinem Beitrag allein den möglichen Kooperationsgewinn nicht einmal teilweise erzielen. Das Wissen von der Goldader allein nützt McGee nichts, wenn er nicht die Schürfrechte erwerben kann. Umgekehrt kann Grasp allein mit seinen $100 auch nicht von der Goldader profitieren. Wenn McGee und Grasp nun übereinkommen zu kooperieren, dann müssen sie sich auch über die Verteilung des Gewinns aus der Goldader einigen. An dieser Stelle lässt sich aus der Größe oder Art der Kooperationsbeiträge kein unmittelbarer Schluss auf die Verteilung des Gewinns ziehen. Diese Problematik verschärft sich, wenn sich die Beiträge nicht eindeutig quantifizieren lassen, wie z. B. das Wissen von McGee, oder sich nicht miteinander vergleichen lassen, wie das Kapital von Grasp und das Wissen von McGee. Diese Problematik ist in der RCT der Anlass dafür, für kooperative Spiele spezielle Regeln zur Verteilung von Kooperationsgewinnen zu entwickeln, was in den Verhandlungstheorien geschieht. Hier sollen in funktionaler Analogie zum Markt die Verteilungen von Kosten und Gewinnen geregelt werden. Nun gibt es verschiedene mögliche Prinzipien der Verhandlung. Gauthier argumentiert für sein Verhandlungsprinzip, das MRC-Prinzip, indem er versucht zu zeigen, dass im MRC-Prinzip im Vergleich zu anderen Verhandlungstheorien die Interessen jedes Individuums am besten repräsentiert werden. Es geht bei der Entscheidung zwischen den verschiedenen möglichen Verhandlungsprinzipien nicht mehr um die Frage, welches Prinzip einen bestimmten individuellen Nutzen am besten maximiert. Die verschiedenen Verhandlungsprinzipien unterscheiden sich nicht in der Nutzen-Summe, die sie der Kooperationsgemeinschaft insgesamt oder einem einzelnen Kooperationsteilnehmer zuweisen, sondern in der Art der Verteilung der Kooperationsgewinne. Das Verhandlungsproblem ist ein Verteilungs- und kein Maximierungsproblem. Beiden genannten Schritten, der Entscheidung für oder gegen Kooperation und der Entscheidung für eine bestimmte Kooperationsstrategie, ist gemeinsam, dass eine Person nur dann zum gewünschten Ergebnis kommt,

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wenn sie ihre Entscheidung mit den Entscheidungen der anderen Interaktionsteilnehmer koordiniert. Es gibt aus Sicht des Individuums keine dominante kooperative Strategie. Damit muss das Individuum seine Autarkie des Entscheidens, die es bis hierher bei parametrischen und strategischen Entscheidungen hatte, aufgeben. Das bedeutet, dass die Gruppe der kooperationswilligen Individuen nur gemeinsam eine Strategie bzw. ein Set von Strategien festlegen kann. Wir haben es hier offensichtlich mit einer kollektiven Entscheidung zu tun.91 Diese kollektive Entscheidung wird bei Gauthier in Form einer Verhandlung getroffen. Dabei hat jeder Teilnehmer nach wie vor das Ziel, dass eine gemeinsame Strategie festgelegt wird, die für ihn so vorteilhaft wie nur möglich ist. Mit der Einführung der Kooperation kommt in Gauthiers Argumentation die Moral ins Spiel. „Morality arises from market failure.“ 92 Die Existenzberechtigung von Kooperation und damit auch von Moral resultiert in diesem Szenario aus der begrenzten Funktionstüchtigkeit des idealen Marktes. Wäre die Welt ein idealer Markt, dann wäre nach Gauthier Moral überflüssig. Hier würden über die üblichen Marktmechanismen alle Verteilungsprobleme gelöst werden. Die Welt ist aber kein idealer Markt. Dieses „Defizit" der Welt kann man durch die Einführung zusätzlicher Prinzipien kompensieren, so dass man auch in der Realität zu Ergebnissen gelangt, die die Erfüllung der Bedürfnisse aller Teilnehmer zur allseitigen Zufriedenheit regulieren. In genau diesen zusätzlichen Prinzipien erblickt Gauthier den Ort der Moral. Gauthiers Moral ist demnach lediglich eine Versagens-Kompensation, nämlich die Kompensation des Marktversagens. Verhandlung. Das paradigmatische Szenario, das in den Verhandlungsspielen der RCT vorausgesetzt wird, ist eine Lohnverhandlung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Die Verhandlungsparteien haben in dieser Situation in der Regel diametral entgegengesetzte Interessen, was die Lohnhöhe angeht. Aber beide Verhandlungsparteien haben ein Interesse daran, dass man in den Verhandlungen zu einem Ergebnis kommt. Dieses gemeinsame Interesse beider Parteien bringt Bewegung in die Verhandlung und 91

MbA, 116f.

92

Ebda, 84.

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verhindert, dass jede Partei auf ihren Maximalforderungen besteht. Aus diesem Interesse lässt sich aber nicht unmittelbar die Größe der Zugeständnisse ableiten, die jede Partei rationalerweise machen sollte. Mit dieser Fragestellung setzen sich die Verhandlungstheorien der RCT auseinander. Der Anknüpfungspunkt der Verhandlungstheorien an die Konzeption der Kooperation ist die für eine Kooperation notwendige Vereinbarung über eine gemeinsame Strategie. Auch Kooperationspartner als individuelle Nutzenmaximierer können diametral entgegengesetzte Interessen haben. Eine Kooperation erbringt einen Kooperationsgewinn, der als kooperativer Mehrwert oder kooperatives Surplus bezeichnet wird. Dieser kooperative Mehrwert muss unter den Kooperationsteilnehmer aufgeteilt werden. Also muss zwischen den Kooperationsteilnehmern eine Verhandlung über die Aufteilung dieses Mehrwerts stattfinden, damit eine Kooperation zum wechselseitigen Vorteil stattfinden kann. Die Verhandlungstheorien machen hier Vorschläge zum rationalen Verhalten bzw. zu rationalen Lösungen in solchen Verhandlungssituationen mit dem Ziel, eine Kooperationsvereinbarung zu erlangen. Diese Thematik wird im folgenden Abschnitt III eingehend behandelt. Vertragstreue (Compliance). An die Frage nach der Rationalität von Kooperationsvereinbarungen, von Gauthier auch als interne Rationalität bezeichnet, schließt sich die Frage nach der Rationalität der Einhaltung von Kooperationsvereinbarungen an, entsprechend als externe Rationalität bezeichnet. Was ist der Grund für diese Unterscheidung in interne und externe Rationalität? Wie ist es zu verstehen, dass es rational sein kann, eine Kooperationsvereinbarung abzuschließen, sie dann aber nicht zu befolgen? Es sollen hier zwei Fälle angeführt werden, die diese Frage aufkommen lassen. 1. A und B schließen eine rationale Kooperationsvereinbarung. Dann erbringt zuerst A seine Kooperationsleistung, wovon B sogleich profitiert. Nun wäre B an der Reihe, seinen Kooperationsbeitrag zu leisten. Wenn es in diesem Fall keine Sanktionsmechanismen gibt und B mit Sicherheit davon ausgehen kann, dass er in Zukunft nicht auf die Kooperationsbereitschaft von A angewiesen ist, dann ist es für B rational zu defektieren. 2. Der andere Fall ist das Handeln im Verborgenen. Wenn es nicht möglich ist, die Einhaltung der Kooperationsvereinbarung zu überprüfen bzw. das Defektieren nachzuweisen, dann ist es nicht rational, seine eigene Kooperationsleistung zu erbringen. Dies gilt nur

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für den Einzelfall und nicht generell, da eine Kooperation nur dann einen Kooperationsgewinn erbringt und sich das Defektieren nur dann lohnt, wenn die Mehrheit der Kooperationsteilnehmer ihren Kooperationsbeitrag erbringt. Wenn 90% aller Personen in den öffentlichen Verkehrsmitteln schwarzfahren würde, dann würden die Verkehrsbetriebe Pleite gehen, und keiner könnte mehr den Vorteil öffentlicher Verkehrsmittel genießen. Hingegen lässt sich wahrscheinlich eine Rate von z. B. 1% für die Verkehrsbetriebe noch verkraften. Den entstehenden Verlust könnten sie in einem für alle Fahrgäste erträglichen Rahmen durch Preiserhöhungen kompensieren. Die externe Rationalität muss also für die genannten Fälle demjenigen, der sich überlegt zu defektieren, überzeugende Gründe nennen, weshalb er nicht defektieren sollte. Damit man solche Gründe angeben kann, müssen die Kooperationsprinzipien derart konstruiert werden, dass das Defektieren auch in den beiden genannten Fällen letztlich weniger Vorteil erbringt als die Vertragstreue. Strukturell gesehen ist das Problem der Vertragstreue wiederum ein Gefangenen-Dilemma. Solange kein Mechanismus existiert, der einer Kooperationsvereinbarung eine bindende Wirkung verleiht, ist auch nach dem Abschluss einer Vereinbarung die Situation dieselbe wie vor der Verhandlung. Eine solche Vereinbarung ist eine reine Absichtserklärung. Der Nutzen für Kooperieren oder Defektieren hat sich dann nicht verändert. Das heißt, die Einführung einer Vereinbarung hat die möglichen Endzustände nicht verändert. Gauthiers Antwort auf das Problem der externen Rationalität von Kooperationen ist die Konzeption einer Disposition zur narrow compliance (starken Vertragstreue) in Abgrenzung zur Disposition der broad compliance (schwachen Vertragstreue). Diese Dispositionen einer Person sind für die anderen Personen erkennbar. Eine Person mit der Disposition zur starken Vertragstreue hält Vereinbarungen nur dann ein, wenn sie durch diese Vereinbarung besser gestellt wird und die Vereinbarung dem MRC-Prinzip entspricht. Für eine Person mit einer Disposition zur schwachen Vertragstreue ist es hingegen schon ausreichend, wenn sie durch die Vereinbarung besser gestellt wird. Das Proviso. Wenn wir den Verlauf der Argumentation Gauthiers bis zu diesem Punkt Revue passieren lassen und sehen, was bisher an Moral konsti-

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tuiert wurde, dann lässt sich hierbei nur die Disposition zur starken Vertragstreue erkennen. Da es sich beim MRC-Prinzip um ein Prinzip der distributiven Gerechtigkeit handelt und die Disposition zur starken Vertragstreue auf dieses Prinzip zurückgreift, spricht Gauthier hier von der Disposition der distributiven Gerechtigkeit. Die Konzeption des Marktes birgt keine moralischen Elemente, sondern wird von Gauthier ja gerade als moralische Freizone beschrieben. Kooperation als Interaktionsform beinhaltet auch noch keine Moral, sondern ist eine spezielle Interaktionsform zur kollektiven Nutzenmaximierung. Die Verhandlung ist ebenfalls eine Konzeption zur kollektiven Nutzenmaximierung mit der speziellen Funktion der Güterverteilung. Erst mit der Einführung der Disposition zur starken Vertragstreue, die eine Selbstbeschränkung der Nutzenmaximierung zugunsten der anderen Kooperationsteilnehmer darstellt, kommt das Element der Gerechtigkeit zum Vorschein. Wenn aber Moral, mit Ausnahme der distributiven Gerechtigkeit, nicht in der Kooperation und nicht in der Verhandlung entsteht, wo dann? Die Antwort Gauthiers: in den festzulegenden Anfangsbedingungen der Verhandlung, d. h. den Bedingungen des angenommenen Naturzustandes. Ausgangspunkt dieser Behauptung ist das Ergebnis Gauthiers für das Problem der externen Rationalität. Danach ist es nur rational, solche Vereinbarungen zu befolgen, die zu einem fairen Endzustand führen. Zu einem fairen Endzustand kommt man mittels rationaler Verhandlung nach dem MRC-Prinzip nach Gauthiers Ansicht aber nur dann, wenn man auch faire Ausgangsbedingungen hat. Hier entwickelt Gauthier nun in Anlehnung an das Proviso von Locke seine Version eines Provisos, das genau die Bedingungen beschreibt, die erfüllt sein müssen, damit man in diesem Kontext bestimmte Ausgangsbedingungen als fair bezeichnen kann. Das Proviso gibt bestimmte Kriterien an, die die im Naturzustand angenommene uneingeschränkte Handlungsfreiheit beschneiden. Die Argumentation Gauthiers für die Rationalität seiner Version des Provisos sieht folgendermaßen aus: Als Ausweg aus der Suboptimalität des Gefangenen-Dilemmas bietet Gauthier eine Kooperation nach dem MRCPrinzip an. Die Befolgung einer Kooperationsvereinbarung nach dem MRCPrinzip ist aber nur dann rational, wenn sie zu einem fairen Endzustand führt. Ein fairer Endzustand ist aber nur von einem fairen Ausgangszustand aus

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erreichbar. Will man also das Lösungsangebot Gauthiers für das GefangenenDilemma annehmen, dann muss man auch seiner Konzeption der fairen Ausgangsbedingungen in Gestalt des Provisos zustimmen. Praktisch bedeutet das, dass man gegebenenfalls unfaire Ausgangsbedingungen durch eine Veränderung der Güterverteilung in faire Ausgangsbedingungen verwandeln muss. Hier wird eine Umverteilung im klassischen Sinne vorgenommen: Einigen werden ohne jegliche Kompensation Güter genommen, die man anderen gibt und die ihrerseits für diese empfangenen Güter keine Gegenleistung erbringen. Um eine solche Umverteilung plausibel zu machen, führt Gauthier an dieser Stelle die Konzeption von Rechten ein, speziell das Recht auf Eigentum sowie das Recht auf den eigenen Körper und dessen Unversehrtheit.93 Genau hier werden die wesentlichen Elemente der Moral in Gauthiers Theorie eingeführt. „As we have seen, interaction constrained by the proviso generates a set of rights for each person, which he brings to the bargaining table of society as his initial endowment. He brings a right to his person, a right in the fruits of his labor, and a right to those goods, whose exclusive individual possession is mutually beneficial, that he has acquired either initially or through exchange... Without these rights, persons would not be rationally disposed, either to accept the prohibition on force and fraud needed for market competition, or to comply voluntarily with the joint strategies and practices needed for co-operation.“ 94 Diese Minimalausstattung an moralischen Rechten ist genau auf die Bedürfnisse der von Gauthier verwendeten Konzeptionen des Marktes und der Kooperation zugeschnitten und reicht bei weitem nicht an die moralischen Rechte traditioneller Moraltheorien. Eine Moral ist nur in einer Gesellschaft möglich, die die Absicht hat, zu kooperieren oder sich schon in einer Kooperation befindet. Umgekehrt ist eine Kooperation nach dem MRC nur in einer Gesellschaft möglich, in der in Form des Provisos schon eine Moral etabliert wurde. Die Moral ist nicht das

93

Ebda, 222.

94

Ebda, 227.

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Ergebnis der Verhandlung über eine Kooperation, sondern die notwendige Voraussetzung für eine Kooperation. „Rights provide the starting point for, and not the outcome of, agreement. They are what each person brings to the bargaining table, not what she takes from it. ... These rights are morally provided in the proviso. And the rights so grounded prove to be the familiar ones of our tradition - rights to person and to property. ... The moral claims that each of us makes on others, and that are expressed in our rights, depend, neither on our affections for each other, nor on our rational or purposive capacities, as if these commanded inherent respect, but on our actual or potential partnership in activities that bring mutual benefit.“ 95 Wechselseitig vorteilhafte Handlungen sind also der Bezugspunkt für moralische Forderungen, die man an andere stellt. Dieser Vorteil begründet bei Gauthier ein moralisches Müssen oder Sollen. Der Form nach ist es ein prudentielles Müssen, das sich aber von anderen Fällen prudentiellen Müssens dadurch unterscheiden lässt, dass das eigene Wohlergehen unmittelbar an das Wohlergehen des anderen geknüpft ist. Die Form der Interaktion in einer Kooperation macht es unmöglich, den eigenen Nutzen isoliert zu betrachten. Der Vorteil einer Kooperation ist primär der Kooperationsgewinn der ganzen Kooperationsgemeinschaft. Erst in dem nachgeschalteten Verhandlungsverfahren wird dieser Kooperationsgewinn auf die Kooperationsteilnehmer verteilt. Altruistisches Handeln, das nur den Vorteil des anderen im Blick hat und dabei eigene Nachteile in Kauf nimmt, ist nach dieser Vorstellung kein moralisches Handeln. Für den einzelnen Kooperationsteilnehmer kann die durch das Proviso bedingte Umverteilung der Güter einen Vor- oder Nachteil bedeuten, je nachdem, ob ihm im Zuge dieser Umverteilung Güter genommen oder gegeben werden. Begründungsbedürftig ist diese Konzeption natürlich gegenüber den Personen, denen durch das Proviso Güter genommen werden und deren Ausgangssituation in der Verhandlung dadurch verschlechtert wird. Diese Begründung kann sich nur auf den zu erwartenden Vorteil durch die Kooperation beziehen. Der Vorteil durch die Kooperation muss für diese 95

Ebda, 222.

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Personen größer sein als ihr Nachteil durch die Umverteilungen aufgrund des Provisos. Wenn Gauthier diesen Nachweis erbringen kann, dann ist seine Konzeption in diesem wesentlichen Punkt schlüssig. Der Weg zur Einführung dieser Rechte ist sehr elegant. Gauthier wählt nicht den sehr beschwerlichen Weg, nachzuweisen, dass das wechselseitige Zuschreiben von Rechten und Pflichten im unmittelbaren Interesse eines jeden individuellen Nutzenmaximierers ist. Ein solcher Nachweis würde von so vielen kontingenten Parametern, wie den konkreten Interessen der Interakteure oder deren individuellen Machtverhältnissen, abhängen, dass ein Lösungsvorschlag sehr aufwändig zu erreichen wäre und nur unter vielen Vorbehalten gültig wäre. Sein Weg geht über den Nachweis, dass die Annahme von Rechten im Naturzustand die notwendige Bedingung dafür ist, rationale Kooperationsvereinbarungen rationalerweise auch zu befolgen. Und nur Kooperationsvereinbarungen, die diese Eigenschaft haben, können ein akzeptabler Ausweg aus dem Gefangenen-Dilemma sein. In nuce: Will man einen rationalen Ausweg aus dem Gefangenen-Dilemma, dann muss man jedem Interaktionsteilnehmer im Naturzustand Rechte zusprechen. Argumentativ hat Gauthier damit den Weg gewählt, zu zeigen, dass Moral die Vorbedingung für erfolgreiches rationales Handeln ist und nicht umgekehrt die Moral das Ergebnis rationaler Entscheidungen ist. Dies ist ein ganz entscheidendes Kennzeichen der Theorie Gauthiers, das sie von anderen vergleichbaren Theorien, die ebenfalls eine Verbindung zwischen Moral und Rationalität herstellen wollen, deutlich abhebt.

III. Gleichheit in der Verhandlung Nachdem wir einen Überblick über die Theorie Gauthiers insgesamt erhalten haben, wenden wir uns seinen zentralen Konzeptionen zu. An erster Stelle ist hier seine Verhandlungstheorie zu nennen. Sie hat in seiner Theorie die zentrale Stellung und bildet den Anknüpfungspunkt, von dem aus oder zu dem hin alle anderen Elemente seiner Theorie konstruiert werden. Ob Vertragstreue rational ist, ob die Akzeptanz des Provisos rational, ob die Annahme der Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung rational ist: Alles hängt von der Art des Verhandlungsergebnisses und damit von der Verhandlungstheorie ab. In den von Gauthier ins Auge gefassten Verhandlungen geht es primär um Güterverteilungen. Gauthier zieht für seine Überlegungen zur Verteilung nur bestimmte der vielen in der Diskussion befindlichen Möglichkeiten in Betracht, während er andere aus prinzipiellen Erwägungen außen vor lässt. Damit man die Position Gauthiers zur Verteilungsfrage adäquat einordnen kann, werden im Abs. III.A die wichtigsten anderen Möglichkeiten in Abgrenzung zur Position Gauthiers skizziert. Ähnlich verhält es sich bei Gauthiers Verhandlungstheorie. Auch hier gibt es innerhalb der RCT verschiedene Lösungsansätze, die Gauthier jedoch nur ansatzweise erwähnt. Die Darstellung der von ihm verwendeten und nicht verwendeten, jedoch in Frage kommenden Theorien bzw. Elemente in Abs. III.B erhellt seine eigene Position bedeutend. Zudem wird die formale Dimension der Verhandlungstheorien zumindest ansatzweise sichtbar, die in seiner eigenen Darstellung weitgehend ausgeblendet ist. Die Verhandlung erfüllt einen doppelten Zweck. Zum einen wird hier entschieden, welche der möglichen und optimalen kooperativen Strategien von den Teilnehmern befolgt werden soll. Sobald es mehrere optimale Strategien gibt, ist eine Verhandlung notwendig, um sich auf eine gemeinsame Strategie zu einigen. Hier wird durch die Verhandlung ein Koordinationsproblem gelöst. Damit ein optimaler Zustand erreicht werden kann, ist es nicht ausreichend, dass jeder Teilnehmer irgendeine der möglichen kooperativen Strategien befolgt, sondern sie müssen alle dieselbe Strategie befolgen. Auch in dem Fall, dass nur eine mögliche kooperative Strategie existiert, ist eine Absprache der Spieler notwendig. Denn sie müssen

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sich untereinander darauf festlegen, dass sie die kooperative und nicht eine andere Strategie befolgen. Denn wenn nur einer der Spieler nicht kooperiert, kommt es nicht zu einem optimalen Zustand. Eine Koordination durch eine Verhandlung ist also in jedem Falle notwendig. Neben dem Koordinationsproblem soll in der Verhandlung ein zweites Problem gelöst werden, nämlich das Verteilungsproblem. Mit der Auswahl einer kollektiven Strategie, d. h. einem Set von Strategien für alle Teilnehmer, ist für jeden Teilnehmer ein bestimmter Erwartungsnutzen verbunden. Als Nutzenmaximierer hat jeder Teilnehmer das Interesse, dass das Set von Strategien gewählt wird, bei dem ihm der maximale Nutzen zugewiesen wird. Hier liegt in der Regel ein Interessenkonflikt vor, denn es gibt in den meisten Fällen keine Strategie, die allen Spielern den für sie maximal möglichen Nutzen zuweist. Dies gilt insbesondere für Nullsummenspiele.96 Dieser Interessenkonflikt wird in der RCT durch eine Verhandlung gelöst, in der die Verteilung gefunden wird, der alle Teilnehmer freiwillig und rationalerweise zustimmen können. Hier werden von der RCT Verhandlungsprinzipien vorgeschlagen, die das Verhandlungsverhalten rationaler Akteure in der Verhandlung betreffen oder sich auf die Eigenschaften eines entsprechenden Verhandlungsergebnisses beziehen. Als Verteilungsinstrumente mit quantitativer Wirkung haben die Verhandlungsprinzipien für die Egalität der Verteilungsergebnisse eine zentrale Bedeutung. Deshalb wird in Abs. III Gauthiers Verhandlungstheorie intensiv daraufhin untersucht, inwieweit die aus ihr resultierenden Verteilungen egalitär sind, welche Faktoren der Verhandlungsprinzipien zu diesen Verteilungsstrukturen führen, wie diese Faktoren begründet sind und ob darin moralische Annahmen gemacht werden.

96

Zwei-Personen-Spiele, bei denen der Gewinn des einen Spielers immer auf Kosten des anderen Spielers geht, bezeichnet man als strikt kompetitive Spiele. Addieren sich in diesen Fällen der Nutzen u der einen Person und der Nutzen v der anderen Person zu Null, wenn also u = -v, dann spricht man von einem Nullsummenspiel. Strukturell identisch sind Spiele, bei denen die Summe der Nutzen u und v konstant ist. Durch eine Transformation der Nutzenfunktionen lassen sie sich in Nullsummenspiele überführen. Z. B. kann man der Hälfte des zu verteilenden Gutes den Wert 0 zuweisen, dem ganzen Gut den Wert 1 und dem leeren Anteil den Wert -1. Verteilungsspiele lassen sich daher auch als Nullsummenspiele verstehen. Vgl. hierzu M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 56.

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Gauthier hat in MbA in Anlehnung an die Theorien von Nash und KalaiSmorodinsky eine eigene Verhandlungstheorie entwickelt. Wenn ich nachfolgend die Theorie Gauthiers kritisch untersuche, dann soll in der Kritik unterschieden werden können, ob die Kritikpunkte aus den genannten Theorien resultieren, auf die Gauthier seine eigene Theorie aufgebaut hat, oder ob sie aus den genuin von ihm hinzugefügten Theorieanteilen resultieren. Diese Differenzierung ist für gegebenenfalls mögliche Verbesserungen der Theorie Gauthiers von Bedeutung, aber auch für eine angemessene Beurteilung der Theorie. Aus diesem Grund werden zuerst die der Theorie Gauthiers zugrunde liegenden Verhandlungstheorien kurz vorgestellt. Dabei werde ich mich auf die Aspekte der Theorien konzentrieren, die für Gauthiers Theorie und für die Frage der Gleichheit von besonderer Relevanz sind. Die Verbindung zwischen Kooperation und Nutzenmaximierung ist die Verhandlung. In der Verhandlung werden kooperative Strategien zur Erreichung eines pareto-optimalen Zustandes festgelegt, wobei in der Verhandlung jeder Teilnehmer der Maxime der individuellen Nutzenmaximierung folgt. Die Befolgung dieser vereinbarten Strategien bedeutet für alle Kooperationsteilnehmer eine freiwillige Beschränkung des Handlungsspielraums und der Verzicht auf Strategien, die einzelnen Teilnehmern möglicherweise sogar einen größeren Nutzen als die Kooperation einbringen könnten. Letztgenannte Strategien sind die einseitigen Defektionsstrategien im Gefangenen-Dilemma. Die Selbstbeschränkung auf kooperative Strategien soll durch den Vorteil der Kooperation gegenüber dem suboptimalen Ergebnis allseitiger Defektion, mit dem man bei rationalen Akteuren rechnen muss, mehr als ausgeglichen werden. Dieser Vorteil der Kooperation, der kooperative Mehrwert, muss nun unter den Kooperationsteilnehmern aufgeteilt werden. Ein Grundgedanke der Verhandlungsidee ist, dass der Verhandlungsgegenstand zwar kooperative Strategien sind, das Verhalten in der Verhandlung selbst aber nicht durch kooperative, sondern durch kompetitive Strategien bestimmt ist. Das kooperative Verhalten ist auf die ausgehandelte Kooperation beschränkt. Gegenstand der Verhandlung ist eine gemeinsame Strategie aller Teilnehmer, bestehend aus einem Set von Strategien, das für jeden Teilnehmer eine Strategie beinhaltet und das insgesamt zu einem optimalen Ergebnis führt. Als individuelle Nutzenmaximierer beurteilen die Teilnehmer die möglichen Strategien nach dem Nutzen, den die jeweilige Strategie für sie

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hat. Im Falle einer Kooperation besteht dieser Nutzen in ihrem Anteil am Kooperationsertrag. Damit für einen Nutzenmaximierer die Teilnahme an einer Kooperation rational ist, muss sein minimaler Anteil am Kooperationsertrag mindestens so groß sein wie der Nutzen, den er ohne eine Kooperation bzw. im Falle des Scheiterns der Verhandlung hätte. Der nach Abzug dieses nicht-kooperativen Nutzens verbleibende Anteil des Kooperationsertrages ist der kooperative Mehrwert. Dies ist der Nutzenvorteil, den die Kooperation insgesamt gegenüber dem nicht-kooperativen Handeln in dieser Situation erbringt. Die Festlegung der Aufteilung dieses kooperativen Mehrwerts unter den Teilnehmern ist der konkrete Gegenstand des Verhandlungsverfahrens im Vorfeld einer Kooperation. Die Idee, das Verteilungsproblem des kooperativen Mehrwerts durch eine Verhandlung zu lösen, basiert auf der Annahme, dass Verteilungsprobleme eine rationale Lösung haben, die ohne einen Rückgriff auf ein Konzept der Gerechtigkeit auskommt. So sieht Gauthier nur noch darin eine offene Frage, wie die rationale Lösung des Verteilungsproblems auszusehen hat; er stellt aber nicht die Frage, ob es eine solche Lösung gibt. Es ist aber eine durchaus berechtigte Frage, ob es gute Gründe für diese Annahme gibt, also ob Verteilungsprobleme dieser Art überhaupt ein möglicher Gegenstand praktischer Rationalität im Sinne individueller Nutzenmaximierung sein können. In welchem Sinne kann man eine Verteilung als rational bzw. irrational bezeichnen? Dass die Konzeption der individuellen Nutzenmaximierung das Verteilungsproblem lösen können soll, bei dem die Interessen mehrerer Personen berücksichtigt werden müssen und bei dem es auch nicht um die Maximierung einer bestimmten Größe geht, erscheint zumindest prima facie sehr unplausibel. Wie die kritische Analyse in Abs. III.G zeigen wird, ist dies auch genau der Punkt, an dem Gauthier erhebliche Probleme mit dem Rationalitätsbegriff der RCT bekommt und den Ausweg aus diesen Schwierigkeiten in der Konstruktion eines neuen Rationalitätsbegriffes sucht.

A. Möglichkeiten der Verteilung des Kooperationsertrages Bei der Entscheidung über die Teilnahme an einer Kooperation ist die Antwort auf die Frage, wie der Kooperationsertrag unter den Kooperations-

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teilnehmern zu verteilen ist, ganz zentral. Denn davon hängt die Größe des Vorteils ab, den jeder einzelne Spieler aufgrund seiner Teilnahme an der Kooperation erhält. Diese Größe des Vorteils ist letztlich ausschlaggebend für seine Teilnahme bzw. Nicht-Teilnahme an der Kooperation. Die Spieltheorie bietet für dieses Problem einige Typen von Verhandlungsspielen mit den dazugehörigen Formalisierungen an. Welches Verhandlungsspiel für welche Problemstellung das richtige oder geeignete ist, muss jedoch vom Anwender selber entschieden werden. Hier geht es in unserem Fall vor allem darum, welche Verteilungsprinzipien durch die Spielregeln des Verhandlungsspiels wiedergegeben werden sollen. Gauthier hat sich in MbA klar für ein zu realisierendes Verhandlungsprinzip entschieden und in Moral Dealing (1990) auch eine Begründung für diese Entscheidung nachgeliefert. Er gibt dort drei Möglichkeiten an, den kooperativen Mehrwert zu verteilen:97 1. Redress Principle: Bei diesem Verteilungsmodus ist das Ziel, die naturgegebenen Ungleichheiten der Individuen nach Möglichkeit durch Verteilung auszugleichen. Dies wird in erster Linie durch die Anwendung eines Differenz-Prinzips (Rawls) erreicht, demzufolge die kleinsten Anteile bei einer Verteilung zu maximieren sind. In die Verteilung wird nicht nur der kooperative Mehrwert einbezogen, sondern alle sozialen primären Güter.98 Damit enthält dieser Verteilungsmodus im Falle existierender natürlicher Ungleichheiten immer zugleich auch eine Umverteilung. 2. Minimax des kooperativen Mehrwerts: Bei diesem Verteilungsmodus werden Ungleichheiten der naturgegebenen Verteilung nicht berücksichtigt, sondern es wird ausschließlich der kooperative Mehrwert als Gegenstand der Verteilung angesehen und nach dem Differenz-Prinzip bzw. dem MinimaxPrinzip99 verteilt. Zusätzlich zum Anteil am kooperativen Mehrwert erhält

97

D. Gauthier: „Justice and Natural Endowment" (1990), 160.

98

J. Rawls: A Theory of Justice (1972), 62: Rawls bezeichnet damit die sozialen Güter, die ein rationales Individuum zur Realisierung seines Lebensplanes benötigt, ungeachtet dessen, was die spezifischen Inhalte seines Lebensplanes sind. Dies sind insbesondere Rechte, Einkommen, Wohlstand, Macht und Freiheiten.

99

Minimax-Prinzipien sondern aus einer Menge von möglichen Verteilungsergebnissen dasjenige bzw. diejenigen heraus, bei dem/denen das größte Zugeständnis, das einer der Teilnehmer bei der Verteilung machen muss, möglichst klein ist.

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jeder Teilnehmer seinen individuellen Ertrag, den er auch ohne die Kooperation erreicht hätte. 3. Die Verteilung des Kooperationsertrages orientiert sich an der im Naturzustand vorzufindenden Güterverteilung. Diese resultiert aus der Verteilung von Fähigkeiten und Macht der Individuen im Naturzustand. Die Verteilung des kooperativen Mehrwerts wird in diesem Fall proportional zu dieser Güterverteilung im Naturzustand vorgenommen. Damit haben Macht- und Güterverhältnisse des Naturzustandes für die Güterverteilung in der Kooperation eine bestimmende Funktion. Gauthier diskutiert diese drei Verteilungsmöglichkeiten und entscheidet sich dann dafür, die zweite Möglichkeit als Grundlage für seine Verhandlungstheorie zu wählen. Von dieser Wahl des Verteilungsmodus hängt es wesentlich ab, wie egalitär das Verteilungsergebnis in der Verhandlung ausfallen kann. Im Folgenden werden die in dieser Diskussion von Gauthier vorgebrachten Argumente skizziert und analysiert. Das Redress Principle ist der leitende Gedanke der Güterverteilung in der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Er entscheidet sich in seiner Theorie der Gerechtigkeit für das Redress Principle in der Überzeugung, dass dieses Prinzip selbst zu den konstitutiven Bestandteilen der Gerechtigkeit gehört.100 Die naturgegebenen und somit zufälligen Ungleichheiten in der Verteilung der natürlichen Ausstattung (Güter und Fähigkeiten) sind danach unverdiente Ungleichheiten und dürfen daher nicht in einen gerechten Verteilungsmodus einbezogen werden. Rawls argumentiert hier mit Bezugnahme auf den naturalistischen Fehlschluss, dass eine natürliche Verteilung vom moralischen Standpunkt aus als eine willkürliche und somit moralisch irrelevante Gegebenheit anzusehen ist. Gauthier hingegen sieht naturgegebene Ungleichheiten nicht als einen korrekturbedürftigen Ausgangspunkt rationaler Kooperationen.101 Er gesteht zwar zu, dass vom Standpunkt der Gesellschaft aus diese Ungleichheiten willkürlich erscheinen müssen, aber nicht vom Standpunkt des Indivi100 101

J. Rawls: A Theory of Justice (1972), 100f.

D. Gauthier: „Rational Co-operation" (1974), 59: „Rational cooperation take these natural inequalities as given. It makes no attempt to alter any balance of advantage which one person can aim over another in the state of nature.”

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duums.102 Zudem impliziert die Verteilung nach dem Redress-Prinzip eine Umverteilung, der rationale Teilnehmer nicht zustimmen würden.103 Aus den genannten Gründen lehnt Gauthier das Redress Principle als ein Verteilungsprinzip, auf das sich rationale Individuen einigen würden, ab. Zum Redress Principle noch eine eigene Anmerkung. Der entscheidende Punkt liegt in der subjektbezogenen Bedeutung des Begriffes der Willkür. Von Willkür kann man immer nur im Zusammenhang mit dem Handeln einer Person sprechen. In Bezug auf die Verteilung von individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften ist es passender, von Kontingenz als von Willkür zu sprechen. Das Individuum versteht seine natürliche Ausstattung als ein naturgegebenes Faktum und nicht als das Ergebnis einer freien Wahlentscheidung eines anderen Subjekts oder gar einer eigenen, die auch ganz anders hätte ausfallen können. Die natürliche Ausstattung ist ein konstitutiver Bestandteil des individuellen Selbstverständnisses. Zwar kann man sich natürlich vorstellen, eine andere natürliche Ausstattung zu haben, aber dieses Gedankenspiel ändert nichts am faktischen Selbstverständnis und dessen Verbindung zur faktischen natürlichen Ausstattung. Die Verwendung des Begriffes der Willkür im Sinne eines unbegründeten, aber begründungsbedürftigen Handelns würde in diesem Kontext nur dann einen Sinn ergeben, wenn hier auch eine wohlbegründete Verteilung denkbar wäre. Begründete Verteilungen können aber nur von rationalen Subjekten durchgeführt werden. Das heißt, die Verwendung des Begriffes der Willkür suggeriert hier, dass ein Subjekt diese Eigenschaften verteilt hätte, und zwar in einer ungerechtfertigten Art und Weise. Ein solcher Ansatz würde in einem theonomen oder ähnlichem Kontext einen Sinn ergeben, wenn z. B. ein Schöpfergott individuelle Eigenschaften und Fähigkeiten zuteilt, nicht aber in einer rationalistischen Konzeption. Die dritte Möglichkeit der Verteilung bezeichnet Gauthier als Verteilung der natürlichen Aristokratie. Die naturgegebene Verteilung der individuellen Ausstattung ist hier die Grundlage der Verteilung der sozialen 102 103

Ebda, 61.

D. Gauthier: „Social Choice and Distributive Justice“ (1978), 250: „Bargaining is never redistributive.” D. Gauthier: „Fairness and Cores" (1993), 93: „Contractarian morality never requires a redistribution of the packages of goods and services afforded by the competitive equilibrium.”

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Güter. Man überlegt sich zunächst, welchen Ertrag ein Individuum außerhalb einer Kooperation, nur mit seiner eigenen natürlichen Ausstattung erreichen könnte (= natürlicher Ertrag). Der Anteil am sozialen Mehrwert wird hier proportional zum natürlichen Ertrag bemessen. Das heißt, Individuen mit einer sehr leistungsfähigen natürlichen Ausstattung und einem dementsprechend hohen natürlichen Ertrag werden auch einen großen Anteil am kooperativen Mehrwert erhalten. Gauthier sieht aber in der Größe des natürlichen Ertrages kein relevantes Kriterium für die Verteilung des kooperativen Mehrwerts und lehnt daher diesen Verteilungsmodus ab. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass als Kriterium für die Güterverteilung im Zustand der Kooperation nicht das Ergebnis eines Handelns im nicht-kooperativen Zustand angesetzt werden kann, den man aufgrund seiner Suboptimalität durch die Kooperation ja gerade überwinden will. Seiner Meinung nach widerspricht dieser Modus auch unserer Intuition über eine Konzeption der Gerechtigkeit und würde von rationalen Personen nicht akzeptiert werden.104 Für diese Behauptung bleibt Gauthier aber eine Begründung oder zumindest eine Erklärung schuldig. Zudem liegt dem Einwand ein Missverständnis zugrunde. Das, was die Handlungsweisen des Naturzustandes suboptimal machen, sind die ausschließlich schädigenden Handlungen. Diese verursachen dem Akteur und dem Betroffen Kosten, ohne dass sie dadurch einen besseren Endzustand erwarten könnten, als wenn sie sich in einer gewaltfreien Verhandlung über die Güterverteilung einigen würden. Jeden Endzustand einer Güterverteilung unter Gewalteinsatz kann man auch durch eine Verhandlung erreichen, jedoch ohne die kostspieligen Nebenwirkungen des gewalttätigen Verhaltens. Die zweite Verteilungsmöglichkeit sieht allein in der Teilnahme an der Kooperation das entscheidende Kriterium für die Größe der Anteile am kooperativen Mehrwert. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass für die Entstehung des kooperativen Ertrages die Teilnahme an sich und nicht die Größe des Kooperationsbeitrages einer Person das Entscheidende ist. Den Kooperationsertrag und somit auch den kooperativen Mehrwert betrachtet Gauthier als ein interdependentes Produkt, das erst durch das Zusammenwirken der Kooperationsteilnehmer zu Stande kommt. Der kooperative Ertrag ist 104

D. Gauthier: „Justice and Natural Endowment" (1990), 161, 164.

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nicht als Summe individueller Aktivitäten zu verstehen. Denn es ist gerade das Proprium der Kooperation, dass ihr Ergebnis nicht durch individuelles, voneinander unabhängiges Handeln erreicht werden kann, sondern nur durch das Befolgen gemeinsamer Strategien. Jeder Teilnehmer ist durch seinen Kooperationsbeitrag - ganz gleich, wie groß dieser Beitrag ist - notwendig für das Entstehen des kooperativen Mehrwerts. Dies gilt so uneingeschränkt jedoch nur für 2-Personen-Kooperationen, die vom Typ her als Lösung für ein Gefangenen-Dilemma funktionieren. In diesen Fällen wäre der kooperative Mehrwert überhaupt nicht zu Stande gekommen, wenn ein Teilnehmer sich gegen die Kooperation entschieden hätte.105 Für die Tatsache, dass ein Kooperationsertrag entsteht, ist primär die Beteiligung eines Teilnehmers an der Kooperation notwendig, nicht immer unbedingt eine bestimmte Größe seines Beitrages. Da die Teilnahme nicht graduierbar ist, sind alle Teilnehmer hinsichtlich ihrer Teilnahme im gleichen Maße am Entstehen des Kooperationsertrages beteiligt. Daraus folgert Gauthier, dass jeder Teilnehmer den gleichen Anspruch auf einen Anteil am kooperativen Mehrwert hat und zwar einen Anspruch auf den ganzen kooperativen Mehrwert. Das ist auch die maximale Forderung, die in Gauthiers Verhandlungsprinzip jeder Teilnehmer zu Beginn der Verhandlung stellt. Diese Forderung ist für Gauthier damit nicht nur Ausdruck der Haltung des Nutzenmaximierers, sondern dieser Forderung liegt nach dieser Argumentation auch eine Berechtigung zugrunde. Gauthier folgert hier aus der Tatsache, dass die Teilnahme eine notwendige Bedingung für das Entstehen des kooperativen Mehrwertes ist, dass sie damit auch bestimmte quantitative Ansprüche bezüglich des kooperativen Mehrwertes rechtfertigt. Ein solcher Anspruch kann aber nur auf einer indirekten Drohung mit der Verweigerung der Teilnahme an der Kooperation beruhen. Denn hier wird die Differenz des Nutzens zwischen Teilnahme und Nicht-Teilnahme als Berechnungsgrundlage angesehen. Abgesehen von der Frage, ob es im Einzelfall rational ist, eine solche Drohung auszusprechen, - Gauthier lehnt Drohstrategien in diesem Kontext ohnehin ab- , resultiert daraus vielleicht eine rationale Forderung, aber kein Anspruch im Sinne eines Rechts. Denn ein Recht setzt ja

105

MbA, 153.

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immer schon einen moralischen Rahmen voraus, der hier aber gerade erst etabliert werden soll. Folgt man aber jetzt Gauthiers Argumentation dennoch weiter, dann kommt man mittels des MRC-Prinzips zu dem Ergebnis, dass alle Teilnehmer einen gleich großen Anteil am kooperativen Mehrwert bekommen. Diese Verteilung des kooperativen Mehrwerts ist in Gauthiers Augen eine proportionale Verteilung, denn das Verhältnis zwischen der Bedeutsamkeit des Kooperationsbeitrages jedes Teilnehmers und der Größe seines Anteils am kooperativen Mehrwert ist gleich. Das heißt, das für die Bestimmung der Größe der Anteile am kooperativen Mehrwert relevante Kriterium ist für Gauthier nicht die Größe des Kooperationsbeitrages, sondern dessen „Bedeutsamkeit" oder „Notwendigkeit" für die Entstehung des kooperativen Mehrwerts.106 Diese ist aber für alle Kooperationsbeiträge gleich und somit ist nach dieser Argumentation eine proportionale Verteilung auch immer eine Gleichverteilung. Die Anwendung des MRC-Prinzips führt hier bei beliebig teilbaren Gütern zu einer Gleichverteilung. Ist eine Gleichverteilung nicht möglich, so wird zumindest der Tendenz nach eine Gleichverteilung angestrebt. Die Ungleichheiten sollen durch dieses Prinzip minimiert werden. Gauthier entscheidet sich für diesen Verteilungsmodus, da ihm die anderen beiden Möglichkeiten, das Redress Principle und die natürliche Aristokratie, nicht rational erscheinen. Zu dieser Entscheidung Gauthiers noch ein kritischer Einwand: Die Auffassung, dass die Größe des individuellen Ertrages für die Verteilung des kooperativen Mehrwerts irrelevant ist, übergeht den kausalen Zusammenhang zwischen der Größe des individuellen Ertrages eines Teilnehmers und der Größe des Kooperationsertrages.107 Die Summe aller Kooperationsbeiträge und damit partiell auch jeder einzelne Kooperationsbeitrag bedingt ursächlich die Größe des Kooperationsertrages. Wenn eine bestimmte Menge eines Gutes außerhalb der Kooperation einen sehr hohen Ertrag erbringt, dann ist es nahe liegend, dass diese Menge auch im Rahmen einer Kooperation einen sehr hohen Ertrag erbringen kann. Dabei ist die Größe immer relativ zur Größe der Erträge der anderen Kooperationsteilnehmer zu sehen. Sicher wird 106

Vgl. Ebda, 152f.

107

Diese ganze Problematik wird noch ausführlich in Abs. III.C.2 ab S. 141 diskutiert.

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dieser kausale Zusammenhang nicht auf alle Fälle zutreffen. Aber das rechtfertigt nicht, dass Gauthier diesen Aspekt generell für irrelevant hält.

B. Verhandlungstheorien in der RCT Bis jetzt haben wir die Frage der Verhandlung nur qualitativ behandelt. In Gauthiers Theorie finden wir jedoch eine formalisierte Verhandlungstheorie, die quantitative Aussagen machen kann. Um diese Dimension seiner Theorie angemessen beurteilen zu können, müssen wir uns jetzt den Verhandlungstheorien in der RCT zuwenden. Für die kritische Analyse der Theorie werden wir uns nicht auf die Überprüfung der quantitativen Aussagen beschränken, sondern die Anwendung der Verhandlungstheorien auch auf methodischer Ebene durchleuchten. Aus diesem Grunde werden wir mit einer Diskussion der in der RCT und speziell in den Verhandlungstheorien enthaltenen Annahmen beginnen. Es soll überprüft werden, ob man für die vorliegende Problemstellung einer Moraltheorie die RCT so verwenden kann, wie wir es bei Gauthier sehen. Grundzüge von Verhandlungsspielen. Auch wenn es verschiedene Auffassungen darüber gibt, wie genau ein Verhandlungsspiel auszusehen hat, so gibt es doch über einige wichtige Regeln und Rahmenbedingungen einen übergreifenden Konsens.108 Teilweise werden diese Punkte in den Verhandlungstheorien gar nicht mehr explizit genannt, weil man sie als selbstverständlich voraussetzt oder weil sie aus der Spieltheorie als der übergeordneten Theorie unmittelbar für Verhandlungsspiele ableitbar sind. Da Gauthiers Theorie eine Anwendung der Spieltheorie außerhalb des Bereiches ist, für den sie primär konzipiert wurde, ist es angebracht, sich diese impliziten Annahmen genauer anzusehen. Dies trifft insbesondere auf den Begriff der Rationalität und Aspekte der Unparteilichkeit bzw. Fairness zu. Welche Bedeutung diese Begriffe in der Spiel- oder Verhandlungstheorie haben, wird in den meisten Standardwerken, die in der Regel eine ökonomische Ausrichtung haben, nicht angesprochen. 108

S. B. Bacharach und E. J. Lawler: Bargaining (1981), 8-11.

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Zunächst werden einige wichtige Regeln der Verhandlungsspiele kurz aufgelistet: (1) Die Teilnehmer sind rational und rechnen damit, dass die anderen Teilnehmer ebenfalls rational sind. (2) Jeder Teilnehmer muss durch die Kooperation besser gestellt sein als ohne die Kooperation. Dies ist die unbedingte Minimalforderung, damit die Teilnahme am Verhandlungsspiel für einen Spieler überhaupt rational ist. (3) Die Teilnehmer sind vollständig informiert über den Nutzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten sowie auch derjenigen der anderen Teilnehmer. Die Annahme der vollständigen Information ist eine der Vereinfachung dienende Idealisierung. In einigen Theorien wird sie auch teilweise eingeschränkt. (4) Ist keine Einigung zwischen den Spielern möglich, so finden sie sich im Konfliktpunkt d wieder. In der genauen Bestimmung von d gibt es zwischen den verschiedenen Theorien Unterschiede. Bei einigen ist d der Status quo, d. h. dem Zustand bei Beginn der Verhandlung. Andere Theorien gehen davon aus, dass die Verhandlungsteilnehmer sich wechselseitig mit Sanktionen bedrohen können, falls der andere nicht zur Einigung auf eine gemeinsame Strategie bereit ist. Der Zustand, der bei Realisierung der Drohungen eintritt, ist hier dann der Konfliktpunkt d. Ein wichtiges Element des Spieles ist die Konzeption des Spielers. Er ist ein perfekter, ausschließlich rational handelnder Akteur, wobei seine Identität in einigen Theorien vollständig über seine Nutzenfunktion definiert ist. Andere Theorien hingegen beziehen Unterschiede in Macht, Verhandlungsgeschick oder anderen relevanten Fähigkeiten mit ein.109 Ein weiteres zentrales Element ist das Verhandlungsproblem. Wenn eine Verhandlungstheorie sich als eine Lösung präsentiert, dann muss natürlich exakt formuliert werden, worin das Problem besteht, auf das sie eine Antwort sein will; und darlegen, was eine potentielle Lösung leisten können muss, damit sie eine akzeptable Lösung ist. So kann man das Verhandlungsproblem z. B. als ein Verteilungsproblem einer vorgegebenen Menge verstehen, wobei alle Teil109

Bacharach z. B. grenzt sich mit seiner Definition des Spielers gegen andere gängige Definitionen explizit ab. M. Bacharach: Economics and the Theory of Games (1976), 1: „The definition of the (game) theory is restrictive in quite another way: the players are perfect. (Perfect, that is, in reasoning, in mental skills - games in which success depends on dexterity or physical strength have no place in our considerations.) ”

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nehmer der Lösung rationalerweise zustimmen können müssen. Man kann aber auch nur nach der rationalen oder nur nach der fairen Lösung des Verteilungsproblems suchen. In der Bestimmung des Verhandlungsproblems kommt das Selbstverständnis der Verhandlungstheorie zum Ausdruck, das im Abs. III.B.1 ausführlich besprochen wird. Neben dem Verhandlungsproblem sind auch bestimmte Randbedingungen von Bedeutung. Hier ist die zugelassene Anzahl an Spielern zu nennen, die mögliche Relevanz des Zeitfaktors, ob man es mit einmaligen oder iterierten Spielen zu tun hat, welchen Informationsstatus die Spieler haben, welche Art der Kommunikation der Spieler untereinander erlaubt ist und wie mit dem Faktor Risiko in der Strategiewahl umgegangen wird. Am Ende steht dann ein Lösungstheorem, das für das gestellte Problem eine oder gegebenenfalls auch mehrere Lösungen angibt. In der Formulierung des Verhandlungsproblems kommt das formale Selbstverständnis der Verhandlungstheorie zur Sprache. Mit formalem Selbstverständnis ist hier der Anspruch gemeint, den eine Verhandlungstheorie und insbesondere die angegebene Verhandlungslösung erhebt. Eine Verhandlungstheorie kann sich als Deskription, Prognose, Präskription oder Erklärung realen oder fiktiven Verhandlungsverhaltens verstehen. Im Abs. III.B.1 wird auf die Möglichkeiten des Selbstverständnisses und deren Begründungen näher eingegangen. Social choice versus Verhandlung. Neben der Verhandlung gibt es in der RCT noch einen weiteren Weg der kollektiven Entscheidung, der als „social choice“ bezeichnet wird und der als Abgrenzung in der Diskussion der Verhandlungstheorie Gauthiers von Bedeutung sein wird. Ein Weg, der insbesondere in utilitaristischen Theorien wie z. B. der von Harsanyi eingeschlagen wird. Hier werden die Präferenzen aller Teilnehmer in einem „Präferenzenprofil“ zusammengefasst und dann wird aufgrund dieses Profils analog zur individuellen Entscheidung eine Entscheidung für eine kollektive Strategie getroffen. Harsanyi differenziert an dieser Stelle zwischen individuellen und kollektiven Interessen.110 In den ethischen Entscheidungen geht es in 110

J. C. Harsanyi: Rational behavior and bargaining equilibrium in games and social situations (1977), 13.

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seiner Theorie nur um kollektive Interessen. Welche Präferenz von welchem Individuum stammt, spielt dabei keine Rolle mehr. Entscheidungstheoretisch werden die Grenzen zwischen den einzelnen Individuen aufgelöst und in einem „Überindividuum“ zusammengefasst. Man behandelt die Gesamtheit aller Teilnehmer so, als ob sie als Ganzes eine Person sei, die ihren Nutzen maximieren will. Hier steht die Maximierung des Gesamtnutzens der Kooperationsgemeinschaft im Mittelpunkt. Das Resultat des einzelnen Teilnehmers spielt nur eine untergeordnete Rolle.111 Im Gegensatz zur social choice stellt die Verhandlung das Resultat für den Einzelnen in den Mittelpunkt. Die Situation der Verhandlung, wie sie in der klassisch gewordenen Verhandlungstheorie von Nash vorausgesetzt wird, ist durch drei Merkmale ausgezeichnet:112 1. Es besteht die Möglichkeit, dass Individuen eine Vereinbarung zum wechselseitigen Vorteil treffen. 2. Der Gegenstand der Vereinbarung sind konfligierende Interessen der Individuen. 3. Die Vereinbarung kann nur mit der Zustimmung aller teilnehmenden Individuen getroffen werden. In einer solchen Verhandlungssituation vertritt jeder Teilnehmer seine Interessen, indem er sich aktiv an der Festlegung der gemeinsamen Kooperationsstrategie beteiligt. Jeder Teilnehmer verhält sich dabei als individueller Nutzenmaximierer und setzt sich dafür ein, dass die Kooperationsstrategie festgelegt wird, die den für ihn maximal möglichen Nutzen erbringt. Dabei muss er stets berücksichtigen, dass alle anderen Teilnehmer, die hier natürlich ebenfalls als individuelle Nutzenmaximierer agieren, seine Vorschläge bzw. Forderungen akzeptieren müssen, damit die

111

Die Wohlfahrtsfunktion von Harsanyi in Ebda, 50, bringt dies sehr deutlich zum Ausdruck: Wi ( A) =

1 n ∑ Uj( A) n j =1

i: ein bestimmtes Individuum von 1-n=j. Wi(A): Wohlfahrtsfunktion von i in der sozialen Situation A. Uj(A): Nutzen der Individuen 1-n. Wenn hier W maximiert wird, dann spielt der konkrete Nutzen eines Individuums keine Rolle mehr. Mit der Maximierung des Durchschnittnutzens wird der Nutzen eines hypothetischen Individuums maximiert. 112

M. J. Osborne und A. Rubinstein: Bargaining and Markets (1990), 1.

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Verhandlung nicht scheitert. Jeder Teilnehmer steht also vor der Aufgabe, die maximale und zugleich allgemein konsensfähige Forderung zu stellen. In der Verhandlung treffen die Präferenzen in einer konfrontativen Art aufeinander und der gegebenenfalls widerstreitende Charakter der Präferenzen kommt deutlich zum Zuge. Gegenstand von Verhandlungen sind die konfligierenden Präferenzen und nicht der Konsensbereich der Verhandlungspartner. In der social choice hingegen ist das bestimmende Moment der Konsensbereich. Indem die Verhandlung diese Differenzen der Teilnehmer in das Verhandlungsergebnis integriert, berücksichtigt sie die Individualität der Teilnehmer, die sich in diesem Kontext wesentlich in den Differenzen manifestiert, in einem viel stärkerem Maß als die social choice. Diese stärkere Würdigung des Individuums in der Verhandlung ist ein wesentlicher Grund, weshalb Gauthier die Verhandlung der social choice als Form der kollektiven Entscheidungsfindung vorzieht. Hier wird erkennbar, dass seine Theorie in ihren Grundgedanken dem Liberalismus entspringt, der dem Individuum Priorität vor dem Kollektiv einräumt.

1. Das Selbstverständnis der Verhandlungstheorien Verhandlungstheorien als Teil der RCT. Die für Verteilungsfragen verwendeten Verhandlungstheorien sind Teil der RCT. Wenn nachfolgend das Selbstverständnis der Verhandlungstheorien untersucht wird, dann sollte man diese generelle theoretische Einbindung nicht vergessen. Die Spieltheorie stellt als eine mathematische Theorie der rationalen Entscheidungen in strategischen Kontexten ein formales Instrumentarium für die Analyse solcher Entscheidungssituationen zur Verfügung. „Game theory can be defined as the study of mathematical models of conflict and cooperation between intelligent rational decision-makers. Game theory provides general mathematical techniques for analyzing situations in which two or more individuals make decisions that will influence one another=s welfare.“ 113 113

R. B. Myerson: Game Theory (1991), 1.

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Die Spieltheorie ist eine formale Theorie zur Analyse idealisierter oder hypothetischer Sachverhalte in Form von mathematischen Modellen, ohne einen unmittelbaren Anspruch, eine normative oder eine deskriptive Funktion zu erfüllen. Hier besteht kein prinzipieller Unterschied zu mathematischen Theoremen wie z. B. dem Satz des Pythagoras. Eine normative oder deskriptive Funktion kann erst dadurch entstehen, dass bestimmten Variablen oder Teilen des mathematischen Modells eine bestimmte Bedeutung oder Interpretation zugewiesen wird. Genau dieser Punkt wird in der nachfolgenden Analyse des Selbstverständnisses der Verhandlungstheorien im Mittelpunkt stehen. Ganz allgemein beziehen sich Theorien auf eine Menge von Gegenständen oder Phänomenen und machen über diese Gegenstände Aussagen in Form von Erklärungen, Beschreibungen, Prognosen etc. Bei den Verhandlungstheorien besteht in der Literatur sowohl hinsichtlich des Gegenstandsbereiches als auch ihrer Funktion kein allgemeiner Konsens. Als Gegenstandsbereich kommt das Entscheidungsverhalten von Personen in realen und fiktiven Verhandlungssituationen in Frage. Diskutierte Funktionen der Verhandlungstheorien sind Deskription, Prognose, Erklärung und Verhaltens- bzw. Entscheidungsvorschrift. Im Zentrum der Diskussion stehen hier die deskriptive und die normative Funktion.114 Diese Differenzen zeigen zunächst nur, dass mit dem Begriff der Verhandlungstheorie nicht eindeutig eine Sache bezeichnet wird. Dies ist nicht unbedingt problematisch. Man muss nur, wenn man den Begriff verwendet, eine Präzisierung vornehmen, um Missverständnisse zu vermeiden. Eine in diese Richtung gehende Präzisierung vermisst man bei Gauthier. Übereinstimmung mit realen Verhandlungssituationen. Sowohl für die Beurteilung einer deskriptiven als auch einer normativen Funktion ist die Frage der Übereinstimmung der in den Verhandlungstheorien vorausgesetzten Verhandlungssituation mit realen Verhandlungssituationen von Bedeutung. In Bezug auf die deskriptive Funktion ist die Relevanz dieser Frage selbstverständlich. Der Anspruch der normativen Funktion hängt insofern von der 114

S. B. Bacharach und E. J. Lawler: Bargaining (1981), 14. R. D. Luce und H. Raiffa: Games and Decisions (1957), 136, 153.

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Übereinstimmung mit realen Verhandlungssituationen ab, als die Lösung einer Verhandlungstheorie für das Entscheidungsverhalten nur dann als rational geboten angesehen werden kann, wenn die reale Verhandlungssituation mit der in der Verhandlungstheorie vorausgesetzten Verhandlungssituation übereinstimmt. Der Gültigkeitsanspruch der Verhandlungslösungen ist an bestimmte Randbedingungen geknüpft. Verschiedene Verhandlungstheorien stellen diesbezüglich auch verschiedene Anforderungen. So spielen z. B. bei der Verhandlungstheorie von Nash Machtdifferenzen zwischen den Verhandlungsteilnehmern keine Rolle, während dies bei der Theorie von Kalai der Fall ist. Die Behauptung der Theorie von Nash ist aber nun nicht, dass es rational ist, sich für die Verhandlung ohne Machteinfluss und gegen die Verhandlung mit Machteinfluss zu entscheiden. Vielmehr wird behauptet, dass es in einer Verhandlungssituation ohne Machteinfluss rational ist, sich auf die Nash-Lösung zu einigen. Eine Konkurrenz zwischen zwei Verhandlungstheorien entsteht erst dann, wenn beide Theorien beanspruchen, sich auf die gleiche Verhandlungssituation zu beziehen. Zwar hat man manchmal den Eindruck, dass einige Verhandlungstheorien meinen, die eine und einzige Intuition des Common sense über die Verhandlung wiederzugeben zu wollen, aber eine solche scheint es nicht zu geben. Auf jeden Fall nicht in der Differenziertheit, in der diese Intuitionen in den Verhandlungstheorien expliziert werden. Wenden wir uns nun der Idee des rationalen Akteurs in Verhandlungstheorien zu und prüfen, inwieweit diese Idee mit den Eigenschaften von Verhandlungsteilnehmern in realen Verhandlungen übereinstimmt. Dazu werde ich mich auf empirische Untersuchungen zu dieser Frage stützen. Die für die Verhandlungslösung bestimmenden Parameter sind in den meisten Verhandlungstheorien ausschließlich die Nutzenfunktionen der Teilnehmer. Andere Parameter, wie z. B. Emotionen, kulturelle und gesellschaftliche Handlungsschemata, Verhandlungsfähigkeiten oder die Macht, werden hingegen meistens nicht berücksichtigt bzw. eliminiert.115 Die Annahme der Irrelevanz der letztgenannten Parameter hat sich aufgrund empirischer 115

J. C. Harsanyi: „Approaches to the Bargaining Problem before and after the Theory of Games“ (1956), 145.

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Untersuchung von Verhandlungssituationen als falsch erwiesen, weshalb auch die Anwendungen von Verhandlungstheorien in der Praxis wenig erfolgreich waren.116 So kommt z. B. Roth aufgrund von empirischen Untersuchungen zu folgendem Ergebnis: „The results strongly support the conclusion that sociological factors, unrelated to what we normally consider to be the 'economic' parameters of a game, can decisively influence the outcome of bargaining, in a systematic manner.“ 117 Darüber hinaus zeigt er, dass Verhandlungstheorien, die sich nur auf die Nutzenfunktionen der Teilnehmer und deren strategische Möglichkeiten beschränken, zu inadäquaten Prognosen kommen.118 Mit Bezug auf das analoge Problem, den homo oeconomicus als Modellfall des rationalen Akteurs anzunehmen, zieht Schüßler deshalb aus Sicht der Soziologie den Schluss: „Die Annahme rein egoistischen Verhaltens lässt sich wahrscheinlich am leichtesten aufrechterhalten, wenn ihre empirische Falschheit eingestanden wird.“ 119 116

Nydegger und Owen haben in R. V. Nydegger und G. Owen: „Two-Person Bargaining - An Experimental Test of Nashs Axioms“ (1975) in experimentellen Untersuchungen gezeigt, dass Teilnehmer in einer 2-Personen-Verhandlung zwar gemäß dem SymmetrieAxiom und dem Axiom über die Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen handeln, aber nicht gemäß der angenommenen Invarianz gegenüber linearen Transformationen. D. Kahneman et al.: Judgement under Uncertainty (1982) und A. Tversky: „A Critique to Expected Utility Theory" (1975) haben hinsichtlich der in der Spieltheorie allgemein angenommenen vollständigen Informiertheit und perfekten Rationalität in experimentellen Untersuchungen gezeigt, dass diese Annahmen auf reale Akteure nicht näherungsweise zutreffen. Auch Raiffa weist in H. Raiffa: The Art and Science of Negotiation (1982) anhand vieler Beispiele deutlich auf die Spannung zwischen Theorie und Praxis der Verhandlung hin. Vgl. auch B. Barry: Theories of Justice (1989), 390f.; H. Crott: „Experimentelle Untersuchungen zum Verhandlungsverhalten in kooperativen Spielen" (1971) und A. E. Roth und F. Schoumaker: „Expectations and Recognitions in Bargaining. An Experimental Study" (1983). 117

A. E. Roth, M. W. K. Malouf und J. K. Murnighan: „Sociological versus Strategic Factors in Bargaining“ (1981), 153.

118

Ebda, 154.

119

R. Schüßler: Kooperation unter Egoisten (1997), 2.

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Nimmt man diese Position ein, dann bleibt einem nur noch übrig, diese Konzepte für hypothetische Analysen oder für empirische Einzelfälle zu verwenden. Diese Befunde sprechen deutlich gegen eine deskriptive oder prognostische Verwendung von Verhandlungstheorien. Rational-normatives Selbstverständnis. In der allgemeinen Theorie des rationalen Handelns ist die Konzeption der Rationalität eine normative und nicht eine deskriptive Konzeption.120 Die RCT ist zwar im Wesentlichen eine mathematische Theorie, aber die Festlegung der richtigen Axiome und Definitionen ist ein philosophisches Problem.121 Die entscheidenden inhaltlichen Annahmen beruhen damit auf philosophischen Überlegungen und sind nicht das Resultat einer mathematischen Ableitung. Für Harsanyi sind Spieltheorie, Entscheidungstheorie und Ethik alles normative Theorien, die Spezialgebiete einer allgemeinen Theorie des rationalen Verhaltens sind.122 Verhandlungstheorien rational-normativ zu verstehen, würde bedeuten, dass sie Entscheidungsvorgaben für Personen machen, die sich rational verhalten wollen. Aber auch für diese Anwendungsvariante ist die mangelnde Übereinstimmung mit realen Verhandlungssituationen ein Problem. Damit es für einen Spieler rational ist, sich nach den Vorgaben der Verhandlungstheorien zu richten, müsste er durch die Befolgung der Vorgaben ein besseres Ergebnis erwarten können als im Fall der Nichtbefolgung. Der Vorteil durch rationales Verhalten aufgrund einer Verhandlungstheorie ist aber nur dann zu erwarten, wenn die faktische Verhandlungssituation den Annahmen in der Verhandlungstheorie entspricht. Damit stehen die im 120

J. C. Harsanyi: „Game and decision theoretic models in ethics“ (1992), 671: „The concept of rational behavior is essentially an idealization of the common sense notion of goal-directed behavior: it refers to behavior that is not only goal-directed but is also perfectly consistent in pursuing its goals, with consistent priorities or preferences among its different goals. Accordingly, rational behavior is not a descriptive concept but rather is a normative concept. It does not try to tell us what human behavior is in fact like, but rather tells us what it would have to be like in order to satisfy the consistency and other regularity requirements of perfect rationality.”

121 122

J. C. Harsanyi: „Game and decision theoretic models in ethics“ (1992), 671.

J. C. Harsanyi: Rational behavior and bargaining equilibrium in games and social situations (1977), 16.

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vorigen Abschnitt genannten Schwierigkeiten aufgrund mangelnder empirischer Übereinstimmung auch einem rational-normativen Selbstverständnis im Wege.123 Der kritische Punkt in den hier angeführten Beispielen ist die in den Verhandlungstheorien vorausgesetzte Reziprozität der Spielerrelationen. Alle Spieler müssten sich wechselseitig im Sinne einer Verhandlungstheorie verhalten, damit die Befolgung der Verhandlungstheorie rational ist. Hier wird sehr deutlich, dass sich die von den Verhandlungstheorien vorgegebenen Verhandlungsprinzipien nicht an Individuen richten, sondern an Gruppen. Nur wenn sich die ganze Gruppe an die vorgegebenen Verhandlungsprinzipien halten, können sich die von der Verhandlungstheorie behaupteten Vorteile für alle Teilnehmer einstellen. Es kommt hier schon etwas zum Vorschein, was ich erst später im Kontext der Analyse des Rationalitätsbegriffes ausführlich diskutieren werde. Verhandlungstheorien sind nicht Theorien der individuellen Nutzenmaximierung, sondern der kollektiven Nutzenoptimierung. In ihnen wird nicht ausschließlich eine Größe, nämlich der Nutzen eines bestimmten Individuums, maximiert. Vielmehr müssen die Nutzenfunktionen aller Teilnehmer in ihrer Gesamtheit einem vorgegebenen Zielzustand möglichst nahe kommen. Moralisch fundiertes Selbstverständnis. Wenn die Befolgung einer Verhandlungstheorie nicht in jedem Fall für den Anwender zu dessen Nutzenmaximierung führt, kann die Theorie einen normativen Anspruch für eine Person nur haben, wenn die Person aus anderen Motiven als der Nutzenmaximierung ein Interesse am Verhalten im Sinne der 123

Neben diesen für die Verhandlungstheorien spezifischen Einwänden gegen eine normative Verwendung gibt es für die Spieltheorie allgemeine Probleme bei dieser Verwendungsweise. Ein Problem ist die Existenz unterschiedlicher und widerstreitender Lösungs- und Gleichgewichtskonzepte für dieselben strategischen Situationen, die sich alle auf denselben Rationalitätsbegriff berufen. Hier werden gegensätzliche Antworten auf die Frage gegeben, was in einer bestimmten Situation rationalerweise zu tun sei (vgl. S. Brams et al.: Applied Game Theory (1979) und E. van Damme: Stability and Perfection of Nash Equilibria (1987)). Ein weiteres Problem liegt in einigen sehr kontraintuitiven Strategievorgaben der Spieltheorie aufgrund reiner Zweckrationalität, die man aus Sicht des gesunden Menschenverstandes niemals wählen würde (vgl. R. Selten: "The Chain Store Paradox" (1978)).

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Verhandlungstheorie hat. Dies könnte z. B. dann der Fall sein, wenn die Lösung als eine faire Lösung verstanden wird und die Person ein moralisch motiviertes Interesse an einem fairen Verhalten in dieser Situation hätte. Die Idee der Fairness findet sich in den verschiedensten Ansätzen zur Verhandlungstheorie. Diese wird als ein ganz wesentliches Element einer idealen Verhandlung angesehen. Mit einer solchen Annahme im Hintergrund sind die Verhandlungstheorien Formalisierungen eines zumindest zum Teil moralisch motivierten Handelns. Ich werde nachfolgend noch einige Autoren besprechen, die diesen Standpunkt explizit vertreten. Im Blick auf Gauthiers Theorie bedeutet das, dass er zeigen müsste, dass seine Verhandlungstheorie keine Explikation einer solchen moralischen Intuition ist. In Anbetracht der Tatsache, dass er seine Theorie auf anderen Verhandlungstheorien aufbaut, ist dies eine wohl legitime Forderung. Eine kritische Diskussion der übernommenen Theorieelemente mit Hinblick auf möglicherweise enthaltene moralische Voraussetzungen oder Inhalte findet in MbA aber nicht statt. Gauthier ist diesbezüglich der Ansicht, dass die RCT ausschließlich Explikation eines nicht moralisch affizierten Rationalitätsbegriffes sei und man sich daher auf moralisch neutralem Boden befinde. Er stellt die Verhandlungstheorie als Teil der Spieltheorie dar. Damit bezieht sie sich für ihn ausschließlich auf rationales Entscheiden und gerade nicht auf moralisch motiviertes Entscheiden.124 Luce und Raiffa vertreten hingegen die Position, dass die Verhandlung einem Schiedsspruch analog ist.125 Die Verhandlungstheorie soll Spieler in einer Verhandlung zu demselben Ergebnis führen, das ein idealer Schiedsmann in dieser Situation herbeiführen würde. Von einem Schiedsmann wird erwartet, dass er faire Lösungen vorschlägt, die von den betroffenen Parteien 124 125

MbA, 129.

R. D. Luce und H. Raiffa: Games and Decisions (1957), 121ff. Luce und Raiffa verstehen die Nash-Lösung als ein Schiedsprinzip. Ebda, 126: „But why this scheme [hier ist die Nash-Lösung gemeint; Anm. d. Verf.] rather than any number of other possible choices? The primary reason is that it is the only arbitration scheme which satisfies the four properties [Hier sind die vier Axiome von Nash gemeint; Anm. d. Verf.] given below, and it is mainly in the light of their 'reasonableness', plus experience with the scheme for specific examples, that we can judge the plausibility of the formula.” Dieselbe Position findet man auch in R. B. Myerson: Game Theory (1991), 374.

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vernünftigerweise akzeptiert werden können. Welche Kriterien Lösungen eines idealen Schiedsmannes erfüllen müssen, beantworten Luce und Raiffa durch eine operationale Definition. Sie gehen von der Frage aus, welche Zielsetzung man der Handlung des Schiedsmanns unterstellen kann, d. h. welche Interessen er in seinem Handeln als Schiedsmann verfolgt. Man kann z. B. unterstellen, dass der Schiedsmann ein Interesse hat, wieder als Schiedsmann berufen zu werden, d. h. den Ruf eines guten Schiedsmannes zu haben. Dazu muss der Schiedsmann seine Entscheidungen für alle Beteiligten zufrieden stellend begründen können. Offen bleibt hier, welche Begründungen alle Teilnehmer zufrieden stellen. In der Realität wird der Vorschlag eines Schiedsmannes dann akzeptiert werden, wenn er den Konzeptionen der Fairness aller Teilnehmer weitgehend entspricht. Mit diesem Verständnis der Verhandlungslösung wäre die Verhandlung als eine Explikation einer Fairnesskonzeption zu verstehen und würde somit implizit eine moralische Voraussetzung machen. Auch bei Barry findet man ein Verständnis der Verhandlung, das die Fairness als Kriterium der Verteilung in der Verhandlung ansieht. Dabei schränkt er die faire Verteilung weiter ein, indem für ihn die Gleichheit ein Kriterium einer fairen Verteilung ist.126 Die Gleichheit der Verteilung soll nach seiner Aussage aus der Natur einer rationalen Verhandlung resultieren. Schaut man sich den entsprechenden Text genauer an, dann stellt man fest, dass er hier begrifflich nicht korrekt argumentiert. „Now suppose instead that we wish to simulate the results of rational bargaining. It is surely again plausible that we shall look for an outcome that is marked by equality ... since it is in the nature of a bargaining solution that it should balance the gains of the parties. That is to say, a bargaining equilibrium should occur at a point where both parties are equally satisfied with the outcome when they compare it to the alternative of the nonagreement point. Unless the outcome gives the parties equal gains in this sense it is not an equilibrium, because the one relatively less satisfied with it has less to lose than the other from upsetting it. It will therefore hardly be surprising to find that the 126

B. Barry: Theories of Justice (1989), 41. Barry sieht dies sogar als eine Tautologie an.

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Nash solution has itself been promoted as being fair in the sense that it provides the parties with equal utility gains over the nonagreement point.“ 127 Die Egalität der Verteilung resultiert nach diesen Ausführungen nicht aus der Rationalität der Verhandlung, sondern aus dem Begriff der Verhandlung selbst. Barry schreibt der Verhandlung wesentlich einen ausbalancierenden oder ausgleichenden Effekt zu. Diese Zuschreibung gründet in einem Alltagsverständnis der Verhandlung, in dem das Kriterium der Fairness implizit enthalten ist.128 Aber bei einer Verhandlungssituation, in der die Teilnehmer sehr unterschiedliche Machtpositionen einnehmen, würde auch der Common sense nicht die Erwartung eines egalitären Ergebnisses haben. Dies trifft zumindest auf ein Szenario eines moralfreien Naturzustandes zu, von dem wir hier auszugehen haben. Das zu erwartende Equilibrium würde sich in einer solchen Umgebung nicht aufgrund der Bedürfnisse oder Erwartungen der Teilnehmer ausbilden, sondern aufgrund des Machtverhältnisses und der sich aus ihr ergebenden Drohstrategie. Eine berechtigte Erwartung auf ein egalitäres Ergebnis ergibt sich erst dann, wenn die Wirkung dieser Machtverhältnisse von moralisch motivierten Fairness-Ansprüchen überlagert oder verdrängt werden. Aber genau das widerspricht natürlich der Annahme eines moralfreien Naturzustandes. Barry spricht von einer ausbalancierenden Funktion der Verhandlung. Es ist wichtig, hier das Objekt des Ausgleichs zu beachten. Ausgeglichen werden sollen die Gewinne der Verhandlungsteilnehmer. Einen Zustand eines 127 128

Ebda, 41.

Bei Ebda, 50f. findet man ein Verständnis des Schiedsspruches, das sehr eng an die Verhandlung gebunden ist. Für ihn ist ein Schiedsspruch nur die Fortführung der Verhandlung mit anderen Mitteln. Diese Fortführung wählt man gegebenenfalls, weil mit der Verhandlung bestimmte Risiken und Investitionen verbunden sind, die sich mit einem Schiedsspruch weitgehend reduzieren lassen. Barry denkt hier an den Zeitaufwand und die Energie, die man in eine Verhandlung investieren muss, ohne dabei sicher sein zu können, dass es auch tatsächlich zu einer Einigung kommt. Darüber hinaus besteht bei Verhandlungssituationen mit Drohstrategien das Risiko, dass im Falle des Scheiterns die Drohstrategien realisiert werden und somit beide oder zumindest eine Partei nach der Verhandlung schlechter gestellt ist als zuvor.

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in der Weise ausgeglichenen Verhandlungsergebnisses bezeichnet Barry als Equilibrium. Ein derartiges Equilibrium ist nicht zu verwechseln mit dem Typ eines Nash-Equilibriums, das sich durch ein Gleichgewicht der Strategien definiert. Wie sich die Nutzenverteilung eines solchen Equilibriums hinsichtlich der Gleichverteilung bzw. Ungleichverteilung der Güter gestaltet, bleibt völlig offen. Genauso wie eine völlige Ungleichverteilung ein strategisches Equilibrium sein kann, so kann auch eine völlige Gleichverteilung strategisch sehr instabil, also nicht im Equilibrium sein. Es besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen einem strategischen Equilibrium und einem Equilibrium der Gewinne oder der Güterverteilung, so wie Barry hier den Begriff verwendet. Diese Differenz ist zu beachten, da ein strategisches NashEquilibrium tatsächlich das Ergebnis ausschließlich nutzenmaximierender Überlegungen ist, während dies für ein Equilibrium nach Barry nicht zutrifft. Deshalb kann Barrys Verwendung des Begriffes Equilibrium in diesem Kontext sehr leicht zu folgenschweren Missverständnissen führen. Es gibt für Barry noch einen weiteren Grund, Verhandlungsergebnisse als fair anzusehen, den man in gleicher Weise auch bei Gauthier findet. Danach ist ein Verhandlungsergebnis deshalb als fair zu bezeichnen, weil es von allen Verhandlungsteilnehmern unterstützt wird. Ihre Zustimmung zu diesem Ergebnis beruht darauf, dass es ihre vernünftigen Erwartungen erfüllt. Hierfür macht Barry aber die Annahme, dass für den Fall, dass die Teilnehmer bestimmte Rechte haben und deren Durchsetzung garantiert ist, jedes tatsächlich zu Stande gekommene Verhandlungsergebnis als fair anzusehen ist.129 Damit wäre aber jedes Verhandlungsergebnis, das nicht irgendwelche Rechte verletzt, als fair anzusehen. Ein solcher Fairnessbegriff wäre jedoch völlig unterbestimmt und entspricht auch nicht der Funktion der Verhandlung. Die Verhandlung setzt auch in einer Situation mit festem Rechtsrahmen erst dann ein, wenn es hinsichtlich des Verhandlungsgegenstandes bzw. dessen Aufteilung keine Rechtsansprüche gibt. Wenn es Rechtsansprüche auf Güter gibt, dann wird es in der Regel nicht zu einer Verhandlung kommen, denn dann wird die Verteilung ja aufgrund dieser Rechte vorgenommen. Daher kann man Barrys Annahme, dass bei Beachtung der Rechte kein Verhandlungsergebnis unfair sein kann, nicht zustimmen. Die Verteilung aufgrund 129

Ebda, 51.

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von Rechten ist keine Bedingung für eine faire Verteilung, sondern eine Alternative zur fairen Verteilung. Da Barry die Akzeptanz dieser Annahme als notwendige Bedingung für den Nachweis der Fairness von Verhandlungsergebnissen ansieht, kann man sein Argument für die Fairness von Verhandlungsergebnissen auch nicht mehr akzeptieren. Als letzter Zeuge für eine Fairness-Konzeption der Verhandlung soll kein Geringerer als John F. Nash angeführt werden. Er hat eine Verhandlungstheorie formuliert, die vielen anderen Verhandlungstheorien als Prototyp gedient hat, und ist somit ein sehr wichtiger Repräsentant. Darüber hinaus ist Nash in diesem Kontext von besonderer Bedeutung, weil Gauthiers Verhandlungstheorie eine Modifikation seiner Theorie ist und somit sein Verständnis einer Verhandlungstheorie auch in Gauthiers Theorie wieder zu finden sein wird. Mit seinen Annahmen meint Nash die Erwartungen an ein faires Verhandlungsergebnis reformuliert zu haben, die rationale Personen in einer Verhandlungssituation normalerweise haben würden. Die Verhandlungsteilnehmer würden sich vernünftigerweise auf eine Verhandlungslösung einigen, die diesen Kriterien entspricht. „Now since our solution should consist of rational expectations of gain by the two bargainers, these expectations should be realizable by an appropriate agreement between the two. Hence, there should be an available anticipation which gives each the amount of satisfaction he should expect to get. It is reasonable to assume that the two, being rational, would simply agree to that anticipation, or to an equivalent one. Hence, we may think of one point in the set of the graph as representing the solution, and also representing all anticipations that the two might agree upon as fair bargains.“ 130 Wie aus diesem Auszug zu entnehmen ist, orientiert sich Nash an realen Verhandlungssituationen. Deswegen kommt auch der Aspekt der Fairness ins Spiel. Fairness spielt in realen Verhandlungssituationen eine zum Teil ganz wesentliche Rolle. Dies ist aber nur deshalb so, weil reale Verhandlungssitua-

130

J. F. Nash: „The Bargaining Problem“ (1950), 158.

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tionen in der Regel zwischen Personen stattfinden, die schon moralische Normen internalisiert haben. Der kurze Überblick über verschiedene Konzeptionen der Verhandlung zeigt, dass schon bei der Auswahl der Annahmen für eine Verhandlungstheorie das Kriterium der Fairness eine wichtige Rolle spielt. Die Fairness ist also nicht ein kontingentes Produkt der Verhandlung, das ausschließlich aus Rationalität generiert wird, sondern sie ist ein Kriterium bei der Auswahl der Annahmen bzw. möglichen Lösungen. Man muss hier davon ausgehen, dass das Kriterium der Fairness von den Verhandlungsteilnehmern nicht aufgrund rationaler Überlegungen akzeptiert wird, sondern aufgrund ihrer moralischen Überzeugungen. Denn die hier erwähnten Verhandlungstheorien gehen nicht von der Rationalität der Fairness aus und wollen auch nicht für diese argumentieren. Als Rekonstruktion realer Verhandlungssituationen können die Theorien davon ausgehen, dass die Verhandlungsteilnehmer moralische Überzeugungen haben und daher faire Lösungen eine bessere Aussicht auf allgemeine Akzeptanz haben. Dieser Hintergrund des Selbstverständnisses der Verhandlungstheorien macht die Anwendung dieser Theorien für Gauthiers Theorie zu einem erheblichen Problem. Das Ziel der hier genannten Verhandlungstheorien, auf die sich Gauthier stützt, ist, eine rationale Rekonstruktion von realen und fairen Verhandlungssituationen zu formulieren. Fairness als Eigenschaft des Verhandlungsergebnisses wird daher hier einfach vorausgesetzt. Es wird nach einem rationalen Verhandlungsergebnis unter den Bedingungen der Fairness gesucht. Das Ziel der Theorie Gauthiers hingegen ist, zu zeigen, dass man ausgehend von nicht moralischen Annahmen auf dem Wege rationaler Überlegungen zu einem fairen Verhandlungsergebnis gelangt. Fairness ist hier das Ergebnis der Argumentation. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Gauthier durch die Zuhilfenahme der Verhandlungstheorien zu einem fairen Verhandlungsergebnis kommt, aber seine Argumentation wird dadurch, wie ich später noch im Detail zeigen werde, zirkulär. Hypothetisches Verständnis. Die geringe Übereinstimmung der meisten Verhandlungstheorien mit realen Verhandlungssituationen legt es nahe, als Anwendungsbereich der Theorien hypothetische oder irreale Situationen anzunehmen. Man könnte Verhandlungstheorien z. B. als normative Theorien

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idealisierter Verhandlungssituationen verstehen. Dann wären sie für reale Verhandlungssituationen nur insoweit relevant, als sie den realen Bedingungen entsprechen. Im Einzelfall lassen sich dadurch die rationalen Teilaspekte von Verhandlungsverhalten erklären bzw. auch Vorgaben für rationales Verhandlungsverhalten ergänzen. Bei Untersuchungen komplexer Sachverhalte kann ein hypothetisches Modell einen wichtigen heuristischen Wert haben.131 Ein solches Verständnis entspricht auch den Theorien aus anderen Bereichen der Spieltheorie. Dort aufgestellte Theoreme oder Prinzipien werden als Regeln strategischer Spiele verstanden. Reale Situationen können uns in ähnliche Entscheidungskonstellationen bringen, wie sie die Spieler strategischer Spiele zu bewältigen haben. Bei ausreichender Übereinstimmung ist dann auch eine Anwendung spieltheoretischer Konzeptionen möglich. Ein solches Verständnis findet man z. B. bei Owen. Mit dem Konfliktpunkt d ist für ihn ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen sich eine Verhandlung zwischen rationalen Akteuren bewegen kann. Eine präzisere Bestimmung des Verhandlungsergebnisses hängt von individuellen und kontingenten Randbedingungen ab und kann daher immer nur für den Einzelfall, nicht aber als allgemeines Prinzip formuliert werden. Dennoch hält er die Nash-Lösung für eine vernünftige Vorgabe, an der man sich grob orientieren kann. Sie gibt eine Richtung vor, die dann durch die Berücksichtigung weiterer Details korrigiert werden sollte. „Now, how much will one player be willing to give the other? How little will he be willing to accept, as the price of his cooperation? Though it is of course impossible to determine how a person will act (in general, there are many personality differences to be taken into account), we can nevertheless set a minimum to the amount that a player will accept for himself. This is the a131

K. Binmore: Essays on the Foundations of Game Theory (1990), 22-38. Binmore sieht die Funktion der Spieltheorie insgesamt primär in der Erklärung. Er unterteilt dieses Funktion in folgende Unterbereiche: 1. Erklärungen in realen Kontexten. Hier gibt es a. Prognosen und b. Beschreibungen. 2. Erklärungen in idealen Kontexten. Hier gibt es a. Untersuchungen, d. h. eine heuristische Funktion und b. Präskriptionen. Auch Aumann in R. J. Aumann: „What is Game Theory to Accomplish?“ (1985) sieht in der Spieltheorie vor allem ein Instrument der wissenschaftlichen Erklärung.

