Politische Talkshows über Flucht: Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurse. Eine kritische Analyse 9783839437162

Plasberg, Illner, Will and Co. - for the political talk-show genre, refugees are a good topic: controversial, entertaini

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German Pages 436 Year 2017

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Politische Talkshows über Flucht: Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurse. Eine kritische Analyse
 9783839437162

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Teil I. Einleitung
Eine Szene als Einstieg
1. Problemaufriss und Fragestellung
2. Wissenschaftsverständnis und Bedeutung für Europäische Ethnologie und Cultural Studies
3. Aufbau der Arbeit
Teil II. Theorie und Methode
4. Europäische Ethnologie und Cultural Studies
5. Migrations- und Flüchtlingsforschung
6. Polittalks als Forschungsgegenstand
7. Entwicklung eines Analyseinstrumentariums
Teil III. Polittalk-Analysen
8. Asylrecht und quantitative Zuschreibungen
9. Europa, Grenzschutz und Todesfolgen
10. Aufnahme, Ablehnung und Umgang mit Geflüchteten
11. »Die Deutschen«, »die Geflüchteten« und viele Emotionen
12. Identität, Kultur und Rassismus
13. Belastung, Bereicherung und Ökonomismus
Teil IV. Resümee
14. Hegemonie des massenmedialen Gesamtdiskurses in Polittalks
Teil V. Anhang
Literatur
Analysierte Sendungen
Gäste und ihre Funktionen

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Simon Goebel Politische Talkshows über Flucht

Cultural Studies | Herausgegeben von Rainer Winter | Band 49

Meinen Eltern

Simon Goebel (Dr. phil.), geb. 1984, arbeitet in der Initiativgruppe »FluchtMigration und gesellschaftliche Transformationsprozesse« an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist außerdem Referent für Ausländerrecht im Kontext des Arbeitsmarktzugangs von Geflüchteten bei »Tür an Tür – Integrationsprojekte gGmbH« in Augsburg.

Simon Goebel

Politische Talkshows über Flucht Wirklichkeitskonstruktionen und Diskurse. Eine kritische Analyse

Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades (Dr. phil.) der Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt vorgelegt von Simon Goebel, Augsburg 2017

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Inhalt

Vorwort | 11

TEIL I. E INLEITUNG Eine Szene als Einstieg | 15 1. Problemaufriss und Fragestellung | 21 2. Wissenschaftsverständnis und Bedeutung für Europäische Ethnologie und Cultural Studies | 31 3. Aufbau der Arbeit | 37

TEIL II. THEORIE UND METHODE 4. Europäische Ethnologie und Cultural Studies | 41

4.1 Explikationen des Kulturbegriffs | 41 4.1.1 Konstruktivismus und Antiessentialismus | 41 4.1.2 Cultural Turns und kulturwissenschaftliche Theoriebildung | 43 4.1.3 Wissen in der Populärkultur | 44 4.1.4 Abgrenzung der Populärkultur zur Alltagskultur | 46 4.2 Der Cultural-Studies-Ansatz | 47 4.2.1 Das Centre for Contemporary Cultural Studies – Von der Populärkultur zur Macht | 47 4.2.2 Amüsierte Masse oder widerständige Subkulturen? Kommunikation aus Sicht der Cultural Studies | 53 4.2.3 Zwischen Kultur und Ökonomie: Ideologiekritik und Interventionismus der Cultural Studies | 60 4.2.4 Ergänzend: Postcolonial Studies | 65 5. Migrations- und Flüchtlingsforschung | 69 5.1 Migrationsforschung und die Infragestellung ihrer Kategorienbildung | 69 5.2 Kulturanthropologische Flüchtlingsforschung | 73 5.3 Die drei Phasen der Einwanderung in die BRD | 74

6. Polittalks als Forschungsgegenstand | 81 6.1 Historie des Polittalk-Formats | 81 6.2 Die funktionalen Bestandteile von Polittalk-Sendungen | 84 6.2.1 Typisierung | 84 6.2.2 Gäste | 85 6.2.3 Redaktion und Moderation | 87 6.2.4 Studiopublikum | 88 6.2.5 Technik | 89 6.2.6 Einspieler | 90 6.3 Information, Unterhaltung und ein populäres Sendeformat | 91 6.4 Unterhaltende Propaganda heißt, dass Machtbeziehungen im Spiel sind | 96 7. Entwicklung eines Analyseinstrumentariums | 99 7.1 Die Methodologie der Cultural Studies | 99 7.2 Kritische Diskursanalyse | 101 7.2.1 Die Macht der Diskurse | 101 7.2.2 Zur Anwendung einer kritischen Perspektive | 104 7.2.3 Die Detailarbeit der Kritischen Diskursanalyse | 105 7.3 Cultural Studies, Kritische Diskursanalyse und Medienanalyse | 110 7.3.1 Kontextualisierung | 111 7.3.2 Fernseh- und Dokumentarfilmanalyse | 112 7.3.3 Datenaufbereitung | 117