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amount that he can obtain by unilateral action, whatever the other player does... While it is important to repeat that the outcome in any particular case will depend on the personalities and bargaining abilities of the two players, the following axioms seem reasonable conditions to lay on any such function. (These axioms are those of John Nash.)“ 132 In diesem Verständnis der Verhandlungslösung kommt ein abgeschwächter Anspruch zum Ausdruck. Der Anspruch der Rationalität wird hier nur noch auf den Rahmen bezogen, der durch den Konfliktpunkt d vorgegeben wird. Damit eine Lösung rational ist, muss für beide Teilnehmer das Ergebnis besser sein als im Konfliktpunkt d. Wenn es aber mehrere Lösungen gibt, die diesen Minimalbedingungen von Rationalität entsprechen, dann kann man nicht mehr allein mit rationalen Überlegungen zu einem allgemein akzeptablen Ergebnis kommen. Die hier notwendigen weitergehenden Vorgaben bezeichnet Owen nicht mehr als rational, sondern als vernünftig (reasonable), was hier so viel heißt wie dem gesunden Menschenverstand entsprechend. Er sieht, wie einige andere Autoren auch, dass das Verhandlungsergebnis durch die charakterlichen, psychischen oder geistigen Eigenschaften der teilnehmenden Personen maßgeblich bestimmt wird. Wenn ein bestimmtes Verhandlungsergebnis nicht als zwingend rational angesehen werden kann, dann kann man nur durch Hinzunahme weiterer Kriterien zu einer eindeutigen Lösung kommen. Als ein solches weiteres Kriterium versteht Owen auch die Nash-Lösung. Sie sucht aus der Menge der rational möglichen Lösungen aufgrund weitergehender Kriterien eine einzige Lösung aus. Die Axiome, aus denen die Nash-Lösung hergeleitet wird, sind seiner Meinung dadurch gerechtfertigt, dass sie dem gesunden Menschenverstand entsprechen. Dem Wort „reasonable" (vernünftig) begegnet man in diesem Kontext häufiger an genau dieser Stelle der Argumentation. Bei einer Skala rational - willkürlich irrational scheint man es zwischen rational und willkürlich anzusiedeln. Der wesentliche Unterschied zu rational ist, dass die Befolgung einer vernünftigen Entscheidung oder eines vernünftigen Urteils nicht als zwingend, sondern nur als ratsam verstanden wird. Dabei schließen sich die beiden Begriffe nicht gegenseitig aus. Es ist nicht die Intention, dass man sich zwischen einer 132

G. Owen: Game Theory (1982), 130.

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rationalen und einer vernünftigen Lösung entscheiden könnte und dann aus bestimmten Gründen die vernünftige Lösung vorzieht. Vielmehr geht es um Entscheidungssituationen, in denen man aus prinzipiellen oder auch nur kontingenten Gründen nicht entscheiden kann, welche der möglichen Optionen die rationale ist. Wenn es aber möglich wäre, dann würde man die rationale Option wählen. Die Entscheidung, die ein rationaler Akteur in einer solchen Situation quasi als zweitbeste Lösung wählen würde, bezeichnet man dann als „reasonable“. Solche Situationen treten dann auf, wenn man mit dem Kriterium der individuellen Nutzenmaximierung allein zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt. Schlussfolgerung. Die Diskussion der verschiedenen Möglichkeiten des Selbstverständnisses der Verhandlungstheorien hat gezeigt, dass es diesbezüglich keinen Konsens gibt bzw. dass verschiedene Interpretationen konsistent nebeneinander denkbar sind. Es hängt einfach davon ab, welche Intention man mit der Theorie explizieren will. Bezüglich der konkreten Interpretationsmöglichkeiten hat sich gezeigt, dass es hier gravierende Probleme gibt. Die deskriptive Interpretation scheitert an mangelnder Übereinstimmung mit realen Verhandlungssituationen bzw. realen Verhandlungsteilnehmern. Die Möglichkeit, Verhandlungstheorien als rational-normative Vorgabe für rationales Handeln anzusehen, stößt ebenfalls auf das Problem der mangelnden Übereinstimmung mit der Realität. Die noch unproblematischste Interpretation ist die moralische. Der zufolge geben Verhandlungstheorien an, wie ein faires Verhandlungsergebnis aussehen müsste. Das Selbstverständnis der Verhandlungstheorien als Aussagen über nur hypothetische Verhandlungssituationen ist zwar nicht mit größeren grundsätzlichen Problemen behaftet, kann aber natürlich nur einen sehr begrenzten Anspruch erfüllen. Für die Verwendung von Verhandlungstheorien im Rahmen einer sich ausschließlich auf rationale Elemente stützenden Moraltheorie ist dieser Befund nicht sehr ermutigend. Die einzige solide Interpretationsmöglichkeit, nämlich die moralische, kommt für sie nicht in Frage, wenn sie einen Zirkelschluss vermeiden will. Der Versuch, das Selbstverständnis der Verhandlungstheorien zu ermitteln, hat gezeigt, dass die Verhandlungstheorie ein Gebiet der RCT ist, in dem noch sehr fundamentale Probleme ungelöst sind, die aber für eine Anwendung

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im moralischen Kontext von erheblicher Relevanz sind. Gauthier sieht den problematischen Zustand der Verhandlungstheorie sehr deutlich. Aber für die Entwicklung seiner Theorie lässt ihn dies anscheinend unbeeindruckt. „The general theory of rational bargaining is underdeveloped territory. Whether there are principles of rational bargaining with the same context-free universality of application as the principle of expected utility maximization has been questioned, notably by Alvin Roth. John Harsanyi insists that there is a general theory, and claims to have constructed it, building on earlier work of Frederik Zeuthen and John Nash. Although the Zeuthen-NashHarsanyi approach has commanded widest support among those who accept the possibility of a general theory, it is not without competitors. Undaunted both by Roth scepticism and by Harsanyi=s dogmatism, we shall outline our own theory.“ 133 Roths Kritik als Skeptizismus und einen Konsens in der Spieltheorie als Dogmatismus abzutun erscheint an einer so entscheidenden Stelle doch als gewagt. Gauthiers Theorie ist eine Modifikation der Kalai-SmorodinskyTheorie, die ihrerseits eine Modifikation der Nash-Lösung ist. In einem Theoriebereich, den Gauthier selbst als unterentwickelt bezeichnet, sich auf einen Weg einzulassen, der sich nicht auf einen allgemeinen Konsens stützen kann, erfordert eine überzeugende Begründung. Erst recht, wenn diese Theorie das funktionale Herzstück seiner Theorie ist. Diese Begründung fehlt bei Gauthier und somit ist seine Auswahl des Verhandlungsmodells unbegründet. Er kann sich auch nicht darauf berufen, dass dies der common sense der Spieltheorie sei.

2. Nashs Verhandlungstheorie Nash und Gauthier. Die Basis der Theorie Gauthiers ist die Verhandlungstheorie von Kalai-Smorodinsky. Für 2-Personen-Spiele ist das Ergebnis des MRC-Prinzips Gauthiers identisch mit der Lösung von Kalai-Smorodinsky. Für n-Personen-Spiele hat Gauthier eine modifizierte Form der Lösungsform 133

MbA, 129f.

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von Kalai-Smorodinsky vorgelegt.134 Die Theorie von Kalai-Smorodinsky ist eine geringfügig modifizierte Form der Theorie von Nash. Das bedeutet, dass Gauthiers Theorie als eine weitergehende Modifikation der Theorie von Nash bezeichnet werden kann. Es gibt noch einen weiteren Grund, sich hier mit der Theorie von Nash genauer zu beschäftigen. In „Uniting separate persons" hat sich Gauthier aufgrund der Kritik von Binmore und Rubinstein von seiner in MbA gegebenen Begründung für das MRC-Prinzip distanziert.135 Stattdessen will er nun zeigen, dass das MRC-Prinzip unter den Bedingungen eines Gesellschaftsvertrages zu denselben Ergebnissen wie die Nash-Lösung führt und dass damit die Kritik von Rubinstein und Binmore entkräftet wird.136 Dieses Vorhaben Gauthiers signalisiert seine enge Anbindung an die Theorie von Nash. Elemente des Verhandlungsspiels bei Nash. Das Verhandlungsspiel, das der Theorie von Nash zugrunde liegt, besteht aus folgenden vier Elementen: 1. Ausgangspunkt der Verhandlung (d: disagreement point). Dieser ist durch den Nutzen gegeben, den die Teilnehmer im Status quo haben. 2. Die Pareto-Grenze. Das ist der Rand der Lösungsmenge mit den paretooptimalen Ergebnissen, der in den meisten grafischen Darstellungen des Verhandlungsproblems den Nord-Osten der Lösungsmenge begrenzt. 3. Das Lösungskonzept, das ausgehend vom Ausgangspunkt der Verhandlung zu nur einem Punkt der Pareto-Grenze führt. 4. Die Lösung wird ausschließlich aufgrund der Nutzenfunktionen der Spieler bestimmt. Ausgehend von diesen vier Elementen wird das Verhandlungsproblem durch folgende Definition beschrieben:137 Das Verhandlungsproblem ist ein Paar (S, d), wobei S, die Menge der Nutzenpaare der möglichen Verhandlungser-

134

Diese wird ausführlich in Abs. III.C auf S. 123 besprochen.

135

D. Gauthier: „Uniting separate persons" (1993), 178f.

136

Siehe auch die ausführliche Besprechung auf S. 131.

137

M. J. Osborne und A. Rubinstein: Bargaining and Markets (1990), 10.

102

gebnisse, kompakt und konvex ist.138 d ist Element von S. Es gibt in S mindestens ein Element s, das größer ist als d. Eine Verhandlungslösung ist eine Funktion F, die jedem Verhandlungsproblem (S, d) genau ein Element aus der Menge S zuweist. Axiome der Verhandlungstheorie von Nash. Nash hat in seinem Aufsatz The Bargaining Problem von 1950 zunächst nur eine axiomatische Herleitung für seine Lösung des Verhandlungsproblems angegeben. 1953 hat er in TwoPersons Cooperative Games dieser noch eine kompetitive Herleitung hinzugefügt.139 Mit dieser doppelten Herleitung wollte er die Stärke seiner Verhandlungslösung unterstreichen, indem er zeigte, dass man sowohl über ein kooperatives als auch über ein kompetitives Spiel als Darstellung des Verhandlungsproblems zu seiner Lösung gelangt.140 Wie aus dem Titel des Aufsatzes von 1953 hervorgeht, ist Nash von 2-Personen-Spielen ausgegangen. In meiner Analyse der Nash-Lösung werde ich mich auch zunächst auf 2-Personen-Spiele beschränken, da hier schon die für die vorliegende Untersuchung wesentlichen Punkte deutlich gemacht werden können. Wenn also nicht explizit n-Personen-Spiele genannt werden, sind hier 2-Personen-Spiele gemeint. In diesem Abschnitt werde ich nur auf die axiomatische Herleitung eingehen. Diese hat in der weiteren Diskussion des Verhandlungsproblems auch eine wichtigere Rolle als die kompetitive Herleitung gespielt.

138

M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 33: „Eine Menge ist konvex, wenn jede Verbindungslinie zwischen zwei Elementen („Punkten“) der Menge auch in der Menge enthalten ist. Eine Menge ist kompakt, wenn sie sowohl beschränkt und abgeschlossen ist. Eine Menge ist abgeschlossen, wenn auch ihre Begrenzungspunkte zur Menge gehören; sie ist beschränkt, wenn sie eine obere und untere Schranke hat.“ 139

Der wesentliche Unterschied zwischen kooperativen und kompetitiven Spielen besteht in dem Vorhandensein bzw. Fehlen von bindenden Vereinbarungen. Bei kooperativen Spielen sind bindende Vereinbarungen, die exogen durchgesetzt werden können, Teil des Spielszenarios. In kompetitiven Spielen hingegen gibt es keine bindenden Vereinbarungen. Dort muss das Eigeninteresse der Verhandlungsteilnehmer garantieren, dass die Verhandlungsergebnisse umgesetzt werden.

140

J. F. Nash: „Two-Person Cooperative Games“ (1953), 136. Auch Selten zeigt, wie man kooperative Strategien durch kompetitive abstützen kann. Dabei hat er eine Kooperation im Sinne eines Gesellschaftsvertrags nach Rawls vor Augen.

103

In axiomatischen Verhandlungstheorien werden in Axiomen Kriterien festgelegt, denen die Verhandlungslösung genügen muss. Der Ansatzpunkt ist hier das Ergebnis der Verhandlung und nicht der Verhandlungsverlauf. Die nahe liegende Frage bei einem solchen Ansatz lautet, wie man auf diese Kriterien kommt. Nash gibt hierauf die folgende Antwort: „One states as axioms several properties that it would seem natural for the solution to have and then one discovers that the axioms actually determine the solution uniquely.“ 141 „Rather than solve the two-person cooperative game by analyzing the bargaining process, one can attack the problem axiomatically by stating general properties that >any reasonable solution= should possess. By specifying enough such properties one excludes all but one solution.“ 142 Aus diesen beiden Zitaten spricht eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich des Kriteriums für die Auswahl der Verhandlungsaxiome. Das zentrale Kriterium für eine akzeptable Verhandlungslösung wird mit den inhaltlich sehr unscharfen Begriffen „natural" und „reasonable" umschrieben, letzteres Wort sogar in Anführungszeichen gesetzt und nachfolgend auch nicht weiter spezifiziert. Nash scheint hier eine Grundintuition über die Idee der Verhandlung vor Augen zu haben, die jeder durch eine Besinnung auf den gesunden Menschenverstand nachvollziehen können sollte.143 Der Bezug auf solche Intuitionen, sofern sie wirklich als Common sense beim Leser vorausgesetzt werden können, ist im Rahmen der Spieltheorie vielleicht unproblematisch. In der moralischen Anwendung der Spieltheorie ist es jedoch von Bedeutung, ob moralisch relevante Annahmen durch den Bezug auf Intuitionen des Common sense in die Theorie eingehen. Wie ich zuvor im Abschnitt über das Selbstverständnis der Verhandlungstheorien gezeigt habe, ist auch für Nash die Fairness ein wesentliches Element der Verhandlung. Daher kann man berechtigterweise annehmen, dass bei der Auswahl der Kriterien für eine akzeptable Verhandlungslösung bei Nash auch moralische Gründe eine Rolle gespielt haben. Nicht weil Nash eine moralische Verhandlungstheorie konzipieren 141

J. F. Nash: „Two-Person Cooperative Games“ (1953), 129.

142

Ebda, 136.

143

Vgl. E. Rasmusen: Games and Information (1989), 297f.

104

wollte, sondern weil Moral ein Teil des Common sense ist. Die Lösung des Verhandlungsproblems wird in axiomatischen Verhandlungstheorien gefunden, indem man nach einer Funktion sucht, die für ein gegebenes Verhandlungsspiel alle in den Axiomen geforderten Kriterien erfüllt. Nash leitet die Lösung auf formalem Wege unmittelbar aus diesen Axiomen ab. Im Folgenden werden die Axiome der Nash-Lösung untersucht. Im Mittelpunkt stehen dabei die Auswirkung der einzelnen Axiome auf die Verhandlungslösung und die in diesen Axiomen implizit enthaltenen Annahmen. Anschließend wird die Lösung selbst diskutiert. Nashs Version des Verhandlungsspiels enthält zwei Spieler, die die gleichen Verhandlungsfähigkeiten besitzen, ihre Wünsche bezüglich verschiedener Dinge exakt miteinander vergleichen können und die jeweils vollständiges Wissen über den Geschmack und die Präferenzen des anderen haben.144 Der Verlauf der Verhandlung spielt keine Rolle. Nur der Ausgangspunkt der Verhandlung und das Verhandlungsergebnis werden betrachtet. Die sich ergebende Nash-Lösung F ist die Maximierung des Produktes u x v, wobei u und v für den Nutzen stehen, den die Verhandlungspartner bei der Lösung F jeweils für sich erwarten können.145 Diese Maximierungsfunktion leitet Nash aus vier Axiomen ab, die Annahmen über die vermeintlich notwendigen Eigenschaften einer Verhandlungslösung enthalten.146

144

J. F. Nash: „The Bargaining Problem“ (1950), 155. In seinem Aufsatz von 1950 nennt Nash die Gleichheit der Verhandlungsfähigkeit noch explizit als Kriterium eines Verhandlungsspiels. Diese Anforderung hat er in seinem Aufsatz „Two-Person Cooperative Game“ (1953) zurückgenommen, worauf ich noch im Rahmen der Diskussion des Symmetrie-Axioms von Nash genauer eingehen werde. 145

Nach R. D. Luce und H. Raiffa: Games and Decisions (1957), 135, sind, formal gesehen, die Zeuthen-Lösung und die Nash-Lösung äquivalent: (u' -u'')/u' # (v'' - v')/v'' ] v'@u' # v''@u''. Der Unterschied zwischen der Nash-Lösung und der Zeuthen-Lösung besteht hauptsächlich darin, dass in der Zeuthen-Lösung durch den Begriff des Zugeständnisses noch ein psychologisches Moment integriert wird.

146

Eine kurze und präzise Darstellung dieser Ableitung findet man in R. D. Luce und H. Raiffa: Games and Decisions (1957), 127f. Nash nennt in seinem Aufsatz von 1950 acht und in dem von 1953 sieben Axiome. In der weiteren Diskussion in der Literatur findet man aber immer nur vier Axiome, die auch hinreichend für die Herleitung der NashLösung sind.

105

1. Axiom (Transformationsinvarianz): S: Auszahlungsraum, d. h. die möglichen Verhandlungsergebnisse. d: Konfliktpunkt F: Verhandlungslösung. Man erhält durch eine positive Lineartransformation einer oder mehrerer Nutzenfunktionen der Teilnehmer aus der Ausgangssituation (S, d) den Zustand (S=, d=). Wenn nun F(S, d) = x, dann ist F(S=, d=) = x=, wobei x= durch dieselbe Lineartransformation aus x abgeleitet wird. Die Lösung F muss also invariant gegenüber linearen Transformationen der Nutzenfunktionen der beiden Teilnehmer sein. Wenn die Präferenzen eines Teilnehmers durch die Nutzenfunktion ui repräsentiert werden, dann werden diese Präferenzen auch durch die Nutzenfunktion ti = ai x ui + bi repräsentiert, wobei ai und bi reale Zahlen sind und ai positiv ist. ui und ti enthalten dieselben Informationen über die Präferenzen des Teilnehmers. Ob der Teilnehmer seine Präferenzen in Form von ui oder ti wiedergibt, hängt nur von der Wahl der Einheiten für die Nutzenfunktion und des Konfliktpunktes ab. Mit diesem Axiom wird gewährleistet, dass die Lösung unabhängig von der gewählten Einheit der Nutzenfunktion ist. Dies ermöglicht es Nash, dass er jeder Nutzenfunktion einen beliebigen Maximalwert, z. B. 1, und einen entsprechenden Minimalwert, z. B. 0, zuweisen kann. Die Folge ist, dass in jedes Verhandlungsspiel eine Ausgangssymmetrie gebracht wird, in der für beide Teilnehmer der maximal erreichbare Nutzen und der minimal mögliche Nutzen gleich ist.147 Das gilt ganz unabhängig davon, welche absoluten Größen, wie z. B. Geldwerte, diesen Nutzenfunktionen korrelieren. Wenn z. B. für einen Spieler der maximal mögliche Anteil am kooperativen Mehrwert 50 i ist und für den anderen 500 i, so wird dieses Maximum bei Nash mit (1;1) dargestellt. 2. Axiom (Pareto-Optimalität): Eine Verhandlungslösung ist dann paretooptimal, wenn es keine andere Lösung gibt, bei der ein Spieler besser gestellt ist, ohne dass ein anderer Spieler schlechter gestellt ist. Formal ausgedrückt muss die vorgeschlagene Lösung F die folgenden Eigenschaften haben: Wenn F(S, d) = x, dann ~ › y | y 0 S v y > x.

147

Vgl. S. B. Bacharach und E. J. Lawler: Bargaining (1981), 10f.

106

Dieses Axiom verhindert, dass ein Teil des kooperativen Mehrwerts ohne Grund nicht verteilt wird. Es garantiert aber nicht, dass die Funktion u + v maximiert wird. Wenn es pareto-optimale Verteilungsmöglichkeiten gibt, bei denen nicht der gesamte kooperative Mehrwert verteilt werden kann, dann kann es nicht pareto-optimale Verteilungen geben, bei denen u + v größer ist als bei der pareto-optimalen Verteilung. Im folgenden Beispiel seien drei Verteilungen (V1, V2 und V3) des kooperativen Mehrwerts möglich: V1:

u = 40

V3:

V2: u = 60

V = 20 Σ = 60

u = 80 v = 10

v = 20

Σ = 90

Σ = 80 v: Nutzen des Spielers B

u: Nutzen des Spielers A

25 V1

V2

20

v

15

V3

10

5

0 20

30

40

50

60

70

80

90

u

Abb. 1: Pareto-optimale Verteilungen Nur V1 ist in diesem Beispiel nicht pareto-optimal, da es mit V2 eine Verteilung gibt, bei der ein Spieler besser gestellt wird als in V1, ohne dass ein

107

anderer Spieler schlechter gestellt wird. V3 ist aber nicht gegenüber V2 pareto-optimal, denn bei einer Veränderung von V2 zu V3 würde der Teilnehmer B einen Verlust tragen. Die Größe der Verteilungssumme Σ ist für die Frage der Pareto-Optimalität irrelevant. Das Kriterium der Pareto-Optimalität hat also nicht eine Maximierungsfunktion für die Individuen. Es verhindert nur ineffiziente Verteilungen. 3. Axiom (Unabhängigkeitsaxiom): Die Lösung muss unabhängig von irrelevanten Alternativen sein. P und R seien die Lösungsräume von zwei unabhängigen Verhandlungsspielen, die denselben Konfliktpunkt d haben, und P ist Teilmenge von R (R e P). Daraus folgt: Wenn die Verhandlungslösung von R in P liegt, hat P dieselbe Verhandlungslösung wie R. P f R, F(R, d) 0 P Y F(P, d) = F(R, d) Die Intention dieser Annahme als Lösungskriterium besteht darin, dass das Hinzufügen von Lösungsalternativen, die nicht besser sind als die bisherige Lösung, die bisherige Lösung nicht in Frage stellt. Wenn F (R, d) die beste Lösung im gesamten Lösungsraum R ist und nun ein zweites Spiel nur eine Teilmenge dieses Lösungsraumes hat, nämlich P, dann kann es für die Bestimmung der Lösung des Verhandlungsspieles P keine Bedeutung haben, dass weniger nicht-optimale Alternativen zur Verfügung stehen als im Fall von R. In seiner Verhandlungstheorie übernimmt Gauthier die Axiome von Nash, mit Ausnahme dieses Axioms über die irrelevanten Alternativen. An seine Stelle setzt er das Verhandlungsmodell von Zeuthen. Seine Kritik an diesem Axiom von Nash zielt auf die Maximierungsfunktion des Axioms. Nach Gauthiers Meinung ist eine Verhandlung kein Vorgang des Maximierens, sondern des Verteilens. Deshalb ist für ihn dieses Axiom in einer Verhandlungstheorie fehl am Platz.148 Im Rahmen der Diskussion des Rationalitätsbegriffes bei Gauthier werde ich diesen Punkt später noch genauer analysieren.149

148

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 32.

149

Vgl. S. 219.

108

4. Axiom (Symmetrieaxiom oder Irrelevanz der Spieleridentität): u* / v*: Nutzen im Konfliktpunkt d Wenn (i) u* = v*, d. h. der Konfliktpunkt ist symmetrisch, (ii) (u, v) 0 R Y (v, u) 0 R, d. h. auch wenn man die Funktionen u und v vertauscht, sind immer noch alle Funktionswerte Elemente des Auszahlungsraumes R und (iii) (u0, v0) = F[R(u*, v*)], d. h. (u0, v0) ist die Lösung der Verhandlungssituation mit (u*, v*) als Konfliktpunkt, dann u0 = v0, d. h. die Lösung ist symmetrisch. Die Spieler sind im Kontext der Bestimmung der Verhandlungslösung durch ihre Nutzenfunktionen u und v vollständig beschrieben. Ihre Identität oder Eigenschaften, die nicht in die Nutzenfunktionen eingehen, spielen für die Bestimmung der Verhandlungslösung keine Rolle. Das heißt, wenn zwei Spieler im Verhandlungsspiel symmetrische Nutzenfunktionen haben und der Konfliktpunkt symmetrisch ist, muss ihnen die Verhandlungslösung einen gleich großen Nutzen zuteilen. Dieses Axiom ist der Grund dafür, dass die Verhandlungslösung von Nash genau ein Element und nur ein Element enthält. Ohne dieses Axiom wären im hier angenommenen Fall der vollständigen Symmetrie der Verhandlungssituation alle Elemente des Verhandlungsspieles S, die auf der ParetoGrenze liegen, gleich gute Lösungen. Dies bedeutet aber umgekehrt, dass die Nash-Lösung nur für den Fall der symmetrischen Verhandlungssituation eine eindeutige Lösung angeben kann. „Nash's basic assumption is that a bargaining situation has a determinate solution at least in one special case, viz., in case the situation is completely symmetrical with respect to the two players. In this case it is a natural prediction that the two players will agree on equal payoffs to both of them, because neither player will have any reason to grant to his opponent better terms than the latter is prepared to grant to him... In brief, a symmetric game must have a unique symmetric solution. By adopting this symmetry postulate, Nash goes beyond both classical economics and the von Neumann-Morgenstern theory. Fundamentally the justifica-

109

tion of this postulate is based on the analysis of the two player's mutual expectations about each other's behavior: In a symmetric game neither player can rationally expect, that a rational opponent will grant him better terms than he himself is willing to concede.“ 150 In diesem Zitat von Harsanyi wird die der Nash-Lösung und auch einigen anderen Verhandlungstheorien zugrunde liegende Intuition sehr deutlich. Es gibt einen intuitiv klaren Fall der Verhandlung, nämlich den Fall der vollständigen Symmetrie der Verhandlungsteilnehmer. In diesem Fall sagt die Intuition, dass es nur eine Lösung geben kann, nämlich die Gleichverteilung. Die von Harsanyi angeführte Argumentation für diese Gleichverteilung stützt sich auf wechselseitige rationale Erwartungen. Wir finden genau dieselbe Argumentation bei Gauthier in seiner Annahme der Konzessionsbereitschaft (willingness to concede).151 Er will dort erklären, warum rationale Akteure gleich große Zugeständnisse machen. Er beruft sich bei dieser Erklärung auf eine weitere Annahme, nämlich die Annahme der gleichen Rationalität aller Verhandlungsteilnehmer. Wie ich in der ausführlichen Analyse dieser Annahme noch zeigen werde, lässt sich diese Annahme aber nicht aus dem von Gauthier vorausgesetzten Rationalitätsbegriff ableiten.152 Vielmehr muss man sie als eine empirische Annahme hinsichtlich der psychischen Eigenschaften der Teilnehmer verstehen. Auch die eben zitierte Passage von Harsanyi gibt keinen Aufschluss darüber, wie man sich die Verbindung zwischen den symmetrischen Erwartungen der Teilnehmer und deren Rationalität vorzustellen hat.

150

J. C. Harsanyi: Rational behavior and bargaining equilibrium in games and social situations (1977), 144. 151

MbA, 143. Vgl. Zitat auf S. 139.

152

Vgl. Abs. III.G.2 auf S. 253.

110

Mit der Symmetrie-Annahme wollte Nash ursprünglich die Gleichheit der Verhandlungsfähigkeit der beiden Verhandlungsteilnehmer ausdrücken.153 Diese schließt auch ihre individuelle Risikoaversion ein.154 Da die Teilnehmer in einer Verhandlungssituation das Verhandlungsverhalten der anderen Teilnehmer nicht mit Sicherheit vorhersehen können, können sich ihre Präferenzen nicht unmittelbar auf konkrete Verhandlungsergebnisse beziehen, sondern nur auf Lotterien über diese Verhandlungsergebnisse. Hier kommt dann ihre Einstellung gegenüber Risiken zum Tragen. Eine Ungleichheit der Verhandlungsfähigkeiten wirkt sich in realen Verhandlungssituationen maßgeblich auf das Verhandlungsergebnis aus. In dem Aufsatz Two-Person Cooperative Game hat Nash eine allgemeinere Interpretation der Symmetrie-Annahme vertreten, aus der sich die eben genannte aber ableiten lässt. Danach soll durch das Symmetrie-Axiom sichergestellt werden, dass die Lösung des Verhandlungsproblems ausschließlich durch die Nutzenfunktionen der Spieler und die ihnen zur Verfügung stehenden Strategien bestimmt wird.155 Nash begründet diese Änderung der Interpretation damit, dass Verhandlungsfähigkeiten sich in realen Verhandlungssituationen auf das gegenseitige Täuschen beschränken würden. Dazu kann es aber aufgrund der Definition des Verhandlungsspieles gar nicht kommen. Die Definition legt fest, dass die Spieler rational sind sowie voll153

J. F. Nash: „The Bargaining Problem“ (1950), 155: „In general terms, we idealize the bargaining problem by assuming that the two individuals are highly rational, that each can accurately compare his desires for various things, that they are equal in bargaining skill, and that each has full knowledge of the tastes and preferences of the other." Ebda, 159: „The third [assumption] expresses equality of bargaining skill.” Mit der dritten Annahme meint Nash hier das Symmetrie-Axiom. Vgl. hierzu A. E. Roth: Axiomatic Models of Bargaining (1979), 17. Auch Roemer interpretiert in J. E. Roemer: Theories of Distributive Justice (1996), 54f. das Symmetrie-Axiom von Nash in dieser Weise: „Nash motivates the axiom as one asserting that the players have equal bargaining skill. If the two players have identical preferences over lotteries, then the problem can be represented by choosing the same von Neumann-Morgenstern utility function for them, giving rise to a symmetric set S with a threat point of (0,0). Equal bargaining skill means they should reach a bargain in which each receives the same utility.” 154

M. J. Osborne und A. Rubinstein: Bargaining and Markets (1990), 9f.: „The players' attitudes toward risk play a central role in Nash's theory." 155

J. F. Nash: „Two-Person Cooperative Games“ (1953), 138.

111

ständige und richtige Informationen über die eigenen Nutzenfunktionen und auch diejenigen aller anderen Spieler besitzen. Täuschungsversuche zielen aber darauf, dass man die anderen Spieler durch Angabe falscher Informationen über die eigenen Nutzenfunktionen zur Konstruktion falscher Strategien verführt. Daher ist in einem so definierten Verhandlungsspiel Täuschung nicht möglich und Verhandlungsfähigkeiten folglich irrelevant. Es ist allerdings erstaunlich, wie aus der Irrelevanz eines Faktors auf die Symmetrie der Lösung geschlossen werden kann. Hier kommt wieder die egalitäre Intuition zum Vorschein, dass bei vollständiger Abwesenheit relevanter Faktoren eine symmetrische Lösung das zwar vorläufige, aber doch legitime Ergebnis ist. Im Abschnitt über das Selbstverständnis der Verhandlungstheorien sind bereits verschiedene Interpretationsmöglichkeiten für eine Verhandlung diskutiert worden. Am Symmetrie-Axiom kann man sehen, zu welchen unterschiedlichen Ergebnissen man in der Deutung des Axioms im Rahmen verschiedener Interpretationen der Verhandlung gelangt. Wird die Verhandlungslösung als ein Schiedsspruch verstanden, dann können aus der Verhandlungssituation alle Zustände und Eigenschaften der Teilnehmer ausgeschlossen werden, die für das Fällen eines Schiedsspruches als irrelevant angesehen werden. Dies trifft unmittelbar auf die Verhandlungsfähigkeiten der Teilnehmer zu. Wenn eine Verhandlungslösung durch einen Schiedsspruch zu Stande kommt, dann findet gar keine Verhandlung statt, sondern man überlässt die Entscheidungsfindung einem, wenn auch nur imaginierten, Schiedsmann. Somit gibt es auch keine Möglichkeit, die Verhandlungsfähigkeiten bei der Entscheidungsfindung einzubringen. Es gibt auch keinen ersichtlichen Grund, weshalb ein Schiedsmann die Verhandlungsfähigkeiten der Teilnehmer für verteilungsrelevant halten sollte. In einer Verhandlungstheorie, die die Verhandlungslösung als ein Schiedsspruch versteht, kann man das Symmetrie-Axiom also nicht auf gleiche Verhandlungsfähigkeiten der Teilnehmer zurückführen. Gauthier versucht, die Verhandlungslösung nicht als einen Schiedsspruch zu interpretieren, sondern als das Resultat einer kompetitiven Interaktion rationaler Akteure. Betrachtet man das Symmetrie-Axiom aus dieser Perspektive, dann werden Verhandlungsfähigkeiten für das Verständnis relevant. Wie gut das Ergebnis der Verhandlung für einen Teilnehmer ausfällt, hängt dann offensichtlich davon ab, wie gut er verhandeln kann. Eine

112

symmetrische Ausgangssituation anzunehmen, heißt dann auch anzunehmen, dass die Teilnehmer gleiche Verhandlungsfähigkeiten besitzen. Gauthier macht in MbA zwar nicht die explizite Annahme, dass die Teilnehmer gleiche Verhandlungsfähigkeiten haben, aber er macht die Annahme der gleichen Rationalität der Teilnehmer.156 Die Annahme der Gleichheit der Rationalität führt ihn zu dem Schluss, dass alle Teilnehmer an der Verhandlung gleich große relative Zugeständnisse machen. In ihrer Auswirkung auf das Verhandlungsergebnis fungiert die Rationalität als eine Verhandlungsfähigkeit. Im Übrigen scheint Gauthier das Symmetrie-Axiom nicht für besonders begründungsbedürftig zu halten. In Bargaining and Justice ist ihm die Akzeptanz des Symmetrie-Axioms gerade einmal einen Satz wert: „Symmetry seems an evident requirement; if nothing in the information enables us to distinguish the actors, then the solution equally should not distinguish them.“ 157 Aus diesem Satz geht aber sehr klar hervor, wie Gauthier das SymmetrieAxiom interpretiert. Die Ununterscheidbarkeit, also die Symmetrie, stützt sich nicht nur auf die Nutzenfunktion oder bestimmte Teilaspekte der Spieler, sondern sie sollen anscheinend in jeder Hinsicht ununterscheidbar sein. Dies wäre natürlich eine völlig überzogene Anforderung an eine Verhandlung, aber in diesem Aufsatz fehlt eine weitere Spezifizierung. In MbA findet man schon etwas konkretere Aussagen. Wie ich noch ausführlich im Zusammenhang der Diskussion der Annahme der gleichen Rationalität und des Provisos darstellen werde, intendiert diese Annahme ein Machtgleichgewicht zwischen den Verhandlungsteilnehmern. Die Nash-Lösung. Aus den vier o. g. Axiomen kann man formal eindeutig eine Lösung des Verhandlungsproblems ableiten. Die Lösungsfunktion F wird als Nash-Theorem bezeichnet und lautet:

156

MbA, 143.

157

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 31.

113 n

n

i= 1

i= 1

F ( S , d ) = x| x ≥ d ∧ ∏ ( xi − di ) > ∏ ( yi − di ) für alle y in S, so dass y ≥ d ∧ y ≠ x. di = ( ud 1, ud 2,..., udi ) xi = ( ux1, ux 2,..., uxi ) yi = ( uy1, uy 2,..., uyi ) n = Anzahl der Spieler

Formel 1: Nash-Theorem Für die Anwendung des Nash-Theorems müssen dessen Variablen und Ausdrücke eindeutig interpretierbar sein. Für die vorkommenden Variablen ist dies problemlos möglich. S ist der alle möglichen Verhandlungsergebnisse enthaltende Lösungsraum des Verhandlungsspiels, di ist der Konfliktpunkt und gibt den Nutzen der Spieler für den Fall an, dass die Verhandlung scheitert. ui sind die Nutzenfunktionen der Spieler und stehen für deren Präferenzenordnung. xi gibt den Nutzen der Spieler für den Fall der NashLösung an. yi gibt den Nutzen der Spieler für alle anderen möglichen Verhandlungsergebnisse des Lösungsraumes S an, die nicht mit der Nash-Lösung x identisch sind und für alle Spieler einen größeren Nutzen erbringen als im Konfliktfall. udi ist der Nutzen des Spielers i im Konfliktpunkt d. Analog dazu sind uxi und uyi zu verstehen. Wie aus der Lösungsform zu ersehen ist, wird die Lösung allein durch die Vorgabe von S und d eindeutig bestimmt. Andere Parameter sind für die Lösung irrelevant. Für andere Elemente des Nash-Theorems ist die Interpretation aber unklar. Hier ist das Produkt der Nutzenfunktionen ui sowie dessen Maximum zu nennen. Wofür steht das Produkt von zwei Nutzenfunktionen? Auf was bezieht sich die resultierende Einheit >Nutzen2' ? Welche Bedeutung hat die Maximierung dieses Produktes? Man kann natürlich über die Nash-Axiome eine implizite Definition der Nash-Lösung angeben. Danach ist die NashLösung als die Nutzenverteilung zu verstehen, die die Nash-Axiome erfüllt. Ohne eine explizite Definition kann man aber nicht verstehen, worin inhaltlich die Lösung des Verhandlungsproblems besteht. Wenn nicht klar ist, wofür das Produkt u x v steht, dann kann man auch nicht erklären, welches Interesse die Spieler an der Maximierung dieses Produktes haben könnten. Eine explizite Definition ist aber bei Nash nicht zu

114

finden.158 Die implizite Definition besagt lediglich, dass die Nash-Lösung genau die Nutzenverteilung ist, die das Verhandlungsproblem löst, da sie die Anforderungen der Nash-Axiome erfüllt. Das lässt aber offen, weshalb man gerade die Nash-Lösung als rational ansehen sollte, wenn in ihr nicht der Nutzen eines Spielers maximiert wird, sondern das Produkt der Nutzenfunktionen der Verhandlungsteilnehmer. Wie soll man dann aber einen Spieler davon überzeugen, dass es in seinem Interesse ist, das Produkt zweier Nutzenfunktionen zu maximieren? Spieler haben kein unmittelbares Interesse an den Inhalten der Nash-Axiome wie Pareto-Optimalität, Symmetrie, Transformationsinvarianz etc. Der Zusammenhang von individueller Nutzenmaximierung und der Maximierung des Produktes der Nutzenfunktionen bleibt ungeklärt. Das Nash-Theorem gibt für den Fall eines Spiels mit einem konstanten Wert für die Summe der Verteilungsergebnisse (u + v = k) eine Gleichverteilung (u = v) vor.159 Die Funktion u x v hat genau im Punkt u = v ihr Maximum. Das trifft auch auf Verhandlungsspiele mit asymmetrischem Ausgangspunkt zu. Da die Funktion u x v als Lösung des Verhandlungsproblems aus den vier o. g. Axiomen abgeleitet ist, resultiert die Egalität der Nash-Lösung mittelbar aus diesen Axiomen. Für meine Untersuchung ist es wichtig zu klären, wie die Egalität in die Nash-Lösung kommt und warum 158

A. Rubinstein greift dieses Problem in A. Rubinstein: „On the Interpretation of Two Theoretical Models of Bargaining" (1995), 124-126 auf und macht in Anlehnung an Zeuthen einen Vorschlag für eine Interpretation der Nash-Lösung. 159

Hier der Beweis in Kurzform: Behauptung: Unter der Bedingung, dass u + v = k (k = konstant), ist u x v für u = v maximal. Beweis: u + v = k ] v = k - u f(u) = u (k - u) ] f(u) = uk - u2 f=(u) = k - 2u; (1. Ableitung von f(u)) Extremum ist Nullstelle der 1. Ableitung k - 2u = 0 u = k/2 Ist die 2. Ableitung negativ ! Maximum f´´(u) = -2 k/2 ist Maximum von f(u) Y u + v = k v u = k/2 Y u + v = 2u ] u = v Y u x v ist maximal, wenn u = v q. e. d.

115

ausgerechnet nur eine egalitäre Lösung eine befriedigende Antwort auf das Verhandlungsproblem sein soll. Die Antwort auf diese Frage erhält man, wenn man sich das erste und das vierte Nash-Axiom zusammen ansieht. Das Axiom der Transformationsinvarianz hat zur Folge, dass für jedes beliebige Verhandlungsspiel ein symmetrischer Ausgangspunkt konstruiert werden kann. Dieser wird in grafischen Darstellungen von Verhandlungsspielen in der Regel in den Koordinatenursprung (0;0) gelegt. Im Fall eines Nullsummenspiels mit einer konstanten Größe des kooperativen Mehrwerts ergibt sich dann ein symmetrischer Lösungsraum mit einer Geraden als Pareto-Grenze. Damit ist die Bedingung erfüllt, die im Symmetrie-Axiom gefordert wird. Folglich muss auch das Verteilungsergebnis symmetrisch sein.

1.5

1

Paretogrenze

0.5

F

0

Abb. 2: Symmetrische Verteilung Hier wird deutlich, welche Auswirkungen das Symmetrie-Axiom auf die Art des Verteilungsergebnisses hat. Wenn man sich daraufhin die Gründe bzw. Motive für die Einführung dieses Axioms vergegenwärtigt, nämlich unter-

116

stellte Gleichheit bzw. Irrelevanz von Verhandlungsfähigkeiten bzw. die Beschränkung auf die Nutzenfunktion als relevante Eigenschaften für die Bestimmung der Verhandlungslösung, dann kann man die resultierende Gleichverteilung nicht als rational zwingend bezeichnen. Diese Feststellung wird dadurch unterstützt, dass man in der Spieltheorie auch asymmetrische Lösungsvorschläge für das Verhandlungsproblem findet. Im nächsten Abschnitt werde ich eine asymmetrische Lösung vorstellen, die eine nur ganz geringfügige Variante der Nash-Lösung ist.

3. Die asymmetrische Nash-Lösung von Kalai Kalai hat 1977 eine Kritik am Nash-Theorem geübt, die sich im Wesentlichen auf das Symmetrie-Axiom bezieht.160 Seiner Ansicht nach bleiben durch das Symmetrie-Axiom Faktoren unberücksichtigt, die in realen Verhandlungssituationen ausschlaggebend für das Ergebnis sein können und oft ungleich unter den Teilnehmern verteilt sind. Hierzu zählt er z. B. Verhandlungsgeschick und Verhandlungsmacht. Als Alternative zur Nash-Lösung schlägt Kalai die asymmetrische Nash-Lösung vor, in der die Axiome 1-3, aber nicht das Symmetrie-Axiom enthalten sind. Dafür wird ein Gewichtungsfaktor eingeführt, in den die angesprochenen unberücksichtigten Faktoren eingehen.161 Kalai zeigt, dass bestimmte Iterationen von n-Personen-NashLösungen zu asymmetrischen 2-Personen- Nash-Lösungen führen. Er weist nach, dass sich jede asymmetrische 2-Personen-Nash-Lösung auf diese Weise aus symmetrischen n-Personen-Nash-Lösungen herleiten lässt.

160

E. Kalai: „Nonsymmetric Nash Solutions and Replication of 2-Person Bargaining“ (1977), 129-133.

161

B. Barry: Theories of Justice (1989), 392: „We have no interest in the process by which the outcome is reached. What we want is in fact exactly what the Nash solution (and splitting difference, too [hier ist das MRC-Prinzip von Gauthier gemeint; Anm. d. Verf.] delivers. That is to say, we want a predicted outcome of bargaining that reflects the bargaining power of the parties. ”

117

Die von Kalai vorgeschlagene asymmetrische 2-Personen Nash-Lösung lautet: H ( S , d ) = ( x 1 − d 1 ) τ × ( x 2 − d 2 ) 1−τ

Formel 2: Asymmetrische 2-Personen Lösung τ bzw. τ-1 bezeichnen die Machtverhältnisse, d. h. hier die Verhandlungsmacht der Verhandlungsteilnehmer. Bei gegebenen Konfliktpunkt d wird die Lösung von S(x1;x2) durch die Maximierung von S ermittelt. Die symmetrische Nash-Lösung lässt sich als Sonderfall der asymmetrischen Nash-Lösung von Kalai verstehen. Die beiden Gewichtungsfaktoren τ und 1-τ haben dann denselben Wert, nämlich 0,5. Diese modifizierte Nash-Lösung erlaubt eine plausible Erklärung der Abweichungen empirischer Verhandlungsergebnisse von den von der NashLösung prognostizierten Ergebnissen.162 Damit ist diese Variante der NashLösung in einigen für die Ökonomie besonders wichtigen Verhandlungssituationen mit ungleichen Verhandlungspartnern, wie z. B. Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitnehmern, in der Anwendung der herkömmlichen Nash-Lösung überlegen und findet dementsprechend in diesen Bereichen eine intensivere Anwendung.163 Diese Lösung von Kalai wird hier deshalb angeführt, um zu verdeutlichen, dass die verschiedenen Konzeptionen der Verhandlungstheorien mit deren unterschiedlichen Zwecken bzw. Zielsetzungen zu tun haben. Wenn man eine Verhandlungslösung konstruieren will, die möglichst gut reale Verhandlungssituationen rekonstruieren bzw. prognostizieren soll, dann muss man die wichtigen Faktoren realer Verhandlungen in den Annahmen über die Verhandlungssituation und den Axiomen entsprechend berücksichtigen. Das gilt entsprechend auch für die Konstruktion fairer Verhandlungslösungen. 162

Vgl. hierzu M. J. Osborne und A. Rubinstein: Bargaining and Markets (1990) oder J. Svejnar: „Bargaining Power, Fear of Disagreement, and Wage Settlements - Theory and Evidence from U. S. Industry" (1986).

163

Vgl. hierzu E. Bart und J. Zweimüller: „Relative Wages under Decentralized and Corporatist Bargaining Systems" (1995), L. Goerke und M. J. Holler: Arbeitsmarktmodelle (1996) oder P. A. Grout: „Investment and Wages in the Absence of Binding Contracts" (1984).

118

Dabei schließen sich die genannten Zielsetzungen nicht zwangsläufig aus. Reale Verhandlungen können auch sehr fair sein, wenn für beide Verhandlungspartner aus Pflicht oder aus irgendeinem anderen Grund Fairness ein wichtiges Kriterium für die Verhandlung ist. Die Festlegung der Axiome in axiomatischen Verhandlungstheorien wird nicht ausschließlich durch Kriterien bestimmt, die der Verhandlung inhärent sind, sondern auch durch den beabsichtigten Anwendungskontext der Theorie.

4. Die Monotonie-Lösung von Kalai-Smorodinsky In diesem Abschnitt wird die Verhandlungstheorie besprochen, auf die Gauthier seine eigene Theorie unmittelbar aufbaut. In der Literatur über die Verhandlungstheorien ist das Nash-Axiom über die Unabhängigkeit irrelevanter Alternativen sehr stark kritisiert worden.164 Kalai und Smorodinsky haben aufgrund dieser Kritik eine alternative Theorie entwickelt, in der sie dieses Axiom durch ein Monotonie-Axiom ersetzten.165 Die Monotonie-Lösung hat gegenüber der Nash-Lösung zudem den Vorteil, dass sie auch bei Replikationen in evolutorischen Spielen die Symmetrie-Eigenschaft beibehält.166 Darüber hinaus sehen sie ihre Lösung in besserer Übereinstimmung mit empirischen Verhandlungssituationen als die Lösung von Nash. Kalai und Smorodinsky stellen an eine Verhandlungslösung die Anforderung, dass sie die Zustimmung aller Verhandlungsteilnehmer erhält. Darüber hinaus machen sie noch spezielle Annahmen für das Verhandlungsspiel. Ein Verhandlungsspiel wird als Paar (S, d) beschrieben, wobei d für den Konfliktpunkt (ud, vd) steht und S die Menge der Nutzenverteilungen (xi = (ui, vi)) der möglichen Verhandlungsergebnisse ist. Das Verhandlungsspiel soll dann folgende Eigenschaften besitzen: 164

Vgl. R. D. Luce und H. Raiffa: Games and Decisions (1957), 128-134.

165

E. Kalai und M. Smorodinsky: „Other Solutions to Nash's Bargaining Problem“ (1975), 513-518. 166

E. Kalai: „Nonsymmetric Nash Solutions and Replication of 2-Person Bargaining“ (1977), 129-133. Zu evolutorischen Spielen siehe M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), Kapitel 8.

119

1. ›xi (xi 0 S*xi > d, ui > ud v vi > vd), d. h. die Verhandlungssituation muss Lösungsmöglichkeiten enthalten, die für beide Teilnehmer eine Verbesserung gegenüber dem Konfliktpunkt sind. 2. S ist konvex. Das heißt, jeder Punkt einer Verbindungslinie von zwei Elementen der Menge S ist auch Element von S. Wenn x und y mögliche Lösungen in S sind, dann sind bei Neumann-Morgenstern-Nutzenfunktionen (u, v) im Fall der Vereinbarung gemischter Strategien auch alle Randomisierungen über x und y mögliche Lösungen.167 Diese Randomisierungen sind alle konvexe Kombinationen von x und y, d. h. alle Punkte auf der Verbindungslinie zwischen x und y. Hier wird lediglich zum Ausdruck gebracht, dass in Neumann-Morgenstern-Nutzenfunktionen mit Erwartungsnutzen gerechnet wird und nicht der Nutzen von diskreten Ereignissen zugrunde gelegt wird. 3. S ist kompakt. Das heißt, S ist abgeschlossen und beschränkt. Dies ergibt sich aus der Annahme, dass gemischte Strategien möglich sind und dass es nur endlich viele reine Strategien gibt. 4. d # x für alle x 0 S. Die Elemente x aus S, die dieser Bedingung nicht genügen, können aus S ausgeschlossen werden, da sie als Lösungen nach Annahme 1 nicht in Frage kommen. Gauthier übernimmt in MbA die Lösungsfunktion von Kalai-Smorodinsky und geht daher auch von den genannten Annahmen über das Verhandlungsspiel aus.168

167

In der Spieltheorie wird zwischen reinen und gemischten Strategien unterschieden. Unter einer gemischten Strategie versteht man bei zwei möglichen Optionen A und B eine Strategie, die besagt, dass mit einer Wahrscheinlichkeit x die Option A und mit einer Wahrscheinlichkeit y die Option B gewählt wird (x und y sind ungleich 1 oder 0). Eine reine Strategie legt sich entweder auf A oder auf B fest. 168

MbA, 130.

120 1.1 m

1 KS(R,d)

0.9 0.8 0.7 B

F(R,d)

0.6

F(P,d) = KS(P,d)

0.5

R

0.4 0.3

P

0.2

L(d,m)

0.1

d

0 0

0.1

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

0.7

0.8

0.9

1

1.1

A

Abb. 3: Monotonie-Lösung (Nach Holler / Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 215). Die Kalai-Smorodinsky-Lösung unterscheidet sich von der Nash-Lösung F in der Lösungsbestimmung dadurch, dass sie die Verhandlungslösung von einem hypothetischen Idealpunkt m aus bestimmt. Dieser Idealpunkt stellt das Verhandlungsergebnis dar, bei dem beide Verhandlungspartner ihre Maximalforderung bekommen würden. Da dies in der Regel nicht möglich ist, liegt der Idealpunkt außerhalb des Lösungsraumes. Nun wird eine Gerade L(d,m) zwischen dem Idealpunkt m und dem Konfliktpunkt d gebildet. Das Verhandlungsergebnis liegt im Schnittpunkt der Pareto-Grenze des Lösungsraumes mit der Geraden L(d,m). Die Lösung wird durch die folgende Funktion KS beschrieben: u*, v*: Nutzen von A, B in der v * − vd Lösung vm − vd KS : = ud, vd:Nutzen von A, B im Konfliktu * − ud u m − ud punkt um, vm: Nutzen von A, B im IdealFormel 3: Funktion KS punkt

121

Bei symmetrischen Verhandlungsspielen sind die Ergebnisse der NashLösung, der Kalai-Smorodinsky-Lösung und des MRC-Prinzips von Gauthier identisch. In diesem Fall ist das Maximum von uHv auf der Nutzengrenze immer gleichzeitig der Schnittpunkt mit der Geraden L(c,m). Im Zusammenhang mit der Theorie Gauthiers ist es interessant, sich den Einwand anzusehen, den speziell Kalai und Smorodinsky gegen die NashLösung machen und dem sie durch die von ihnen vorgeschlagene Alternative zu entgehen meinen.169 Sie führen gegen die Nash-Lösung ins Feld, dass sie nicht monoton ist. Das von ihnen zugrunde gelegte Monotonie-Axiom hat folgenden Inhalt: Wenn P und R Lösungsräume sind, die denselben Konfliktpunkt d haben, P eine Teilmenge von R ist und es für jedes mögliche paretooptimale Verhandlungsergebnis von P ein Element von R gibt, das beiden Teilnehmern einen größeren Nutzen zuweist, dann gilt für eine monotone Lösung F: F(R, d) $ F(P, d).170 Wie aus Abb. 3 ersichtlich ist, stellt R gegenüber P eine generelle Verbesserung des Auszahlungsraumes dar. Für jede Forderung, die Teilnehmer A in der Verhandlung macht, ist für Spieler B in der Verhandlungssituation R im Vergleich zur Verhandlungssituation P ein besseres Verhandlungsergebnis erreichbar. In solchen Fällen kann die Nash-Lösung F(R,d) dem Spieler B in der Verhandlungssituation R ein Verhandlungsergebnis mit einem für ihn geringeren Nutzen zuweisen als in der Verhandlungssituation P. Damit verstößt die Nash-Lösung gegen das o. g. Monotonie-Axiom. Monoton verhält sich eine Lösungsfunktion dann, wenn jede Hinzunahme von besseren Lösungsmöglichkeiten auch zu einer Verbesserung der Verhandlungslösung führt. Besser ist eine Lösungsmöglichkeit bzw. Lösung dann, wenn sie beiden Spielern einen größeren Nutzen zuweist. Die dem Monotonie-Axiom zugrunde liegende Intuition besteht darin, dass im Falle einer generellen Verbesserung der Verhandlungssituation nicht ein Teilnehmer schlechter gestellt werden darf. Dieses „dürfen" wird aus einer Konzeption der Fairness

169

Holler und Illing zeigen in Einführung in die Spieltheorie (2003), 221-224, dass auch die von Kalai und Smorodinsky vorgeschlagene Lösung das Problem nicht beheben kann. 170

E. Kalai und M. Smorodinsky: „Other Solutions to Nash's Bargaining Problem“ (1975), 515.

122

abgeleitet.171 Danach müssen allgemein entstehende Vorteile an alle Teilnehmer weitergeleitet werden. Es ist sehr aufschlussreich, dass Gauthier seiner Moraltheorie gerade eine Verhandlungstheorie zugrunde legt, deren Entstehungsgrund die mangelnde Berücksichtigung der Fairness in der Verhandlungstheorie von Nash ist. Angesichts dieses Befundes ist der Anspruch Gauthiers, seine Moraltheorie ausschließlich auf Rationalität zu begründen, stark in Frage gestellt. Die Theorie von Kalai-Smorodinsky ist zwar keineswegs irrational, aber sie ist nur eine von vielen Möglichkeiten, das Verhandlungsproblem zu lösen. Wenn Gauthier aus einer solchen Verhandlungstheorie moralische Aussagen ableitet, dann gründen diese Aussagen auf einer moralisch motivierten Auswahl von Axiomen. In keinem der Axiome muss unmittelbar oder explizit ein moralischer Inhalt enthalten sein, aber der Grund für die Auswahl des Axioms kann darin bestehen, dass man ein moralkonformes Ergebnis erzielen möchte. Dem Nutzenmaximierer gegenüber muss man diese Auswahl begründen können, und zwar ohne Rückgriff auf moralische Intentionen. Eine solche Begründung würde aber darauf hinauslaufen, zu zeigen, dass die durch die Auswahl der Axiome intendierte Fairness der Verteilung für den Nutzenmaximierer von Vorteil ist. Aber damit wären wir genau am Ausgangspunkt des ganzen Projekts einer rationalen Moralbegründung: Ist es rational, moralisch zu sein? Die Wahl des Symmetrie-Axioms oder des Monotonie-Axioms führt zumindest der Tendenz nach zu einem egalitären Verhandlungsergebnis und bringt somit den Aspekt der Unparteilichkeit in das Verhandlungsergebnis. Die Gründe für die Auswahl dieser Axiome lassen sich aber ohne den Rückgriff auf moralische Motive oder Ideen nicht plausibel machen. Ohnehin werden diese Motive, wie schon öfter angemerkt, in der entsprechenden Literatur der Spieltheorie explizit genannt. Dort unterliegt man nicht der Selbstbeschränkung, keine moralischen Annahmen in die Voraussetzungen der Verhandlungstheorien eingehen zu lassen, so wie dies für Gauthier aufgrund seiner Zielsetzung zwingend der Fall ist. Zwar sind die hier angesprochenen moralischen Voraussetzungen der Verhandlungstheorien nicht 171

Ebda, 515. Vgl. auch M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 214f.

123

besonders anspruchsvoll, aber ihre Auswirkungen in Bezug auf die Ergebnisse der Verhandlungstheorien sind doch gravierend. Denn die Auswirkungen müssen in Relation zum Umfang der Moral gesehen werden, den Gauthier durch seine Theorie generieren kann. Wie Gauthier selber zugesteht, ist seine Moral nur eine Minimal-Moral. Das bedeutet, dass Auswirkungen, die im Bezug zur sehr weit reichenden traditionellen Moral vielleicht als gering einzustufen sind, in Gauthiers Minimalversion der Moral verhältnismäßig bedeutsam werden.

C. Gauthiers Antwort auf das Verhandlungsproblem MbA wird sowohl in der Moralphilosophie als auch in der Spieltheorie immer wieder als eine der konsequentesten und überzeugendsten Theorien des modernen moralischen Kontraktualismus gelobt. Aber weder in der Moralphilosophie noch in der Spieltheorie findet man eine detaillierte Diskussion der Verhandlungstheorie in MbA, dem Herzstück der ganzen Theorie. Weshalb in der Spieltheorie eine solche Diskussion ausgeblieben ist, lässt sich aus nachfolgendem Zitat von Binmore gut erkennen. „Gauthiers Morals by Agreement is dismissive of >infighting among bargaining theorists=, rather as Rawls is dismissive of the arguments of Bayesian decision theorists. And just as Rawls proposes his own idiosyncratic resolution of the difficulties that Bayesian decision theory addresses, so Gauthier proposes his own idiosyncratic resolution of the bargaining problem.“ 172 Ein ganz wesentlicher Grund, weshalb man in der Spieltheorie die Theorie Gauthiers als sehr eigenwillig beurteilt und folglich mit sehr viel Skepsis begegnet, ist seine Modifikation des Rationalitätsbegriffes. Auf diesen Punkt werde ich im Abs. III.G.1 ab S. 211 noch ausführlich eingehen. Hier soll nur darauf hingewiesen werden, dass Gauthiers Verhandlungstheorie sich nicht auf eine allgemeine Zustimmung unter Spieltheoretikern stützen kann. Auch wenn dieser Befund allein zu keinem Urteil über die Richtigkeit oder Qualität

172

K. Binmore: Playing Fair (1995), 80.

124

der Theorie Gauthiers berechtigt, so ist er aber ein guter Grund für eine besonders sorgfältige Auseinandersetzung mit der Theorie. Bedingungen der Verhandlung. Die Verhandlung wird von Gauthier in Rahmenbedingungen eingebunden, die seine Rationalität gewährleisten sollen. Hier sollen zunächst drei wesentliche genannt werden:173 1. Durch die Verhandlung wird kein Teilnehmer schlechter gestellt als im Status quo.174 Damit die freiwillige Teilnahme an der Verhandlung für einen Nutzenmaximierer rational sein kann, darf sie für ihn nicht von Nachteil sein. 2. Täuschung, Betrug und Gewalt sind in der Verhandlung ausgeschlossen. Mit dieser Bedingung sind die Bedingungen von Marktinteraktionen wiedergegeben. Wie auch dort gilt bei Verhandlungen, dass die Teilnahme nur dann für jede Person rational sein kann, wenn Täuschung, Betrug und Gewalt abwesend sind. Die zugrunde liegende Intuition ist hier, dass man es mit wechselseitig vorteilhaften Interaktionen zu tun hat. Zu solchen muss man nicht gezwungen werden, sondern man nimmt freiwillig an ihnen teil. 3. Die Ausgangssituation der Verhandlung ist fair. Dies ist keine Annahme, die Gauthier zu Beginn seiner Verhandlungstheorie ad hoc macht. Vielmehr steht sie am Ende seiner Überlegungen über rationales Verhandeln, in denen er zeigen will, dass man nur dann zu einem für jeden rationalen Teilnehmer akzeptablen Ergebnis kommt, wenn man von fairen Ausgangsbedingungen startet. Diesen Punkt entwickelt Gauthier in MbA in seiner Konzeption des Provisos. Das Verhalten der Teilnehmer in der Verhandlung charakterisiert Gauthier durch die folgenden vier Kriterien: „1. Each person must propose the greatest utility for himself compatible with no person expecting less utility than from disagreement. 2. Given proposals satisfying 1, each person must suppose that there is a set of concessions leading to an outcome in the bargaining region such that every rational person is willing to make the

173

Nach Herlinde Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft (2000), 97.

174

MbA, 122.

125

concession required of him in the set, provided every other person is so willing. 3. Each person must be willing to make a concession (provided others are similarly willing) if its size (as measured by the Zeuthen formula) is not greater than the size of the largest concession that he supposes that some rational person is willing to make (again, provided that others are similarly willing). 4. No person is willing to make a concession if he is not required to do so by conditions 2 and 3.“ 175 Mit dem ersten Kriterium befindet sich Gauthier völlig in Übereinstimmung mit den Annahmen der gängigen Verhandlungstheorien. Es beinhaltet lediglich die Definition des Konfliktpunktes d. Das zweite Kriterium ist zwar auch in der Spieltheorie unstrittig, ist aber auf den ersten Blick nicht unbedingt plausibel. Der Inhalt dieses Kriteriums ist nichts weniger als die Forderung, dass jeder Teilnehmer annehmen muss, dass es eine Verhandlungslösung eines ganz bestimmten Typs gibt. Die Teilnehmer müssen also an die Existenz einer Verhandlungslösung glauben, um Teilnehmer der Verhandlung sein zu können. Wenn es aber tatsächlich eine rationale Lösung eines Verhandlungsproblems gibt, dann müsste es für das Auffinden dieser Lösung irrelevant sein, ob die Teilnehmer an die Existenz einer solchen Lösung glauben oder nicht. Auf das dritte Kriterium wird noch ausführlich im Abs. III.G.2 auf S. 253 eingegangen.

1. Das MRC-Prinzip Ausgangspunkt der Überlegungen Gauthiers zur Verhandlung ist die Feststellung, dass in Situationen, in denen der Markt als Mechanismus der Güterverteilung zu suboptimalen Ergebnissen führt, durch die Wahl von gemeinsamen kooperativen Strategien für alle Beteiligten ein größerer Nutzen erzielt werden kann als durch Strategien der individuellen Nutzenmaximierung. Bei der Konzipierung des Verhandlungsspieles gibt es viele Möglichkeiten, den Ablauf der Verhandlung zu formulieren. 175

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 37f.

126

Bei einer axiomatischen Verhandlungstheorie findet eine Verhandlung im herkömmlichen Sinne gar nicht statt. Aufgrund der aus den Axiomen abgeleiteten Lösungsfunktion gibt es für ein bestimmtes Verhandlungsproblem eine bestimmte Lösung. Jeder Teilnehmer stellt die Forderung, die er nach dieser Lösungsfunktion stellen kann. Es gibt hier also nur einen Verhandlungsschritt, der zugleich die Verhandlungslösung darstellt. Zugeständnisse im Sinne eines Abrückens von einer weitergehenden Forderung gibt es hier nicht. Anders verhält es sich in einer kompetitiven Verhandlungstheorie. In einem 2-Stufen-Verfahren wird zunächst von jedem Teilnehmer eine Forderung gestellt. Die Forderungen der Teilnehmer sind hier in der Regel nicht kompatibel, so dass sie in einer zweiten Runde so weit reduziert werden, dass sie miteinander kompatibel sind. In der ersten Runde stellen die Teilnehmer eine Maximal-Forderung, von der ausgehend sie dann ein Zugeständnis den anderen Teilnehmern gegenüber machen. Man kann nun prinzipiell Verhandlungsspiele mit beliebig vielen weiteren zulässigen Runden konzipieren. Hier kommen in der Regel Kostenfaktoren des Zeitaufwandes und der für die Verhandlung benötigten Energie zum Tragen. Wenn die für eine Verhandlung notwendigen Investitionen größer werden als der durch die angestrebte Kooperation mögliche Vorteil, dann lohnt sich die Teilnahme an der Verhandlung nicht mehr. Mit diesen Problemen haben wir es aber bei Gauthier nicht zu tun. Denn sein Verhandlungsspiel ist ein 2-Stufen-Verfahren: 1. Jeder Teilnehmer stellt eine Maximal-Forderung. 2. Jeder Teilnehmer macht ein Zugeständnis. Gauthiers MRC-Prinzip geht von einer Anfangssituation der Verhandlung aus, in der alle Teilnehmer ihre Maximal-Forderung stellen, d. h. den maximal möglichen Anteil am kooperativen Mehrwert fordern. Um zu einer freiwilligen Einigung über die Verteilung zu kommen, müssen die Teilnehmer ihre Forderungen reduzieren und somit Zugeständnisse an die anderen Teilnehmer machen. Die möglichen Verteilungen des kooperativen Mehrwerts unterscheiden sich durch die unterschiedlichen Größen der Zugeständnisse. Sie unterscheiden sich aber auch noch durch die Größe des maximal und minimal erforderlichen Zugeständnisses, das jeweils einer der Teilnehmer bei einer Verteilung machen muss. Das Ziel des MRC-Prinzips ist, die Verteilung zu finden, bei der das größte Zugeständnis möglichst klein

127

ist, also die Größe des maximalen Zugeständnisses zu minimieren. Daher wird es als ein Minimax-Prinzip bezeichnet. Und da bei Gauthier die Größe des Zugeständnisses nicht in einem absoluten Wert angegeben wird, sondern in Relation zur Maximalforderung berechnet wird, bezeichnet er das Verhandlungsprinzip als principle of minimax-relative-concession (MRC). Zunächst werden wir uns das relative Zugeständnis (relative concession) als Teilkonzeption des MRC-Prinzips ansehen. Umax − Ufakt = Umax − Umin

relatives Zugeständnis (RC)

Formel 4: Relative Concession

Umax : Nutzen der maximalen Forderung Ufakt : der Nutzen des durch das MRC-Prinzip faktisch zugeteilten Anteils Umin : Nutzen im Status quo

RC kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Würde der Teilnehmer tatsächlich seine maximale Forderung Umax als Anteil durch die Verhandlung zugeteilt bekommen, dann müsste er kein Zugeständnis machen, d. h. Ufakt = Umax und damit wäre RC = 0. Der andere Extremfall wäre, dass der Teilnehmer gar keinen Anteil am kooperativen Mehrwert erhalten würde und somit ein maximales Zugeständnis an die anderen Teilnehmer machen würde, d. h. Ufakt = Umin und damit wäre RC = 1. Beide Extremfälle sind bei rationalen Teilnehmern nicht zu erwarten. Wenn ein Teilnehmer ein Zugeständnis von RC = 1 machen muss, dann hat er durch die Teilnahme an der Kooperation keinen Vorteil und somit keinen Grund, an der Kooperation teilzunehmen. Für den Fall, dass ein Teilnehmer kein Zugeständnis macht, also RC = 0 wäre, hätten gegebenenfalls alle anderen Teilnehmer keinen Vorteil durch die Kooperation, und deshalb wäre es für sie nicht rational, einem solchen Verhandlungsergebnis freiwillig zuzustimmen. Dadurch, dass Gauthier die Zugeständnisse hier in relativer und nicht in absoluter Form darstellt, werden die Zugeständnisse der Teilnehmer quantitativ miteinander vergleichbar. Mit der Konzeption des relativen Zugeständnisses umgeht Gauthier das Problem der Skalierung von Nutzeneinheiten. Das MRC-Prinzip besagt, dass die Strategie und somit die Verteilung des kooperativen Mehrwerts gewählt werden soll, bei der das maximale

128

relative Zugeständnis RC minimal ist. Wird für u und v der Erwartungsnutzen eingesetzt oder über einen kooperativen Mehrwert verhandelt, der aus einer endlichen Menge an zu verteilenden Gütern besteht sowie beliebig und vollständig aufgeteilt werden kann, so ist die Verteilung gefordert, bei der alle Teilnehmer ein gleich großes relatives Zugeständnis machen. Bei allen anderen Verteilungen wird notwendigerweise mindestens ein Teilnehmer ein größeres Zugeständnis machen müssen. Daher sind alle anderen Verteilungen aus Sicht des MRC-Prinzips der Gleichverteilung unterlegen. Wenn die umax korrelierende Menge des kooperativen Mehrwerts für alle Teilnehmer gleich groß ist, was z. B. der Fall sein kann, wenn der zu verteilende kooperative Mehrwert in einem Geldwert besteht und dieser für alle Teilnehmer denselben Nutzen hat, dann führt das MRC-Prinzip nicht nur zu einer NutzenGleichverteilung, sondern auch zu einer Güter-Gleichverteilung. Formal wird die Forderung des MRC-Prinzips in folgender Gleichung wiedergegeben: Umax − Ufakt Umax − Umin

=

Vmax − Vfakt Vmax − Vmin

U: Nutzen von Teilnehmer A V: Nutzen von Teilnehmer B

Formel 5: MRC-Prinzip

Eine Verteilung des kooperativen Mehrwerts nach dem MRC-Prinzip resultiert also immer in einer Gleichverteilung, wenn eine solche Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts möglich ist.176 Ist eine Gleichverteilung nicht möglich, weil der kooperative Mehrwert z. B. nicht beliebig teilbar ist, dann wird zumindest die Aufteilung des kooperativen Mehrwerts durch das MRCPrinzip bestimmt, die der Gleichverteilung am nächsten kommt. Gauthier hält die Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts im Gegensatz zu einer entsprechenden Ungleichverteilung für vernünftiger.177 Diese egalitäre Konsequenz des MRC-Prinzips wird in den folgenden Abschnitten kritisch untersucht.

176

MbA, 152f.

177

D. Gauthier: „Rational Co-operation" (1974), 62.

129

Bedeutung des relativen Zugeständnisses. Eine problematische Frage in der RCT, insbesondere bei deren Anwendung auf ethische Fragen, ist die Vergleichbarkeit der subjektiv verankerten Nutzenwerte der verschiedenen Individuen.178 Wenn in der Verhandlung die Nutzenfunktionen der verschiedenen Teilnehmer in die Lösungsfunktion integriert werden, dann kann man nur zu einer Lösung kommen, wenn die Einheiten der Nutzenfunktionen vergleichbar, d. h. ineinander überführbar sind. Auch Gauthier geht von einer subjektiven Nutzen-Konzeption aus, in der die Größe des Nutzens eines Zustandes für eine Person nicht nach einem objektiven Standard bestimmt wird, sondern durch eine subjektive Bewertung der jeweiligen Person. Gauthier will das Problem der Vergleichbarkeit der Nutzeneinheiten umgehen, indem er nicht direkt den Nutzen von zwei Spielern miteinander vergleicht, sondern den relativen Nachteil, den Spieler durch eine Minderung des Nutzens bei einem Zugeständnis in der Verhandlung haben. Dabei wird als Bezugspunkt nicht eine externe, für alle Spieler gleiche Größe genommen, sondern der für den jeweiligen Spieler maximal erreichbare Nutzen. Das bedeutet, dass nur ein Vergleich zwischen zwei Nutzenwerten derselben Person stattfindet. Die Proportionen, die aus diesem internen Vergleich resultieren, haben keine Einheiten mehr, sondern sind „absolute" Zahlen und können, so Gauthier, daher interpersonal verglichen werden.179 Es stellt sich aber die Frage, welche Bedeutung Werte ohne Einheiten überhaupt haben können. Die Bezeichnung als relatives Zugeständnis suggeriert, dass es sich hier um ein Zugeständnis handelt. Das ist es aber nicht. Es ist ein Quotient zweier Zugeständnisse und damit nichts weiter als eine Zahl. Was bedeutet es aber dann, wenn man die Größe des relativen Zugeständnisses des einen Spielers mit der Größe des relativen Zugeständnisses des anderen Spielers, also zwei absolute Zahlen miteinander vergleicht und fordert, dass diese gleich sein sollen? Gauthier verwendet die relativen Zugeständnisse in seiner Argumentation so, als ob es Zugeständnisse wären, an deren Minimierung ein Nutzenmaximierer ein berechtigtes Interesse hätte.

178 179

Vgl. hierzu S.-G. Kolm: Modern Theories of Justice (1996), 357.

Mathematisch gesehen kürzen sich durch die Quotientenbildung im MRC-Prinzip die Einheiten aus dem Bruch.

130

Warum sollte aber ein Nutzenmaximierer ein Interesse an der Minimierung der Proportion zweier Zugeständnisse haben? Man wird hier vielleicht einwenden wollen, dass man auch in anderen Kontexten Proportionen miteinander vergleicht, wie z. B. bei Prozentangaben. Aber auch in diesen Fällen ist ein Vergleich nur dann aussagekräftig, wenn die Prozentangabe durch vergleichbare Einheiten zu Stande kam. Wenn man einen Wein und ein Bier hinsichtlich ihres Alkoholgehaltes miteinander vergleicht, dann ist dieser Vergleich nur dann sinnvoll, wenn sich die Prozentangaben auf die gleiche Art von Messung beziehen. Der Alkoholgehalt eines Getränkes wird in der Regel in Volumen-Prozent gemessen und dementsprechend auch mit der Einheit %vol versehen. Bei chemischen Analysen hingegen wird der Alkoholgehalt oftmals in Gewichts-Prozent angegeben. Der Gewichtsanteil und der Volumenanteil von Alkohol unterscheiden sich in der Regel bei einem Getränk, obwohl sie am Startpunkt = 0% und am Endpunkt = 100% identisch sind. Ein Vergleich des Alkoholgehaltes ist nur dann sinnvoll, wenn sich die Prozent-Angaben auf dieselbe Eigenschaft beziehen. Das Problem der Nutzenmessung und der entsprechenden Skalierung ist nicht zu vergleichen mit der unterschiedlichen Skalierung von Längen in Meter, Meile, Fuß etc. oder der Skalierung von Temperatur in Grad Celsius, Fahrenheit oder Kelvin. Bei diesen verschiedenen Skalierungen sind nur die Einheiten unterschiedlich, aber die gemessene Eigenschaft ist immer dieselbe. Bei der Skalierung von individuellen Nutzenzuschreibungen ist aber eben nicht klar, welche Eigenschaft hier gemessen wird. Diese Unbestimmtheit überträgt sich direkt auf Proportionen von Nutzenzuschreibungen, wie z. B. die relativen Zugeständnisse im MRC-Prinzip. Genau genommen ist damit eine der zentralen Thesen in MbA, dass die relativen Zugeständnisse der Verhandlungsteilnehmer gleich groß sein sollen, also das MRC-Prinzip, inhaltlich unbestimmt. Rücknahme der Begründung für das MRC-Prinzip. Die vorliegende Untersuchung bezieht sich im Wesentlichen auf Gauthiers Theorie, so wie er sie in MbA präsentiert hat. An dieser Stelle möchte ich jedoch noch auf eine Entwicklung seiner Position eingehen, die mir für die Beurteilung sehr aufschlussreich erscheint. Gauthier hat 1993 aufgrund einer Kritik von

131

Rubinstein und Binmore 180 seine Begründung des MRC-Prinzips zurückgenommen. Nun beabsichtigt er, stattdessen eine an die Nash-Lösung angelehnte Begründung zu geben. „Must I then abandon MRC? My present view is this. The argument in Chapter V of MbA cannot stand in its present form. At most it may have heuristic value in presenting the idea of minimax relative concession as uniting rationality and morality. But the real work of defending MRC as a bargaining outcome, if as I still believe it is defensible, requires a different argument. It requires arguing that in the circumstances of the social contract, MRC coincides with the Nash bargaining solution.“ 181 Durch diese Rücknahme will Gauthier allerdings nur die Begründung für das von ihm vorgeschlagene Verteilungsergebnis ändern, nicht aber das Verteilungsergebnis selbst. Sein Vorgehen an dieser Stelle ist jedoch etwas seltsam. Er will ein Problem lösen, indem er zu einer vorgegebenen Lösung eine passende Argumentation sucht, die vom Problem zu seiner Lösung führt. Man fragt sich natürlich, welchen Grund Gauthier hat, zu glauben, dass das MRCPrinzip die richtige Lösung ist, obwohl er offenbar keine überzeugende Argumentation hat, die zu diesem Prinzip führt. Hier kommt sofort der Verdacht einer ad hoc-Argumentation auf. Um die Argumentation der Nash-Lösung übernehmen zu können, schränkt Gauthier den Anwendungsbereich auf den Bereich ein, in dem MRC-Prinzip und Nash-Lösung identisch sind. „A sufficient condition of coincidence is that the ex ante bargain on the terms of social interaction may be represented as symmetric in its individually rational outcomes.“ 182 Damit schränkt Gauthier seine Theorie auf symmetrische Anfangsbedingungen ein. Den Einwand, dass reale Verhandlungssituationen nicht immer symmetrisch sind, weist Gauthier mit dem Hinweis zurück, dass der Gesellschaftsvertrag in seiner Theorie nicht aus einer realen, sondern einer hypothetischen Verhandlung hervorgeht. Dies könne man immer so konstruie180

K. Binmore: „Bargaining and morality“ (1993), 151-154.

181

D. Gauthier: „Uniting separate persons“ (1993), 178.

182

Ebda.

132

ren, dass man es mit einer symmetrischen Ausgangssituation zu tun hat. Wie wir später im Zusammenhang mit der Annahme der gleichen Rationalität und der Besprechung des Proviso noch sehen werden, unternimmt Gauthier schon in MbA erhebliche Anstrengungen, um eine symmetrische Ausgangssituation der Verhandlung auch in der Realität plausibel zu machen. Binmore macht bezüglich dieses Teils der Argumentation von Gauthier den sehr plausiblen Einwand, dass man für symmetrische Verhandlungssituationen nicht den aufwändigen Apparat der Spieltheorie benötigt.183 Die Einschränkung auf symmetrische Verhandlungsspiele ist hinsichtlich der Verwendung des MRC-Prinzips im Kontext einer Moralbegründung von erheblicher Bedeutung. Bisher hat dem MRC-Prinzip das SymmetrieAxiom zugrunde gelegen. Dies bedeutete, dass im Falle eines symmetrischen Verhandlungsspieles auch ein symmetrisches Verhandlungsergebnis erfolgen muss. Es waren aber natürlich auch asymmetrische Verhandlungsspiele zugelassen. Die neue Einschränkung auf symmetrische Verhandlungsspiele bedeutet für die Argumentation Gauthiers, dass sich Unparteilichkeit und damit Moral nur dann als Folge rationalen Handelns einstellt, wenn man es mit symmetrischen Verhandlungsspielen zu tun hat. Diese Feststellung ist etwas enttäuschend, kommt aber nicht unerwartet. Enttäuschend ist sie, da symmetrische Situationen in der Realität eher der Ausnahmefall sind und sich Diskussionen über Unparteilichkeit und Gerechtigkeit klassischerweise nicht in symmetrischen Situationen entzünden, sondern in Situationen starker Asymmetrie. Die klassische Herausforderung für eine rationale Moralbegründung ist die Beantwortung der Frage, weshalb es für den Mächtigen rational sein soll, sich dem Schwachen gegenüber moralisch zu verhalten. Das wesentliche Kennzeichen der hier zugrunde liegenden Situation ist die Asymmetrie. Diese Asymmetrie als irrelevant anzusehen oder sie zu leugnen, heißt, die Frage nicht zu beantworten. Und das ist enttäuschend. Zu erwarten war diese Feststellung jedoch, wenn man Gauthiers Aussage „Morals arise in and from the rational agreement of equals“ in ihrer Tragweite sieht .184 Da Gauthier in dem zitierten Aufsatz die Neuformulierung einer entsprechenden

183

K. Binmore: Playing Fair (1995), 81f.

184

MbA, 232.

133

Begründung seines MRC-Prinzips nur ankündigt, gehe ich in der weiteren Analyse von der Begründung in MbA aus.

2. Herleitung des MRC-Prinzips in MbA Nach dem MRC-Prinzip macht jeder Teilnehmer, ausgehend von einer bestimmten Maximalforderung, ein gleich großes Zugeständnis an die anderen Teilnehmer. Diese Maximalforderung ist im Fall einer Kooperation der gesamte kooperative Mehrwert. Weil daraus aber offensichtlich keine für alle akzeptable Verteilung resultiert, muss jeder Teilnehmer seine Forderung etwas reduzieren, da alle Teilnehmer ein Interesse daran haben, dass es zu einer allgemein akzeptierten Lösung kommt. Wie groß die Zugeständnisse sind, die jeder einzelne Teilnehmer rationalerweise in diesem Verhandlungsprozess zu machen bereit ist, leitet Gauthier über vier verschiedene Argumentationswege her: 1. In Anlehnung an die Herleitungen der klassischen Verhandlungstheorien findet man auch bei Gauthier eine axiomatische Herleitung, wobei diese in MbA nur skizzenhaft durchgeführt ist. 2. Gauthier entwickelt eine psychologische Theorie der Konzessionsbereitschaft. 3. Aus seinem Kooperationsbegriff entwickelt er die These, dass die Teilnahme an der Kooperation das entscheidende Kriterium für die Verteilung des kooperativen Mehrwerts sei. 4. Die Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts resultiert aus der Annahme, dass alle Teilnehmer gleich rational sind. Dieser letztgenannte Argumentationsweg wird nicht im nachfolgenden Abschnitt behandelt, sondern in Abs. III.G.2 ab S. 253 im Kontext der Diskussion des Rationalitätsbegriffes. Axiomatische Herleitung des MRC-Prinzips. Das MRC-Prinzip ist ein Formalismus, für den Gauthier in MbA allerdings keine formale Herleitung angibt.185 Er beschränkt sich diesbezüglich auf einen Verweis auf die entsprechende Literatur über Verhandlungstheorien.186 In „Bargaining and Justice“(1985) bietet Gauthier zwar auch keine genaue formale Herleitung, 185

Ebda, 121.

186

Ebda, 129f.

134

aber er entwickelt seine Theorie wesentlich detaillierter in Abgrenzung und Übereinstimmung zu anderen Verhandlungstheorien. Er geht dort zunächst von der Verhandlungstheorie von Nash und deren Lösung F aus, von der er drei der vier Axiome als unstrittig akzeptiert: die Pareto-Optimalität, das Symmetrie-Axiom und die Transformationsinvarianz. Wie auch Kalai und Smorodinsky übt er Kritik am Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen und übernimmt vorübergehend zum Zwecke der Argumentation auch die von ihnen vorgeschlagene alternative Lösung KS.187 Nur ist der Kritikpunkt Gauthiers an der Nash-Lösung ein anderer als der von Kalai und Smorodinsky. Während letztere sich an der Verletzung des MonotonieAxioms durch die Nash-Lösung stören188, wendet sich Gauthier gegen die seiner Meinung nach dem Axiom der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen zugrunde liegende Intention der Maximierung. Für ihn ist die Maximierung kein Kriterium der Lösungsfunktion in der Verhandlung, sondern die Optimierung einer Verteilung.189 Die Maximierung kann nach Gauthier nur als Kriterium für die Entscheidungen oder Strategien eines Individuums angesetzt werden, nicht aber für eine kollektive Nutzenverteilungsfunktion. Genau das sind aber die Lösungsfunktionen in Verhandlungstheorien. Gleichzeitig kritisiert Gauthier die fehlende Berücksichtigung des Aspektes der individuellen Nutzenmaximierung an der Nash-Lösung. Während er bei der zuvor genannten Kritik an der Maximierung die kollektiven Nutzenfunktionen im Auge hatte, geht es ihm jetzt um die Art der Berücksichtigung der individuellen Nutzenfunktionen in der Theorie von Nash. Bei Nash sind für die Bestimmung des Verhandlungsergebnisses nur der Konfliktpunkt und die Nutzenfunktionen der Teilnehmer von Bedeutung. Das Wechselspiel von Forderungen und Zugeständnissen, das für einen Verhandlungsprozess kennzeichnend ist, findet in Nashs Theorie keinen Eingang. Aber gerade in diesem Wechselspiel treten die Verhandlungsteilnehmer als Nutzenmaximierer in Erscheinung.190 Um eine seiner Meinung nach adäquate 187

Siehe Formel auf S. 121.

188

Vgl. Abs. III.B.4. auf S. 118.

189

Vgl. S. 219ff.

190

MbA, 149.

135

Berücksichtigung der Intention der individuellen Nutzenmaximierung in einer Verhandlungslösung zu gewährleisten, führt Gauthier, so wie dies auch Kalai und Smorodinsky tun, den Idealpunkt m (umax, vmax) ein, der durch die maximal möglichen Forderungen beider Verhandlungsteilnehmer bestimmt wird.191 Als ideal wird der Punkt bezeichnet, weil er kein reales Verhandlungsergebnis repräsentiert. Relevant ist er aber, weil er einen real möglichen Ausgangszustand einer Verhandlung wiedergibt. Dieser Idealpunkt ist für Gauthier der Bezugspunkt, von dem ausgehend die Teilnehmer während einer Verhandlung Zugeständnisse machen. Einer Kritik von Roth folgend nimmt Gauthier an der Lösung KS von Kalai und Smorodinsky für Fälle von mehr als zwei Personen eine kleine Modifikation vor, um letztlich zu seiner eigenen Verhandlungslösung G= zu gelangen.192

G'( s, d ) = x , such that min ( xi − di ) / ( x i − di ) > min( yj − dj ) / ( x j − dj ) for all i

j

y ( ≠ x )in S + . Formel 6: Verhandlungslösung G’ xi: yj: di,j: xi,j:

Nutzen eines beliebigen Teilnehmers i in der Lösung x. Nutzen eines beliebigen Teilnehmers j an einem beliebigen anderen Punkt des Lösungsraumes. Nutzen des Teilnehmers i bzw. j im Konfliktpunkt d. Nutzen des Teilnehmers i bzw. j im Idealpunkt x.

Der zentrale Bezugspunkt in dieser Lösung ist die Differenz xi-di bzw. xj-dj, die für den maximal möglichen Vorteil für i bzw. j steht. Relativ dazu wird der Vorteil der Lösung G= xi-di bzw. yj-dj beurteilt. Die Lösung x muss demnach derart sein, dass der kleinste relative Vorteil, der einem Teilnehmer bei dieser Lösung zugewiesen wird, größer ist als der kleinste relative Vorteil, der bei allen anderen möglichen Lösungen einem Teilnehmer zugewiesen wird. Es soll also die Lösung ausgewählt werden, bei der der relative Vorteil des am schlechtesten gestellten Teilnehmers maximal ist. G= ist demnach als ein Maximin-Prinzip des relativen Vorteils formuliert. In MbA, 154f. zeigt 191

Vgl. Abb. 3 auf S. 120.

192

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 36.