TEIL III. P OLITTALK-ANALYSEN 8. Asylrecht und quantitative Zuschreibungen | 121 8.1 Differenzierungen Geflüchteter: Aufenthaltsstatus und rechtliche Legitimität | 121 8.1.1 Konstruktionen rechtlicher Differenzlinien | 121 8.1.2 Verschärfung des Asylrechts 1993 | 141 8.1.3 Asylrechtsänderungen 2014/2015 | 147 8.1.4 Unzutreffende und rassistische Vorstellungen über rechtliche Differenzierungsnormen | 150 8.1.5 Widerständigkeiten gegen asylrechtliche Bedingungen | 152 8.2 Quantifizierungen Geflüchteter | 153 8.2.1 Geflüchtete werden als »zu viele« imaginiert | 153 8.2.2 Das Argument der Überforderung der deutschen Bevölkerung | 161

8.2.3 Da Deutschland die meisten Geflüchteten aufnehme... | 164 8.2.4 Widerspruch: Deutschland nimmt zu wenige Geflüchtete auf | 167 8.2.5 Widerständigkeiten gegen Zahlen | 170 8.3 Zusammenfassung: Asylrecht und »Zahlen« als Strategien der Limitierung | 171 9. Europa, Grenzschutz und Todesfolgen | 177 9.1 Europa als Ziel | 177 9.1.1 Gründe, das Herkunftsland zu verlassen | 177 9.1.2 Gründe, nach Europa zu fliehen | 181 9.2 Geflüchtete und ihr Kontakt mit dem europäischen Grenzregime | 183 9.2.1 Illegalisierung von Migrant_innen und die Unterstützung von Frontex | 189 9.2.2 Die »Festung Europa«-Metapher zwischen Ablehnung und Befürwortung | 200 9.2.3 Tote Geflüchtete vor europäischen Küsten als Folge europäischer Asylpolitik | 202 9.2.4 Hintergründe europäischer Asylpolitik: Schengen, Dublin und Diktatoren | 208 9.3 Zusammenfassung: Die Normativität von Grenzen im Kontext eines Ordnungsdiskurses | 212 10. Aufnahme, Ablehnung und Umgang mit Geflüchteten | 217

10.1 Perspektiven auf die Aufnahme Geflüchteter | 217 10.2 Gängige Begründung der Ablehnung Geflüchteter | 222 10.3 Möglichkeiten und Zustände der Unterbringung Geflüchteter | 233 10.3.1 Widerstände aus der abgeneigten Nachbarschaft | 233 10.3.2 Eine »typische« Nachbarin? Sybille Kiermeier als Exempel | 235 10.3.3 Kritik und Verharmlosung der Unterbringung Geflüchteter in Lagern | 239 10.4 (Des-)Integrationsmaßnahmen | 245 10.5 Die Rolle von Religion, Kirchen und Papst als moralische Instanzen | 250 10.6 Zusammenfassung: Stimmungen gegen Geflüchtete | 252 11. »Die Deutschen«, »die Geflüchteten« und viele Emotionen | 259

11.1 Das Zeigen von Ablehnung und Hass | 259 11.2 Problematisierung Geflüchteter und Ablehnung als Norm | 265 11.3 Die Gefühlskategorien »Sorgen und Ängste« | 268

11.4 11.5 11.6 11.7

11.3.1 Kriminalisierung Geflüchteter | 272 11.3.2 Verharmlosung von »Fremdenangst« als normale menschliche Eigenschaft | 277 11.3.3 Begründungen für Ängste: Sozialneid und Unterprivilegierung | 279 11.3.4 Selbstinszenierung von Politiker_innen als »Kümmerer« der »besorgten Deutschen« | 281 11.3.5 Die Folge der Angst: Angst | 281 Forderungen nach einem humaneren Umgang mit Geflüchteten | 283 Die Betonung der Hilfsbereitschaft »der Deutschen« | 285 Charakterisierungen Geflüchteter als strebsam und arbeitswillig | 289 Zusammenfassung: Konsolidierung der Differenzlinie zwischen »den Deutschen« und »den Geflüchteten« | 293

12. Identität, Kultur und Rassismus | 295 12.1 Differenzierungen Geflüchteter: Herkunftsstaat | 295 12.2 Über Rassismus sprechen: Eine Metaperspektive | 304 12.2.1 Die Problematisierung von Rassismus | 305 12.2.2 Über die Verwendbarkeit des Rassismus-Vorwurfs | 310 12.3 Rassistische Semantik: Subtiler, immanenter Rassismus | 315 12.3.1 Das »kulturell Andere« | 315 12.3.2 Asamoah und Sufi: Reproduktionen national-ethnisch-kultureller Identität | 320 12.3.3 Neokoloniale Imaginationen | 322 12.3.4 Konstruktionen von »Afrika« | 324 12.4 Rassistische Sprache | 326 12.4.1 »Das sind doch keine Asylanten!« | 326 12.4.2 »Flut«, »Welle«, »Strom« – Worte als Naturgewalten | 330 12.4.3 Wer ist »farbig« und »bunt«? | 333 12.5. Gäste-Auswahl: Rechte Provokateure und Krawall-Garanten | 335 12.5.1 Der deutsche Samuel Huntington: Peter Scholl-Latour | 335 12.5.2 Der als »Hetzer« bezeichnete Thilo Sarrazin | 337 12.5.3 »Rechte Schmierfinken«? Die Journalisten Roger Köppel und Philipp Gut | 339 12.5.4 Die Pegida-Sympathisanten der AfD: Björn Höcke und Frauke Petry | 341 12.5.5 Der rechte Flügel der Union: Wolfgang Bosbach (CDU), Joachim Herrmann (CSU), Andreas Scheuer (CSU), Monika Hohlmeier (CSU) | 343 12.6 Zusammenfassung: Rassismus und Kulturalismus sind omnipräsent | 344

13. Belastung, Bereicherung und Ökonomismus | 349

13.1 Pejorative ökonomistische Perspektiven auf Geflüchtete | 349 13.1.1 Die Popularität des Push-Pull-Modells | 349 13.1.2 Von »Sozialschmarotzern« und »Wirtschaftsflüchtlingen« | 352 13.1.3 Geflüchtete als finanzielle Belastung | 360 13.1.4 Lösungsansatz folgenlos: Die Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort | 363 13.2 Positive ökonomistische Perspektiven auf Geflüchtete | 369 13.2.1 »Integration« in Arbeit verhindert Sozialtransfers an Geflüchtete | 369 13.2.2 Qualifikationen Geflüchteter nützen dem deutschen Arbeitsmarkt | 372 13.2.3 Demografischer Wandel: Geflüchtete helfen »unsere« Rente sichern | 378 13.3 Zusammenfassung: Dominanz von Nützlichkeitserwägungen | 381

TEIL IV. RESÜMEE 14. Hegemonie des massenmedialen Gesamtdiskurses in Polittalks | 389

TEIL V. ANHANG Literatur | 409 Analysierte Sendungen | 429 Gäste und ihre Funktionen | 431

Vorwort

Die Dringlichkeit, mit der gegenwärtig über Flucht debattiert wird, führt die Wissenschaft in ein Dilemma. Sie soll Fragen beantworten, auf die sie noch keine Antworten hat. Von ihr werden schnelle Ergebnisse erwartet statt Zögern und Handlungsempfehlungen statt Zweifel. Flucht war kein relevantes Forschungsthema. Flucht als Forschungsfeld ist – zumindest im deutschsprachigen Raum – noch eine Brache. Dies wird sich in ein bis zwei Jahren verändert haben. Spätestens seit 2014 ist Flucht unter Wissenschaftler_innen quer durch alle Disziplinen ein begehrtes Forschungsfeld. Wer sich schon länger mit dem Thema befasst, wird plötzlich zum gefragten Experten. Ja, es gibt viel zu tun – und viel zu holen. Flüchtlingsforschung wird jetzt finanziert, die Nachfrage ist riesig und das Angebot wächst. Diese Situation verweist auf den Prozess der Ökonomisierung der Universitäten und Hochschulen. Forschung richtet sich wie ein Verkaufsschlager an der Nachfrage aus. Der Wert von Forschung hängt offensichtlich von der Höhe der ihr zur Verfügung stehenden Drittmittel ab. Deshalb war Flüchtlingsforschung so lange schlicht nichts wert. Natürlich ist es zu begrüßen, dass Flucht nun einen anderen Stellenwert in der Forschung bekommen hat. Doch von der Freiheit der Themenwahl, also der Freiheit der Forschung, ist dieses System der Forschungsförderung weit entfernt. Erste Ideen zur vorliegenden Arbeit sind Ende 2011 entstanden. Damals war noch nicht abzusehen, dass die Arbeit zum Zeitpunkt ihres Erscheinens so aktuell sein würde. Doch das Glück, das mit dem Vorlegen einer so aktuellen ersten Monografie verbunden sein müsste, ist getrübt. In absurder Weise profitieren gegenwärtig (nicht nur) Akademiker_innen von der ungeheuren Not so vieler Geflüchteter. Ich verdanke das Zustandekommen dieser Arbeit meiner Gutachterin Prof. Dr. Angela Treiber sowie meinem Gutachter Prof. Dr. Rainer Winter, die mich in meinem Vorhaben unterstützt und mich mit kritischem und konstruktivem Blick begleitet haben. Auch danke ich Claudia Resenberger für das Lektorat und für alles andere! Für jegliche Unterstützung und ihren absoluten Rückhalt danke ich meinen großartigen Eltern.