136

Gauthier, dass sich das MRC-Prinzip komplementär zur Lösung G= (in MbA als „Principle of Maximin Relative Benefit“ bezeichnet) verhält. Das relative Zugeständnis RC und der relative Vorteil addieren sich bei einer Verhandlungslösung immer zur Summe 1. Diese Koinzidenz der beiden Prinzipien deutet Gauthier als die Koinzidenz von Rationalität und Unparteilichkeit in seinem Verhandlungsprinzip. Die Zugeständnisse sind rational begründet, während die Gleichverteilung der Vorteile einer unparteilichen Verteilung entspricht. An die Stelle des dritten Axioms von Nash, der Unabhängigkeit von irrelevanten Alternativen, setzt Gauthier das Zeuthen-Modell der Verhandlung. Zeuthen hat eine Formel für die Bemessung von Zugeständnissen in der Verhandlung vorgeschlagen, die Gauthier als Vorlage für seine Konzeption des relativen Zugeständnisses dient.193 Wenn A und B miteinander verhandeln, dann macht A den Vorschlag (uA, vA). uA ist der Nutzen von A bei seinem eigenen Vorschlag und vA ist der Nutzen von B bei dem Vorschlag von A. Entsprechend macht B den Vorschlag (uB, vB). Der Konfliktpunkt wird mit (ud, vd) bezeichnet. Die Größe des Zugeständnisses von A für den Fall, dass A den Vorschlag von B akzeptieren würde, gibt Zeuthen mit (uA - uB)/(uA - ud) an. Ausgehend vom Vorschlag (uA, vA) ist (uA - uB) der Verlust, den A macht, wenn er auf den Vorschlag (uB, vB) von B eingehen würde, und (uA ud) sein Verlust im Fall des Scheiterns der Verhandlung. Umgekehrt wird das Zugeständnis von B für den Fall mit (vB - vA)/(vB - vd) angegeben, dass er auf den Vorschlag von A eingehen würde. Zeuthen bemisst die Zugeständnisse als relative Zugeständnisse, indem er das Zugeständnis bei einem konkreten Verhandlungsvorschlag ins Verhältnis zum Verlust im worst case setzt. Im folgenden Schritt führt Zeuthen seine entscheidende Idee für die Bestimmung der Größe eines rationalen Zugeständnisses ein. Die Größe eines Zugeständnisses verhält sich seiner Meinung nach umgekehrt proportional zur Bereitschaft, dieses Zugeständnis zu machen. Je größer also das Zugeständnis ist, desto geringer ist die Bereitschaft, dieses Zugeständnis zu machen. Wenn A und B in einer Verhandlung beide ihren Vorschlag gemacht haben, dann muss derjenige einen weiteren Vorschlag mit einem größeren Zugeständnis 193

F. Zeuthen: Problems of Monopoly and Economic Warfare (1930), 111-121. MbA, 74f., 136f.

137

machen, der beim vorigen Vorschlag ein geringeres Zugeständnis gemacht hat. Der neue Vorschlag muss derart sein, dass daraufhin der andere Teilnehmer gezwungen ist, seinerseits einen neuen Vorschlag zu machen, bei dem er nun ein größeres Zugeständnis macht. Wenn A und B z. B. über die Aufteilung eines Betrages von 100 i verhandeln und A 80 i fordert, was dem Vorschlag (80, 20) entspricht, und B 75 i fordert, was dem Vorschlag (25, 75) entspricht, dann muss A ein weiteres Zugeständnis zu machen. Das relative Zugeständnis von A ist hier (80 25)/(80 - 0) = 0,6875 und das von B (75 - 20)/(75 - 0) = 0,7333, vorausgesetzt, dass im Konfliktfall beide leer ausgehen. Die Verhandlung ist dann am Ziel, wenn ein Teilnehmer kein Zugeständnis mehr machen kann, das den anderen Teilnehmer zu einem weiteren Zugeständnis veranlassen kann. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn die relativen Zugeständnisse beider Teilnehmer gleich groß sind. Zeuthen sieht hier die Bereitschaft, Zugeständnisse zu machen, analog zu physikalischen Kräften. Wenn zwei entgegengesetzt gerichtete Kräfte gleich stark sind, dann stellt sich ein Stillstand aufgrund eines Gleichgewichts ein. Ein Verhandlungsgleichgewicht stellt sich dann ein, wenn die Bereitschaft der Verhandlungsteilnehmer zu weiteren Zugeständnissen gleich groß ist. Eine Verhandlungslösung ist es aber erst dann, wenn diesen gleichen Zugeständnissen auch eine realisierbare Verhandlungslösung korrespondiert. Der Mechanismus, den Zeuthen hier formuliert, beruht auf der empirischen Annahme bestimmter psychisch bedingter Verhaltensprinzipien in Verhandlungssituationen. Die Festlegung der einzelnen Verhandlungszüge begründet Zeuthen mit wechselseitig bekannten Drohstrategien, entsprechenden Risikoabschätzungen und den daraus resultierenden Nutzenfunktionen. Die Risikoabschätzungen beziehen sich auf den Nutzen bzw. Schaden, den ein Verhandlungsteilnehmer im Falle des Scheiterns der Verhandlungen zu erwarten hat. Bei einer 2Personen-Verhandlung hat der Teilnehmer mit einem kleineren relativen Zugeständnis den größeren Vorteil bei einem Zustandekommen der Kooperation, d. h. aber umgekehrt auch den größeren Schaden im Falle des Scheiterns der Verhandlung. Also hat dieser Teilnehmer mehr Grund, durch ein Zugeständnis die Verhandlung vor dem Scheitern zu bewahren als der andere Teilnehmer. Was die einzelnen Teilnehmer im Falle eines Scheiterns der Verhandlung zu erwarten haben, hängt bei Zeuthen auch von den Drohstrate-

138

gien der Teilnehmer ab. Der Konfliktpunkt ist bei ihm also ein Drohpunkt. Folglich versucht jeder Verhandlungsteilnehmer die anderen Teilnehmer davon zu überzeugen, dass seine Drohstrategien besser fundiert sind als die der anderen.194 Hierbei sind für Zeuthen ökonomische und psychologische Faktoren, wie die Risikobereitschaft, die wesentlichen Parameter. Bei Zeuthens Bestimmung des Konfliktpunktes spielt nicht nur die Rationalität der Spieler, sondern auch deren Macht eine Rolle. Gauthier lehnt in seiner Verhandlungstheorie die Einbeziehung von Drohstrategien explizit ab. Es ist deshalb erstaunlich, dass er für die Bestimmung des Verhandlungsergebnisses ein Prinzip heranzieht, das sich explizit auf den Einsatz von Drohstrategien stützt. Das MRC-Prinzip bezeichnet Gauthier als eine erweiterte Form der Zeuthen-Formel. Er setzt an die Stelle der konkreten Forderungen bei Zeuthen die Maximalforderung im Idealpunkt. Aber die Erklärung von Zeuthen dafür, weshalb die Teilnehmer Zugeständnisse machen, ersetzt Gauthier nicht durch eine eigene, von Drohstrategien freie Erklärung. In „Bargaining and Justice“ erläutert Gauthier zwar die ZeuthenFormel ohne Bezug auf Macht, aber diese Erläuterung bleibt wohl gerade deshalb auch so unbefriedigend. Als zentrale Erklärung für das Machen von Zugeständnissen steht dort folgender Satz: „Now, the larger the concession, the less willing one is to make it.“ 195 Diese Proportionalität bleibt aber unverständlich, wenn die Konsequenzen beim Scheitern der Verhandlung nicht ausreichende Gründe für eine solche Handlungsweise der Verhandlungsteilnehmer darstellen. An dieser Stelle haben die Drohstrategien bei Zeuthen eine wichtige Funktion. Gauthier kann sich nur auf den möglicherweise entgangenen Gewinn als Grund für ein Zugeständnis berufen. Dies ist aber eine vergleichsweise schwache Begründung. Denn zum einen ist die Aussicht, einen Gewinn möglicherweise nicht realisieren zu können, ein wesentlich schwächerer Grund als die Aussicht auf sichere negative Sanktionen, die aufgrund von Drohungen zu erwarten sind. Zum anderen kann man mit dem Gewinn inmitten der Verhandlung schlecht quantitative Überlegun194

F. Zeuthen: Problems of Monopoly and Economic Warfare (1930), 118: „The result, however, is only brought about by mutual influences, a special form of the higgling of the market, not by competition, but by threats; and each will try to convince its opponent that its own threats are better founded and more irrevocable than those of the other.” 195

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 33.

139

gen anstellen, da die Größe des Gewinns ja gerade Gegenstand der Verhandlung ist. Um hier präzise Aussagen machen zu können, müsste man das Ergebnis der Verhandlung vorwegnehmen können. Man weiß aber lediglich, dass man im Fall des Scheiterns der Verhandlung keinen Gewinn haben wird. Was man aber nicht wissen kann, ist, wie viel man verliert. Man weiß nicht, ob man das maximal Mögliche an Gewinn aushandeln kann oder nur einen Bruchteil dessen. Gauthiers Konzeption der Konzessionsbereitschaft. In den Bedingungen einer rationalen Verhandlung spezifiziert Gauthier einen Punkt, der für die Festlegung des Verhandlungsergebnisses von entscheidender Bedeutung ist. Er spricht dort die Bereitschaft zu Zugeständnissen an (willingness to concede).196 Diese Bereitschaft besteht darin, dass jeder Spieler bereit sein muss, ein Verhandlungsergebnis zu akzeptieren, das von ihm nicht ein größeres Zugeständnis verlangt, als seiner Meinung nach jede andere rationale Person in dieser Situation auch akzeptieren würde. „Willingness to concede. Each person must be willing to entertain a concession in relation to a feasible concession point if its relative magnitude is no greater than that of the greatest concession that he supposes some rational person is willing to entertain (in relation to a feasible concession point).“ 197 Dieses Kriterium für die Festlegung der Größe des relativen Zugeständnisses bezieht sich nicht auf die Größe des relativen Zugeständnisses selbst, sondern sie ist eine Vorschrift für die Art und Weise der Festlegung dieser Größe. Der Spieler soll seine Entscheidung dadurch treffen, dass er diese Frage nicht nur von seinem eigenen Standpunkt aus beurteilt, sondern sie auch vom Standpunkt einer beliebigen anderen rationalen Person aus beurteilt. Die Einbeziehung des Standpunktes anderer Personen oder einer fiktiven idealen Person in eine Entscheidungsfindung ist ein Kennzeichen von unparteiischen Entscheidungen. Es stellt sich die Frage, weshalb sich ein Nutzenmaximierer ohne besonderes Interesse an Unparteilichkeit in einer Verhandlungssituation in die Perspektive anderer Spieler oder eines idealen rationalen Spielers 196

MbA, 143 oder D. Gauthier: „Justified Inequality?” (1982), 436.

197

MbA, 143.

140

versetzen sollte und das Ergebnis dieser Introspektion zur Grundlage seiner eigenen Entscheidung über die Größe seines Zugeständnisses machen sollte. Diese Situation ist nicht vergleichbar mit der Introspektion bei normalen strategischen Entscheidungen. Dort versucht der rationale Akteur die Strategien der anderen Teilnehmer herauszubekommen, um seinerseits die optimale nutzenmaximierende Antwort auf diese Strategien zu finden. In Gauthiers Konzeption benutzt der Akteur die Strategien der anderen Teilnehmer hingegen als nachzuahmende Vorgabe für die eigene Entscheidung. Diese Art der Entscheidungsfindung ist mit der Konzeption des individuellen Nutzenmaximierers nicht vereinbar. Präzisieren wir kurz, was genau damit gemeint ist, wenn man den Standpunkt eines anderen im Kontext einer Entscheidungsfindung einnimmt. Dann sehen wir auch ganz klar, weshalb ein Nutzenmaximierer keinen Grund zur Durchführung eines solchen Gedankenexperimentes hat. Bildlich gesprochen, werden uns, wenn wir uns in den Standpunkt eines anderen hineinversetzen, zwei Dinge begegnen: Präferenzen und Entscheidungsprinzipien. Letztere sind bei allen Interaktionsteilnehmern per definitionem gleich, denn in Verhandlungsspielen sind nur ideale rationale Akteure zugelassen. Diesbezüglich würde die Berücksichtigung eines fremden Standpunktes keine zusätzlichen Kriterien liefern und wäre nur eine redundante Erweiterung des Entscheidungsprozesses. Präferenzen hingegen sind auch bei idealen rationalen Akteuren individuell unterschiedlich. Hier liefert die Introspektion zwar zusätzliche Informationen, aber diese sind für einen individuellen Nutzenmaximierer ebenfalls bedeutungslos. Für ihn gibt es keinen Grund, fremde Präferenzen bei seiner Entscheidungsfindung zu berücksichtigen, wie man es von einer fairen Entscheidung erwarten würde. Also gibt es für einen Nutzenmaximierer keinen Grund, eine solche Introspektion zum Bestandteil seiner Entscheidungsfindung zu machen. Mit der Bedingung der Konzessionsbereitschaft wird das Problem der Festlegung der Größe der Zugeständnisse letztendlich nur um eine Stufe verschoben. Nach welchem Kriterium kann der Spieler entscheiden, wie groß ein Zugeständnis noch sein darf, damit eine andere rationale Person ihm zustimmen würde? Was macht es für einen Unterschied, ob er die Frage aus seiner eigenen Perspektive oder aus der Perspektive eines anderen Spielers beantwortet? Die Spieler unterscheiden sich nur durch ihre Präferenzen, nicht

141

aber durch ihren Rationalitätsbegriff. Ausschlaggebend für die Antwort ist ein Kriterium für rationale Verteilungen bzw. rationale Zugeständnisse. Solange der Spieler dies nicht kennt, nützt es ihm nichts, sich in die Perspektive eines anderen Spielers zu versetzen, denn dieser steht doch genauso ratlos da wie er selbst. Er wird im anderen Spieler nur auf seine eigene Frage treffen: Was für ein Zugeständnis kann ich rationalerweise noch machen? Denn es gibt keinen Grund für die Annahme, dass irgendeiner der Spieler weiß, was das Kriterium für rationale Verteilungen bzw. Zugeständnisse ist. Die Idee der Konzessionsbereitschaft führt also auf der Suche nach einem rationalen Verteilungskriterium keinen Schritt weiter. Es sei denn, man unterstellt, dass die Spieler das Kriterium für rationale Zugeständnisse schon kennen. Dann hätten wir es aber mit einem Zirkelschluss zu tun, in dem das zu Beweisende schon vorausgesetzt wird. Es sind also zwei alternative Kritikpunkte an dieser Bedingung anzuführen. Entweder ist die Aussage dieser Bedingung leer, da nicht expliziert wird, nach welchem Kriterium der Spieler hier die Rationalität eines Zugeständnisses feststellt; oder Gauthier müsste die Akzeptanz eines anderen Verteilungskriteriums voraussetzen. Die Bedingung der Konzessionsbereitschaft ist für die quantitative Bestimmung des Verhandlungsergebnisses bei Gauthier allerdings sehr wichtig. Über diese Bedingung kommt er zu dem Schluss, dass das Verhandlungsergebnis egalitär ist.198 Kooperationsteilnahme als Verteilungskriterium. In seiner Argumentation für das MRC-Prinzip geht Gauthier davon aus, dass die Teilnahme jedes einzelnen Kooperationsteilnehmers für das Zustandekommen der Kooperation und damit auch für das Hervorbringen des kooperativen Mehrwerts unverzichtbar ist. Das heißt, sobald sich auch nur ein Teilnehmer aus der Kooperation zurückzieht, können die verbleibenden Teilnehmer nicht mehr kooperieren und es entsteht kein kooperativer Mehrwert. Der kooperative Mehrwert ist etwas, das alle Teilnehmer nur gemeinsam und nicht als einzelne oder als Teilgruppen hervorbringen können. Daher ist es nicht der einzelne Teilnehmer oder sein Kooperationsbeitrag, der die Entstehung des kooperati198

Da dieser Punkt vom Begriff der Rationalität abhängt, wird er im Kontext der Analyse des Rationalitätsbegriffes bei Gauthier in Kap. III.G.2 noch detailliert analysiert.

142

ven Mehrwerts verursacht, und somit auch nicht als Kriterium für die Verteilung des Kooperationsertrages dienen kann. Für die Entstehung des Kooperationsertrages ist es irrelevant, wie groß die Kooperationsbeiträge einzelner Individuen sind, wenn diese Individuen nicht entsprechend der kooperativen Strategie handeln.199 Diese Annahme ist der Ausgangspunkt der Argumentation Gauthiers für eine Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts. „An equal division of the surplus may not seem surprising in itself. For since neither can gain any part of this surplus without the other, then each is equally responsible for making it available, and so each is entitled to an equal share of it. What is surprising is that this egalitarian view of co-operation proves to be fully compatible with the reasonable insistence that overall returns be proportionate to (differing) overall contributions. This egalitarian view of co-operation is indeed implicit in our analysis. The co-operative surplus is in the fullest sense the joint product of the co-operators. No one may reasonably or fairly expect more, and no one should reasonably or fairly accept less, than an equal share of the co-operative surplus, where equal shares may be determined. If there is a single transferable good, produced in fixed quantity and divisible in any way among the co-operators, then rationality and impartiality require its equal division.“ 200 Die Grundidee ist, dass die Teilnahme jedes einzelnen Teilnehmers notwendige Bedingung für die Entstehung des gesamten kooperativen Mehrwerts ist und somit auch jeder Teilnehmer einen begründeten Anspruch auf den gesamten kooperativen Mehrwert hat. Damit wird eine quantitative Festlegung aus einer nichtgraduierbaren und nicht quantifizierbaren Eigenschaft, nämlich der Teilnahme, abgeleitet. Dies kommt in der folgenden Aussage Gauthiers sehr deutlich zum Ausdruck: „Thus no contribution yields no claim; some contribution yields full claim. A full claim is a claim to the entire 199

A. Weale: „Justice, social union and the separateness of persons“ (1993), 92: „In essence, this is to assert that the social union is the condition for individual advantage rather then a derivative from it." 200

MbA, 152f.

143

surplus in so far as the claimant can receive it.“ 201 Der Anspruch auf den gesamten kooperativen Mehrwert ist nicht an die Größe des Kooperationsbeitrages gebunden, sondern ausschließlich an die Eigenschaft, unverzichtbarer Teilnehmer zu sein. Dieser Übergang von der Eigenschaft, Teilnehmer zu sein, zu dem quantitativ spezifizierten Anspruch auf einen bestimmten Anteil am kooperativen Mehrwert ist, wie sich zeigen wird, nicht nachvollziehbar. Auf einem anderen Wege jedoch bleiben auch bei einer Verteilung nach dem MRC-Prinzip die Ungleichheiten in der Ausstattung und damit indirekt die Größe der Kooperationsbeiträge nicht unberücksichtigt. Diese schlagen sich nämlich in der Bestimmung von umin nieder. Mit umin wird zunächst unmittelbar der Grenznutzen festgelegt, der angibt, wie groß der Anteil am Kooperationsertrag für den jeweiligen Teilnehmer mindestens sein muss, damit es für ihn überhaupt rational ist, an der Kooperation teilzunehmen. Dieser Grenznutzen ist ganz wesentlich von der natürlichen Ausstattung des Teilnehmers abhängig, denn außerhalb der Kooperation, im Konfliktpunkt, kommen individuelle Fähigkeiten, Güter, Macht etc. zum Zuge. Der Grenznutzen gibt an, welchen Ertrag der Teilnehmer mit seinem Kooperationsbeitrag außerhalb der Kooperation erreichen würde. Bei der Festlegung der Größe von umax und vmax ist umin indirekt ein wichtiger Parameter (Vgl. Abb. 3 auf S. 120). In der grafischen Bestimmung wird umax bzw. vmax als Schnittpunkt der Vertikalen bzw. Horizontalen durch umin bzw. vmin und der Pareto-Grenze gebildet. Je größer umin ist, desto kleiner wird der gesamte kooperative Mehrwert und desto kleiner wird vmax. Entsprechendes gilt für vmin und umax. Bei konstanter Pareto-Grenze wird durch die Vergrößerung der min-Werte ein Teil des Kooperationsertrages vom kooperativen Mehrwert abgezogen und fällt somit aus der möglichen Verhandlungsmasse heraus. Für denjenigen, dessen min-Wert sich erhöht, bedeutet dies eine direkte Vergrößerung am Anteil des Grenzertrages der Kooperation. Dieser Anteil steht dem anderen Teilnehmer nicht mehr in Form des kooperativen Mehrwerts zur Verfügung und daher sinkt sein max-Wert. Die Größe des max-Wertes wird durch zwei Parameter bestimmt: den Verlauf der ParetoGrenze und den min-Wert des anderen Verhandlungsteilnehmers. Durch die Erhöhung des eigenen min-Wertes kann nicht der max-Wert verändert 201

Ebda, 154.

144

werden, aber der Anteil am gesamten Kooperationsertrag. Zudem wird die Gesamtgröße des kooperativen Mehrwerts verringert und damit die absolute Größe des Anteils am kooperativen Mehrwert für alle Teilnehmer kleiner. Der relative Anteil am kooperativen Mehrwert bleibt hingegen unverändert. Der bei einer solchen Verschiebung von umin entstehende Abzug vom kooperativen Mehrwert kommt vollständig dem Spieler mit dem vergrößerten umin zugute. Hier kommt das Faktum zum tragen, dass der kooperative Mehrwert und der kooperative Grenzertrag voneinander abhängige Größen sind: Kooperativer Grenzertrag + kooperativer Mehrwert = Kooperationsertrag. Jede dieser beiden Teilmengen des Kooperationsertrages wird im MRCPrinzip nach verschiedenen Kriterien verteilt. Der kooperative Mehrwert wird egalitär aufgrund der Teilnahme an der Kooperation verteilt. Der kooperative Grenzertrag wird aufgrund des Nutzens der Individuen im nicht-kooperativen Zustand festgelegt. Mit der Bestimmung des Grenznutzens ist den aus den Ungleichheiten in der Ausstattung der Spieler resultierenden Ansprüchen bei Gauthier vollständig Genüge getan. Nach der Zuweisung von umin stehen alle Teilnehmer auf der gleichen Basis, so dass für die Verteilung des kooperativen Mehrwerts die natürlichen Ungleichen nicht mehr berücksichtigt werden. Der kooperative Mehrwert kommt nur deshalb zu Stande, weil sich alle Teilnehmer entschlossen haben, nicht mehr individuell, direkt nutzenmaximierend, sondern kooperativ zu handeln. Warum sollten, so die Frage Gauthiers, im Rahmen des kooperativen Handelns noch Güterverteilungen des Naturzustandes oder aus ihnen resultierende potenzielle Vorteile für die Verteilung des kooperativen Mehrwerts irgendeine Rolle spielen, da man sich doch gerade gegen die Beibehaltung des Naturzustandes und für die Einführung der Kooperation entschieden hat? Auch derjenige, der im Naturzustand anderen Teilnehmern überlegen ist, ist zu der Einsicht gelangt, dass ein Handeln, das sich auf diese Überlegenheit stützt, auch für ihn nicht zu optimalen Ergebnissen führt, sondern dass er dafür den Weg der Kooperation wählen muss. Das kooperative Handeln impliziert für Gauthier, dass die Kooperationsteilnehmer sich gegenseitig auch als Kooperationsteilnehmer verstehen und nicht als überlegene oder unterlegene Konkurrenten. Letzteres

145

Verständnis gehört für Gauthier in den durch die Kooperation überwundenen Naturzustand und hat innerhalb einer Kooperation keinen Platz mehr. 202

3. Das MRC-Prinzip als ein Prinzip der Gerechtigkeit MRC-Prinzip und distributive Gerechtigkeit. In MbA überschreibt Gauthier das Kapitel, in dem er das MRC-Prinzip entwickelt, mit „Cooperation: Bargaining and Justice". Worauf bezieht sich hier der Begriff Gerechtigkeit? Bezieht er sich auf Prinzipien der Verteilung sozialer Güter, auf die resultierende Verteilung der Güter, auf Prinzipien eines rationalen Verhandelns oder auf die Disposition der Teilnehmer an Kooperationen bzw. Kooperationsverhandlungen? Gauthier gibt auf diese Frage eine klare Antwort: Gerechtigkeit ist eine Disposition von Personen. Verteilungsprinzipien und Verteilungsergebnisse können daher immer nur in einem abgeleiteten Sinne als gerecht bezeichnet werden. „Justice is the disposition not to take advantage of one's fellows, not to seek free goods or to impose uncompensated costs, provided that one supposes others similarly disposed. We shall show that in satisfying the conditions of practical rationality, cooperation ensures the elimination of the free-ridership and parasitism endemic to our natural condition, so that we may identify justice with the rational disposition to co-operative behaviour.“ 203 „The just person is disposed to comply with the requirements of the principle of minimax relative concession in interacting with those of his fellows whom he believes to be similarly disposed. The just person is fit for society because he has internalized the 202

D. Gauthier: „Rational Cooperation“ (1974), 60: „It must be emphasized that rational cooperation does not take natural inequality as a basis for further social inequality. I am not entitled to a greater share of the benefits produced by cooperation, if in the state of nature I can expect to do better than you. We must distinguish clearly between apportioning social benefits on an unequal basis proportional to natural inequality, and apportioning social benefits on an equal basis, after taking natural inequality into account. The present theory requires the latter." 203

MbA, 113.

146

idea of mutual benefit, so that in choosing his course of action he gives primary consideration to the prospect of realizing the cooperative outcome.“ 204 Man darf nicht den Fehler begehen und meinen, dass der ausschließliche Gegenstand der Verhandlung und damit auch des MRC-Prinzips die Güterverteilung in einer Gesellschaft sei. Es ist wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Theorie der praktischen Rationalität, die Gauthier zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht, Aussagen über Entscheidungen von Individuen macht. Die Perspektive, aus der die Prinzipien dieser Theorie der praktischen Rationalität gesehen werden müssen, ist immer die des Individuums. Es geht also nicht um eine mögliche Rationalität von Güterverteilungen in einer Gesellschaft von einem neutralen Standpunkt aus. Der Begriff der Verteilung kommt erst durch die Verhandlung in die Diskussion. Die Verhandlung über den kooperativen Mehrwert ist ein Verteilungsproblem. Aber die Verhandlung und die Idee der Kooperation sind keine Antworten auf die Frage, wie die sozialen Güter in einer Gesellschaft verteilt werden sollen. Die Kooperation soll das Problem des Auseinanderfallens von Equilibrium und Pareto-Optimalität in Gefangenen-DilemmaSituationen lösen. Das MRC-Prinzip sagt nicht unmittelbar, wie eine gerechte oder rationale Verteilung der Güter auszusehen hätte, sondern wie sich gerechte und rationale Akteure in einer solchen Verteilungssituation verhalten. Gerechtigkeit ist die Eigenschaft einer Person, die durch diese Eigenschaft fähig ist, ein funktionierendes Mitglied einer sozialen Gemeinschaft zu sein. Die Güterverteilung, die sich ergeben würde, wenn alle Teilnehmer die Disposition der Gerechtigkeit hätten und dieser folgend auch handeln würden, könnte man dann als gerecht bezeichnen. Die Verhandlung hat zum Ziel, für die bis dahin voneinander unabhängigen Robinson-Individuen rational akzeptable Einschränkungen ihres nutzenmaximierenden Handelns festzulegen. Mit dem MRC-Prinzip wird ein Verfahren der rationalen Entscheidung vorgeschlagen, durch das die rationale Verfolgung der eigenen Interessen zwar grundsätzlich unterstützt wird, aber zugleich auch eingeschränkt wird. Gauthier behauptet, dass diese Einschränkung durch das MRC-Prinzip, wenn eine Person es sich als 204

Ebda, 157.

147

Entscheidungsdisposition aneignet, in ihrer Auswirkung den Einschränkungen analog ist, die die moralischen Tugenden der Aufrichtigkeit, der Vertragstreue und der Fairness in Bezug auf die rationale Verfolgung der eigenen Interessen haben.205 Das MRC-Prinzip und die genannten moralischen Dispositionen führen zu denselben Handlungen. Gauthier will damit zwei Dinge zeigen: 1. Die Rationalität der moralischen Dispositionen. 2. Die Moralität des MRCPrinzips. Mit diesen zwei Punkten will Gauthier das von ihm mit seiner Theorie angestrebte Ziel erreichen: die Koinzidenz von Moral und Rationalität. So zögert Gauthier auch nicht, eine Person, die sich das MRC-Prinzip als Disposition aneignet, als gerecht zu bezeichnen. Die wesentlichen Prinzipien der traditionellen Moral, wie Aufrichtigkeit, das Einhalten von Versprechen etc., erweisen sich auf dieser Basis nach Gauthiers Meinung als rationale Verhaltensweisen. Sie sind Verhaltensweisen, die jedem Beteiligten einen gleich großen Anteil am kooperativen Mehrwert ermöglichen. Das heißt, die moralischen Prinzipien sind als ein Ergebnis eines Verhandlungsprozesses nach dem MRC-Prinzip rekonstruierbar. Sich nach dem MRC-Prinzip zu verhalten, ist nur dann rational zwingend, wenn sich auch alle anderen Teilnehmer nach dem MRC-Prinzip richten. Sich angesichts dieser Situation dafür zu entscheiden, sich die Disposition zum Entscheiden nach dem MRC-Prinzip anzueignen, zeichnet nach Gauthier eine gerechte Person aus. Gerecht zu sein, ist nur eine von mehreren rationalen Optionen. Damit ist aber auch klar, dass die Rationalität des MRC-Prinzips nicht das ausschlaggebende Kriterium dafür sein kann, sich die entsprechende Disposition anzueignen. Aus der Sicht Gauthiers ist auch der einfache Nutzenmaximierer (straight-forward-maximizer), d. h. derjenige, der in jeder Entscheidung unmittelbar seinen Nutzen maximiert und sich deswegen gegen das MRC-Prinzip entscheidet, nicht irrational. Bei der Entscheidung zwischen zwei oder noch mehr möglichen rationalen Verhaltensweisen muss ein weiteres Kriterium ins Spiel kommen. Gauthier bringt an dieser Stelle die emotionale Ebene ins Spiel. Im zweiten Teil von MbA findet man ein weitergehendes Verständnis von Gerechtigkeit, das diesen Punkt aufgreift.

205

Ebda, 156.

148

„Properly understood, the just man is the person who, recognizing a certain course of action to be just, finds her feelings engaged by that recognition and so finds herself moved to adhere to that course of action because of its justice.“ 206 Die Gerechtigkeit wird hier als ein intrinsischer Wert für eine Person dargestellt. Die Entscheidung für das MRC-Prinzip wird also nicht ausschließlich vom Gedanken der Nutzenmaximierung geleitet, sondern setzt zudem noch eine emotionale Bindung an die Gerechtigkeit voraus. Diese emotionale Disposition unterstellt Gauthier dem homo oeconomicus nicht. Daher ist für den homo oeconomicus die Moral eine wirkliche Einschränkung und er wird sie immer als ein notwendiges Übel auffassen, selbst wenn er von der Argumentation Gauthiers in MbA überzeugt ist. Der nach dem obigen Zitat im eigentlichen Sinne gerechte Mensch sieht die Moral zwar auch als eine Einschränkung seines Handlungsspielraumes an, aber er hat ein eigenständiges Interesse an dieser Einschränkung. Die gerechte Person geht bei Gauthier auf rationalem, wenn auch nicht rational zwingendem Weg aus dem homo oeconomicus hervor, indem bei ihm zur Rationalität noch die intrinsische Motivation an der Gerechtigkeit hinzukommt. Es ist für das Verständnis von Gauthiers Gerechtigkeitskonzeption sehr erhellend, dass er das hier beschriebene Verständnis des Verhältnisses von MRC-Prinzip und Gerechtigkeit in Aufsätzen vor MbA anders gedeutet hat. Dort findet man sehr klare Stellungnahmen, die das MRC-Prinzip nur als ein Prinzip der distributiven Gerechtigkeit sehen, das die anderen Bereiche der Moral nicht abdecken kann. „Bargaining principles do clarify the place of equality and the character of distributive justice, within the framework of mutual advantage which is presupposed by a democratic society.“ 207 „The optimistic conclusion is that the argument which I have presented grounds a part, and a not unimportant part, of traditional morality, on a strictly rational footing. ... I have established the rationality of distributive justice, as that constraint on preferencebased choice required by minimax concession. The pessimistic 206

Ebda, 328.

207

D. Gauthier: „Social Choice and Distributive Justice“ (1978), 252.

149

conclusion is that no similar argument will put the remainder, or any important part of the remainder, of traditional morality on a similarly rational footing. I have not shown this, but we may easily see that the only constraints on preference-based choice which are compatible with our conceptions of value and reason must be those which it is mutually advantageous for us to accept, and these are simply the constraints required by minimax concession. Having abandoned all religious or metaphysical props for morality, we are left with no justification for principles some of which, at least, we are unwilling to abandon.“ 208 Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung war die zunehmende Bedeutung seiner Rationalitätskonzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung. Die Disposition zu dieser Form der Rationalität beschränkt sich natürlich nicht auf Situationen der Verteilung sozialer Güter, sondern kommt bei jeder Kooperationsmöglichkeit zum Zuge. Damit hat Gauthier im Laufe der Zeit seine Theorie von einer Theorie der distributiven Gerechtigkeit zu einer Theorie der Moral ausgeweitet. Die Gleichheit des MRC-Prinzips als Chancengleichheit. Wie in Abs. I.A.2 erläutert wurde, ist die Frage der distributiven Gerechtigkeit der Ausgangspunkt der Überlegungen Gauthiers und seine Antwort in Form seiner Verhandlungstheorie bildet den Kern seiner ganzen Moraltheorie. So ist es nicht überraschend, dass er den Begriff der Gerechtigkeit im Kontext der Verhandlung definiert. Bei Gauthier beruht die Gerechtigkeit einer Vereinbarung auf der freiwilligen Zustimmung aller Teilnehmer. Nur dem rational akzeptablen Ergebnis werden individuelle Nutzenmaximierer freiwillig zustimmen und somit ist es auch ein gerechtes Ergebnis. Durch diese Konstruktion sind Gerechtigkeit und Rationalität bei Gauthier ganz eng miteinander verwoben. „Put differently, the principles of justice are those principles for making social decisions or choices to which rational individuals,

208

D. Gauthier: „Bargaining Our Way Into Morality" (1979), 25.

150

each seeking to cooperate with her fellows in order to maximize her own utility, would agree.“ 209 Diese Definition der Gerechtigkeit unterscheidet sich inhaltlich nicht wesentlich von Gauthiers Verständnis der Unparteilichkeit. „We focus on the co-operative choice of a joint strategy, which is impartial because it is acceptable from every standpoint, by every person involved.“ 210 Auch hier ist die allgemeine Zustimmungsfähigkeit das zentrale Kriterium und der Kontext in beiden Fällen die Kooperation. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Teilnehmer rationale Akteure sind und daher die Zustimmung eine rationale Zustimmung ist. Eine deutliche inhaltliche Differenz zwischen den Begriffen Moral, Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und Fairness kann man bei Gauthier nicht finden. Alle genannten Begriffe sind in einer allgemeinen rationalen Zustimmung verankert. Sie unterscheidet im Wesentlichen nur der Kontext, in dem sie verwendet werden. Die allgemeine Zustimmungsfähigkeit als Kriterium des MRC-Prinzips bewirkt eine starke Tendenz zu egalitären Güterverteilungen. Diese Gleichheit bezeichnet Gauthier als Chancengleichheit.211 „Thus the equality which rational cooperation ensures is equality of opportunity. Each person has the same degree of opportunity to realize his social potential. To accept any stronger form of equality would be to require some members of society to make

209

D. Gauthier: „Justice as Social Choice" (1990), 176.

210

MbA, 151.

211

Chancengleichheit ist eine Verfahrenseigenschaft, die in einem fairen und offenen Wettbewerb um knappe Gelegenheiten realisiert wird. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Ungleichheiten der Wettbewerbsteilnehmer in den für den Wettbewerb relevanten Eigenschaften im Ergebnis möglichst getreu widerspiegelt. Die Intention der Chancengleichheit setzt eine Ungleichheit der Teilnehmer implizit voraus, denn die Verfahren, in denen Chancengleichheit eine Rolle spielt, sind Selektionsverfahren. In diesen geht es darum, die Unterschiede der Teilnehmer in Bezug auf die für einen vorgegebenen Zweck relevanten Kriterien offenbar zu machen und aufgrund dieser Unterschiede eine Verteilung von Gütern oder Rechten vorzunehmen. Chancengleichheit und Gleichverteilung sind so gesehen einander widerstrebende Konzepte.

151

proportionately greater sacrifices than others, and this would be rationally unacceptable to utility-maximizing individuals.“ 212 Als soziales Potenzial bezeichnet Gauthier den maximalen Nutzen, den ein Individuum in einer kooperativen Gesellschaft erlangen könnte, wenn alle anderen Teilnehmer auf ihren Anteil am kooperativen Mehrwert verzichten würden. „I shall term the maximum well-being which each representative person can expect, under that optimal social arrangement most favorable to him, his social potential.“ 213 Wie groß das soziale Potenzial des Einzelnen,absolut gesehen, quantitativ ist, hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab. Zum einen ist die Kompatibilität von individuellen Präferenzen und der Art der sozialen Güter zu berücksichtigen. Für den einen können die sozialen Güter für die Realisierung seiner Präferenzen besonders förderlich sein, für einen anderen Teilnehmer mit anderen Präferenzen sind sie vielleicht nur in sehr geringem Maße förderlich. Der andere Faktor ist die Effizienz des einzelnen Teilnehmers, mit der er die vorhandenen sozialen Güter für die Realisierung seiner Ziele einsetzen kann. Hier kommt die natürliche Ausstattung der Individuen mit Fähigkeiten zum Tragen. Bei den Überlegungen Gauthiers kommt das soziale Potenzial nur als ein relativer Wert vor. Es ist nur relevant für den Bruchteil des maximal möglichen Nutzens, welchen eine Person erlangt. Jeder Teilnehmer an der Kooperation soll die gleiche Chance haben, sein soziales Potenzial zu realisieren. Dies wird bei der Anwendung des MRC-Prinzips dadurch erreicht, dass jeder Teilnehmer einen gleich großen Anteil am kooperativen Mehrwert bekommt. Dadurch sind alle nach der Verteilung des kooperativen Mehrwerts in der gleichen Ausgangslage, um ihr soziales Potenzial zu entfalten. Zwei Personen mit einem gleich großen sozialen Potenzial, d. h. Personen mit einer gleich guten natürlichen Ausstattung, werden bei einer solchen Verteilung im gleichen Ausmaß ihr soziales Potenzial realisieren können. Diese Art der Chancengleichheit ist für Gauthiers Konzeption der Gerechtigkeit kennzeichnend. Er verzichtet auf jede Form der Kompensation für 212

D. Gauthier: „Rational Co-operation" (1974), 62.

213

D. Gauthier: „Justice and Natural Endowment“ (1990), 163.

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relative Defizite in der natürlichen Ausstattung. Eine Differenzierung zwischen selbstverschuldeten und fremdverursachten bzw. kontingenten Defiziten in der natürlichen Ausstattung entfällt damit. In einem solchen System bleiben die Starken relativ stark und die Schwachen relativ schwach. Rationalität der Egalität. Zu welchen Ergebnissen, d. h. zu was für einer Art von Güterverteilungen, führen gerechte Vereinbarungen? Die Antwort Gauthiers ist sehr klar: Es sind egalitäre Güterverteilungen. Egalitäre Güterverteilungen sollen demnach gerecht und allgemein rational akzeptabel sein. Welche Gründe kann Gauthier für diese Behauptung anführen? Er orientiert sich in der Konstruktion seiner Moraltheorie inhaltlich sehr stark an traditionellen Moralkonzeptionen. Im Fall der Gerechtigkeit schließt er sich der schon erwähnten, weit verbreiteten Intuition der praesumptio aequalitatis an, die der Gleichverteilung einen Primat vor allen anderen möglichen Verteilungen einräumt.214 Diese Intuition und damit natürlich auch Gauthiers Position werden nachfolgend kritisch hinterfragt. Das Ziel ist, zu zeigen, dass Gauthier in seiner Theorie einer Anforderung entsprechen will, die ihrerseits sehr fragwürdig ist. Aus Sicht einer rationalen Person ist eine Gleichverteilung nicht als besonders vorteilhaft anzusehen. Ein unmittelbares Interesse hat sie nur an der Maximierung ihres eigenen Nutzens und nicht an einem bestimmten Verteilungsmuster des Nutzens aller Verhandlungsteilnehmer. In welchem Verhältnis der eigene zu erwartende Nutzen zum erwarteten Nutzen anderer Personen steht, ist für einen Nutzenmaximierer kein unmittelbares Entscheidungskriterium. Es sei denn, dass sich ein bestimmtes Verteilungsmuster positiv oder negativ auf seinen eigenen Nutzen auswirkt. So können z. B. bestimmte Verteilungsmuster zu instabilen Situationen in einer Gemeinschaft führen, die sich dann auch negativ auf den Nutzen der einzelnen beteiligten Personen auswirken können. Solange aber verschiedene Verteilungsmuster keine Auswirkung auf den Nutzen des Nutzenmaximierers haben, wird er ihnen gegenüber indifferent sein.

214

Siehe S. 42f.

153

Eigentlich sollte man erwarten, dass Gauthier sich an dem simonidischen Gerechtigkeitsbegriff215 einer proportionalen Gleichheit orientiert, der durch sein zentrales Element des suum cuique216 die individuellen Interessen am besten berücksichtigt. Obwohl sich Gauthier in seiner Verhandlungstheorie eindeutig auf ein egalitäres Verhandlungsergebnis festlegt und diese Egalität auch als ein Nachweis für die Moralität und Unparteilichkeit seiner Theorie anführt, scheint er dennoch die Anforderung einer proportionalen Güterverteilung für gleichermaßen gerechtfertigt zu halten. Denn er betont an verschiedenen Stellen, dass sein Verteilungsprinzip proportional sei. Wie kann aber ein proportionales Verteilungsprinzip permanent zu egalitären Verteilungsergebnissen führen? Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich kurz drei Typen von Verteilungsprinzipien erläutern. Die Art eines Verteilungsergebnisses hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab: die Art des Ausgangszustandes und die Art des Verteilungsprinzips. Im Ausgangszustand können die verteilungsrelevanten Eigenschaften gleich oder ungleich verteilt sein. Die Verteilprinzipien können proportional oder egalitär sein. Die möglichen Kombinationen dieser Typen führen entsprechend Tab. 2 auf S. 42 zu folgender Matrix. Chancengleichheit

Kompensation

Egalität per definitionem

Phase der Verteilung Ausgangszustand

inegalitär | egalitär

inegalitär | egalitär

Verteilungsprinzip Endzustand

proportional inegalitär | egalitär

egalitär egalitär

per definitionem egalitär proportional egalitär

Typ der Verteilung

Tab. 3: Typen von Verteilungsprinzipien

Der erste Typ einer Verteilung in der Matrix entspricht der Idee der Chancengleichheit und ist ein typisch liberaler Standpunkt, der das Individuum mit seinen jeweils spezifischen Eigenschaften in den Vordergrund stellt. Der 215 216

Platon: Politeia, 331e.

Im Zentrum des Naturrechts stehen nach dem römischen Juristen Ulpian drei Leitsätze: Honeste vive, neminem laede, suum cuique tribuere. Aus dem letzten Leitsatz leitet sich sein Gerechtigkeitsverständnis ab: Iustitia est perpetua et constans voluntas ius suum cuique tribuendi.

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Anspruch auf einen Anteil bestimmter Größe am zu verteilenden Gut resultiert aus den eigenen Eigenschaften, Fähigkeiten oder dem eigenen Verdienst. Das Verteilverfahren soll das Verteilungsverhältnis der verteilungsrelevanten Eigenschaften im Ausgangszustand in das Verteilungsverhältnis der Güter im Endzustand übertragen. Die Intuition einer kompensatorischen Güterverteilung besagt, dass es das moralisch Gebotene sei, einen Endzustand der Gleichverteilung zu erreichen, ganz gleich welche Struktur der Ausgangszustand hat. Der Anspruch auf einen Anteil bestimmter Größe resultiert hier nicht aus Eigenschaften der Individuen im Ausgangszustand. Die für einen solchen egalitären Endzustand angeführten Begründungen berufen sich z. B. darauf, dass bei einer egalitären Güterverteilung die menschliche Gemeinschaft als Ganze und damit indirekt auch jeder einzelne das größte Wohlergehen zu erwarten habe. Wichtig ist es, bei diesem Typ der Verteilung darauf hinzuweisen, dass Kompensation bedeutet, auch Umverteilungen zuzulassen. Bei Umverteilungen werden einigen Individuen Güter ohne Gegenleistung weggenommen, um sie anderen Individuen zu geben, die ihrerseits für diese Güter auch keine Gegenleistung erbringen. Das letzte Verteilungsprinzip der Egalität per definitionem beruht auf der Intuition oder Annahme, dass alle teilnehmenden Personen oder sogar alle Menschen überhaupt hinsichtlich der verteilungsrelevanten Eigenschaften gleich sind. Hier werden Eigenschaften wie das Menschsein, Personsein oder die Menschenwürde als verteilungsrelevant angeführt. Die Verteilung erfolgt dann proportional zu diesen Eigenschaften. Da aber per definitionem von einem egalitären Ausgangszustand ausgegangen wird, führt hier auch ein proportionales Verteilungsprinzip immer zu einer Gleichverteilung. Im Gegensatz zum kompensatorischen Verteilungsprinzip vertritt dieses Gerechtigkeitsverständnis genauso wie das Prinzip der Chancengleichheit den Standpunkt, dass eine gerechte Verteilung sich aus den Eigenschaften der Empfänger rechtfertigen lassen muss. Damit nimmt es argumentativ eine Zwischenstellung zwischen den beiden anderen Positionen ein. Es soll damit darauf hingewiesen werden, dass egalitäre Verteilungsergebnisse auch mit proportionalen Verteilungsprinzipien regelmäßig erzeugt werden können. Nun zurück zur Ausgangsfrage an die Theorie Gauthiers. Wie kann ein proportionales Verteilungsprinzip regelmäßig egalitäre Ergebnisse liefern?

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Die Antwort wird aus dem eben Gesagten klar. Man muss nur die Ausgangssituation egalitär gestalten, dann wird auch bei einem proportionalen Verteilungsprinzip das Ergebnis egalitär sein. Für Gauthier war es wichtig, dass er sein Verteilungsprinzip als proportional darstellen konnte, denn ein kompensatorisches Verteilungsprinzip widerspricht seinem ganzen Ansatz, nach dem die Interessen des Individuums und deren Schutz gegen Übergriffe durch andere im Vordergrund stehen sollen. Gauthier sieht zwei Eigenschaften im Ausgangszustand als verteilungsrelevant an, die unter den Teilnehmern gleich verteilt sind: die Rationalität und die Teilnahme an der Kooperation.217 Alle Teilnehmer sind gleich rational und alle Teilnehmer haben die Eigenschaft, Teilnehmer an der Kooperation zu sein, in gleichem Maße. Gauthier argumentiert dann dafür, dass es genau diese beiden Eigenschaften sind, die für den quantitativen Ausgang der Verteilung relevant sind. Die Darstellung des MRC-Prinzips in diesem Abschnitt hat die Vielschichtigkeit dieser Kernkonzeption zum Vorschein gebracht. Es ist nicht nur eine Formel zur Berechnung von Verhandlungsergebnissen, vielmehr sind im MRC-Prinzip, wenn es in den vorgesehenen weiteren moralischen Kontext gestellt wird, zentrale moralische Themen enthalten. Diese Eigenschaft des Prinzips führt dazu, dass auch sehr technisch erscheinende Fragen bei der Konstruktion des Prinzips zu entscheidenden moralischen Fragen werden können. Mit dieser Wirkungsweise des Prinzips werden wir in den nächsten Abschnitten noch häufiger zu tun haben. Spätestens wenn Gauthier das MRCPrinzip als den Inhalt der Gerechtigkeit bezeichnet, dann wird klar, wie stark seine Theorie auf diesem Prinzip ruht.

D. Kritik an der Herleitung und den Verteilungsergebnissen des MRC-Prinzips Im Abschnitt B.4 gehe ich auf die Herleitung und die Verteilungsergebnisse des MRC-Prinzips ein, wie sie Gauthier in seiner Argumentation unmittelbar anspricht. Im Abschnitt B.5 werde ich Verteilungsergebnisse des MRC-

217

Vgl. Abs. III.C.2 ab S. 142 und Abs. III.G.2 ab S. 253.

156

Prinzips in längerfristigen und wiederholten Spielen diskutieren, die bei Gauthier nicht thematisiert werden.

1. Axiomatische oder kompetitive Verhandlungstheorie? Axiomatische und kompetitive Verhandlungsspiele. In der Spieltheorie wird zwischen kooperativen und kompetitiven Spielen unterschieden. Kooperative Spiele unterscheiden sich von kompetitiven Spielen dadurch, dass in ihnen bindende bzw. erzwingbare Vereinbarungen möglich sind. Damit verbunden ist in kooperativen Spielen die Möglichkeit zur Kommunikation, ohne die Vereinbarungen nicht geschlossen werden können. Die Möglichkeit zur Kommunikation kann, muss aber nicht in kompetitiven Spielen gegeben sein.218 In der Vereinbarung wird eine Strategie bzw. ein Set von Strategien festgelegt, in der bzw. in dem das kooperative Handeln der Teilnehmer vorgegeben ist. Die vereinbarten Strategien haben für alle Teilnehmer bindende Wirkung. Diese bindende Wirkung wird durch externe Mechanismen, wie z. B. einen Staat, erreicht, die die Durchsetzung der Vereinbarungen garantieren.219 In kompetitiven Spielen hingegen verfolgen die Spieler voneinander unabhängig und ohne Absprache individuelle, oftmals antagonistische Strategien. Hier gibt es keine Verhandlungen, um Strategien festzulegen. Kooperative Spiele werden in der Spieltheorie im weiteren Sinne auch als Verhandlungsspiele bezeichnet. Der Grund dafür ist, dass in jedem kooperativen Spiel die gemeinsame Strategie zwischen den Spielern ausgehandelt werden muss. Dieser Verhandlungsprozess ist für kooperative Spiele zentral, da hier festgelegt wird, wie groß der Anteil am Kooperationsertrag für 218

J. C. Harsanyi und R. Selten: A General Theory of Equilibrium Selection in Games (1988), 1: Harsanyi und Selten argumentieren sehr überzeugend dafür, dass es sinnvoll ist, sich bei der Differenzierung zwischen kooperativen und kompetitiven Spielen auf ein Merkmal, nämlich die Erzwingbarkeit von Vereinbarungen, zu beschränken. Anderenfalls hat man nämlich das Problem, dass man die Fälle mit nur einem der erforderlichen Merkmale nicht eindeutig in eine der beiden Klassen einordnen kann. 219

Vgl. hierzu K. Binmore und P. Dasgupta: Game Theory (1986), 5 oder M. J. Holler und G. Illing Einführung in die Spieltheorie (2003), 189ff.

157

jede Partei ausfällt. In einigen Fällen kann der Verhandlungsprozess überflüssig erscheinen, weil es z. B. nur eine mögliche Verhandlungslösung gibt oder aus anderen Gründen allen Teilnehmern völlig klar ist, welche Strategie für die Kooperation zu wählen ist. Hier haben wir es mit einer stillschweigenden Übereinkunft zu tun, die, logisch gesehen, aber einen Verhandlungsprozess voraussetzt. Nun gibt es in der Spieltheorie für den der Kooperation vorausgehenden Verhandlungsprozess zwei verschiedene Modellierungen: axiomatische und kompetitive Verhandlungsmodelle. Im axiomatischen Verhandlungsspiel besteht die Verhandlung nur aus einem Schritt. Ausgehend vom Status quo wird anhand von bestimmten Kriterien, die als Axiome bezeichnet werden und für die jeweilige Verhandlungstheorie spezifisch sind, eine Lösung der Verhandlung bestimmt. In kompetitiven Verhandlungsspielen hingegen wird der Verhandlungsprozess als eine Abfolge von Forderungen und Zugeständnissen bis zu einer Einigung beider Parteien auf ein Verhandlungsergebnis behandelt. Verhandlungstheorien, die sich auf kompetitive Verhandlungsspiele beziehen, gelangen durch die genaue Analyse des Verhandlungsprozesses zu ihren Lösungen. Das Verhalten beider Parteien im Verhandlungsprozess selbst ist nicht kooperativ, sondern kompetitiv. Wie sich die Parteien in der Verhandlung verhalten, das ist nicht durch eine gemeinsame Strategie bestimmt, sondern jeder agiert hier isoliert aufgrund einer individuellen Strategie. Zwar ist der Gegenstand dieser Verhandlung eine Strategie für kooperatives Handeln, aber die Verhandlung selbst ist keine Kooperation. Das Verhandlungsspiel insgesamt hat immer eine Kooperation zum Ziel, jedoch wird beim kompetitiven Verhandlungsspiel das kompetitive Verhalten in der Verhandlung als Weg zur Lösung des Verhandlungsproblems gewählt. In den axiomatischen Verhandlungsspielen wird der kompetitive Charakter der Verhandlung nicht verneint, aber man löst das Verhandlungsproblem nicht durch eine Auflösung des Verhandlungsprozesses in seine Einzelschritte. Das Verhandlungsproblem wird gelöst, indem man bestimmte Anforderungen an das Verhandlungsergebnis formuliert. Im axiomatischen Verhandlungsspiel wird die Lösung aufgrund der Anfangsbedingungen, wie sie z. B. durch die Nutzenfunktionen der Spieler und den Konfliktpunkt gegeben sind, bestimmt. Aus den Annahmen wird ein Algorithmus abgeleitet, in den die Anfangsbedingungen eingesetzt werden und dann die Lösung für den konkreten Fall

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berechnet werden kann. In diese Lösung geht nicht das tatsächliche oder mögliche Verhalten der Spieler in der Verhandlung ein. Die Lösung wird von der Position eines unbeteiligten Beobachters konstruiert. Dieser fokussiert auf die seiner Meinung nach relevanten Punkte der Ausgangssituation und sagt dann, welche Lösung vernünftigerweise angestrebt werden sollte. In dieser Variante des Verhandlungsspiels findet ein unparteiischer Schiedsmann problemlos seinen Platz. Die Lösung wird nicht durch die aktive Teilnahme jedes Spielers konstruiert, sondern aus einer übergeordneten Perspektive. Verhältnis von axiomatischen und kompetitiven Verhandlungsmodellen. Axiomatische Verhandlungstheorien bestehen aus der Angabe erforderlicher Kriterien für einen zu erreichenden Zustand, das Verhandlungsergebnis. Kompetitive Verhandlungstheorien hingegen richten ihr Augenmerk auf den Verhandlungsprozess. Über die Spezifizierung des Verhandlungsprozesses wird indirekt auch das Verhandlungsergebnis bestimmt. Dieser Unterschied ist von Bedeutung, wenn man die Anforderung der Rationalität der Verhandlung ins Spiel bringt. Es ist etwas anderes, Rationalität von einem Zustand, dem Verhandlungsergebnis, oder einem Prozess, dem Verhandlungsprozess, zu fordern. Wie im Abs. III.G.2 ab S. 253 noch gezeigt wird, bezieht sich der in Spieltheorie und auch bei Gauthier zugrunde gelegte Rationalitätsbegriff auf eine Handlung, genauer gesagt auf eine Entscheidung. Daher kann man nicht unmittelbar von der Rationalität der axiomatischen Verhandlungstheorien bzw. der Axiome sprechen. Axiomatische und kompetitive Verhandlungstheorien können als verschiedene Perspektiven desselben Vorganges verstanden werden. Dann sollten sie aber beide zum selben Ergebnis gelangen. Nash hat für seine axiomatische Verhandlungstheorie aus „The Bargaining Problem“ von 1950 in nachfolgenden Untersuchungen („Non-cooperative Games“ von 1951 und „Two-Persons Cooperative Games“ von 1953) gezeigt, dass diese sich durch eine kompetitive Theorie rekonstruieren lässt bzw. dass die Lösungen von axiomatischen und kompetitiven Verhandlungsspielen identisch sind.220 Für Nash ist das kompetitive Verhandlungsspiel die extensive Form des axiomati220

Dasselbe Ziel verfolgt Akira Okada in seinem Aufsatz „A noncooperative approach to the Nash bargaining problem“ (1991).

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schen Verhandlungsspiels. Man versucht dort die Schritte, die zu einem axiomatischen Verhandlungsspiel führen, zu rekonstruieren. So kommt man zu einem dynamischen Verhandlungsspiel, in dem das Verhandlungsergebnis das Resultat einer langen Kette von kompetitiven Verhandlungszügen ist.221 Gauthiers Verhandlungsmodell. Gauthier modelliert die Verhandlung in zwei Phasen.222 In der ersten Phase stellt jeder Teilnehmer die maximale Forderung. In der zweiten Phase macht jeder Teilnehmer ausgehend von der Maximalforderung ein Zugeständnis. Wie groß dieses Zugeständnis rationalerweise sein sollte, das ist Gegenstand des MRC-Prinzips. Diese Form des Verhandlungsspiels ist eine Mischform aus einem kompetitiven und axiomatischen Verhandlungsspiel. Dies wird schon durch die Formulierung der Axiome deutlich, von denen Gauthier das MRC-Prinzip ableitet. Die ersten drei Axiome stimmen mit den Axiomen bei Nash überein, sind also als „richtige" Axiome zu bezeichnen. Das vierte Axiom von Nash wird bei Gauthier durch die Zeuthen-Formel ersetzt. Die Zeuthen-Formel bezieht sich im Gegensatz zu den anderen drei Axiomen nicht auf Eigenschaften der Verhandlungslösung, sondern auf das Verhandlungsverhalten. Gauthier bezeichnet die Zeuthen-Formel auch nicht als Axiom, aber weist explizit darauf hin, dass die Zeuthen-Formel die Stelle des vierten Axioms der NashTheorie einnimmt. Er baut seine Verhandlungslösung also auf drei Axiome für die Verhandlungslösung und einem Kriterium für das kompetitive Verhandlungsverhalten auf. Daher kann man seine Theorie als eine Mischform aus axiomatischer und kompetitiver Verhandlungstheorie bezeichnen. Einerseits werden in dem Verhandlungsspiel seiner Theorie Forderungen gestellt und Zugeständnisse gemacht. Insofern haben wir es mit einem kompetitiven Verhandlungsspiel zu tun. Andererseits wird die Verhandlungslösung aber nicht durch strategische Überlegungen gefunden, indem man z. B. ein Gleichgewicht der individuellen Verhandlungsstrategien sucht. Stattdessen wird als Lösung ein Kriterium dafür angegeben, in welchem Verhältnis die Zugeständnisse der Teilnehmer zueinander stehen sollen. Es wird ein Kriterium für das Verhandlungsergebnis angegeben. Vom Typ her entspricht dies der 221

J. F. Nash: „Non-cooperative games“ (1951), 295.

222

MbA, 133.

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axiomatischen Form des Verhandlungsspiels. Die Beschränkung auf nur eine Möglichkeit, ein Zugeständnis zu machen, was im Modell der Verhandlung einer einzigen Verhandlungsrunde gleich kommt, lässt kaum Spielraum für strategische Überlegungen. Prinzipiell ist es denkbar, dass man die zwei verschiedenen Typen von Verteilungstheorien in eine Theorie integriert. Das Problem im Fall von Gauthiers Theorie besteht darin, dass er den Anspruch hat, dass seine Lösung aus der Sicht jedes Teilnehmers akzeptabel ist und daher konsequenterweise jeder Teilnehmer aktiv in den Prozess der Lösungsbestimmung einbezogen wird. Diesen Anspruch kann man offensichtlich in kompetitiven Verhandlungsspielen realisieren. Deswegen entwickelt Gauthier folgerichtig seine Verhandlungstheorie zunächst auch im Rahmen eines kompetitiven Verhandlungsspieles. Wenn es aber an die quantitative Bestimmung der Lösung geht, dann wechselt Gauthier auf den Lösungsweg axiomatischer Verhandlungstheorien. Man fragt sich hier, wieso Gauthier überhaupt einen zweiten Ansatz neben dem kompetitiven Ansatz benötigt. Entweder ist der Ansatz über ein kompetitives Verhandlungsspiel für sich genommen schon vollständig und führt somit auch zu einer quantitativen Bestimmung der Verhandlungslösung. Dann würde die Bezugnahme auf ein axiomatisches Verhandlungsspiel nur zur weiteren Stützung der Theorie dienen, indem man, wie z. B. Nash, zeigt, dass die Verhandlungslösungen für kompetitive und axiomatische Spiele koinzidieren. Oder aber der Ansatz über ein kompetitives Verhandlungsspiel führt nicht zu einer eindeutigen quantitativen Lösung und ist insofern unvollständig. Wenn man dann auf eine axiomatische Verhandlungstheorie zurückgreift, um diese fehlende quantitative Bestimmung der Verhandlungslösung zu liefern, müsste man erklären, in welcher logischen Beziehung diese zwei Ansätze in der eigenen Theorie zueinander stehen. Gauthier muss hier genau genommen die Annahme machen, dass die Ergebnisse von kompetitiven und axiomatischen Verhandlungsspielen grundsätzlich identisch sind bzw. zumindest auf dieselbe Lösung hinauslaufen, damit er sie (so ergänzend) nebeneinander in der gleichen Theorie einsetzen kann. Diese Annahme wird aber in der Spieltheorie sehr kontrovers diskutiert und Gauthier führt seinerseits auch keine Argumente für diese Übereinstimmung an. Ein weiterer kritischer Punkt dieser Mischform des Verhandlungsspiels ist, dass Gauthier ausgehend von seinen Annahmen für ein kompetitives

161

Verhandlungsspiel, die rein qualitativer Natur sind, keinen überzeugenden lückenlosen Weg hin zu der quantitativen Verhandlungslösung aufzeigen kann, wie er sie dann im MRC-Prinzip vorlegt. Im kompetitiven Ansatz können Ungleichheiten der Verhandlungsteilnehmer grundsätzlich gut berücksichtigt werden. Dies ist im axiomatischen Ansatz nicht mehr so problemlos möglich, denn hier stehen nicht die Individuen mit ihren Eigenschaften und ihrem Verhandlungsverhalten im Mittelpunkt, sondern die Eigenschaften des Verhandlungsergebnisses. Die individuelle und kollektive Perspektive werden hier vermengt, ohne deren unterschiedliche Zielrichtung berücksichtigt zu haben.

162

2. 2-Personen- oder n-Personen-Spiel? Gauthier geht in MbA davon aus, dass an der Verhandlung und an der Kooperation mehr als zwei Personen beteiligt sein können.223 Die klassischen Verhandlungstheorien von Nash, Zeuthen und Kalai-Smorodinsky, auf die sich Gauthier stützt, sind in ihren Standardversionen nur für 2-PersonenSpiele konzipiert.224 Von diesen Theorien ausgehend eine Erweiterung des Teilnehmerkreises auf n Personen vorzunehmen, ist zwar theoretisch möglich, aber dies ist mit erheblichen Komplikationen und Einschränkungen verbunden.225 So müssen z. B. die Bildung von offenen Koalitionen oder Kollusionen (verdeckte Koalitionen) integriert werden und die Rolle der möglichen Kommunikationsprozesse geklärt werden.226 Angesichts der in diesen Bereichen möglichen Komplexität steigen die zu berücksichtigenden Variationen mit größeren Teilnehmerzahlen n so stark an, dass dies zu ernsthaften Problemen in der Anwendung der klassischen Verhandlungstheorie führt und diese deshalb faktisch für n-Personen-Spiele kaum angewendet werden.227 Darüber hinaus spielen bei der Integration der genannten Problemkreise empirische Annahmen und Kriterien der Fairness eine wesentliche Rolle. Angesichts der Komplexität und dem Gewicht dieser Probleme erscheint die einzige diesbezügliche Anmerkung Gauthiers, dass die grafische Darstellung

223

Ebda, 121, 133f.

224

J. F. Nash: „The Bargaining Problem“ (1950), 155: „A two person bargaining situation involves two individuals who have the opportunity to collaborate for mutual benefit in more than one way. “ So formuliert Nash das seiner Theorie zugrunde liegende Verhandlungsproblem. Vgl. auch J. C. Harsanyi: „Approaches to the Bargaining Problem before and after the Theory of Games“ (1956), 157 oder W. Thomson: „Cooperative Models of Bargaining“ (1994), 1238.

225

Vgl. R. D. Luce und H. Raiffa: Games and Decisions (1957), 155ff und R. B. Myerson: Game Theory (1991), 417ff. 226

In „The Social Contract: Individual Decision or Collective Bargain?” (1978), 63 weist Gauthier zwar auf diese Problematik hin, gibt aber für den Fall seiner Theorie keine Lösung an. 227

R. B. Myerson: Game Theory (1991), 418.

163

von n-Personen-Verhandlungsspielen schwierig ist, doch etwas befremdlich.228 Würde man,diesen Einwänden folgend, Gauthiers Theorie als auf den theoretisch vertretbaren Rahmen eines 2-Personen-Spiel begrenzt verstehen, so wäre bei der intendierten Anwendung auf die Konstituierung einer moralischen Gemeinschaft mit erheblichen Problemen zu rechnen. Gauthier hätte dann in MbA lediglich gezeigt, dass in einer Gruppe von eingeschränkten Nutzenmaximieren und direkten Nutzenmaximierern Interaktionspaare von eingeschränkten Nutzenmaximierern zu vorteilhafteren Ergebnissen kommen als die anderen Paare.229 Jedes Paar könnte eine je eigene Moral konstituieren, die natürlich auch nur für dieses Paar gilt. Die Gruppe von Paaren hätte aber als ganze keine gemeinsame Moral. Dies wäre selbst dann der Fall, wenn alle Paare dieselben Inhalte der Moral hätten. Für eine gemeinsame Moral ist eine gemeinsame Vereinbarung notwendig und diese ist durch 2-Personen-Spiele nicht konstruierbar. Und selbst wenn man eine Ausweitung der 2-PersonenSpiele auf n-Personen-Spiele zugestehen würde, so bleibt die Frage der Koalitionsbildung bei Gauthier völlig unbeantwortet. In der Welt der Moral Gauthiers hätte man es demnach mit einer enormen Anzahl von partikularen Moralen zu tun. An einen universalen Anspruch wäre nicht zu denken. An diesem Punkt der Ausweitung von 2-Personen-Spiele auf n-Personen-Spiele stößt Gauthiers Theorie an die Grenzen des derzeitigen Forschungsstandes der Spieltheorie, der für dieses Problem noch keine allgemein überzeugende Lösung anbieten kann.

3. Kooperationsteilnahme als Verteilungskriterium Gauthiers Kooperationsbegriff. In Abs. III.C.2 wurde erläutert, welche Rolle der Kooperationsteilnahme bei der Festlegung des Anteils am Kooperationsertrag zukommt und wie Gauthier diese Rolle begründet. In diesem Abs. werde ich mich kritisch mit diesem Verteilungskriterium und seiner Begründung auseinander setzen. Mit den Beispielen von der Chemikerin Ms. 228

MbA, 121.

229

So interpretiert z. B. J. Meran: Wirtschaftsethik (1992), 65.

164

Macquarrie und dem Goldsucher McGee230 will Gauthier zeigen, dass es sich bei einer Interaktion, bei der ein Teilnehmer durch einen anderen ersetzt werden könnte, nicht um eine Kooperation, sondern um eine nichtkooperative Marktinteraktion handelt. Die Chemikerin Ms Macquarrie stellt den Laboranten O'Rourke ein und entdeckt aufgrund seiner Arbeitsergebnisse ein Medikament, das ihr Millionengewinne einbringt. Da O'Rourke durch andere Laboranten auf dem Arbeitsmarkt ersetzbar ist, hat er nach Gauthiers Meinung keinen Anspruch auf einen Anteil an dem Gewinn. Diese Erklärung erscheint nicht plausibel. Der tatsächliche Grund für den fehlenden Anspruch auf eine Gewinnbeteiligung wird nicht der Umstand sein, dass O'Rourke ersetzbar ist, sondern dass seine Entlohnung in einem Vertrag über ein festes Gehalt und nicht über eine Gewinnbeteiligung geregelt ist. Auch wenn O'Rourke der einzige Laborant auf dem Markt gewesen wäre, so hätte er dennoch keinen Anspruch auf eine Gewinnbeteiligung gehabt. Er hätte wahrscheinlich einen für ihn günstigeren Arbeitsvertrag aushandeln können. Aber ob das in Form einer Gewinnbeteiligung oder durch einen höheres Festgehalt geschehen wäre, muss offen bleiben. In dem Beispiel von dem Goldsucher McGee und dem Bankier Grasp sieht Gauthier eine Situation der Kooperation. McGee hat in seinem Claim eine Goldader gefunden, besitzt aber nicht die notwendigen $100, um die Schürfrechte zu erwerben. Grasp ist die einzige Person in Dawson City, die ihm die $100 leihen könnte. Aufgrund dieser Monopolstellung kann Grasp nach Gauthiers Meinung rationalerweise die Hälfte von McGees Claim als Gegenleistung für den Kredit verlangen. Der Unterschied zum Beispiel von Macquarrie und O'Rourke besteht darin, dass Grasp ein Monopol hat. Umgekehrt ist McGee in diesem Beispiel der einzige Anbieter. Grasp und McGee werden einen Preis bzw. Zins für den Kredit aushandeln. Die Situation zwischen McGee und Grasp ist eine Marktsituation mit der Besonderheit, dass Grasp ein Monopol hat. Ist das schon ausreichend, um eine entsprechende Einigung zwischen den beiden als Kooperation zu bezeichnen? Angenommen, die beiden einigen sich auf die von Gauthier vorgeschlagene Lösung, dann erhält Grasp von McGee einen Anteilsschein über die Hälfte seines Claims und McGee erhält von Grasp $100. Weder gibt 230

Vgl. S. 63.

165

es hier einen Grund für einen Vertragsschluss, noch ist eine gemeinsame Strategie ausgehandelt worden. Keiner der beiden hat sich in der Vereinbarung auf eine bestimmte zu befolgende Strategie festgelegt, was nach Gauthiers Definition von Kooperation erforderlich wäre. Es wurde ausschließlich der Preis von $100 Bargeld zwischen den beiden ausgehandelt. Die beiden von Gauthier angeführten Beispiele müssen also genau umgekehrt gedeutet werden: Das Beschäftigungsverhältnis zwischen Macquarrie und O'Rourke ist ein Beispiel für Kooperation und das Geschäft zwischen Grasp und McGee ist eine nicht-kooperative Marktinteraktion. Angenommen, in Dawson City gäbe es vier Personen mit jeweils $25. Dann könnten diese vier Personen mit McGee dasselbe Geschäft machen wie es Grasp mit McGee abschließen würde. Nach Gauthiers Argumentation müsste analog zur Situation mit Grasp nun jede der vier Personen einen Anteil von 1/5 des Claims von McGee erhalten. Offensichtlich hat McGee in Gauthiers Version der Geschichte Glück, dass er das gesamte Kapital, das er benötigt, von nur einer Person erhalten kann. Dieses Beispiel zeigt nebenbei auch, dass es nach dem MRC-Prinzip vorteilhafter ist mit reichen als mit armen Personen zu kooperieren. McGee würde ein Geschäft mit Grasp natürlich dem Geschäft mit den vier ärmeren Personen vorziehen. Die Beispiele und auch explizite Aussagen in MbA zeigen, dass bei Gauthier der Kooperationsbegriff eine andere Bedeutung hat als in der Standard-Spieltheorie.231 Diese setzt die Möglichkeit, erzwingbare Verträge abzuschließen, als wesentliche Randbedingung für die Möglichkeit kooperativen Handelns voraus. Damit trägt die Spieltheorie realen Interaktionsbedingungen Rechnung, in denen es z. B. politische Institutionen als Garanten der Durchsetzung von Verträgen gibt. Dies entspricht gegenüber einem hypothetischen Naturzustand einer Veränderung der Rahmenbedingung der Interaktionen, so dass vertragsbrüchiges Handeln nicht mehr rational ist. 231

D. Gauthier: „Rational Co-operation" (1974), 53: „Why cooperate? To achieve mutual advantageous states of affairs. But why is cooperation necessary? To answer this, we must first consider what is involved in cooperation. I propose this account: a number of persons cooperate, or act in a cooperative manner, if and only if each acts in a way determined by their mutual agreement. So characterized, cooperation depends, not on common objectives, but on common principles of action. These common principles are what is necessary to achieve mutual advantage”

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In diesem Szenario wird das Problem der Vertragstreue in rationalen Vereinbarungen als gelöst angesehen, denn man betrachtet dieses Szenario nur für perfekte rationale Akteure. Bei Gauthier hingegen gibt es keinen solchen institutionalisierten Garanten für die Erzwingbarkeit von Verträgen, da wir es bei ihm mit einem moralischen und nicht mit einem politischen Kontraktualismus zu tun haben. Bei ihm ist die wechselseitige Abhängigkeit des Erfolges das entscheidende Kriterium der Kooperation. Wenn ein Teilnehmer aus der Kooperation aussteigt, dann ist der gesamte Vorteil der Kooperation hinfällig. Damit steigt natürlich der Wert der Teilnahme jedes einzelnen Kooperationsteilnehmers. Der Erfolg des ganzen Kooperationsunternehmens ist von seiner Teilnahme abhängig. Beim Kooperationsbegriff der Spieltheorie ist dagegen die Erzwingbarkeit der Vereinbarung das entscheidende Kriterium der Kooperation. Hier fällt der einzelnen Teilnahme nicht mehr eine so entscheidende Rolle zu. Wenn ein Teilnehmer aus der Kooperation ausschert, so hat das zwar für die übrigen Teilnehmer negative Konsequenzen, jedoch kann die Kooperation fortgeführt werden, wenn vielleicht auch mit verminderter Effizienz. Zudem wird in der Vereinbarung für den Fall eines Vertragsbruches eine Sanktion verhängt werden, die gegebenenfalls auch den Schaden der anderen Teilnehmer kompensieren kann. Hier fungiert die Teilnahme nicht als Alles-oder-nichts-Kriterium, wie dies bei Gauthier der Fall ist, und wird dementsprechend bei der Frage der Verteilung des kooperativen Mehrwertes auch nicht so hoch bewertet. Für seinen Kooperationsbegriff und damit auch für seine Konzeption der Verteilung des kooperativen Mehrwertes fehlt Gauthier der Rückhalt der Spieltheorie. Wir haben es hier mit einer idiosynkratischen Form der Kooperation zu tun, die primär gravierende quantitative Konsequenzen hat, nämlich die Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts, und damit zu einem Ergebnis führt, das den traditionellen Moralvorstellungen entspricht. Aus der Art der Herleitung des Kooperationsmodells in MbA ist diese Abweichung von der Standard-Spieltheorie plausibel erklärbar. Dort überträgt Gauthier die Eigenschaften bestimmter 2-Personen-Spiele auf beliebige nPersonen-Spiele. In dem typischen Gefangenen-Dilemma-Beispiel von A. W. Tucker sind die Gefangenen nicht durch andere Personen ersetzbar. Wenn der Gefangene A nicht bereit ist, mit dem Gefangenen B zu kooperieren, dann kann sich B nicht einfach einen anderen Kooperationspartner

167

suchen. Dasselbe gilt natürlich auch umgekehrt. Diese Unersetzbarkeit ist aber weder für die Entstehung der Gefangenen-Dilemma-Struktur noch für eine mögliche nachfolgende Kooperation essenziell. Die wechselseitigen Monopolstellungen wirken sich auf Preise bzw. Nutzenverteilungen aus, nicht aber auf den Interaktionstypus. Der entscheidende Punkt im GefangenenDilemma ist, dass die Strategiekombination des Equilibriums nicht zugleich die pareto-optimale Strategiekombination ist. Die pareto-optimale Strategiekombination zu befolgen, ist nur dann rational, wenn sichergestellt ist, dass alle Teilnehmer die pareto-optimale Strategie befolgen werden. Diese Sicherheit kann durch eine Sanktionsinstanz gewährleistet werden, die durch die Verhängung entsprechend starker Sanktionen dafür sorgt, dass sich das Befolgen von Defektionsstrategien für keinen der Teilnehmer lohnt. Übergang von einer nicht graduierbaren Qualität zu einer Quantität. Die Teilnahme an der Kooperation ist nur die notwendige Bedingung dafür, jemanden überhaupt als Empfänger eines Anteils am kooperativen Mehrwert zu akzeptieren. Diejenigen, die nicht die Eigenschaft des Teilnehmers haben, haben nicht etwa einen geringeren Anspruch auf einen Anteil am kooperativen Mehrwert, sondern sie haben gar keinen Anspruch. Die Teilnahme allein gibt keinen Aufschluss darüber, ob man einen Anspruch auf den gesamten kooperativen Mehrwert oder auf irgendeinen bestimmten Bruchteil desselben hat. Um die Größe der Anteile für jeden Teilnehmer eindeutig bestimmen zu können, muss man ein Kriterium anführen, das auf jeden Teilnehmer angewendet werden kann und aus dem sich quantitative Aussagen über die Größe der Anteile am kooperativen Mehrwert ableiten und begründen lassen. Wenn Gauthier die Kooperationsteilnahme für die Verteilung des kooperativen Mehrwerts so in den Vordergrund stellt, dann liegt es nahe zu fragen, worin sich die Teilnahme einer Person eigentlich manifestiert. Eine Kooperation ist als eine Produktionsgemeinschaft zu verstehen, in der sich Individuen zusammenschließen und eine gemeinsame Strategie verfolgen, um einen kooperativen Mehrwert hervorzubringen, an dem jeder Teilnehmer partizipieren möchte. Am Anfang einer Produktion steht eine Investition. Der Kooperationsbeitrag ist eine Investition, in der sich die Teilnahme einer Person an der Kooperation manifestiert. Eine Teilnahme ohne einen Beitrag in irgendeiner Form läuft der Grundidee einer Kooperation als einer Produkti-

168

onsgemeinschaft zuwider. Dieser Kooperationsbeitrag ist eine quantifizierbare Größe, denn aus der Summe der Kooperationsbeiträge wird der Kooperationsertrag hervorgehen, der dann zur Verteilung ansteht. Somit ist ausgehend von der Teilnahme als notwendiger Bedingung dafür, überhaupt einen Anteil am kooperativen Mehrwert zu erhalten, die Höhe des damit untrennbar verbundenen Kooperationsbeitrages als Kriterium der Verteilung sehr nahe liegend. Auf ein vom Kooperationsbeitrag abhängiges, alternatives Verteilungsprinzip wird noch in Abschnitt III.F eingegangen. Gauthier hat zwar mit seiner Fokussierung auf die Teilnahme als Kriterium für die Verteilung des kooperativen Mehrwerts den zentralen Faktor für die Entstehung eines kooperativen Mehrwerts benannt, aber dies ist nicht automatisch der zentrale Faktor für die Bestimmung der Größe des kooperativen Mehrwerts. Hier gilt,wie bei jeder anderen Produktionsgemeinschaft, das Prinzip, dass die Größe des Outputs von der Größe des Inputs abhängig ist. Demnach ist die Größe des kooperativen Mehrwerts von der Größe der Kooperationsbeiträge abhängig, womit sich diese Größe auch als Verteilungskriterium anbietet. Individualität der Verhandlungsteilnehmer. „In bargaining, we attain impartiality among real persons by taking their distinctness seriously.“ 232 Gauthier erhebt in MbA den Anspruch, dass seine Theorie die Individualität der beteiligten Personen berücksichtigt und nicht mit entindividualisierten Akteuren arbeitet, wie etwa bei Rawls, der durch den Schleier der Unwissenheit eine Ununterscheidbarkeit der Personen bewirkt erzielt. Dadurch ist bei Rawls das Verhandlungsergebnis nicht mehr das Resultat einer Harmonisierung verschiedener oder gar gegensätzlicher Interessen einer Gruppe unterschiedlicher Individuen, sondern die Entscheidung eines fiktiven Individuums. Durch diese Entindividualisierung der Teilnehmer wird in die Entscheidungssituation schon ein moral point of view hineinprojiziert. Diese Moralisierung der Ausgangssituation will Gauthier durch die Einbeziehung der individuellen Differenzen der Personen vermeiden. Bei ihm ist der Gesellschaftsvertrag als das Ergebnis der Verhandlung nicht die Entscheidung eines fiktiven Subjekts, mit dem sich jeder Teilnehmer identifizieren können 232

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 43.

169

muss, sondern es ist das Verhandlungsergebnis, das aus Sicht aller beteiligten Individuen rationalerweise zu akzeptieren und zu befolgen ist. Bei der Verteilung des kooperativen Mehrwerts nach dem MRC-Prinzip werden die Eigenschaften der Teilnehmer dennoch auf einen einzigen Punkt reduziert, nämlich ihre Teilnahme. Das heißt, die individuellen Unterschiede werden bei der eigentlichen Verteilungsfrage ausgeklammert. Es ist nur ein Unterschied relevant: Teilnehmer oder Nicht-Teilnehmer an der Kooperation zu sein. Der Fortschritt gegenüber Rawls besteht darin, dass durch das begründete Ausklammern von umin aus der Verhandlungsmasse das Verteilungsproblem eingegrenzt wurde bzw. zum Teil schon gelöst ist. Das Verhandlungsverhalten bei der Verteilung des kooperativen Mehrwerts wird aber für alle Teilnehmer als gleich angenommen. Das Verteilungsproblem wird nicht von verschiedenen Standpunkten aus gelöst, sondern durch eine Verallgemeinerung des Verhandlungsstandpunktes aller Teilnehmer, die die individuellen Unterschiede ausblendet. Als Beispiel für eine für die Verhandlung unmittelbar relevante Eigenschaft ist die Risikoaversität zu nennen, die individuell sehr unterschiedlich sein kann.233 Mit dieser Entindividualisierung der Verhandlungsteilnehmer wird eine weitere Gleichheit in die Ausgangssituation der Verhandlung konstruiert, die mittelbar natürlich auch zu einer Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts beiträgt und damit auch die von Gauthier nachzuweisende Unparteilichkeit dieses Verfahrens unterstützt. Diese Vernachlässigung individueller Unterschiede kann nicht ohne eine Begründung als eine legitime Vereinfachung realer Verhandlungssituationen akzeptiert werden. Dazu sind ihre Auswirkungen auf sensible Bereiche der Theorie zu gravierend. Eine solche Begründung finden wir aber bei Gauthier nicht.

4. Das MRC-Prinzip als ein proportionales Verteilungsprinzip Die Teilnahme an einer Kooperation ist für jeden Teilnehmer eine Investition. Er muss sich an der Kooperation mit einem bestimmten Kooperationsbeitrag beteiligen. Als rationaler Akteur wird er sich fragen, ob es sich für ihn lohnt, 233

M. J. Osborne: „The role of risk aversion in a simple bargaining model“ (1985).

170

die von ihm geforderte Investition zu machen. Für die Beantwortung dieser Frage wird er das Verhältnis der Größe der Investition zur Größe seines Anteils am Kooperationsertrag in Rechnung stellen. Das Verhältnis des eigenen Anteils zum Anteil der anderen Teilnehmer ist aus Sicht des Individuums kein unmittelbares Kriterium. Diese Überlegungen kommen erst durch Aspekte der Fairness, des Machtverhältnisses oder des Neides ins Spiel. Deshalb sollte eine Theorie der Verteilung des kooperativen Mehrwerts, die den Anspruch hat, aus Sicht jedes einzelnen Teilnehmers rational zu sein, gerade diesen Aspekt der Proportionalität zwischen Kooperationsbeitrag und Anteil am kooperativen Mehrwert besonders berücksichtigen. Folgen bei variablen Kooperationsbeiträgen. Der Aspekt der Proportionalität wird besonders deutlich sichtbar, wenn man den Fall variabler Kooperationsbeiträge betrachtet. In diesen Fällen gibt es für einen Kooperationsteilnehmer mehr als eine Möglichkeit, sich an der Kooperation zu beteiligen. Er kann entscheiden, wie groß sein Kooperationsbeitrag sein soll. Wie eine solche Entscheidung ausfällt, wird entscheidend vom Verteilungsmodus des kooperativen Mehrwerts abhängen. Eine erhöhte Investition muss zu einer akzeptablen Erhöhung des Gewinns führen. Anhand der in den folgenden Tabellen dargestellten verschiedenen Situationen der Kooperation soll gezeigt werden, dass bei einer Verteilung des Kooperationsertrages nach dem MRC-Prinzip mit der Möglichkeit variabler Kooperationsbeiträge zum einen keine proportionale Verteilung des Kooperationsertrages stattfindet und zum anderen mögliche Erhöhungen des Kooperationsbeitrages sich für den Investor in der Regel nicht lohnen. Mit der Höhe der Kooperationsbeiträge variiert bei einer Verteilung nach dem MRC-Prinzip neben der Höhe des Anteils am Kooperationsertrag auch die Effizienz der Kooperation für jeden einzelnen Teilnehmer. Dabei kann die Effizienz der Kooperation insgesamt konstant bleiben, wie dies im folgenden Beispiel auch angenommen wird. Als alternative Verteilung nach dem MRC-Prinzip wird hier eine proportionale Verteilung gegenübergestellt, bei der der Anteil am kooperativen Mehrwert proportional zum Kooperationsbeitrag bemessen wird. Vorab einige Definitionen, die für die folgenden Abschnitte erforderlich sind:

171 Abkürzung KBA

Bezeichnung Individueller Kooperationsbeitrag

IEA

Individueller Ertrag

KL KG

Kooperationseinlage Kooperativer Grenzertrag

KM

Kooperativer Mehrwert

KE

Kooperationsertrag

MFA

Maximale Forderung von A nach dem MRC-Prinzip Maximales Zugeständnis von A nach dem MRC-Prinzip Individueller Anteil von A am KM nach dem MRC-Prinzip

MZA AKM-MRCA

AKE-MRCA AKM-P1A

AKE-P1A AKE-P2A

ek

Individueller Anteil von A am KE nach dem MRC-Prinzip Individueller Anteil von A am KM proportional zu KBA

Individueller Anteil von A am KE teilweise proportional zu KBA Individueller Anteil von A am KE proportional zu KBA

Kollektiver Effizienzfaktor: Effizienz der Kooperation einA Individueller Effizienzfaktor von A außerhalb der Kooperation eikA Individueller Effizienzfaktor von A innerhalb der Kooperation Tab. 4: Terminologie

Bedeutung Beitrag des Teilnehmers A zur Kooperation Nutzen des KB für den Teilnehmer A außerhalb der Kooperation IEA = KBA x einA Summe der Kooperationsbeiträge Summe der individuellen Erträge aller Teilnehmer. Kooperativer Grenzertrag kann, muss aber nicht genauso groß wie die Kooperationseinlage sein. Das hängt von der Effizienz individueller Investitionen ab. Der KM wird auch als kooperatives Surplus bezeichnet und ist der Reingewinn der Kooperation. KM = KE - KG Gesamtertrag der Kooperation. KE = KG + KM MFA = umax im MRC-Formalismus MFA = KE - IEB MZA = umin im MRC-Formalismus MZA = IEA Dieser Anteil wird dem Teilnehmer A zugesprochen, wenn eine Verhandlung nach dem MRC-Prinzip stattfindet. AKE-MRC = AKM-MRC + KG (gleichbedeutend mit ufakt in MRC-Formel) AKM-P1A = (KM x KBA) / KL Verteilung nach einem in Abs. III.F vorgeschlagenen alternativen Verteilprinzip P1 AKE-P1A = AKM-P1A + IEA AKE-P2A = (KE x KBA) / KL Verteilung entspricht dem von Hampton vorgeschlagenen vorgestellten Verteilprinzip (siehe S. 206) KE / KL IEA / KBA AKEA / KBA

172

Die Einheit der Zahlenwerte ist ein intersubjektives Maß für den Nutzen. Die Buchstaben A-D in der ersten Spalte der folgenden Tabellen stehen für verschiedene Teilnehmer. KB

IE

ein

AKM-MRC

AKE-MRC

eik

AKM-P1

AKE-P1

eik

A

20

20

1

53,3

73,3

3,665

20

40

2

B

40

40

1

53,3

93,3

2,3325

40

80

2

C

100

100

1

53,3

153,3

1,533

100

200

2

Σ

160 = KL

160 = KG

160 = KM

320 = KE

2 = ek

160 = KM

320 = KE

Tab. 5: Kooperation I

KB

IE

ein

AKM-MRC

AKE-MRC

eik

AKM-P1

AKE-P1

eik

A

20

20

1

66,7

86,7

4,35

20

40

2

B

80

80

1

66,7

146,7

1,83

80

160

2

C

100

100

1

66,7

166,7

1,67

100

200

2

Σ

200 = KL

200 = KG

200 = KM

400 = KE

2 = ek

200 = KM

400 = KE

Tab. 6: Kooperation II

Die zwei Tabellen geben zwei Kooperationssituationen wieder, die sich nur dadurch unterscheiden, dass in Kooperation I der Teilnehmer B einen Kooperationsbeitrag der Größe 40 leistet, während er in Kooperation II seinen Beitrag verdoppelt. Wenn B vor der Entscheidung steht, ob er sich für eine Investition der Größe 40 oder 80 entscheiden soll, dann stellt er anhand der Tabellen folgendes fest: 1. Die Verdopplung seines Kooperationsbeitrages hat für ihn eine Verminderung der Effizienz der Kooperation um 21% zur Folge (2,33 ! 1,84). 2. Für die anderen Teilnehmer hat die Verdopplung seines Kooperationsbeitrages eine Erhöhung der Effizienz zur Folge, ohne dass sie selbst ihren Kooperationsbeitrag erhöhen (A: 3,65 ! 4,35; C: 1,53 ! 1,67). Natürlich ist es für B vorteilhafter, seinen Kooperationsbeitrag zu verdoppeln als die verbleibenden Betrag von 40 völlig ungenutzt zu lassen. Aber wie man an diesem Beispiel sieht, ist für den Teilnehmer nicht nur die Frage zu klären, ob er an der Kooperation teilnehmen will oder nicht, sondern auch die Frage der Höhe seines Kooperationsbeitrages. Es kann gute Gründe

173

geben, weshalb B ein Interesse daran hat, dass die anderen Kooperationsteilnehmer nicht besser gestellt werden als sie es in der ersten Kooperation sind. In der relativen Stellung zueinander werden die anderen Teilnehmer hinsichtlich ihrer Güter durch die Mehrinvestition von B ihm gegenüber besser gestellt. Die absoluten Unterschiede zwischen B und den anderen Teilnehmern bleiben zwar konstant, aber die relativen Unterschiede werden zuungunsten von B verschoben: Kooperation I: Vor der Kooperation war das relative Verhältnis zwischen B und A = 40 / 20 = 2. Nach der Kooperation ist dieses Verhältnis 93 / 73 = 1,3. Das Verhältnis B/A von 2 auf 1,3 entspricht einer Verschlechterung der relativen Stellung um 0,7. Dan Verhältnis B/C von 0,4 auf 0,6 entspricht einer Verbesserung der relativen Stellung um 0,2. Insgesamt eine relative Verschlechterung der Stellung um 0,5 (+0,2 - 0,7 = -0,5). Kooperation II: B/A von 4 auf 1,7 entspricht einer Verschlechterung um 2,3. B/C von 0,8 auf 0,9 entspricht einer Verbesserung um 0,1. Insgesamt eine relative Verschlechterung der Stellung um 2,2 (+0,1 - 2,3 = -2,2). B wird durch seine Mehrinvestition in seiner relativen Stellung den anderen Teilnehmern gegenüber schlechter gestellt. Damit bewirkt B durch seine Mehrinvestition eine Verschiebung der Machtverhältnisse zu seinen eigenen Ungunsten. Dass Machtverhältnisse auf relativen und nicht auf absoluten Differenzen zwischen den Teilnehmern beruhen, ist fraglos. Investiert Müller z. B. in eine Kooperation 0,5 Mill i und Schmid 1 Mill i., erhält Müller einen Anteil am Kooperationsertrag von 89,5 Mill i und Schmid von 90 Mill i. Es hat sich offensichtlich das finanzielle Machtverhältnis zwischen diesen beiden verschoben, obwohl die absolute Differenz noch gleich ist. Je effizienter eine Kooperation ist, desto stärker würde sich dieser Effekt bemerkbar machen.