Teil I. Einleitung

Eine Szene als Einstieg

Transkriptionsauszug 1: Nurjana Arslanova über ihre Flucht und ihr Ankommen in Deutschland bei Beckmann am 26.09.2013 Nurjana Arslanova:

Reinhold Beckmann: Jetzt schaun wir uns den Fall mal genau an von Frau Arslanova. 2002 mit der Familie hier her gekommen nach Deutschland, was war der Grund für die Flucht?

Ähm es gab äh 1999 den Kaukasuskonflikt ähm den gab es zuvor äh in Tschetschenien und dann sind die Terroristen von Tschetschenien nach Dagestan äh (.) einmarschiert und ähm wollten die Bürger zwingen äh gegen die russischen Milizen zu kämpfen. Deswegen ähm viele Bürger haben sich geweigert und die, die sich geweigert haben, äh wurden verfolgt oder äh äh umgebracht. Deswegen hat mein Vater ähm keine Möglichkeit äh gesehen ähm selbst und wir als Familie in Sicherheit dort zu leben. Deswegen sind wir auch geflohen. Wie sind Sie damals nach Deutschland gekommen? Wir sind damals illegal eingereist, weil es gab keinen legalen Weg nach Deutschland einzureisen, und sind ähm

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eine Woche lang mit nem LKW nach Deutschland gefahren. Wo sind Sie damals untergekommen in Deutschland? Ähm wir haben äh in Braunschweig äh Asylantrag einen Asylantrag gestellt, der wurde nach ähm circa drei Monaten abgelehnt und von der Erstaufnahmeeinrichtung wurden wir in a~ Flüchtlingslager nach Gamsen [?] genau ähm verlegt. Dort haben wir ungefähr acht Jahre gelebt auf fünf Qudratmeter pro Person. (.) Genau. Acht Jahre mit Arbeitsverbot. Ich durfte keine Ausbildung machen, ich hatte fünf Quadratmeter Raum zur Verfügung, ich durfte Stadt Gifhorn nicht verlassen und Gifhorn is ja ne ganz ganz kleine Stadt. (.) Ja und dazu noch die Gutscheine.

Das ist bei Gifhorn. (2) Acht Jahre? (.) Äh ohne, dass sich dieser Status verändert hat. Ja. (2) Äh über die Gutscheine reden wir jetzt gleich mal äh um das nochmal zu erläutern. Also muss man dazu sagen, Vater war vorher schon hier, das heißt der hat ein bisschen, ne, das vorher geplant. Der war vorher schon in Deutschland. Wie ist das, wenn man so ganz normal zur Schule gehen will? War das denn möglich?

Das war bei uns äh zum Glück möglich, weil wir noch schulpflichtig warn. Es gab aber bei uns im Lager ganz viele äh Jugendliche, die nicht mehr schulpflichtig waren, die durften natürlich dann äh nicht keine Schule besuchen und durften auch kein Sprachkurs besuchen. Ich habe Deutsch in der Schule gelernt.

Ich hatte echt Glück gehabt.

Wo und wie haben Sie Deutsch gelernt? Mhm. (Sieghard Wilm: Sie hatten Glück im Unglück.)