174

Abel und Mabel. In MbA führt Gauthier das Beispiel von Abel und Mabel an, um nachzuweisen, dass das MRC-Prinzip nicht nur ein egalitäres, sondern zugleich auch ein proportionales Verteilungsprinzip ist.234 Abel und Mabel haben die Möglichkeit zu einer Kooperation, können aber ihre Mittel auch außerhalb der Kooperation investieren. Für dieses Beispiel nimmt Gauthier folgendes Prinzip für die Effizienz der Investitionen an: Der Effizienzfaktor der Investition ist eine lineare Funktion der Größe der Investition. Je größer also die Investition ist, desto effizienter ist sie. Der entscheidende Punkt ist, dass dieses Prinzip der Effizienz in diesem Beispiel von Gauthier in gleicher Weise für die Investitionen innerhalb der Kooperation gilt wie auch für die möglichen Investitionen außerhalb der Kooperation. Hinsichtlich der Effizienz gibt es also keinen Unterschied zwischen einer Investition außerhalb und innerhalb der Kooperation. Damit besteht kein Unterschied zwischen dem Fall, dass eine Person allein einen Betrag der Größe X außerhalb der Kooperation investiert und dem Fall, dass Person A und B zusammen den Betrag X innerhalb dieser Kooperation investieren. Es kommt für die Effizienz allein auf die Höhe der Investition an und nicht darauf, dass verschiedene Personen gemeinsam investieren, also eine gemeinsame Strategie haben. Die Attraktivität dieser Kooperation für Abel und Mabel besteht darin, dass sie durch das Zusammenlegen ihrer Investitionen die Effektivität dieser Investitionen steigern können und somit für jeden der beiden der Gewinn durch die Teilnahme an der Kooperation gesteigert werden kann. Dass es in dem Beispiel von Abel und Mabel zu einer proportionalen Verteilung des kooperativen Mehrwerts kommt, liegt jedoch ausschließlich an der speziellen Wahl der Funktion für die Effizienzfaktoren innerhalb und außerhalb der Kooperation und ist nicht, wie von Gauthier behauptet, eine Eigenschaft des MRC-Prinzips.235 Wählt man eine beliebige andere Funktion als Effizienzfaktor, so kommt es zu keiner proportionalen Verteilung. Um dies zu zeigen, sind nachfolgend vier Beispiele angeführt. Beispiel A ist die Wiedergabe des Beispiels von Abel (A) und Mabel (M) wie wir es bei Gauthier finden, jedoch mit konkreten Zahlenwerten. In den Beispielen B-D werden einige Parameter des Beispiels A modifiziert, um zu zeigen, dass 234

MbA, 140f.

235

Ebda, 153.

175

Gauthier die Parameter für sein Beispiel gerade so gewählt hat, dass die Verteilung zugleich dem MRC-Prinzip entspricht und proportional ist. Beispiel A: Es entspricht den Annahmen, die Gauthier in seinem Beispiel zwischen Abel und Mabel macht, d. h. die Größe der Effizienzfaktoren ist eine lineare Funktion der Größe der eingesetzten Güter. KBA = 40 KBM = 60 enA =einM = 0,1 x KBA,M ek = 0,1 x KL Im nicht-kooperativen Zustand führt das zu folgenden Ergebnissen: IEA = KBA x einA = 40 x 0,1 x 40 = 160 IEM = KBM x einM = 60 x 0,1 x 60 = 360 In einer Kooperation nach dem MRC-Prinzip führt das zum folgenden Ergebnis: KL = KBA + KBM = 40 + 60 = 100 KE = KL x ek = 100 x (0,1 x 100) = 1000 Diese Werte werden nun in das MRC-Prinzip eingesetzt: = KE - (KBM x einA) = 1000 - 360 = 640 maxFA minFA = KBA x einA = 160 maxFM = KE - (KBA x einM) = 1000 - 160 = 840 minFM = KBM x einM = 360 KE = AKE-MRCA + AKE-MRCM AKE-MRCM = KE - AKE-MRCA = 1000 - AKE-MRCA MRC-Prinzip: (maxFA - AKE-MRCA) / (maxFA - minFA) = (maxFM - AKE-MRCM) / (maxFM - minFM) AKE-MRCA = (maxFA x minFM - minFA x maxFM - maxFA x KE + minFA x KE) / (minFA - maxFA + minFM - maxFM) = (640 x 360 - 160 x 840 - 640 x 1000 + 160 x 1000) / (160 - 640 + 360 - 840) = 400 Daraus folgt: AKE-MRCM = 600

176

Berechnet man nun die individuelle Effizienz für die Teilnahme an der Kooperation, ergibt sich folgendes Bild: eikA = AKE-MRCA / KBA = 400 / 40 = 10 eikM = AKE-MRCM / KBM = 600 / 60 = 10 ek = 0,1 x KL = 0,1 x 100 = 10 eikA / eikM = 1 Man kann hier keine Abweichungen von der proportionalen Verteilung feststellen, die folgendermaßen ausgesehen hätte: AKE-P2A: ek x KBA = 10 x 40 = 400 AKE-P2M: ek x KBM = 10 x 60 = 600 In diesem Fall ist der durch das MRC-Prinzip bestimmte Anteil am Kooperationsertrag tatsächlich proportional zum jeweiligen Kooperationsbeitrag der einzelnen Teilnehmer. Beispiel B: Es werden dieselben Annahmen gemacht wie in Beispiel A, außer dass die Effizienz innerhalb und außerhalb der Kooperation unterschiedlich ist. Hier sind z. B. Fälle betroffen, in denen die Verzinsung der Kooperationsbeiträge ab einer bestimmten Einlagehöhe sprunghaft ansteigt und keiner der Kooperationsteilnehmer allein diese Einlagehöhe erreichen kann. KBA = 40 KBM = 60 enA = einM = 0,1 x KBA,M ek = 0,5 x KL Im nicht-kooperativen Zustand führt das zu folgenden Ergebnissen: IEA = KBA x einA = 40 x 0,1 x 40 = 160 IEM = KBM x einM = 60 x 0,1 x 60 = 360 In einer Kooperation nach dem MRC-Prinzip: KL = KBA + KBM = 40 + 60 = 100 KE = KL x ek = 100 x (0,5 x 100) = 5000 Diese Werte werden nun in das MRC-Prinzip eingesetzt: maxFA = KE - (KBM x einA) = 5000 - 360 = 4640 minFA = KBA x einA = 160 maxFM = KE - (KBA x einM) = 5000 - 160 = 4840

177

minFM = KBM x einM = 360 AKEM = KE - AKE-MRCA = 5000 - AKE-MRCA MRC-Prinzip: (maxFA - AKE-MRCA) / (maxFA - minFA) = (maxFM - AKE-MRCM) / (maxFM - minFM) AKE-MRCA = (maxFA x minFM - minFA x maxFM - maxFA x KE + minFAx KE) / (minFA - maxFA + minFM - maxFM) = (4640 x 360 - 160 x 4840 - 4640 x 5000 + 160 x 5000) / (160 4640 + 360 - 4840) = 2400 Daraus folgt: AKE-MRCM = 2600 Berechnet man die individuelle Effizienz für die Teilnahme an der Kooperation, ergibt sich folgendes Bild: = AKE-MRCA / KBA = 2400 / 40 = 60 eikA eikM = AKE-MRCM / KBM = 2600 / 60 = 43,4 ek = 0,5 x KL = 0,5 x 100 = 50 eikA / eikM = 1,38 Man kann hier erhebliche Abweichungen von der proportionalen Verteilung feststellen, die folgendermaßen hätte aussehen müssen: AKE-P2A: ek x KBA = 50 x 40 = 2000 AKE-P2M: ek x KBM = 50 x 60 = 3000 Beispiel C: In diesem Fall ist die Größe des Effizienzfaktors auch eine lineare Funktion der Größe der eingesetzten Güter, aber wir haben es mit dem Fall einer konstanten Funktion zu tun. KBA = 40 KBM = 60 enA = einM = 2 ek = 5 Im nicht-kooperativen Zustand führt das zu folgenden Ergebnissen: IEA = KBA x einA = 40 x 2 = 80 IEM = KBM x einM = 60 x 2 = 120

178

In einer Kooperation nach dem MRC-Prinzip: KL = KBA + KBM = 40 + 60 = 100 KE = KL x ek = 100 x 5 = 500 Diese Werte werden nun in das MRC-Prinzip eingesetzt: maxFA = KE - IEM = 500 - 120 = 380 minFA = IEA = 80 = KE - IEA = 500 - 80 = 420 maxFM minFM = IEM = 120 AKE-MRCM = KE - AKE-MRCA = 5000 - AKE-MRCA MRC-Prinzip: (maxFA - AKE-MRCA) / (maxFA - minFA) = (maxFM - AKE-MRCM) / (maxFM - minFM) AKE-MRCA = (maxFA x minFM - minFA x maxFM - maxFA x KE + minFA x KE) / (minFA - maxFA + minFM - maxFM) = (380 x 120 - 80 x 420 - 380 x 500 + 80 x 500) / (80 - 380 + 120 - 420) = 230 Daraus folgt: AKE-MRCM = 270 Berechnet man die individuelle Effizienz für die Teilnahme an der Kooperation, ergibt sich folgendes Bild: eikA = AKE-MRCA / KBA = 230 / 40 = 5,75 eikM = AKE-MRCM / KBM = 270 / 60 = 4,5 ek =5 eikA / eikM = 1,28 Man kann hier Abweichungen von der proportionalen Verteilung feststellen, die folgendermaßen aussehen würde: AKE-P2A: ek x KBA = 5 x 40 = 200 AKE-P2M: ek x KBM = 5 x 60 = 300

179

Für den Teilnehmer mit dem geringeren Kooperationsbeitrag ist die Verteilung nach dem MRC-Prinzip günstiger als die proportionale Verteilung. Das Gegenteil trifft für den Teilnehmer mit dem größeren Kooperationsbeitrag zu. Dabei gilt, dass je größer der Effizienzfaktor der Kooperation ek ist, desto größer ist sowohl der absolute als auch der relative Vorteil bzw. Nachteil durch eine Verteilung nach dem MRC-Prinzip gegenüber einer proportionalen Verteilung. Setzt man z. B. anstelle von ek = 5 wie im Beispiel B einen Effizienzfaktor ek = 3 an, so kommt man bei sonst gleichen Parametern nach dem MRC-Prinzip zu dem Verteilungsergebnis: AKE-MRCA = 130 und AKE-MRCM = 170. Eine proportionale Verteilung würde hingegen zu AKEP2A = 120 und AKE-P2M = 180 führen. Für Abel ist die MRC-Verteilung ein absoluter Vorteil von 10 und ein relativer Vorteil von 130/170 = 0,76 im Vergleich zu 120/180 = 0,67 (0,76 - 0,67 = 0,09). Im Beispiel B hat Abel einen entsprechenden absoluten Vorteil von 30 und einen relativen Vorteil von 230/270 = 0,85 im Vergleich zu 200/300 = 0,66 (0,85 - 0,66 = 0,19). Beispiel D: Es werden die gleichen Annahmen wie in Beispiel A gemacht, mit Ausnahme der Effizienzfaktoren. Sie sind in diesem Beispiel nicht linear, sondern quadratisch. KBA = 40 KBM = 60 enA = einM = ek = KB5 Im nicht-kooperativen Zustand führt das zu folgenden Ergebnissen: IEA = KBA x einA = KBA x (KBA)2 = 40 x 402 = 64 000 IEM = KBM x einM = KBM x (KBM)2 = 60 x 602 = 216 000 In einer Kooperation nach dem MRC-Prinzip: KL = KBA + KBM = 40 + 60 = 100 KE = KL x ek = 100 x 1002 = 1 000 000 Diese Werte werden nun in das MRC-Prinzip eingesetzt: maxFA = KE - IEM = 1 000 000 - 216 000 = 784 000 minFA = IEA = 64 000 maxFM = KE - IEA = 1 000 000 - 64 000 = 936 000 minFM = IEM = 216 000 AKE-MRCM = KE - AKE-MRCA = 1 000 000 - AKE-MRCA

180

MRC-Prinzip: (maxFA - AKE-MRCA) / (maxFA - minFA) = (maxFM - AKE-MRCM) / (maxFM - minFM) AKE-MRCA = (maxFA x minFM - minFA x maxFM - maxFA x KE + minFAx KE) / (minFA - maxFA + minFM - maxFM) = (784 000 x 216 000 - 64 000 x 936 000 - 784 000 x 1 000 000 + 64 000 x 1 000 000) / (64 000 - 784 000 + 216 000 – 936 000) = 424 000 Daraus folgt: AKE-MRCM = 576 000 Berechnet man die individuelle Effizienz für die Teilnahme an der Kooperation, ergibt sich folgendes Bild: = AKE-MRCA / KBA = 424 000 / 40 = 10 600 eikA eikM = AKE-MRCM / KBM = 576 000 / 60 = 9 600 ek = 10 000 eikA / eikM = 1,10 Die Abweichungen erscheinen bisher noch relativ gering. Nimmt man noch die weitere, sehr realitätsnahe Modifikation vor, dass die Effizienz innerhalb der Kooperation größer ist als außerhalb der Kooperation, so wird die Differenz zwischen MRC-Prinzip und proportionaler Verteilung noch deutlicher. Dazu noch das nächste Beispiel. Beispiel E: Machen wir also folgende Annahmen: KBA = 40 KBM = 60 einA = einM = KB5

ek = KB;

Im nicht-kooperativen Zustand führt das zu folgenden Ergebnissen: IEA = KBA x einA = KBA x (KBA)2 = 40 x 402 = 64 000 IEM = KBM x einM = KBM x (KBM)2 = 60 x 602 = 216 000

181

In einer Kooperation nach dem MRC-Prinzip: KL = KBA + KBM = 40 + 60 = 100 KE = KL x ek = 100 x 1003 = 100 000 000 Diese Werte werden nun in das MRC-Prinzip eingesetzt: maxFA = KE - IEM = 100 000 000 - 216 000 = 99 784 000 minFA = IEA = 64 000 = KE - IEA = 100 000 000 - 64 000 = 99 936 000 maxFM minFM = IEM = 216 000 AKE-MRCM = KE - AKE-MRCA = 100 000 000 - AKE-MRCA MRC-Prinzip: (maxFA - AKE-MRCA) / (maxFA - minFA) = (maxFM - AKE-MRCM) / (maxFM - minFM) AKE-MRCA = (maxFA x minFM - minFA x maxFM - maxFA x KE + minFAx KE) / (minFA - maxFA + minFM - maxFM) = (99 784 000 x 216 000 - 64 000 x 99 936 000 - 99 784 000 x 100 000 000 + 64 000 x 100 000 000) / (64 000 - 99 784 000 + 216 000 - 99 936 000) = 49 924 000 Daraus folgt: AKE-MRCM = 50 076 000 Berechnet man die individuelle Effizienz für die Teilnahme an der Kooperation, ergibt sich folgendes Bild: eikA = AKE-MRCA / KBA = 49 924 000 / 40 = 1 248 100 eikM = AKE-MRCM / KBM = 576 000 / 60 = 834 600 ek = 1 000 000 eikA / eikM = 1,49 Die Beispiele B-E belegen, dass das von Gauthier konstruierte Beispiel A wirklich ein Sonderfall ist. Bei jeder Modifikation der Annahmen in diesem Beispiel A erhält man sofort keine proportionale Verteilung mehr. Dabei weisen die Abweichungen von der proportionalen Verteilung immer ganz

182

deutlich in dieselbe Richtung. Für den Teilnehmer mit dem kleineren Kooperationsbeitrag ist die Effizienz im Vergleich zur proportionalen Verteilung größer und für den Teilnehmer mit dem größeren Kooperationsbeitrag ist die Effizienz kleiner. Die Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts nach dem MRC-Prinzip führt somit auch unter dieser Perspektive zu einer Umverteilung zugunsten der Schwachen, wenn man davon ausgeht, dass diejenigen Teilnehmer mit einem geringeren Kooperationsbeitrag auch diejenigen mit der schlechteren Güterausstattung im Naturzustand sind. Zum selben Ergebnis gelangt man auch bei einer Analyse des Principle of Maximin Relative Benefit, mit dem Gauthier in seiner Argumentation zeigen will, dass eine Verteilung nach dem MRC-Prinzip fair und nicht nur rational ist.236 Nach diesem zum MRC-Prinzip komplementären Prinzip soll der kleinste relative Vorteil in einer Verteilung maximiert werden. Das effektive Ziel dieses Prinzips ist dasselbe wie das des MRC-Prinzips: Es werden auch hier die Verhandlungsverlierer vor allzu großen Nachteilen geschützt. Mit dem Beispiel von Abel und Mabel hat Gauthier lediglich gezeigt, dass es Fälle geben kann, in denen eine Verteilung nach dem MRC-Prinzip zu einer proportionalen Verteilung führen kann, aber keineswegs, dass das MRCPrinzip ein proportionales Verteilungsprinzip ist. Dazu hätte er nachweisen müssen, dass der von ihm angeführte Spezialfall bezüglich der Effizienzfaktoren als Normalfall betrachtet werden kann. Aber es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass auch nur die wesentlichen Fälle sozialer Kooperation einer derartigen Effizienzfunktion folgen sollten. Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts führt zu Umverteilungen. Die Analyse des MRC-Prinzips hinsichtlich der Proportionalität der Verteilung bringt die gemischte Verteilungsstrategie in diesem Prinzip zum Vorschein. Zum einen wird der kooperative Grenzertrag umin in Abhängigkeit vom Kooperationsbeitrag bestimmt. Hier kann man von einer proportionalen Verteilung sprechen. Andererseits wird der kooperative Mehrwert völlig unabhängig vom Kooperationsbeitrag einer Gleichverteilung unterworfen. Die Trennung der Verteilung des Kooperationsertrages in die Aufteilung des kooperativen Grenzertrages und die Aufteilung des kooperativen Mehrwerts 236

Ebda, 154f.

183

suggeriert, dass bei einer Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts keine Bevorzugung oder Benachteiligung mehr stattfinden kann. Die proportionalen Ansprüche, die sich aus der Größe des Kooperationsbeitrages ergeben, werden danach durch eine proportionale Verteilung des kooperativen Grenzertrages befriedigt. Dies lässt aber unberücksichtigt, dass die Größe des kooperativen Mehrwerts von der Summe der Kooperationsbeiträge und damit auch von der Größe jedes einzelnen Kooperationsbeitrages abhängig ist. Die Entscheidung für eine Gleichverteilung übergeht diesen kausalen Zusammenhang zwischen dem einzelnen Kooperationsbeitrag und der Größe des kooperativen Mehrwertes, der eine sehr plausible Begründung für eine proportionale Verteilung des kooperativen Mehrwertes ist. Mit einer Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts kann es zudem zu einer relativen Umverteilung kommen, indem die Proportionalität zwischen individuellem Kooperationsbeitrag und individuellem Kooperationsertrag nicht bei allen Teilnehmern gleich ist, sondern günstiger für die Schwachen ausfällt. Die relativen Güter- und Machtverhältnisse werden sich in der MRCKooperationsgemeinschaft verschieben, und zwar immer zugunsten der Schwachen. Die Veränderung der relativen Machtverhältnisse bedeutet für den einzelnen Teilnehmer eine absolute Verringerung bzw. Erhöhung seiner Macht. Je effizienter eine Kooperation ist, desto stärker kommt dieser Effekt zum Tragen. Summa summarum ist festzuhalten, dass durch das MRC-Prinzip Machtverhältnisse verändert werden können und dies in der Regel auch zu erwarten ist. Es ist nicht plausibel, dass die Mächtigen diesen Machtverlust freiwillig und rationalerweise durch die Bereitstellung ihres Kooperationsbeitrages selber finanzieren sollen. Auch wenn es ihnen natürlich absolut gesehen durch die Teilnahme an der Kooperation besser geht als zuvor und sie deshalb einen guten Grund zur Teilnahme haben, müsste dieser Machtverlust in der Verteilung des kooperativen Mehrwerts kompensatorisch berücksichtigt werden. Es ist ja auch umgekehrt nicht einzusehen, weshalb die Schwachen durch eine Verteilung jetzt relativ mehr Macht haben sollten, ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen. Diese Umstrukturierung der Machtverhältnisse ist also in mancher Hinsicht noch sehr begründungsbedürftig.

184

Relative und absolute Ungleichheiten. Die Tatsache, dass Gauthier das Beispiel von Abel und Mabel anführt, zeigt, dass auch er prinzipiell die proportionale Verteilung des kooperativen Mehrwerts für rational hält. Er wollte mit diesem Beispiel ja gerade veranschaulichen, dass das MRC-Prinzip ein proportionales Verteilungsprinzip ist. Wie auf S. 76 erläutert wurde, will Gauthier zwar keine rein proportionale Verteilung, d. h. eine proportionale Verteilung des gesamten Kooperationsertrages und nicht nur des kooperativen Grenzertrages, aber dennoch will er die Ungleichheiten des Naturzustandes durch die Kooperation hindurch bewahren. „Rational cooperation thus preserves what we may call the fixed social inequalities among men. These inequalities are built into the very structure of cooperative and social situations, just as are natural inequalities. That there should be any particular fixed social inequalities is, from the point of view of society, an arbitrary matter. But from the points of view of the individual persons who create and maintain society as their collective instrument, these inequalities are not arbitrary.“ 237 Dieses Ziel meint Gauthier allein durch die proportionale Verteilung des kooperativen Grenzertrages erreichen zu können. Ob er dies tatsächlich mit dem MRC-Prinzip einlöst, hängt davon ab, wie er hier die Ungleichheiten versteht: absolut oder relativ. Absolute Differenzen in der Güterverteilung können durch das MRC-Prinzip tatsächlich fortgeführt werden und in diesem Sinne erfüllt Gauthier seinen Anspruch. Die relativen Differenzen können durch das MRC-Prinzip in der Regel nicht fortgeführt werden. Ausnahmefälle sind Kooperationen nach dem Typus des Beispiels von Abel und Mabel in der Fassung von Gauthier. Im Text findet man zwar keinen expliziten Hinweis, welche der beiden genannten Arten von Ungleichheit gemeint ist, aber da Gauthier hier explizit von sozialen Ungleichheiten spricht, ist es legitim anzunehmen, dass damit relative Ungleichheiten gemeint sind. Denn als problematisch betrachtet man soziale Ungleichheiten dann, wenn sie extreme relative Ungleichheiten sind. Da können dann auch die absoluten Ungleichheiten im Vergleich z. B. zu anderen Gesellschaften gering sein.

237

D. Gauthier: „Rational Co-operation" (1974), 61.

185

Was hier eine wesentliche Rolle spielt, sind Machtverhältnisse. Macht bemisst sich nicht an absoluten, sondern an relativen Differenzen von Gütern oder Kompetenzen. Unter Macht verstehe ich hier das faktische Potenzial einer Person, ihre eigenen Interessen gegen die Interessen anderer Personen und ohne deren Zustimmung durchzusetzen. Das Ausmaß an Macht und diesbezügliche Ungleichheiten in einer Gesellschaft speisen sich aus relativen Ungleichheiten. Relative Unterschiede implizieren natürlich absolute Unterschiede. Dennoch können die absoluten Unterschiede gleich bleiben und sich zugleich die Machtverhältnisse verändern. Der Kontext der Argumentation spricht also sehr stark dafür, dass hier relative Ungleichheiten gemeint sind. Damit ist die Feststellung, dass das MRC-Prinzip kein proportionales Verteilungsprinzip ist, nicht nur eine externe, sondern auch eine interne Kritik an der Theorie Gauthiers. Zusammenfassung. Es lassen sich zwei Punkte an dieser Stelle festhalten. 1. Die Ergebnisse der Analyse dieses Abschnittes zeigen, dass es für einige Verhandlungsteilnehmer, nämlich die potenziellen Verhandlungsgewinner, aufgrund mangelnder Effizienz ihres Kooperationsbeitrages und Umverteilungen nicht rational ist, einer Verteilung des Kooperationsertrages nach dem MRC-Prinzip zuzustimmen. 2. Mit dem Beispiel von Abel und Mabel will Gauthier explizit die proportionale Verteilung des Kooperationsertrages durch das MRC-Prinzip demonstrieren. Es hat sich jedoch herausgestellt, dass das Beispiel von Abel und Mabel offensichtlich nur einen Sonderfall der ansonsten egalitären Verteilung durch das MRC-Prinzip darstellt. Zudem spricht sich Gauthier an anderer Stelle explizit für eine Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts aus.

5. Bevorzugung der Schwachen durch das MRC-Prinzip Im MRC-Prinzip werden die maximalen Zugeständnisse minimiert. Das bedeutet, dass die Lösungsfindung sich nach denjenigen Teilnehmern ausrichtet, die die größten Zugeständnisse in einer Verhandlung machen müssen. Aus Sicht eines Nutzenmaximierers sind dies die Verlierer der Verhandlung. Wenn eine mögliche Verhandlungslösung X einem solchen Verlierer ein

186

geringeres relatives Zugeständnis abverlangt als eine alternative, ansonsten identische Lösung Y, dann wird nach dem MRC-Prinzip die Lösung X als Verhandlungslösung ausgewählt. Warum wird aber bei der Entscheidung zwischen den Alternativen X und Y nur die Größe des Zugeständnisses des Verlierers und nicht die eines Gewinners als Wahlkriterium berücksichtigt? Wenn das relative Zugeständnis bei X für den Gewinner sehr viel größer ist als bei Y, dann wird nach dem MRC-Prinzip die Lösung X gewählt, selbst wenn sie auch nur eine minimale Reduzierung des Zugeständnisses für den Verlierer festlegt. Wenn z. B. bei der Lösung X Person A ein relatives Zugeständnis von 0,7 und Person B von 0,6 machen muss und bei Lösung Y Person A ein Zugeständnis von 0,8 und Person B von 0,2, dann wird nach dem MRCPrinzip die Lösung X gewählt. Ausschlaggebend für die Entscheidung zwischen X und Y ist nur die Größe des Zugeständnisses von A, also dem Verlierer. Wieso spielt die Größe des Zugeständnisses von B hier keine Rolle? Dabei ist der Verlust bei einem Wechsel von Y zu X für B wesentlich größer als der Gewinn für A. Gauthiers Antwort beruft sich auf einen inneren Widerstand, den jede Person gegenüber Zugeständnissen hat.238 Je größer die Zugeständnisse, desto größer der Widerstand. Der größte Widerstand, eine Verhandlungslösung zu akzeptieren, kommt demnach immer von demjenigen, der das größte Zugeständnis machen muss. Das MRC-Prinzip läuft darauf hinaus, diesen größten Widerstand zu minimieren und so zu der bestmöglichen allgemeinen Akzeptanz zu gelangen. Mit seiner Argumentation will Gauthier zeigen, dass die besondere Berücksichtigung der Zugeständnisse der Verlierer nicht moralisch motiviert oder willkürlich ist, sondern dass sie im Interesse aller Teilnehmer ist. Denn nur auf diesem Wege kann eine Kooperation zu Stande kommen.

238

D. Gauthier: „Social Choice and Distributive Justice“ (1978), 249: „In bargaining, relative benefit affords an interpersonally valid measure of acceptability for a bargain, a measure which rests on each person's own evaluation of each social state in relation to his possible alternatives. Resistance to accepting a social state will then be a function of the minimum relative benefit which it affords.” Gauthier geht hier vom relativen Vorteil (relative benefit) aus, in MbA tritt an dessen Stelle dann das komplementäre Element des relativen Zugeständnisses (relative concession).

187

Zu dieser Argumentation will ich zwei kritische Anmerkungen machen. Der erste Einwand ist grundsätzlicher Art und richtet sich gegen den empirischen Charakter des Argumentes. Der innere Widerstand, von dem Gauthier hier spricht, ist wohl nur als emotionales Widerstreben gegenüber einem ungünstigen Zustand zu verstehen. Was hat ein solches Gefühl in einer rationalen Theorie der Entscheidung verloren? Um diese Frage zu beantworten, hätte Gauthier zu diesem inneren Widerstand irgendetwas Klärendes sagen müssen, was er aber nicht getan hat. Diese Frage stellt sich um so drängender, da Gauthier dieses Gefühl zu einem quantitativen Schluss verwendet. Denn die Argumentation Gauthiers geht hier nur auf, wenn man voraussetzt, dass der innere Widerstand des Verlierers hier größer ist als die Summe der Widerstände der anderen Teilnehmer. Und damit bin ich schon mitten im zweiten Kritikpunkt: Selbst wenn man Gauthier zugesteht, dass es einen solchen inneren Widerstand gegen Zugeständnisse gibt, lässt er hier offen, wie diese inneren Widerstände aller Teilnehmer in einem Gesamtergebnis verrechnet werden. An dem obigen Beispiel der Personen A und B wird deutlich, dass das Verhältnis zwischen dem inneren Widerstand und der Größe des relativen Zugeständnisses zumindest kein lineares ist. Der innere Widerstand gegen eine Verschiebung von X nach Y würde bei einem linearen Verhältnis von Seiten von B größer sein als der Widerstand gegen eine Verschiebung von Y nach X von Seiten von A. Hier haben wir es mit Differenzen von relativen Zugeständnissen zu tun. Die Unklarheit in dieser Frage hängt natürlich auch damit zusammen, dass wir über den quantitativen Funktionszusammenhang zwischen relativem Zugeständnis und innerem Widerstand keine Aussage bei Gauthier finden. Offen bleibt auch, ob sich bei einer n-Personen-Verhandlung die inneren Widerstände der Gewinner zusammen gegen den inneren Widerstand des Verlierers aufsummieren lassen. Somit ist die Argumentation Gauthiers vor allem in ihrer quantitativen Konsequenz nicht nachvollziehbar. Mit dieser Kritik soll nicht bestritten werden, dass ein solcher psychologischer Zusammenhang zwischen Zugeständnissen und einem inneren Widerstand grundsätzlich denkbar ist und dass er auch bei einer Verhandlung eine Rolle spielen könnte. Nur kann Gauthier nicht an einem solchen kritischen Punkt seine Argumentation auf eine Andeutung beschränken.

188

6. Zusammenfassung In Bezug auf die Herleitung sind im Abschnitt III.D folgende Kritikpunkte aufgezeigt worden: 1. Gauthier vermengt in seiner Herleitung in unzulässiger Weise Elemente der axiomatischen mit Elementen der kompetitiven Herleitung. Man kann eine vollständige Herleitung durch eine andere vollständige Herleitung ergänzen, aber nicht fehlende Elemente der einen Herleitung durch Elemente der anderen ergänzen. 2. Bei Herleitung und Begründung seiner Theorie stützt sich Gauthier ganz auf das vergleichsweise unproblematische und spieltheoretisch gut elaborierte Szenario eines 2-Personen-Spiels. In Fragen der Anwendung wird jedoch implizit oder explizit auf n-Personen-Spiele gezielt. 3. Die Kooperationsteilnahme als quantitatives Verteilungskriterium zu verwenden, führt in der Theorie Gauthiers zu Widersprüchen mit anderen Annahmen. Zudem kann der Übergang von einem qualitativen Kriterium, nämlich der Kooperationsteilnahme, zu einem quantitativen Kriterium, dem Anteil am Kooperationsertrag, nicht nachvollzogen werden. 4. Trotz sehr intensiver Argumentation und ausführlicher Beispiele von Gauthier ist die Verteilung des Kooperationsertrages nach dem MRC-Prinzip für den mächtigen bzw. reichen potenziellen Kooperationsteilnehmer nicht vorteilhaft. Für die von Gauthier behauptete Proportionalität des MRCPrinzips konnten verschiedene Gegenbeispiele angeführt werden. 5. Auf der anderen Seite konnte eine Bevorzugung der schwachen bzw. armen Kooperationsteilnehmer durch die Form der zugrunde gelegten Zugeständnisse nachgewiesen werden.

E. Das MRC-Prinzip im langfristigen Einsatz unter wechselnden Randbedingungen Solange man das MRC-Prinzip nur im Rahmen von einmaligen Spielen (oneshot-games) mit einer unveränderlichen Anzahl an Teilnehmern und einem unveränderlichen Kooperationsbeitrag betrachtet, kann man jedoch nur sehr

189

begrenzt Aussagen darüber machen, wie sich dieses Prinzip auf die Güterverteilung in einer Gesellschaft langfristig auswirkt. Für die Prüfung einer Moraltheorie ist dies eine unverzichtbare Perspektive. Deswegen werden in die nachfolgende Diskussion einige Varianten der Spielsituation einbezogen: 1. Iterierte Anwendungen: Nach dem MRC-Prinzip vereinbarte Normen werden in einer Gesellschaft wiederholt angewendet. 2. Teilnehmende Personen: Es können Personen zur Kooperation hinzustoßen bzw. aus der Kooperation ausscheiden. 3. Güterverteilungen und Kooperationsbeiträge: Zum Zeitpunkt der Verhandlung hat jeder Teilnehmer eine bestimmte Menge von Gütern, aus der die Größe seines Kooperationsbeitrages resultiert. Diese Güterverteilung unter den Teilnehmern kann im Laufe der Kooperation variieren. Bei iterierten Spielen resultiert diese Veränderung u. a. aus der Anwendung des MRCPrinzips. Die dynamischen Elemente der aufgeführten Varianten sind in einer realen Gesellschaft zu erwarten. Für die folgenden Argumente wird die Annahme gemacht, dass es sich beim kooperativen Mehrwert um ein beliebig teilbares, transferierbares und in eine Kooperation reinvestierbares Gut handelt. Diese Eigenschaften treffen sicher nicht auf alle Kooperationen zu. Um die Theorie wirkungsvoll zu kritisieren, ist es aber schon ausreichend zu zeigen, dass die Konsequenzen des MRC-Prinzips in einigen wesentlichen Fällen problematisch sind. Das MRC-Prinzip führt zu Umverteilungen in der Gesellschaft. Der in diesem Abschnitt vorgetragene kritische Einwand beruht auf folgendem Grundgedanken: Verteilungen nach dem MRC-Prinzip führen zu Gleichverteilungen. Gleichverteilungen können auf Umverteilungen beruhen. Umverteilungen werden von Gauthier als irrational abgelehnt. Da das MRCPrinzip Umverteilungen zur Folge haben kann, steht es im Widerspruch zu Gauthiers Ablehnung von Umverteilungen. Der Effekt der Umverteilung wird

190

besonders bei iterierten Spielen sichtbar.239 Ist der kooperative Mehrwert im Vergleich zum kooperativen Grenzertrag klein, so ist der Effekt der Umverteilung in nur ganz geringem Ausmaß wahrzunehmen. Ist der kooperative Mehrwert aber relativ groß, so wirkt sich das egalitäre Moment des MRCPrinzips schon bei einmaliger Anwendung deutlich aus. Das heißt, je effektiver eine Kooperation ist, was sich in der Größe des kooperativen Mehrwerts relativ zur Größe der Kooperationseinlage zeigt, desto größer ist der Effekt der Umverteilung. Dieser Effekt steigert sich, wenn man davon ausgeht, dass die verteilten Güter in die gleiche oder auch eine andere Kooperation neu investiert werden könnten. Durch die Gleichverteilung des kooperativen Mehrwerts werden die relativen Güterverhältnisse in einer Gesellschaft auf lange Sicht angeglichen. Die Differenzen zwischen den Armen und den Reichen werden sukzessive geringer. In einer neuen Verhandlungsrunde oder in einer neuen Anwendung einer Norm sind die Armen im Verhältnis zu den Reichen besser gestellt als zuvor und die Reichen im Verhältnis zu den Armen schlechter gestellt als zuvor.

239

Gauthier macht in Social Choice and Distributive Justice (1978), 249f. auch vom Gedanken der Iteration der Verhandlungen Gebrauch. Insofern wäre es für ihn nahe liegend gewesen, diesen Aspekt auch in die Konstruktion seines Verhandlungsprinzips einzubeziehen. Vgl. auch Peter Koller: „Rationales Entscheiden und moralisches Handeln„(1993).

191

Beispiel: KB

RG

IE

ein

AKM-MRC

AKE-MRC

RG

eik

AKM-P1

AKE-P1

eik

A

10

1

20

2

20

40

1

4

10

30

3

B

20

2

40

2

20

60

1,5

3

20

60

3

C

30

3

60

2

20

80

2

2,66

30

90

3

Σ

60 = KL

60 = KM

180 = KE

3 = ek

60 = KM

180 = KE

3 = ek

120 = KG

Tab. 7: Runde 1

KB

RG

A

40

1

B

60

C

80

Σ

180 = KL

RG: relatives Güterverhältnis

IE

ein

AKM-MRC

80

2

60

140

1

3,5

40

120

3

1,5

120

2

60

180

1,3

3

60

180

3

2

160

2

60

220

1,6

2,75

80

240

3

180 = KM

540 = KE

3 = ek

180 = KM

540 = KE

3 = ek

360 = KG

AKE-MRC

RG

eik

AKM-P1

AKE-P1

eik

Tab. 8: Runde 2

Es findet eine indirekte Umverteilung statt, dadurch dass alle Beteiligten immer den gleichen Anteil am kooperativen Mehrwert empfangen, aber nicht den gleichen Anteil investieren. Die Iteration einer Gleichverteilung führt sukzessive zu einer Gleichverteilung der Güter insgesamt in der Gruppe der Teilnehmer, denn mit jeder neuen Kooperation wird das Verhältnis zwischen den Vielbegüterten und den Wenigbegüterten angeglichen. Der Kooperationsertrag einer Kooperation steht ja in der nächsten Kooperation wiederum als Kooperationseinsatz zur Verfügung. Das heißt, ausgehend von einer Ungleichverteilung wird durch ein gleichverteilendes Verteilungsverfahren ein Zustand der Gleichverteilung erreicht. Somit findet auf Dauer offensichtlich eine indirekte Umverteilung statt. Verstärkung des Umverteilungseffektes bei Kooperation mit interner Dynamik. Wenn damit zu rechnen ist, dass der Kooperationsbeitrag im Laufe der Kooperation variiert, dann werden einige Eigenschaften des MRCPrinzips deutlicher. Wenn A und B zu Beginn der Kooperation einen gleich großen Kooperationsbeitrag leisten, aber A im Laufe der Zeit seinen Kooperationsbeitrag erhöhen kann und dies auch tut, so wird sich der Anteil am

192

kooperativen Mehrwert nicht nur für A, sondern auch für B erhöhen, obwohl er seinen Beitrag zur Kooperation in keiner Weise verstärkt hat. Damit wird deutlich, dass die Höhe des kooperativen Mehrwerts von der Höhe der Einlagen abhängig ist. A weiß zwar, dass er einen umso größeren Gewinn hat, je mehr er zur Kooperation beiträgt, aber er weiß auch, dass er von einer Mehrinvestition nicht alleine profitiert, sondern auch B, der seinen Kooperationsbeitrag nicht erhöht. KB RG 40 1 60 1,5 100 = KL Tab. 9: Runde 1 A B Σ

KB RG 50 1 60 1,2 110 = KL Tab. 10: Runde 2 A B Σ

IE 40 60 100 = KG

IE 50 60 110 = KG

ein 1 1

ein 1 1

AKM-MRC 50 50 100 = KM

AKM-MRC 55 55 110 = KM

AKE-MRC 90 110 200 = KE

AKE-MRC 105 115 220 = KE

RG 1 1,2

RG 1 1,1

eik 2,25 1,83 2 = ek

eik 2,1 1,92 2 = ek

AKM-P1 40 60 100 = KM

AKM-P1 50 60 110 = KM

AKE-P1 80 120 200 = KE

AKE-P1 100 120 220 = KE

RG 1 1,2

RG 1 1,2

eik 2 2 2 = ek

eik 2 2 2 =ek

In der zweiten Runde hat A seinen Kooperationsbeitrag von 40 auf 50 Einheiten erhöht. B hingegen hat seinen Beitrag unverändert beibehalten. Bei einer Verteilung nach dem MRC-Prinzip profitiert auch B von der Mehrinvestition seines Kooperationspartners A. A verbessert damit durch die Erhöhung seines Einsatzes die Situation von B, ohne dafür eine Gegenleistung von B zu erhalten. Ein typischer Fall des Trittbrettfahrens, was Gauthier im Rahmen von gerechten Verteilungen explizit ablehnt.240 Bei einer proportionalen Verteilung nach dem AKM-P1 hingegen würde A allein den Nutzen von seiner Beitragserhöhung haben. An dieser Stelle würde Gauthier einwenden, dass B dennoch einen berechtigten Anspruch auf einen Anteil am Mehrgewinn durch den erhöhten Kooperationsbeitrag von A habe, da dieser Mehrgewinn ohne die Kooperation mit B auch für A nicht möglich gewesen wäre. Mit dem gleichen Argument könnte aber auch A von B einen Anteil von seinem Anteil am kooperativen Mehrwert fordern. Denn auch für B gilt, dass er ohne die Kooperation mit A keinen kooperativen Mehrwert erzielen könnte. Man sieht, dass man mit diesem Argument Ansprüche auf beliebige 240

MbA, 113.

193

Anteile am kooperativen Mehrwert rechtfertigen könnte. Der entscheidende Punkt hier ist aber eben nicht die Frage, ob man einen Anspruch geltend machen kann oder nicht, sondern wie groß der Anteil ist, auf den man einen Anspruch geltend machen kann. Aus der Feststellung, dass ein bestimmter kooperativer Mehrwert ohne die Teilnahme einer bestimmten Person nicht erzielt werden kann, lässt sich keine Schlussfolgerung über die Größe des berechtigten Anteils ziehen. Das MRC-Prinzip hat einen divergierenden Effekt auf die Güterverteilung einer Gesellschaft. In diesem Abschnitt werde ich zeigen, dass es für Individuen, die einen hohen Kooperationsbeitrag leisten können, nach dem MRC-Prinzip effizienter ist, mit entsprechend gut gestellten Individuen zu kooperieren als mit vergleichsweise ärmeren Individuen. Für die ärmeren Individuen bleiben dann nur noch Kooperationspartner mit ebenfalls entsprechend wenig Gütern übrig. Im Endeffekt führt dies zu einer Verstärkung einer bereits vorhandenen Inegalität in einer Gesellschaft. Der Grund dafür ist die Tendenz des MRC-Prinzips, zu egalitären Verteilungen des kooperativen Mehrwerts zu führen. Der Mehrwert einer Kooperation von n Teilnehmern wird nach dem MRC-Prinzip in n gleiche Teile geteilt. Das heißt, ein Teilnehmer, der einen großen Kooperationsbeitrag geleistet hat, bekommt einen gleich großen Anteil wie ein Teilnehmer mit einem kleinen Kooperationsbeitrag.241 Und wenn der Teilnehmer mit dem großen Kooperationsbeitrag seinen Kooperationsbeitrag noch weiter steigert, dann kann der kooperative Mehrwert größer werden und somit auch jeder n-te Anteil am kooperativen Mehrwert. Wenn die Größe des kooperativen Mehrwerts von der Größe der Kooperationsbeiträge der Teilnehmer abhängt, dann wird jeder Teilnehmer ein Interesse daran haben, dass die anderen Teilnehmer einen möglichst großen Kooperationsbeitrag leisten. Dies hat zur Folge, dass es attraktive und weniger attraktive Kooperationspartner gibt. In einer Kooperation, in der alle Teilnehmer bis auf einen einen großen Kooperationsbeitrag leisten, wäre es bei einer Aufteilung nach dem MRC-Prinzips vom Aspekt der Nutzenmaximierung geboten, den Teilnehmer 241

Gauthier veranschaulicht diesen Sachverhalt sehr deutlich in der Geschichte vom Goldgräber McGee und dem Banker Grasp in MbA, 153. Siehe dazu auch die Schilderung dieses Beispiels auf S. 63.

194

mit dem geringeren Kooperationsbeitrag aus der Kooperation auszuschließen, da alle übrigen Teilnehmer dann einen größeren Anteil am kooperativen Mehrwert erhalten würden. Damit verstößt Gauthier gegen sein eigenes Prinzip, nach dem die Verhandlungsregeln nicht so sein dürfen, dass es für einen Teil der Gruppe vorteilhafter wäre, einen anderen Teil der Gruppe von der Kooperation auszuschließen.242 An dieser Stelle wird das Ergebnis der Analyse aus Abs. III.C.2 eingebracht. Dort habe ich gezeigt, dass Gauthiers Behauptung falsch ist, in einer Kooperation seien die einzelnen Teilnehmer weder ersetzbar noch ganz verzichtbar. Dazu folgendes Beispiel: Die Personen A, B und C sind Teilnehmer einer Kooperation. A leistet einen Beitrag von 80 i, B von 100 i und C von 20 i. Wenn die Teilnehmer ihren Beitrag außerhalb der Kooperation einsetzen (individueller Ertrag = IE), dann wird er verdoppelt. Setzen sie ihn in der Kooperation ein (Kooperationsbeitrag = KB), so verdreifacht er sich. Der fette Rahmen in den folgenden Tabellen kennzeichnet die an der Kooperation teilnehmenden Personen. KB IE ein AKM-MRC A 80 160 2 66,67 B 100 200 2 66,67 C 20 40 2 66,67 Σ 200 400 200 = KL = KG = KM Tab. 11: MRC - Verteilungen I

242

AKE-MRC 226,67 266,67 106,67 600 = KE

eik 2,83 2,67 5,33 3 = ek

AKM-P1 80 100 20 200 = KM

AKE-P1 240 300 60 600 = KE

eik 3 3 3 3 = ek

D. Gauthier: „Justified Inequality?” (1982), 437: „It is initially evident that mutual advantage requires that each do better than s/he would in the absence of all cooperation. But more is required; in particular each must benefit from the presence of every other cooperator. We must rule out the possibility that it would be advantageous for a subgroup of cooperators to exclude the others. Each individual cooperator=s claim must then be related to those productive activities in which s/he participates, in such a way that his/her participation is a source of mutual advantage.” Vgl. auch D. Gauthier: „The Social Contract“ (1978), 62.

195

Bei einer Verteilung des kooperativen Mehrwerts nach dem MRC-Prinzip ist die Kooperation für A und B mit C irrational. Ohne die Teilnahme von C erhalten beide einen größeren Anteil am kooperativen Mehrwert. KB IE ein AKM-MRC A 80 160 2 90 B 100 200 2 90 C (20) (40) 2 0 Σ 180 360 180 = KL = KG = KM Tab. 12: MRC - Verteilungen II

AKE-MRC 250 290 0 540 = KE

eik 3,125 2,9 0 3 = ek

AKM-P1 80 100 0 180 = KM

AKE-P1 240 300 0 540 = KE

eik 3 3 0 3 = ek

Dies zeigt, dass das MRC-Prinzip in diesem Fall nicht zu einem paretooptimalen Ergebnis führt. Theoretisch wäre bei der Teilnahme von C ein Kooperationsertrag in Höhe von 600 möglich. Die Differenz von 60 Einheiten zum Kooperationsertrag ohne C wird verschenkt. A und B sind zwar in dieser Kooperation besser gestellt als in einer Kooperation mit C; würden die drei Personen aber nicht nach dem MRC-Prinzip kooperieren, könnten sich auch A und B noch besser stellen. Sie könnten C z. B. anbieten, anstelle der 66,67 nach dem MRC-Prinzip nur 50 zu erhalten. Damit ist C besser gestellt als ohne Kooperation und A und B könnten noch je 8 i zusätzlich verbuchen. Für arme Teilnehmer ist eine Kooperation nach dem MRC-Prinzip eine effizientere Investitionsmöglichkeit als für reiche Teilnehmer.243 Obwohl die ärmeren Teilnehmer einen geringeren Kooperationsbeitrag leisten, erhalten sie einen gleich großen Anteil am kooperativen Mehrwert wie die reicheren Teilnehmer, die mehr als sie in die Kooperation investiert haben. Das MRCPrinzip bevorzugt dadurch zunächst die ärmeren Teilnehmer. Letztendlich haben die ärmeren Teilnehmer jedoch einen Nachteil durch dieses Verteilungsprinzip. Denn es ist, wie in obigen Beispielen gesehen, für nutzenmaximierende und reichere Akteure oftmals nicht rational, mit ärmeren Personen zu kooperieren. Das heißt, die ärmeren Personen haben bei Koope243

Als arm bzw. schwach werden im Zusammenhang der RCT die Teilnehmer bezeichnet, die bei Kooperationen einen relativ niedrigen Kooperationsbeitrag leisten können oder die relativ wenig wirkungsvolle Möglichkeiten zum Erzwingen von Vertragsleistungen haben. Umgekehrt sind diejenigen stark, reich oder mächtig, die einen relativ großen Kooperationsbeitrag leisten können oder relativ wirkungsvolle Möglichkeiten zum Erzwingen von Vertragsleistungen haben.

196

rationen nach dem MRC-Prinzip faktisch weniger Kooperationsmöglichkeiten und damit seltener am kooperativen Mehrwert Anteil. Bei einer Verteilung des kooperativen Mehrwerts nach dem MRCPrinzip verhalten sich die Größe des Kooperationsbeitrages und die Effizienz dieses Kooperationsbeitrages für den einzelnen Teilnehmer umgekehrt proportional. Je weniger er in eine Kooperation investiert, desto effizienter ist dieser Einsatz. Der Anreiz, so viel wie möglich in eine Kooperation zu investieren, ist negativ. Je mehr er in eine Kooperation investiert, desto ineffizienter wird diese Investition. Ein Grenzwert ist dann erreicht, wenn jeder weitere Kooperationsbeitrag weniger effizient verwertet wird als außerhalb der Kooperation. Bei theoretisch gegen unendlich strebenden Einsätzen muss dieser Fall notwendig irgendwann eintreten, denn die Effizienz verhält sich hier antiproportional zur Größe des Einsatzes. Das heißt, während der Einsatz gegen unendlich strebt, strebt die Effizienz gegen Null. Das MRC-Prinzip setzt also von vornherein Grenzen für die Größe der Beträge, die man rationalerweise in eine Kooperation investieren kann. Dies ist ein gravierendes Handicap der Theorie. Die Bevorzugung der reicheren Personen durch das MRC-Prinzip wird im nächsten Beispiel hervorgehoben. Die Personen A und B können sich entscheiden, ob sie mit C oder mit D kooperieren wollen. Als Vergleich zur Verteilung nach dem MRC-Prinzip werden die Verteilungsergebnisse für den Fall einer proportionalen Verteilung (AKM-P1-Verteilung) des kooperativen Mehrwertes angegeben. Die Effizienz der Kooperation soll in diesem Beispiel proportional zur Größe der Kooperationseinlage sein und 1/10 der Größe der Kooperationseinlage betragen. Das heißt, je größer die Einlage ist, desto größer ist auch die Effizienz. Analog dazu soll auch die Effizienz außerhalb der Kooperation, also der individuelle Ertrag, mit 1/10 des investierten Betrages angesetzt werden. In diesem Beispiel spielt nur die Größe der Kooperationseinlage eine Rolle. Das bedeutet, dass es keinen Unterschied macht, ob der Betrag X als Kooperationseinlage oder individuell investiert wird. Andererseits ist das ein Typ von Kooperation, bei dem jeder Zusammenschluss von Teilnehmern zu einer Steigerung der Effizienz führt und damit eigentlich auch rational sein sollte. Dieser Typ von Kooperation wird hier als Beispiel gewählt, um zu zeigen, wie sich das MRC-Prinzip selbst auf so günstige Kooperationsbedingungen auswirken kann.

197 KB IE ein AKM-MRC A 40 160 4 2160 B 60 360 6 2160 C 300 9000 30 2160 Σ 400 9520 6480 = KL = KG = KM Tab. 13: MRC - Verteilungen III

AKE-MRC 2320 2520 11160 16000 = KE

eik 58 42 37 40 = ek

AKM-P1 648 972 4860 6480 = KM

AKE-P1 808 1332 13860 16000 = KE

eik 20 22 46 40 = ek

KB IE ein AKM-MRC A 40 160 4 493,3 B 60 360 6 493,3 D 50 250 5 493,3 Σ 150 770 1480 = KL = KG = KM Tab. 14: MRC - Verteilungen IV

AKE-MRC 653,3 853,3 743,3 2250 = KE

eik 16,3 14,2 14,7 15 = ek

AKM-P1 394 592 493 6480 = KM

AKE-P1 554 952 743 16000 = KE

eik 13,8 15,9 14,9 15 = ek

Die Kooperation mit C ist für A und B wesentlich effizienter als mit D. Die ärmeren Individuen sind somit einer systematischen Benachteiligung durch den Ausschluss von Kooperationen ausgesetzt. Man sieht hier auch, dass sich durch das MRC-Prinzip eine klare Tendenz zur Gleichheit in der Güterverteilung herausbildet. Eine proportionale Verteilung hingegen verstärkt bestehende Ungleichheiten in der Güterverteilung. Im folgenden Beispiel haben die Personen A, B und C die Möglichkeit, sich frei ihre Kooperationspartner auszuwählen. Es wird sich herausstellen, dass sich die Spieler bei einer Verteilung des KM nach dem MRC-Prinzip rationalerweise für eine nicht-pareto-optimale Lösung entscheiden werden. Zudem soll gezeigt werden, wie sich eine Veränderung des Kooperationsbeitrages eines Spielers auf seine Wahl der Kooperationsmöglichkeiten auswirkt. Diese Variation des Kooperationsbeitrages wird durch die Aufteilung in Tabellen der Gruppe 1 und Tabellen der Gruppe 2 wiedergegeben. Die Zahl in den eckigen Klammern hinter der Personenvariablen zeigt an, welche Präferenz die jeweilige Person dieser Kooperationsmöglichkeit zuweist. A [1] bedeutet, dass die Person A diese Kooperationsmöglichkeit allen anderen Möglichkeiten vorzieht. A [4] bedeutet entsprechend, dass die Person diese Möglichkeit für die schlechteste aller Optionen hält. Die Rangfolge der Präferenzen ergibt sich aus der Höhe des Anteils am kooperativen Gesamtertrag der jeweiligen Kooperationsmöglichkeit.

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Tabellen der Gruppe 1 KB IE A[1] 20 20 B[2] 80 80 C[2] 100 100 Σ 200 200 = KL = KG Tab. 15: Möglichkeit I

ein 1 1 1

KB IE ein A[3] 20 20 1 B[3] 80 80 1 C[4] 0 (100) 1 Σ 100 100 = KL = KG Tab. 16: Möglichkeit II

AKM-MRC 66,7 66,7 66,7 200 = KM

AKE-MRC 86,7 146,7 166,7 400 = KE

AKM-MRC 50 50 0 100 = KM

AKE-MRC 70 130 0 400 = KE

KB IE ein A[2] 20 20 1 B[4] 0 (80) 1 C[3] 100 100 1 Σ 120 120 = KL = KG Tab. 17: Möglichkeit III

AKM-MRC 60 0 60 120 = KM

KB IE ein 0 (20) 1 80 80 1 100 100 1 180 180 = KL = KG Tab. 18: Möglichkeit IV

AKM-MRC 0 90 90 180 = KM

A[4] B[1] C[1] Σ

AKE-MRC 80 0 160 240 = KE

AKE-MRC 0 170 190 360 = KE

eik 4,35 1,83 1,67 2 = ek

eik 3,5 1,6 2 = ek

AKM-P1 20 80 100 200 = KM

AKM-P1 20 80 0 100 = KM

AKE-P1 40 160 200 400 = KE

AKE-P1 40 160 0 200 = KE

eik 2 2 2 2 = ek

eik 2 2

eik 4 0 1,6 2 = ek

AKM-P1 20 0 100 120 = KM

AKE-P1 40 0 200 240 = KE

eik 2 0 2 2 = ek

eik

AKM-P1 0 80 100 180 = KM

AKE-P1 0 160 200 240 = KE

eik 0 2 2 2 = ek

0 2,125 1,9 2 = ek

Da B und C die Möglichkeit IV vor allen anderen präferieren und diese Möglichkeit unabhängig von der Zustimmung von A realisieren können, folgt, dass B und C die Möglichkeit IV wählen und A nicht von einer Kooperation ausschließen werden. Bei dieser Möglichkeit werden gegenüber der Möglichkeit I 20 Nutzeneinheiten verschenkt, d. h. sie ist nicht pareto-optimal. 360

199

Einheiten entfallen auf B und C; 20 Einheiten beträgt der individuelle Ertrag von A. Bei der Möglichkeit I haben wir einen Gesamtnutzen von 400 Einheiten. In den Tabellen der Gruppe 2 wird der Kooperationsbeitrag von B von 80 auf 40 gesenkt. Damit soll gezeigt werden, wie sich die Ausgangsverteilung auf die Wahl der Kooperationsmöglichkeiten auswirkt. Tabellen der Gruppe 2: KB IE ein A[2] 20 20 1 B[2] 40 40 1 C[3] 100 100 1 Σ 160 160 = KL = KG Tab. 19: Möglichkeit I

AKM-MRC 53,3 53,3 53,3 160 = KM

AKE-MRC 73,3 93,3 153,3 320 = KE

eik 3,665 2,3325 1,533 2 = ek

AKM-P1 20 40 100 160 = KM

AKE-P1 40 80 200 320 = KE

eik 2 2 2 2 = ek

KB IE ein A[3] 20 20 1 B[3] 40 40 1 C[4] 0 (100) 1 Σ 60 60 = KL = KG Tab. 20: Möglichkeit II

AKM-MRC 30 30 0 60 = KM

AKE-MRC 50 70 0 120 = KE

eik 2,5 1,75 0 2 = ek

AKM-P1 20 40 0 60 = KM

AKE-P1 40 80 0 120 = KE

eik 2 2 0 2 = ek

KB IE ein A[1] 20 20 1 B[4] 0 (40) 1 C[2] 100 100 1 Σ 120 120 = KL = KG Tab. 21: Möglichkeit III

AKM-MRC 60 0 60 120 = KM

AKE-MRC 80 0 160 240 = KE

eik 4 0 1,6 2 = ek

AKM-P1 20 0 100 120 = KM

AKE-P1 40 0 200 240 = KE

eik 2 0 2 2 = ek

200 KB IE ein A[4] 0 (20) 1 B[1] 40 40 1 C[1] 100 100 1 Σ 140 140 = KL = KG Tab. 22: Möglichkeit IV

AKM-MRC 0 70 70 140 = KM

AKE-MRC 0 110 170 280 = KE

eik 0 2,75 1,7 2 = ek

AKM-P1 0 40 100 140 = KM

AKE-P1 0 80 200 280 = KE

eik 0 2 2 2 = ek

Zunächst ist bei den Tabellen der Gruppe 2 festzuhalten, dass in dieser Variation der Verteilungsverhältnisse kein Spieler die Möglichkeit I, in der alle Personen an der Kooperation teilnehmen, als erste Präferenz hat. Jeder ist bei einer anderen Möglichkeit besser gestellt, bei der ein Spieler nicht teilnimmt. Der Grund dafür ist, dass durch die Verminderung des Kooperationsbeitrages von B die Attraktivität von B als Kooperationspartner stark gesunken ist. Dies gilt insbesondere A gegenüber. In den Tabellen der Gruppe 1 ist für die Person A die Person B fast genauso attraktiv als Kooperationspartner wie Person C. Das sieht man daran, dass A die Möglichkeit I vor allen anderen präferiert, in der A mit beiden anderen Personen kooperieren kann. Die zweite Wahl ist für Person A in den Tabellen der Gruppe 1 klarerweise die Kooperation mit C allein, denn dieser leistet den größten Kooperationsbeitrag. In den Tabellen der Gruppe 2 ist Person B kein so attraktiver Kooperationspartner mehr. In dieser Variation ist es für Person A vorteilhafter, nur mit Person C zu kooperieren als mit C und B zu kooperieren. Die Änderungen der Präferenzen zwischen der Tabelle der Gruppe 1 und Y beruhen auf mittelbaren Umverteilungseffekten bei der Anwendung des MRC-Prinzips. Als mittelbare Umverteilungseffekte bezeichne ich hier das Phänomen, dass bei Verteilungen nach dem MRC-Prinzip für Kooperationsteilnehmer mit einem relativ kleinen Kooperationsbeitrag die Investition ihres Kooperationsbeitrages in die Kooperation effizienter ist als für Teilnehmer mit einem relativ großen Kooperationsbeitrag. Der Grund hierfür ist, dass der kooperative Mehrwert egalitär verteilt wird. Hier von einer Umverteilung zu sprechen, obwohl keinem Teilnehmer etwas von seinen Gütern genommen und einem anderen Teilnehmer ohne Gegenleistung gegeben wird, ist deshalb angebracht, da sich durch die unterschiedliche Effizienz der Kooperationen die Struktur der Güterverteilung in einer Gesellschaft auf jeden Fall langfristig verändert.

201

Wenn ein Reicher mit einem Armen kooperiert, dann findet nach dem MRC-Prinzip eine relative Umverteilung von reich nach arm statt. Wenn zwei Reiche bzw. zwei Arme miteinander kooperieren, dann findet nur eine geringe Umverteilung oder gar keine Umverteilung statt. Letzteres ist der Fall, wenn die Teilnehmer gleich große Kooperationsbeiträge leisten. Wenn nun zwei Reiche mit einem Armen kooperieren, dann findet eine Umverteilung von den zwei Reichen zu dem Armem statt. Das ist in den Tabellen der Gruppe 1 der Fall. An dieser Umverteilung haben die Reichen natürlich kein Interesse und entscheiden sich deshalb, lieber nur mit ihresgleichen zu kooperieren. Der Arme im Fall A hat als erste Präferenz, mit beiden Reichen zu kooperieren, denn dann ist der Gütertransfer von den Reichen zu ihm maximal. In den Tabellen der Gruppe 2 haben wir zwei Arme und einen Reichen, die miteinander kooperieren können. Würden sie alle drei miteinander kooperieren, dann müssten sich die Armen den Gütertransfer vom Reichen untereinander noch teilen. Würde ein Armer mit dem Reichen allein kooperieren, dann bräuchte er diesen Transfer nicht mehr mit einem anderen Armen zu teilen. Aus diesem Befund ist der Schluss zu ziehen, dass, sobald es möglich ist, auf einzelne potenzielle Kooperationsteilnehmer zu verzichten, das MRCPrinzip in einigen wesentlichen Fällen nicht pareto-optimal ist. Würde man in diesen Fällen den kooperativen Mehrwert proportional nach dem AKM-P1Prinzip verteilen, dann wären alle Teilnehmer besser gestellt. Es ist eine bestimmte Gruppe, nämlich die Armen, die systematisch von der Gefahr betroffen ist, von Kooperationen ausgeschlossen zu werden. Nach dem MRCPrinzip ist ihre Armut ein Grund, sie als weniger attraktive Kooperationspartner anzusehen. Dabei sind es doch die Armen in einer Gesellschaft, die eine Verbesserung ihrer Lebenssituation am dringendsten benötigen und von einer solchen auch am meisten profitieren. Gerade dieser Gruppe die Teilnahme an der Kooperation zu erschweren, ist für eine Moraltheorie nicht unproblematisch. Die Reichen werden effizient miteinander kooperieren können und ihre Vorrangstellung gegenüber den Armen noch ausbauen, während die Armen entweder gar nicht oder nur mit anderen Armen kooperieren können, was vergleichsweise ineffizient ist.

202

Zusammenfassung. Die vorangehenden Beispiele haben einige problematische Konsequenzen des MRC-Prinzips aufgezeigt. An erster Stelle ist hier der Effekt der Umverteilungen zu nennen, der zum einen weitere problematische Effekte nach sich zieht und zum anderen Gauthiers eigener Position widerspricht, dass Umverteilungen irrational sind. Ein weiterer wesentlicher Punkt, der eine mittelbare Folge aus dem Effekt der Umverteilungen ist, ist der mögliche Ausschluss von Teilgruppen aus Kooperationen. Auch diesbezüglich fordert Gauthier selbst, dass eine Kooperation nicht derart sein darf, dass es für eine Gruppe der Teilnehmer vorteilhaft wäre, eine andere Gruppe von der Kooperation auszuschließen.244 Das MRC-Prinzip erfüllt diese Forderung offensichtlich nicht. Der Grund für den möglichen Ausschluss von Teilgruppen ist, dass das MRC-Prinzip parteiisch ist. Es bevorzugt die Teilnehmer mit einem geringeren Einsatz. Darauf reagieren die Teilnehmer mit größeren Kooperationsbeiträgen rationalerweise mit dem Ausschluss der ärmeren Teilnehmer aus der Kooperation. Der Effekt der Umverteilung führt auch dazu, dass MRC-Kooperationen nicht immer pareto-optimal sind. Dies kann zwei Ursachen haben. Entweder wird durch den Ausschluss potenzieller Kooperationsteilnehmer aus der Kooperation nicht der maximal mögliche kooperative Mehrwert erzielt oder es ist für einige Kooperationsteilnehmer aufgrund des Verteilungsergebnisses des MRC-Prinzips nicht rational, den maximal möglichen Kooperationsbeitrag in die Kooperation zu investieren. Auch letzteres führt dazu, dass nicht der maximal mögliche kooperative Mehrwert erzielt wird.

244

D. Gauthier: „Justified Inequality?“ (1982), 437: „It is initially evident that mutual advantage requires that each do better than s/he would in the absence of all cooperation. But more is required; in particular each must benefit from the presence of every other cooperator. We must rule out the possibility that it would be advantageous for a subgroup of cooperators to exclude the others. Each individual cooperator=s claim must then be related to those productive activities in which s/he participates, in such a way that his/her participation is a source of mutual advantage. ”

203

F. AKM-P1-Verteilung als Alternative zum MRC-Prinzip Dieser Abschnitt soll zeigen, dass das MRC-Prinzip nicht die einzige und schon gar nicht die zwingende Lösung für das Verteilungsproblem ist. Darüber hinaus soll auch gezeigt werden, dass es zumindest einen besseren Lösungskandidaten als das MRC-Prinzip gibt. Als Alternative zum MRCPrinzip habe ich in den vorgehenden Abschnitten eine Verteilung eingeführt, die jedem Kooperationsteilnehmer einen proportionalen Anteil am kooperativen Mehrwert (AKM-P1) zuweist. Dieser Verteilungsmodus ist eine Modifikation des MRC-Prinzips, der sich primär durch das Kriterium der Egalität vom MRC-Prinzip unterscheidet. Ich werde in diesem Abschnitt diesen Verteilungsmodus in Abgrenzung zum MRC-Prinzip und einem Verteilungsprinzip von Hampton darstellen, die ebenfalls ein alternatives Verteilprinzip (Principle of Proportionality = POP = AKE-P2) zum MRCPrinzip vorgeschlagen hat. Zunächst sollen aber einige Argumente genannt werden, weshalb es vernünftiger ist, ein proportionales und nicht ein egalitäres Verteilungsprinzip zu wählen. Danach wird der Vorschlag von Hampton vorgestellt. Anhand des Beispiels von Abel und Mabel aus MbA werden dann die drei Verteilungsprinzipien miteinander verglichen. Mit diesem Vergleich soll gezeigt werden, dass sowohl das MRC-Prinzip als auch das AKE-P2 zu problematischen Ergebnissen führen, die durch die AKM-P1-Verteilung vermieden werden können. Das AKM-P1-Prinzip wird hier nicht wie das MRC-Prinzip als Verhandlungstheorie der RCT aus Axiomen abgeleitet oder als kompetitive Strategie entwickelt. Vielmehr ist es eine Modifikation des MRC-Prinzips, bei dem die Akzeptanz von Nutzenmaximierern als konsequentes Prüfkriterium eingeht. Es wird in Abgrenzung zu vorhandenen Prinzipien ein Prinzip gesucht, das Verteilungsergebnisse generiert, denen Nutzenmaximierer uneingeschränkt zustimmen können. Eine entsprechende Ableitung könnte man noch rekonstruieren. Das AKM-P1-Prinzip soll den Anforderungen zweckrationaler Spieler besser entsprechen als das MRC-Prinzip. Nun wird man einwenden, dass dieser alternative Lösungsvorschlag gegenüber dem Lösungsvorschlag von Gauthier den großen Nachteil hat, dass für ihn keine Herleitung im Rahmen der Standard-Modelle (Nash, Kalai-Smorodinsky, Zeuthen etc.) geliefert

204

wurde und damit im Vergleich zur Theorie Gauthiers der Begründung durch die RCT entbehrt. Dieser Einwand ist sicherlich zutreffend. Jedoch fragt sich, wie gewichtig dieser Einwand ist. Nach der Analyse der Herleitung des MRCPrinzips aus den Standard-Modellen ist offensichtlich, dass diese Modelle keineswegs die erhoffte moralfreie Basis für die Konstruktion einer rational fundierten Moral bieten. Weiterhin ist auch klar geworden, dass von einer Herleitung im streng formalen, mathematischen Sinne des MRC-Prinzips keine Rede sein kann. Vielmehr handelt es sich um den Versuch einer formalen Einbindung eines auf anderem Wege hergeleiteten Verteilungsprinzips. Das AKM-P1-Prinzip ist insgesamt gesehen nur eine geringfügige Modifikation des MRC-Prinzips, jedoch ohne die Elemente, die sich in der kritischen Analyse als problematisch erwiesen haben. Proportionale Verteilung versus Gleichverteilung. Der Ansatzpunkt für eine proportionale Verteilung ist der kausale Zusammenhang zwischen der Größe des individuellen Kooperationsbeitrages und der Größe des kooperativen Mehrwerts. Ist dieser kausale Zusammenhang quantitativ erfassbar, also wenn die Relation zwischen der Größe des individuellen Kooperationsbeitrages und der Größe des kooperativen Mehrwerts quantitativ dargestellt werden kann, so ist dies ein vernünftiges Kriterium für die Festlegung der Größe des Anteils am kooperativen Mehrwert. Kann man einen solchen kausalen Zusammenhang in bestimmten Fällen nicht feststellen, so kann dies zwei Gründe haben: a. Die Feststellung des Zusammenhanges scheitert daran, dass die entsprechenden technischen oder formalen Instrumente nicht oder noch nicht existieren. Darauf lässt sich erwidern, dass dies nur ein Problem der praktischen Durchführung ist, das vielleicht in Zukunft noch lösbar ist, und daher keinen prinzipiellen Einwand darstellt. Man ist dadurch nicht daran gehindert, in den Fällen, in denen dieser Zusammenhang eindeutig feststellbar ist, diesen als Kriterium für die Verteilung heranzuziehen. b. Es gibt Fälle, in denen kein kausaler Zusammenhang zwischen dem Beitrag der Teilnehmer und dem Kooperationsertrag besteht. Sollten das der Anzahl oder dem Grunde nach bedeutende Fälle sein, so ist dieser kausale Zusammenhang als Verteilungskriterium untauglich. Diesen kausalen Zusammenhang als Verteilungskriterium findet man ansatzweise auch bei Gauthier selber: „…a person's claim must be restricted

205

to those parts of the cooperative scheme to which s/he is essential - those products to whose production s/he contributes, or their equivalent.“ 245 Nur setzt Gauthier diesen Zusammenhang nicht für die quantitative Bestimmung des Anteils am kooperativen Mehrwert ein. Hier muss man an ihn die Frage stellen, weshalb er dieses Kriterium grundsätzlich akzeptiert, aber für die quantitative Bestimmung außer Acht lässt. Die AKM-P1-Verteilung. Nun zur Alternative zum MRC-Prinzip, der AKMP1-Verteilung. Bei diesem Prinzip richtet sich die Bemessung des Anteils am kooperativen Mehrwert folgendermaßen nach der relativen Größe des Kooperationsbeitrages. Wenn ein Teilnehmer x % zur Kooperationseinlage beisteuert, dann sollte er auch x % des kooperativen Mehrwerts erhalten. Diese Art der Bemessung des Anteils am kooperativen Mehrwert erfüllt die Anforderungen der individuellen Nutzenmaximierung und der ParetoOptimalität am besten. Die Kooperation ist eine Investitionsmöglichkeit mit einer bestimmten Effizienz. Diese Effizienz wird bei dieser Form der Verteilung des kooperativen Mehrwertes an alle Teilnehmer in gleicher Weise weitergegeben. Wenn man weiß, dass eine Kooperation ein Unternehmen ist, das mit einer bestimmbaren Effizienz den Einsatz in einen Ertrag umsetzt, dann weiß jeder Teilnehmer, wie viel Ertrag er durch seinen Einsatz bewirkt hat. Die Effizienz der Kooperation ist von diesem Ansatz her das quantitative Verteilungskriterium des kooperativen Mehrwerts. Die Orientierung an der Effizienz macht die Verwendung von psychologisch verankerten und für eine quantitative Erfassung problematischen Größen wie den Zugeständnissen im MRC-Prinzip überflüssig. Sie stellt die Kooperation als das dar, was sie für den homo oeconomicus ist: eine Investitionsmöglichkeit. Investitionsmöglichkeiten werden von individuellen Nutzenmaximierern nach ihrer Effizienz beurteilt. Und in genau dieser Weise wird auch die Kooperation von ihm beurteilt. Gibt es alternative Investitionsmöglichkeiten mit einer höheren Rendite, so wird er diese der Kooperation vorziehen. Das MRC-Prinzip führt, wie ich zuvor gezeigt habe, in gewissen Fällen zu nicht-pareto-optimalen Lösungen. Der Grund dafür ist, dass es für einige Teilnehmer rational war, andere Teilnehmer von der Kooperation auszu245

D. Gauthier: „Justified Inequality?” (1982), 437.

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schließen, oder dass mögliche Mehrinvestitionen in die Kooperationen nicht angemessen honoriert werden und somit rationalerweise unterblieben. Diese Probleme treten bei der AKM-P1-Verteilung nicht auf. Jede zusätzliche Investition in eine Kooperation, entweder in Form eines weiteren Teilnehmers oder der Erhöhung des Kooperationsbeitrages eines Teilnehmers, wird angemessen honoriert. Was eine angemessene Honorierung ist, das wird aufgrund der Effizienz der Kooperation festgelegt. Das bedeutet nicht, dass jede Kooperation unbegrenzt viele Teilnehmer aufnehmen kann und einen beliebig großen Kooperationsbeitrag erlaubt. Begrenzungen dieser Art konfligieren aber nicht mit dem Kriterium der Pareto-Optimalität. Sie sind in den jeweils speziellen Bedingungen der einzelnen Kooperation begründet. Im Gegensatz zum nachfolgend diskutierten AKE-P2-Prinzip von Hampton wird bei der AKM-P1-Verteilung nur der kooperative Mehrwert als Gegenstand der proportionalen Verteilung angesehen und nicht der gesamte Kooperationsertrag. In diesem Punkt folge ich der Argumentation Gauthiers, dass die Teilnahme an einer Kooperation nur dann rational ist, wenn jeder Teilnehmer mindestens seinen individuellen Ertrag erhält. Dieser individuelle Ertrag darf nicht Teil der Verhandlungsmasse sein, denn dann könnte ein Teilnehmer durch die Kooperation schlechter gestellt werden als durch individuelle Strategien. Hamptons Kritik am MRC-Prinzip. Hampton kritisiert das MRC-Prinzip aufgrund der unterschiedlichen Effizienz verschieden großer Kooperationsbeiträge. Als Alternative zum MRC-Prinzip schlägt sie ein Principle of Proportionality (AKE-P2) vor. „... in a cooperative endeavor each person receives that portion of the total benefit which is proportionate to her contribution to it.“ 246 Hampton bezieht damit in ihr Verteilungsprinzip nicht die Unterteilung des Kooperationsertrages in kooperativen Mehrwert und individuellen Ertrag ein. Dies ergibt sich bei ihr aus der Orientierung am Kriterium der Effizienz der Kooperation ek, welche sich aus dem Quotienten von Kooperationseinlage und Kooperationsertrag errechnet. Die Differenzierung nach individuellem Ertrag und kooperativem Mehrwert wird dabei nicht benötigt. Die Effizienz ek wird im AKE-P2 mit dem Kooperationsbeitrag 246

J. Hampton: „Can We Agree on Morals?” (1988), 335.

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multipliziert und führt somit zum Verteilungsergebnis. Nach dem MRCPrinzip erhalten alle ihren individuellen Ertrag und einen gleich großen Anteil am kooperativen Mehrwert. Das AKE-P2 teilt den gesamten Kooperationsertrag proportional zu den Kooperationsbeiträgen auf. Hampton greift zur Veranschaulichung auf Gauthiers Beispiel von Abel und Mabel zurück.247 Das Attraktive an einer Kooperation zwischen Abel und Mabel ist die Steigerung der Effizienz im Falle der Kooperation. Was trägt hier zur Steigerung der Effizienz bei? Eine Mindestgröße des angelegten Geldbetrages. Was trägt dazu bei, dass diese Mindestgröße erreicht wird? Die Höhe der einzelnen Kooperationsbeiträge. Wenn die Höhe der Kooperationsbeiträge unterschiedlich ist, dann tragen die Kooperationsbeiträge im unterschiedlichen Maß zur Steigerung der Effizienz bei. Wenn Abel $100 und Mabel $600 in die Kooperation investiert, dann leistet Mable einen sechsmal so großen Beitrag zur Kooperation wie Abel und trägt auch in diesem Maß zur Steigerung der Effizienz der Geldanlage bei. Hampton kritisiert Gauthier, weil er diesen Zusammenhang nicht berücksichtigt. Zum direkten Vergleich sei hier Gauthiers Interpretation des Beispiels von Abel und Mabel angeführt. In „Moral Artifice“ erklärt Gauthier die Verteilung nach dem MRC-Prinzip bei (400/600) zwischen Abel und Mabel, d. h. $400 ist der Beitrag von Abel und $600 der von Mabel, mit einer seiner Meinung nach strukturanalogen Situation. „The situation of Mabel and Abel is structurally equivalent to one in which they are jointly offered $50, provided they can agree on how to divide it between them. The obvious point of agreement, dictated by MRC and surely by any plausible principle for bargaining, yields each $25. If, independently, Mabel has $600 to invest and Abel $400, with a rate of return of 5%, then Mabel will end up gaining $55 and Abel $45. And this is exactly the outcome yielded by applying MRC.“ 248 Das entscheidende Wort in diesem Absatz ist „independently". So wie Gauthier die Situation hier schildert, hat das Entstehen des kooperativen Mehrwerts gar nichts mit den Kooperationsbeiträgen zu tun; es ist eben 247

Siehe S. 174

248

D. Gauthier: „Moral Artifice“ (1988), 391.

208

unabhängig von diesen. Dies ist aber offensichtlich falsch. Eine Bank bietet nicht einfach so $50 an und zufällig legen Abel und Mabel gleichzeitig ihre Beträge an. Das Angebot einer Bank, den Zinssatz von 5% auf 10% zu erhöhen, sobald die Einlage $700 übersteigt, ist völlig unabhängig davon, ob die $700 durch kooperatives Handeln zusammengetragen werden oder von einer Person allein aufgebracht werden. Ausschlaggebend ist allein das Erreichen der Grenze von $700. $50 mehr werden nur dann angeboten, wenn ein Betrag von $800 angelegt wird. Nicht aber aufgrund kooperativen Handelns. Nun könnte man einwenden, dass $800 als Einlage im Fall von Abel und Mabel nur durch Kooperation aufgebracht werden können und somit letztlich doch die Kooperation die Ursache für die Entstehung des kooperativen Mehrwerts ist. Es ist richtig, dass die Kooperation in diesem Fall die notwendige Bedingung für die Entstehung des kooperativen Mehrwerts ist und diese indirekt mitverursacht. Aber es ist eben nur eine von zwei Bedingungen. Die zweite Bedingung ist, dass die Gesamteinlage $700 übersteigt. Und dies ist abhängig von der Größe der einzelnen Kooperationsbeiträge. Dieser Zusammenhang zwischen der Größe der Kooperationsbeiträge und der Größe des kooperativen Mehrwerts wird noch deutlicher, wenn man das Beispiel von Abel und Mabel in der Form betrachtet, wie es Gauthier zunächst in MbA, 140 einführt. Dort steigt die Zinsrate proportional zur Größe des eingezahlten Betrages. Das heißt, durch jeden Dollar mehr steigt auch die Größe des kooperativen Mehrwerts. Der kooperative Mehrwert ist also keineswegs unabhängig von der Größe der Kooperationsbeiträge. Vergleich zwischen MRC-Prinzip, AKE-P2-Prinzip und AKM-P1Verteilung. Wir bleiben beim Beispiel von Abel und Mabel und wenden nun die drei genannten Verteilungsprinzipien auf verschiedene Konstellationen der Kooperationsbeiträge an. Damit werden die Konsequenzen der verschiedenen Verteilungsprinzipien unter diesen variierenden Bedingungen aufgezeigt.

209 KB IE AKM-MRC AKE-MRC AKM-P1 A 400 420 20 440 20 M 400 420 20 440 20 Σ 800 840 40 880 40 = KL = KG = KM = KE = KM A 400 420 20 25 445 M 600 630 30 25 655 Σ 1000 1050 50 1110 50 = KL = KG = KM = KE = KM A 400 420 10 430 6,7 M 800 880 10 890 13,3 Σ 1200 1300 20 1320 20 = KL = KG = KM = KE = KM A 400 420 10 430 5,7 M 1000 1100 10 1110 14,3 Σ 1400 1520 20 1540 20 = KL = KG = KM = KE = KM Tab. 23: Vergleich MRC-, AKM-P1- und AKE-P2-Verteilungen

AKE-P1 440 440 880 = KE 440 660 1100 = KE 426,7 893,3 1320 = KE 425,7 1114,3 1540 = KE

AKE-P2 440 440 880 = KE 440 660 1100 = KE 440 880 1320 = KE 440 1100 1540 = KE

Im ersten Fall gleich großer Kooperationsbeiträge liefern alle drei Verteilungsprinzipien dasselbe Ergebnis und dieses Ergebnis ist auch völlig unproblematisch. Diese Feststellung ist dennoch nicht unbedeutend. Es zeigt nämlich, dass bei egalitären Ausgangssituationen die spezifischen Eigenschaften von Verteilungsprinzipien in den Hintergrund treten können. Gauthier gesteht zu, dass seine kontraktualistische Moraltheorie in Fällen von inegalitären Ausgangssituationen nicht zwingend ist, sondern darauf setzt, dass Moral aus der rationalen Übereinkunft von Gleichen hervorgeht.249 Wenn aber für egalitäre Ausgangssituationen gar nicht so entscheidend ist, welches Verteilungsprinzip man wählt, dann ist eine Theorie, die sich auf diesen Bereich konzentriert, nicht sehr stark und im Grunde durch eine der anderen Theorien ersetzbar. Im Fall (400/600) liefert das MRC-Prinzip eine problematische Lösung. Hier profitiert Abel von dem Mehreinsatz von Mabel, ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen. Bei gleich bleibendem eigenem Kooperationsbetrag sollte ein Teilnehmer nicht von der Erhöhung des Kooperationsbeitrages eines anderen Teilnehmers profitieren. Die Vergrößerung des kooperativen Mehrwerts kommt allein durch die Erhöhung des Kooperationsbeitrages von 249

MbA, 232.

210

Mabel von 400 auf 600 zu Stande. Deshalb sollte auch nur Mabel von der daraus resultierenden Erhöhung des kooperativen Mehrwerts profitieren. Die Verteilung nach dem MRC-Prinzip erlaubt Abel, sich hier als Trittbrettfahrer zu verhalten. Das AKE-P2 von Hampton verstößt ebenfalls gegen diese Überlegung, sobald Mabels Kooperationsbeitrag die Grenze von 700 übersteigt. In den Fällen (400/800) und (400/1000) hat nach dem AKE-P2 allein Abel einen Vorteil durch die Kooperation. Kooperation ist aber ein Handeln zum wechselseitigen Vorteil, was hier offensichtlich nicht gegeben ist. Auch dies ist ein Fall des Trittbrettfahrens. Der Grund ist in diesem Fall, dass ab einem Betrag von $700 der attraktivere Zinssatz von 10% gezahlt wird. Wenn Mabel diesen Betrag allein bereitstellen kann, dann ist er zunächst gar nicht auf die Kooperation von Abel angewiesen, um in den Genuss des höheren Zinssatzes zu gelangen. Dennoch würde auch in dieser Situation der Entschluss von Mabel, nicht zu kooperieren, zu einem nicht-pareto-optimalen Ergebnis führen. Wenn Mabel die Kooperation mit Abel verweigert, dann kann Abel sein Kapital nur mit 5% verzinsen. Es wäre aber möglich, sein Kapital mit 10% zu verzinsen, wenn Mabel mit ihm kooperieren würde. Dann könnten beide von dem Gewinn aus dieser Kooperation profitieren. Wenn Mabel diese Möglichkeit nicht wahrnimmt, dann verschenkt er einen möglichen Profit und würde demnach irrational handeln. Diese Möglichkeit wird vom MRC-Prinzip und vom AKM-P1 wahrgenommen, nicht aber vom AKEP2. Nach dem AKE-P2 erhält Mabel keinen Anteil am kooperativen Mehrwert, sondern nur seinen individuellen Ertrag. Nach diesem Verteilungsprinzip gibt es für ihn daher keinen Grund zur Kooperation. Die AKM-P1-Verteilung vermeidet die Fehler des MRC-Prinzips und des AKE-P2 und ist daher als Verteilungsprinzip besser geeignet als diese beiden. Der wesentliche Unterschied zwischen dem AKM-P1 und dem MRCPrinzip ist, dass das AKM-P1 kein egalitäres Verteilungsergebnis liefert. Hier zeigt sich, dass das Kriterium der Egalität in der Theorie Gauthiers ein Hindernis für ein rationales Ergebnis ist. In der Praxis würde man die Überlegenheit proportionaler Verteilungsprinzipien gegenüber egalitären Verteilungsprinzipien durch evolutionäre Spiele analysieren können. Lässt man in einer Gesellschaft eine Konkurrenz zwischen egalitären Verteilungsprinzipien wie dem MRC-Prinzip und proportionalen Prinzipien zu, so

211

würden nach der hier vorgetragenen Kritik egalitäre Verteilungsprinzipien aussterben.250

G. Rationalität im Verhandlungsverfahren

1. Zwei Konzepte der Rationalität Einleitung. In MbA präsentiert Gauthier in der Einleitung, in Kapitel II und III eine sehr ausführliche Explikation des Rationalitätsbegriffes im Rahmen der RCT, von der ausgehend er seine weitere Argumentation entwickelt. Aber schon in Kapitel III weist er darauf hin, dass man mit diesem Rationalitätsbegriff in Situationen in erhebliche Schwierigkeiten gelangt, in denen die nutzenmaximierende Strategie nicht zugleich eine optimale Strategie ist - das bedeutet bei Gauthier in diesem Kontext immer eine pareto-optimale Strategie .251 Genau diese Situationen sind der Ansatzpunkt für die Moraltheorie Gauthiers, die er dort mit der Konzeption der Kooperation und der Verhandlung einführt.252 Im Verlauf des Kapitels über die Verhandlung und vor allem im nachfolgenden Kapitel über die Rationalität der Vertragstreue (compliance) wird dieser ursprünglich angenommene Rationalitätsbegriff derart 250

Vgl. hierzu J. Hampton: „Can We Agree on Morals?” (1988), 337, 340f.

251

Es gibt einige Spieltheoretiker, die die Grenzen des Konzeptes der MaximierungsRationalität schon viel früher sehen. So ist z. B. Harsanyi in Rational behavior and bargaining equilibrium in games and social situations (1977), 8ff. der Meinung, dass man mit diesem Rationalitätsbegriff nur in parametrischen Entscheidungssituationen unter Sicherheit operieren darf. Für alle Spielsituationen mit zwei und mehr Spielern hält er die Konzeption der Maximierungs-Rationalität für unbrauchbar. Es gibt für diese Situationen seiner Meinung nach keine präzise Formulierung des Rationalitätsbegriffes. Auch bei Binmore findet man diesbezüglich ein klares Nein. K. Binmore: „Bargaining and morality“ (1993), 142: „Gauthier asks 'whether there are principles of rational bargaining with the same context-free universality of application as the principle of expected utility maximization.' I think that the answer to his question is 'No'. Without the context of a negotiation procedure, the bargaining problem is indeterminate.” 252

MbA, 78f.

212

weiterentwickelt, dass Gauthier - zwar an anderer Stelle, aber im selben Kontext - von einem neuen Begriff der Rationalität spricht. „I have examined the issue elsewhere, and endeavoured to show that from an initial identification of rationality with individual utility-maximization, one will rationally change one's conception of rationality so that one will consider it rational to adhere to an agreement such as the social contract despite the restraints on utility-maximization involved.“ 253 Dieser Wechsel des Rationalitätsbegriffes impliziert eine andere Art des Urteilens und Entscheidens, die Gauthier als eingeschränkte Nutzenmaximierung bezeichnet (constrained maximization) und der einfachen Nutzenmaximierung (straightforward maximization) gegenüberstellt. „The constrained maximizer does not reason more effectively about how to maximize her utility, but reasons in a different way.“ 254 Es handelt sich offensichtlich also nicht um eine marginale Modifikation oder Erweiterung des bis dahin angenommenen Rationalitätsbegriffs der Nutzenmaximierung, sondern um einen Bruch mit dem Kerngedanken dieses Rationalitätsbegriffes. Das Kriterium für die Rationalität einer Entscheidung besteht hier anscheinend nicht mehr primär in der individuellen Nutzenmaximierung. Die inhaltliche Bestimmung dieses neuen Rationalitätsbegriffes erfolgt vielmehr durch das MRC-Prinzip. Der eingeschränkte Nutzenmaximierer ist derjenige, der sich für die Annahme der Disposition zur Befolgung des MRC-Prinzips entscheidet. Diese Disposition bezeichnet Gauthier als starke Vertragstreue (narrow compliance). Eine Person mit einer solchen Disposition ist nach der neuen Rationalitätskonzeption Gauthiers als rational zu bezeichnen und dadurch für die Teilnahme an einem Gesellschaftsvertrag geeignet. Obwohl der neue und alte Rationalitätsbegriff in einem inhaltlichen Widerspruch zueinander stehen, integriert Gauthier beide in seine Theorie der Moral. Diese Integration zu verstehen und auch zu kritisieren, ist Gegenstand der folgenden Abschnitte. Das egalitäre Verteilungsergebnis des MRC-Prinzips ist ganz wesentlich vom vorausgesetzten Rationalitätsbegriff abhängig. Deswegen ist

253

D. Gauthier: „The Social Contract“ (1978), 48.

254

MbA, 170.

213

für eine Analyse der Egalität in der Theorie Gauthiers eine ausführliche Beschäftigung mit dem Rationalitätsbegriff essenziell. Aus Sicht Gauthiers ergibt sich der Rationalitätsbegriff der eingeschränkten Nutzenmaximierung aus der konsequenten Anwendung der einfachen Nutzenmaximierung. In Entscheidungskonstellationen wie dem Gefangenen-Dilemma, in denen die Equilibrium-Konzeptionen zu suboptimalen Ergebnissen führen, ist die Konsequenz der Anwendung des Entscheidungskriteriums der einfachen Nutzenmaximierung, andere Entscheidungskriterien als die einfache Nutzenmaximierung einzuführen. Die einfache Nutzenmaximierung weist hier über sich selbst hinaus, offenbart ihre eigene Unvollständigkeit und Begrenztheit. Mit der Einführung von kooperativen Strategien, den damit verbundenen Konzeptionen der Verhandlung und der Vertragstreue löst Gauthier auf seine Weise das Problem der Suboptimalität von Equilibrium-Strategien. In den nächsten beiden Abschnitten werde ich die beiden genannten Rationalitätsbegriffe erläutern. Zum besseren Verständnis werde ich sie mit eigenen Bezeichnungen versehen. Den üblicherweise in der Spieltheorie und auch von Gauthier verwendeten Rationalitätsbegriff der einfachen Nutzenmaximierung (straightforward maximization) werde ich als Maximierungsrationalität (MR) bezeichnen. Der MR werde ich die Optimierungsrationalität (OR) gegenüberstellen, die bei Gauthier in Form der eingeschränkten Nutzenmaximierung (constrained maximization) in Erscheinung tritt. Die Differenzierung zwischen OR und eingeschränkter Nutzenmaximierung weist darauf hin, dass das Konzept der eingeschränkten Nutzenmaximierung von Gauthier nur eine mögliche Form der OR ist. Eine andere Form der OR kann man z. B. in social choice- Verfahren und auch in anderen Verhandlungstheorien als der von Gauthier finden. In der folgenden Untersuchung möchte ich nicht nur auf das Verhältnis von MR und eingeschränkter Nutzenmaximierung eingehen, sondern ganz wesentlich auch auf das Verhältnis von MR zu OR. Damit soll deutlich gemacht werden, dass die Problematik, auf die Gauthiers Konstruktion eines neuen Rationalitätsbegriffes eine Antwort sein will, nicht spezifisch für seinen Ansatz ist, sondern im Wesen der Sache verwurzelt ist.255

255

Vgl. Fußnote 251 auf S. 211.

214

Maximierungs-Rationalität (MR). In den beiden folgenden Abschnitten werde ich zunächst die Konzeptionen der Maximierungs- und OptimierungsRationalität darstellen, so wie man sie in der Theorie Gauthiers vorfindet. Daran anschließend werden einige Aspekte der OR diskutiert, die sie von der MR unterscheiden, um damit die nicht so geläufige Konzeption der OR in der Gegenüberstellung zur bekannten Konzeption der MR verständlich zu machen. Die eingehende kritische Analyse dieser Konzeptionen und der Argumentation Gauthiers für einen Übergang von der MR zur OR wird im Abschnitt über den Übergang von der MR zu OR (ab S. 235) und dem darauf folgenden Abschnitt über die Entscheidungen und Metaentscheidungen (ab S. 243) durchgeführt. In der RCT steht im Zentrum des Begriffes der Rationalität die Idee der Maximierung. Gegenstand dieser Maximierung ist der individuelle Erwartungsnutzen. Dabei existieren kontroverse Ansichten darüber, was genau unter diesem Erwartungsnutzen zu verstehen ist, ob er als subjektiv oder objektiv zu verstehen ist und vor allem ob oder gegebenenfalls wie er gemessen werden kann. Dieser quantitative Aspekt des Nutzens ist für die Verhandlungstheorien als formale Theorien von erheblicher Relevanz. „A decision-maker is rational if he makes decisions consistently in pursuit of his own objectives. In game theory, building on the fundamental results of decision theory, we assume that each player=s objective is to maximize the expected value of his own payoff, which is measured in some utility scale.“ 256 Für meine weitere Analyse des Rationalitätsbegriffes bei Gauthier sind aus dieser Definition insbesondere zwei Punkte hervorzuheben. Ein rationaler Akteur verfolgt in seinen Entscheidungen seine eigenen Ziele und das zentrale Kriterium seiner Entscheidungen ist die Maximierung eines auf diese eigenen Ziele bezogenen Erwartungsnutzens. Auf die Diskussion über das Problem der Messbarkeit und damit auch der Vergleichbarkeit von Nutzen werde ich nicht speziell eingehen, da dies für meine Analyse der Theorie Gauthiers nicht zentral ist. In seiner Explikation des Rationalitätsbegriffes am Anfang von MbA schließt sich Gauthier der Idee der Maximierung als des wesentlichen Kenn256

R. B. Myerson: Game Theory (1991), 2.

215

zeichens von Rationalität vollständig an. „Practical rationality in the most general sense is identified with maximization.“ 257 Der Gegenstand der Maximierung sind in Gauthiers Theorie considered preferences.258 Ausgehend von dieser Konzeption der MR beschreibt Gauthier in MbA das Verhalten rationaler Akteure unter Bedingungen eines freien Marktes. Hierzu gehören private Güter, individuelles Eigentum, wechselseitiges Desinteresse, Abwesenheit von Externalitäten259 und Handlungsfreiheit bzw. Abwesenheit von Zwang. Die Ergebnisse der Marktinteraktionen sind im Equilibrium260 und pareto-optimal. Da diese Ergebnisse zudem durch frei gewählte Strategien der Teilnehmer zu Stande kommen, besteht, von Gauthiers Verständnis einer Moral her gesehen, hier kein Anlass für die Einführung einer Moral. Erst wenn Equilibrium und Optimum nicht mehr koinzidieren oder die Ergebnisse nicht durch freiwillige Entscheidungen der Teilnehmer zu Stande kommen, besteht Bedarf, den Entscheidungsmodus zu ändern, und damit die Möglichkeit, eine Moral einzuführen. Dies tritt dann ein, wenn die o. g. Bedingungen des idealen Marktes nicht mehr erfüllt sind, mehr als ein Equilibrium existiert oder Gefangenen-Dilemma-Situationen entstehen. Der rationale Akteur steht dann vor der Entscheidung, entweder eine nutzenmaximierende, aber nicht pareto-optimale Equilibrium-Strategie oder eine pareto-optimale, aber nicht nutzenmaximierende Strategie zu wählen. Diese Spannung kommt im folgenden Zitat Gauthiers sehr klar zum Ausdruck. „How then may we reconcile or, failing reconciliation, decide between the claims of utility-maximization and optimization? This is the central problem for any theory of strategic rationality. As we shall show, moral theory is essentially the theory of optimizing constraints on utility-maximization. But this is to anticipate. Given our account of practical rationality, deciding between the 257

MbA, 22.

258

Ebda, 32f.: „Preferences are considered if and only if there is no conflict between their behavioural and attitudinal dimensions and they are stable under experience and reflection. Value is the measure of considered preference, and rational choice involves the endeavour to maximize value.”

259

Vgl. Definition in Fußnote 27 auf S. 20.

260

Vgl. Definition in Fußnote 84 auf S. 59.

216

two claims may seem unproblematic. It may seem evident that the demands of utility-maximization must take precedence over any demands of optimization... Hence one cannot rationally choose an optimizing strategy rather than a utility-maximizing strategy; in choosing a strategy one shows that, in so far as one=s utilities are well defined, one considers it to be utilitymaximizing.“ 261 Die OR, hier als Optimierungsstrategie bezeichnet, ist demnach keine gleichrangige Alternative zur MR, für die man sich anstelle der MR entscheiden könnte. Es scheint vielmehr implizit im Begriff der Entscheidung enthalten zu sein, dass man sich für die MR entscheiden muss. Aber in welchem Verhältnis stehen diese beiden Formen der Rationalität zueinander? Wie im folgenden ausgeführt wird, versucht Gauthier die inhaltliche Spannung zwischen diesen beiden Konzeptionen in seiner Theorie dadurch aufzuheben, dass er sie innerhalb seiner Theorie auf verschiedenen Ebenen ansiedelt. Damit stehen sie nicht mehr in unmittelbarer Konkurrenz zueinander. Kehren wir aber zunächst wieder zurück zu Gauthiers Ausführungen über die Möglichkeiten des Marktes und dessen Grenzen. Eine Grenze ist die Diskrepanz zwischen Equilibrium und Pareto-Optimalität, wie sie beispielhaft im Gefangenendilemma veranschaulicht wird. Sie ist in MbA der Anlass für die Einführung von kooperativen Strategien, die auf einem anderen Wege als dem Equilibrium zum Optimum führen sollen. Kooperative Strategien unterscheiden sich von kompetitiven u. a. dadurch, dass sie ihre Stabilität nicht in einem Equilibrium von dominanten Strategien erhalten, sondern durch eine Vereinbarung o. ä., in der die Befolgung von subdominanten Strategien festgelegt wird. Damit haben kooperative Strategien im Gegensatz zu den individuellen kompetitiven Strategien immer ein wesentliches kollektives Element. Dieser Befund führt dazu, dass man zwischen MR und OR auch als individuelle und kollektive Rationalität differenziert. Auf diese beiden Formen der Rationalität wird noch im Abschnitt über kollektive anstelle individueller Strategien (ab S. 231) eingegangen. „Das Gefangenendilemma erfasst in maximal vereinfachter Schematisierung den Widerspruch zwischen kollektiver und indi261

MbA, 78.

217

vidueller Rationalität, der unter der Annahme rational egoistischen Verhaltens der Akteure entsteht.“ 262 Es ist wichtig, hier darauf hinzuweisen, dass es zur unerwünschten Situation des Gefangenendilemmas nicht aufgrund der MR allein kommt, sondern sie entsteht aus der Kombination dieses Rationalitätsbegriffes mit dem Anspruch der Pareto-Optimalität. Diese beiden Kriterien zusammen führen in einigen Situationen zu keiner stabilen Strategiewahl und damit zu keinem Equilibrium. MR, Pareto-Optimalität und Equilibrium können dann nicht zugleich realisiert werden. Lässt man den Anspruch der Pareto-Optimalität fallen, dann ist das Nash-Equilibrium oder eine Minimax-Lösung eine mögliche Lösung. Ohne das Kriterium der Pareto-Optimalität ist das Gefangenen-Dilemma allerdings kein Dilemma mehr. Nur kooperative Strategien und Verhandlungsspiele halten am Anspruch der Pareto-Optimalität fest. Bei diesen Konzeptionen ist der kritische Punkt in der Regel, dass sie nicht problemlos nachweisen können, dass sie dem Kriterium der MR genügen.263 Formale Aspekte der Maximierung und Optimierung. Maximierung und Optimierung stammen aus dem Kontext der Mathematik und haben daher auch je eine bestimmte formale Funktion. In der Literatur findet man häufig eine unklare Verwendung der Begriffe Maximierung und Optimierung, genauer gesagt, eine unklare Abgrenzung dieser Begriffe. Mit Hilfe des formalen Hintergrundes dieser Begriffe soll hier etwas mehr Klarheit geschaffen werden. Mit dieser Analyse sollen auch die fundamentalen Intuitionen, die mit den Begriffen der MR und OR verbunden sind, genauer bestimmt werden. Unter dem Begriff Optimierung werden in der Mathematik solche Verfahren behandelt, die für ein System von n Variablen (x1, x2, ..., xn) einen Zustand finden, in dem eine Zielfunktion f(x1, x2, ..., xn) einen extremalen Wert hat und in dem als Gleichungen gegebene Nebenbedingungen für die Variablen erfüllt sind.264 Nach diesem Verständnis ist die Nutzenmaximierung nicht ein Unterfall der Nutzenoptimierung, sondern die Nutzenmaximierung 262

R. Schüßler: Kooperation unter Egoisten (1997), 5.

263

Hier ist z. B. Nashs Nachweis einzuordnen, dass seine axiomatische Lösung des Verhandlungsproblems durch eine kompetitive Theorie rekonstruierbar ist.

264

W. Gellert et. al.: Kleine Enzyklopädie Mathematik (1972), 693.

218

ist ein Unterfall der Nutzenoptimierung, und zwar ein besonders einfacher. In diesem Fall hat man es nur mit einer Variablen zu tun, der Nutzenfunktion eines Spielers; der extremale Wert ist positiv und es gibt keine Nebenbedingungen. Wendet man dieses Schema auf rationale Entscheidungssituationen an, dann sind die Variablen (x1, x2, ..., xn) ihrerseits Funktionen, nämlich die Nutzenfunktionen der Spieler. Im Fall von Entscheidungen unter nichtkooperativen Bedingungen ist die zu maximierende Zielfunktion die Nutzenfunktion nur eines Spielers. In Verhandlungssituationen sind die Variablen die Nutzenfunktionen der Teilnehmer und die Zielfunktion regelt die Verteilung des kooperativen Mehrwerts unter den Teilnehmern. So ist z. B. die im NashTheorem vorgegebene Zielfunktion f(u, v) = u x v, die es zu maximieren gilt. Welche inhaltlichen Schlüsse kann man nun aus dieser formalen Differenzierung zwischen Maximierung und Optimierung im Hinblick auf den Übergang von nicht-kooperativen zu kooperativen Strategien ziehen? Bei der Maximierung, wie sie hier skizziert wurde, wird als Variable nur eine Nutzenfunktion berücksichtigt und die Zielfunktion ist mit der Nutzenfunktion identisch. Im Gegensatz dazu werden bei der Optimierung in Verhandlungsverfahren mehrere Nutzenfunktionen berücksichtigt und die Zielfunktion ist nicht mit einer dieser Nutzenfunktionen identisch. Die Einbeziehung der Nutzenfunktionen aller Teilnehmer macht deutlich, dass Verhandlungstheorien nicht eine Lösung für den einzelnen und aus der Sicht des einzelnen angeben, sondern eine Lösung für eine Gruppe und vom Standpunkt der Gruppe aus. Jeder Teilnehmer findet sich zwar in der Lösung berücksichtigt, aber er findet auch die Nutzenfunktionen aller anderen Teilnehmer berücksichtigt, obwohl er an deren Nutzenfunktionen kein unmittelbares Interesse hat. Zwar würde er bei einer individuellen strategischen Überlegung die Nutzenfunktionen der anderen Teilnehmer auch berücksichtigen, aber nur als Randbedingung und nur zu dem Zweck, das Verhalten der anderen Teilnehmer berechnen zu können und dann die für ihn optimale Antwort auf dieses Verhalten zu wählen. In der Verhandlung hingegen sind die Nutzenfunktionen aller Teilnehmer in gleicher Weise berücksichtigt. Das heißt auch, dass jedem Teilnehmer Beschränkungen auferlegt werden, um die Nutzenfunktionen der anderen Teilnehmer nicht zu stark zu mindern. Was hier stattfindet, ist eine allgemeine Beschränkung der Nutzenfunktionen zum wechselseitigen Schutz der Nutzenfunktionen. Die Verhandlung

219

ist demnach als eine allgemeine oder kollektive Nutzenbeschränkung im Gegensatz zur individuellen Nutzenmaximierung anzusehen. Ein Nutzenmaximierer wird in dieser Situation zu einem Nutzenbeschränkungsminimierer. Jeder Teilnehmer möchte so wenig wie nur möglich eingeschränkt werden. Dieses Bestreben wird in den Verhandlungstheorien dem Lösungs-Theorem untergeordnet. So werden die einzelnen Nutzenfunktionen in der NashLösung der Maximierung der Funktion u x v untergeordnet. Die einzelnen Nutzenfunktionen der Individuen werden in der Verhandlung nicht maximiert. Die Nutzenmaximierung als Verhaltensdisposition der Teilnehmer wird hier zu einer Randbedingung. Zum Beispiel wird davon ausgegangen, dass keiner der Teilnehmer freiwillig auch nur auf einen kleinen Anteil am kooperativen Mehrwert verzichten wird, wenn ihm dafür keine überzeugenden Gründe genannt werden können. Dies leitet sich aus der Annahme ab, dass jeder Teilnehmer ein Nutzenmaximierer ist. Allerdings führt diese Disposition der Nutzenmaximierung allein in Verhandlungssituationen nicht zu einer Lösung. Man muss anstelle der individuellen Nutzenmaximierung eine andere Form der Strategie anwenden, um in Verhandlungssituationen erfolgreich zu sein. Erfolgreich heißt in diesem Fall, dass die Kooperation zu Stande kommt und man überhaupt einen Anteil am kooperativen Mehrwert bekommt. Optimierungs-Rationalität (OR). Der Begriff der Optimierung ist für die Verhandlungstheorie Gauthiers sehr zentral. Er konstruiert eine Lösung, die pareto-optimal und stabil ist, aber nicht mehr auf dem Begriff der MR basiert. Damit setzt er das in die Tat um, was er in MbA in Kapitel III (Strategy: Reason and Equilibrium) schon andeutete.265 Er will das Problem des Versagens von Equilibrium-Strategien dadurch lösen, dass er anstelle der Nutzenmaximierung die Pareto-Optimalität zum Entscheidungskriterium macht. Die Pareto-Optimalität wird damit von einer Randbedingung der Lösung zu einem zentralen Kriterium der Entscheidungsfindung. Zu Beginn des Kapitels V über Verhandlung und Gerechtigkeit gibt er explizit die Inhaltsbestimmung des neuen Rationalitätsbegriffes an. „... the object of rational co-operative choice must be an optimal outcome ... Now this suggests that in non-co-operative interaction 265

Siehe dazu Zitat aus MbA, 78 auf S. 215.

220

the core rationality property is equilibrium, whereas in cooperative interaction the core rationality property is optimality.“ 266 Gauthier stellt hier der Optimierung auf der einen Seite das Equilibrium auf der anderen Seite als Kernbegriff der Rationalität gegenüber. Das Equilibrium steht hier für das Ergebnis von nutzenmaximierenden Strategien und damit stellvertretend für die MR. Um in Situationen des Marktversagens wie dem Gefangenendilemma ein optimales Ergebnis zu erhalten, kann man anstelle von EquilibriumStrategien kooperative Strategien wählen. Die rationalen Bedingungen für eine Kooperation werden in einer Verhandlung festgelegt. Die Verhandlung ist nun der Typ von Entscheidungssituation, in der für Gauthier der Übergang von der Nutzenmaximierung zur Optimierung verankert ist. „But maximization is not a direct concern in bargaining. Each bargainer has a maximizing concern - a concern with maximizing his own payoff - but there is no ground for the supposition that these unite into a single maximizing concern to be resolved in bargaining. The bargaining problem is primarily distributive, a problem of determining the size of the slices into which a pie is to be divided... Maximization, as a feature of individual behavior, is, understandably, deeply rooted in economic thought. And the search for maximizing solutions to problems is mathematically appealing; maximization is generally well-behaved. But the attempt to provide a maximizing solution to the bargaining problem resembles the attempt of the drunk to find his watch under the lamp post rather than in the shadows where he dropped it: ,There=s more light here.= “ 267 An die Stelle von Maximierungsstrategien treten in der Verhandlung Optimierungsstrategien, deren Gegenstand Verteilungsverhältnisse sind. „Or in other words, in the absence of agreement on an outcome or set of strategies, it is rational for each person to seek to maximize her utility given the strategies she expects the others to choose, 266

Ebda, 117.

267

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 32.

221

whereas in the context of agreement it is rational for each to seek an optimal outcome given the agreed strategies of the others.“ 268 Dieser Übergang von MR zur OR ist nicht spezifisch für die Theorie Gauthiers, sondern ist generell bei Verhandlungstheorien anzutreffen. Nur hat er für die Theorie Gauthiers eine andere Tragweite, denn der Anspruch seiner Theorie ist, Moral nur aus Rationalität in Form der individuellen Nutzenmaximierung und nicht-moralischen Annahmen ableiten zu können. Indem er den Rahmen der MR verlässt und eine OR als Entscheidungsparadigma zulässt, wird dieser Anspruch in Frage gestellt. Diese Infragestellung wird noch dadurch verstärkt, dass mit der OR moralische Elemente in die Theorie Gauthiers einfließen, was Gauthier mit der Einführung dieser Rationalitätskonzeption explizit beabsichtigt. „Each persons acts, not to maximize his own utility, but to bring about the outcome that is the object of the bargain, affording each person an expected utility no less than he would expect from his maximal claim and minimax concession... It is that third role which establishes the distinctively moral character of the principle, and of co-operation. Rational persons, faced with the costs of natural or market interaction in the face of externalities, agree to a different, cooperative mode of interaction. They agree to act, not on the basis of individual utility-maximization, but rather on the basis of optimization, where particular optimal outcome is determined by the principle of minimax relative concession.“ 269 Hier macht Gauthier explizit, dass eine Person, die im Sinne der OR handelt und eine kooperative Strategie befolgt, nicht mehr nutzenmaximierend handelt, auch wenn sie die Entscheidung zu diesem Handeln getroffen hat, um ihren Nutzen zu maximieren. Das Ziel des kooperativen Handelns ist, ein optimales Ergebnis für alle Kooperationsteilnehmer zu erlangen. Damit Gauthier den Anspruch seiner Theorie aufrechterhalten kann, muss er zeigen, dass der Übergang von der MR zur OR aus Sicht der MR gerechtfertigt ist. Das heißt, er müsste zeigen, dass es nutzenmaximierend ist, sich die OR als

268

MbA, 118.

269

Ebda, 145f.

222

Disposition anzueignen. Auf dieses Problem gehe ich bei der Analyse des Übergangs von der MR zur OR (auf S. 235) ein. Die Tatsache, dass in der Verhandlung ein Übergang von der MR zur OR stattfindet, bedeutet aber nicht, dass in der Verhandlung nur Optimierungskriterien eine Rolle spielen. Die Idee der individuellen Nutzenmaximierung ist in den Verhandlungstheorien in der Annahme wieder zu finden, dass der Nutzen einer Verhandlungslösung für alle Teilnehmer größer sein muss als der Nutzen im Konfliktpunkt.270 Damit ist sichergestellt, dass für jede Person die Teilnahme an der Kooperation vorteilhafter ist als die explizite Ablehnung dieser Teilnahme. Dies gilt dann unabhängig davon, zu welchem Ergebnis man in der Verhandlung kommt. Unangetastet davon bleibt die Möglichkeit, dass es vorteilhafter sein kann, zu defektieren als sich an die Vereinbarung zu halten. Als Optimierungsstrategien setzt Gauthier in der Verhandlung Maximin-Strategien ein. Die Gründe für die Wahl dieses Typs von Strategien wurden im Zusammenhang mit der Herleitung und Begründung des MRCPrinzips schon diskutiert.271 „For in bargaining we do not have an individual decision maker, or even a group of individual decision makers, concerned with maximizing some single quantity... Although rational individual decision making is correctly represented by a maximizing model, bargaining is not, and in bargaining the use of maximin considerations comes into its own.“ 272 Als Grund für die Ablehnung von Maximierungsstrategien gibt Gauthier hier die Berücksichtigung der Abgrenzung zwischen den Individuen an. Die Individuen sollen in die Verhandlung je mit ihrer eigenen Individualität eingehen. Damit stellt sich Gauthier explizit gegen die Konzeptionen von Rawls und Harsanyi, die seiner Meinung nach diese Abgrenzung zwischen den Individuen nicht leisten können, aber sollten.

270

Vgl. zu beiden Punkten A. E. Roth: Axiomatic Models of Bargaining (1979), 12-15, 1719.

271

Siehe Abs. III.C.2

272

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 41.

223

„For in bargaining the distinction between persons is, and is to be, taken seriously, and the maximization of a single quantity, however conceived, fails to do this. In requiring that slices of the pie be determined by a maximin principle, in which each person is assured that the smallest proportionate gain is as large as possible, each is assured that his concerns are not being sacrificed to those of any other person. No maximizing procedure can do this.“ 273 Der Anspruch der rationalen Akteure ist beim Übergang von Maximierungszu Optimierungsstrategien offensichtlich erheblich gesunken. Während sie bei Maximierungsstrategien erst zufrieden sind, wenn sie das maximal Mögliche erhalten, begnügen sie sich bei einem Maximin-Prinzip als Optimierungsstrategie schon mit der Versicherung, dass ihre Bedürfnisse oder Interessen nicht zugunsten anderer geopfert werden. Der Rückzug auf eine solche anscheinend schwächere Forderung beruht in Gauthiers Theorie nicht auf einer Änderung der Haltung des Nutzenmaximierers, sondern auf der Einsicht, dass eine bessere Lösung mit der Zustimmung der anderen Nutzenmaximierer nicht möglich ist. Gauthier will mit seiner Kritik nicht Maximierungsstrategien generell verwerfen, sondern er hält sie nur in bestimmten Entscheidungssituationen für unangemessen. Dies sind gerade die Entscheidungssituationen, die für moralische Konzeptionen von Relevanz sind. Dort sollte den Maximierungsstrategien nach seiner Auffassung keine uneingeschränkte Dominanz gestattet werden. „My argument is a criticism of the imperialism of maximization that is represented, in our concern with bargaining and justice, by Nash=s solution F, and by John Harsanyi=s utilitarian moral theory. Both of these confound distribution with production and mutual agreement with individual decision. They are paradigmatic cases of barking brilliantly up the wrong tree.“ 274 In Gauthiers Verhandlungstheorie, dem Kern seiner Moraltheorie, stehen Verteilungsfragen im Mittelpunkt. Verteilungsfragen sind aber nicht Fragen 273

Ebda.

274

Ebda.

224

nach der Maximierung einer bestimmten Größe, sondern nach dem richtigen Verteilungsmuster. „Morality is not concerned with maximizing some quantity analogous to individual good; rather, morality is concerned with the way in which the benefits society makes possible are distributed among individuals each pursuing his own good. Morality relates this distribution to agreement among those individuals. And so, the rationality of moral choice is assured, not by modeling it on the rationality of a personal choice under risk, but rather by modeling it on the rationality of a bargain... Morality - or at least that part of it constituted by justice - is a matter of agreement. And, although agreement is arrived at by individual maximizers, it is not an agreement to maximize anything.“ 275 Damit wird klar, dass Moral in der Theorie Gauthiers zwar von individuellen Nutzenmaximierern erreicht werden kann, aber bezeichnenderweise nicht auf dem Wege der individuellen Nutzenmaximierung, sondern durch die Rationalität der Verhandlung, die Gauthier auch als „maximining rationality" bezeichnet. Diese Konzeption manifestiert sich als Minimax-Strategie im MRC-Prinzip. „Agreeing that productive concerns and individual decisions are to be linked to a conception of maximizing rationality, I have nonetheless shown that distributive concerns and moral decisions are to be linked to a conception of maximining rationality [Hervorhebung durch Verf.] - a conception, however, that is itself linked to maximization by the argument that individually rational bargainers would reach agreement on maximizing minimum proportional gain. Thus, I have shown the congruence of three fundamental ideas: the individual, as a rational being, concerned with realizing a conception of his own good; society, as a cooperative venture that contributes to the realization of these several goods; and morality, as a set of principles agreed to by rational

275

Ebda, 46f.

225

individuals and requiring that society proportionate gain. Such are the fruits of solution G'.“ 276 Die hier angesprochene Verbindung zwischen der maximizing und der maximining rationality darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die maximining rationality durch diese Verbindung nicht zu einer maximizing rationality wird. In Gauthiers Theorie findet man in ein und derselben Person zur gleichen Zeit zwei verschiedene Rationalitätskonzepte, die ihre jeweils spezifischen Anwendungsbereiche haben. Durch dieses Separieren der Anwendungsbereiche soll ein direkter Konflikt zwischen den beiden Rationalitätskonzeptionen verhindert werden. Es stellt sich aber die Frage, ob beide mit der Grundhaltung der rationalen Person als individuellem Nutzenmaximierer in Einklang zu bringen sind. In der Konzeption des eingeschränkten Nutzenmaximierers, der die maximining rationality als Disposition gewählt hat, finden wir hierauf eine deutliche Antwort. Der eingeschränkte Nutzenmaximierer ist, wie der Name schon sagt, in seiner Grundhaltung kein uneingeschränkter Nutzenmaximierer (straightforward maximizer) mehr. Der eingeschränkte Nutzenmaximierer unterscheidet sich vom einfachen Nutzenmaximierer nicht etwa dadurch, dass er auf einen kurzfristigen Vorteil verzichtet, wenn er sich dadurch langfristig einen größeren Vorteil sichern kann. Der entscheidende Unterschied ist, dass der eingeschränkte Nutzenmaximierer bereit ist, auch dann auf einen kurzoder langfristigen Vorteil zu verzichten, wenn es eine kooperative Strategie von ihm fordert, auf die er sich in einer Verhandlung festgelegt hat. Letzterer Fall kann dann eintreten, wenn ein eingeschränkter Nutzenmaximierer die Gelegenheit zum risikofreien Defektieren hat. Diese Möglichkeit lässt ein

276

Ebda 47. Zur „solution G= “ siehe Formel 6 auf S. 135.

226

eingeschränkter Nutzenmaximierer im Gegensatz zu einem einfachen Nutzenmaximierer ungenutzt.277 Wenn aber die Bedingung für die Entstehung von Moral ist, dass individuelle Nutzenmaximierer zuvor ihre Disposition zum Entscheiden verändern müssen, dann ist die Ausgangsfrage der Theorie Gauthiers, ob es rational ist, moralisch zu sein, negativ zu beantworten. Die Frage war weder, ob es für einen eingeschränkten Nutzenmaximierer rational ist, moralisch zu sein, noch ob es rational ist, die Disposition des einfachen Nutzenmaximierers abzulegen und die des eingeschränkten Nutzenmaximierers anzunehmen. Gauthier gesteht diese negative Antwort insofern auch zu, als er betont, dass Maximierungsstrategien in Verhandlungssituationen scheitern. Damit ist das Angebot der Konzeption der maximining rationality kein Ausweg für den Nutzenmaximierer, sondern eine Alternative zur Konzeption der Nutzenmaximierung. Hier hilft Gauthier auch nicht das Argument weiter, dass der Nutzenmaximierer aus nutzenmaximierenden Überlegungen seine Disposition gegen die des eingeschränkten Nutzenmaximierers eintauscht. Denn noch besser gestellt als der eingeschränkte Nutzenmaximierer ist aus Sicht des einfachen Nutzenmaximierers der erfolgreich defektierende Kooperationsteilnehmer. Eingeschränkte Nutzenmaximierung mit der Bereitschaft zu echten Verlusten. Die Radikalität der Änderung im Entscheidungsverhalten, die mit der Entscheidung zur Disposition des eingeschränkten Nutzenmaximierers in Gauthiers Darstellung verbunden ist, wird spätestens dann deutlich, wenn die 277

Gunnarsons Interpretation der Konzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung Gauthiers sieht den Ursprung der Moral nicht in eben dieser Form der Entscheidungsfindung, sondern in einer davon verschiedenen eigenständigen Moral. Die Konzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung verschafft dem Menschen nur den notwendigen rationalen Spielraum, um moralische Aspekte in seine Überlegungen integrieren zu können. Die Moral kommt dann als externe, eigenständige Größe in die Überlegungen und dient als Quelle von Gründen für moralische Entscheidungen. Diese moralischen Gründe sind nur für den eingeschränkten Nutzenmaximierer akzeptabel, nicht aber für den einfachen Nutzenmaximierer. L. Gunnarsson: Making Moral Sense (2000), 12: „Morality (that is, the morality for which there is an instrumental rationale) is a direct source of reasons for the morally constrained instrumental reasoner, whereas this is not so for the straightforward instrumental reasoner.”

227

Person in eine Situation kommt, in der sie durch das Einhalten der Vereinbarung schlechter gestellt wird, als wenn sie der Vereinbarung nicht zugestimmt hätte. Selbst dann wird die Disposition des eingeschränkten Nutzenmaximierers die Entscheidung bestimmen und er wird die Vereinbarung einhalten. „But note that a constrained maximizer may find herself required to act in such a way that she would have been better off had she not entered into co-operation. She may be engaged in a cooperative activity that, given the willingness of her fellows to do their part, she expects to be fair and beneficial, but that, should chance so befall, requires her to act so that she incurs some loss greater than had she never engaged herself in the endeavour. Here she would still be disposed to comply, acting in a way that results in real disadvantage to herself, because given her ex ante beliefs about the dispositions of her fellows and the prospects of benefit, participation in the activity affords her greater expected utility than non-participation. And this brings us to the third point, that constrained maximization is not straightforward maximization in its most effective disguise. The constrained maximizer is not merely the person who, taking a larger view than her fellows, serves her overall interest by sacrificing the immediate benefits of ignoring joint strategies and violation co-operative arrangements in order to obtain the long-run benefits of being trusted to others. Such a person exhibits no real constraint. The constrained maximizer does not reason more effectively about how to maximize her utility, but reasons in a different way.“ 278 Insbesondere die letzten Sätze dieser Passage machen klar, was Gauthier mit der Konzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung verbindet. Es ist eine definitive Absage an die einfache Nutzenmaximierung in kooperativen Situationen. Der eingeschränkte Nutzenmaximierer ist bereit auf reale Vorteile zu verzichten, legt sich freiwillig Selbstbeschränkungen auf, ohne sich sicher sein zu können, dadurch auf Umwegen oder auf lange Sicht einen Vorteil gegenüber dem einfachen Nutzenmaximierer zu erlangen.

278

MbA, 169f.

228

„Entsprechend diesen Anforderungen [hier sind moralische Anforderungen gemeint, die sich aus der eingeschränkten Nutzenmaximierung ergeben; Anm. d. Verf.] zu handeln kann echte Opfer verlangen, und diese Opfer müssen sich nicht in irgendwelchen Vorteilen niederschlagen.“ 279 Warum sollte man trotz dieser zu erwartenden Opfer den moralischen Forderungen nachkommen? Gauthiers Antwort darauf: „Es geht auch um den Unterschied zwischen dem Interesse, das man daran hat, ein bestimmter Mensch zu sein, und dem Interesse, das man daran hat, bestimmte Handlungen zu vollziehen. Der vertragstheoretische Ansatz besagt, dass wir ein Interesse daran haben sollten, eine Person zu sein, die nicht immer in den Kategorien ihres kurzfristigen oder langfristigen Selbstinteresses denkt.“ 280 Die Opfer werden also damit begründet, dass Menschen das Interesse habe sollten, eine bestimmte Art von Person zu sein. Aber worauf gründet sich dieses „sollten“ ? Das „sollten“ bezieht sich auf eine Entscheidung, die auf einer Metaebene konkreter Entscheidungen liegt. Es geht um eine Entscheidung über das richtige Kriterium von bestimmten Entscheidungen, also über Entscheidungsprinzipien. Ist auf der Metaebene das Selbstinteresse dann wieder das Kriterium? Verfolgen wir Gauthiers Gedankengang an dieser Stelle noch etwas weiter. „Der vertragstheoretischen Auffassung zufolge sollte das Selbstinteresse berücksichtigt werden, wenn sich die Menschen fragen: Welche Art von Mensch zu sein ist für mich am besten, gemessen an den Zielen und Anliegen, die ich aller Wahrscheinlichkeit nach haben werde? Ist es besser für mich, ein Mensch zu sein, der zu anderen ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis aufbauen kann, oder ist es besser für mich, ein Mensch zu sein, der andere bei jeder Gelegenheit übervorteilt und sie für seine Zwecke einspannt? Der Verfechter des vertragstheoretischen Ansatzes sagt, dass man damit rechnen kann, besser dazustehen, wenn man zur ersten Ka279

Gauthier in: H. Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft (2000), 117.

280

Ebda, 118.

229

tegorie gehört, gemessen an den normalen Erwartungen, Zielen und Anliegen eines Menschen.“ 281 Gauthier sagt es zwar nicht explizit; aber das, was für einen am besten ist, und was es bedeutet, besser dazustehen, ist hier natürlich auf das Selbstinteresse der Person bezogen. Aus Gründen des Selbstinteresses soll man sich nach dieser Auffassung dafür entscheiden, ein Mensch zu sein, der in bestimmten Situationen, nämlich bei Möglichkeiten zur Kooperation, nicht aufgrund seines Selbstinteresses handelt. Dies ist aber doch nichts anderes als die zuvor genannte Differenzierung in kurzfristiges und langfristiges Selbstinteresse. Ein Mensch, der sich aus den von Gauthier genannten Überlegungen heraus dafür entscheidet, ein kooperativer Mensch zu sein, handelt in einzelnen Situationen letztendlich doch nur scheinbar nicht aufgrund seines Selbstinteresses. Auch wenn er auf einen momentanen Vorteil verzichtet, so tut er dies doch nur, weil er sich durch die damit zur Schau gestellte Disposition auf lange Sicht größere Vorteile verspricht als die, auf die er momentan verzichtet. Damit ist die eingeschränkte Nutzenmaximierung nichts anderes als eine bestimmte Variante des langfristigen Selbstinteresses. Wenn die Annahme der Disposition zur eingeschränkten Nutzenmaximierung tatsächlich so vorteilhaft ist, wie Gauthier es beteuert, dann dürften individuelle Nutzenmaximierer prinzipiell keine Probleme mit der Motivation zum Verzicht auf einzelne kurzfristige Vorteile haben. Denn was hier als Verzicht bezeichnet wird, ist ja in Wirklichkeit gar kein Verzicht, sondern schlicht der Preis für einen noch größeren Vorteil. Dennoch sieht Gauthier hier ein mögliches Problem. „Natürlich existiert ein Motivationsproblem, weil man versucht ist, sich die Vorteile zu verschaffen, die einem entgehen, wenn man seine Verpflichtungen erfüllt, seine Versprechen einlöst, seine Zusagen hält und nach allgemein geltenden Prinzipien handelt. Man kann sich Menschen vorstellen, die psychisch so beschaffen sind, das sie einfach nicht durch die von mir vertretene vertragstheoretische Argumentation motiviert werden können und sich bei jeder Entscheidung ausschließlich nach ihren Interessen und Anliegen richten. Sie sind nicht imstande, echte Verpflichtungen 281

Ebda, 118f.

230

einzugehen, weil sie stets in dieser rein auf den unmittelbaren Vorteil gerichteten Weise entscheiden. Auf einer Ebene hat der vertragstheoretische Ansatz über solche Menschen vielleicht nichts zu sagen - er kann nur konstatieren, dass es sehr bedauerlich wäre, wenn die Menschen Wesen wären, denen die psychische Fähigkeit zur Verinnerlichung verschiedener Einschränkungen fehlt. Aber da zu dieser Annahme kein Grund besteht, kann der Verfechter eines vertragstheoretischen Ansatzes an die moralischen Empfindungen appellieren, die Motivationsfaktoren darstellen, welche einen Ausgleich zu der Versuchung bilden können, auf einen Vorteil aus zu sein, auf den zu verzichten man sich verpflichtet hat, und sich selbst in einer Situation zu begünstigen, die nach einem uneigennützigen Verhalten verlangt.“ 282 Der einfache Nutzenmaximierer, der sich nicht von Gauthiers Argumentation überzeugen lässt, leidet danach nicht an einem Mangel an Rationalität, sondern an einem psychischen oder emotionalen Defizit. Es ist schon erstaunlich, dass Gauthier nach der streng an der RCT orientierten Argumentation auf Appelle an moralische Empfindungen zurückgreifen muss, um rationale Personen von seiner Theorie überzeugen zu können. Ein Rationalitätsbegriff, der echte Opfer fordert und dessen Argumente in ihrer Überzeugungskraft an moralische Empfindungen gebunden sind, muss bei konsequenten Vertretern eines ökonomischen Rationalitätsbegriffes in der RCT auf erbitterten Widerstand stoßen. „The notion that constrained maximization is rational is anathema to game theorists. ... Gauthier's idiosyncratic view of the nature of rationality in games allows him to take a very optimistic view of the possible agreements available to his hypothetical bargainers. An orthodox view of rationality in games would restrict his bargainers to choosing some kind of equilibrium in the game of life as their social contract.“ 283

282

Ebda, 119.

283

K. Binmore: „Bargaining and morality“ (1993), 133.

231

Natürlich ist die Tatsache, dass Gauthiers Konzeption der Rationalität nicht der orthodoxen Verwendung innerhalb der RCT entspricht, allein keine überzeugende Kritik. Der kritische Punkt liegt in der fehlenden Begründung für diese unorthodoxe Verwendung. Gauthier hätte zeigen müssen, dass auch sein modifizierter Begriff der Rationalität mit der „orthodoxen" RCT, als deren Bestandteil er ja seine Theorie der Moral ausweisen möchte, konsistent ist. Hier liegt die Beweislast ganz eindeutig auf der Seite von Gauthier und nicht auf der Seite der Kritiker aus dem Lager der RCT. An dieser Stelle ist noch anzumerken, dass schon der Begriff der eingeschränkten Nutzenmaximierung paradox erscheinen muss und von daher sicherlich keine glückliche Wahl von Gauthier gewesen ist. Eine Maximierung, die von vornherein durch irgendwelche Faktoren oder Kriterien eingeschränkt ist, kann eben nicht mehr das mögliche Maximum erreichen und ist daher keine Maximierung mehr, sondern kann höchstens eine Optimierung sein. Kollektive anstelle individueller Strategien. Ein Charakteristikum der OR ist die Befolgung kollektiver Strategien. Hierin wird der schon angesprochene Perspektivenwechsel deutlich. In der MR legt jede Person völlig unabhängig von anderen Personen ihre eigene Strategie fest. Der Zweck der Verhandlung besteht hingegen in der gemeinsamen Festlegung kollektiver Strategien, die dann von allen Teilnehmern befolgt werden sollen. „An individual strategy is a lottery over the possible actions of a single actor. A joint strategy is a lottery over possible outcomes. ... A person co-operates with his fellows only if he bases his actions on a joint strategy; to agree to co-operate is to agree to employ a joint rather than an individual strategy. ... This defeats the end of co-operation, which is in effect to substitute a joint strategy for individual strategies in situations in which this substitution is to everyone's benefit. ... An individual strategy is rational if and only if it maximizes one's utility given the strategies adopted by the other persons; a joint strategy is rational only if (but not if and only if) it maximizes one's utility given the utilities afforded to the other persons.“ 284 284

MbA, 166f.

232

Indem sich eine Person festlegt, kollektive Strategien zu befolgen, wird diese Person ein Teil dieser Kooperationsgemeinschaft und sieht sich selbst auch als ein Mitglied dieser Kooperationsgemeinschaft. Die Kooperationsgemeinschaft als Ganzes ist das Entscheidungs -und Handlungssubjekt kooperativer Strategien. Das Individuum gibt in einem bestimmten Bereich seine Entscheidungs- und Handlungsautarkie auf, damit es am kooperativen Mehrwert partizipieren kann. Insofern hat die Teilnahme an Kooperationen auch entscheidende Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Person.285 Der Spieler versteht sich hier als Teil eines Ganzen, nämlich der Kooperationsgemeinschaft. Sein Wohlergehen ist abhängig vom Wohlergehen der ganzen Kooperationsgemeinschaft. In der Verhandlung hat er das Wohlergehen der gesamten Kooperationsgemeinschaft, jedes einzelnen Teilnehmers und damit natürlich auch sein eigenes Wohlergehen im Blick. Er muss sein eigenes Wohlergehen nicht völlig unbeachtet lassen, sondern es steht gleichrangig zwischen den Interessen aller anderen Teilnehmer. Genau dies ist ein wesentliches Merkmal eines unparteiischen Standpunktes, den Gauthier hier mit diesem Typ von Strategie in seine Theorie ohne eine Begründung einbringt.286 Dieses Bild einer Person steht konträr zum Bild des Akteurs in der Spieltheorie als eines homo oeconomicus, der sich wesentlich durch seine Entscheidungsautarkie definiert. Das in Gauthiers Verhandlungstheorie implizit enthaltene Selbstverständnis des eingeschränkten Nutzenmaximierers 285

Binmore und Dasgupta stellen Equilibrium und Pareto-Optimalität (hier als ParetoEffizienz bezeichnet) in kontrastierender Weise gegenüber. Das Equilibrium ist für sie das Ergebnis individueller Strategien, während sie die Pareto-Optimalität als GruppenRationalität bezeichnen. K. Binmore und P. Dasgupta: Game Theory (1986), 24f.: „There is no reason why an equilibrium of a game should be Pareto-efficient. In general it will not be ... Many find it paradoxical that an equilibrium point of a game may not be grouprational.” Mit der Bezeichnung Gruppen-Rationalität kommt zum Ausdruck, dass sich Pareto-Optimalität nicht als Ergebnis individueller Nutzenmaximierung einstellt, sondern voraussetzt, dass die Teilnehmer ihre Strategien als eine Gruppe, als ein Handlungssubjekt festlegen. 286

Gauthier entwickelt nach der Veröffentlichung von MbA in „Public Reason“ (1995) mit Bezug auf Hobbes einen Begriff der öffentlichen und kollektiven Rationalität, bei dem ein Schiedsrichter die Unvollkommenheiten der Rationalität der Individuen, die zu Konflikten führen, durch ein unparteiisches Urteil kompensiert.

233

kommt einem fairen oder unparteilichen Entscheidungsverhalten sehr entgegen. Wenn man sich mit einer Gesellschaft identifiziert, sei es auch nur partiell, dann ist damit unmittelbar auch ein Interesse am Wohlergehen dieser Gesellschaft verbunden. Denn als Teil dieser Gesellschaft profitiert man indirekt auch vom Wohlergehen der Gesellschaft. Die Motivation zur dieser Identifikation kann aus purem Eigennutz stammen und dennoch kann sie zu einem sehr effektivem Interesse am Wohlergehen der anderen Teilnehmer der Gesellschaft führen. Dieses Interesse bleibt natürlich ein bedingtes Interesse, das bei Wegfall der Vorteile aus der Kooperation sofort erlöschen kann, denn es ist kein Interesse am Wohlergehen des anderen um des anderen selbst willen. Daher haben wir es hier nicht mit einem Übergang von eigennützigem zu uneigennützigem Handeln zu tun. Nutzenmaximierendes Handeln ist eine besondere Variante des eigennützigen Handelns, insofern es neben dem Eigennutz noch die Erfüllung des Kriteriums der Maximierung erfordert. Sugden stellt die Frage, an wen sich die Ergebnisse der RCT eigentlich richten. Sind die Adressaten einzelne rationale Akteure oder sind es alle Teilnehmer eines bestimmten Spieles? Letztere Möglichkeit scheint aufgrund der Art vieler Ergebnisse der RCT die nahe liegendere Antwort zu sein. Viele Ergebnisse erheben nur dann den Anspruch rational zu sein, wenn alle Teilnehmer gemäß dieses Ergebnisses handeln. Die Rationalität bezieht sich hier nicht unmittelbar auf den einzelnen Akteur, sondern auf die gesamte Gruppe von Akteuren.287 Warum sollte es aber für die einzelnen Akteure rational sein, diesen Empfehlungen für die Gruppe zu folgen? Sugden greift hier auf die Analogie eines Teams zurück, das gegen ein anderes Team spielt und natürlich gewinnen will. So müssen z. B. beim Bridge oder Doppelkopf immer zwei Spieler zusammenspielen, ohne sich aber absprechen zu dürfen. Jeder Spieler muss unabhängig vom anderen seine Entscheidungen treffen, aber Ziel ist, als Team zu gewinnen. Der Einzelne kann hier nur Sieger werden, wenn sein Team siegt. Die dominante Strategie, d. h. möglichst jeden Stich oder möglichst viele Stiche für sich gewinnen zu wollen, führt in 287

A. Weale: „Justice, social union and the separateness of persons“ (1993), 93f.: „It would seem that the only conception of rationality capable of moving individuals to conformity in this context is not one that rests upon the practical advantages to individuals of conformity, but is one which instead appeals to the rationality of being able to will only that which could be rationally willed by all.”

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solchen Spielen nicht zum erwünschten Ziel, dem Sieg. Da jeder Sieger sein will, muss jeder konsequenterweise auch wollen, dass sein ganzes Team siegt. Die Empfehlungen der RCT sind nach dieser Analogie für einen einzelnen Spieler dann rationalerweise zu befolgen, wenn er mit den anderen Teilnehmern in einem Team ist. Damit hat er ein Interesse am Sieg des Teams oder einer pareto-optimalen Lösung. Wie sieht es aber aus, wenn man keinen Grund zur Annahme hat, dass sich alle Teilnehmer als Mitglieder eines Teams verstehen? Haben sie dennoch einen Grund, den Empfehlungen der RCT zu folgen? „But if we are to explain how rational agents ever cooperate, even in the simplest of coordination problems, it seems that we need something beyond the standard conception of rationality.“ 288 Sugden ist der Ansicht, dass hier der Rückgriff auf den Begriff der instrumentellen Rationalität nicht trägt. Auch er kommt zu dem Schluss, dass für kooperative Strategien eine Veränderung des klassischen Rationalitätsbegriffes der RCT notwendig ist. Die OR als Disposition einer gerechten Person. Ausgehend von der Definition des strategischen Verhaltens einer rationalen Person in Marktsituationen, die u. a. besagt, dass ihre Entscheidung eine rationale Antwort auf die zu erwartenden Entscheidungen der anderen Teilnehmer sein muss, definiert Gauthier das Entscheidungsverhalten einer Person in den Fällen, in denen der Markt versagt. Dieses Entscheidungsverhalten bezeichnet Gauthier auch als rationale Antwort auf das Versagen des Marktes und eine Person, die auf die von ihm beschriebene Weise nach dem MRC-Prinzip entscheidet, bezeichnet er als gerecht. Der Unterschied dieser neuen Definition in Situationen des Marktversagens zur Definition in „normalen“ Marktsituationen besteht lediglich darin, dass die von einer gerechten Person geforderte Antwort auf die Entscheidungen der anderen Teilnehmer nicht nur rational, sondern auch eine „fair optimizing response“ sein muss. Dabei dient hier die Eigenschaft „fair optimizing“ als Spezifizierung des Begriffes rational.289 Die genauere 288

R. Sugden: „Rational Choice“ (1991), 778.

289

MbA, 157.

235

Bestimmung einer fairen und optimierenden Antwort bzw. Strategie wird durch das MRC-Prinzip gegeben. Eine Strategie ist danach dann fair und optimierend, wenn sie unter Berücksichtigung der Strategien der anderen Teilnehmer ein Ergebnis erwarten lässt, das den Anforderungen des MRCPrinzips entspricht. Dass eine Person diese fairen und optimierenden Strategien wählt, beruht auf einer Disposition, die die gerechte Person sich zuvor zu Eigen gemacht hat. Diese Disposition zeigt sich darin, dass ihr Träger den Forderungen des MRC-Prinzips nachkommt, vorausgesetzt, die anderen Teilnehmer sind in gleicher Weise dispositioniert. „A just person is one who keeps the agreements he has rationally made.“ 290 Dieser Übergang ist für Gauthier zentral, denn er markiert für ihn den Übergang von Rationalität zur Moralität. Die Entscheidung für die Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung ist für ihn das Eingangstor zur Moral. „Ich möchte damit sagen, dass ein wirkliches Akzeptieren der Zwänge [hier meint Gauthier die Zwänge durch die eingeschränkte Nutzenmaximierung; Anm. d. Verf.] die Reflexionsweise eines Menschen tatsächlich verändert, und zwar vom Modus des Eigeninteresses zum Modus der Moral.“ 291 Die Entscheidung für die eingeschränkte Nutzenmaximierung ist demnach nicht auf einen bestimmten Handlungsbereich beschränkt, sondern wirkt sich auf die Reflexionsweise des Menschen generell aus. Das muss zwar nicht bedeuten, dass dadurch alle Handlungsbereiche von der Person anders reflektiert werden, aber sicherlich alle moralisch relevanten Handlungsbereiche. Dort, wo das Eigeninteresse nicht in Konkurrenz zur Moral steht, was bei Gauthier im Markt der Fall ist, da ist das Handeln auch des moralischen Menschen vom Eigeninteresse geleitet. Kommen jedoch moralisch relevante Aspekte ins Spiel, so wird der moralische Mensch sich als eingeschränkter Nutzenmaximierer verhalten. Der Übergang von der MR zur OR. Bis jetzt habe ich dargelegt, welche Unterschiede zwischen der MR und der OR bestehen und wie sich ein Übergang zur OR auswirkt. Was sind aber die Gründe, die eine Person dazu 290

Ebda, 160.

291

Gauthier in: H. Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft (2000), 105.

236

bewegen, in einem bestimmten Bereich ihre Entscheidungsdisposition von der MR auf die OR umzustellen? Oder anders gefragt: Ist der Übergang von der MR zur OR rational? Dabei ist natürlich auch zu klären, in welchem Sinne das Wort „rational" in dieser Frage zu verstehen ist. Der Grundgedanke des Übergangs von der MR zur OR kommt in der folgenden Passage präzise zum Ausdruck. „He [der eingeschränkte Nutzenmaximierer; Anm. des Verf.] makes a choice about how to make further choices; he chooses, on utility-maximizing grounds, not to make further choices on those grounds.“ 292 Es sind also nutzenmaximierende Gründe, die einen einfachen Nutzenmaximierer zu dem Schluss kommen lassen, dass er zukünftig diese Gründe nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich in seinen Entscheidungen berücksichtigen sollte. Der eingeschränkte Nutzenmaximierer macht danach eine Wandlung seiner Entscheidungsdisposition durch, die auch seinen Rationalitätsbegriff einschließt, der dann nicht mehr mit der einfachen Nutzenmaximierung übereinstimmt. Diese Konsequenz der Argumentation und die gleichzeitige Behauptung, dass er zu diesem Ergebnis nur durch einfache nutzenmaximierende Überlegungen gekommen sei, hat zu dem schon angesprochenen, teils heftigen Widerspruch aus dem Kreis der Spieltheoretiker geführt. Dieser Widerspruch ist sehr verständlich, wenn man sich verdeutlicht, was Gauthier hier eigentlich behauptet: Er hat aus der Entscheidungsmaxime der einfachen Nutzenmaximierung ohne die Zuhilfenahme anderer Prämissen abgeleitet, dass diese Maxime bzw. deren Anwendung nicht nutzenmaximierend ist. Um die Frage nach dem Übergang von der MR zur OR zu beantworten, kehre ich zu Gauthiers Idee zurück, Rationalität als eine Disposition zu verstehen. In der Spieltheorie ist Rationalität ein Begriff, der sich auf einzelne Entscheidungen bezieht. Danach kann nur von einzelnen Entscheidungen gesagt werden, dass sie rational oder irrational sind. Gauthier grenzt sich explizit gegen dieses Verständnis ab und beschreibt Rationalität als eine Eigenschaft von Entscheidungsdispositionen.

292

MbA, 158.

237

„We identify rationality with utility-maximization at the level of dispositions to choose. A disposition is rational if and only if an actor holding it can expect his choices to yield no less utility than the choices he would make were he to hold any alternative disposition. We shall consider wether particular choices are rational if and only if they express a rational disposition to choose.“ 293 Eine Entscheidungsdisposition ist dadurch ausgezeichnet, dass der Träger dieser Disposition in bestimmten Typen von Situationen bestimmte Typen von Entscheidungen trifft. Ob eine einzelne Entscheidung rational ist, wird nach diesem Begriff von Rationalität durch die Bezugnahme auf eine Entscheidungsdisposition festgestellt. Entscheidungen, die aus rationalen Dispositionen abgeleitet werden können, sind rational und andere Entscheidungen sind konsequenterweise als nicht-rational zu beurteilen. „We must however emphasize that it is not the choice itself, but the maximizing character of the disposition in virtue of which it is choice worthy, that is the key to our argument.“ 294 In Gauthiers Theorie können Personen sich entscheiden, welche Dispositionen sie besitzen wollen. So können sie sich entscheiden, ob sie die Disposition des eingeschränkten Nutzenmaximierers oder die des einfachen Nutzenmaximierers annehmen wollen. Diese Wahl hält Gauthier fälschlicherweise für eine parametrische Entscheidung.295 Ob die Disposition zur eingeschränkten Nutzenmaximierung für eine Person nutzenmaximierend sein wird, hängt entscheidend davon ab, für welche Disposition sich die anderen potenziellen Kooperationsteilnehmer entscheiden. Diese Disposition führt nur dann zum Erfolg, wenn sich alle oder zumindest die meisten ebenfalls für die Annahme der eingeschränkten Nutzenmaximierung entscheiden und dadurch eine erfolgreiche Kooperation möglich ist. Außerdem ist er der Meinung, dass in parametrischen Entscheidungssituationen die Disposition zu einfach nutzenmaximierenden Entscheidungen unumstritten die nutzenmaximierende ist. Wenn sich nun eine rationale Person entscheiden muss, welche Disposition sie sich für Entscheidungen in strategischen Entscheidungssituationen mit der Möglichkeit zur Kooperation aneignen will, kommt ihre 293

Ebda, 182f.

294

Ebda, 183.

295

Vgl. Zitat 302 auf S. 242.

238

Disposition zu einfach nutzenmaximierenden Entscheidungen in parametrischen Entscheidungen zum Zuge. Gauthier setzt voraus, dass jede rationale Person diese Disposition hat. Das Resultat dieser Entscheidung ist seiner Meinung deshalb rational, weil es einer rationalen Disposition entspringt. Diese Argumentation überträgt er dann analog auf Entscheidungen, die auf der Disposition zur eingeschränkten Nutzenmaximierung beruhen. Entscheidungen aufgrund der Disposition zur eingeschränkten Nutzenmaximierung sind rational, weil die Disposition zur eingeschränkten Nutzenmaximierung rational ist. Dies ist deshalb so, weil die Entscheidung für die Aneignung dieser Disposition ihrerseits auf einer rationalen Disposition beruht, nämlich der Disposition zur einfachen Nutzenmaximierung in parametrischen Entscheidungssituationen. Die Eigenschaft der Rationalität wird hier durch die verschiedenen Stufen der Dispositionen hindurch vererbt. Das führt zu der These, dass eine Entscheidung aufgrund der Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung, gleichgültig ob sie selbst nutzenmaximierend ist oder nicht, deshalb rational ist, weil sie Ausdruck einer Entscheidungsdisposition ist, die ihrerseits aufgrund einer nutzenmaximierenden Entscheidung gewählt wurde. Diese Verlagerung des Bezuges der Rationalität von Entscheidungen zu Dispositionen scheint es Gauthier zu erlauben, auch nicht nutzenmaximierende Entscheidungen als rational zu bezeichnen und dennoch an der Konzeption der Rationalität als Nutzenmaximierung festzuhalten. Die Kernidee dieses Vorgehens ist, dass es rational sein kann, sich Dispositionen zu bestimmten irrationalen Handlungen anzueignen. „And so similarly we should suppose that although it is clearly irrational to constrain one=s maximizing behaviour, yet it may be rational to dispose oneself to this irrationality.“ 296 Diesen Typus von Entscheidungen veranschaulicht Gauthier an Drohstrategien. Wenn Flugzeugentführer damit drohen, die Maschine mit den Fluggästen einschließlich sich selbst in die Luft zu sprengen, falls ihre Forderungen nicht erfüllt werden, dann ist diese Drohung glaubhaft und damit wirksam, wenn die Entführer eine entsprechende Handlungsdisposition tatsächlich haben. Sprengen die Entführer das Flugzeug dann tatsächlich in die Luft, so wird man diese Handlung, isoliert betrachtet, als irrational beurteilen. Als Folge einer Disposition, die die Entführer in einer rationalen Entscheidung gewählt 296

MbA, 185.

239

haben, ist diese Handlung Teil einer rationalen Strategie. Wie die Entscheidung der Flugzeugentführer für ihre Disposition, so ist auch die Entscheidung des eingeschränkten Nutzenmaximierers für seine Disposition mit einem gewissen Risiko verbunden. Dies liegt in der Irreversibilität der Idee der Dispositionierung begründet.297 Der eingeschränkte Nutzenmaximierer kann auch die großartigsten Möglichkeiten zum Defektieren nicht mehr nutzen. Dies würde auf den Fall zutreffen, wenn er z. B. durch einmaliges Defektieren einen größeren Vorteil erlangen würde als er durch sein gesamtes kooperatives Handeln erlangen kann. Mit der Entscheidung für die Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung werden einer Person bestimmte Handlungsmöglichkeiten zugänglich, andere hingegen verschlossen. „She benefits from her disposition, not in the choices she makes, but in her opportunities to choose“ 298 Welche dieser Handlungsmöglichkeiten die Person dann tatsächlich auch realisieren wird und welche Handlungsmöglichkeiten ihr tatsächlich verschlossen bleiben werden, das weiß sie zuvor nicht. Sich trotz dieser Unsicherheit für die Annahme der Disposition zu entscheiden, die im Zweifelsfall zum Vorteil der Kooperationsgemeinschaft ist, ist schon Ausdruck einer moralischen Grundhaltung. Die moralische Grundhaltung besteht hier darin, dass man die Interaktionsform der Kooperation als solche präferiert, ohne zu wissen, ob sie zu einem größeren Nutzen führen wird.

297

E. F. McClennen: Rationality and dynamic choice (1990): McClennen hat eine ganz ähnliche Konzeption entwickelt, die er als resolute choice bezeichnet. Ausgangspunkt ist bei ihm das Prinzip der separability, das besagt, dass eine rationale Person ihre Präferenzen in zukünftigen Entscheidungen getrennt von ihren Präferenzen in der Gegenwart betrachten muss. Damit soll dem Faktum Rechnung getragen werden, dass durch Entscheidungen und deren Folgen sich Präferenzen auch ändern können. Die Konzeption der resolute choice stellt eine Verletzung oder Abweichung des Prinzips der Separabilität dar. Danach legt sich eine rationale Person in der Gegenwart hinsichtlich ihrer Präferenzen in der Zukunft fest. Diese Konzeption soll ermöglichen, sich für die Durchführung von ganzen Plänen entscheiden zu können, bei denen in der Gegenwart Entscheidungen für zukünftige Handlungen vorweggenommen werden. Das Besondere an der Entscheidung für einen Plan ist, dass man sich nur für den ganzen Plan entscheiden kann und daher die späteren Entscheidungen nicht von den gegenwärtigen abkoppeln kann, was eine offensichtliche Verletzung des Prinzips der Separabilität darstellt. 298

MbA, 183.

240

Die hier angesprochene Irreversibilität der Wahl von Dispositionen ist für ihre positive Wirkung ein ganz wesentlicher Faktor. Man wird nur mit jemandem kooperieren, von dem man sich sicher ist, dass er nicht defektieren wird. Insbesondere muss man sich sicher sein, dass der andere auch dann nicht defektieren wird, wenn der Vorteil des Defektierens für ihn enorm hoch wäre, denn gerade dann hätte man selber mit einem enorm hohen Schaden zu rechnen. Der andere darf angesichts einer solchen Gelegenheit nicht anfangen, seine eigene Disposition kritisch zu überdenken und sich zu überlegen, ob er bei seiner Entscheidung für die Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung nicht einen Fehler gemacht hat. Genau das postuliert Gauthier für den Übergang von der Disposition der einfachen Nutzenmaximierung zur eingeschränkten Nutzenmaximierung. Wahl der Disposition im hypothetischen Naturzustand. Im hypothetischen Naturzustand finden wir bei Gauthier nur einfache Nutzenmaximierer. Diese sind aber keine Astraightforwardly-maximizing machines@, die gar nicht anders können als ausschließlich nutzenmaximierende Handlungen auszuführen. Hier kommen an einer wichtigen Stelle der Argumentation zwei anthropologische Annahmen zum Zuge. „At the core of our rational capacity is the ability to engage in self-critical reflection. The fully rational being is able to reflect on his standard of deliberation, and to change that standard in the light of reflection. Thus we suppose it possible for persons, who may initially assume that it is rational to extend straightforward maximization from parametric to strategic contexts, to reflect on the implications of this extension, and to reject it in favour of constrained maximization.“ 299 Die Fähigkeit zur kritischen Reflexion und zur Veränderung der eigenen Entscheidungsstandards ist also wesentliches Kennzeichen einer rationalen Person. Diese Fähigkeit scheint Gauthier aber dem eingeschränkten Nutzenmaximierer nicht mehr zuzugestehen. Oder er muss ihm gute Gründe unterstellen, diese Fähigkeit in bestimmten Situationen nicht anzuwenden. Warum kann der eingeschränkte Nutzenmaximierer, wenn er die Möglichkeit 299

Ebda, 183f.

241

zu einem enorm vorteilhaften Defektieren hat, seine Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung nicht kritisch hinterfragen und gegebenenfalls zugunsten der einfachen Nutzenmaximierung ablegen? Haben wir es mit einer „constrainedly-maximizing machine“ zu tun? An dieser Stelle bringt Gauthier eine zweite anthropologische Annahme ins Spiel, die aus einer normalen Straße zwischen einfacher und eingeschränkter Nutzenmaximierung eine Einbahnstraße macht. Die Entscheidung für die eingeschränkte Nutzenmaximierung ist nicht nur Ausdruck der Rationalität von Personen, sondern auch von deren Moralität. „And in making that choice [hier ist die Entscheidung für die Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung gemeint; Anm. d. Verf.], they would be expressing their nature not only as rational beings, but also as moral beings.“ 300 Gauthier drückt sich hier im Konjunktiv aus, weil dieses ganze Entscheidungsszenario natürlich nur ein hypothetisches ist. Nicht hypothetisch hingegen ist die Aussage, dass Personen ihrem Wesen nach moralisch sein können. Für die Beurteilung dieser Annahme ist es wichtig, dass wir uns im Klaren darüber sind, an welcher Stelle der Argumentation Gauthiers wir uns hier genau befinden. Die Personen, die hier über die Annahme der Disposition zu entscheiden haben, befinden sich im hypothetischen Naturzustand. Hier gibt es noch keine Kooperation, Moral, Rechte etc., sondern nur einfache Nutzenmaximierung. Wie kommt Gauthier aber dann hier dazu, von den Akteuren als moralischen Wesen zu sprechen bzw. ihre Entscheidung für die eingeschränkte Nutzenmaximierung als Ausdruck ihres moralischen Wesens anzusehen? M. E. gibt es hier nur eine plausible Erklärung. Angesichts der vorliegenden Entscheidungssituation wäre allein aus rationalen Erwägungen heraus sowohl die Entscheidung für die einfache als auch für die eingeschränkte Nutzenmaximierung akzeptabel. Erst das Hinzukommen eines weiteren Kriteriums ermöglicht eine eindeutige Entscheidung zwischen den beiden Optionen. In diesem Fall ist es das von Gauthier angenommene moralische Wesen der Personen. Beide Optionen sind rational, jedoch nur eine moralisch. Diese Argumentation veranschaulicht das von Gauthier angenommene Verhältnis zwischen Rationalität und Moral: Moral ist eine 300

Ebda, 184.

242

Variante von Rationalität und steht nicht in Opposition zur Rationalität. In diesem Sinne ist ein moralisches Wesen bei Personen schon im Naturzustand denkbar. Um mit Sicherheit zu einer Entscheidung für die eingeschränkte Nutzenmaximierung zu kommen, muss Gauthier Rationalität und zusätzlich auch Moralität der Personen annehmen. Wären die Menschen nur rationale Wesen, dann würden sie sich nicht oder nicht notwendigerweise für die eingeschränkte Nutzenmaximierung entscheiden. Es gibt also bei Gauthier keinen zwingenden Übergang von der individuellen Nutzenmaximierung zur Moral. Es gibt noch eine weitere Erklärung dafür, weshalb der eingeschränkte Nutzenmaximierer einer noch so großen Versuchung des Defektierens nach Gauthier widerstehen kann. Eine kritische Reflexion der eigenen Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung angesichts einer sehr vorteilhaften Möglichkeit des Defektierens würde durch einfache nutzenmaximierende Überlegungen ausgelöst werden. Dabei würden genau die Überlegungen in Frage gestellt werden, die zur Annahme der Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung geführt haben. Aber genau gegen diese hinterfragenden Einwürfe der einfachen Nutzenmaximierung scheint ein eingeschränkter Nutzenmaximierer immun zu sein. ”...constrained maximization is not straightforward maximization in its most effective guise. The constrained maximizer genuinely ignores the call of utility-maximization in following the cooperative practices required by minimax relative concession.“ 301 Diese Immunität gegen den Ruf der Nutzenmaximierung ist bei Gauthier die Folge einer nutzenmaximierenden Entscheidung. „... constrained maximization is a disposition for strategic choice that would be parametrically chosen... In parametric contexts, the disposition to make straightforwardly maximizing choices is uncontroversially utility-maximizing.“ 302 Die eingeschränkte Nutzenmaximierung wird von einem Nutzenmaximierer gewählt, weil er nur dadurch an den Vorteilen der Kooperation partizipieren kann. Der Grund für die Wahl der Disposition der eingeschränkten Nutzen301

Ebda, 188f.

302

Ebda, 183.

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maximierung ist die Überzeugung, dass man auf diesem Wege seinen Nutzen am besten maximieren kann. Damit diese Disposition in Kooperationen auch richtig funktionieren kann, muss sie irreversibel sein. Ansonsten müssten die Kooperationsteilnehmer immer befürchten, dass ein Teilnehmer dem Ruf der einfachen Nutzenmaximierung folgt und sie durch Defektieren schädigt. Es ist jedoch wichtig im Gedächtnis zu behalten, dass die Disposition zur eingeschränkten Nutzenmaximierung nur einen Teilbereich der Entscheidungen einer Person betrifft. In allen übrigen Entscheidungsbereichen, die nicht mit kooperativen Handlungen zu tun haben, bleibt sie nach wie vor ein einfacher Nutzenmaximierer. Entscheidungen und Metaentscheidungen. Die vorangegangene Diskussion über Entscheidungen für oder gegen eine Disposition lässt erkennen, dass es Entscheidungen und Metaentscheidungen gibt. Letztere sind in diesem Kontext Entscheidungen über die Aneignung von Dispositionen für eine bestimmte Art des Entscheidungsverhaltens. Der Anlass für Gauthier, solche Metaentscheidungen einzuführen, ist das Problem der Vertragstreue. Wie kann ich wissen, dass jemand eine Vereinbarung über kooperatives Handeln auch einhält? Eine zuverlässige Antwort auf diese Frage könnte ich dann bekommen, wenn ich seine Entscheidungsprinzipien für die relevanten Situationen kennen würde. Dann könnte ich seine Handlungen für die kritischen Situationen vorhersagen. Gauthiers Konzeption der Entscheidungsdisposition soll diese Funktion erfüllen, indem sie zum einen für andere Kooperationsteilnehmer eindeutig erkennbar und zum anderen andauernd ist. In den vorangegangenen Abschnitten habe ich die Rationalitätskonzeption Gauthiers dargestellt und kritisch analysiert. Die Probleme, auf die ich dabei gestoßen bin, beruhen zum Teil auf begrifflichen und argumentativen Schwachstellen. Diese Probleme sollen verdeutlicht und teilweise auch beseitigt werden, indem ich eine begriffliche Analyse genau dieser problematischen Bereiche durchführe, wie sie in MbA in der Form nicht zu finden ist. Die Differenzierung von Entscheidung und Metaentscheidung soll dabei der Ausgangspunkt dieser Überlegungen sein. Der Begriff der praktischen Rationalität ist als ein Metaentscheidungsprinzip den Entscheidungsprinzipien der RCT übergeordnet und gibt an,

244

welchen Kriterien diese Entscheidungsprinzipien genügen müssen. Der ökonomische Rationalitätsbegriff, so wie ihn Gauthier anfänglich verwendet, wird durch die individuelle Nutzenmaximierung bestimmt.303 Wie diese Entscheidungsmaxime in verschiedenen Entscheidungssituationen umzusetzen ist, dafür gibt die RCT bestimmte Prinzipien an. Allein durch die Angabe der Maxime der individuellen Nutzenmaximierung ist eine rationale Person noch nicht in der Lage, in jeder Situation rationale Entscheidungen zu treffen. In Tab. 24 wird eine schematische Übersicht über die wichtigen Typen von Entscheidungsprinzipien gegeben, die sich in verschiedenen Entscheidungssituationen aus dem Rationalitätsbegriff der Nutzenmaximierung ableiten. Rationalitätsbegriff der individuellen Nutzenmaximierung Anwendung in Entscheidungstheorie

Spieltheorie in Marktinteraktionen

Spieltheorie in Kooperationssituationen (Verhandlung)

Parametrische Nutzenmaximierung

Strategische Nutzenmaximierung

Kooperative Nutzenoptimierung

über individuelle Entscheidungen

über individuelle Strategien

über kollektive Strategien

Entscheidungsprinzipien Option mit dem größten Erwartungsnutzen wählen

Equilibrium-Strategie wählen

MRC-Prinzip befolgen

unabhängig von den Handlungen anderer Akteure

als beste Antwort auf die zu erwartenden Handlungen der anderen Akteure

Vorausgesetzt, alle anderen Kooperationsteilnehmer befolgen es auch

Entscheidungsdispositionen nach Gauthier Uneingeschränkter Nutzenmaximierer

Uneingeschränkter Nutzenmaximierer

Eingeschränkter Nutzenmaximierer

Tab. 24: Ebenen der Entscheidung

Die individuelle Nutzenmaximierung ist kein Entscheidungsprinzip erster Stufe, wie das Equilibrium oder das MRC-Prinzip. Zu dieser Einordnung kann man leicht verleitet werden, da in parametrischen Entscheidungssitua303

Ebda, 7.

245

tionen das aus dem übergeordneten Rationalitätsbegriff abgeleitete Entscheidungsprinzip und der übergeordnete Rationalitätsbegriff inhaltlich sehr ähnlich sind. Dem Prinzip der individuellen Nutzenmaximierung hier zu folgen heißt, dass man die Option wählt, die den größten Erwartungsnutzen hat. Dass diese Ableitung in Wirklichkeit nicht so einfach ist, zeigt die Existenz einer sehr umfangreichen Disziplin der Entscheidungstheorie, die nichts anderes ist als die Anwendung des Nutzenmaximierungskonzeptes auf parametrische Situationen. In strategischen Situationen wird das Ziel der Nutzenmaximierung dadurch erreicht, dass man z. B. eine Equilibrium-Strategie wählt. Aber auch diese Strategie hat ihre Grenzen.304 Wie man am Beispiel des Gefangenendilemmas sehen kann, führt das Equilibrium-Prinzip, das Gauthier hier anspricht, in bestimmten strategischen Entscheidungssituationen zu suboptimalen Ergebnissen, d. h. es erfüllt seinen intendierten Zweck der individuellen Nutzenmaximierung nicht. An seine Stelle tritt in Verhandlungssituationen bei Gauthier das MRC-Prinzip. Das MRC-Prinzip ist für Gauthier eine Antwort auf die Frage nach der internen Rationalität der Verhandlung, d. h. welche Bedingungen die gemeinsame Wahl einer kooperativen Strategie erfüllen muss, damit sie als rational angesehen werden kann. „We shall solve this problem by finding a principle that rationalizes agreement in the way that the principle of expected utilitymaximization rationalizes individual choice.“ 305 Gauthier spricht hier von verschiedenen Prinzipien, die in verschiedenen Situationen als Antwort auf die Frage der internen Rationalität des Entscheidens dienen können. Hier ist die angeführte Differenzierung zwischen dem Rationalitätsbegriff und den Entscheidungsprinzipien deutlich zu sehen. Dasselbe gilt auch für das folgende Zitat. „The constrained maximizer does not reason more effectively about how to maximize her utility, but reasons in a different way.“ 306 Hier wird sehr klar, dass für Gauthier der eingeschränkte und der einfache Nutzenmaximierer 304

Ebda, 116: „When the market fails, each person, seeking to maximize her utility given the strategies she expects others to choose, fails to maximize her utility given the utilities those others receive.” 305

Ebda, 118.

306

Ebda, 170.

246

denselben Rationalitätsbegriff als oberste Maxime haben: die Maximierung ihres individuellen Nutzens. Nur wählen sie unterschiedliche Weisen des Urteilens und Entscheidens, um diese oberste Maxime zu realisieren. Es wird hier eine Ebene vorausgesetzt, auf der diese oberste Maxime der individuellen Nutzenmaximierung angesiedelt ist, und eine weitere Ebene, auf der Entscheidungsprinzipien wie die eingeschränkte oder einfache Nutzenmaximierung angesiedelt sind. Im nachfolgenden Zitat gibt Gauthier sehr komprimiert die zentralen Elemente seiner Argumentation für die Konzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung wieder. „Nun meine ich, dass die einfache nutzenmaximierende Rationalitätskonzeption es verhindert, echte Verpflichtungen einzugehen und allgemein geltende moralische Zwänge wirklich zu verinnerlichen, weil man, vom Standpunkt dieser Konzeption aus gesehen, bei jeder Entscheidung prüft, wie sich die verschiedenen Optionen auszahlen, und dann überlegt, wie sie sich für die eigenen Interessen auswirken. Ich vertrete eine Konzeption, die ich als ’eingeschränkte Nutzenmaximierung‚ bezeichnet habe: Jeder Mensch kann erwarten, dass er insgesamt besser dasteht, wenn es von ihm heißt, er treffe nicht jede Entscheidung nach Maximierungsgesichtspunkten, sondern halte eine eingegangene Verpflichtung - ein Versprechen, eine Zusicherung, sein Wort ein, auch wenn er besser dabei fahren würde, wenn er sein Wort bräche, sein Versprechen nicht einlöste, der Verpflichtung nicht nachkäme... Ich nehme diese Möglichkeit, eine Verpflichtung einzugehen, also sehr ernst und glaube, dass sie von uns verlangt, unsere Rationalitätskonzeption dahingehend zu ändern, dass sie solche Verpflichtungen als echte Handlungsgründe mit einbezieht.“ 307 Der Grund für die Entscheidung für die von Gauthier als Rationalitätskonzeption bezeichnete eingeschränkte Nutzenmaximierung ist demnach die Erwartung, mit dieser Entscheidungsdisposition insgesamt besser dazustehen als mit der Disposition der einfachen Nutzenmaximierung. „Besser dastehen„ 307

Gauthier in: H. Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft (2000), 107f.

247

bedeutet letztlich nichts anderes als seinen Nutzen zu maximieren. Die zugrunde liegende Rationalitätskonzeption ist und bleibt summa summarum die individuelle Nutzenmaximierung und nichts anderes. Auch hier verwechselt Gauthier die Disposition zur eingeschränkten Nutzenmaximierung mit einer Rationalitätskonzeption. Sowohl die eingeschränkte als auch die einfache Nutzenmaximierung sind beides Ableitungen aus der selben Rationalitätskonzeption der individuellen Nutzenmaximierung. In einer parametrischen Entscheidung kann man dann wählen, welches der beiden Entscheidungsprinzipien man aufgrund der vorliegenden Informationen und Randbedingungen rationalerweise wählen sollte. Die Konfusion entsteht in Gauthiers Argumentation erst dadurch, dass er die eingeschränkte Nutzenmaximierung für eine Rationalitätskonzeption hält bzw. meint, dass eine Entscheidung für die eingeschränkte Nutzenmaximierung eine Veränderung des Rationalitätsbegriffes zur Folge hat. Wie wir im Weiteren sehen werden, macht Gauthier in seiner Argumentation nicht die Differenzierung zwischen Rationalitätskonzeption und Entscheidungsprinzip, was dann u. a. zu seiner sehr problematischen und insbesondere für viele Spieltheoretiker äußerst anstößigen Behauptung führt, dass mit der Konzeption des MRC-Prinzips und dem eingeschränkten Nutzenmaximierer ein neuer Rationalitätsbegriff eingeführt worden sei, der nicht mehr mit der ursprünglichen Nutzenmaximierungskonzeption identisch sei. Wenn man die Argumentation Gauthiers für den Übergang von der MR zur OR unter Einbeziehung der Differenzierung zwischen Rationalitätsbegriff und Entscheidungsprinzipien kritisch analysiert, wird zum einen klar, wo genau in Gauthiers Argumentation die Probleme liegen, und zum anderen eröffnet sich die Möglichkeit einer plausibleren Erklärung für die Entscheidung, sich die Disposition des eingeschränkten Nutzenmaximierers anzueignen. Man wird zum eingeschränkten Nutzenmaximierer, indem man aufgrund des Rationalitätsbegriffes der individuellen Nutzenmaximierung die parametrische Entscheidung trifft, fortan in Kooperationssituationen nicht mehr eine Equilibrium-Strategie zu wählen, sondern seine Strategien nach dem MRC-Prinzip auszuwählen. Er verändert ein Entscheidungsprinzip, nicht aber seinen Rationalitätsbegriff. Wenn Gauthier in der obigen Textpassage sagt, dass der eingeschränkte Nutzenmaximierer sich entscheidet, fortan nicht mehr aufgrund von nutzenmaximierenden Gründen Entscheidungen zu treffen, dann ist

248

dies falsch. Anstelle der nutzenmaximierenden Gründe hätte Gauthier hier das Equilibrium-Prinzip anführen müssen. Ein Nutzenmaximierer entscheidet sich gegen das Equilibrium-Prinzip und für das MRC-Prinzip und wird so zum eingeschränkten Nutzenmaximierer. Ein eingeschränkter Nutzenmaximierer hat demnach denselben Rationalitätsbegriff wie ein uneingeschränkter Nutzenmaximierer, nur handelt er in Situationen mit Gelegenheit zur Kooperation nach dem MRC-Prinzip. Gauthier setzt hier das Equilibrium-Prinzip mit der Maxime der Nutzenmaximierung gleich und zieht daraus den Schluss, dass man mit der Aufgabe des Equilibrium-Prinzips zugleich auch die Maxime der Nutzenmaximierung aufgibt. Dass dies keineswegs der Fall sein muss, das wird aus der obigen Differenzierung zwischen dem Rationalitätsbegriff und den Entscheidungsprinzipien deutlich. Der Rationalitätsbegriff der Nutzenmaximierung ist kein hinreichendes Kriterium, um sich für eines der angebotenen Entscheidungsprinzipien entscheiden zu können. Ob man eine Gelegenheit zur Kooperation ergreift und sich das MRC-Prinzip oder vielleicht auch ein anderes „KooperationsPrinzip" wie z. B. die Nash-Lösung aneignet oder sich für die einfache Nutzenmaximierung entscheidet, das hängt auch von kontingenten Parametern wie den Machtverhältnissen, der Güterausstattung und dem Wissen über zukünftige Ereignisse ab. Erst wenn diese kontingenten Parameter bekannt sind, dann kann man sagen, dass die Entscheidung für eines der angebotenen Entscheidungsprinzipien im Sinne der individuellen Nutzenmaximierung rational oder nicht rational ist. Hätte Gauthier die Differenzierung zwischen Entscheidungsprinzipien und Rationalitätsbegriff in seiner Argumentation gemacht, dann hätte er das MRC-Prinzip und auch die Wahl zur Annahme der Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung als neue Anwendungen des einen Rationalitätsbegriffes der individuellen Nutzenmaximierung darstellen können. Aber es gäbe keinen Anlass, diesen Rationalitätsbegriff zu modifizieren. Auch wäre Gauthier die problematische Behauptung erspart geblieben, dass ein eingeschränkter Nutzenmaximierer sich selbst dann noch an das MRC-Prinzip hält, wenn er unter Berücksichtigung aller möglichen Konsequenzen sicher weiß, dass es für ihn in dieser Situation besser, d. h. nutzenmaximierender wäre, einer anderen Strategie, z. B. der EquilibriumStrategie zu folgen. Diese Behauptung kann er nur machen, weil er davon

249

ausgeht, dass die Akzeptanz des MRC-Prinzips eine irreversible Änderung des Rationalitätsbegriffes zur Folge hat. Dann wäre tatsächlich keine Bezugsinstanz mehr in einem eingeschränkten Nutzenmaximierer vorhanden, vor der aus er seine Entscheidungsprinzipien kritisch reflektieren könnte. Rekonstruiert man die Entscheidung des eingeschränkten Nutzenmaximierers unter Berücksichtigung der Differenzierung zwischen Rationalitätsbegriff und Entscheidungsprinzip, dann entscheidet er sich für das MRC-Prinzip und für die Einhaltung von Vereinbarungen nach dem MRC-Prinzip, weil er meint, dass in Kooperationssituationen der Anspruch des Rationalitätsbegriffes der individuellen Nutzenmaximierung durch die Anwendung dieses Prinzips besser realisiert werden kann als durch die Anwendung aller anderen Entscheidungsprinzipien, insbesondere des Equilibrium-Prinzips. Gauthiers Argumentation hingegen führt zu dem Schluss, dass er mit der Konzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung den Rationalitätsbegriff der Nutzenmaximierung ad absurdum geführt hätte, indem er gezeigt hat, dass es in bestimmten Situationen nutzenmaximierender ist, sich nicht nutzenmaximierend zu entscheiden. Kehren wir nochmals kurz zu der eingangs zitierten Passage zurück, um anhand der vorangehenden Überlegungen, Klarheit in dieses Argument Gauthiers zu bringen. „He makes a choice about how to make further choices; he chooses, on utility-maximizing grounds, not to make further choices on those grounds.“ 308 In dieser Passage sieht man die zwei Ebenen der Entscheidungen sehr klar, die durch den Unterschied zwischen Rationalitätsbegriff und Entscheidungsprinzip bedingt sind. Auf der einen Seite ist da die Entscheidung über Entscheidungsprinzipien aufgrund eines Rationalitätsbegriffes und andererseits sind da die Entscheidungen zwischen Strategien aufgrund eines Entscheidungsprinzips. Der problematische Punkt in dem zitierten Satz sind die letzten beiden Worte, „those grounds.“ Sie beziehen sich offensichtlich auf die „utility-maximizing grounds“, die ihrerseits für den Rationalitätsbegriff der individuellen Nutzenmaximierung stehen. Anstelle von „those grounds“ hätte Gauthier hier richtigerweise das EquilibriumPrinzip nennen müssen. Dieses ist es nämlich, das der eingeschränkte Nutzenmaximierer verwirft. Gauthier begeht hier insofern einen Kategorienfehler, 308

MbA, 158.

250

als er die Nutzenmaximierung als ein Entscheidungsprinzip verwendet. So ist der absurd erscheinende Effekt dieses Satzes zu erklären, dass man mit Verweis auf die Nutzenmaximierung zu dem Schluss kommt, dass nutzenmaximierend zu entscheiden nicht nutzenmaximierend ist. Man ist jetzt vielleicht geneigt zu meinen, dass Gauthier diesen Fehler nicht gemacht hätte, wenn er nur die hier ausgeführte und von ihm selbst offensichtlich wahrgenommene Differenzierung besser berücksichtigt hätte. Diese Vermutung erscheint mir zu optimistisch, da zum einen im weiteren Verlauf seiner Argumentation klar wird, dass er sein Ziel einer Moral und einer moralischen Person nur erreicht, wenn er den Begriff der Rationalität modifiziert. Ein eingeschränkter Nutzenmaximierer, der in kritischen Fällen, in denen er einen sicheren Vorteil durch das Defektieren hätte, diesen Vorteil auch realisiert und dementsprechend defektiert, ist kein potenzieller Kooperationspartner. Die Rationalität der Befolgung des MRC-Prinzips ist immer an die Bedingung gekoppelt, dass alle anderen Teilnehmer sich auch entsprechend dem MRC-Prinzip verhalten, also in einer Kooperation nicht defektieren oder Ansprüche über das MRC-Prinzip hinaus stellen. Die Teilnahme an einer Kooperation nach dem MRC-Prinzip, bei der man sich nicht sicher sein kann, dass alle Teilnehmer ihren Kooperationsbeitrag leisten, ist nach Gauthiers Argumentation nicht rational. Um diese Lücke zu schließen, kreiert Gauthier die Konzeption des eingeschränkten Nutzenmaximierers. Da, wie gezeigt, die Argumentation für diese Konzeption ihrerseits eine Lücke hat, bleibt die ursprüngliche Lücke in der Problemstellung Gauthiers bestehen. Damit gibt es keinen direkten und zwingenden Weg von der Rationalität zur Moral, vom individuellen Nutzenmaximierer zum gerechten Menschen. Dass die von ihm vorgeschlagene Konzeption letztendlich nicht in jedem Fall rational zwingend ist, hat Gauthier selbst festgestellt. „In reconciling reason and morals, we do not claim that it is never rational for one person to take advantage of another, never rational to ignore the proviso, never rational to comply with unfair practices. Such a claim would be false. We do claim that justice, the disposition not to take advantage of one's fellows, is the virtue appropriate to co-operation, voluntarily accepted by equally ra-

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tional persons. Morals arise in and from the agreement of equals.“ 309 Gerechtigkeit ist demnach eine Tugend, die zum Zwecke von Kooperationen ausgebildet wird, von denen alle Teilnehmer einen Vorteil haben. Ein gerechter Spieler bezieht die Interessen der anderen Teilnehmer in seine Entscheidung aktiv mit ein, wobei offen bleibt, welches Gewicht er diesen Interessen gibt. Dies kommt der Einnahme eines unparteilichen Standpunktes schon sehr nahe. Für den unparteilichen Standpunkt ist die Gewichtung aller Interessen per definitionem als gleich anzunehmen. Es kann sich zwischen dem hier von Gauthier entwickelten Standpunkt und einem klassischen unparteilichen Standpunkt nur um graduelle, nicht aber um kategorische Unterschiede handeln. Denn das entscheidende Faktum ist, dass die Interessen aller Teilnehmer in die Entscheidung einer von Gauthier als gerecht bezeichneten Person eingehen. Man muss also nicht seinen eigenen Standpunkt hypothetisch verlassen und einen neutralen Standpunkt einnehmen, wie dies z. B. bei Rawls der Fall ist, um eine unparteiliche Entscheidung zu treffen, sondern es genügt die positive Einbeziehung der Interessen aller Beteiligten in die Entscheidungsfindung. Mit diesen Sätzen aus dem letzten Zitat weist Gauthier sehr deutlich auf die Begrenztheit seiner Theorie hin. Die Akzeptanz der Disposition zur eingeschränkten Verfolgung der eigenen Interessen kann er nur als eine für die Kooperation geeignete Tugend empfehlen, aber sie ist nicht in jedem Fall rational zwingend. Nur wenn jemand mit Gleichen kooperieren will, ist es rational, diese Disposition zu akzeptieren. Dort, wo Ungleiche interagieren, gibt es demnach keine rationale Basis für Moral und dort, wo keine Kooperation angestrebt wird, gibt es auch keine Möglichkeit für Moral. Auch im Interview mit Pauer-Studer gesteht Gauthier ein, dass es keine zwingenden Gründe für die Akzeptanz der Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung gibt. Die Entscheidung für die Disposition der eingeschränkten Nutzenmaximierung hängt u. a. von der Annahme der Durchsichtigkeit (translucency) des Menschen hinsichtlich seiner wahren Dispositionen ab.310 309 310

Ebda, 232.

Ebda, 174: „We may appeal instead a more realistic translucency, supposing that persons are neither transparent nor opaque, so that their disposition to co-operate or not may be ascertained by others, not with certainty, but as more than mere guesswork."

252

Wenn man sich die Fähigkeit aneignen kann, die anderen über seine eigenen Dispositionen wirkungsvoll zu täuschen, dann kann man gerecht erscheinen und dennoch ungerecht handeln. In der Entscheidung zwischen einer möglichen Aneignung der genannten Fähigkeit zur Täuschung und der Aneignung der Disposition zur eingeschränkten Nutzenmaximierung gesteht Gauthier ein, dass es keine guten Gründe für die Wahl seiner eingeschränkten Nutzenmaximierung gibt. „Ich kann keine fundierten theoretischen Beweise dafür erbringen, dass solche Menschen [hier meint Gauthier Menschen mit der eben genannten Fähigkeit zur Täuschung anderer; Anm. d. Verf.] scheitern müssen und dass wir gute Gründe haben, eine vertragstheoretisch begründete Moral zu verinnerlichen.“ 311 Gauthiers Theorie muss also bestimmte empirische Annahmen machen, um zum Ziel zu kommen. Offen bleibt, ob diese Annahmen für die breite Masse zutreffen oder nicht. Empirische Annahmen zu verifizieren, ist für einen Philosophen immer etwas müßig. Jedoch hängt in diesem Fall die Plausibilität der gesamten Theorie an der Fundiertheit dieser empirischen Annahmen. Ob es vorteilhaft bzw. rational ist, kooperativ zu sein, hängt davon ab, welche Dispositionen die Menschen haben, auf die man trifft, wie gut sie eingeschränkte Nutzenmaximierer von einfachen Nutzenmaximierern unterscheiden können und wie groß die Vorteile sind, die man aus möglichen Kooperationen ziehen könnte. Das bedeutet, dass im konkreten Einzelfall bei ausreichender Information schon ein klares Urteil darüber gefällt werden kann, ob es rational ist, ein eingeschränkter Nutzenmaximierer zu werden oder nicht. Aber man kann keine allgemeingültige Norm diesbezüglich aufstellen. Für den Schwachen wird es oftmals besser sein, ein eingeschränkter Nutzenmaximierer zu werden. Ist er jedoch nur von einfachen Nutzenmaximierern umgeben, dann ist es auch für ihn nicht rational, sich diese Disposition anzueignen. Wenn Gauthier zu Beginn von MbA beansprucht, Moral allein aus Rationalität abzuleiten, dann sieht man spätestens hier, dass er dieses Ziel nicht ganz erreicht hat. Er muss zusätzlich zur Rationalität in kritischen Bereichen noch bestimmte empirische Zusatzannahmen machen. 311

Gauthier in: H. Pauer-Studer: Konstruktionen praktischer Vernunft (2000),116.

253

2. Annahme der Gleichheit der Rationalität Einleitung. In MbA begegnet man bei den zentralen Konzeptionen, wie dem MRC-Prinzip, der starken Vertragstreue und dem Proviso, immer einer Annahme: Alle Teilnehmer sind gleich rational (Annahme GR). Gauthier begnügt sich nicht mit der Annahme, dass alle Teilnehmer rational sind, sondern für seine Argumentation ist die Gleichheit der Rationalität unverzichtbar. Seine ganze Theorie gilt nur für gleich rationale Akteure.312 Mit dieser angenommen Gleichheit der Rationalität weicht er von den gängigen Annahmen der Spieltheorie ab. Diese lässt als Spieler nur perfekt rationale Akteure zu, d. h. Individuen mit perfekten intellektuellen Fähigkeiten.313 Wenn alle Spieler perfekt rationale Akteure sind, dann sind sie natürlich auch gleich rationale Akteure. Gauthiers Beschränkung auf das Kriterium der Gleichheit macht jedoch deutlich, wie wichtig dieser Aspekt für seine Theorie ist. Worin besteht exakt die Annahme der Gleichheit? Worauf bezieht sich der Begriff der Gleichheit in diesem Kontext? Ist diese Annahme in der Argumentation Gauthiers legitim und plausibel? Diesen Fragen wird im nachfolgenden Abschnitt nachgegangen, indem die Bedeutung der Annahme GR in der Theorie Gauthiers erläutert wird, die sich daraus ergebenden Probleme aufgezeigt werden und in Form einer Irrtumstheorie erklärt wird, warum Gauthier zu diesen Problemen kommt. Da die Annahme GR in verschiedensten Konzeptionen in MbA eine wichtige Rolle spielt, werde ich hier auch Fragen behandeln, die nicht unmittelbar mit der in diesem Abschnitt III.G thematisierten rationalen Verhandlung zu tun haben, und werde andererseits an einigen Stellen auf eingehendere Analysen zu diesem Punkt in den entsprechenden Abschnitten verweisen. Die Annahme GR in den Konzeptionen von MbA. Die Annahme GR führt dazu, dass ein Spieler in strategischen Entscheidungssituationen das Entschei312 313

MbA, 267.

In seinem Aufsatz „Modeling rational players“ (1990) stellt Binmore die Möglichkeit der Konzeption eines perfekt rationalen Akteurs als theoretischer Konzeption in Frage. Er zeigt dort u. a. auf, dass Konzeptionen der Spieltheorie, wie z. B. das Equilibrium, die Möglichkeit erfordern, Fehler zu machen.

254

dungsverhalten der anderen Teilnehmer antizipieren kann. Dies ermöglicht es ihm, sich seinerseits für eine optimale Strategie zu entscheiden. Bei der Überlegung einer Strategie kann der Teilnehmer davon ausgehen, dass sich alle anderen Teilnehmer genauso rational wie er selbst verhalten werden. „But since no one chooses to constrain his behaviour for its own sake, no person finds it rational to be more compliant than his fellows. Equal rationality demands equal compliance. Since broad compliance is not rational for everyone, it is not rational for anyone.“ 314 In der Verhandlungssituation bedeutet das nach Gauthiers Meinung, dass kein Teilnehmer davon ausgehen kann, dass ein anderer Teilnehmer bereit sein wird, ein größeres relatives Zugeständnis zu machen als er selbst. Formal zeigt sich dies im MRC-Prinzip in der Gleichsetzung der relativen Vorteile. Die Annahme GR bei Gauthier hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Symmetrieannahme in den klassischen Verhandlungstheorien.315 Dort wird angenommen, dass der einzige für die Verhandlung relevante Unterschied zwischen den Spielern ihre Nutzenfunktion ist. Wenn demnach zwei Spieler die gleiche Nutzenfunktion haben, dann sind sie in einem Verhandlungsspiel austauschbar. Die Funktion, die Gauthier der Rationalität im Kontext der Verhandlung zuweist, entspricht der Verhandlungsfähigkeit, deren Gleichverteilung Nash in seinem ersten Aufsatz zum Verhandeln im Symmetrie-Axiom enthalten sah.316 Gauthier gesteht zwar zu, dass die Verhandlungsfähigkeit in der Praxis schon eine Rolle für den Ausgang der Verhandlung spielt, meint aber anscheinend diesen Faktor in der theoretischen Modellierung dieser Interaktionsform vernachlässigen zu können.317 Wie wir aber hier feststellen 314

MbA, 226.

315

Ebda, 143f. Vgl. hierzu S. 108f.

316

Vgl. Fußnote 153 auf S. 110.

317

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“ (1985), 43f.: „To be sure, we need not suppose that all real-life bargaining exhibits the impartiality of solution G' [d. h. das MRC-Prinzip; Anm. d. Verf.]. For in real-life bargaining, the differential bargaining skills of the bargainers will lead to solutions that often differ markedly from G'.” An anderer Stelle geht Gauthier von der gegenteiligen Annahme aus. D. Gauthier: „Moral Artifice“ (1988), 392: „Any distribution of the surplus is mutually advantageous, and an equal distribution reflects their equal bargaining power in reaching agreement.”

255

können, fließt dieser Faktor bei Gauthier nicht explizit ein. Im Bezug auf die Vertragstreue schließt Gauthier aufgrund der Annahme GR, dass es für niemanden rational ist, die Disposition der schwachen Vertragstreue auszubilden, da es für einige offensichtlich nicht rational ist, diese Disposition auszubilden.318 Im Proviso führt die Annahme GR zur Annahme der Gleichverteilung der Macht, da Macht nach Gauthiers Meinung das Ergebnis von Technologien ist und Technologien ihrerseits ein Produkt der Rationalität sind.319 Dem Ansatz der Theorie Gauthiers entsprechend sollte Fairness ein Resultat der Rationalität sein oder sich aus dieser ableiten lassen. Bei der Beschreibung der Disposition der starken Vertragstreue ist das Verhältnis zwischen Fairness und Rationalität aber genau umgekehrt. „Since the narrowly compliant person is always prepared to accept co-operative arrangements based on the principle of minimax relative concession, she is prepared to be co-operative whenever co-operation can be mutually beneficial on terms equally rational and fair to all. In refusing other terms she does not diminish her prospects for co-operation with other rational persons, and she ensures that those not disposed to fair cooperation do not enjoy the benefits of any co-operation, thus making their unfairness costly to themselves, and so irrational.“ 320 Gauthier bringt hier seine Strategie auf den Punkt: Unfairness wird durch indirekte Sanktionierung kostspielig und erst dadurch irrational. Ohne diese Sanktionierung wäre Unfairness demnach vorteilhaft und damit nicht irrational. Nun könnte man dies alles zugestehen, aber einwenden, dass die künstliche Sanktionierung der Unfairness ihrerseits rational ist. Was ist aber der Grund, dass die Disposition der starken Vertragstreue gerade faire 318

MbA, 226: „But since no one chooses to constrain his behaviour for its own sake, no person finds it rational to be more compliant than his fellows. Equal rationality demands equal compliance. Since broad compliance is not rational for everyone, it is not rational for anyone. “ Siehe auch die Erläuterungen zur schwachen und starken Vertragstreue auf S. 65. 319

Vgl. Abs. IV.B.5

320

MbA, 178f.

256

Vereinbarungen favorisiert? Faire Vereinbarungen sind solche, denen rationale Personen freiwillig zustimmen können. Die freiwillige Zustimmung von rationalen Personen erhalten nach Gauthier nur solche Vereinbarungen, die nach dem MRC-Prinzip ausgehandelt wurden. Das bedeutet, dass alle Teilnehmer gleich große relative Zugeständnisse machen müssen. Auf diese Gleichheit der Zugeständnisse bezieht sich im obigen Zitat der Ausdruck „equally rational“. An dieser Stelle kommt die Annahme GR ins Spiel. Durch diese Annahme gelangt das MRC-Prinzip zu einem egalitären Ergebnis. Diese Egalität des Verhandlungsergebnisses führt zur inhaltlichen Übereinstimmung der eben angeführten Fairness nach Gauthiers Verständnis und der egalitären Fairness in traditionellen Moralkonzeptionen. Denn, dass rationale Personen ausgerechnet nur einem egalitären Verhandlungsergebnis zustimmen, resultiert aus der Annahme GR. Welche eminente Bedeutung die Annahme GR in diesen Konzeptionen hat, zeigt das folgende Zitat: „There are circumstances in which it is rational for one person to take advantage of another. Reason and justice there part company, leaving justice with no hold on the non-tuistic individual. This much we conceded to Hobbes's Fool in VII.5.2., but we limited our concession by insisting that the separation of justice and reason results from a lack of equal rationality among persons. And we claimed that this lack is accidental.“ 321 Von der Annahme GR hängt die Übereinstimmung von Rationalität und Gerechtigkeit in der Theorie Gauthiers ab. Wenn die Annahme GR nicht erfüllt ist, dann können das MRC-Prinzip, die starke Vertragstreue und das Proviso nicht ihre Funktionen in der Theorie erfüllen und somit würde die Theorie insgesamt nicht ihr Ziel erreichen. In diesem Zitat sieht man sehr deutlich, dass Gauthier der Meinung ist, dass die Annahme GR empirisch allgemein zutreffend ist, indem er sagt, dass Ungleichheiten der Rationalität von Personen nur akzidentiell und eben nicht notwendigerweise unter ihnen anzutreffen sein müssen. Dies ist eine sehr starke empirische Behauptung, für deren Richtigkeit Gauthier zwar im Zusammenhang mit dem Proviso Argu-

321

Ebda, 313.

257

mente vorbringt, die aber, wie ich dort zeigen werde, nicht überzeugend sind.322 Rationalität ist nicht das einzige relevante Kriterium für das Entscheidungsverhalten. Die Annahme GR geht bei der Wahl einer Strategie in der Weise ein, dass gleich rational zu sein bedeutet, in gleichen Entscheidungssituationen auch die gleiche Strategie zu wählen. Das heißt, dass als relevante Kriterien für das Entscheidungsverhalten einer Person allein ihre Rationalität und ihre Präferenzen angesehen werden. Hier ist einzuwenden, dass im Entscheidungsverhalten auch idealer rationaler Personen neben der Rationalität andere Faktoren wie die Risikobereitschaft eine Rolle spielen und das Entscheidungsergebnis maßgeblich beeinflussen können. Die Risikobereitschaft hängt neben individuell bedingten psychischen Dispositionen vom Status und Wohlstand der Person ab. Das heißt, selbst wenn die Annahme GR akzeptabel wäre, so könnte man aus ihr nicht den Schluss ziehen, den Gauthier aus ihr zieht, nämlich dass sich solche Personen in gleichen Situationen auch gleich entscheiden.323 Gauthier müsste zusätzlich die Annahme machen, dass alle Teilnehmer die gleiche Risikobereitschaft haben. Mit der Reduktion der relevanten Eigenschaften auf die Rationalität betreibt Gauthier eine Idealisierung der Teilnehmer in Form einer Entindividualisierung, die einige relevante Dimensionen einer Person ausblendet. Man wird hier einwenden wollen, dass Gauthier doch die individuell unterschiedlichen Nutzenfunktionen im MRC-Prinzip berücksichtigt und damit den individuellen Eigenheiten ausreichend Rechnung trägt. Nun, es ist zwar zutreffend, dass die Nutzenfunktionen im MRC-Prinzip erscheinen, aber in der Herleitung oder Begründung des MRC-Prinzips spielen die Nutzenfunktionen keine Rolle. Hier ist nur von Bedeutung, dass die Teilnehmer rational und nach Gauthiers Auffassung sogar gleich rational sind. Für die Festlegung des MRC-Prinzips ist die Individualität der Teilnehmer irrelevant. Einmal mehr bestätigt Gauthier damit sein Resümee über eine Theorie der Moral: „Morals arise in and from the rational agreement of equals.“ 324 322

Siehe S. 340.

323

R. E. Goodin: „Equal rationality and initial endowments“ (1993), 121f.

324

MbA, 232.

258

Universalisierung des eigenen Standpunktes und Entscheidungsdelegation an eine externe Instanz. Die Annahme GR spielt in der Überlegung der Verhandlungsteilnehmer darüber, welche Forderungen oder welche Zugeständnisse sie rationalerweise machen sollten, eine wichtige Rolle. Da es sich um eine strategische Entscheidungssituation handelt, müssen sie das Entscheidungsverhalten der anderen Teilnehmer in ihrer Entscheidung berücksichtigen. Dazu müssen sie sich in die Situation und Überlegungen der anderen Teilnehmer hineinversetzen und überlegen, wie sich die anderen Teilnehmer rationalerweise in dieser Situation entscheiden werden. Aufgrund der Annahme GR können sie in Gauthiers Szenario davon ausgehen, dass das Entscheidungsverhalten der anderen Spieler mit dem eigenen Entscheidungsverhalten identisch ist. Konkret bedeutet dies nach Gauthiers Interpretation, dass gleich rationale Personen in Verhandlungssituationen unter gleichen Bedingungen gleich große Zugeständnisse machen werden. Man kann also als rationale Person das eigene Entscheidungsverhalten universalisieren, um das Entscheidungsverhalten anderer rationaler Personen einschätzen und somit in seine strategische Überlegungen einbeziehen zu können. Gauthier verwendet diese Universalisierung des eigenen Entscheidungsverhaltens in der Argumentation für die Akzeptanz des MRC-Prinzips. „If there is to be agreement, then someone must make a concession at least equal to the minimax. Now if it is not rational for me to make such a concession, then, since the policy which is rational for me is rational for everyone, it is not rational for any person to make such a concession, and there can be no rational agreement. But it is rational for me to enter into an agreement; hence it must be rational for me to make a minimax concession.“ 325 Aufgrund der Annahme GR ist die Akzeptanz einer MRC-Verteilung entweder für alle oder für keinen Teilnehmer rational. Um zu wissen, wie sich die anderen Teilnehmer entscheiden werden, muss ich also nur wissen, wie ich mich entscheiden werde. Wenn es für mich rational ist, an der Kooperation teilzunehmen und damit das MRC-Prinzip zu akzeptieren, dann ist es auch für alle anderen Teilnehmer rational, dieses Prinzip zu akzeptieren. 325

D. Gauthier: „Bargaining Our Way Into Morality" (1979), 20.

259

Gegen diese Universalisierung des eigenen Standpunktes sind einige Einwände vorzubringen. Bei der Festlegung der Größe ihres Zugeständnisses wird Person A folgende Überlegungen anstellen. Zunächst wird sie sich fragen, wie groß das Zugeständnis maximal sein sollte. Im Sinne der Nutzenmaximierung wäre es natürlich am besten, gar kein Zugeständnis zu machen. Das würden aber die anderen Teilnehmer nicht akzeptieren. Bei der Festlegung der Größe des Zugeständnisses muss Person A also nicht nur ihren eigenen Nutzen berücksichtigen, sondern sie muss auch die Zustimmung aller anderen Teilnehmer zu ihrer Forderung erhalten. Aber wie kann sie wissen, welcher Forderung die anderen Teilnehmer noch zustimmen würden? Sie stehen in der gleichen Entscheidungssituation wie sie selbst und überlegen ihrerseits, welches Zugeständnis sie rationalerweise machen sollten. Auch sie überlegen sich, welche Forderungen die Person A und die anderen Teilnehmer rationalerweise akzeptieren würden. Wenn ein Teilnehmer B nun diese Überlegung anstellt, dann wird er darauf kommen, dass A seinerseits versucht, die Überlegungen von B nachzuvollziehen, und dass A weiß, dass B die gleichen Überlegungen anstellt. Wir haben es hier mit einer reziproken Entscheidungsabhängigkeit zu tun. Keiner kann unabhängig von der Entscheidung des anderen die Größe seines Zugeständnisses festlegen, d. h. keiner kann den ersten Schritt machen. Diesem Dilemma scheint Gauthier dadurch entgehen zu wollen, dass er die Annahme GR einführt. Mit dieser Annahme hat A die zusätzliche Information, dass die anderen Teilnehmer sich bei der Akzeptanz von Forderungen genauso verhalten werden wie er selbst. Dadurch ist aber zunächst nichts gewonnen, da er ja selber nicht weiß, welche Forderungen der anderen er rationalerweise akzeptieren soll bzw. welche Forderung er selbst stellen sollte. Aus der Annahme GR kann er nur den Schluss ziehen, dass alle Zugeständnisse gleich groß sein werden. Unklar bleibt jedoch, wie groß sie sein sollten. Bei Nullsummenspielen gibt es theoretisch beliebig viele Möglichkeiten der Gleichverteilung, solange man nicht festlegt, dass der gesamte kooperative Mehrwert oder ein bestimmter Anteil des kooperativen Mehrwerts verteilt werden soll. Bei Hinzunahme des Kriteriums der Pareto-Optimalität kann man zu einer eindeutigen Lösung gelangen. Dann wird die Verteilung gewählt, die bei einer Gleichverteilung zugleich möglichst den gesamten kooperativen Mehrwert verteilt.

260

Mit Hilfe der Annahme GR und dem Kriterium der Pareto-Optimalität kann Gauthier auf diesem Wege zu einem quantitativ genau bestimmbaren Verteilungsergebnis kommen, ohne dass auch nur ein Teilnehmer unter Einbeziehung seiner eigenen Nutzenfunktion eine Entscheidung über die Rationalität der Größe eines bestimmten Zugeständnisses gemacht hätte. Die Annahme GR und die Pareto-Optimalität allein führen schon zu einem definitiven Verteilungsergebnis. Das Problematische bei dieser Argumentation ist, dass das Verteilungsergebnis nur als Konsequenz einer Metaüberlegung gedacht werden kann. Es kommt nicht durch das Stellen und Akzeptieren von Forderungen der Teilnehmer zu Stande. Dieser Prozess ist in einem dead-lock-Zustand, d. h. er kommt aufgrund der zuvor aufgezeigten reziproken Abhängigkeit der Entscheidungen nicht in Gang. Damit ist der Ansatz einer kompetitiven Lösung gescheitert. Die Annahme GR ist eine axiomatische Lösung bzw. genauer gesagt ein Teil einer solchen. Sie gibt Kriterien für eine als rational zu bezeichnende Verhandlungslösung vor. Auch wenn dies in Form der Beschreibung von Zugeständnissen geschieht, so wird damit kein Prozess charakterisiert, sondern ein einstufiger Übergang von einer Ausgangssituation zum Verhandlungsergebnis. Diese axiomatische Lösung ist geeignet, um von einer externen Instanz in der Verhandlungssituation realisiert zu werden. Ein solcher Eingriff einer externen Instanz ersetzt den Verhandlungsprozess. Die Verhandlungsteilnehmer würden in der dead-lockSituation die Verteilungsentscheidung an diese externe Instanz delegieren, da sie aufgrund der genannten prozeduralen Probleme zu keinem Ergebnis kommen. Sie wissen, dass sie diese Probleme überwinden könnten, wenn sie die Verteilungsfrage nicht intern zu lösen versuchen, sondern an eine externe Instanz delegieren, die eine Verteilung aufgrund der gleichen Kriterien vorschlägt, die in einem Verhandlungsprozess das Verteilungsergebnis bestimmen; es gibt nur einen Unterschied: Die externe Instanz kommt auf einem anderen Weg zu diesem Verteilungsergebnis. Wichtig und im Interesse aller Teilnehmer ist ja nur, dass die Verteilung nach den von ihnen akzeptierten Kriterien vorgenommen wird, nicht aber das Prozedere der Entscheidungsfindung. Graduierbarkeit der Rationalität. Aus der Annahme GR schließt Gauthier, dass die Größe des relativen Zugeständnisses jedes Teilnehmers bei einer

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Verhandlung auch gleich groß ist.326 Das heißt, gleich rationale Personen machen gleich große relative Zugeständnisse. Aus der Annahme GR wird damit ein bedeutsamer quantitativer Schluss gezogen: Im Bezug auf diese Annahme wird die Größe der relativen Zugeständnisse bestimmt. Es bleibt aber unklar, wie man sich den Zusammenhang zwischen der Größe des relativen Zugeständnisses und der Rationalität vorstellen soll. Es stellt sich die Frage, was genau die Eigenschaft der Rationalität ist, auf die sich hier die Entscheidung über die Grösse des Zugeständnisses bezieht.327 Eine mögliche Interpretation ist hier, dass sich die Gleichheit auf eine quantitative Eigenschaft bezieht. Ein gleiches Ausmaß an Rationalität führt demnach zu einem gleich großen Zugeständnis. In dem Fall würde Rationalität wie eine Fähigkeit, etwa Intelligenz, verwendet, die bei verschiedenen Individuen in unterschiedlichem Ausmaß ausgeprägt sein kann. Zwischen der Rationalität einer Person und der Größe der Zugeständnisse, die sie zu machen bereit ist, bestünde dann ein Verhältnis der Proportionalität. Aber ist ein Teilnehmer, der die Disposition hat, nur geringere Zugeständnisse als die anderen zu machen, deshalb rationaler als die anderen Teilnehmer? Nachdem Gauthier die starke Vertragstreue als Lösung für rational hält, sollte man denken, dass diejenigen Teilnehmer am rationalsten sind, die die Disposition der starken Vertragstreue ausbilden, also nur genauso große Zugeständnisse machen wie alle anderen rationalen Personen. Dies würde aber heißen, dass alle anderen Dispositionen von einer geringeren Rationalität zeugen, also auch die Disposition, nur geringere Zugeständnisse als die anderen Teilnehmer zu machen. Die Formulierung „gleich rational@ „ scheint hier also nicht proportional quantitativ zu verstehen zu sein, also dass größere Zugeständnisse von geringerer Rationalität zeugen und umgekehrt. Vielmehr bedeutet hier gleich rational zu sein, einen ganz bestimmten Typ von Zugeständnissen zu machen, nämlich den, der den Anforderungen der starken Vertragstreue 326

MbA, 143f.: „…no one can expect any other rational person to be willing to make a concession if he would not be willing to make a similar concession.” 327

G. Harman kritisiert in seinem Aufsatz „Rationality in Agreement“ (1988) auch diesem Punkt des MRC-Prinzips Gauthiers, zieht aber nicht so weitgehende Konsequenzen aus diesem Befund. Er setzt hier nur verschiedene Formen der Verhandlungsmacht für die Rationalität in der Annahme GR ein und zeigt die Problematik eines solchen Verständnisses auf. Siehe bes. S. 6ff.

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entspricht. Die Gleichheit ist hier auf eine Qualität und nicht auf eine Quantität bezogen. Gegen eine Interpretation der Formulierung „gleich rational“ als einer quantitativen Gleichheit lässt sich noch ein begrifflicher Einwand vorbringen. Wenn Gauthier davon spricht, dass alle Personen gleich rational sind oder dass eine Person rationaler ist als eine andere, dann schreibt er die Eigenschaft der Rationalität einer Person zu. Was bedeutet es aber, dass eine Person rational ist? Legt man den Rationalitätsbegriff der RCT zugrunde, dann bedeutet es, dass diese Person ein individueller Nutzenmaximierer ist. Um festzustellen, ob eine Person ein Nutzenmaximierer ist, kann man sich seine Handlungen ansehen. Um festzustellen, ob die Handlungen den Nutzen der Person maximieren, muss man sich die den Handlungen zugrunde liegenden Entscheidungen ansehen. Nur von diesen kann man unmittelbar feststellen, ob sie nutzenmaximierend bzw. rational sind. So formuliert auch Gauthier den Kerngedanken dessen, was er als rational bezeichnet, in Bezug auf Entscheidungen: „A choice is rational if and only if it maximizes the actor=s expected utility.“ 328 Rationalität ist in der RCT eine Eigenschaft von Entscheidungen, nicht von Personen, Handlungen oder Dispositionen.329 Von einer Entscheidung kann man aber nur sagen, dass sie nutzenmaximierend oder nicht nutzenmaximierend ist, also rational oder nicht rational ist, nicht aber, dass sie mehr oder weniger rational ist als eine andere Entscheidung. Der Begriff der Rationalität in dieser Verwendung ist nicht graduierbar. Eine Entscheidung kann nicht stark oder gering nutzenmaximierend sein. Wenn ich die Wahl zwischen drei möglichen Strategien habe und alle drei einen unterschiedlichen Erwartungsnutzen haben, dann und nur dann entscheide ich mich rational, wenn ich die Strategie mit dem größten Erwartungsnutzen wähle. Alle anderen Entscheidungen wären nicht rational und nicht etwa bloß weniger rational. Gauthier verwendet selbst dieses Argument, wenn er die schwache Vertragstreue gegenüber der starken Vertragstreue als nicht rational beurteilt.330 328

MbA, 182.

329

J. C. Harsanyi: Rational behavior and bargaining equilibrium in games and social situations (1977), 8.

330

MbA, 178f.

263

Welche Konsequenz hat das für die Rede von rationalen Personen? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir noch eine weitere Gattung betrachten, die nach Gauthiers Meinung die eigentlichen Träger von Rationalität sind: Dispositionen. „We identify rationality with utility-maximization at the level of dispositions to choose. A disposition is rational if and only if an actor holding it can expect his choices to yield no less utility than the choices he would make were he to hold any alternative disposition. We shall consider wether particular choices are rational if and only if they express a rational disposition to choose.“ 331 Nach dieser Vorstellung wird die Rationalität von Dispositionen auf die aufgrund dieser Dispositionen gefällten Entscheidungen übertragen. Eine Entscheidung ist dann rational, wenn sie Ausdruck einer rationalen Disposition ist. Als Beispiel führt hier Gauthier die Disposition des einfachen Nutzenmaximierers an. Der einfache Nutzenmaximierer trifft in jeder Situation nutzenmaximierende Entscheidungen. Würde man der Meinung sein, dass man die Rationalität einer Disposition im Rekurs auf die aufgrund dieser Disposition getroffenen Entscheidungen bestimmen kann, dann wäre die Disposition des einfachen Nutzenmaximierers als rational zu bezeichnen. Das ist aber nach Gauthiers Meinung falsch. Die Disposition des einfachen Nutzenmaximierers verhindert, dass dieser an Kooperationen und damit an deren kooperativen Mehrwert partizipieren kann. Einfache Nutzenmaximierer werden, wann immer es für sie ohne Schaden möglich ist, von der Kooperation defektieren. Da diese Disposition aufgrund der von Gauthier postulierten translucency von Personen vor den übrigen Teilnehmern nicht verborgen gehalten werden kann, werden einfache Nutzenmaximierer nicht als Kooperationspartner akzeptiert werden. Die eingeschränkten Nutzenmaximierer hingegen treffen nicht in jedem Fall nutzenmaximierende Entscheidungen, nämlich gerade dann nicht, wenn sie ohne negative Folgen sich durch das Defektieren Vorteile auf Kosten der übrigen Kooperationsteilnehmer verschaffen könnten. Deshalb sind sie als Kooperationspartner attraktiv und kommen in den Genuss des kooperativen Mehrwerts. Insgesamt gesehen sind demnach die eingeschränkten Nutzenmaximierer besser gestellt als die 331

Ebda, 182f.

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einfachen Nutzenmaximierer. Ergo, so Gauthier, ist die Disposition des eingeschränkten Nutzenmaximierers die rationale Disposition. Fragt man aber an dieser Stelle, wie man feststellen kann, ob eine Disposition rational ist, dann verweist Gauthier doch wieder auf Entscheidungen. Denn für ihn ist eine Disposition dann rational, wenn sie in einer rationalen parametrischen Entscheidung gewählt wurde. Für parametrische Entscheidungssituationen im Gegensatz zu strategischen akzeptiert er das Kriterium der unmittelbaren Nutzenmaximierung uneingeschränkt. Wenn die Entscheidung für die Annahme einer Disposition, die sich auf einen bestimmten Typ von Entscheidungen in strategischen Situationen bezieht, rational ist, dann sind auch alle dieser Disposition entsprechenden Entscheidungen nach Gauthiers Meinung rational. Die letzte Basis für die Bestimmung der Rationalität einer Person sind demnach ihre Entscheidungen und somit bezieht sich auch bei Gauthier die Eigenschaft der Rationalität im Grunde dann doch auf Entscheidungen. Die Rationalität von Entscheidungen ist aber, wie zuvor gezeigt wurde, nicht graduierbar und damit ist die Rede von einer quantitativen Gleichheit hier nicht möglich. Wenn das „gleich" in der Annahme GR nicht quantitativ zu verstehen ist, dann kann es nur noch qualitativ zu verstehen sein. Das würde heißen, die Behauptung, dass alle Personen gleich rational sind, bedeutet, dass sie alle Träger einer Rationalität von gleicher Art sind. Diese Interpretation dürfte aber schon im Ansatz auf erhebliche Skepsis stoßen, denn welche Art von Rationalität Gauthier bei seiner Argumentation zugrunde legt, hat er hinlänglich expliziert: die individuelle Nutzenmaximierung. Nach Gauthiers Darstellung entscheiden sich alle Personen, die gleich rational sind, für die Aneignung der Disposition der starken Vertragstreue. Wenn diese Entscheidung aber rational ist, was Gauthier behauptet, dann sind die Personen, die sich für die Aneignung der starken Vertragstreue entscheiden, rational und alle anderen, die sich nicht für die Aneignung der starken Vertragstreue entscheiden, irrational. Die Rede von Personen, die hinsichtlich ihrer Rationalität gleich sind, suggeriert, dass es verschiedene Formen der Rationalität gebe. Aber diesbezüglich hat sich Gauthier schon auf die Konzeption der individuellen Nutzenmaximierung festgelegt. Die Aussage „alle Personen sind gleich rational" wäre dann synonym mit der Aussage „alle Personen sind rational" und die Verwendung des Wortes „gleich" wäre hier redundant.

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Diese begriffliche Analyse der Verwendung des Begriffes der Gleichheit in der Annahme GR bei Gauthier hat gezeigt, dass weder einer quantitativen noch einer qualitativen Verwendung eine plausible Bedeutung zukommt. Damit ist der Schluss Gauthiers von der Gleichheit der Rationalität der Personen auf eine Gleichheit der Verteilung bzw. der Größe der Zugeständnisse nicht nachvollziehbar. Das wiederum hat zur Folge, dass die Konzeptionen des MRC-Prinzips, der starken Vertragstreue und des Provisos ein ihnen gemeinsames und in quantitativer Hinsicht zentrales Argument verlieren. Inkommensurabilität der relativen Zugeständnisse. Ein weiterer Angriffspunkt für Kritik an der Annahme GR ist die Relativität der Zugeständnisse, wie sie Gauthier im MRC-Prinzip verwendet. So wendet Braybrooke gegen die Annahme GR ein, dass der relative Vorteil bzw. das relative Zugeständnis einer Person im Vergleich zum relativen Zugeständnis einer anderen Person keine Auskunft darüber erlaubt, welche der beiden Personen durch eine bestimmte Vereinbarung besser oder schlechter gestellt ist. Man kann zwei relative Zugeständnisse nicht miteinander vergleichen, da die Bezugsgrößen der Zugeständnisse ausschließlich Nutzenfunktionen der Teilnehmer sind, also individuelle Parameter. „There is then no telling whether I fundamentally do better or worse for myself by having a greater relative advantage than you; we shall not know which of us is to envy the other. The greater relative advantage hangs in the air.“ 332 Angesichts dieser Unklarheit über die Bedeutung des relativen Zugeständnisses bzw. des relativen Vorteils bleibt offen, welcher subjektive Zustand der Teilnehmer besteht, wenn alle Teilnehmer ein gleich großes relatives Zugeständnis machen. Sind sie z. B. alle im gleichen Maße zufrieden? Wenn ich den Nutzen von zwei Personen nicht direkt miteinander vergleichen kann, weil es keine gemeinsame Maßeinheit für den Nutzen gibt, dann ist es doch fraglich, ob ich den relativen Nutzen miteinander vergleichen kann. Dies wäre nur dann möglich, wenn man den Nutzen der einen Person durch eine lineare Transformation in die Nutzenskala der anderen Person 332

D. Braybrooke: „The Maximum Claims of Gauthier's Bargainers“ (1982), 414.

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übertragen könnte, vorausgesetzt, man würde einen entsprechenden Umrechnungsfaktor kennen, den man aber eben nicht kennt. Was aber nun, wenn die verschiedenen Nutzenskalen grundsätzlich gar nicht durch lineare Transformationen ineinander überführbar sind? Was ist, wenn die Nutzenfunktion von Person A linear ist und die von Person B exponentiell, d. h. wenn die Kurven der Nutzenfunktionen sich in ihrer Form unterscheiden? Diese technischen Probleme sind nicht spezifisch für die Theorie Gauthiers, aber sie stellen für das MRC-Prinzip eine Schwierigkeit dar, auf die Gauthier überhaupt nicht eingeht.

H. Zusammenfassung Die Analyse der Verhandlungstheorie Gauthiers hat einige gravierende Mängel und Unklarheiten aufgezeigt. Letztere beruhen darauf, dass Gauthier einige wichtige Begriffe nicht präzise genug differenziert, wie z. B. den Rationalitäts-, Gleichheits- oder Unparteilichkeitsbegriff, oder in anderen Fällen die formale Herleitung seiner Theorie nicht präsentiert. An kritischen Stellen seiner Verhandlungstheorie muss man als Leser vorausgesetzte Annahmen oder Konsequenzen seiner Theorie selber konstruieren, um die vollständige Aussage der Theorie ermitteln zu können. Die semiformale Darstellungsweise ist hier ambivalent. Auf der einen Seite ermöglicht sie eine sehr kompakte Darstellung der Argumentation. Aber andererseits werden dadurch auch wichtige Zusammenhänge, Hintergründe und Details nicht transparent gemacht. Zwar hat Gauthier an anderer Stelle333 eine formal vollständigere Herleitung seiner Verhandlungstheorie präsentiert, aber diese gibt zum einen auch keine befriedigende Antwort auf die hier vorgebrachten Einwände, zum anderen deckt sie nur einen Teil der Argumentation in MbA ab. Rückgriff auf und Herleitung aus Verhandlungstheorien der RCT. Es wurde gezeigt, dass über das Selbstverständnis der Verhandlungstheorien in der RCT generell kein Konsens besteht. Der Typ von Verhandlungstheorie 333

D. Gauthier: „Bargaining and Justice“(1985).

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nach Nash und Kalai-Smorodinsky, auf den Gauthier aufbaut, hat jedoch die Intention, Vorgaben für faire Verhandlungen bzw. Verhandlungsergebnisse zu machen. Damit sind diese Theorien für sein Projekt, Moral aus Nicht-Moral via RCT abzuleiten, nicht ohne weiteres verwendbar. Er hätte sie entweder entsprechend modifizieren müssen oder die in den Theorien enthaltenen moralischen Implikationen im Rahmen seiner Argumentation hinreichend begründen müssen. Ein wichtiger Punkt ist hier das Symmetrie-Axiom von Nash. So wie es in der RCT verwendet wird, setzt es eine empirische Gleichheit der Verhandlungsteilnehmer voraus oder die Irrelevanz aller empirischen Eigenschaften der Teilnehmer für das Verhandlungsergebnis. Eine Stellungnahme zum Verständnis dieses Axioms sucht man in MbA vergeblich, obwohl dieses Axiom offensichtlich Teil seiner Verhandlungstheorie ist.334 Zwar könnte man seine Argumentation für die Annahme GR als einen Kandidat für eine solche Begründung ansehen, aber zum einen ist diese Begründung nicht überzeugend, wie in der vorangegangenen kritischen Analyse gezeigt wurde, und zum anderen stellt Gauthier selbst gar nicht den Bezug zwischen seiner Annahme GR und dem Symmetrie-Axiom bei Nash her. Letzteres ist eine Folge aus der fehlenden Auseinandersetzung mit der formalen Herleitung seiner Verhandlungstheorie und aus der fehlenden Darstellung der Wurzeln seiner Theorie in anderen Verhandlungstheorien. Die Tatsache, dass es auch asymmetrische Verhandlungstheorien gibt, unterstreicht hier die Notwendigkeit einer Begründung für die Wahl einer symmetrischen Verhandlungstheorie. Dass sich Gauthier in seiner Konzeption der Verhandlungstheorie dann auch noch auf die Variante der Nash-Lösung von KalaiSmorodinsky stützt, die an der Nash-Lösung die nicht ausreichende Berücksichtigung des Kriteriums der Fairness kritisiert und deshalb eine Modifikation der Axiome vornimmt, stimmt doch sehr nachdenklich. Die Darstellung der Verhandlung in MbA insgesamt erweckt den Eindruck, diese Variante der Verhandlungstheorie gehöre genauso zum StandardBereich der RCT wie etwa die parametrischen Entscheidungen oder das NashEquilibrium, was jedoch offenbar nicht der Fall ist. Er weist zwar darauf hin, dass die Verhandlungstheorien ein unterentwickelter Bereich der RCT sind, 334

Auch in „Bargaining and Justice“ (1985) widmet Gauthier dieser Frage nur einen ganzen Satz. Vgl. Fußnote 157 auf S. 112.

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aber er zieht nicht die angemessene Konsequenz daraus, indem er seine eigene Konzeption vollständig präsentiert. So muss man konstatieren, dass Gauthier eine seiner Kern-Konzeptionen auf einen seiner eigenen Aussage nach unterentwickelten Bereich der RCT stützt und man zudem noch nicht einmal genau weiß, wie er seine Theorie in diesem unsicheren Bereich verankert. Rekonstruiert man unter Zuhilfenahme der entsprechenden Literatur der RCT und der Aufsätze von Gauthier die Argumentation in MbA für das MRC-Prinzip, so stellt man fest, dass die Argumentation teilweise ein axiomatisches und teilweise ein kompetitives Verhandlungsspiel zum Gegenstand hat. Dabei verstrickt er sich bei seinem Rückgriff auf Zeuthen in starke psychologische Annahmen über Drohungen und Macht, die er an anderer Stelle vehement verneint. Die Analyse hat gezeigt, dass die Argumentation Gauthiers erhebliche Brüche aufweist, da der Argumentationsgegenstand im Laufe der Argumentation einfach gewechselt wird. Auch hier macht sich der Verzicht Gauthiers auf eine formale Herleitung seiner Verhandlungstheorie negativ bemerkbar. Ähnlich verhält es sich auch mit dem nächsten Punkt. Obwohl Gauthier in seiner Argumentation meist nur 2-Personen-Spiele berücksichtigt, geht er nicht auf die zusätzlichen Anforderungen ein, die an eine Verhandlungstheorie als n-Personen-Spiel im Vergleich zu 2-Personen-Spielen gestellt werden. Das bedeutet, dass es ungeklärt bleibt, ob seine Theorie auf n-Personen-Spiele anwendbar ist. Für eine Moral-Theorie ist dies eine Frage von existentieller Bedeutung. Proportionale Verteilung des Kooperationsmehrwerts. Bei der Verteilung des kooperativen Mehrwerts unter Nutzenmaximierern ist eine zum Kooperationsbeitrag proportionale Verteilung des kooperativen Mehrwerts sehr nahe liegend, da die Kooperation von rationalen Akteuren als Investition betrachtet wird. Gauthier versucht zu zeigen, dass die Verteilung nach dem MRCPrinzip eine proportionale Verteilung ist. Es konnte aber an Beispielen nachgewiesen werden, dass die Verteilung nach dem MRC-Prinzip nicht proportional, sondern egalitär ist. Diese egalitären Verteilungen beinhalten Umverteilungen, die Gauthier an anderer Stelle als irrational zurückweist. Dieser Effekt verstärkt sich bei Kooperationen mit variierenden Kooperationsbeiträgen. Von diesen Umverteilungen profitieren durchgehend nur die

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schwächeren Teilnehmer einer Kooperationsgemeinschaft. Die Egalität des Verhandlungsergebnisses wird hier um den Preis der Parteilichkeit erlangt. Teilnahme als Verteilkriterium. Ein weiterer Punkt in der Verhandlungstheorie Gauthiers, der zur Egalität des Verhandlungsergebnisses führt, ist die Beschränkung der relevanten Eigenschaften des Individuums auf seine Teilnahme an der Kooperation. Damit sind alle Teilnehmer in der Ausgangssituation gleich, so dass auch jedes proportionale Verteilungsprinzip zu einer egalitären Güterverteilung gelangt. Er übergeht damit die Größe der einzelnen Kooperationsbeiträge als wesentlichen Faktor für die Größe des Kooperationsertrages. Man kann Gauthier zwar insofern folgen, dass die Teilnahme eine notwendige Bedingung für das Entstehen des kooperativen Mehrwerts ist, aber sie ist keine hinreichende Bedingung für das Entstehen eines kooperativen Mehrwerts von ganz bestimmter Größe. Daher überfordert Gauthier hier die Teilnahme als hinreichendes Verteilungskriterium für den kooperativen Mehrwert. Hinzu kommt noch die Schwierigkeit, aus einer qualitativen Eigenschaft quantitative Schlüsse zu ziehen. Parteilichkeit des Verteilungsergebnisses. Das MRC-Prinzip als ein Minimax-Prinzip bevorzugt einseitig die Teilnehmer einer Verhandlung, die die größten Zugeständnisse machen müssen, indem es nur die Minimierung ihrer Zugeständnisse anstrebt. Gauthiers Begründung dieser einseitigen Bevorzugung stützt sich auf psychologische Annahmen über den inneren Widerstand gegenüber Zugeständnissen, aus denen er dann implizit auch quantitative Schlüsse zieht. Weder für die psychologischen Annahmen noch für die aus ihnen gezogenen Schlüsse gibt Gauthier eine Begründung. Die Bevorzugung der schwachen Teilnehmer unterstützt die Tendenz eines egalitären Verteilungsergebnisses, indem extreme Zugeständnisse auf Seiten der Schwachen und extreme Vorteile auf Seite der Mächtigen vermieden werden. Bedeutung von Zugeständnissen. Es bleibt auch unklar, welche Bedeutung die Gleichheit von individuell-relativen Zugeständnissen haben soll, für die keine gemeinsame Bezugsgröße angegeben werden kann. Mit dem social potential hat Gauthier zwar eine inhaltliche Orientierung für eine 100%-

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Marke gegeben, aber damit ist noch überhaupt nichts über eine Skalierung des Nutzens zum Zwecke der Vergleichbarkeit mit den Nutzenfunktionen anderer Individuen ausgesagt. Im Zusammenhang mit der Größe der Zugeständnisse stellt Gauthier die These der Konzessionsbereitschaft auf. Dabei unterstellt Gauthier den Verhandlungsteilnehmern Unparteilichkeit, indem sie in ihrer Entscheidungsfindung den anderen Teilnehmern die für sie jeweils rationale Strategien zugestehen sollen. Disposition der Gerechtigkeit. Die Disposition zum Entscheiden und Handeln nach dem MRC-Prinzip bezeichnet Gauthier als Gerechtigkeit. Die Entscheidung zur Annahme dieser Disposition ist weder rational zwingend noch irrational, sondern lediglich rational möglich. Die im Sinne Gauthiers wirklich gerechte Person hat deswegen bei ihm noch eine intrinsische Motivation zur Wahl einer solchen Disposition. Auch hier wird sichtbar, dass Gauthier mit den Mitteln der Rationalität allein nicht unbedingt bei seinem angestrebten Ziel der Moral ankommt. Fragmentierung der Gesellschaft als Konsequenz des MRC-Prinzips. Bei der Analyse der Verteilungsresultate nach dem MRC-Prinzip sind einige problematische Ergebnisse zu Tage getreten. Die Effizienz einer Kooperation nach dem MRC-Prinzip ist für den einzelnen Kooperationsteilnehmer abhängig vom Größenverhältnis seines Kooperationsbeitrages zum Kooperationsbeitrag der anderen Kooperationsteilnehmer. Je kleiner der eigene Kooperationsbeitrag im Verhältnis zu den anderen Kooperationsbeiträgen ist, desto effizienter ist die Kooperation. Dieser Mechanismus führt unter Nutzenmaximierern unausweichlich zu einer Fragmentierung der Gesellschaft in Kooperationsteilgruppen, die in etwa gleich große Kooperationsbeiträge leisten. Diese Fragmentierung führt aber bezogen auf die Gesamtheit aller potenziellen Kooperationsteilnehmer zu nicht-paretooptimalen Resultaten. Zudem entspricht eine Moraltheorie, die von vornherein die Fragmentierung einer Gesellschaft bewirkt, nicht der Intention, die man mit der Einführung einer Moral in einer Gesellschaft verbindet. Alternative zum MRC-Prinzip. Als Alternative zum MRC-Prinzip habe ich das AKM-P1-Prinzip vorgeschlagen, das im Gegensatz zum MRC-Prinzip

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eine proportionale Verteilung des kooperativen Mehrwerts vorsieht. Dies ist formal gesehen eine nur geringfügige Modifikation des MRC-Prinzips, aber die Unterschiede in den Verteilergebnissen sind bedeutend. Es wurde gezeigt, dass die angesprochenen Probleme des MRC-Prinzips mit dem AKM-P1Prinzip vermieden werden können, indem die Anforderung der Egalität aus dem Verhandlungsergebnis genommen wird. Es war zwar gerade die Intention Gauthiers, mit der Egalität im Verteilungsergebnis den Anforderungen der Unparteilichkeit und Gerechtigkeit traditioneller Moraltheorien zu entsprechen; aber wie schon gezeigt wurde, ist es nicht plausibel, Egalität als einen notwendigen Bestandteil von Gerechtigkeit oder Unparteilichkeit anzunehmen.335 Dies trifft im verstärkten Maße auf eine rational fundierte Moraltheorie zu, wie sie Gauthier anstrebt. Daher ist der Wegfall egalitärer Elemente durch die Einführung des AKM-P1-Prinzip anstelle des MRCPrinzips kein Verlust auf dem Weg zu einer rationalen Moraltheorie. Neuer Rationalitätsbegriff. Um seine Konzeption des MRC-Prinzips und die damit verbundene Idee der eingeschränkten Nutzenmaximierung verteidigen zu können, scheut Gauthier nicht davor zurück, einen neuen Rationalitätsbegriff einzuführen. Dieser neue Rationalitätsbegriff setzt anstelle der Maximierung die Optimierung und ist von vornherein auf soziale Interaktionen ausgerichtet. Eigentlich könnte dieser Befund allein schon völlig ausreichend sein, das Vorhaben Gauthiers, eine Moral als Teil der RCT zu konzipieren, als gescheitert anzusehen. Diesem schnellen Urteil versucht Gauthier dadurch zu entgehen, dass er seinen neuen Rationalitätsbegriff nicht als Bruch mit dem ursprünglichen Rationalitätsbegriff darstellt, sondern als konsequente Weiterentwicklung desselben für Entscheidungssituationen im Kontext von Kooperationsvereinbarungen. Die Analyse des neuen Rationalitätsbegriffes von Gauthier offenbart, dass er den Schritt der Einführung eines neuen Rationalitätsbegriffes und die damit verbundenen Probleme hätte vermeiden können, wenn er den begrifflichen Unterschied zwischen einem Entscheidungsprinzip und einer Rationalitätskonzeption berücksichtigt hätte. Allerdings hätte er ohne diesen neuen Rationalitätsbegriff nicht die für seine Argumentation notwendige 335

Siehe S. 42.

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Konzeption des eingeschränkten Nutzenmaximierers herleiten können. Ohne diese Konzeption könnte man nie sicher sein, dass die Kooperationspartner nicht defektieren, womit eine Teilnahme an einer Kooperation niemals rational wäre. Die Annahme der Gleichheit der Rationalität. Die Einführung einer neuen Rationalitätskonzeption ist für Gauthier noch nicht ausreichend, um das Ziel seiner Argumentation zu erreichen. Zusätzlich macht er noch die Annahme GR. Diese Annahme erlaubt es jedem Akteur, das Entscheidungsverhalten aller anderen Interaktionsteilnehmer vorherzusagen, indem er davon ausgehen kann, dass sie sich genauso entscheiden werden wie er sich an ihrer Stelle entscheiden würde. Wenn dies tatsächlich so funktioniert, dann ist das eine Universalisierung des eigenen Entscheidungsverhaltens oder, anders ausgedrückt, alle Interaktionsteilnehmer haben dasselbe Entscheidungsverhalten. Abgesehen davon, dass bei einer Universalisierung in dieser Form individuelle Unterschiede zwischen den Interaktionsteilnehmern von vornherein ausgeblendet werden, ist eine Universalisierung eines Standpunktes nur dann sinnvoll, wenn dieser Standpunkt klar beschrieben werden kann. Wie sich aber gezeigt hat, kann kein Interaktionsteilnehmer ohne das vorherige Wissen über die Entscheidungen der anderen Teilnehmer selbst eine Entscheidung treffen. Die Entscheidungen sind wechselseitig voneinander abhängig. Die Universalisierung des eigenen Standpunktes ist in diesem Fall die Universalisierung eines Entscheidungsproblems und nicht die einer Lösung. Die Annahme GR könnte nur auf einer Meta-Ebene der Entscheidungsfindung von Relevanz sein. Um diese Funktion auszunutzen, müssten die Teilnehmer einen übergeordneten Standpunkt einnehmen, was der Einnahme eines unparteiischen Standpunktes entspricht. Ein solcher Schritt hat aber in der Argumentation Gauthiers vom Ansatz her keinen Platz. Die begriffliche Analyse der Annahme GR hat zu dem Ergebnis geführt, das der darin enthaltene Begriff der Gleichheit im Kontext der Argumentation Gauthiers weder quantitativ noch qualitativ gedeutet werden kann. Dem Begriff kann hier kein plausibler Inhalt zugeschrieben werden. Es bleibt unklar, worin der Unterschied zwischen der Aussage „alle Teilnehmer sind gleich rational" und „alle Teilnehmer sind rational" besteht. Das Problematische an diesem Befund für Gauthiers Theorie ist, dass er aus dem Begriff der Gleichheit im Rahmen der

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Annahme GR ganz gewichtige quantitative Schlüsse zieht, die zur Egalität des Verhandlungsergebnisses maßgeblich beitragen. Angesichts dieser begrifflichen Unklarheit verlieren diese Schlüsse die ihnen zugedachte argumentative Wirkung. Zwischenbilanz. Lassen wir einmal die bis hierher vorgebrachte Kritik an der Theorie Gauthiers beiseite, so hat die Analyse auch die von ihm selbst gezogenen Grenzen seiner Theorie deutlich gemacht. Was Gauthier maximal mit seiner Theorie bis hierher gezeigt hat, ist, dass es rational sein, kann moralisch zu handeln oder sogar moralisch zu sein; aber es kann genauso gut sein, dass es besser ist, nicht moralisch zu handeln oder zu sein. Welche der beiden Möglichkeiten zutrifft, hängt von empirischen Randbedingungen und dem Vorhandensein moralisch ausgerichteter intrinsischer Motivationen bei den Teilnehmern ab. Unter Bedingungen weitgehender Gleichheit der Güterausstattung der Teilnehmer und der Möglichkeit zur effizienten Kooperation ist die Rationalität moralischen Handelns wahrscheinlicher als unter Bedingungen von starker Ungleichheit oder dem Fehlen von effizienten Kooperationsmöglichkeiten. Dies gibt der Moraltheorie Gauthiers eine nur eingeschränkte Perspektive der möglichen Anwendbarkeit. Dort, wo man es z. B. mit drastischer sozialer Ungerechtigkeit in einer Gesellschaft zu tun hat, wird es schwer sein, auf dem Wege rationaler Argumentation die Wohlhabenden von der Einführung einer Moral nach MbA zu überzeugen. Schon mehr Chancen hat eine solche Theorie in Teilgruppen einer Gesellschaft, in denen die Unterschiede zwischen den Mitgliedern der Gruppe nicht so gravierend sind. Damit hat Gauthiers Theorie von vornherein die Perspektive einer partikularistischen Moral.

IV. Gleichheit im Proviso Bisher haben wir zwei der drei Phasen einer kontraktualistischen Moraltheorie betrachtet: den Verhandlungsprozess und das Verhandlungsergebnis. Nur am Rande sind wir auf die erste Phase des Ausgangszustandes einer Verhandlung eingegangen. Der Naturzustand als Ausgangszustand liefert den Input für die Verhandlung. Deshalb ist er neben den Verhandlungsprinzipien der entscheidende Faktor für das Verhandlungsergebnis. Das MRC-Prinzip liefert nach Gauthiers Meinung ein sowohl rationales als auch unparteiliches Verhandlungsergebnis. Allerdings trifft dies nur unter dem Vorbehalt zu, dass die Ausgangsbedingungen der Verhandlung ebenfalls unparteiisch sind. Diese wird man aber in einem moralfreien Naturzustand kaum antreffen. Deshalb müssen die kooperationswilligen Akteure, wenn sie sich nach dem MRCPrinzip einigen wollen, einige Änderungen des Naturzustandes akzeptieren, die sie in einen unparteiischen Zustand bringen. Diese Moralisierung des Naturzustandes wird bei Gauthier im Proviso festgehalten. Neben dem Mangel an Unparteilichkeit stellt der Naturzustand eine Verhandlung und auch Marktinteraktionen vor ein weiteres Problem. Bei Abwesenheit von Rechten, insbesondere Eigentums- und Personenrechten, ist ein geordneter Güteraustausch nicht möglich. Auch dieser Mangel soll bei Gauthier im Rahmen des Provisos behoben werden. Im Naturzustand haben sich die Individuen nicht aufgrund von Rechten, sondern aufgrund von Macht Zugriffsmöglichkeiten auf bestimmte Güter verschafft. Nun könnte man meinen, dass in einer Verhandlungssituation, die im Naturzustand stattfindet, die Güterverteilung aufgrund der Machtverhältnisse und dem entsprechenden freien Spiel der Kräfte als Ausgangsbasis angenommen werden muss, da Rechte als Zuteilungskriterien hier ausfallen. Dieser Meinung widerspricht Gauthier und bringt an dieser Stelle das Proviso ins Spiel. Gauthier vertritt die Meinung, dass es für keinen Verhandlungsteilnehmer rational wäre, eine auf den Machtverhältnissen im Naturzustand basierende Güterverteilung als Ausgangsbasis für ein Verhandlungsverfahren zu akzeptieren. Vielmehr ist es seiner Ansicht nach aus Sicht aller Teilnehmer rational, das freie Spiel der Kräfte und damit ihr eigenes Handeln im Naturzu-

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stand bestimmten Einschränkungen zu unterwerfen, wenn die Ergebnisse dieser Interaktionen als Ausgangsbasis für eine Verhandlung über eine Kooperationsvereinbarung dienen sollen. Diese Einschränkungen betreffen Handlungen, durch die sich ein Individuum auf Kosten eines anderen Individuums Vorteile verschafft, also schädigende Handlungen. Die Anwendung dieser Einschränkungen kann man sich im Fall einer konkreten Verhandlung auf zwei Weisen vorstellen. Im ersten Fall erkennen die Individuen im Naturzustand, dass sie ihre Situation durch eine Kooperation verbessern könnten. Daraufhin unterwerfen sie ihr Handeln freiwillig bestimmten Einschränkungen, weil ihnen als rationalen Akteuren klar ist, dass es nur dann zu einer Kooperation kommen kann. Bestimmte schädigende Handlungen finden im Vorfeld einer Kooperation gar nicht erst statt. Im zweiten Fall haben im Naturzustand die schädigenden Interaktionen schon stattgefunden und die Individuen wollen dennoch eine Vereinbarung über eine Kooperation aushandeln. Hier werden dann die Ergebnisse dieser schädigenden Interaktionen wieder rückgängig gemacht. Das heißt, bei der Festlegung der Güterverteilung in der Ausgangssituation der Verhandlung werden die Güter, die sich ein Individuum auf Kosten eines anderen Individuums angeeignet hat, wieder ihrem ursprünglichen „Eigentümer@ zugeteilt. Die Festlegung, welche Interaktionen im Naturzustand(, der die Anfangsbedingungen für eine Verhandlung angeben soll,) zulässig sind, bezeichnet Gauthier in Anlehnung an Locke als Proviso (engl: Vorbehalt, Bedingung, Klausel im juristischen Sinne). Durch die Einführung des Provisos soll der Naturzustand so modifiziert werden, dass in ihm eine Kooperation zwischen rationalen Individuen entstehen kann. Im Rahmen der kritischen Analyse ist im Hinblick auf die Egalität in der Theorie Gauthiers dem Proviso besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Denn die aufgrund des Provisos vorgenommenen Korrekturen ermöglichen die Egalisierung der Ausgangssituation der Verhandlung und damit indirekt auch die des Verhandlungsergebnisses. Diese Möglichkeit der Egalisierung soll jedoch nach Gauthiers Vorsatz im Proviso keine Rolle spielen, wie das nachfolgende Zitat unmissverständlich zu erkennen gibt. „For, it will be urged, the proviso says nothing about equalizing. Or, it will be also urged, the proviso says nothing about meeting needs. The rich man may feast on caviar and champagne, while

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the poor woman starves at his gate. And she may not even take the crumbs from his table, if that would deprive him of his pleasure in feeding them to his birds.“ 336 Er führt demnach das Proviso nicht mit der Absicht ein, dadurch einen Zustand der Egalität herzustellen, sondern einen bestimmten Typ von Interaktionen bzw. deren Ergebnisse aus dem Ausgangszustand der Verhandlung zu eliminieren. Trotzdem kann die Anwendung des Provisos, wenn auch nicht zu einer vollständigen Egalität, so doch zumindest zu einer starken Egalisierung der Ausgangssituation und des daraus resultierenden Verhandlungsergebnisses führen. In Anbetracht dessen, dass Gauthier im Rahmen des ProvisoKapitels in MbA grundlegende Rechte, wie Personen- und Eigentumsrechte, einführt, erscheint diese Vermutung auch durchaus berechtigt zu sein. Denn diese Rechte kommen auch bei Gauthier allen Individuen in gleicher Weise zu, womit Egalität auf einer ganz fundamentalen Ebene eingeführt wird. Im nachfolgenden Abschnitt wird zunächst der Inhalt des Provisos und die Funktion, die es in der Theorie Gauthiers erfüllen soll, erläutert. Daraus wird ersichtlich werden, dass in dieser Konzeption die für die Begründung der Moral wesentlichen Elemente eingeführt werden. In den weiteren Abschnitten wird das Proviso, seine Annahmen, seine Rechtfertigung und seine Konsequenzen kritisch untersucht.

A. Inhalt des Provisos und seine argumentative Stellung in der Theorie Gauthiers Inhalt des Provisos. Gauthier geht wie auch die meisten anderen Verhandlungstheorien von der Existenz von Rechten aus, die dann in der Verhandlung ausgetauscht und übertragen werden.337 Ein Szenario eines Hobbesschen Naturzustandes ist kein möglicher Ausgangspunkt für diese Verhandlungs336 337

MbA, 218.

Ebda, 141: „Thus each bargainer has an entitlement to his utility in the initial bargaining position which is not at stake in the bargaining process.” Gauthier gibt für die Existenz dieser Rechte im Zusammenhang mit dem Proviso noch eine Begründung an. Vgl. auch R. Sugden: „The contractarian enterprise“ (1993), 17 oder M. J. Holler und G. Illing: Einführung in die Spieltheorie (2003), 23.

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theorien. Im Kontext der Ökonomie existiert ein rechtlich abgesicherter Rahmen, in dem die Verhandlungen stattfinden und der darüber hinaus gegebenenfalls auch die Einhaltung der Verhandlungsergebnisse garantieren kann. Dies gilt insbesondere für die Verhandlungstheorien, die von axiomatischen Verhandlungsspielen ausgehen. Prinzipiell kann man sich Verhandlungen, deren Ziel eine Vereinbarung über kooperative Strategien ist, in Abwesenheit von Rechten nicht plausibel vorstellen. In einer Verhandlung muss ich dem Verhandlungspartner eine Verfügungsgewalt über Gegenstände oder Handlungen zugestehen, über die verhandelt wird, damit man überhaupt sinnvoll von einer Verhandlung sprechen kann. Verfügungsgewalt entsteht entweder dadurch, dass eine Person Macht über etwas hat oder über Rechte und eine diese Rechte etablierende Macht. Die erste Variante kommt für den Kontext von Verhandlungen nicht in Frage, denn in Verhandlungen geht es darum, sich wechselseitig Verfügungsgewalt über bestimmte Dinge zuzusprechen. Wenn eine Verfügungsgewalt an Macht gebunden ist, müsste die diese Verfügungsgewalt etablierende Macht an den Verhandlungspartner übertragen werden können. Dies ist in der Regel nicht möglich, da Macht oftmals eine untrennbar an die Person gebundene Fähigkeit ist. Oder die eine bestimmte Verfügungsgewalt etablierende Macht verfügt noch bei anderen Dinge, die nicht Verhandlungsgegenstand sind, über die Verfügungsgewalt. Genau diese fehlenden Eigenschaften der Macht kommen den Rechten zu. Im Naturzustand handeln die Individuen uneingeschränkt und ausschließlich nach dem Prinzip der einfachen Nutzenmaximierung. Wenn die Anwendung von Gewalt oder die Ausübung von Zwang der Weg zur Nutzenmaximierung ist, dann gibt es für sie keine Gründe, dieses Handeln einzuschränken oder zu unterlassen. Wenn die Individuen aber beabsichtigen, in Form einer Kooperation miteinander zu interagieren, dann müssen sie bei ihren Entscheidungen berücksichtigen, dass ihr Handeln und dessen Ergebnisse auch ihre Ausgangssituation für eine Verhandlung über Kooperation bestimmt. Nun könnte man meinen, dass diese zusätzliche Perspektive ihre Maxime der Nutzenmaximierung noch weiter untermauert, da das Individuum über den unmittelbaren Vorteil aus der nutzenmaximierenden Handlung hinaus noch eine Verbesserung der Ausgangssituation in der Verhandlung und damit auch einen größeren Anteil am kooperativen Mehrwert erlangen kann. Gauthier ist aber hier der Meinung, dass es für einige Individuen ein berech-

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tigter Grund sein kann, nicht an einer Kooperation teilzunehmen, wenn sie vor der Teilnahme von anderen potenziellen Kooperationsteilnehmern im Naturzustand geschädigt wurden, also dass jene sich auf ihre Kosten uneingeschränkt einfach nutzenmaximierend verhalten haben und dies jenen eine bessere Ausgangssituation in der Verhandlung verschafft hat. Das würde heißen, dass die Individuen damit rechnen müssen, dass ein uneingeschränkt einfach nutzenmaximierendes Verhalten ihrerseits dazu führen kann, dass eine für sie vorteilhafte Kooperation nicht zu Stande kommt. Hier hätte ihr einfach nutzenmaximierendes Handeln den Nachteil, dass sie auf mögliche Vorteile verzichten müssten. Diese Aussicht könnte für sie ein Grund sein, ihre Handlungen im Naturzustand gewissen Beschränkungen zu unterwerfen und nicht mehr in jedem Fall die einfach nutzenmaximierende Handlung wählen. Wie diese Einschränkungen auszusehen haben, entwickelt Gauthier in Anlehnung an Locke im Kapitel VII von MbA. Dort gibt er die folgende Definition des Provisos: „We interpret the Lockean proviso so that it prohibits worsening the situation of another person, except to avoid worsening one's own through interaction with that person. Or, we may conveniently say, the proviso prohibits bettering one's situation through interaction that worsens the situation of another. This, we claim, expresses the underlying idea of not taking advantage.“ 338 Diese Einschränkung des Handelns im Naturzustand fungiert als Korrekturmechanismus, der die Ergebnisse des Handelns im Naturzustand ex post in der Weise modifiziert, dass es für alle Individuen rational ist, an der Kooperation teilzunehmen. Eine für den moralischen Gehalt der Theorie ganz wesentliche Konsequenz der Einführung des Provisos ist die Existenz von Rechten. Rechte kommen im Proviso durch Handlungsbeschränkungen zu Stande. Diese Beschränkungen werden mit dem Proviso eingeführt, um das Ergebnis von Interaktionen im Kontext von Kooperationen für alle Teilnehmer zu verbessern. Die Begründung dieser Handlungsbeschränkungen beruht also auf einem wechselseitigen Vorteil aller Teilnehmer, der dadurch zu Stande kommt, dass sie durch diese Handlungsbeschränkungen realisierbare Handlungsoptionen 338

MbA, 205.

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eröffnet bekommen, die ihnen ohne die Beschränkungen verschlossen bleiben würden. „Exclusive rights of possession may afford benefits to all, because they give individuals the security needed for it to be profitable to themselves to use the resources available to human beings in more efficient and productive ways. They transform a system in which each labours on a commons to meet her own needs into a system in which each labours on her own property and everyone=s needs are met through market exchange. Individual self-sufficiency gives way to role specialization. The division of labour opens up new ways of life, with opportunities and satisfactions previously unimagined. Thus the mutually beneficial nature of exclusive rights of possession provides a sufficient basis for their emergence from the condition of common use which is the final form of the state of nature. These rights depend on the proviso, which allows individual appropriation and forbids subsequent interference.“ 339 Diese Argumentation soll zeigen, dass Handlungseinschränkungen nach dem Proviso gerechtfertigt sind, da sie zum wechselseitigen Vorteil sind. Eine Frage bleibt jedoch offen: Wie gelangt man von wechselseitig vorteilhaften Handlungseinschränkungen zu Rechten? Der Aspekt der Verpflichtung bzw. des Berechtigtseins ist in dieser Argumentation nicht enthalten. Gauthier hat lediglich gezeigt, dass es rational ist, die Handlungseinschränkungen des Provisos zu befolgen, nicht aber, dass man die Verpflichtung hat, sie zu befolgen. Ein Manko der Argumentation Gauthiers ist, dass er keine Definition oder Erklärung des Rechtsbegriffes liefert, die einen Übergang von wechselseitig vorteilhaften Handlungseinschränkungen zu Rechten plausibler machen könnte. Man benötigt noch eine Übersetzung aus der Terminologie der RCT in die Sprache der Moral. Gauthier liefert nur eine inhaltliche Präzisierung der zentralen Intuition des von ihm angenommenen Rechtsbegriffes. „Thus the proviso, in prohibiting each from bettering his situation by worsening that of others, but otherwise leaving each free to do 339

Ebda, 216f.

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as he pleases, not only confirms each in the use of his own powers, but in denying to others the use of those powers, affords to each the exclusive use of his own. The proviso thus converts the unlimited liberties of Hobbesian nature into exclusive rights and duties. Each person has an exclusive right to the exercise of his own powers without hindrance of others, and a duty to refrain from the use of others= powers insofar as this would hinder their exercise by those with direct access to them... We suppose that each person identifies with these capacities, physical and mental, to which he has direct access, and we see that this identification affords each person a normative sense of self, expressed in his right to those capacities. By appealing to the proviso we show that this identification is not arbitrary, but rather fully justified by the (yet to be shown) rationality and impartiality of the proviso.“ 340 Die Kern-Rechte jeder Person sind ganz eng an ihre eigene Physis und Psyche gebunden. Von diesen Kern-Rechten können dann Rechte auf der Person nicht unmittelbar zugängliche Dinge abgeleitet werden. Gauthier begründet die Einführung von Rechten primär im Rekurs auf die Rationalität des Provisos. Zusätzlich gibt er noch eine psychologische Genese von Rechten an. Danach resultieren Rechte aus dem Selbstverständnis einer Person, die sich mit ihren mentalen und physischen Fähigkeiten identifiziert. Diese Identifikation soll sogar ein normatives Selbstverständnis generieren. Wodurch bei dieser Identifikation die Normativität und die aus ihr resultierenden Rechte entstehen, bleibt völlig unklar. Für Gauthier scheint es hier einen in irgendeiner Weise offensichtlichen Zusammenhang zu geben, wenn er sagt „... and we see that this identification...“(s. letztes Zitat). Die von ihm hier unterstellte Selbstevidenz ist nicht nachvollziehbar. Diese inhaltliche Bestimmung des Rechtsbegriffs beantwortet nicht die Frage nach der Verbindung zwischen dem verpflichtenden Charakter von Rechten und dem wechselseitigen Vorteil durch Handlungsbeschränkungen. Damit liefert Gauthier moralisch gesehen einen ohnmächtigen Rechtsbegriff, nämlich einen ohne eine begründete Verpflichtung. 340

Ebda, 209f.

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Die Einführung von Rechten, hier insbesondere das Recht auf Eigentum und das Recht auf körperliche Unversehrtheit, ist aber nicht eine notwendige Bedingung, die für die von Gauthier intendierte Anwendung des Provisos spezifisch ist, sondern sie ist eine Voraussetzung für jedes Verhandeln.341 Die Ausstattung mit Eigentum und Fähigkeiten gehört zur Definition eines Verhandlungspartners. Über das, was jeder an den Verhandlungstisch mitbringt, muss er ein Verfügungsrecht besitzen, ansonsten ist keine Verhandlung möglich. Wenn es keinen Begriff des Eigentums oder auch des Anspruchs auf die eigenen Fähigkeiten gibt, dann kann man nicht feststellen, was jeder in eine Kooperation einbringt; es wäre auch unklar, was die Verteilung des Kooperationsertrages unter den Teilnehmern für Folgen hätte, wenn ihr Anteil nicht als ihr Eigentum bezeichnet werden kann. Dies trifft insbesondere auf die schwächeren Kooperationsteilnehmer zu. Nur wenn sie sich sicher sein können, dass ihnen ihr Anteil am Kooperationsertrag nicht wieder von den mächtigeren Kooperationsteilnehmern weggenommen wird, dann kann auch für sie eine Teilnahme an der Kooperation rational sein. Der zweite wesentliche Punkt neben der Einführung von Rechten, der mit der Einführung des Provisos verbunden ist, ist der Ausschluss von Zwang aus den Anfangsbedingungen der Verhandlung. Zwang muss man bei einer Handlung nur dann anwenden, wenn die von der Handlung betroffene Person sich dieser Handlung widersetzt. Der Grund für den Widerstand ist, dass die Handlung für diese Person einen Nachteil bedeutet, sie also durch diese Handlung geschädigt wird. Wenn aber durch das Proviso die Schädigung anderer im Naturzustand ausgeschlossen ist, dann gibt es keinen Grund, sich Handlungen anderer zu widersetzten, und es kann dort auch keinen Zwang mehr geben. Die Existenz von Zwang ist für Gauthier daher ein sicheres Indiz für die Existenz von schädigenden Handlungen. Rationalität des Provisos. Die Anwendung des Provisos bedeutet eine Korrektur der Anfangsbedingungen der Verhandlung. Diese Korrektur besteht in einer Umverteilung der Güter in der Ausgangssituation der Verhandlung. Dabei werden die Güter umverteilt, die sich ein Individuum im Naturzustand auf Kosten eines anderen angeeignet hat und den anderen somit geschädigt 341

R. Sugden: „The contractarian enterprise“ (1993), 17.

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hat. Ein solcher mit Schädigung verbundener Gütertransfer ist für Gauthier ein unproduktiver Transfer. Als unproduktiven Transfer bezeichnet er eine Interaktion, bei der Güter weder produziert noch ausgetauscht werden, sondern nur zwischen den Teilnehmern umverteilt werden.342 Es ist also ein einseitiger Transfer, bei dem die eine Person nur Vorteile und die andere nur Nachteile hat. Gauthier will die durch unproduktive Gütertransfers verlagerten Kosten aus der Ausgangssituation der Verhandlung deshalb eliminieren, weil ansonsten eine aus dieser Verhandlung resultierende Kooperation diese Umverteilung der Kosten fortführen würde. Einer derartigen Kooperation würden aber seiner Meinung nach nicht alle Teilnehmer freiwillig zustimmen.343 Diese verlagerten Kosten eliminiert er dadurch, dass er durch die Anwendung des Provisos die Auswirkungen der unproduktiven Transfers wieder rückgängig macht. Die Umkehrung eines unproduktiven Transfers ist ebenfalls ein unproduktiver Transfer, der somit ebenfalls für einen Teil der Personen nur Vorteile und für einen anderen nur Nachteile hat. Da diese erneute Umverteilung von allen Teilnehmern freiwillig akzeptiert werden soll, muss man den bei diesem zweiten Gütertransfer zunächst benachteiligten Teilnehmern hinreichende Gründe angeben, weshalb sie freiwillig auf einen Teil ihrer Güter zugunsten anderer Teilnehmer verzichten sollen. Die Begründung, die Gauthier diesen durch das Proviso benachteiligten Teilnehmern gibt, besteht im Verweis auf die Vorteile einer nachfolgenden Kooperation, die die Nachteile des Gütertransfers im Proviso überwiegen sollen. Gauthier hebt hervor, dass es ohne die Aussicht auf eine Kooperation oder einen Markt keine für alle Teilnehmer überzeugenden Gründe gibt, das Proviso zu akzeptieren. Das Proviso ist der Preis, den einige Teilnehmer für ihren Anteil am kooperativen Mehrwert zahlen müssen. Einführung von Moralität durch das Proviso. Durch die Anwendung des Provisos werden wesentliche Elemente der Moral in die Ausgangssituation der Verhandlung eingeführt. Außer den schon erwähnten Rechten wird die 342

MbA, 197: „An unproductive transfer brings no new goods into being and involves no exchange of existing goods; it simply redistributes some existing goods form one person to another. Thus it involves a utility cost for which no benefit is received, and a utility gain for which no service is provided.” 343

Ebda, 225.

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Unparteilichkeit bei der Beurteilung von Handlungen eingeführt, indem die Handlungen vom Standpunkt aller beteiligten Individuen aus beurteilt werden. Wenn entschieden werden muss, welche Handlungen im Naturzustand unproduktive Transfers waren, dann kann das nur von einem übergeordneten Standpunkt aus geschehen, von dem aus die Vor- und Nachteile, die durch eine Handlung entstanden sind, beurteilt werden können. Da das Proviso nicht ein Ergebnis der Verhandlung ist, sondern dessen Voraussetzungen enthält, lassen sich die Inhalte des Provisos nicht durch die Prinzipien der Verhandlung begründen. Auf diese argumentative Stellung des Provisos ist besonders zu achten, denn damit weicht die Theorie Gauthiers von anderen kontraktualistischen Konzeptionen ab, die die Moral als ein Ergebnis von rationalen (Kooperations-) Verhandlungen verstehen. Das folgende Zitat zeigt, wie Gauthier die Moral im Verhältnis zur Vereinbarung einordnet: Sie ist zugleich Ergebnis und Voraussetzung der Vereinbarung: „Furthermore, no independent moral function of political or social institutions is justifiable; morality is in part the product of agreement among the members of society, in part the condition of their agreement.“ 344 Die Moralität im Ergebnis der Vereinbarung, die Gauthier hier anspricht, resultiert nicht aus der Anwendung des Provisos, sondern aus dem MRCPrinzip der Verhandlung. Dieses Prinzip ist unparteilich und daher sind die durch dieses Prinzip zu Stande gekommenen Vereinbarungen unparteilich und damit auch moralisch. Das Proviso soll nicht dem Ergebnis der Verhandlung Moralität verleihen, sondern es soll die Teilnahme an der Kooperation und die Einhaltung der Vereinbarung rational machen. Der Anlass für die Einführung des Provisos besteht also nicht darin, einen Mangel an Moralität zu beheben, sondern einen Mangel an Rationalität. Erst durch die Einführung des Provisos können alle rationalen Personen zustimmen und so indirekt in den Genuss des kooperativen Mehrwerts kommen. Dass das Proviso die zentralen Elemente 344

D. Gauthier: „Justified Inequality“ (1982), 439. Eine ähnliche Konstruktion findet man auch bei Buchanan in Liberty, Market and State (1986), 123: „I was concerned to show that such a distribution of rights and claims is necessarily prior to the simple as well as the complex exchanges that a market economic process embodies, the process which, finally, determines a distribution of end-items or product values, final goods and services, upon which attention tends to be directed when we talk loosely about 'distribution'.”

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der traditionellen Moral enthält, ist aus dieser Perspektive der Argumentation Zufall. Diese Argumentation gibt eine unerwartete Antwort auf die Frage, warum es Moral gibt. Die Antwort, die wir von einer rationalen Theorie der Moral erwarten würden, wäre: Moral gibt es, weil es rational ist, moralisch zu handeln bzw. zu sein. Die Antwort Gauthiers lautet: Moral gibt es, um rationales Handeln zu ermöglichen. Moral ist hier Voraussetzung oder Epiphänomen des rationalen Handelns. Fundamentale Egalität. Wenn man Unparteilichkeit als das Proprium der Moral ansieht, dann kann man eine Moralisierung des Naturzustandes durch eine Egalisierung der Eigenschaften der Individuen erreichen. Unparteilichkeit und Egalität sind durch die ausgleichende Funktion der Unparteilichkeit über die gleiche Gewichtung der Interessen der Mitglieder der Gesellschaft miteinander gekoppelt. Diese Funktion kommt in Konstellationen zur Geltung, in denen es konfligierende Interessen und heterogene Machtverhältnisse in einer Gesellschaft gibt. Sobald einer der beiden oder gar beide Faktoren in einer Gesellschaft nicht vorliegen, bedarf es keiner Anwendung von unparteilichen Prinzipien, da deren Einsatz zu keinem anderen Ergebnis führen würde, als man es auch ohne deren Einsatz erreichen würde. Eine Egalisierung des Naturzustandes bezüglich einer der beiden oder beider genannter Faktoren verschiebt diesen Zustand näher an den Zustand einer moralischen Gemeinschaft, wie er durch den Einsatz unparteilicher Prozesse hervorgebracht werden würde. In diesem Sinne kann man sagen: Eine Egalisierung einer Gesellschaftssituation per Definition bezüglich der Machtverhältnisse oder der Interessen entspricht einer Moralisierung dieser Situation. Und deshalb wenden wir uns jetzt der Egalität im Naturzustand zu. Die Personen, die bei Gauthier am Verhandlungsprozess teilnehmen, sind nicht artifiziell auf irgendwelche Aspekte reduziert, wie dies z. B. bei Rawls der Fall ist345, sondern werden ganz bewusst mit ihrer ganzen Vielfalt und Verschiedenartigkeit in den Verhandlungsprozess einbezogen. „The demand that moral theory be part of the theory of rational choice keeps the individual not simply as a free and equal moral person, but in all the richness of her talents and interests, her ca345

J. Rawls: A Theory of Justice (1972), 139.

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pacities and concerns, her distinctness from her fellows, as the focal point of morality.“ 346 Gauthier gesteht den Individuen hinsichtlich ihrer Präferenzen und Fähigkeiten grundsätzlich einen beliebigen Spielraum zu; daher kann seine Theorie auch auf beliebige Personen angewandt werden. Die starke Berücksichtigung der Individualität sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Konstruktion der Theorie Gauthiers nicht durch die möglichen Unterschiede und die Individualität der Teilnehmer bestimmt wird, sondern durch deren Gemeinsamkeiten. Dort werden die Individuen nur als Gleiche berücksichtigt: als Kooperationsteilnehmer und als gleich rationale Individuen. Hier kommt die Intuition einer fundamentalen Egalität zum Zuge. „Only beings whose physical and mental capacities are either roughly equal or mutually complementary can expect to find cooperation beneficial to all. .... Among unequals, one party may benefit most by coercing the other, and on our theory would have no reason to refrain. We may condemn all coercive relationships, but only within the context of mutual benefit can our condemnation appeal to a rationally grounded morality.“ 347 Diese fundamentale Egalität ist eine notwendige Bedingung, wenn Gauthier mit seiner Theorie einen universalen und nicht nur einen partikularen Anspruch vertreten will. Individualität und Egalität können nicht zugleich Kernbereiche einer Moraltheorie besetzen. Gauthiers Position zur Egalität steht in der Mitte zwischen der von Buchanan auf der einen und Rawls auf der anderen Seite. Im Gegensatz zu Gauthier führt Buchanan den Anspruch, dass die Teilnehmer an der Verhand346 347

D. Gauthier: „The Incomplete Egoist“ (1990), 273.

MbA, 17. Mit seiner Intuition einer fundamentalen Egalität steht Gauthier in der Tradition des Vaters des modernen Kontraktualismus. Th. Hobbes: Leviathan (1651), 86f.: „Nature hath made men so equal, in the faculties of body, and mind; as that though there bee found one man sometimes manifestly stronger in body, or of quicker mind then another, yet when all is reckoned together, the difference between man, and man, is not so considerable, as that one man can thereupon claim to himself any benefit, to which another may not pretend, as well as he. For as to the strength of body, the weakest has strength enough to kill the strongest, either by secret machination, or by confederacy with others, that are in the same danger with himself.”

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lung mit ihrer ganzen Individualität in diese Verhandlung einbezogen werden sollen, auch konsequent zu Ende. Er sieht weder einen überzeugenden Grund, weshalb man die Verhandlungsteilnehmer in relevanter Hinsicht als Gleiche in diesem Verhandlungsprozess ansehen soll, noch kann man seiner Meinung nach berechtigte Erwartungen haben, dass die Verteilung von Rechten oder Gütern durch die Verhandlung egalitär sein wird.348 Auf der anderen Seite grenzt sich Gauthier deutlich von dem demokratischen Gleichheitsbegriff von Rawls ab.349 So weit wie dieser geht Gauthier mit der Idee der Egalität dann doch nicht. Die demokratische Gleichheit bei Rawls unterscheidet sich von der liberalen Gleichheit dadurch, dass sie bei Verteilungen die natürliche Ausstattung der Beteiligten in gleicher Weise als moralisch irrelevante Koinzidenzen betrachtet wie historisch oder sozial bedingte Eigenschaften der Individuen. Dies bezieht er auch auf die Präferenzen der Individuen.350 Gauthier widerspricht der Konzeption der demokratischen Gleichheit von Rawls, indem er zeigt, dass diese Konzeption mit der von Rawls beanspruchten kontraktualistischen Grundposition im Widerspruch steht. So nimmt Gauthiers Haltung zur fundamentalen Egalität im Lager der Kontraktualisten eine Mittelstellung zwischen Buchanan und Rawls ein. Das Proviso als Mittel zu einer egalitären Vereinbarung. Die Anwendung des Provisos führt nicht zwangsläufig zu einer egalitären Güterverteilung. Dieser Fall tritt nur dann ein, wenn nach Eliminierung aller unproduktiven Transfers zufällig eine egalitäre Güterverteilung zu Stande kommt. Diese Egalität der Güterverteilung wäre nicht auf das Proviso zurückzuführen, sondern auf eine egalitäre Ausgangssituation in einem zu Beginn des Naturzustandes zu lokalisierenden Urzustand. Diese Egalität könnte darauf 348

J. M. Buchanan: The Limits of Liberty (1975), 26.

349

D. Gauthier: „Justice and Natural Endowment“ (1990), 154.

350

J. Rawls: A Theory of Justice (1972), 304: „No attempt is made to define the just distribution of goods and services on the basis of information about the preferences and claims of particular individuals. This sort of knowledge is regarded as irrelevant form a suitably general point of view; and in any case, it introduces complexities that cannot be handled by principles of tolerable simplicity to which men might reasonably be expected to agree.”

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beruhen, dass ursprünglich alle Personen die Fähigkeit zur Aneignung und Produktion von Gütern im gleichen Ausmaß hatten. Sind diese Fähigkeiten aber im Urzustand nicht gleich verteilt, so wird auch die Anwendung des Provisos nicht zu einer Gleichverteilung führen. Gauthier ordnet die Gleichheit der Unparteilichkeit unter. Nur wenn Ungleichheit aus einer Parteilichkeit resultiert, ist sie verboten. „The proviso ensures that at every stage in interaction, each person is left as much as she could expect from the previous stage. Advantage is thus not taken, but equality is not assured. We must show, then, that the inequality allowed by the proviso is no indication of partiality.“ 351 Gauthier grenzt sich damit explizit von der Position von Rawls ab, der den Zustand der Gleichheit in jeglicher Hinsicht zur Voraussetzung einer Kooperationsverhandlung macht, indem er auch naturgegebene und durch die individuelle Biographie bedingte Ungleichheiten durch eine Vereinbarung nivellieren will.352 Gauthier sieht in einer grundsätzlichen Forderung nach egalitären Ausgangsbedingungen die Möglichkeit des Trittbrettfahrens. Denn im Gegensatz zu Rawls sieht er die natürlichen Talente nicht als Gemeingut an. Würden sie dennoch so behandelt, indem man den weniger talentierten Individuen einen Anspruch auf einen Teil der Güter der mehr talentierten Individuen zusprechen würde, so würden die ersteren einen Vorteil auf Kosten der letzteren haben. Starke Vertragstreue als Bedingung für die Stabilität der Vereinbarung. Im Kontext der Verhandlung hat Gauthier die Konzeption der starken Vertragstreue entwickelt und dafür argumentiert, dass es rational ist, diese Disposition auszubilden.353 Die Disposition der starken Vertragstreue führt Verhandlungsteilnehmer dazu, dass sie nur Vereinbarungen zustimmen, deren Ergebnisse optimal und fair sind. Wenn nun die Fairness einer Vereinbarung nicht nur vom Verhandlungsverfahren, sondern auch von den Ausgangsbe351

MbA, 217.

352

Ebda, 220. J. Rawls: A Theory of Justice (1972), 101f. J. Rawls: Political Liberalism (1993), 271. 353

MbA, 229f.

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dingungen der Verhandlung abhängig ist, dann ist es nur konsequent, dass diese Disposition der starken Vertragstreue auch bei der Festlegung der Ausgangsbedingungen zum Zuge kommt. Angewandt auf die Festlegung der Ausgangsbedingungen führt die Disposition der starken Vertragstreue dazu, dass rationalerweise nur solche Ausgangsbedingungen akzeptiert werden, die zu fairen und optimalen Ergebnissen führen. Dieser Konzeption der starken Vertragstreue stellt Gauthier im Proviso-Kapitel die Disposition der acquiescence (willige Fügung) gegenüber.354 Die acquiescence zeichnet sich dadurch aus, dass sie jede gemeinsame Strategie akzeptiert, die ausgehend vom Naturzustand irgendeinen Vorteil verspricht. Eine Person mit dieser Disposition stimmt also auch Vereinbarungen zu, die von einer unfairen Ausgangssituation ausgehen und bei denen sie schlechter gestellt ist als in einer fairen Vereinbarung. Sie ist sich aber bewusst, dass die anderen Teilnehmer durch ihr Zugeständnis einen Vorteil ihr gegenüber haben, und ist jederzeit bereit, eine für sie günstigere Strategie zu fordern, wenn dies möglich ist, ohne die Vereinbarung für die anderen Teilnehmer unprofitabel zu machen. Außerdem können Veränderungen des Naturzustandes bzw. des zu erwartenden nichtkooperativen Ergebnisses dazu führen, dass sie ihre Zustimmung verweigert. Solche Veränderungen können während einer Kooperation eintreten, wenn sich z. B. die Machtverhältnisse während einer Kooperation verändern. Diese veränderten Machtverhältnisse würden bei einer Neuverhandlung der Vereinbarung zu einem anderen Ergebnis führen, wenn man das nicht-kooperative Ergebnis zur Ausgangssituation der Verhandlung machen würde. Somit ist eine Vereinbarung, die unmittelbar vom Naturzustand ausgeht und der damit nur Teilnehmer mit der Disposition der acquiescence zustimmen können, nach Gauthiers Meinung von erheblicher Instabilität gekennzeichnet. Da es 354

Ebda, 230. Die Disposition der acquiescence entspricht der Disposition der schwachen Vertragstreue (broad compliance). Ebda, 225f.: „A person disposed to broad compliance compares the benefit she would expect from co-operation on whatever terms are offered with what she would expect from non-co-operation, and complies if the former is greater. Were persons so disposed, then no one would have reason to accept the proviso, or any other constraint, on natural interaction. The non-co-operative outcome would serve as basepoint, and any improvement on it would elicit voluntary co-operation. But broad compliance is not a rational disposition for utility-maximizers.”

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nicht für alle Personen rational sein kann, eine instabile Vereinbarung einzugehen, insbesondere wenn stabile Vereinbarungen möglich sind, müssen die Faktoren, die die Instabilität der Vereinbarung verursachen, eliminiert werden. Erst dann ist es für alle Personen rational, der Vereinbarung zuzustimmen, und es kann eine Vereinbarung zwischen den Personen zu Stande kommen. Die Instabilität beruht nach Gauthier auf der Unfairness der Ausgangssituation, die ihrerseits durch unproduktive Transfers im Naturzustand hervorgebracht wird. Die Disposition der starken Vertragstreue führt zum Ausschluss der unproduktiven Transfers aus der Ausgangssituation der Verhandlung. Dazu muss aber diese Disposition der starken Vertragstreue bei allen Teilnehmern ausgebildet sein. Denn wenn auch nur ein Teilnehmer die Disposition der acquiescence hat, so ist dies ein Faktor der Instabilität, der die ganze Vereinbarung in Frage stellen kann. Es reicht aus, dass ein Teilnehmer eine Erhöhung seines Anteils fordert, damit die gesamte Verteilung unter allen Teilnehmern neu verhandelt werden muss. Die Betonung dieser Verbindung zwischen starker Vertragstreue und Proviso ist für die Argumentation Gauthiers von entscheidender Bedeutung, denn ohne die starke Vertragstreue gibt es kein Proviso, ohne Proviso keine Eigentums- und Personenrechte und ohne Eigentums- und Personenrechte gibt es weder Markt noch Kooperation noch Moral.355 Der Nutzenmaximierer entscheidet sich nach Gauthier also dafür, die Disposition der starken Vertragstreue auszubilden und damit indirekt auch für die Akzeptanz des Provisos. „A person disposed to narrow compliance compares the benefit he would expect from co-operation with what he would expect from a fair and optimal outcome, and complies with a joint strategy only if the former approaches the latter. An outcome is fair in satisfying the standard of impartiality, which as we have shown are set by the proviso and the principle of minimax relative concession. ... The disposition to narrow compliance thus includes the disposition to accept the proviso as constraining natural interaction, in so far as one has the expectation of entering into society, into market and co-operative practices. The rationality of 355

Ebda, 227.

291

disposing oneself to narrow compliance, and so to acceptance of the proviso, follows from the advantageousness of society and the equal rationality of its members.“ 356 Aus dem letzten Satz geht hervor, dass die Akzeptanz des Provisos zwei Voraussetzungen beinhaltet, die einen empirischen Inhalt haben. Der Vorteil einer Gesellschaft als einer Kooperationsgemeinschaft ist zwar grundsätzlich nachvollziehbar, aber die Größe des Vorteils ist im Einzelfall von den empirischen Bedingungen abhängig. Dass die Größe dieses Vorteils für die Argumentation Gauthiers eine wichtige Rolle spielt, wird in der nachfolgenden Diskussion noch deutlich werden. Die zweite Annahme, dass alle Teilnehmer gleich rational sind, ist eine empirische Annahme, deren Berechtigung folglich nur durch den Blick auf die Empirie nachgewiesen werden kann. Auch dieser Punkt ist Gegenstand der nachfolgenden Diskussion. An dieser Stelle wird erkennbar, dass das Ziel der Moral in Gauthiers Theorie an einer entscheidenden Stelle von empirischen Annahmen abhängig ist.

B. Kritische Analyse des Provisos Gauthiers Argumentation für das Proviso stellt das Proviso als notwendige Bedingung für die Beteiligung am kooperativen Mehrwert dar. Wenn man an einer Kooperation teilnehmen möchte, um am kooperativen Mehrwert zu partizipieren, dann muss man auch bereit sein, gegebenenfalls den Preis des Provisos zu zahlen. An diese Argumentation werde ich folgende kritische Fragen stellen: 1. Ist das Proviso tatsächlich eine notwendige Bedingung für die Teilnahme an der Kooperation? Der Grund für die Einführung des Provisos bei Gauthier ist, dass es nicht für alle Teilnehmer rational ist, das Ergebnis von uneingeschränkt nutzenmaximierendem Handeln im Naturzustand als Ausgangsbasis für die Verhandlung zu akzeptieren. Es soll hier untersucht werden, ob diese Behauptung Gauthiers zutreffend ist und die von ihm dafür angeführten Gründe überzeugend sind. Wenn diese Behauptung nicht zutrifft, dann gibt es auch keinen Grund mehr, das Proviso einzuführen, da das Problem, das es 356

Ebda, 226.

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lösen soll, gar nicht existiert. Da das Proviso für einige Teilnehmer immer ein Kostenpunkt ist, wäre die allgemeine Akzeptanz des Provisos damit ausgeschlossen. 2. Das Proviso ist eine Einschränkung für den individuellen Nutzenmaximierer, der zuvor durch sein Handeln die Bedingungen des Provisos verletzt hat, und geht daher als Kostenpunkt in seine Überlegungen ein. Die Akzeptanz des Provisos ist für ihn nur dann rational, wenn der Gewinn aus der Teilnahme an der Kooperation die Kosten für das Proviso übersteigt. Welches Argument bietet Gauthier, dass der Gewinn aus der Kooperation prinzipiell höher ist als die Kosten für das Proviso? Gibt Gauthier kein überzeugendes Argument dafür an und kann man tatsächlich nicht davon ausgehen, dass der Gewinn aus der Kooperation prinzipiell höher ist als die Kosten für das Proviso, so steht seine Theorie immer unter dem Vorbehalt, dass die Vorteile der Kooperation die Kosten des Provisos übersteigen müssen. Es wäre dann zu klären, ob es die Ausnahme oder die Regel ist, dass die Kosten des Provisos die Vorteile der Kooperation übersteigen. 3. Ist das Proviso ein funktionstüchtiges und konsistentes Konzept? Diese Frage richtet sich an das Proviso unabhängig von seiner Verwendung im Zusammenhang mit der Verhandlung. Es soll hier geprüft werden, ob das Proviso das leistet, was es leisten soll, ob die angeführten Begründungen für das Proviso überzeugend sind, ob die ihm zugrunde liegenden Annahmen und es selbst frei von Widersprüchen ist. Auf diese drei Fragen wird in der nachfolgenden kritischen Analyse anhand von bestimmten Teilaspekten des Provisos eingegangen. Zusammenfassend werden sie in Abs. IV.C beantwortet.

1. Unparteilichkeit der Anfangsbedingungen Um die dem Proviso zugrunde liegende Problematik einzuführen, erzählt Gauthier eine Geschichte, die eine Begebenheit zwischen Sklaven und ihren Herren wiedergibt. Darin vertritt ein junger Herr, der gerade frisch von der Universität zurückgekehrt ist, die Ansicht, dass es sowohl für die Sklaven als auch für die Herren von Vorteil wäre, wenn man anstelle des bisherigen Zwangsverhältnisses ein Kooperationsverhältnis mit den Sklaven eingehen

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würde. Dies könne man dadurch erreichen, dass man mit den Sklaven eine Vereinbarung abschließt. Dieses würde festlegen, dass die Herren den Sklaven ihre Freiheit wiedergeben und die Sklaven im Gegenzug dafür freiwillig den Herren dienen. Die Herren hätten den Vorteil, dass sie nicht mehr die Kosten für den ganzen Zwangsapparat aufzubringen hätten. Für die Sklaven bestünde der Vorteil in einer wesentlichen Verbesserung ihrer Lebensbedingungen, da sie nicht mehr den ständigen Gewaltanwendungen der Herren ausgesetzt wären. Darüber hinaus wäre der Vorteil für die Herren die Erwartung, dass sich die Qualität der Arbeit der Sklaven steigert, da sie diese ja nun freiwillig tun und folglich eine viel positivere Motivation für die Arbeit hätten. Die Herren könnten den Sklaven dann sogar einen geringen Lohn zahlen und wären immer noch besser gestellt als im Ist-Zustand der Sklaverei. Die anderen Herren, die diesen Vorschlag hören, reagieren mit deutlicher Ablehnung. Sie sind der Meinung, dass die Sklaven niemals darauf eingehen und freiwillig für die Herren arbeiten werden. Durch den weiteren Verlauf der Geschichte werden die Herren in ihrer ablehnenden Haltung bestätigt. Nach einiger Zeit wird durch politische Reformen die Sklaverei abgeschafft und die Sklaven sind tatsächlich nicht bereit, eine Kooperation, wie sie der junge Herr vorgeschlagen hat, einzuhalten. Der Grund für die ablehnende Haltung der Sklaven in dieser Geschichte ist nach Gauthiers Meinung, dass die Ausgangsbasis für das Kooperationsangebot der Herren durch die Ausübung von Zwang von Seiten der Herren gegenüber den Sklaven zu Stande kam. Eine Vereinbarung, der alle freiwillig zustimmen sollen, kann aber nicht auf einer Zwangssituation aufbauen. Gauthiers Geschichte soll zeigen, dass man trotz rationaler und fairer Verhandlungsprinzipien, wie er sie im MRC-Prinzip eingeführt hat, nicht zwangsläufig auch zu rationalen und fairen Vereinbarungen gelangt. Die Ursache für die Ablehnung solcher Vereinbarungen liegt nach Gauthiers Meinung in der immer noch möglichen Unfairness der Vereinbarung und der damit verbundenen Instabilität derselben. Das Argument, das durch die Geschichte der Sklaven und Herren veranschaulicht werden soll, hat folgende Struktur:357 357

Vgl. J. S. Kraus und J. L. Coleman: „Morality and the theory of rational choice“ (1991), 266.

294

1. Vereinbarungen, die auf unfairen Anfangsbedingungen basieren, sind instabil. 2. Diese Vereinbarungen sind instabil, weil sie unfair sind. 3. Die Vereinbarungen sind unfair, weil sie unproduktive Transfers beinhalten. 4. Eine stabile Vereinbarung ist ein Verhandlungsergebnis, das von fairen Anfangsbedingungen ausgeht. Aus dieser Argumentation geht hervor, dass die Sklaven das Angebot der Herren letztlich deshalb ablehnen, weil es unproduktive Transfers zu ihren Ungunsten enthält. Es ist also nicht die Unfairness, die zur Ablehnung führt, sondern die der Vereinbarung zugrunde liegenden unproduktiven Transfers. Wir haben es bei diesem Argument mit den drei Elementen (Anfangsbedingungen, Verhandlungsverfahren und Verhandlungsergebnis) eines Verhandlungsprozesses zu tun, die jeweils zwei Zustände (parteilich und unparteilich) annehmen können. Wenn die Anfangsbedingungen unparteilich sind, so wird durch das unparteiliche Verhandlungsverfahren die Unparteilichkeit der Anfangsbedingungen auf das Verhandlungsergebnis übertragen. Sind die Anfangsbedingungen hingegen parteilich, so wird diese Parteilichkeit durch das unparteiliche Verhandlungsverfahren ebenso auf das Verhandlungsergebnis übertragen.358 Unparteiliche Verfahren können also nur von unparteilichen Anfangsbedingungen (ausgehend) zu unparteilichen Ergebnissen führen. Analoges behauptet Gauthier für rationale Verfahren und rational akzeptable Zustände, d. h. rationale Verfahren führen nur von rational akzeptablen Anfangsbedingungen (ausgehend) zu rational akzeptablen Ergebnissen.359 Sollte dies zutreffend sein, dann könnten unparteiliche Ergebnisse entweder durch unparteiliche Anfangsbedingungen und unparteiliche Verfahren zu Stande kommen oder durch parteiliche Anfangsbedingungen und parteiliche Verfahren. Im letzteren Fall würde das parteiliche Verfahren die Parteilichkeit der Anfangsbedingungen kompensieren. Diese Möglichkeit wird von Gauthier nicht diskutiert, obwohl sie, wie 358

MbA, 151. Dieselbe Feststellung macht Gauthier auch in Bezug auf Marktinteraktionen. Ebda, 95: „Market outcomes are fair if, but of course only if, they result from fair initial conditions.” 359

Ebda, 191f.

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sich noch zeigen wird, der im Proviso realisierten Konzeption entspricht. Es ergeben sich vier Möglichkeiten der Kombination von unparteilichen und parteilichen Anfangsbedingungen und Verfahren, die zu unparteilichen oder parteilichen Ergebnissen führen können:360 A) Unparteiliche Anfangsbedingungen + unparteiliches Verfahren ! unparteiliches Ergebnis B) Unparteiliche Anfangsbedingungen + parteiliches Verfahren ! parteiliches Ergebnis C) Parteiliche Anfangsbedingungen + unparteiliches Verfahren ! parteiliches Ergebnis D) Parteiliche Anfangsbedingungen + parteiliches Verfahren ! parteiliches oder unparteiliches Ergebnis Die Möglichkeiten C und D zeigen, dass die Unparteilichkeit von Verfahren weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für ein unparteiliches Ergebnis ist. Bei D kann das parteiliche Verfahren kompensatorisch gegenüber der Parteilichkeit der Anfangsbedingungen wirken. Diese kompensatorische Wirkung eines parteilichen Verfahrens ist aber nur ein möglicher Spezialfall eines solchen Verfahrens, so dass durch parteiliche Prozeduren ebenso auch parteiliche Ergebnisse hervorgebracht werden können. In Gauthiers Theorie wird ein unparteiliches Ergebnis angestrebt und mit dem MRC-Prinzip ist ein unparteiliches Verhandlungsverfahren aufgestellt worden. Würde man nun unparteiliche Anfangsbedingungen vorfinden, so hätten wir es mit dem Fall A zu tun und die Situation wäre unproblematisch. Die Situation, die Gauthier durch die Geschichte der Sklaven und Herren aufgreift, ist aber der Fall von parteilichen Anfangsbedingungen, wie sie auch für einen hypothetischen Naturzustand grundsätzlich anzunehmen sind. Damit kommen aber nur noch die Möglichkeiten C und D in Frage. Aber bei C) ist das Ergebnis parteilich und bei D ist das Verfahren parteilich. Das heißt, keine der genannten Möglichkeiten enthält alle drei von Gauthier benötigten Bedingungen. Will man dennoch zu einer Lösung kommen, muss 360

Vgl. Tabelle 2 auf S. 42.

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man eine der drei Bedingungen fallen lassen oder modifizieren. Sowohl das Verfahren als auch das Ergebnis müssen unparteilich sein, denn sie müssen von allen Teilnehmern akzeptiert werden. So bleibt die Parteilichkeit der Anfangsbedingungen als Ansatzpunkt für eine Modifikation. Diese Parteilichkeit gründet sich auf empirische Gegebenheiten des Verhaltens im Naturzustand. Dort haben unproduktive Transfers stattgefunden, die zu einer parteilichen Ausgangssituation für die Verhandlung geführt haben. Mit dem Vorhandensein dieser Parteilichkeit muss man zwar in aller Regel rechnen, aber es ist theoretisch möglich, sie zu eliminieren. Die Anwendung des Provisos modifiziert in Gauthiers Theorie die Anfangsbedingungen in der Weise, dass aus der parteilichen Ausgangssituation eine unparteiliche wird. Dadurch erreicht er eine Moralisierung der Ausgangssituation.361 Damit sind wir am entscheidenden Punkt seiner Theorie angelangt: Durch die Anwendung des Provisos kommt die Moral in den Naturzustand und kann damit auch im Verhandlungsergebnis enthalten sein. Wenn dieser Anwendung alle Teilnehmer rationalerweise zustimmen könnten, dann hätte Gauthier sein Hauptziel erreicht. Er hätte gezeigt, dass es für jeden Nutzenmaximierer rational ist, moralisch zu handeln bzw. zu sein. Die allgemeine Zustimmung zur Anwendung des Provisos wäre nach Gauthiers Begriff der Unparteilichkeit gleichbedeutend mit der Feststellung der Unparteilichkeit des Provisos. Aber ausgehend von einer parteilichen Situation des Naturzustandes führt die Anwendung des Provisos zu unparteilichen Anfangsbedingungen für die Verhandlung. Ein Verfahren, das auf eine parteiliche Situation angewandt zu einem unparteilichen Ergebnis führt, ist nach den oben aufgeführten Möglichkeiten A - D ein parteiliches Verfahren, d. h. es besitzt nicht die Zustimmung aller Teilnehmer. Dieses Problem will Gauthier umgehen, indem er das Proviso den Teilnehmern nicht isoliert zur Beurteilung vorlegt, sondern in Verbindung mit der Verhandlung, der Kooperationsvereinbarung und der Stabilität der Kooperation.362 Das Proviso soll sich dann als notwendige Bedingung für eine für alle Teilnehmer vorteilhafte Kooperation erweisen. Isoliert betrachtet ist das Proviso parteilich, denn einige Teilnehmer werden durch die Anwendung des Provisos unmittelbar nur 361

MbA, 193: „We may say that the proviso moralizes and rationalizes the state of nature.”

362

Ebda, 201.

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Nachteile haben, während andere nur Vorteile haben werden. Diese Nachteile werden die betroffenen Teilnehmer nur in Kauf nehmen, wenn sie insgesamt (gesehen) durch die Akzeptanz des Provisos einen Vorteil haben. Wie ist die Feststellung, dass das Proviso für sich genommen ein parteiliches Verfahren ist, in Hinblick auf die Beurteilung der gesamten Theorie Gauthiers zu bewerten? Der Anspruch Gauthiers besteht darin, dass seine Theorie auf ausschließlich rationalem Wege zu einem insgesamt unparteilichen Ergebnis kommt, und nicht darin, dass auch alle Elemente dieser Theorie isoliert unparteilich sein müssen. So gesehen führt die Feststellung der Parteilichkeit des Provisos für Gauthier nicht zu Problemen. Diese kommen erst dann zum Vorschein, wenn man nach den Ursachen für die Parteilichkeit des Provisos sucht und deren Konsequenzen für die gesamte Theorie betrachtet, was in Abs. IV.B.4 folgt. Objekt der Unparteilichkeit. In diesem Abschnitt wurde bisher von der These Gauthiers ausgegangen, dass unparteiliche Verfahren nur dann ein unparteiliches Ergebnis liefern, wenn sie von unparteilichen Anfangsbedingungen ausgehen. In dieser These ist die nicht unproblematische Annahme enthalten, dass Unparteilichkeit sowohl eine Eigenschaft von Zuständen sein kann, wie z. B. dem Ausgangszustand der Verhandlung, als auch Eigenschaft von Verfahren wie dem MRC-Prinzip. Gauthiers Verwendung des Begriffes impliziert die Akzeptanz einer Strategie durch alle beteiligten Personen.363 Mit dieser allgemeinen Akzeptanz kann man dann rechnen, wenn der zu erwartende Nutzen aller beteiligten Personen in der gewählten Strategie gleich gewichtet wird.364 Dieses Kriterium der gleichen Gewichtung des zu erwartenden Nutzens kann nur auf ein Verfahren, nicht aber auf einen Zustand angewendet werden. Ein Zustand kann einen Nutzen nicht gewichten, sondern ist das Ergebnis von Handlungen, eines Verfahrens und damit letztlich einer Strategie, die den Nutzen gewichten kann. Ein bestimmtes Verteilungsergebnis kann als solches nicht als parteilich oder unparteilich bezeichnet werden. Man könnte in einem abgeleiteten Sinne von einem unparteilichen bzw. 363

Ebda, 151: „We focus on the co-operative choice of a joint strategy, which is impartial because it is acceptable from every standpoint, by every person involved."

364

Ebda, 122.

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parteilichen Zustand sprechen, nämlich dann, wenn dieser Zustand das Ergebnis eines unparteilichen bzw. parteilichen Verfahrens ist. Das bedeutet aber, dass man für die Beurteilung der Unparteilichkeit eines Zustandes seine Vorgeschichte kennen muss. Es gibt keine Eigenschaft von Zuständen, an denen man unabhängig von der Vorgeschichte die Parteilichkeit oder Unparteilichkeit des Zustandes feststellen könnte. Jeder Zustand kann theoretisch durch ein parteiliches oder durch ein unparteiliches Verfahren zu Stande gekommen sein. Unparteilichkeit ist also keine einem Zustand inhärente Eigenschaft, sondern verweist auf ein Spezifikum seiner Genese. Diese Art der Verwendung des Begriffes der Unparteilichkeit findet man auch in Gauthiers Begründung der Akzeptanz von Verhandlungsergebnissen. Demnach ist ein Verhandlungsergebnis dann für alle Teilnehmer akzeptabel und folglich als unparteilich zu bezeichnen, wenn es durch ein rationales Verfahren, nämlich durch das MRC-Prinzip zu Stande gekommen ist. Auch hier wird die allgemeine Akzeptanz im Rekurs auf ein Verfahren definiert und nicht auf eine bestimmte Eigenschaft des Verhandlungsergebnisses. Diese Feststellung, dass Unparteilichkeit eine Eigenschaft eines Verfahrens und nicht eines Zustandes ist, hat Folgen für die Beurteilung der Argumentation Gauthiers für das Proviso. Er argumentiert in der Geschichte der Sklaven und Herren, dass die Sklaven nicht bereit sind, den Kooperationsvorschlag des jungen Herren zu akzeptieren, weil sie die darin angenommene Ausgangssituation für unfair, d. h. parteilich halten. Hier muss man seine Darstellung dahingehend korrigieren, dass es nicht der Zustand als solcher ist, der ihre Ablehnung des Angebotes begründet, sondern die Art und Weise des Zustandekommens dieses Zustandes. Der Zustand der Leibeigenschaft könnte auch durch einen Prozess zu Stande gekommen sein, dem die Sklaven rationalerweise ohne die Einflussnahme von Zwang zugestimmt haben, der also keine unproduktiven Transfers beinhaltete. Wenn sich z. B. ein Mann selbst auf dem Sklavenmarkt zum Verkauf angeboten hätte, um mit dem Erlös seine Familie vor einem drohenden existentiellen Ruin zu bewahren, so wäre an seinem Zustand als Sklaven nichts Unfaires zu beanstanden. Das Proviso als Lösung für das von Gauthier aufgeworfene Problem ist die Korrektur des Handelns im Naturzustand. Mit dem Proviso werden bestimmte Einschränkungen für das Handeln im Naturzustand angegeben, nicht aber Kriterien für einen bestimmten Zustand. Das heißt, selbst nach der Einführung

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des Provisos ist es denkbar, dass man auf dieselbe Situation der Sklaven und Herren trifft, wie sie Gauthier in seiner Geschichte beschreibt, und dass diese Situation rationalerweise von allen beteiligten Teilnehmern als Basis für eine Kooperationsvereinbarung akzeptiert werden kann. Diese Situation hätte eben nur eine andere Vorgeschichte, in der durch das Proviso ausgeschlossene Verfahren bzw. Handlungen nicht enthalten wären.

2. Unproduktive Transfers Entstehung unproduktiver Transfers. Die im letzten Abschnitt diskutierte Unparteilichkeit in den Anfangsbedingungen der Verhandlung beruht, wie gesagt, auf den unproduktiven Transfers im Naturzustand. In diesem Abschnitt soll die Konzeption der unproduktiven Transfers bei Gauthier genauer analysiert werden. Diese unproduktiven Transfers sind der Grund, weshalb das Proviso und damit wesentliche Elemente der traditionellen Moral in die Theorie Gauthiers überhaupt eingeführt werden. Deshalb ist es wichtig, dass das Problematische an den unproduktiven Transfers klar herausgearbeitet wird. Zum einen ist hier zu prüfen, was an diesen unproduktiven Transfers tatsächlich so problematisch ist, und zum anderen, ob das Proviso eine befriedigende Antwort auf diese Probleme ist. Zunächst ist zu klären, wie es überhaupt zu unproduktiven Transfers kommen kann. Dafür sind prinzipiell zwei Möglichkeiten denkbar. Entweder sie kommen dadurch zu Stande, dass eine Person sich nicht rational verhält oder sie werden aufgrund von Machtunterschieden aufgezwungen. Im ersten Fall handelt eine Person zugunsten anderer und zu ihrem eigenen Nachteil; und zwar nicht weil sie dazu gezwungen wird oder weil sie einem anderen Individuum bewusst einen Vorteil verschaffen will, sondern aus einem Mangel an Rationalität. Wenn ein Arbeitnehmer sich ohne Grund freiwillig bereit erklärt, für einen Lohn zu arbeiten, der nur halb so hoch ist wie der seiner Arbeitskollegen, dann handelt er irrational. Durch diese Handlungsweise hat er einen Nachteil und sein Arbeitgeber zugleich einen Vorteil. Er schadet sich durch diese Handlung selbst. Wenn hingegen der Arbeitgeber ihm glaubhaft drohen würde, ihn zu entlassen, wenn er nicht für den halben Lohn arbeitet, dann wäre es von dem Arbeitnehmer durchaus rational, für

300

weniger Lohn die gleiche Arbeit wie seine Kollegen zu machen. Sowohl die Möglichkeit des nicht-rationalen Handelns als auch die Anwendung von Zwang werden in Gauthiers Theorie berücksichtigt. Die erste Möglichkeit der mangelnden Rationalität schließt Gauthier durch eine empirische Annahme aus: Alle Teilnehmer sind gleich rational. Diese Annahme wurde in Abschnitt IV.B.5 diskutiert. Während die erste Möglichkeit auf Unterschieden in der Rationalität des Handelns beruht, ist bei der zweiten Möglichkeit ein Machtunterschied ausschlaggebend. Dieser unmittelbare Zusammenhang zwischen Macht und Zwang gilt nur unter einer Bedingung: Die Individuen befinden sich in einem rechtsfreien Raum, wie er für den Naturzustand angenommen wird. Denn Rechte durchbrechen den direkten Zusammenhang zwischen Macht und Zwang. Die Anwendung von Zwang soll durch die Einführung des Provisos ausgeschlossen werden. Dies bedeutet, dass in die Anfangsbedingungen der Verhandlung nur Ergebnisse von zwangsfreien Handlungen eingehen. Damit werden die Auswirkungen von Machtunterschieden in einer Gruppe nivelliert. Denn nur in einer Gruppe von gleichmächtigen Individuen ist zu erwarten, dass keine Interaktionen unter Anwendung von Zwang stattfinden. In einer Gruppe mit Machtdifferenzen ist es für die Mächtigeren rational zwingend, dass sie ihre Macht den Schwächeren gegenüber einsetzen und sie zu unproduktiven Transfers zwingen. Unproduktive Transfers beruhen also auf Rationalitätsunterschieden oder auf Machtunterschieden. Wenn man nun nach den Ursachen für die Unterschiede der Rationalität und Macht fragt, so wird man unweigerlich auf empirische Eigenschaften der Personen stoßen. Damit bedeutet eine Eliminierung von unproduktiven Transfers in letzter Konsequenz die effektive Nivellierung von empirischen Unterschieden zwischen den Personen, sofern sie in Bezug auf Macht und Rationalität relevant sind. Unproduktive Transfers kommen nicht nur im Naturzustand vor, sondern auch bei der Anwendung des Provisos. Dort werden die unproduktiven Transfers des Naturzustandes rückgängig gemacht, indem eine Umverteilung zugunsten der Schwachen stattfindet, was nichts anderes als ein unproduktiver Transfer ist. Die Umkehrung eines unproduktiven Transfers ist natürlich wieder ein unproduktiver Transfer. Die unproduktiven Transfers bei der Anwendung des Provisos werden hier in einer kompensatorischen Weise eingesetzt. Im Unterschied zum Naturzustand wird dieser Transfer aber im

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wechselseitigen Einverständnis vorgenommen. Dieses Einverständnis beruht auf der Anbindung des Provisos an die Kooperation und den damit verbundenen Vorteilen für alle Beteiligten. Die Feststellung, dass das Proviso unproduktive Transfers zur Folge hat, deckt sich mit der im vorigen Abschnitt gemachten Feststellung, dass das Proviso ein parteiliches Verfahren ist. Die Parteilichkeit des Provisos beruht auf den in ihm enthaltenen unproduktiven Transfers. Die Irrationalität der Zustimmung zu unproduktiven Transfers. Der Grund, weshalb Gauthier die unproduktiven Transfers durch das Proviso eliminieren will, ist, dass es seiner Meinung nach nicht rational ist, einer Vereinbarung zuzustimmen, die von einem Ausgangszustand ausgeht, der durch unproduktive Transfers zu Stande kam. Eine freiwillige Zustimmung wäre deshalb nicht rational, weil unproduktive Transfers nur unter Zwang zu Stande kommen.365 Der Einsatz von Zwang weist bei rationalen Personen aber immer darauf hin, dass für die gezwungene Person die Teilnahme an der Interaktion ohne die Anwendung von Zwang nicht rational wäre, d. h. ein Nachteil wäre. Wenn die Interaktion für beide Seiten auch ohne Zwang von Vorteil ist, dann ist der Einsatz von Zwang nicht rational, denn dieser ist für beide Seiten kostspielig. Da aber eine Vereinbarung über eine Kooperation eine Strategie zum wechselseitigen Vorteil ist, muss diese Strategie auf der Freiwilligkeit aller Teilnehmer beruhen und somit dürfen erzwungene Handlungen nicht Teil einer Kooperation sein. Gauthier schließt hier also über die Definition der Kooperation die Zustimmung zu erzwungenen Handlungen und damit zu unproduktiven Transfers aus. Danach sind unproduktive Transfers

365

Ebda, 197f.: „It is rational to make an unproductive transfer only if it is directly utilitymaximizing to do so. Since the transfer itself is costly, it can be utility-maximizing only in so far as it is coercively exacted. It cannot, then, be part of any co-operative interaction, since such interaction involves mutual benefit. The presence of unproductive transfers in otherwise co-operative arrangements is evidence of residual natural predation.”

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keine Interaktionen zum wechselseitigen Vorteil und können daher nicht Teil einer Kooperation sein.366 Bis hierher hat Gauthier nur versucht zu zeigen, dass eine Kooperation, die unproduktive Transfers enthält, nicht die freiwillige Zustimmung aller Teilnehmer erhält. Es reicht aber noch nicht aus zu zeigen, dass einige Teilnehmer dieser Strategie nicht zustimmen. Was er zeigen muss und auch versucht zu zeigen, ist, dass es für keinen Teilnehmer rational ist, eine Disposition zur Teilnahme an Kooperationen auszubilden, die unproduktive Transfers beinhalten. Für die Personen, die durch die unproduktiven Transfers einen Nachteil haben, ist es zwar offensichtlich besser, wenn diese unproduktiven Transfers im Vorfeld einer Kooperation wieder rückgängig gemacht werden, aber das impliziert noch nicht, dass für sie die Teilnahme an einer Kooperation mit unproduktiven Transfers grundsätzlich irrational ist. Wenn man nur die Wahl zwischen einer Kooperation mit unproduktiven Transfers und der Nicht-Teilnahme an der Kooperation hat, dann scheint doch zunächst die Teilnahme an der Kooperation mit den unproduktiven Transfers die rationale Entscheidung zu sein. Noch prekärer ist dies im Fall der Nutznießer der unproduktiven Transfers. Gauthier muss noch ein Argument liefern, das zeigt, dass es auch für die Nutznießer der unproduktiven Transfers nicht rational ist, an einer Kooperation teilzunehmen, die unproduktive Transfers zu ihren Gunsten enthält. 366

Ebda, 225: „If interaction is to be fully co-operative, it must proceed from an initial position in which costs are internalized, and so in which no person has the right to impose uncompensated costs on another. For if not, the resulting social arrangements must embody one-sided interactions benefiting some persons at cost to others. Even if each were to receive some portion of the co-operative surplus, yet each could not expect to benefit in the same relation to contribution as his fellows. Interaction based on displaced costs would be redistributive, and redistribution cannot be part of a rational system of cooperation.” Wenn Gauthier hier und an anderen Stellen davon spricht, dass Umverteilungen oder unproduktive Transfers Bestandteile von Kooperationen sind, dann kann damit nicht gemeint sein, dass in der Kooperation Interaktionen stattfinden, die unproduktive Transfers sind. Die unproduktiven Transfers haben im Naturzustand stattgefunden und sind abgeschlossene Interaktionen. In Kooperationen, in denen in die Anfangsbedingungen der Verhandlung die Ergebnisse von unproduktiven Transfers eingehen, werden nur die Konsequenzen aus den unproduktiven Transfers fortgeführt, indem die Anfangsbedingungen die Verteilung des Kooperationsertrages wesentlich bestimmen.

303

Die Bedeutung der Akzeptanz von unproduktiven Transfers. Bevor ich die Begründung für die Ablehnung unproduktiver Transfers genauer untersuche, möchte ich präzisieren, was unter der Ablehnung bzw. Akzeptanz unproduktiver Transfers zu verstehen ist. Die These Gauthiers, dass es nicht rational sei, eine Disposition auszubilden, die zur Teilnahme an Kooperationen führt, die unproduktive Transfers enthalten, impliziert nicht, dass die Teilnahme an unproduktiven Transfers für sich genommen nicht rational sei. Unproduktive Transfers bezeichnen Interaktionen zwischen Personen mit unterschiedlicher Macht, wobei die mächtigere Person die andere zu einem Gütertransfer zu ihren Gunsten zwingt. Es ist wichtig festzuhalten, dass im Moment des Gütertransfers beide Personen rational handeln. Für den Mächtigen ist es rational, seine Macht dem Schwachen gegenüber so einzusetzen, dass er den Schwachen zu einem Gütertransfer zwingt. Auf der Seite des Schwachen sieht die Situation etwas anders aus. Er kann sich nicht wie der Mächtige für oder gegen die Ausführung des unproduktiven Transfers entscheiden. Wenn der Mächtige sich für die Ausführung des unproduktiven Transfers entschieden hat, dann hat er bestenfalls noch zwei Optionen. Entweder ist die Machtdifferenz zwischen den beiden Personen so groß, dass jeder Widerstand gegen den unproduktiven Transfer nur vergeudete Energie wäre und es somit rational geboten ist, den unproduktiven Transfer widerstandslos hinzunehmen, oder der Schwache kann so viel Widerstand leisten, dass er den für ihn durch den unproduktiven Transfer entstehenden Nachteil mindern kann und der Widerstand somit für ihn rational ist. In der Situation der Ausführung des unproduktiven Transfers entsteht also für keine der beteiligten Personen die Frage, ob sie den unproduktiven Transfer akzeptieren. Ist der unproduktive Transfer abgeschlossen, so stellt sich zunächst auch nicht die Frage nach der Akzeptanz. Das Ereignis des unproduktiven Transfers ist dann ein vergangenes Ereignis, das man zur Kenntnis nehmen oder beurteilen kann, aber die Frage nach der Akzeptanz stellt sich auch hier nicht. Wenn Gauthier von der Akzeptanz unproduktiver Transfers spricht, dann kann er damit nicht unmittelbar den unproduktiven Transfer meinen, sondern die Anfangsbedingungen für die Verhandlung, die unproduktive Transfers enthalten können. Seine Behauptung darf demnach nicht so verstanden werden, dass die Akzeptanz unproduktiver Transfers nicht rational ist, sondern dass die Akzeptanz von Anfangsbedingungen für eine Verhandlung,

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die durch unproduktive Transfers zu Stande gekommen sind, nicht rational ist. Nur in dieser Situation stellt sich überhaupt die Frage der Akzeptanz und das Objekt der Akzeptanz sind die Anfangsbedingungen der Verhandlung, die unproduktive Transfers enthalten können oder nicht. Diese Präzisierung von Gauthiers Behauptung soll das Missverständnis ausschließen, dass Personen, die in unproduktive Transfers involviert sind, nicht rational handeln würden. Gründe der Schwachen für die Ablehnung unproduktiver Transfers. Wie ich oben erläutert habe, will und muss Gauthier zeigen, dass es für keine Person rational ist, Kooperationsvereinbarungen zu akzeptieren, die unproduktive Transfers beinhalten. Dennoch sind einige Teilnehmer im Gegensatz zu anderen von den unproduktiven Transfers unmittelbar negativ betroffen. Hier muss man die Asymmetrie unproduktiver Transfers bedenken. Diese Asymmetrie berücksichtigt Gauthier in seiner Argumentation leider nicht. Für einen Teil der Personen, nämlich die Mächtigen, haben unproduktive Transfers im Naturzustand nur Vorteile, während die Schwachen nur Nachteile haben. Die durch die unproduktiven Transfers benachteiligten Teilnehmer sind es, die den Anfangsbedingungen der Verhandlung, die unproduktive Transfers beinhalten, nicht freiwillig zustimmen. Diese freiwillige Zustimmung würde nach Gauthiers Meinung bedeuten, dass man Macht als die Basis von Rechten, die durch das Proviso etabliert werden, akzeptieren würde. Dabei sieht er das Problem nicht etwa darin, dass eine solche Konstruktion moralischen Grundintuitionen widersprechen würde - was für Gauthier hier natürlich auch gar kein Argument sein dürfte -, sondern dass die Wirkung der Macht in der Festlegung der Anfangsbedingungen für die Verhandlung nicht nutzenmaximierend wäre. Der Grund dafür ist, dass Nutzenmaximierer an stabilen Vereinbarungen interessiert sind. Die Stabilität von Vereinbarungen basiert aber auf der freiwilligen Einhaltung aller Teilnehmer. Diese ist aber nach Gauthiers Meinung nicht mehr gegeben, wenn beim Zustandekommen der Vereinbarung Macht und somit Zwang eine Rolle spielt.367 Erst in Anbetracht der Tatsache, dass die Schwachen die unproduktiven Transfers ablehnen, kann es sich auch für die Nutznießer der unproduktiven Transfers als rational erweisen, die unproduktiven Transfers aus den Anfangsbedingun367

Ebda, 198f.

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gen der Verhandlung zu eliminieren. Würden die Schwachen die unproduktiven Transfers rationalerweise akzeptieren können, so hätten die Mächtigen ihrerseits keinen Grund, die unproduktiven Transfers in der Ausgangssituation der Verhandlung nicht zu akzeptieren. Das heißt, dass man, um den Grund für die Ablehnung der unproduktiven Transfers zu verstehen, den Grund der Schwachen für die Ablehnung der unproduktiven Transfers kennen muss. Dieser Grund besteht für die Schwachen nun nicht in der Unproduktivität der unproduktiven Transfers, sondern in deren asymmetrischen Nutzenverteilung, die den Schwachen immer einen Nachteil zukommen lässt. Dass eine Interaktion unproduktiv ist, besagt nur, dass die Interaktion für die Gruppe insgesamt keinen Vorteil erbringt, aber damit bleibt noch völlig offen, ob der einzelne Teilnehmer einen Vorteil oder Nachteil von der Interaktion hat. Die spezifische Asymmetrie der unproduktiven Transfers führt dazu, dass die Verteilung des Nutzens derart ist, dass die Schwachen immer einen Nachteil haben und die Mächtigen immer einen Vorteil haben. Deshalb werden in einer Verhandlung die Schwachen Anfangsbedingungen, die unproduktive Transfers enthalten, nicht zustimmen. Die Feststellung, dass für die Schwachen der Grund der Ablehnung von unproduktiven Transfers darin besteht, dass sie für sie von Nachteil sind, lässt die Frage aufkommen, warum nur die unproduktiven Transfers und nicht auch alles andere Nachteilige von den Schwachen in den Anfangsbedingungen der Verhandlung abgelehnt wird. Hier wird eine Auswahl getroffen und somit eine Restriktion der Reichweite des Provisos insgesamt festgelegt, die ohne eine Begründung für willkürlich gehalten werden muss. Sollte aber der Nachteil, den einige der Teilnehmer durch die unproduktiven Transfers haben, ein legitimer und hinreichender Grund sein, diese aus den Anfangsbedingungen der Verhandlung auszuschließen, dann dürfte jeder Teilnehmer alle Ereignisse und deren Folgen als Teil der Anfangsbedingungen ablehnen, durch die er einen Nachteil hat. Dafür kämen dann auch Ereignisse in Betracht, die z. B. durch eigene Fehler oder durch Naturgewalten verursacht wurden. Hier wird man einwenden wollen, dass mit solchermaßen verursachten Nachteilen die anderen Teilnehmer ja nichts zu tun haben und man insofern ihnen gegenüber solche Nachteile nicht in Rechnung stellen kann. Warum sollte es aber hier eine Rolle spielen, durch wen diese Nachteile verursacht wurden? Dies würde nur dann verständlich, wenn man solche

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Konzeptionen wie Verantwortlichkeit oder Schuld voraussetzen würde, was aber in einem vormoralischen Zustand nicht plausibel wäre. Die Schwachen lehnen die unproduktiven Transfers ausschließlich deshalb ab, weil sie für sie von Nachteil sind und nicht weil sie durch eine bestimmte Personengruppe verursacht wurden. Hätten die durch die Mächtigen verursachten unproduktiven Transfers für sie Vorteile, so hätten sie keinen Grund sie abzulehnen. Theoretisch betrachtet ist es aus der Sicht einer durch einen unproduktiven Transfer benachteiligten Person gleichgültig, ob der Nachteil durch einen potenziellen Kooperationspartner, eine nicht an der Kooperation beteiligten Person, eine Naturgewalt oder gar durch eigenes Verschulden entstanden ist. Wird er vor die Wahl gestellt, Anfangsbedingungen mit oder ohne diese Nachteile für ihn zu akzeptieren, dann wird er sich natürlich für die Anfangsbedingungen ohne diese Nachteile für ihn entscheiden. Dass es nur dieser benachteiligende Effekt ist, der einen Teilnehmer zur Ablehnung unproduktiver Transfers bringt, wird dadurch ersichtlich, dass die mächtigen Teilnehmer, die durch die unproduktiven Transfers einen Vorteil haben, keinen unmittelbaren Grund haben, diese Transfers nicht zu akzeptieren. Dies sieht man auch in Gauthiers Geschichte von den Sklaven und Herren. Gründe der Mächtigen auf die Forderung der Schwachen nach Eliminierung der unproduktiven Transfers einzugehen. Im vorigen Abschnitt habe ich untersucht, welche Gründe die Schwachen für die Ablehnung der unproduktiven Transfers haben. Im folgenden soll geklärt werden, wie die Mächtigen davon überzeugt werden können, dass es auch für sie rational ist, dem Ausschluss der unproduktiven Transfers aus den Anfangsbedingungen der Verhandlung zuzustimmen. Hier kann man nicht anführen, dass sie durch die Akzeptanz der unproduktiven Transfers benachteiligt würden. Dies ist offensichtlich für die Mächtigen als rationale Personen kein Grund, auf die entsprechenden Forderungen einzugehen. Bei Gauthier kann man zwei Gründe finden, die die Schwachen gegenüber den Mächtigen für ihre Forderung anführen. Zum einen können die Schwachen auf die zu erwartende Instabilität einer Kooperation verweisen, die aus einer Ausgangssituation der Verhandlung mit unproduktiven Transfers zwangsläufig resultieren würde. Auf dieses Argument der Instabilität wird gesondert in Abschnitt IV.B.6 eingegangen.

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Die andere Möglichkeit ist die Anwendung einer Drohstrategie, wenn auch Gauthier selbst dies nicht als Drohstrategie bezeichnet. Wenn die Mächtigen nicht bereit sind, die Forderungen der Schwachen zu erfüllen, dann verweigern die Schwachen ihre Teilnahme an einer Kooperation. Diese Drohstrategie ist aber nur dann rational und somit glaubhaft, wenn die NichtTeilnahme an der Kooperation für die drohende Person vorteilhafter ist als die Teilnahme an einer Kooperation, die nicht ihre Forderungen erfüllt. Umgekehrt ist diese Drohstrategie den anderen Teilnehmern gegenüber nur dann wirksam, wenn die Androhung der Nicht-Teilnahme an der Kooperation für sie ein größerer Nachteil wäre als einer Kooperation zuzustimmen, die auf die Forderungen des drohenden Teilnehmers eingeht. Die fragliche Glaubwürdigkeit der Drohstrategie ist für sich genommen schon ein erhebliches und von Gauthier nicht angesprochenes Problem dieses Arguments. Es ergibt sich aber noch das prinzipiellere Problem, dass die Drohstrategien nicht inhaltlich mit den unproduktiven Transfers zusammenhängen. Wenn die Schwachen in der Lage sind, den Mächtigen glaubhaft zu drohen, dann können sie mittels dieser Drohung von den Mächtigen Forderungen beliebigen Inhalts erzwingen, solange sie nicht das durch die Drohung rational abgedeckte Ausmaß überschreiten. Dies würde aber bedeuten, dass über solche Drohstrategien nicht nur unproduktive Transfers aus den Anfangsbedingungen ausgeschlossen werden könnten, sondern auch andere für die Schwachen nachteilige Elemente. Gauthier müsste aber zeigen, dass es rational ist, nur die unproduktiven Transfers und keine anderen Elemente aus den Anfangsbedingungen auszuschließen, denn ansonsten ist die Unparteilichkeit der Anfangsbedingungen und damit auch der Vereinbarung insgesamt nicht mehr gewährleistet. Das bedeutet, dass es zwar eventuell für alle Teilnehmer rational sein kann, dem Ausschluss unproduktiver Transfers zuzustimmen, aber damit ist noch kein Grund angegeben, weshalb man ausgerechnet die unproduktiven Transfers und nicht auch irgendwelche andere Elemente ausschließen sollte. Die Begründung über Drohstrategien ist damit zu unspezifisch für den Zweck, den sie in der Argumentation erfüllen muss. Gauthier müsste eine Begründung liefern, die sich nur auf die unproduktiven Transfers beziehen lässt bzw. die zeigt, dass nur der Ausschluss der unproduktiven Transfers rational geboten ist.

308

3. Gauthiers Ablehnung von Zwang und Drohstrategien In Abs. IV.B.1 wurde die Geschichte der Sklaven und Herren eingeführt. Der Grund für das Scheitern der dort angestrebten Kooperation besteht nach Gauthier darin, dass eine Kooperationsvereinbarung, die auf der Freiwilligkeit aller Teilnehmer beruhen soll, nicht auf einer Ausgangssituation aufbauen kann, die durch Zwang zu Stande gekommen ist. Die Einführung der Sklaverei war für die betroffenen Sklaven eine Verschlechterung ihrer Situation und daher ein Nachteil, den sie freiwillig nicht akzeptiert hätten. Würden sie jetzt den Zustand der Sklaverei freiwillig als Ausgangszustand für die Verhandlung akzeptieren, dann würden sie nach Gauthiers Meinung freiwillig einem Zustand zustimmen, den sie zuvor freiwillig nicht akzeptiert haben und den man ihnen nur mittels Gewalt aufoktroyieren konnte. Eine solche nachträgliche Zustimmung hält Gauthier für irrational. Ein wichtiger Punkt des Provisos ist die Ablehnung von Zwang. Die Ablehnung von Zwang und entsprechenden Drohstrategien ist für eine Theorie, die beansprucht, einen Übergang von Rationalität zu Moral zu leisten, von besonderer Bedeutung, da eine Ausgangssituation ohne Zwang und Drohungen moralisch ganz anderes zu beurteilen ist als eine Ausgangssituation mit Zwang und Drohungen. Die Eliminierung dieser Elemente ist eine starke Moralisierung des Naturzustandes und bedarf daher einer entsprechend überzeugenden Begründung. Gauthier knüpft seine Argumentation, die zur Ablehnung von Zwang und Drohstrategien führt, sehr eng an seine Erzählung über die Herren und Sklaven. Analysiert man diese Geschichte etwas genauer, dann stellt man Unstimmigkeiten fest, die sich auf die gesamte anschließende Argumentation auswirken. Die folgende Kritik an dieser Geschichte ist damit nicht nur Kritik an einem Beispiel, sondern unmittelbar am Kern seiner Argumentation. Unterschied zwischen Macht und Machtausübung. In Gauthiers Erzählung scheitert die Kooperation zwischen den Herren und Sklaven. Die Gründe für das Scheitern liegen aber nicht in den Grundstrukturen solcher Zwangsverhältnisse der Leibeigenschaft, sondern in der speziellen Art und Weise, wie Gauthier diese Geschichte konstruiert. Ein kritischer Punkt in der Darstellung liegt in einer Verschleierung des Unterschiedes zwischen dem Besitz von Macht und der Ausübung von Macht. So wie Gauthier die Geschichte erzählt,

309

ist es für die Sklaven tatsächlich irrational, das Kooperationsangebot des jungen Herren zu befolgen. Der Grund dafür ist aber, dass die Herren in seiner Erzählung etwas tun, was entweder gar nicht möglich oder aber irrational ist. Diese Irrationalität der Herren besteht darin, dass sie nicht nur auf die Anwendung von Zwang, sondern auch auf den Besitz von Macht verzichten und somit auf die Möglichkeit, Zwang auszuüben.368 Gauthier ignoriert an dieser Stelle den Unterschied zwischen dem Besitz von Macht und der tatsächlichen Ausübung dieser Macht. „But only the maintenance of this power rationally induces them to continue their services. Without coercion, ex-slaves might accept and adhere to some form of co-operation, but not one based on the outcome of coercive interaction.“ 369 Gauthier hätte hier anstelle von „power@ auch im ersten Satz von „coercion@ sprechen müssen. Nicht weil die Herren Macht besitzen, sondern weil sie sie in Form von Zwang ausüben, dienen die Sklaven den Herren. Das Besitzen der Macht, eine bestimmte Handlung auszuführen, ist in der Regel nicht kostspielig, vielmehr die Ausführung dieser Handlung. Diese Kosten entstehen u. a. durch die Gegenwehr derjenigen Personen, die zu etwas gezwungen werden.370 Je größer die Gegenwehr, desto höher sind die Kosten der Machtausübung. Gleichzeitig steigen aber auch die Kosten bzw. der Schaden für die gezwungenen Personen, da diese Gegenwehr für sie in den meisten Fällen auch kostspielig ist, wenn sie nicht in einer reinen Verweigerung bestehen. Ein Mächtiger, der kooperieren will, wird sich bereit erklären, seine Waffen oder andere Zwangsmittel nicht mehr einzusetzen, sie aber nicht zu vernichten. Dies wird noch deutlicher, wenn die Macht nicht in transferierbaren Mitteln wie Waffen besteht, sondern in nicht-transferierbaren Eigenschaften wie physische Stärke oder Intelligenz. Wenn der Starke mit dem Schwachen eine Kooperation vereinbart, dann verzichtet er auf den Einsatz seiner Stärke gegen den Schwachen, aber er wird dadurch nicht ebenfalls zum Schwachen. Durch den Abschluss einer Vereinbarung verändern sich die Machtverhältnisse der Kooperationspartner unmittelbar nicht. 368

Ebda, 191: „Once that power was taken away ... ”

369

Ebda, 195.

370

R. E. Goodin: „Equal rationality and initial endowments“ (1993), 125f.

310

Der Verzicht auf den Besitz der Macht wäre nicht nur überflüssig, sondern auch irrational und teilweise praktisch gar nicht realisierbar. Wenn die Herren freiwillig auf alle Mittel verzichten, mit denen sie Zwang auf die Sklaven ausüben können, dann besteht für die Sklaven wirklich kein Grund, sich an eine Vereinbarung zu halten, das von den Kräfteverhältnissen vor einem solchen Verzicht ausgeht. Denn die Sklaven wären dann ja in der Lage, den Zustand der Freiheit wiederherzustellen wie er vor der Versklavung bestand. Dieser Verzicht würde in Abb. 4 (auf Seite 311) einem Wechsel von der faktischen Ausgangssituation In zum Zustand der Freiheit vor der Versklavung Ic entsprechen. Hingegen würde ein realistisches und rationales Angebot der Herren darin bestehen, dass sie den Sklaven eine Kooperation anbieten, in der die Herren ganz oder teilweise auf die Ausübung ihrer Macht in Form von Zwang auf die Sklaven verzichten. Denn diese Ausübung von Zwang ist eine Handlung, die für die Herren kostspielig und zugleich für die Sklaven ein Schaden ist. In dieser speziellen Eigenschaft von Zwangs-Handlungen liegt ein Potenzial, das als Basis für eine Kooperation dienen kann. Eine Handlung, die für alle Beteiligten kostspielig ist, kann bei Unterlassung zum beiderseitigen Vorteil dienen. Diese Ausübung von Zwang hat für die Herren den Nutzen, dass sie die Sklaven dazu bewegt, gegen ihren Willen für die Herren zu arbeiten. Man kann also sagen, dass der unmittelbare Grund für die Ausübung des Zwanges darin besteht, dass die Sklaven nicht bereit sind, freiwillig für ihre Herren zu arbeiten. Würden sie freiwillig für ihre Herren arbeiten, so wäre es irrational von den Herren, dennoch Zwang gegen sie auszuüben. Der Hinweis auf diesen Unterschied zwischen Macht und Machtausübung ist deshalb so wichtig, weil beim Verzicht auf bloße Machtausübung noch Drohstrategien möglich sind, was beim Verzicht auf die Macht selbst nicht mehr möglich wäre. Die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit solcher Drohstrategien ist für Gauthiers Argumentation hinsichtlich des Provisos von essentieller Bedeutung. Denn wenn in den von Gauthier beschriebenen Situationen für die mächtigeren Teilnehmer noch rationale Drohstrategien in Frage kommen, ist das Proviso hinfällig. Grafische Darstellung der Situation von Herren und Sklaven. In MbA veranschaulicht Gauthier die Situation zwischen den Herren und Sklaven

311

durch eine Grafik (Fig. 9 auf S. 228), die hier durch die Abb. 4 wiedergegeben wird. Anhand dieser Grafik und den sich aus ihr ergebenden Verhältnissen zwischen den einzelnen Zuständen argumentiert Gauthier gegen die Rationalität von Drohstrategien in Situationen wie der zwischen den Sklaven und Herren. Eine Untersuchung der Darstellung zeigt, dass sie die Argumentation Gauthiers nicht korrekt wiedergibt.

V (Nutzen Sklaven) VBc VBn VIc VIn

Ic In

Bc Bn X

X

UIn UIc UBc UBn

U (Nutzen Herren)

Abb. 4: Sklaven und Herren I In: Ic:

Bn: B c:

Zustand der Sklaverei (Urzustand) Zustand vor / ohne Sklaverei (zwangsfreier und nicht-kooperativer Zustand, der durch das Proviso als Ausgangspunkt für die Verhandlung bestimmt wird.) Kooperation ausgehend von In, mit MRC ausgehandelt Kooperation ausgehend von Ic, mit MRC ausgehandelt

In der Ausgangssituation In macht der junge Herr den Sklaven unter Anwendung des MRC-Prinzips den Kooperationsvorschlag Bn. Eine solche Vereinbarung würde aber einen unproduktiven Transfer beinhalten, da hier die Ausgangssituation In zugrunde gelegt wird, die durch einen unproduktiven Transfer, nämlich die Versklavung von Ic, entstanden ist. Deshalb weigern sich die Sklaven, dieses Angebot zu akzeptieren. Sie würden nur eine Kooperation auf der Basis von Ic mit dem Ergebnis Bc akzeptieren. Dieses Angebot oder eines, das zwischen Bc und Bn liegt, können nach Gauthier die Herren rationalerweise nicht ablehnen. Seine Begründung dafür ist, dass die Herren nicht mit einer Rückkehr zu In drohen können, da sie in diesem Zustand selbst

312

schlechter gestellt wären als im Zustand Bc. Die Drohung mit In ist für die Herren also keine rationale Drohstrategie. Wäre die Situation zwischen den Sklaven und Herren durch die Grafik adäquat wiedergegeben, so hätte Gauthier mit seiner Ablehnung der Drohstrategie recht. Gauthier vertritt die These, dass eine stabile Vereinbarung nur möglich ist, wenn für die Verhandlung die Anfangsbedingungen Ic gewählt werden.371 In der Verhandlung der beiden Parteien stehen drei mögliche Zustände zur Diskussion: In, Bn und Bc. Nach Abb. 4 ist In der für beide Parteien ungünstigste Zustand, Bn für die Herren der beste Zustand und für die Sklaven ein Kompromiss sowie Bc für die Herren ein Kompromiss und für die Sklaven der beste Zustand. Nun argumentiert Gauthier, dass sich aus dieser Konstellation für die Herren die rationale Notwendigkeit ergibt, der Forderung der Sklaven nach einer Vereinbarung Bc nachzukommen, da die Alternative der Zustand In wäre, der für sie noch schlechter als der Zustand Bc wäre. Gauthier geht hier darüber hinweg, dass sich das gleiche Argument natürlich auch gegen die Forderung der Sklaven ins Feld führen lässt. Für sie ist der Zustand Bn immer noch besser als der Zustand In. Also sollten sie lieber das Angebot der Herren einer Vereinbarung des Zustandes Bn annehmen, als im Zustand In zu verharren. Soweit die Argumentation von Gauthier. In der Grafik ist Ic so gewählt, dass der Nutzen eines zwangfreien Zustandes UIc auch für die Herren größer ist als der Nutzen in einem Zustand mit Zwang UIn. Das würde bedeuten, dass auch für die Herren ein zwangsfreier Ausgangszustand vorteilhafter wäre als der Zustand mit Zwang, in dem die Sklaven ihnen dienen. Würde diese Darstellung zutreffend sein, so wäre es für die Herren irrational, den Zustand der Sklaverei herbeizuführen, da sie im Zustand ohne Sklaverei einen größeren Nutzen hätten. Mit der Einführung der Sklaverei hätten sie sich selbst geschadet. Dies könnte man dann annehmen, wenn die Zwangsmaßnahmen für die Sklavenhaltung für die Herren kostspieliger wären als der Gewinn, den sie durch die kostenlose Arbeitskraft der Sklaven haben. Die Grafik ist also deshalb keine adäquate Darstellung der Situation zwischen den Sklaven und den Herren, weil der Punkt In im Verhältnis zu Ic kein Equilibrium im Naturzustand darstellt, d. h. kein mögliches Ergebnis rationaler Interaktionen ist. 371

MbA, 196f.

313

In einer adäquaten Darstellung der Situation zwischen den Sklaven und Herren muss der Nutzen für die Herren bei In größer sein als ihr Nutzen bei Ic. Andernfalls wäre für die Herren die Sklaverei In gegenüber einem zwangsfreien Zustand Ic, in dem die „Sklaven" nicht unentgeltlich für die Herren arbeiten würden, nicht vorzuziehen und es hätte wahrscheinlich niemals so etwas wie Sklaverei gegeben. Dieser Fehler in der Darstellung Gauthiers wirkt sich auf seine Argumentation gegen die Rationalität von Drohstrategien bzw. Zwang in der Ausgangssituation gravierend aus, weil er sich dort auf das Verhältnis zwischen In und Ic genau in der Weise bezieht, wie er es in der Grafik dargestellt hat. Seiner Meinung nach wäre es für die Herren irrational, wenn sie einmal den Punkt Bc erreicht haben, mit der Wiedereinführung von Zwang und somit der Rückkehr zum Punkt In zu drohen, da ein Wechsel von Bc nach In auch für die Herren mit einem Verlust verbunden ist. Dies trifft aber nur dann zu, wenn man die falsche Darstellung von Gauthier in Fig. 9 in MbA zugrunde legt. Korrigiert man diesen Fehler in der Grafik von Gauthier, so erhält man eine Grafik, wie sie in Abb. 5 (auf S. 314) dargestellt ist. Legt man diese Version zugrunde, so ist die Drohung, In wiedereinzuführen, keineswegs irrational. In MbA finden wir eine der Abb. 5 entsprechende Darstellung in der Fig. 10 (auf S. 229). Gauthier hält aber die dieser Darstellung zugrunde liegende Konstellation für keine reale Möglichkeit. In der dargestellten Situation können seiner Meinung nach nur zwei Dinge passieren: Entweder es findet überhaupt keine Kooperation statt und man bleibt bei der suboptimalen Situation In, oder man würde sich auf einen Kompromiss Ba zwischen Bc und Bn einigen. Beides hält Gauthier aber für unbefriedigend. Im ersten Fall würden die Sklaven die Disposition haben, nur fairen und optimalen Vereinbarungen zuzustimmen, d. h. sie wären nur zu einer Kooperation auf der Basis von Bc bereit. Dies kann aber für die Herren keine akzeptable Lösung sein, da sie im Falle einer Kooperation auf der Basis von Bc schlechter gestellt wären als im Zustand In. Als rationale Personen können sie einer solchen Vereinbarung nicht zustimmen. Also würde die suboptimale Situation In bestehen bleiben. Im zweiten Fall würden die Sklaven bereit sein, Zugeständnisse an die Herren in der Form zu machen, dass sie den Herren aufgrund ihrer Position in der Situation In eine bessere Ausgangsposition als Bc zugestehen, so dass sich durch eine Kooperation die Situation auch für die

314

Herren verbessern würde und sie damit als rationale Personen einer solchen Kooperation zustimmen könnten. Damit wäre aber die Kopplung zwischen Kooperation und Unparteilichkeit aufgelöst, die Gauthier durch das Proviso erreichen will. Die Sklaven würden als Ausgangssituation der Verhandlung einen Zustand akzeptieren, der immer noch unproduktive Transfers enthält, was Gauthier für irrational hält. V Bc VBc VIc VBn VIn

X1 B a X

X

Ic

Bn In

X

X2

UIc UBc UIn UBn

U

Abb. 5: Sklaven und Herren II Aus Sicht der Herren ist in Abb. 5 die Rangfolge der Präferenzen: UBn > UIn > UBc > UIc. Aus Sicht der Sklaven ist die Reihenfolge der Präferenzen: VBc > VIc > VBn > VIn. Bei diesem Szenario wird vorausgesetzt, dass es ausgehend von Ic und In jeweils tatsächlich auch eine Kooperationsmöglichkeit zum wechselseitigen Vorteil gibt, die durch das MRC-Prinzip ausgehandelt wird und hier mit Bc bzw. Bn bezeichnet wird. Für die Herren ist der Zustand In immer noch besser als Bc. Also ist es für sie rational, mit der Herbeiführung des Zustandes In zu drohen, den sie jederzeit herstellen können. Vom Zustand In aus kommt Bc als Option für die Herren rationalerweise gar nicht in Frage. Rational wären für sie nur Verhandlungsergebnisse zwischen einem hypothetischen Punkt X1 und Bn, bei denen tatsächlich ein beiderseitiger Vorteil entsteht. So wie Gauthier die Situation zwischen den Herren und Sklaven in seiner Geschichte darstellt und wie sie in der Abb. 5 wiedergegeben ist, ist es nicht verständlich, dass die Sklaven einer Kooperation auf der Basis von Bn nicht freiwillig zustimmen, denn es wäre doch eine Kooperation zu beiderseitigem Vorteil. Die Sklaven haben durch eine solche

315

Kooperation keine zusätzlichen Kosten, sondern nur Vorteile. Wenn sie zuvor nur unter Anwendung von Zwang ihren Herren gedient haben, so dienen sie jetzt ohne Anwendung von Zwang bzw. unter Anwendung von weniger Zwang ihren Herren. Dass sie etwas freiwillig tun, dass sie zuvor nur unter Zwang getan haben, kann nicht als Kostenpunkt angesehen werden. Hier wäre ein Widerstand auf Seiten der Sklaven nur unter der Annahme von moralischen Überzeugungen zu verstehen. Aber gerade das hat Gauthier explizit ausgeschlossen. Wenn die Ablehnung des Kooperationsangebotes Bn durch die Sklaven rational sein soll, dann kann dies aus zwei Gründen geschehen: 1. Der Nutzen von Bn ist für die Sklaven kleiner als VIn, d. h. Bn müsste in der Abb. 5 unterhalb von X2 liegen. Dies ist aber auszuschließen, wenn es eine reale Möglichkeit zur Kooperation gibt und das MRC-Prinzip für die Verhandlung angewendet wird. Das MRC-Prinzip gewährleistet, dass die Resultate für alle Teilnehmer besser sind als die Ausgangssituation, sofern es eine Kooperationsmöglichkeit gibt. 2. Die Herren verzichten nicht nur auf die Anwendung ihrer Macht in Form von Zwang, sondern auch auf den Besitz dieser Macht. Damit wäre eine Drohung der Herren nicht möglich, dass sie bei Nichteinhaltung der Vereinbarung den Zustand In wiederherstellen. Hier wäre dann nur noch eine Rückkehr zu Ic möglich, was für die Herren eine Verschlechterung ihrer Situation darstellen würde. Diese Möglichkeit kommt aber aufgrund der schon erläuterten Irrationalität oder Unmöglichkeit des Verzichtes auf den Machtbesitz nicht in Frage. Gegen die Darstellung der Situation in Abb. 5 könnte man einwenden, dass die Konstellation zwischen Ic und In gerade so gewählt ist, dass UBc zwischen UIc und UIn zu liegen kommt. Es wäre aber theoretisch auch möglich, dass die Differenz zwischen UIc und UIn so gering ist, dass UBc größer ist als UIn. In dem Fall wäre es auch für die Herren immer noch besser, auf der Basis von Ic mit den Sklaven zu kooperieren als überhaupt nicht zu kooperieren; das würde bedeuten, in den Zustand In zurückzukehren. In diesem Fall hätten die Herren keine glaubhafte Drohstrategie, denn UIn ist kleiner als UBc. Diese Situation ist in Abb. 6 dargestellt. Dieser Einwand ist prinzipiell berechtigt. Nur haben die durch diese Konstellation repräsentierten Fälle insgesamt kein großes Gewicht. Eine solche Situation kann nämlich nur dann zu Stande kommen, wenn es günstiger ist, die Sklaven normal zu entlohnen, als sie durch Zwang zum Dienst für

316

die Herren zu bringen. Das könnte dann der Fall sein, wenn z. B. die Zwangsmaßnahmen der Herren so aufwändig sind, dass die Kosten dafür höher sind als die Kosten für Löhne. Das würde aber nur darauf verweisen, dass die Herren entweder nicht über ausreichend Macht verfügen, um die Sklaven effektiv zum Dienst für sie zu zwingen, oder die Arbeit, die die Sklaven verrichten sollen, nicht ausreichend Gewinn erbringt. In allen genannten Fällen würden die Herren, sofern sie rational sind, im Naturzustand von einer Versklavung absehen. Damit ist die in Abb. 6 dargestellte Situation keine Möglichkeit, um die Situation in der Sklaven-Geschichte von Gauthier wiederzugeben.

V Bc VBc VBn V Ic VIn

Bn X

Ic

X

In

UIc UIn UBc UBn

U

Abb. 6: Sklaven und Herren III Noch eine Anmerkung zu Gauthiers Auswahl der Geschichte der Sklaven und Herren als Beispiel für den von ihm thematisierten Sachverhalt. Sklaven, die die auf Macht gegründete Herrschaftsposition ihrer Herren akzeptieren, wären irrational, wenn sie sich nicht auf Kooperationsvorschläge in der Form des jungen Herren in Gauthiers Geschichte einlassen würden. Gauthier wählt mit der Geschichte der Sklaven und Herren ein Szenario als Beispiel, das in uns ganz bestimmte Assoziationen hervorruft und auch einen Teil seiner Überzeugungskraft daher bezieht. Gerade aus diesem Grund ist die Wahl eines Beispiels, das in seinem realen Kontext so offensichtlich auf moralischen Überzeugungen beruht, in diesem Zusammenhang der Argumentation nicht sehr glücklich. Wie sehr dieses Beispiel von der Rollenbesetzung der Sklaven und Herren lebt, kann man leicht daran erkennen, dass durch eine andere Besetzung dieser Rollen diese Geschichte sogleich einen ganz anderen

317

Eindruck hinterlassen würde. Wenn z. B. die Rolle der Herren durch Individuen besetzt werden würde, die sich durch außerordentliche Intelligenz und Stärke auszeichnen, und die Rolle der Sklaven durch Individuen, die sich durch außerordentliche Dummheit und Schwäche auszeichnen, so könnte diese Verteilung der Eigenschaften genau zu der Machtverteilung führen, die Gauthier in seiner Geschichte zugrunde legt. Die Gründe für die unterschiedliche Macht würden hier auf den Unterschieden der Intelligenz und Stärke basieren. Diese Charakterisierung der beteiligten Individuen ist moralisch neutral, was man von der Rollenbesetzung durch Sklaven und Herren nicht sagen kann. Ein derart konstruiertes Szenario hätte nicht die moralischen Assoziationen, die in dem Kontext der Argumentation des Provisos gerade ausgeblendet werden sollen. Im Prinzip kann man die Charakterisierung der Rollen auf die unterschiedliche Machtfülle beschränken, d. h. auf eine Aufteilung in Mächtige und Schwache. Worauf sich die Macht der Mächtigen gründet, ist für die Problemstellung des Provisos irrelevant. Nur bei der Besetzung mit Sklaven und Herren hat man sogleich die Intuition, dass die Herren ihre Macht zu Unrecht haben oder ausüben. Ein solcher Gedanke ist in einem vormoralischen und somit rechtsfreiem Raum, der der „Sitz im Leben@ des Provisos ist, aber unangebracht. Gauthiers Kritik an Buchanans Vorschlag des nicht-kooperativen Ergebnisses als Ausgangssituation für die Verhandlung.372 Mit seiner These, dass nur von Ic aus stabile Vereinbarungen möglich sind, steht Gauthier im Widerspruch zu der von Buchanan vertretenen Position, gegen die er sich auch explizit abgrenzt. Buchanan schlägt als Ausgangssituation das

372

In MbA setzt sich Gauthier nur mit Buchanans Position der Drohstrategien auseinander. Diese Position wird aber in ähnlicher Form auch von J. F. Nash vertreten. Für Nash sind Drohstrategien wesentlicher Bestandteil bei der Herleitung des kompetitiven Verhandlungsspiels. J. F. Nash: „Two-Person Cooperative Game“ (1953), 130: „A common device in negotiation is the threat. The threat concept is really basic in the theory developed here. It turns out that the solution of the game not only gives what should be the utility of the situation to each player, but also tells the players what threats they should use in negotiating.” Diese Position Nashs ist für Gauthier nicht unproblematisch, da Gauthier seine Verhandlungstheorie sehr eng an die Theorie von Nash gekoppelt hat, was im Kapitel über die Verhandlung ausführlich dargelegt wurde.

318

nicht-kooperative Ergebnis vor, d. h. das Equilibrium im Naturzustand.373 Ansatzpunkt für eine mögliche Kooperation ist die Suboptimalität des Verteilungsergebnisses, die dadurch entsteht, dass sowohl die Investitionen in das Räuber-Verhalten als auch die dadurch bedingten Schutzmaßnahmen des Beute-Individuums unproduktiv sind. Die Möglichkeit, diese Unproduktivität für beide Seiten zu beenden, stellt das Potenzial für eine Kooperation dar. Die Räuber-Beute-Interaktionen sind Teil des Naturzustandes. Jedes Individuum nimmt an diesem Interaktionstyp je nach Stärke oder Macht mit mehr oder weniger Erfolg teil. Die sich aus diesem Interaktionstyp ergebende Güterverteilung ist weder rational noch irrational, sondern zunächst nur ein Faktum. Wenn nun im Naturzustand von den Individuen in Erwägung gezogen wird, anstelle des Räuber-Beute-Verhaltens kooperatives Verhalten durch eine Vereinbarung einzuführen, dann wird dies aus der Einsicht heraus geschehen, dass das Räuber-Beute-Verhalten nicht das effektivste Mittel zu Erreichung des individuellen Wohlergehens ist. Wichtig ist es hier festzuhalten, dass der Grund für die Wahl des kooperativen Verhaltens anstelle des Räuber-Beute-Verhaltens nicht die Unzufriedenheit mit der sich aus dem Räuber-Beute-Verhalten ergebenden Güterverteilung ist, sondern die Ineffektivität des Räuber-Beute-Verhaltens im Vergleich zum kooperativen Verhalten. Diese Überlegung wird jede Person im Naturzustand anstellen, ganz gleich, wie erfolgreich sie das Räuber-Beute-Verhalten beherrscht. Wenn Gauthier an dieser Stelle nun einwendet, dass es irrational ist, das Ergebnis der Räuber-Beute-Interaktion als Ausgangspunkt der Verhandlung zu akzeptieren, obwohl sie gar nicht mehr ausgeführt wird, entzieht er der ganzen Kooperationsidee die zugrunde liegende Basis. Diese Basis besteht darin, dass das kooperative Verhalten das für alle effektivere Mittel ist, um einen bestimmten Zielzustand zu erreichen, und dieser Zielzustand ist in diesem Fall das Ergebnis der Räuber-Beute-Interaktion. „Someone disposed to comply with agreements that left untouched the fruits of predation would simply invite others to 373

J. M. Buchanan: The Limits of Liberty (1975), 24: „The 'natural distribution', secured upon investment of effort in attack and / or defense of consumption shares in x, serves to establish an identification, a definition, of the individual person from which contractual agreements become possible. Absent such a starting point, there is simply no way of initiating meaningful contracts, actually or conceptually.”

319

engage in predatory and coercive activities as a prelude to bargaining. She would permit the successful predators to reap where they had ceased to sow, to continue to profit from the effects of natural predation after entering into agreements freeing them from the need to invest further predatory effort.“ 374 Es ist nun geradezu paradox, wenn Gauthier hier den Zielzustand ablehnt, weil nun nicht mehr der aufwändige Weg des Räuber-Beute-Verhaltens gewählt wird. Die vermeidbaren Kosten, die mit dem Räuber-Beute-Verhalten verbunden sind, sind doch gerade der Grund dafür, dass man sich auf das kooperative Verhalten einigen will. Nun anzuführen, dass man keinen Anspruch mehr auf den Zielzustand bzw. die Beute hat, weil man die vermeidbaren Kosten nicht mehr hat, kann nur mit einer fehlgeleiteten Annahme erklärt werden. Solange die mit dem Räuber-Beute-Verhalten verbundenen Kosten gezahlt werden, ist es in den Augen Gauthiers rational, das Ergebnis dieses Verhaltens zu akzeptieren. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Zielzustand bzw. die Beute einen bestimmten Preis hat, nämlich die mit dem Räuber-Beute-Verhalten verbundenen Kosten. Solange dieser Preis gezahlt wird, ist für Gauthier alles in Ordnung. Die Zahlung dieses Preis „berechtigt@ quasi zum Erhalt der Beute. Nur ist es im Fall der Räuber-Beute-Interaktion so, dass zwar beide Akteure in ihre Strategien etwas investieren müssen, aber diese Investitionen kommen nicht dem anderen Interaktionspartner als Bezahlung zugute. Der Aufwand, den ein Räuber betreiben muss, damit er erfolgreich aus einer solchen Interaktion hervorgeht, kommt nicht dem Opfer zugute. Umgekehrt ist auch der Aufwand, den ein Opfer zur Abwehr betreibt, kein Vorteil für den Räuber. Daher handelt es sich zwar um eine Investition, aber es ist kein Preis im Sinne einer Bezahlung. Die Rationalität der Einführung des kooperativen Handelns anstelle von Räuber-Beute-Interaktionen hängt davon ab, dass die im Naturzustand vorherrschende und durch Räuber-Beute-Interaktionen zu Stande gekommene Güterverteilung als gegebener und von allen Teilnehmern akzeptierter Zielzustand der Kooperation angenommen wird. Die Infragestellung des Zielzustandes würde dem ganzen Argument seine Basis nehmen. Man kann 374

MbA, 195.

320

nicht das kooperative Verhalten dem Räuber-Beute-Verhalten mit der Begründung vorziehen, dass es der effektivere Weg sei, um einen Zielzustand Z zu erreichen, und gleichzeitig sagen, dass man den Zielzustand Z gar nicht erreichen will. In dem Moment, in dem anstelle von Z ein anderer Zielzustand X angestrebt wird, der sich durch die Art der Güterverteilung unterscheidet, müsste man einen für alle rational akzeptablen Grund angeben, warum der Zustand X dem Zustand Z vorzuziehen ist. Diese Fragestellung hat aber zunächst nichts mit der Begründung für die Wahl des kooperativen Verhaltens anstelle des Räuber-Beute-Verhaltens zu tun. Es ist noch anzumerken, dass der Typ von Kooperation, der aufgrund einer vorhandenen Räuber-Beute-Interaktion eingeführt wird, nur ein Spezialfall der Kooperation ist, in dem der kooperative Mehrwert durch die wechselseitige Unterlassung von schädigenden Handlungen entsteht. Das Kooperationspotenzial beruht auf der Suboptimalität des Räuber-BeuteVerhaltens, wie Gauthier selbst betont.375 In der von Gauthier geschilderten Situation der Sklaven und Herren entfällt in der Situation Ic dieses Kooperationspotenzial. Das heißt nicht, dass es bei Ic in irgendwelchen anderen Bereichen keine Möglichkeiten der Kooperation zwischen den Herren und den „freien Sklaven" geben könnte, aber diese bringen den kooperativen Mehrwert auf andere Weise hervor, als dies vom Punkt In aus geschieht. Ein fiktives Beispiel, das der Struktur nach aber ein in der Realität häufig vorkommender Fall ist, soll veranschaulichen, dass es rational sein kann, Bn als Ausgangspunkt für eine Verhandlung zu akzeptieren. Auf einer Insel leben Bauern, die ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft erwirtschaften. Die Landfläche der Insel ist unter den Bewohnern der Insel vollständig aufgeteilt. Die Bauern führen ein friedliches Leben und erfreuen sich aufgrund der großen Fruchtbarkeit des Bodens eines sehr hohen Lebensstandards. Nun kommen eines Tages Piraten auf die Insel, die die Absicht haben, sesshaft zu werden. Sie sind den Bauern kriegerisch überlegen, können daher die Bauern von der Hälfte der Insel vertreiben und nehmen das Land für sich in Anspruch. Ihren Lebensunterhalt sichern sich die Piraten, indem sie gelegentlich die Bauern auf der anderen Hälfte der Insel überfallen und berauben. Die Bauern wehren sich mit aller Macht gegen diese Überfälle, 375

Ebda, 194f.

321

können aber am Ende nicht viel ausrichten. Bei diesen Überfällen werden auf beiden Seiten immer wieder Leute verletzt und getötet sowie einiges an Schäden an den Gebäuden der Bauern angerichtet. Die Interaktion zwischen den Bauern und Piraten in diesem Szenario ist eine typische Räuber-BeuteInteraktion, die das Potenzial zu einer Kooperation enthält. Das Unterlassen der Gewaltanwendung auf beiden Seiten würde zum wechselseitigen Vorteil sein, denn dies ist in diesem Szenario ein unproduktives Handeln. Die kooperative Lösung könnten hier festgelegte Abgaben oder Dienstleistungen der Bauern an die Piraten sein. Würde man zur Vorbereitung einer Kooperation das Proviso auf diese Situation anwenden und alle unproduktiven Transfers rückgängig machen, so müssten die Piraten die Insel verlassen; denn alles, was sie an Besitz haben, ist Beute aus unproduktiven Transfers. Das Verlassen der Insel wäre aber in dieser Situation keine reale Option für die Piraten. Es ist für die Piraten deshalb rational nicht akzeptabel, weil es die schlechteste von drei möglichen Optionen für sie ist: Kooperation, RäuberBeute-Interaktionen und Verlassen der Insel. Eine Kooperation wäre hier unter den von Gauthier geforderten Bedingungen gar nicht möglich, denn die Piraten könnten nichts zum Verhandlungstisch mitbringen. Alles, was sie haben, haben sie durch unproduktive Transfers erlangt, die durch das Proviso wieder rückgängig gemacht werden würden. Würden die Bauern also auf die Einhaltung des Provisos bestehen und somit die Kooperation verhindern, so würden sie nicht rational handeln. Es würde den Fortbestand der RäuberBeute-Interaktionen bedeuten, was für sie die schlechteste der drei Möglichkeiten ist. Mit diesem Beispiel ist gezeigt, dass es rational sein kann, einen Ausgangszustand vom Typ Bn für die Verhandlung zu akzeptieren. Damit gibt es aber in diesen Fällen keinen Grund mehr, das Proviso und somit wesentliche Elemente der Moral in die Vereinbarung einzuführen. Durch dieses Beispiel wird auch deutlich, dass für die Festlegung des Ausgangszustandes der Verhandlung die Vorgeschichte des Ist-Zustandes nicht prinzipiell von Bedeutung ist. Ansatzpunkt für jede Überlegung bezüglich der Festlegung des Ausgangszustandes ist zunächst einmal der faktische Ist-Zustand. Jede davon abweichende Annahme ist begründungsbedürftig. Hier eine Umkehr der Beweislast einzuführen, wäre sehr unplausibel. Die zu gebende Begründung muss für alle betroffenen Teilnehmer akzeptabel sein, d. h. in letzter Konse-

322

quenz, dass sie nachweisen muss, dass die Annahme eines vom Ist-Zustand abweichenden Zustandes zum Vorteil aller ist. Zur Übernahme von Resultaten aus Räuber-Beute-Interaktionen in des Ausgangszustand von Kooperationsverhandlungen macht Gauthier noch einen Einwand, der eine implizite Moralisierung des Naturzustandes zum Vorschein kommen lässt, die im Verlauf des Proviso-Kapitels auch an anderen Stellen durchscheint. Er wendet sich gegen die Akzeptanz des Zielzustandes der Räuber-Beute-Interaktion mit dem Argument, dass dies als eine Acompliant victimization@ anzusehen wäre, die nicht rational ist.376 Die ehemaligen Räuber würden da ernten, wo sie nicht gesät hätten, würden die Früchte des Räuber-Beute-Verhaltens erhalten, ohne es tatsächlich ausgeführt und die damit verbundenen Kosten aufgewendet zu haben. Diese Beschreibung trifft genau das, was sich bei einer solchen Kooperation abspielen würde. Nur die Bewertung dieser Situation von Gauthier ist nicht nachvollziehbar. Diese Ersparnis der ehemaligen Räuber ist doch gerade der Grund für sie, sich an einer solchen Kooperation zu beteiligen. Wie sollte denn überhaupt in einer Räuber-Beute-Situation eine Kooperation aussehen, wenn dem Räuber nicht seine Beute zugesprochen wird? Eine Kooperation, die darin bestünde, dass der Räuber sein räuberisches Verhalten nicht mehr ausführt und somit die damit verbundenen Kosten nicht mehr hat, ihm aber gleichzeitig auch seine Beute nicht mehr zugestanden wird, wird für einen Räuber wenig attraktiv sein. Was Gauthier in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, ist der Vorteil, den das Opfer von einer solchen Kooperation hat. Im Naturzustand muss das von Gauthier als Opfer bezeichnete Individuum Schutzmaßnahmen etc. treffen, um seinen Besitz zu schützen. Dieser Aufwand bewahrt es davor, dass es durch die räuberischen Handlungen noch mehr geschädigt wird. Diese Besitzstandssicherung erhält das Opfer im Falle einer Kooperation, ohne einen Aufwand dafür zu haben. Auch das Opfer erntet, ohne gesät zu haben. Im Fall des Räuber-Beute-Verhaltens bedeutet Kooperation „compliant victimization@ und diese compliance ist auch rational. Das Anstößige erhält der Begriff der „compliant victimization@ erst dann, wenn man den Begriff des Opfers moralisch auflädt und damit assoziiert, dass dem Opfer ein 376

Ebda, 195.

323

Unrecht widerfährt. Da es im Naturzustand aber per definitionem keine Moral gibt, beinhaltet der Begriff des Opfers lediglich, dass das Opfer das in der Räuber-Beute-Interaktion unterlegene Individuum ist. Gauthier macht noch einen weiteren Einwand gegen Buchanans Position, der den Zustand Bn als Ausgangsposition für die Verhandlung annimmt.377 Würde man Bn als Ausgangssituation für die Verhandlung akzeptieren, so wäre dies nach Gauthiers Meinung indirekt eine Aufforderung zum Raub im Vorfeld einer Verhandlung. Die Teilnehmer an einer Verhandlung würden versuchen, durch möglichst viele unproduktive Transfers ihre Position für die Verhandlung zu verbessern. Zu diesem Einwand möchte ich zwei kritische Anmerkungen machen: 1. Wenn Gauthier den Einwand macht, dass eine Kooperation vom Typ Bn zum Raub vor der Verhandlung einladen würde, dann ist das nur ein triftiger Grund, wenn ohne die Verhandlung dieser Raub nicht stattfinden würde, d. h. die Verhandlung die mittelbare Ursache für diesen Raub ist. Wenn eine Person A vor der Verhandlung dem zukünftigen Kooperationspartner B Güter raubt, die B sonst als Kooperationsbeitrag in die Verhandlung eingebracht und somit seine Position in der Verhandlung verbessert hätte, so setzt dies natürlich voraus, dass er in der Lage ist, diese Güter von B zu rauben. Wenn das aber der Fall ist, dann ist es unverständlich, warum A erst jetzt B diese Güter raubt. Wenn die relevanten Güter transferierbare Güter sind und A diese von B rauben kann, dann wird A sie von B rauben, unabhängig von einer zu erwartenden Kooperation. Man könnte also höchstens anführen, dass eine bevorstehende Kooperation A zeitlich dazu drängt, einen Raub durchzuführen, zu dem er bis jetzt aus irgendwelchen Gründen noch nicht gekommen ist. Da das Proviso aber eine hypothetische Konstruktion ist, spielt hier der ZeitFaktor keine Rolle. Die Einsicht in den Vorteil einer Kooperation stellt sich im Naturzustand dann ein, wenn sich aufgrund nicht-kooperativer, ausschließlich nutzenmaximierender Strategien ein Equilibrium eingestellt hat. Dazu gehört, dass alle Möglichkeiten zur Verbesserung der eigenen Lage ausgeschöpft werden. 2. Es ist unklar, inwiefern die Feststellung, dass Bn die Raubaktivitäten im Vorfeld einer Verhandlung forciert, ein Einwand gegen die Festlegung von Bn 377

Ebda, 195.

324

als Ausgangssituation sein sollte. Raub ist eine Aktivität, die wesentlich zum Konstrukt des Naturzustandes gehört. Wenn im Naturzustand jemand die Möglichkeit zum Raub hat und mit diesem Raub keine anderen Nachteile für ihn verbunden sind, dann ist es ein Anzeichen von Irrationalität, wenn er diese Möglichkeit zum Raub nicht wahrnimmt. Von diesem Tatbestand ausgehend würde die Annahme von Bn nur dazu führen, dass die Teilnehmer im Naturzustand konsequenter die Möglichkeiten zum rationalen Verhalten nutzen. Nur in einem moralisch aufgeladenen Naturzustand wäre der Raub eine unerwünschte Aktivität. Gauthiers Argumente gegen Drohstrategien. Gauthier argumentiert gegen Buchanan, dass die Androhung in einer Kooperation, bei Nichteinhaltung der Vereinbarung wieder das Verhalten des Ausgangszustandes auszuführen, nicht glaubhaft ist, weil deren Realisierung für jeden Teilnehmer einen Nachteil gegenüber dem Zustand der Kooperation bedeuten würde.378 Dies soll ein weiteres Argument gegen die Annahme der nicht-kooperativen Situation als Ausgangssituation für die Verhandlung sein. Gauthier hat Recht mit seiner Behauptung, dass die Rückkehr zur nicht-kooperativen Situation für alle Beteiligten nur ein Nachteil wäre, wenn man von der kooperativen Situation ausgeht. Diese Situation ist aber nicht mehr gegeben, sobald ein Teilnehmer das kooperative Verhalten aufkündigt. Und genau darauf zielt die von Gauthier hier angeführte Überlegung. Ein Kooperations-Teilnehmer überlegt sich, welche Gründe es gibt, sich weiterhin an die Vereinbarung zu halten. Er spielt also mit dem Gedanken, sich nicht mehr an die Vereinbarung zu halten. Nur in einer solchen Situation könnte der andere Kooperationspartner die Drohung aussprechen, dass er im Fall des Vertragsbruchs wieder das Verhalten der Ausgangssituation annehmen würde. Sollte sich der zweifelnde Kooperations-Teilnehmer dazu entschließen, das kooperative Verhalten aufzukündigen, dann ist für den anderen Kooperationspartner das einseitige kooperative Verhalten eine noch schlechtere Möglichkeit als die Rückkehr zum nicht-kooperativen Verhalten. Dass das einseitige kooperative Verhalten die schlechteste Möglichkeit ist, wird schon im Gefangenen-Dilemma deutlich. Die optimale Möglichkeit ist 378

Ebda, 196.

325

die Kooperation und die zweitbeste ist das beiderseitige nicht-kooperative Verhalten. Demnach ist die Drohung, im Falle der Nichteinhaltung der Vereinbarung zum nicht-kooperativen Verhalten zurückzukehren, keineswegs irrational. Allerdings gibt es eine Situation, in der eine solche Drohung nicht glaubhaft wäre, die Gauthier aber hier nicht anspricht. Diese Situation würde dann eintreten, wenn einer der Kooperationsteilnehmer nicht völlig vom kooperativen zum nicht-kooperativen Verhalten umschwenkt, sondern nur seinen Kooperationsbeitrag etwas mindert oder seinen Anteil am kooperativen Mehrwert erhöht. Er würde den Kooperationszustand etwas zu seinen Gunsten und etwas zu Ungunsten des anderen verschieben, aber nur soweit, dass es für den anderen immer noch besser ist als der nicht-kooperative Zustand. Diese Möglichkeit ist zunächst nicht bei allen Kooperationen gegeben, sondern nur bei solchen, bei denen zum einen überhaupt eine Graduierung der Kooperationsbeiträge oder des kooperativen Mehrwerts möglich ist und zum anderen einer der Kooperationspartner ohne die Zustimmung des anderen eine solche Veränderung vornehmen kann. Was wird aber die zu erwartende Reaktion des anderen Kooperationspartners sein, wenn er diese Veränderung des Verhaltens seines Kooperationspartners feststellt? Er wird natürlich in gleicher Weise seinen Kooperationsbeitrag reduzieren bzw. seinen Anteil am kooperativen Mehrwert vergrößern. Dies ist zwar keine Rückkehr in den völlig nicht-kooperativen Zustand, aber die Antwort auf die Nichteinhaltung der Vereinbarung bedeutet für denjenigen, der die Vereinbarung gebrochen hat, auch eine Verschlechterung seiner Situation. Gleichzeitig ist die Reduktion des Kooperationsbeitrages als Antwortstrategie auf einen Bruch der Vereinbarung ein Verhalten, dass für den betrogenen Kooperationspartner zu einem besseren Ergebnis führt, als weiterhin sich vollständig kooperativ zu verhalten; es ist somit ein rationales Verhalten. Die Androhung einer Reduktion des Kooperationsbeitrages ist also rational und damit eine glaubhafte Drohung. Motivation zur Vertragstreue. Ein weiteres Argument Gauthiers gegen Drohstrategien ist, dass Zwang oder dessen Androhung nicht zur Einhaltung von Vereinbarungen motiviert und daher Drohstrategien irrational sind:

326

„But a return to the natural distribution benefits no one. The threat is unreal. What motivates compliance is the absence of coercion rather than the fear of its renewal.“ 379 Hinsichtlich der Vertragstreue gibt es zwei Fragen, die sich durch die Situation unterscheiden, in der sich die Person befindet. Die eine Situation ist, dass jemand nicht vertragskonform handelt und nun nach Gründen fragt, wieder oder erstmals vertragskonform zu handeln. In der anderen Situation handelt die Person vertragskonform und stellt sich die Frage, ob es nicht vielleicht besser wäre, zukünftig nicht mehr vertragskonform zu handeln. Der Unterschied kommt durch die zu vergleichenden Situationen zu Stande. Im ersten Fall sind die Konsequenzen bei einem Übergang vom nichtvertragskonformen zum vertragskonformen Handeln zu betrachten. Im zweiten Fall verhält es sich genau umgekehrt. Die erste Frage fällt mit der Frage nach der Rationalität der Vereinbarung zusammen und ist im engeren Sinne gar nicht eine Frage nach der Motivation zum vertragstreuen Verhalten. Für diese Frage ist die Behauptung von Gauthier zutreffend. Wenn durch die Einhaltung einer Vereinbarung der Wegfall eines Zwanges bewirkt wird, dann kann dieser Wegfall des Zwanges zur Einhaltung der Vereinbarung motivieren. Stellt sich aber ein Teilnehmer an der Vereinbarung die Frage, ob er weiterhin die Vereinbarung einhalten soll oder nicht, dann ist das Faktum der Abwesenheit von Zwang für ihn bei dieser Entscheidung kein Motiv, die Vereinbarung weiterhin einzuhalten. Die Motivation zur Vertragstreue resultiert aus einer Differenz zum Zustand des Vertragsbruches. Der Grund dafür, dass sich ein Teilnehmer überhaupt fragt, ob er weiterhin das vertragstreue Verhalten ausführen soll, besteht darin, dass dieses Verhalten mit einem Aufwand für ihn verbunden ist. Die Frage, die er sich stellt, ist, ob sich dieser Aufwand lohnt bzw. ob es nicht einen Weg gibt, diesen Aufwand zu vermeiden. Diese Frage kann er im Sinne der Vertragstreue nur dann positiv beantworten, wenn das vertragstreue Verhalten für ihn einen Vorteil hat, den er im Falle des Vertragsbruches nicht hätte. Könnte er für den Fall, dass er zum vertragsbrüchigen Verhalten übergeht, damit rechnen, dass die Abwesenheit von Zwang erhalten bleibt und auch keine anderen negativen Konsequenzen für ihn zu erwarten sind, dann wäre es doch 379

Ebda.

327

irrational für ihn, weiterhin die Kosten des vertragstreuen Verhaltens aufzubringen, obwohl sich durch diese Investition quasi nichts ändert. Hingegen würde die Aussicht, dass er bei Nichteinhaltung der Vereinbarung mit Zwang zu rechnen hätte, ein Motiv sein, die Vereinbarung weiterhin einzuhalten. Dies ist der typische Mechanismus eines Sanktionssystems.

4. Kosten des Provisos für die Mächtigen Aufgrund der Asymmetrie der unproduktiven Transfers kommen durch die Einführung des Provisos nur auf die mächtigen Teilnehmer zusätzliche Kosten zu. Diese Kosten des Provisos für die Mächtigen müssen durch den ihnen zukommenden Vorteil aus der Kooperation mehr als ausgeglichen werden, damit es auch für sie rational ist, dem Proviso zuzustimmen. Damit sind wir bei der uralten Frage angelangt: Ist es auch für den Starken vernünftig, moralisch zu sein? Auch in MbA werden an die Mächtigen andere Anforderungen gestellt als an die Schwachen. Es ist ein gravierender Mangel von MbA, dass Gauthier die Frage der Rationalität des Provisos nicht gesondert aus der Perspektive der Mächtigen analysiert. Er geht in seiner Argumentation von einer weitgehend homogenen Gruppe aus und differenziert nicht zwischen schwachen und mächtigen Teilnehmern. Die Kosten bzw. Vorteile, die durch das Proviso entstehen, verschieben den Gesamtnutzen der Kooperationsvereinbarung zugunsten der Schwachen. Die Feststellung der relativen Bevorzugung der Schwachen ist noch kein Einwand gegen die Theorie Gauthiers, wenn er darauf verweisen könnte, dass die Akzeptanz des Provisos die einzige rationale Möglichkeit ist, um eine stabile Kooperationsvereinbarung zu etablieren. Sollte sich aber herausstellen, dass es noch eine andere akzeptable Möglichkeit gibt, z. B. durch den Nachweis der von Gauthier bestrittenen Rationalität von Drohstrategien, so ist die relative Bevorzugung der Schwachen eine kritische Schwachstelle der Theorie Gauthiers. Ob es für alle Teilnehmer, insbesondere die Mächtigen, rational ist, das Proviso zu akzeptieren, hängt vom Größenverhältnis der durch die Kooperation zu erwartenden Vorteile und den möglichen Kosten für das Proviso ab. Nur wenn für die Mächtigen die durch das Proviso für sie entstehenden

328

Kosten (KP) geringer sind als die für sie zu erwartenden Vorteile durch die Kooperation (VK), dann ist es auch für sie rational, das Proviso zu akzeptieren. Ohne die Anbindung an eine Kooperation ist es demnach für die mächtigen Teilnehmer nicht rational, das Proviso zu akzeptieren. Formal ausgedrückt muss folgende Bedingung erfüllt sein: ∆ = (VK - KP) > 0 Q = (VK/KP) > 1,

oder

damit es rational ist, das Proviso zu akzeptieren. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, das Verhältnis der durch das Proviso entstehenden Kosten für die Mächtigen und der durch die Kooperation zu erwartenden Vorteile zumindest annäherungsweise zu bestimmen. Aus der hier skizzierten Problemstellung geht klar hervor, dass dabei nur die Mächtigen berücksichtigt werden müssen, da den anderen Teilnehmern durch das Proviso keine Kosten entstehen. Wenn nicht explizit darauf hingewiesen wird, bezieht sich daher die folgende Analyse in diesem Abschnitt ausschließlich auf die Mächtigen. Um die These Gauthiers, dass es für alle Teilnehmer rational ist, das Proviso zu akzeptieren, zu widerlegen, reicht es im Prinzip aus, ein einziges überzeugendes Gegenbeispiel anzuführen. Solange man aber für VK und KP keine konkreten Werte einsetzen kann, ist es auch nicht möglich, ein konkretes Beispiel anzuführen. Die folgende Argumentation muss sich deshalb darauf beschränken zu zeigen, dass zumindest die Annahme der Existenz solcher Gegenbeispiele sehr plausibel ist. Um das Verhältnis zwischen diesen beiden Größen KP und VK zu bestimmen, werde ich den Weg eines indirekten Vergleichs über einen dritten Parameter wählen, der direkt von den anderen beiden Größen abhängig ist. Dieser dritte Parameter ist die Verteilung der Macht unter den Teilnehmern, die auch in Gauthiers Argumentation explizit eine Rolle spielt. Zuerst wird untersucht, wie die Kosten des Provisos für die Mächtigen und die Machtverteilung in der Gruppe voneinander abhängen. Als Ansatzpunkt der Überlegung sollen zunächst zwei Extrempunkte dienen. In welchem Fall entstehen keine oder minimale Kosten durch das Proviso und in welchem Fall entstehen maximale Kosten durch das Proviso? Keine Kosten entstehen durch die Beschränkungen des Provisos, wenn alle Teilnehmer hinsichtlich ihrer Macht völlig gleich sind. Denn dann gibt es keine unproduktiven Transfers, die durch ein Proviso korrigiert werden müssten, da unproduktive Transfers auf Machtunterschieden beruhen. Sehr hohe Kosten durch das Proviso

329

entstehen dann, wenn die Machtunterschiede zwischen den Personen sehr groß sind. Dann ist die Wahrscheinlichkeit von unproduktiven Transfers sehr hoch. Das heißt, je geringer die Differenzen der Macht unter den Teilnehmern sind, desto geringer sind die Kosten für das Proviso und desto unproblematischer wird die Akzeptanz des Provisos sein. Je größer die Differenzen der Macht unter den Teilnehmern sind, desto größer sind die durch das Proviso möglichen Kosten. Legt man für die jeweiligen Extrempunkte die Werte 0 und 1 fest, so ergibt sich die Darstellung dieses Verhältnisses in Abb. 7. Kosten durch das Proviso für die Mächtigen

1

Machtdifferenz

0

1

Abb. 7: Kosten Proviso und Machtdifferenz Nutzen der Kooperation für die Mächtigen

1

0

Machtdifferenz 1

Abb. 8: Nutzen Proviso und Machtdifferenz

330

In Abb. 8 wird das Verhältnis zwischen der Größe der Machtdifferenzen und dem Nutzen der Mächtigen in Kooperationen dargestellt. Daraus geht hervor, dass mit steigender Machtdifferenz gleichzeitig der Nutzen der Kooperation für die Mächtigen abnimmt. Diese Behauptung leitet sich aus folgender Überlegung ab. Zunächst sei an die hier verwendete Definition des Begriffes Macht erinnert: Macht ist das faktische Potenzial einer Person, ihre eigenen Interessen gegen die Interessen anderer Personen und ohne deren Zustimmung durchzusetzen. Es ist wichtig zu betonen, dass die Macht eine Fähigkeit und somit etwas Potenzielles ist. Wenn in einer 2-Personen-Gesellschaft Person A mächtiger ist als Person B und B daher nie seinen Willen gegen A durchsetzen kann, dann ist die Schlussfolgerung nicht, dass B gar keine Macht, sondern nur weniger Macht als A hat. Macht ist so gesehen ein komparativer Begriff, der sich immer in einem „mächtiger als" aussagen lassen muss. Wenn man nun auf einer Skala von 0 bis 1 die Größe der Macht der Personen aufträgt, dann ist für den Fall einer vollständigen Gleichverteilung der Macht prinzipiell denkbar, dass die Macht der Personen auf jedem Niveau zwischen 0 und 1 angesiedelt ist. Wann ist bei diesen möglichen Fällen die Wahrscheinlichkeit am größten, dass überhaupt eine Kooperation stattfindet, d. h. Bedarf und Möglichkeit für eine Kooperation besteht? Dazu muss zuerst erläutert werden, welche Zustände den mit 0 bis 1 bewerteten Niveaus der Macht entsprechen. Macht beruht auf Eigenschaften der Person wie physischer und psychischer Stärke, intellektuellen, sozialen und handwerklichne Fähigkeiten, materiellem Besitz oder der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht. Diese Eigenschaften sind gleichzeitig auch ihr Potenzial an Kooperationsbeiträgen. Auch wenn hier eine vollständige Übereinstimmung nicht notwendigerweise angenommen werden kann, so ist eine weitgehende Übereinstimmung doch sehr plausibel. Somit ist eine mächtige Person gleichzeitig jemand mit einem großen Potenzial an Kooperationsbeiträgen. Jemand, der viel hat und viel kann, wird aber in geringerem Maße auf eine Kooperation angewiesen sein und dementsprechend weniger an einer solchen interessiert sein als jemand, der wenig hat und wenig kann. Je mehr Potenzial (an Fähigkeiten) und Besitz eine Person hat, desto mehr kommt sie in einen Zustand der Autarkie, in dem eine Kooperation für sie zwar noch vorteilhaft

331

ist, aber sie nicht mehr darauf angewiesen ist . Der Vorteil einer Kooperation ist somit für sie relativ gering. Dieser Tatbestand wird z. B. an Risiko-Solidargemeinschaften in Form von Krankenversicherungen deutlich. Während für arme Menschen die Mitgliedschaft in einer Krankenversicherung eine existentielle Frage sein kann, ist es für reiche Menschen eher eine Frage der Solidarität. Jemand, der nur einen geringen Bedarf an Kooperation hat, hat auch nur einen vergleichsweise geringen Vorteil von Kooperationen. Nun ist dieser Schluss nicht zwingend, aber es scheint doch plausibel zu sein, dass der Nutzen aus einer Kooperation für jemanden, der sehr gut auch ohne diese Kooperation zurechtkommen würde, wesentlich geringer ist als für jemanden, der existentiell auf diese Kooperation angewiesen ist. Dies ist ein aus der Entscheidungstheorie wohlbekanntes Phänomen, das mit einer Sättigungskurve beschrieben werden kann. Der Zustand einer Person ist nicht beliebig verbesserbar, so dass ab einem bestimmten Bereich der Zustand einer Person auch durch sehr große Zugewinne nur noch infinitesimal angehoben werden kann. Hinzu kommt noch ein weiterer Faktor, der für den Mächtigen in einer solchen Konstellation die Kooperation unattraktiver macht. Wenn ein Mächtiger mit einem Schwachen kooperiert, so wird nach den bisher gemachten Annahmen der Kooperationsbeitrag des Mächtigen größer sein als der Kooperationsbeitrag des Schwachen. Wie aber im Kapitel über die Verhandlung gezeigt wurde, ist durch die Anwendung des MRC-Prinzips derjenige Teilnehmer einer Kooperation im Vorteil, der den geringeren Kooperationsbeitrag leistet. Er kann seinen Kooperationsbeitrag effektiver einsetzen als derjenige mit einem größeren Kooperationsbeitrag. Denn die Zuteilung des Anteils am kooperativen Mehrwert wird unabhängig von der Größe des Kooperationsbeitrages vorgenommen. Dies bedeutet: Je größer die Machtunterschiede zwischen den Kooperationsteilnehmern sind, desto uneffektiver und damit unvorteilhafter wird für die Mächtigen die Teilnahme an einer Kooperation. In einer Gesellschaft ohne Machtunterschiede ist der Bedarf zur Kooperation bei allen Personen im gleichen Maße vorhanden und zugleich der Vorteil durch die Kooperation für alle Teilnehmer gleich groß. Das folgende Beispiel soll die für eine Kooperation notwendige Entsprechung von Bedarf und Kooperationspotenzial veranschaulichen. Bei zwei benachbarten Bauern findet sich folgende Situation vor: Ein Bauer hat einen

332

Traktor und der andere einen Mähdrescher. Beide benötigen aber für ein optimales Ergebnis ihrer Arbeit auch die Maschine, die der andere hat. Damit sind die Voraussetzungen für eine Kooperation gut. Hier ergänzen sich Bedarf und Möglichkeit. Würde die Verteilung aber so aussehen, dass der eine Bauer beide Maschinen hat und der andere gar keine Maschine, dann gäbe es zunächst keine Basis für eine Kooperation. Kehren wir zurück zu der Frage, bei welchem Machtniveau zwischen 0 und 1 bei einer völligen Gleichverteilung der Macht der Nutzen und damit die Wahrscheinlichkeit für das Zustandekommen einer Kooperation am größten ist. Nach den hier angestellten Überlegungen dürfte der größte Nutzen einer Kooperation bei einem Machtniveau von 0,5 anzusiedeln sein. Hier halten sich nämlich zwei Parameter genau die Balance: der Bedarf zur Kooperation und das Potenzial an Kooperationsbeiträgen. Eine Gruppe von Personen, die alle das Machtniveau 1 haben, haben zwar große Möglichkeiten zur Kooperation, aber einen vergleichsweise geringen Nutzen. Eine Gruppe von Personen auf dem Machtniveau 0 hätten zwar einen enormen Nutzen von einer Kooperation, aber sie haben kein Potenzial an Kooperationsbeiträgen und somit keine Möglichkeit zur Kooperation. Aufgrund dieser Überlegungen wird bei den folgenden Untersuchungen über die Machtverteilung davon ausgegangen, dass es sich im Falle einer vollständigen Abwesenheit von Machtdifferenzen um eine Machtverteilung auf dem Niveau von 0,5 handelt. Mit dieser Annahme ist die für die Theorie Gauthiers günstigste Wahl getroffen, denn alle anderen Niveaus würden den Nutzen der Kooperation mindern und damit wäre der mögliche Vorteil aus der Kooperation für die Mächtigen geringer. Dies wäre aber wiederum für die Frage, ob sich die Akzeptanz des Provisos auch für die Mächtigen lohnt, ein Punkt zu Ungunsten von Gauthiers Theorie. Denn je geringer der Vorteil aus der Kooperation ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kosten des Provisos die Vorteile durch die Kooperation übersteigen und damit die Akzeptanz des Provisos nicht mehr rational ist.

333

1 Kosten durch das Proviso für die Mächtigen / Bedarf an Moral in einer Gesellschaft

S Möglichkeiten zur Kooperation in einer Gesellschaft / Vorteile durch eine Kooperation für die Mächtigen 0

Ms

1

Machtdifferenz

Abb. 9: Kritische Grenze für Akzeptanz des Provisos Die Mächtigen haben also im Fall großer Machtdifferenzen zugleich große Kosten durch das Proviso sowie geringen Bedarf und wenig Vorteile hinsichtlich einer Kooperation, wie in Abb. 9 dargestellt ist. In Abb. 9 wird zudem noch ein zusätzlicher und sehr wesentlicher Parameter eingeführt, nämlich der Bedarf an Moral bzw. deren Einführung in eine Gesellschaft. Um zu diesem Abhängigkeitsverhältnis zu kommen, kann man folgende Überlegung hinsichtlich der Funktion einer Moral mit den Eigenschaften, die ihr Gauthier zuschreibt, anstellen. Geht man mit Gauthier davon aus, dass das wesentliche Kennzeichen und die wesentliche Funktion der Moral in ihrer Unparteilichkeit besteht und Unparteilichkeit die gleiche Gewichtung der Interessen aller Teilnehmer bedeutet, dann ist der Bedarf einer Moral umso stärker, je größer die Machtunterschiede unter den Teilnehmern sind. Bei einer völligen Gleichverteilung der Macht im Naturzustand können alle Teilnehmer ihre Interessen mittels ihrer Macht im gleichen Maße durchsetzen. Die Gewichtung der Interessen ist somit in einer solchen Gesellschaft für jede Person gleich. Hier sind auch keine unproduktiven Transfers zu erwarten, denn jede Konfrontation würde bei einem Machtgleichgewicht früher oder später in einem Patt enden. Damit wäre ein Proviso, dessen Funktion in der effektiven Aufhebung von unproduktiven Transfers besteht, überflüssig. Letztlich wäre auch die Einführung von Unparteilichkeit überflüssig, denn ihre Einführung hätte effektiv keine Auswirkungen. Umgekehrt würde sich in einer Gesellschaft mit großen Machtunterschieden durch die Einführung einer Moral sehr

334

viel verändern; somit könnte hier ein großes Interesse, zumindest einiger Teilnehmer, bestehen, eine Moral einzuführen. Wie aus Abb. 9 zu ersehen ist, sind an dem Punkt mit dem größten Bedarf zur Einführung einer Moral, nämlich bei maximalen Machtdifferenzen, zugleich die Kosten der Mächtigen für das Proviso ebenfalls maximal, die Vorteile der Mächtigen aus der Kooperation jedoch minimal und die Aussichten auf eine erfolgreiche Einführung von Kooperation aufgrund der Verteilung der möglichen Kooperationsbeiträge minimal. Der Versuch, unter diesen Randbedingungen eine Moral einzuführen, wäre aussichtslos. Die hier aufgezeigten Verhältnisse sind natürlich nur Tendenzen, die über absolute Differenzen zwischen Vorteilen und Kosten und damit über die Rationalität einer Kooperationsvereinbarung keine definitiven Aussagen zulassen. Aber es wird dadurch deutlich, dass es wahrscheinlich ist, dass in konkreten Fällen das Verhältnis zwischen den Kosten des Provisos und den Vorteilen der Kooperation die Theorie Gauthiers in ernste Schwierigkeiten bringen könnte. Wären die in Abb. 9 dargestellten Verhältnisse umgekehrt, so müsste man zumindest aus dieser Perspektive keine Probleme erwarten. Aber die Darstellung fällt selbst bei Annahme der für Gauthier günstigsten Bedingungen komplett zu Ungunsten seiner Theorie aus. Im kritischen Extremfall - wenn die Machtdifferenzen maximal sind - sprechen alle anderen Parameter zumindest tendenziell gegen die Rationalität der Akzeptanz des Provisos durch die Mächtigen. Für die Frage, ob die Akzeptanz des Provisos rational ist, ist der in der Abb. 9 mit S bezeichnete Punkt die kritische Grenze. Sobald die Machtdifferenz ∆ M größer ist als Ms, ist es für die Mächtigen nicht mehr rational, dem Proviso zuzustimmen. Ab diesem Punkt werden für sie die durch das Proviso entstehenden Kosten größer als die aus der Kooperation zu erwartenden Vorteile. Umgekehrt entsprechend: Bis zu diesem Punkt ist für sie die Akzeptanz des Provisos rational, da die aus der Kooperation zu erwartenden Vorteile größer sind als die durch das Proviso entstehenden Kosten. In der Darstellung der verschiedenen Funktionen ist aus Gründen der Einfachheit angenommen worden, dass die Funktionen linear sind und sich die Werte zwischen den fiktiven Grenzen 0 und 1 befinden. Um aus diesen Darstellungen solide Schlüsse hinsichtlich des Provisos ziehen zu können, müsste man untersuchen, welchen Verlauf diese Funktionen tatsächlich

335

haben. Denn mit einer Änderung der Funktionen könnte sich der Punkt Ms drastisch in die eine oder andere Richtung verschieben. Angenommen man hätte diesen Verlauf der Funktionen relativ eindeutig bestimmt, dann kommt noch eine zweite Frage auf, von deren Beantwortung die praktische Relevanz der Theorie von Gauthier abhängen würde. Man müsste klären, wie in realen Gesellschaften die Macht verteilt ist. Wenn die Machtverhältnisse in realen Gesellschaften derart ist, dass Ms wesentlich größer ist als die anzunehmende Machtdifferenz ∆ M, dann wäre die Theorie von Gauthier zumindest in dieser Hinsicht für reale Gesellschaften eine reale Möglichkeit. Wenn hingegen die realen Machtdifferenzen ∆ M deutlich größer sind als Ms, so werden die Mächtigen dem Proviso nicht zustimmen und die Theorie wäre hinfällig. Wie die Machtverhältnisse in realen Gesellschaften sind, ist eine empirische und zudem äußerst komplexe Frage. Schon das allein ist ein hinreichender Grund, diese Frage an dieser Stelle nicht zu beantworten. Es kommt aber noch erschwerend hinzu, dass man für die Klärung, ob die Akzeptanz des Provisos durch die Mächtigen rational ist, nicht von den Zuständen in realen Gesellschaften ausgehen kann. Denn in realen Gesellschaften gibt es Moral, und Moral verzerrt die natürlichen Machtverhältnisse in gravierender Weise, so dass die Feststellung der realen Machtverhältnisse keine direkte Antwort auf die gestellte Frage ist. Man müsste feststellen, zu welcher Machtverteilung es in einem hypothetischen Naturzustand kommt, wenn in diesem Szenario Personen aus realen Gesellschaften leben.

5. Annahme der Gleichverteilung von Rationalität und Macht Die Analyse im letzten Abschnitt ging von einer mehr oder weniger stark ausgeprägten Ungleichheit der Machtverteilung im Naturzustand aus. Mit der Annahme GR versucht Gauthier diese möglichen Ungleichheiten weitgehend zu eliminieren. Im Kontext der Verhandlung in Abs. III.G.2 wurde die Annahme einer Gleichverteilung der Rationalität schon ausführlich besprochen. Auf eine zunächst ganz ähnlich erscheinende Annahme stoßen wir in der Konzeption des Provisos. Jedoch hat sie hier eine deutlich andere Stoßrichtung. Man kann relativ klar ihre Bedeutung und Funktion ausmachen und sieht sogleich den Unterschied zur Annahme GR im Kontext der Verhand-

336

lungstheorie. Eine klare Abgrenzung zwischen diesen beiden Verwendungen ist im Text bei Gauthier nicht erkennbar. Eines lässt sich aber mit Sicherheit sagen: Die inhaltliche Bestimmung, die die Annahme der gleichen Rationalität speziell im Proviso erhält, ist nicht für die Fragen weiterführend, die im Kontext der Verhandlungstheorie aufgekommen sind. Zentrale Stellung der Gleichverteilungsannahme in Gauthiers Theorie. Von der Annahme der Gleichverteilung der Rationalität ist der Erfolg der Theorie Gauthiers abhängig, da sie eine entscheidende Annahme in den zentralen Konzeptionen der Theorie von Gauthier ist: dem MRC-Prinzip, der starken Vertragstreue und dem Proviso. Würde man diese Annahme eliminieren, so wären diese Konzeptionen unhaltbar. Aber die Gleichverteilungsannahme hat nicht nur eine wesentliche Funktion hinsichtlich dieser einzelnen Konzeptionen, sondern sie ist darüber hinaus ein wichtiger Faktor, der die Unparteilichkeit und damit die Moralität der Theorie Gauthiers hervorbringt. So wird die Unparteilichkeit des Provisos von Gauthier durch die Gleichverteilungsannahme gerechtfertigt, indem die Akzeptanz des Provisos unmittelbar an die Akzeptanz der starken Vertragstreue gebunden ist. Hält man auch die schwache Vertragstreue für rational, so gibt es keinen Grund mehr, das Proviso zu akzeptieren.380 Die Konzeption der starken Vertragstreue ist aber direkt von der Gleichverteilungsannahme der Rationalität abhängig. „The rationality of disposing oneself to narrow compliance, and so to acceptance of the proviso, follows from the advantageousness of society and the equal rationality of its members.“ 381 Ohne die Gleichheit der Rationalität aller Teilnehmer gibt es keine starke Vertragstreue, ohne die starke Vertragstreue gibt es kein Proviso und ohne das Proviso gibt es keine Moral. Es würde dann nur die Unparteilichkeit übrig 380

Ebda, 225f.: „A person disposed to broad compliance compares the benefit she would expect from co-operation on whatever terms are offered with what she would expect from non-co-operation, and complies if the former is greater. Were persons so disposed, then no one would have reason to accept the proviso, or any other constraint, on natural interaction. The non-co-operative outcome would serve as base point, and any improvement on it would elicit voluntary co-operation.” 381

Ebda, 226.

337

bleiben, die durch das MRC-Prinzip hervorgebracht wird. Aber auch das MRC-Prinzip ist von der Gleichverteilungsannahme der Rationalität abhängig. Somit ist die Annahme, dass alle Teilnehmer gleich rational sind, für den Erfolg der Theorie unverzichtbar. Sollte diese Annahme sich als unbegründet oder unplausibel erweisen, dann wird der Theorie Gauthiers ein wesentliches Element entzogen. Ausweitung des Rationalitätsbegriffes. Zunächst soll analysiert werden, was Gauthier speziell im Proviso mit dem Begriff „rational" meint, wenn er behauptet, alle Personen sind gleich rational. Die Antwort findet sich in einer klaren Begriffskette: Macht ist das Resultat des Besitzes von Technologien und Technologien werden durch Rationalität hervorgebracht. Je rationaler eine Person ist, desto mächtiger kann sie demnach sein. Damit impliziert die Gleichverteilungsannahme der Rationalität eine Gleichverteilung der Macht. Die Annahme der gleichen Rationalität der Teilnehmer richtet sich inhaltlich also auf die vermeintlichen Folgewirkungen der Rationalität in den Technologien und darüber auf die Macht von Personen. Dabei beschränkt sich Gauthier in seiner Argumentation auf die Technologie und lässt andere möglichen Quellen der Macht außer Acht. „Technology is power; those with a more advanced technology are frequently in a position to dictate the terms of interaction to their fellows... Our argument in support of the proviso, and in support of narrow compliance, rests on an assumption of equal rationality among persons which differences in technology deny....“ 382 Das bedeutet, dass nur dann das Proviso von allen Teilnehmern akzeptiert werden kann, wenn alle Teilnehmer gleich mächtig sind. Moral kann somit nach Gauthiers Vorstellungen nur zwischen gleich mächtigen Personen entstehen. Im Zustand eines Machtgleichgewichtes werden jedoch im Naturzustand kaum unproduktive Transfers stattfinden, denn diese setzen ein gewisses Ungleichgewicht an Macht voraus. Wenn es aber im Naturzustand keine oder zumindest nahezu keine unproduktiven Transfers gibt, dann wird die Konstruktion des Provisos überflüssig. Denn seine Aufgabe ist die 382

Ebda, 231.

338

Kompensation von unproduktiven Transfers. Ohne Proviso fehlen der Theorie Gauthiers aber die wesentlichen Elemente der Moral. Hier scheitert die Theorie an der Frage der Egalität: Das Proviso soll ein Problem lösen, das aus Ungleichverteilung der Macht entsteht; gleichzeitig nimmt Gauthier hinsichtlich derselben Eigenschaft eine Gleichverteilung an. In Abs. III.G.1 wurde gezeigt, dass Gauthier im Zusammenhang der Verhandlung eine Modifikation des Rationalitätsbegriffes vornimmt. Am Ende des Proviso-Kapitels in MbA wird man nun mit dieser weiteren Modifizierung des Rationalitätsbegriffes konfrontiert. Gauthier versucht dort zu erklären, weshalb man in der Realität nicht die durch seine Theorie aufgezeigte Verbindung zwischen Rationalität und Moral vorfindet. Als Ursache für diese faktische Differenz zwischen Theorie und Wirklichkeit führt er drei Typen von Faktoren an: ideologische Faktoren, historische Faktoren und technologische Faktoren. Ideologien liegen oftmals irrationale Überzeugungen zugrunde und sie können zu unfairem Handeln führen. Damit eng verbunden sind die historischen Faktoren, die in Form von Institutionen und Traditionen wirksam sind und oft eine Manifestation von Ideologien sind. Die Technologie beeinträchtigt rationales und kooperatives Handeln nur, sofern sie ungleich verteilt ist und somit eine Ungleichheit der Macht besteht. Technologie ist für Gauthier Macht, durch die man die Interaktionen mit anderen Personen diktieren, d. h. Zwang ausüben kann.383 Diese Möglichkeit der Ausübung von Zwang führt zu einer Verletzung des Provisos und macht somit eine im Sinne Gauthiers rationale Kooperation unmöglich. Wie kommt es nun aber dazu, dass die Technologie und somit auch die Macht unter den Menschen ungleich verteilt ist? Hier greift Gauthier wieder auf Ideologien oder falsche Weltanschauungen zurück. Diese Ideologien beeinträchtigen die Rationalität ihrer Anhänger. Da Ideologien ungleich über den Globus verteilt sind, sind die Menschen unterschiedlich rational. Würde man die Menschheit von diesen Ideologien befreien, so würde sich zeigen, dass alle Menschen gleich rational sind. Die gleiche Rationalität würde aber zu einer Gleichverteilung von Technologie als Produkt der Rationalität führen. Menschen, die eine höhere Technologie besitzen und entwickelt 383

Ebda, 231: „Technology is power; those with a more advanced technology are frequently in a position to dictate the terms of interaction to their fellows.”

339

haben, sind rationaler als diejenigen, die nur eine primitive Technologie besitzen. Wenn aber alle Menschen eine gleich gut entwickelte Technologie hätten, dann wären sie alle gleich mächtig und könnten daher keinen Zwang untereinander ausüben. Damit wäre die Bedingung des Provisos erfüllt ; eine rationale Kooperation und damit auch eine Moral wären möglich. Also sind nach Gauthiers Vorstellung alle Menschen im Prinzip gleich rational und erfüllen somit die Voraussetzungen für seine Moral, nur wird dieses Faktum durch die Existenz von irrationalen Ideologien verdeckt. Diese Feststellung Gauthiers kommt einer unausgesprochenen Aufforderung zur Beseitigung aller irrationaler Ideologien und falscher Weltanschauungen gleich. Diese sind das Böse in „Gauthiers Welt„ und hindern die Menschen an einem friedlichen und effektiven Zusammenleben. Für die Problemstellung dieses Abschnittes will ich jetzt nicht der Frage nachgehen, wie plausibel oder zutreffend diese Beschreibung Gauthiers ist, sondern welche Eigenschaften der Rationalität in dieser Darstellung zugeschrieben werden. Der Mensch ist aufgrund seiner Rationalität in der Lage, Technologie hervorzubringen. „We may say that those possessing a superior technology are more rational than their fellows, in being better able to relate and devise means to their ends.“ 384 Wollte Gauthier an seinem ursprünglichen Rationalitätsbegriff festhalten, so müsste er behaupten, dass die Entwicklung von Technologie ausschließlich auf der Fähigkeit der individuellen Nutzenmaximierung beruht. Es ist aber nun offensichtlich, dass für diese Aufgabe noch andere Fähigkeiten wesentlich sind: Die theoretische Rationalität ist insbesondere über den Weg der Wissenschaft ein wichtiger Faktor für die Entwicklung der Technologie sowie handwerkliche Fähigkeiten, soziale Kompetenz, Kreativität und Charaktereigenschaften wie Geduld oder die Fähigkeit zur Präzision etc. Diese Reihe ließe sich wohl noch sehr weit fortführen. Ein auf den Aspekt der individuellen Nutzenmaximierung beschränkter Rationalitätsbegriff leistet offensichtlich nicht das, was er hier bei Gauthier leisten soll. Demnach kommt nur die Alternative in Betracht, dass Gauthier hier eine Ausweitung des Rationalitätsbegriffes vornimmt, die letztlich alle Eigenschaften von Personen 384

Ebda.

340

umfasst, die eine Auswirkung auf die Macht der Personen haben. Denn die Konsequenz seiner Überlegung ist, dass gleich rationale Personen gleich mächtig sind. Nur unter der Voraussetzung der Gleichverteilung der Macht ist gewährleistet, dass keine Verletzung des Provisos stattfindet. An diese Ausweitungen des Rationalitätsbegriffes lassen sich einige kritische Anfragen stellen. Zunächst bleibt Gauthier eine präzise Klärung oder eine Definition dieses modifizierten Begriffes schuldig. Dies ist angesichts der Tatsache, dass die Rationalität der zentrale Begriff seiner Theorie ist, ein enormes Manko. Daher bleibt es letztlich auch unklar, was Gauthier eigentlich meint, wenn er behauptet, alle Teilnehmer der Kooperation seien gleich rational. Außerdem geht die Ausweitung des Rationalitätsbegriffes, so wie sie im Zusammenhang mit der Technologie deutlich wird, so weit über das hinaus, was der Rahmen der RCT abdeckt, dass es einer expliziten Begründung für diese Ausweitung ? bedurft hätte. So stellt sich die Frage nach der empirischen Plausibilität der Gleichverteilungsannahme dieser Art von Rationalität noch viel schärfer. Die Annahme, dass alle Menschen die Fähigkeit zur individuellen Nutzenmaximierung im gleichen Ausmaß besitzen und deshalb als gleich rational bezeichnet werden können, ist nicht von vornherein als völlig abwegig einzustufen. Aber die Annahme, dass alle Menschen in dem von Gauthier im Proviso erweiterten Sinne gleich rational sind und somit eigentlich gleich mächtig sind, scheint keine Aussicht auf eine erfolgreiche empirische Bestätigung zu haben. Gauthiers Versuch, die Abweichung der Realität von seinen Annahmen mit der Existenz von Ideologien zu erklären, ist unbefriedigend. Es ist zwar durchaus plausibel, dass Ideologien für den unterschiedlichen technologischen Entwicklungsstand der Menschen verantwortlich sind; aber daraus zu schließen, dass bei Wegfall der Ideologien sich zeigen würde, dass alle Menschen gleich rational sind, ist nicht nachvollziehbar. Wenn Ideologien technologische Entwicklungen verhindern oder einschränken, dann würde das nur bedeuten, dass durch den Wegfall von Ideologien sich der Stand der jeweiligen Technik verbessern würde. Aber es gibt keinen Grund, dadurch eine Angleichung des technologischen Standes zwischen den verschiedenen Gesellschaften zu erwarten. Die Tatsache der unterschiedlichen Verbreitung von Ideologien ist vielmehr ein Indiz für die Unrichtigkeit der Gleichverteilungsannahme der Rationalität. Wenn Ideologien irrationale Konstrukte und

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unterschiedlich in den menschlichen Gesellschaften verbreitet sind, dann spricht das für eine unterschiedliche Rationalität der Menschen. Denn die Akzeptanz einer irrationalen Ideologie ist doch von der Rationalität der jeweiligen Gesellschaft bzw. der in ihr lebenden Personen abhängig. Wenn eine Gesellschaft A eine irrationale Ideologie akzeptiert und eine Gesellschaft B dieselbe Ideologie ablehnt, dann kann man mit Recht die Menschen der Gesellschaft B als rationaler als die Menschen der Gesellschaft A bezeichnen. Wenn alle Menschen wirklich gleich rational wären, dann wären irrationale Ideologien, die die Entwicklung von Technologie und somit auch von Macht hemmen, unter allen Menschen in gleichem Maße verbreitet.

6. Stabilität An verschiedenen Stellen im Proviso-Kapitel in MbA argumentiert Gauthier mit der Stabilität von fairen Vereinbarungen. So ist es seiner Meinung nach rational, nur eine faire Vereinbarung einzugehen, weil nur faire Vereinbarungen stabil sind. Auch bei der Ausbildung der Disposition der starken Vertragstreue argumentiert er, dass nur diese Disposition zu stabilen Vereinbarungen führt, weil nur faire Vereinbarungen stabil sind. Im Folgenden will ich mich mit dem von Gauthier in diesen Behauptungen aufgestellten Zusammenhang zwischen Stabilität und Fairness bzw. Unparteilichkeit beschäftigen. Wenn sich im Naturzustand ein Equilibrium einstellt, so ist dieser Zustand stabil. Hier hat jeder Teilnehmer die Strategie gewählt, die ihm unter der Berücksichtigung des zu erwartenden Handelns der anderen Teilnehmer den maximalen Nutzen in Aussicht stellt. Die Stabilität dieses Zustandes beruht darauf, dass jeder Teilnehmer die unter den gegebenen Bedingungen beste Strategie gewählt hat und es nicht noch bessere und auch realisierbare Alternativen gibt. Jeder Teilnehmer ist insofern mit dem Equilibrium zufrieden; er wird nicht versuchen, diesen Zustand zu destabilisieren, denn durch jede andere Alternative würde er schlechter gestellt werden als im Zustand des Equilibriums. Die Stabilität beruht also auf einer positiven subjektiven Beurteilung des Zustandes, die von allen Teilnehmern im gleichen Maße geteilt wird. Diese Art von Stabilität bezeichnet Gauthier als natürliche

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Stabilität. Demgegenüber steht die künstliche Stabilität, die auf der Vertragstreue aller Teilnehmer einer Vereinbarung beruht. Diese stuft Gauthier im Vergleich zur natürlichen Stabilität als grundsätzlich schwächer ein. Diese Schwäche kann man darauf zurückführen, dass es bei einem Zustand, der auf der Vertragstreue beruht, für jeden einzelnen Teilnehmer die Möglichkeit des Trittbrett-Fahrens gibt, die für den einzelnen eine noch bessere Strategie ist, vorausgesetzt, dass alle anderen Teilnehmer zumindest vorläufig bei ihrem vertragstreuen Verhalten bleiben. Eine solch positive Alternative für den Einzelnen gibt es im Equilibrium des Naturzustandes nicht. Hier bedeutet jedes Abweichen vom Equilibrium eine Verschlechterung der eigenen Position. Die künstliche Stabilität der Vertragstreue beruht auf einer alle Teilnehmer einschließenden wechselseitigen Strategie, während diese Wechselseitigkeit im Equilibrium nicht notwendig ist. Im Zustand der Vertragstreue gibt es eine kollektive Strategie, deren Erfolg vom entsprechenden Handeln aller Teilnehmer abhängt. Die Instabilität eines Zustandes beruht also auf einer möglichen Unzufriedenheit einzelner Teilnehmer und auf der daraus resultierenden Motivation, den bestehenden Zustand abzuändern. Gauthier ist nun der Auffassung, dass eine Vereinbarung, die nicht von fairen Ausgangsbedingungen ausgeht, sondern den Naturzustand, wie bei Buchanan, zum Ausgangszustand der Verhandlung macht, nicht die volle Zustimmung aller Teilnehmer erhält. Diejenigen, die im Naturzustand durch unproduktive Transfers schlechter gestellt sind, werden einer Vereinbarung, die auf diesem Naturzustand basiert, nicht ihre volle Zustimmung geben. Zustimmen können sie der Vereinbarung, insoweit sie durch diese besser gestellt werden, als sie es im Naturzustand sind. Die durch die unproduktiven Transfers benachteiligten Teilnehmer kommen zu ihrem Urteil, dass sie durch die unproduktiven Transfers benachteiligt werden, indem sie den Naturzustand In mit einem vorausgehenden fiktiven Urzustand IIu vergleichen, der vor dem Beginn der unproduktiven Transfers liegt (siehe Abb. 4 bis 6 ). Sie stellen fest, dass der Wechsel von Iu nach In für sie eine Verschlechterung ihrer Situation bedeutet, und lehnen deshalb diesen Wechsel bzw. die zu ihm führenden Interaktionen ab. Bezugsgröße für ihre Beurteilung ist also der fiktive Zustand Iu. Wenn nun argumentiert wird, dass auch die Mächtigen keinen Grund zur Ablehnung der durch das Proviso modifizierten Ausgangssituation Ic hätten, so basiert dieser Schluss auf dem Vergleich der Situation Iu

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mit der Situation Ic. Der Übergang von Iu zu Ic bedeutet auch für die Mächtigen keine Verschlechterung und somit gibt es für sie keinen Grund, etwas gegen diesen Übergang einzuwenden. Die Frage ist nur, warum die Mächtigen Iu als Bezugsgröße akzeptieren sollten und nicht vielmehr die ihnen nahe liegende Situation In. Nimmt man In als Bezugsgröße für die Beurteilung von Ic, so bedeutet der Wechsel von In nach Ic für die Mächtigen eine Verschlechterung. Allein die Tatsache, dass Iu dem Zustand In zeitlich vorangeht, ist kein überzeugendes Argument für die Wahl von Iu als Bezugsgröße. Zudem ist völlig offen, weshalb man überhaupt annehmen sollte, dass der Zustand Iu jemals existiert hat. Da Gauthier an dieser Stelle diese Annahme nicht expliziert und dementsprechend auch nicht begründet, kann man sie nur als willkürlich zurückweisen. Die Mächtigen werden mit dem Vorschlag von Ic dazu aufgefordert, freiwillig auf die Vorteile zu verzichten, die sie im realen Zustand In erlangt haben. Dieser freiwillige Verzicht ist isoliert betrachtet genauso irrational wie die Zustimmung der Schwachen zu diesen unproduktiven Transfers. Entsprechend ist auch mit einer vergleichbaren Unzufriedenheit auf Seiten der Mächtigen mit der vorgeschlagenen Ausgangssituation Ic und der daraus resultierenden Instabilität zu rechnen. An dieser Stelle ist auch die von Gauthier angeführte Rechtfertigung durch den Verweis auf den zu erwartenden Vorteil aus der Kooperation nicht weiterführend, denn dieses Argument könnte man in gleicher Weise gegen die Ablehnung der unproduktiven Transfers anführen. Natürlich ist es für die Mächtigen rational, die unmittelbaren Nachteile des Provisos in Kauf zu nehmen, wenn sie dadurch einen größeren Vorteil aus der nachfolgenden Kooperation zu erwarten haben. Ebenso könnte man aber auch bei den Schwachen argumentieren: Dass es für sie rational ist, die Nachteile der unproduktiven Transfers in Kauf zu nehmen, um dann an den größeren Vorteilen aus der Kooperation partizipieren zu können. Man kann nicht die Situation der Schwachen unabhängig von der nachfolgenden Kooperation beurteilen und diese dann mit der Situation der Mächtigen im Kontext der Kooperation vergleichen. Indem Gauthier die Situation Iu als Bezugsgröße annimmt, führt er indirekt ein moralisches Element ein. Die Situation Iu zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr noch keine Interaktionen stattgefunden haben. Genau genommen müsste man sagen: In der noch keine unproduktiven Transfers stattgefunden

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haben. Es erscheint mir jedoch legitim, diese Differenz zu vernachlässigen, da man annehmen kann, dass die Möglichkeiten zu unproduktiven Transfers von Anfang an bestanden haben und dementsprechend auch genutzt wurden. Eine Situation, in der noch keine Interaktionen zwischen den Personen stattgefunden haben, weist auch noch keine Auswirkungen von bestehenden Machtunterschieden auf. Demnach entspricht ein solcher Zustand einer unparteilichen Situation und ist damit eigentlich der Zielzustand und nicht der Ausgangszustand einer Moraltheorie.

7. Unparteilichkeit als das Resultat von Robinson-Handlungen Um nachzuweisen, dass das Proviso das Kriterium der Unparteilichkeit erfüllt, bedient sich Gauthier eines für seine Zwecke abgewandelten Robinson-Szenarios von Nozick.385 Mit der Wahl dieses Bildes wird der individualistische Ansatz Gauthiers deutlich unterstrichen. In diesem Szenario gibt es 16 Robinsons auf 16 Inseln, die mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Eigenschaften sowie verschieden fruchtbaren Inseln ausgestattet sind. Er zeigt dann, dass die Anwendung des Provisos auf diese Situation zu einem Ergebnis führt, das man als unparteilich bezeichnen würde. Der entscheidende Punkt für Gauthier in diesem Zusammenhang ist, dass keiner dieser Robinsons einen Anspruch auf die Güter eines anderen Robinson hat. Das gilt auch für den Fall, dass ein Robinson aufgrund seiner geringen Fähigkeiten und der Unfruchtbarkeit seiner Insel in äußerster Armut lebt, während ein anderer Robinson aufgrund seiner Fähigkeiten und der Fruchtbarkeit seiner Insel im Überfluss schwelgt. Das Proviso hat nicht die Funktion, naturbedingte Ungleichheiten zu nivellieren, sondern ausgehend von diesen naturbedingten Ungleichheiten die Ausstattung jedes Teilnehmers auf eine unparteiische Weise zu bestimmen. In dieser Hinsicht ist die Theorie Gauthiers nicht egalitär. Naturbedingte Ungleichheiten werden nicht eliminiert, sondern können auch im moralischen Zustand fortbestehen, sofern sie in die Ausgangssituation der Verhandlung eingehen. Einschränkend muss man hier anmerken, dass durch die Anwendung des MRC-Prinzips auch diese Un385

Ebda, 218.

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gleichheiten zumindest abgeschwächt werden. Die verbleibende Ungleichheit beschränkt sich nur auf einen Teil der Moral, nämlich die distributive Gerechtigkeit. Nur diesbezüglich spielt für die Moral die Ausgangssituation der Verhandlung eine Rolle. Die Personen- und Eigentumsrechte sind Teil des Provisos und somit Voraussetzung und nicht Ergebnis der Verhandlung. Diese Rechte kommen nach Gauthiers Konzeption des Provisos jedem Teilnehmer in gleicher Weise zu. Damit ist ein wesentlicher Teil der Moral bei Gauthier egalitär. Die in diesem Abschnitt zu klärende Frage ist, ob der Ausgangspunkt eines Teilnehmers für die Verhandlung adäquat festgelegt wird, wenn man von einer durch das oben genannte Robinson-Szenario geschilderten Perspektive ausgeht. Die Charakterisierung eines Teilnehmers wird hier in der Weise vorgenommen, dass man untersucht, in welchem Zustand sich der Teilnehmer befinden würde, wenn er als Robinson gelebt hätte und somit nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sich auf Kosten anderer Personen einen Vorteil zu verschaffen. Der letztgenannte Punkt ist ein zentraler Aspekt für die gesamte Konstruktion des Provisos. Jeder Teilnehmer soll nur die Vorteile oder Güter in die Verhandlung als seinen eigenen Beitrag einbringen dürfen, die er auch selber erzeugt hat. „Each person, in the absence of his fellows, may expect to use his own powers but not theirs. This difference is crucial. For it provides the base point against which the proviso may be applied to interaction.“ 386 „Each human being is an actor with certain preferences and certain physical and mental capacities which, in the absence of her fellows, she naturally directs to the fulfilment of her preferences. ... A principle that did not take this basis as normatively fundamental would not relate impartially to human beings as actors. ... The proviso, in determining the rights persons have on the basis of what they do, and in treating what persons do from the standpoint of the individual actor, ensures the impartiality of interaction.“ 387

386

Ebda, 209.

387

Ebda, 221.

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Durch die Fokussierung auf diese Aufgabe des Provisos verliert Gauthier anscheinend andere Aspekte aus dem Blickfeld, die ebenfalls bei der Festlegung des Ausgangspunktes für die Verhandlung eine Rolle spielen sollten. Das Problematische an einer von dieser Robinson-Perspektive ausgehenden Einstufung besteht darin, dass der Erfolg oder Misserfolg, den der Teilnehmer in einer Robinson-Existenz gehabt hätte, zum Ausgangspunkt für eine Einstufung verwendet wird, die seinen Erfolg bzw. Ertrag als einen Teilnehmer in einer Kooperation bestimmt. Ein hervorragender Einzelkämpfer ist nicht zwangsläufig auch ein hervorragender Kooperationspartner. Man hat es bei der Kooperation mit einer ganz anderen Situation als im RobinsonSzenario zu tun. In einer Kooperation können Güter, Fähigkeiten und Eigenschaften von großem Nutzen sein, die in der Robinson-Situation völlig wertlos sind. Jemand, der eine außerordentliche Begabung zur Ausführung politischer Ämter hat, kann in einer Robinson-Situation ganz erbärmlich abschneiden. Umgekehrt können natürlich auch Güter etc., die in einer Robinson-Situation von großem Vorteil sind, in einer Kooperation nur einen minimalen Nutzen haben. Für den Robinson kann ein kleines, schnelles und sparsames Sport-Coupé wesentlich vorteilhafter sein als ein großer und langsamer VW-Bus mit hohem Spritverbrauch. In einer Kooperationssituation kann sich aber dieses Verhältnis in sein Gegenteil verkehren. Es erscheint nicht plausibel, dass ein Teilnehmer, der einen für die Effizienz der Kooperation sehr wichtigen Beitrag leistet und von dem die anderen Teilnehmer zudem mit profitieren, dies nicht durch eine entsprechend gute Einstufung seines Ausgangspunktes für die Verhandlung honoriert bekommt. Die Frage ist, warum ausschließlich der Erfolg in einem Robinson-Szenario für die Einstufung mit Hinsicht auf eine Kooperation von Relevanz sein sollte. Bei dieser Einstufung geht es darum, auf eine unparteiliche Art und Weise festzustellen, was jeder Teilnehmer mit an den Verhandlungstisch bringt. Das, was er an den Verhandlungstisch bringt, ist sein Kooperationsbeitrag. Sollte dieser Beitrag dann nicht auch als solcher, also in seinem Nutzen für die Kooperation, gewertet werden? Die zu klärende Frage wäre dann nicht, was der Teilnehmer außerhalb der Kooperation in einem Robinson-Szenario mit den Gütern und Fähigkeiten für einen Zustand erreicht hat oder hätte, sondern wie groß der Vorteil ist, der durch seinen Kooperationsbeitrag für die Koope-

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ration entsteht. Oder umgekehrt: Welcher Nachteil der Kooperation entstehen würde, wenn er an der Kooperation nicht mehr teilnimmt.

C. Ergebnis Die kritische Analyse des Provisos wurde von drei Fragen geleitet, die hier nun zusammenfassend beantwortet werden sollen. Die erste Frage war, ob das Proviso tatsächlich eine notwendige Bedingung für die Teilnahme an einer Kooperation ist. Diese Frage wurde in den Abschnitten über die Einführung der Unparteilichkeit (IV.B.1), über unproduktive Transfers (IV.B.2) und über Drohstrategien (IV.B.3) beantwortet. Die Entwicklung des Provisos setzt Gauthier bei der Feststellung an, dass die Anfangsbedingungen der Verhandlung unfair sein können. Zunächst hat die Analyse Defizite in der Klarheit des Begriffes der Unparteilichkeit aufgezeigt. Abgesehen davon, dass bei Gauthier keine Definition dieses für seine Theorie fundamentalen Begriffes zu finden ist, bezieht er diesen Begriff sowohl auf Zustände wie auch auf Verfahren. Die Verwendung von Unparteilichkeit als Eigenschaft von Handlungen oder Handlungsprinzipien bzw. Verfahren lässt sich innerhalb seiner Theorie relativ klar rekonstruieren und ist auch im allgemeinen Sprachgebrauch üblich und verständlich. Wodurch sich aber die Unparteilichkeit eines Zustandes auszeichnet, bleibt unklar. Dieser Befund ist für die Argumentation Gauthiers deshalb kritisch, da er als Grund für die Einführung des Provisos die Unparteilichkeit eines Zustandes nennt, nämlich die Ausgangssituation der Verhandlung. Damit ist in Gauthiers Formulierung unklar, worin eigentlich das Problem besteht, für das das Proviso die Lösung sein soll. Sieht man sich dann die Funktion des Provisos an, so stellt man fest, dass es ganz bestimmte Typen von Handlungen, nämlich die unproduktiven Transfers, im Vorfeld der Verhandlung ausschließt. Dies führt indirekt zu einer Veränderung der Güterverteilung im Status quo. Aber dies bedeutet nicht, dass die Güterverteilungen an sich ein Problem darstellen würden. Parteilich oder unparteilich können die Verfahren oder Handlungen sein, die zu den Güterverteilungen führen, aber nicht die Verteilungsergebnisse als Zustände. Die Analyse zeigte noch auf, dass das Proviso, wenn man es

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unabhängig von der restlichen Theorie betrachtet, entgegen der Meinung von Gauthier ein parteiisches Verfahren ist, da es eindeutig die Schwachen bevorzugt. Die hier aufgezeigte begriffliche Unschärfe und die aus ihr resultierenden Probleme lassen sich grundsätzlich beheben, was aber zu einer entsprechenden Veränderung der dem Proviso zugrunde liegenden Problemstellung führen würde. Das Proviso soll unproduktive Transfers im Vorfeld der Verhandlung ausschließen. Die Analyse der unproduktiven Transfers hat gezeigt, dass der Grund für die Ablehnung der unproduktiven Transfers durch einen Teil der Teilnehmer nicht in deren Unproduktivität besteht, sondern in dem Nachteil, den sie für diese Teilnehmer bringen. Gauthier begründet aber nicht, weshalb sich diese Teilnehmer auf die Ablehnung der unproduktiven Transfers beschränken und nicht auch alle anderen für sie nachteiligen Interaktionen ablehnen. Diese fehlende Begründung ist deshalb problematisch, weil die unproduktiven Transfers genau die unfairen Handlungen darstellen. Warum sollten sich aber rationale Personen auf die Ablehnung unfairer Handlungen beschränken? Ohne eine Begründung ist diese Beschränkung implizit eine moralische Annahme. Weiterhin hat die Analyse gezeigt, dass es auch den Mächtigen gegenüber keine überzeugende Begründung gibt, weshalb sie der Eliminierung der unproduktiven Transfers zustimmen sollten. Wie gezeigt wurde, können weder die von Gauthier angeführten Drohstrategien, wenn er sie selbst auch nicht als solche bezeichnet, noch sein Stabilitätsargument diese Aufgabe erfüllen. Gauthier hält eine Ausgangssituation der Verhandlung, die auf Androhung von Gewalt oder Zwang basiert, für nicht akzeptabel, da die zugrunde liegenden Drohstrategien nicht rational seien. Die Argumente für diese Behauptung erweisen sich als problematisch. Zunächst kann man feststellen, dass Gauthier nicht zwischen dem Besitz von Macht und der Anwendung von Macht in Form von Zwang oder Gewalt unterscheidet. Dies ist im Rahmen seiner Argumentation problematisch, da der Besitz von Macht keine Kosten für den Besitzer verursacht, was für die Anwendung dieser Macht nicht der Fall ist. Diese fehlende Differenzierung führt zu einer verzerrten und falschen Darstellung der Situation zwischen Sklaven und Herren, die er zum Ausgangspunkt seiner Argumentation für das Proviso macht. Dies wird auch in den grafischen Darstellungen deutlich, anhand derer er seine Argumentation

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aufbaut. Nur aufgrund dieser falschen Voraussetzungen kommt er zu seinem Schluss, dass die Anwendung von Drohstrategien zur Festlegung der Anfangsbedingungen der Verhandlung keine Rolle spielen können. An dieser Stelle sei noch kritisch angemerkt, dass Gauthier die grafischen Darstellungen weder argumentativ entwickelt noch unterstützt, indem er z. B. alternative Darstellungen ausschließt. Dies ist ein erhebliches Manko, weil aus den Abbildungen nicht nur qualitative, sondern auch quantitative Schlüsse von erheblicher Relevanz gezogen werden. Hier können geringfügige Unterschiede für das Gelingen einer Argumentation ausschlaggebend sein. Gauthiers Argument gegen die Drohstrategien, dass die Androhung von Zwang keine Motivation für die Vertragstreue sei, kann auch nicht überzeugen. Hier würde schon der Hinweis genügen, dass sanktionsgestützte Normensysteme sehr erfolgreich auf genau diesen Effekt aufbauen. Gauthier verwechselt hier offensichtlich Gründe, die zum Abschluss einer Vereinbarung motivieren können, mit Gründen, die zur Einhaltung einer Vereinbarung, also zur Vertragstreue motivieren können. Die Analyse der Unparteilichkeit im Proviso, der unproduktiven Transfers und der Drohstrategien beantwortet damit die Frage nach der Notwendigkeit der Einführung des Provisos mit einem Nein. Die zweite Frage an das Proviso war, ob für die Mächtigen der voraussichtliche Gewinn aus einer Kooperation größer ist als die Kosten für das Proviso. Im Kern ist es die alte Frage, ob es auch für den Starken oder Mächtigen rational ist, moralisch zu sein. Die erste Feststellung ist hier, dass Gauthier diese für seine Theorie zentrale Frage gar nicht stellt und somit natürlich auch keine explizite Antwort auf diese Frage gibt. Da Gauthier weder für die Größe des Gewinns aus der Kooperation noch für die Kosten durch das Proviso irgendwelche Anhaltspunkte gibt, wurden in der vorangehenden Analyse die am plausibelsten erscheinenden und für die Position von Gauthier günstigsten Annahmen gemacht. Aber selbst von diesen Annahmen ausgehend zeigt sich, dass diese Fragestellung Gauthiers Theorie in erhebliche Schwierigkeiten bringt. Das Verhältnis zwischen den Vorteilen aus der Kooperation und den Kosten für das Proviso ist für die Mächtigen dann vergleichsweise unproblematisch, wenn man annähernd eine Gleichverteilung der Macht in einer Gesellschaft hat. Gibt es aber eine erhebliche Ungleichverteilung der Macht in einer Gesellschaft, so sind für die Mächtigen die Kosten

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durch das Proviso erheblich und zugleich die Vorteile aus einer Kooperation relativ gering. Dies ist aber gerade der Zustand, in dem der Bedarf für die Einführung einer Moral am größten wäre. In einem Zustand der völligen Machtgleichheit aller Mitglieder einer Gesellschaft sind bei rationalen Personen keine gravierenden Übergriffe zu erwarten, die durch eine Moral, die sich wesentlich durch Unparteilichkeit auszeichnet, ausgeschlossen werden könnten. Das heißt, die Theorie Gauthiers hat in Gesellschaften, in denen kaum Bedarf an Moral besteht, relativ gute Aussichten auf Erfolg, aber dort, wo der Bedarf groß ist, hat sie mit ernsthaften Problemen zu rechnen. Die Antwort auf die zweite Frage lautet somit: In den relevanten Fällen sind für die Mächtigen die Kosten für das Proviso höher als der zu erwartende Gewinn aus der Kooperation. In der dritten Frage sollte die innere Struktur des Provisos untersucht werden, d. h. Annahmen, Begründungen und Leistungsfähigkeit dieser Konzeption. Eine für die Funktionstüchtigkeit des Provisos entscheidende Annahme ist die Gleichverteilung der Rationalität unter den Teilnehmern. Zunächst wurde die Gleichverteilungsannahme der Rationalität auf ihre Bedeutung hin untersucht. Was ist in dieser Annahme mit Rationalität gemeint und inwiefern ist diese dann gleichverteilt? Zwar wird dieser Begriff schon in seinem Kapitel über die Verhandlung modifiziert, aber in seiner Argumentation für das Proviso leistet der Begriff der Rationalität Dinge, die weit über die vorangehenden Definitionen hinausgehen, ohne dass Gauthier dafür eine Begründung oder Erklärung liefert. Der konkrete Kritikpunkt ist hier Gauthiers Übergang von Rationalität zur Macht. Personen, die gleich rational sind, haben danach auch die gleiche Macht. Damit werden der Rationalität Fähigkeiten zugeschrieben, die weit über die reine Nutzenmaximierung hinausgehen. Gauthiers Erklärungsversuch der Differenz zwischen dem empirischen Befund und der Gleichverteilungsannahme der Rationalität mittels der unterschiedlichen Verbreitung von irrational geprägten Ideologien erweist sich auch als nicht überzeugend. Somit wäre seine Theorie selbst dann, wenn sie sich als immanent überzeugend erwiesen hätte, keine Theorie für diese Welt. Die Annahme der Gleichverteilung der Rationalität und damit auch der Macht führt außerdem zu einer gravierenden Inkonsistenz innerhalb des Proviso-Kapitels. Ausgangspunkt der Argumentation Gauthiers im Proviso-

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Kapitel ist eine durch eklatante Machtungleichheit ausgezeichnete Situation zwischen Sklaven und Herren. Für die Begründung des Provisos nimmt Gauthier aber eine Gleichverteilung der Macht an. Demnach ist eine Situation wie zwischen den Sklaven und Herren gar nicht möglich und somit das Problem, für das das Proviso eine Lösung sein soll, gar nicht existent. Zugespitzt formuliert bedeutet das nichts anderes, als dass Gauthier für die Begründung seiner Problemlösung annehmen muss, dass das zu lösende Problem nicht existiert. In einem Zustand der Machtgleichheit werden die Interessen aller Personen schon aufgrund dieses Machtgleichgewichtes in gleichem Ausmaß realisiert und damit hätte ein Korrektiv der Unparteilichkeit, das die gleiche Gewichtung der Interessen aller Personen gewährleisten soll, keine Funktion. Machtgleichheit macht hier Moral. Insofern klingt Gauthiers abschließender Satz des Proviso-Kapitel paradox: „Morals arise in and from the agreement of equals.“ 388 Im Zusammenhang mit der Konzeption der starken Vertragstreue führt Gauthier das Argument an, dass nur unparteiliche Vereinbarungen stabil sind und somit für die Mächtigen ein Grund besteht, die Kosten für diese Unparteilichkeit aufzubringen. Diesem Argument liegt implizit die Annahme zugrunde, dass bei den durch eine unfaire Vereinbarung benachteiligten Teilnehmern eine Unzufriedenheit entsteht, die zu einer latenten Instabilität der Vereinbarung führt. Diese Unzufriedenheit kann aber nur dann erklärt werden, wenn die benachteiligten Teilnehmer einen vollständig unparteilichen Naturzustand als Vergleichsbasis für die Beurteilung ihrer momentanen Situation annehmen würden. Weder nennt Gauthier diese Annahme explizit noch lassen sich bei ihm Gründe finden, die eine solche Annahme plausibel machen würden. Zudem wird durch diese Annahme einem Teil der Personen im Naturzustand eine moralische Einstellung zugeschrieben, was eine unerlaubte Moralisierung des Naturzustandes darstellt. Als Fazit der kritischen Analyse kann man festhalten, dass das Proviso sowohl immanent als auch im Kontext der gesamten Theorie Gauthiers erhebliche Probleme und Lücken enthält, die essentielle Bereiche dieser Konzeption betreffen. Die letzten Sätze des Proviso-Kapitels lesen sich so, als ob Gauthier selber gesehen hätte, dass er den starken Anspruch nicht einlösen 388

Ebda, 232.

352

kann, den er zu Beginn seines Buches formuliert hat: „To choose rationally, one must choose morally.“ 389 Das heißt, Moral als Teil des rationalen Handelns auszuweisen und damit zu zeigen, dass rationales Entscheiden zwangsläufig zu moralischen Entscheidungen führt und es rational ist, moralisch zu sein. „In reconciling reason and morals, we do not claim that it is never rational for one person to take advantage of another, never rational to ignore the proviso, never rational to comply with unfair practices. Such a claim would be false. We do claim that justice, the disposition not to take advantage of one's fellows, is the virtue appropriate to co-operation, voluntarily accepted by equally rational persons. Morals arise in and from the agreement of equals.“ 390 Mit diesen Sätzen gesteht Gauthier die Begrenztheit seiner Theorie ein. Sie muss die Egalität der Individuen voraussetzen, damit es für sie rational ist, nach dem MRC-Prinzip zu kooperieren und das Proviso zu akzeptieren. Die Akzeptanz des Provisos kann er nur als eine für die Kooperation geeignete Tugend empfehlen, aber sie ist nicht in jedem Fall rational zwingend. Nur wenn jemand mit Gleichen kooperieren will, ist es rational, das Proviso zu akzeptieren. Dort, wo Ungleiche interagieren, gibt es demnach keine rationale Notwendigkeit für Moral; dort, wo keine Kooperation angestrebt wird, gibt es sie ebenfalls nicht. „We care for morality, not for its own sake, but because we lack the strength to dominate our fellows or the self-sufficiency to avoid interaction with them. The person who could secure her ends either independently of others or by subordinating them would never agree to the constraints of morality. She would be irrational - mad.“ 391

389

Ebda, 4.

390

Ebda, 232.

391

Ebda, 307.

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V. Fazit Rationalität und Moral. Der Ausgangspunkt des Projektes von Gauthier ist der Übergang von Rationalität zur Moral. Ist moralisches Handeln als eine Konsequenz rationaler Entscheidungen rekonstruierbar? „To choose rationally, one must choose morally. This is a strong claim. Morality, we shall argue, can be generated as a rational constraint from the non-moral premisses of rational choice. Morality, we shall argue, can be generated as a rational constraint from the non-moral premisses of rational choice.“ 392 „We shall develop a theory of morals as part of the theory of rational choice.“ 393 Dieser Typ von Problemstellung, der Rationalität und Moral gegenüberstellt, macht nur dann Sinn, wenn Rationalität und Moral zu Beginn der Argumentation auch wirklich zwei distinkte Bereiche sind. Und da der Ausgangspunkt der Argumentation die Rationalität ist, bedeutet das, dass die Rationalität keine Moral enthalten darf. Und genau so versteht und verwendet Gauthier auch die Rationalität: als einen moralfreien Bereich. Um nun feststellen zu können, ob die genannte Bedingung erfüllt ist, dass also tatsächlich nur nichtmoralische Annahmen in die Argumentation eingehen, war zu klären, was hier unter moralisch zu verstehen ist. Gauthier definiert Moral durch Unparteilichkeit. Demnach darf die RCT keine unparteilichen Annahmen machen. Die kritische Analyse der Theorie Gauthiers hat aber gezeigt, dass in der RCT allgemein und in den von Gauthier eigens für seine Theorie konzipierten Prinzipien Unparteilichkeit enthalten ist. 1. In den gängigen Verhandlungstheorien, auf die auch Gauthier aufbaut, und in der von ihm selbst konzipierten Verhandlungstheorie sind Elemente der Unparteilichkeit enthalten. Exemplarisch sei hier das Symmetrie-Axiom in der Nash-Lösung und Gauthiers Konzeption der Konzessionsbereitschaft genannt. 2. In dem sich aus der Konzeption der eingeschränkten Nutzenmaximierung ergebenden 392

Ebda, 4.

393

Ebda, 2f.

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neuen Rationalitätsbegriff Gauthiers ist auch der Standpunkt der Unparteilichkeit impliziert, indem im Rahmen der Abwägung von Optimierungsstrategien die Nutzenfunktionen anderer Interaktionsteilnehmer die gleiche Gewichtung erhalten wie die eigene Nutzenfunktion. Dieses Problem hat nicht nur die Rationalitätskonzeption Gauthiers, sondern sie ist symptomatisch für Optimierungsstrategien, die sich zwangsläufig im Grenzbereich zwischen individueller und kollektiver Rationalität bewegen. 3. Ganz massive moralische Annahmen, hier nun über die reine Unparteilichkeit deutlich hinausgehend, werden in der Konzeption des Marktes gemacht. Diese von Gauthier als moralfreie Zone bezeichnete Interaktionsform setzt das Recht auf Eigentum, Personenrechte und die Abwesenheit von Betrug und Gewalt voraus. Diese Feststellung hebt Gauthier selber explizit hervor und ist daher auch nicht als eine Kritik gemeint. Sie zeigt nur eines sehr deutlich: Das in der RCT formalisierte Entscheiden und Handeln ist das als rational bezeichnete Entscheiden in realen Interaktionen, die in der realen Welt stattfinden. Und die reale Welt ist durchzogen von Moral. Dies wurde bei der Klärung des Selbstverständnisses der Verhandlungstheorien sehr deutlich. Hier sind in Grundintuitionen des Begriffes der Verhandlung schon moralische Vorstellungen von Unparteilichkeit oder Fairness fest verankert. Eine saubere Trennung von Moral, zumindest in Form der Unparteilichkeit, und Rationalität ist deshalb von vornherein aussichtslos. Und dies trifft erst recht dann zu, wenn man den sicheren Bereich der parametrischen Entscheidungen im Rahmen des Bayesschen Rationalitätsbegriffes verlässt. In nuce: Die RCT macht, und zwar vernünftigerweise für ihre Zwecke, moralische Annahmen, so dass Gauthier durch seine Argumentation nur die Unparteilichkeit aus der RCT herausdestilliert, die an anderer Stelle in Form von realitätsbezogenen Annahmen in die RCT eingeführt wurde. Das Scheitern des MRC-Prinzips an seinen Folgen. Der eben angesprochene Teil der Kritik zielte auf die Annahmen der Theorie Gauthiers. Ein anderer Aspekt der Kritik bezog sich auf die Konsequenzen der Theorie. Als Anknüpfungspunkt wurde hier das MRC-Prinzip gewählt, da man mit ihm sehr leicht und genau überprüfbare Ergebnisse generieren kann. Die Annahmen, die Gauthier für das MRC-Prinzip macht, führen unweigerlich zu egalitären Güterverteilungen. Diese egalitären Güterverteilungen führen in vielen Fällen

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dazu, dass es für eine ganz bestimmte Gruppe von Kooperationsteilnehmern nicht mehr lohnend ist, an Kooperationen nach dem MRC-Prinzip teilzunehmen. Die systematisch benachteiligte Gruppe ist die der Teilnehmer mit einem vergleichsweise großen Kooperationsbeitrag. Hier führt das MRCPrinzip immer wieder zu rational nicht akzeptablen Umverteilungen zugunsten der schwächeren Kooperationsteilnehmer. Diese einseitige Bevorzugung der schwachen Kooperationsteilnehmer offenbart das MRC-Prinzip als ein parteiisches Verteilungsprinzip. Darüber hinaus führt das MRC-Prinzip in einigen Fällen mittelbar zu einer Fragmentierung in mehrere Kooperationsgruppen, was insgesamt gesehen zu nicht-pareto-optimalen Ergebnissen führt. Diese durch die Egalität der Verteilungsergebnisse verursachten Probleme lassen sich durch eine Transformation des MRC-Prinzips zu einem proportionalen Verteilungsprinzip vermeiden. Als Alternative wurde hier das AKMP1-Prinzip entwickelt. Es wurde die Position Gauthiers kritisiert, dass Egalität eine konstitutive Eigenschaft einer gerechten und somit seiner Meinung nach von allen Teilnehmern rationalerweise akzeptablen Verteilung sei. Der der Egalität zugebilligte Sonderstatus, und dies trifft natürlich nicht nur auf Gauthiers Position zu, stützt sich auf eine Jahrhunderte hindurch im Rahmen der traditionellen Moral geformten Intuition und entbehrt einer überzeugenden Begründung. Dies trifft in ganz besonderem Maß auf eine rational und individualistisch konzipierte Theorie wie die von Gauthier zu. Das Scheitern der Egalität und seine Folgen. In der Konzeption des Provisos kommt Gauthiers egalitaristische Grundintuition sehr prägnant zur Geltung. Das Proviso macht Güterverteilungen im Status quo der Verhandlung rückgängig, wenn diese durch unproduktive Transfers zu Stande gekommen sind. Unproduktive Transfers kommen durch Ungleichheiten der Macht zu Stande. Der Mächtige kann den Schwachen zu einer Interaktion zwingen, die für den Mächtigen nur Vorteile und für den Schwachen nur Nachteile hat. Der Ausschluss von unproduktiven Transfers bedeutet also nichts anderes als das Ausblenden von Machtunterschieden im Naturzustand. Und das ist wiederum nichts anderes als eine Egalisierung des Naturzustandes hinsichtlich des für die ganze Überlegung einer rationalen Theorie der Moral zentralen kritischen Faktors: Macht. Gehen wir an den Anfang der Überlegungen des Proviso-Kapitels in MbA, zu Gauthiers Beispiel der Sklaven und

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Herren. Das von Gauthier hier problematisierte Ungleichgewicht zwischen den Sklaven und Herren in ihrem Kooperationsergebnis resultiert aus einer Machtungleichheit im Naturzustand. Das Nicht-Akzeptieren von unproduktiven Transfers auf Seiten der Schwachen lässt sich nicht rational begründen, sondern kann nur durch eine moralisch und zudem noch egalitär ausgerichtete Überzeugung der Schwachen erklärt werden. Sie akzeptieren die unproduktiven Transfers deshalb nicht, weil sie meinen, ein Recht auf die Güter zu haben, die ihnen von den Mächtigen entwendet wurden. Die Entstehung dieses Rechts wird in Gauthiers Argumentation durch seine Annahme erklärt, dass eigentlich alle Menschen gleich rational sind und Macht für ihn eine Folge von Rationalität ist. Dass de facto nicht alle Menschen gleich mächtig sind, erklärt Gauthier mit dem noch starken Einfluss von Irrationalismen wie den Religionen. Wenn diese eines Tages alle eliminiert sind, dann wird die Gleichheit der Rationalität aller Menschen auch in Gestalt ihrer Gleichmächtigkeit zur Geltung kommen. Quasi im Vorgriff auf diesen aus Gauthiers Sicht rationalerweise zu antizipierenden Zustand wird jedes rationale Individuum ein Recht auf einen so großen Güteranteil erheben, wie es ihn bei der in Aussicht gestellten Machtgleichheit erhalten würde. Dies heißt grosso modo nichts anders, als in Verteilungsfragen eine egalitäre Güterverteilung vorauszusetzen. Teilt man mit Gauthier diese egalitäre Vision der Machtverteilung nicht und macht auch keine anderen moralischen Annahmen, dann entfällt das in dem Beispiel zwischen den Sklaven und Herren veranschaulichte Problem, das überhaupt erst die Überlegungen zur Einführung eines Provisos auslöst. Wenn es aber keinen Grund mehr für die Einführung eines Provisos gibt, dann entfällt auch die Basis der moralischen Rechte, die Gauthier im Rahmen des Provisos einführt. Ohne moralische Rechte schrumpft Gauthiers Moraltheorie dann zunächst auf eine Theorie der Gerechtigkeit zurück, wie er sie vor dem Erscheinen von MbA ohne die Konzeption des Provisos vertreten hat; denn es bleibt nur das MRC-Prinzip bestehen. Aber selbst dieser Teil der Theorie gerät dann ins Wanken, da ohne z. B. Recht auf Eigentum weder die Verhandlung noch normale Marktinteraktionen möglich sind. Ohne die Verwendung seiner egalitären Grundintuition kommt Gauthier also zu keiner Moral. Die Ohnmacht einer egalitären Moral. Moral ist die Alternative zur Macht als einzigem bestimmenden Faktor von Interaktionen. Letztere führt zu einem

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für alle Teilnehmer suboptimalen Zustand, was den Ansatzpunkt einer rationalen Moraltheorie bildet. Dies gilt sowohl für Gesellschaften mit egalitärer Machtverteilung als auch für Gesellschaften mit inegalitärer Machtverteilung. In beiden Fällen verschenken die Individuen ihren Anteil an einem möglichen kooperativen Mehrwert, wenn sie nur die Macht ihre Interaktionen bestimmen lassen und sich nicht zu einer Kooperationsgemeinschaft zusammenschließen. Jedoch sind nicht in beiden Konstellationen alle Teilnehmer im gleichen Maße von den Nachteilen einer Güterverteilung durch Macht betroffen. Bei egalitären Machtverhältnissen profitieren bzw. leiden alle im gleichen Maße durch die Verteilung aufgrund von Macht. Bei inegalitären Machtverhältnissen hingegen profitieren natürlich nur die Mächtigen von einer solchen Verteilungsart. Im letzteren Fall hat die Gruppe der Schwachen von vornherein ein größeres Interesse an der Einführung eines alternativen Verteilungsprinzips, wie z. B. einer Verteilung nach Bedürfnis oder Verdienst, als der Rest der Gesellschaft. Nun ist es aber gerade diese Gruppe, die natürlich auch die geringsten Möglichkeiten hat, eine solche Veränderung in der Gesellschaft herbeizuführen. Dies ist der Grund, weshalb sich Moral - zumindest in einer Gesellschaft, die überwiegend aus individuellen Nutzenmaximierern besteht und in der keine Gleichheit der Macht herrscht - nicht von selbst institutionalisiert, sondern künstlich eingeführt und erhalten werden muss. Dieses Szenario ist die reale Herausforderung an einen moralischen Kontraktualismus. Die Frage nach der Rationalität der Moral stellt sich schon seit Platon nur vor dem Hintergrund von Machtdifferenzen. Dort, wo es keine Machtdifferenzen gibt, da ist das Zusammenleben auf der Basis von Macht im Vergleich zu einer kooperativen Form des Zusammenlebens für alle von Nachteil. Dort bedarf es aber auch keiner sonderlich ausgeklügelten Argumentation, um alle Mitglieder der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass es sinnvoll ist, eine Kooperationsvereinbarung abzuschließen. Die zu knackende Nuss für eine rationale Moraltheorie besteht darin, dem Mächtigen gute Gründe zu geben, nicht mehr nach dem Recht des Stärkeren zu handeln, sondern sich freiwillig kooperativ zu verhalten. Gauthiers Nachweis der Rationalität von kooperativem Verhalten für eine Gesellschaft von gleich mächtigen Individuen ist weder überraschend noch eine Antwort auf die Frage nach der Rationalität von Moral in der realen Welt. Denn die Ungleichheit der Macht ist seit Anbeginn der Menschheit Teil

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der Realität und es gibt keinen guten Grund anzunehmen, dass sich dieser Teil der Realität in Zukunft ändern wird.

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