E INE S ZENE ALS E INSTIEG | 17

Ja, ja, dieses Flüchtlingsheim in Gamsen bei Gifhorn, das Sie eben angesprochen haben, das is äh 2010 geschlossen worden. Sie sollten dann in ein anderes Flüchtlingsheim, ham sich dann aber geweigert auch in ein anderes Flüchtlingsheim in der Nähe von Gifhorn, warum wollten Sie da nich hinein? Ähm wir wollten da nicht hin, weil wir durch andere Flüchtlinge, die dort schon umgezogen äh worden sind ähm gehört haben, dass das Lager viel isolierter ist ähm dass die Bedingungen dort sehr sehr schlimm sind, katastrophal sind und sehr unmenschlich sind, deswegen haben wir uns geweigert, umzuziehen und wir sind bis zur letzten Minute in diesem Lager in Gamsen geblieben und dann kam eines Morgens die Polizei, also mehrere äh Polizeiwagen mit der Ausländerbehörde und gaben uns 30 Minuten Zeit, um die Sachen zu packen, damit sie uns nach Meinersen bringen. Das ist entwürdigend. Ich hab ~ Das ist dort in Meinersen, wo das andere Flüchtlingsheim sich befindet. Genau, ich hab mich in diesem Moment gar nicht wie ein Mensch gefühlt, sondern wie ein (.) Tier, wobei ich sagen muss, Tiere werden glaub ich in Deutschland besser behandelt hab ich das Gefühl.

Der Asylantrag wurde offensichtlich unbe~ als offensichtlich unbegrün-

Können Sie uns kurz erklären, warum der Asylantrag und mit welcher Begründung der immer wieder abgelehnt wurde?

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det abgelehnt ähm weil die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht meinem Vater und meiner Mutter geglaubt haben, dass wir dort verfolgt waren. Und dazu muss ich noch sagen, die meisten Asylanträge wurden zu der Zeit abgelehnt. Genau.

Mhm. Das heißt, das war keine Ausnahme, sondern fast Regel, dass das abgelehnt wurde. Sie ham das eben angesprochen mit den Gutscheinen. Das heißt, wie kann ich leben, wie kann ich tatsächlich mich versorgen, wie viel Geld stand Ihrer Familie damals zur Verfügung?

Ich persönlich habe damals 112 Euro als Gutscheine erhalten und 63 ~ 112 Euro für welchen Zeitraum? Für einen Monat. Für einen Monat. Und 63 Cent als Bargeld. 63 Cent? Genau, das eigentliche Taschengeld, die 40 Euro wurden gestrichen, weil die B~ die Ausländerbehörde behauptet hat, dass äh wir bei unserer eigenen Abschiebung nicht mitwirken. (.) Deswegen haben sie uns das Bargeld gestrichen und die Kleidungsgutscheine gestrichen und die Residenzpflicht auf Stadt Gifhorn äh eingeschränkt. Das is erniedrigend. Das is sehr ernie~ das is überhaupt nicht menschlich, da kann man (.) da bin ich echt sprachlos. Beckmann: Bedroht, vertrieben und fern der Heimat – Menschen auf der Flucht, ARD, 26.09.2013, 0:27:43-0:32:08. Alle Sendungsangaben in den Fußnoten werden bei ihrer jeweils ersten Erwähnung komplett ausgeschrieben und jedes weitere Mal lediglich mit Sendungsname, Datum und Timecode.

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Dieser Transkriptionsauszug ist der vorliegenden Arbeit ohne einleitende Worte vorangestellt, um einer Geflüchteten1 die ersten Worte zu geben, einer jener Menschen in Deutschland, die für gewöhnlich »sprachlos«2 sind und denen nur selten zugehört wird. Nurjana Arslanova beschreibt ihre Eindrücke von und Erfahrungen mit der deutschen Asylpolitik sehr kritisch und ihre Schilderungen erzeugen ein hohes Maß an Anteilnahme des Moderators Reinhold Beckmann. Arslanova ist eine Ausnahme in den in dieser Arbeit analysierten Sendungen, weil sie nicht nur eine Geflüchtete ist, sondern zum Zeitpunkt der Sendung eine Geflüchtete mit einem aufenthaltsrechtlich äußert prekären Status – einer sogenannten Duldung. Das bedeutet, dass sie ausreisepflichtig ist, ihre Abschiebung jedoch temporär ausgesetzt wird. Seit vielen Jahren lebt sie in diesem Status und konnte sich damit nie gewiss sein, ob und wie lange sie noch in Deutschland sein darf. Nurjana Arslanova ist eine Ausnahme, weil es ihr gelingt, sich in der medialen Öffentlichkeit zu artikulieren, Kritik zu äußern und Widerstand gegen menschenverachtende Gesetze zu leisten.3

1

Anatol Stefanowitsch zeigt aus linguistischer Sicht die Problematik des Begriffs »Flüchtling« und der von ihm diskutierten Alternativen »Geflüchtete_r« und »refugee«. Er kommt zu dem Schluss, dass der Begriff »Geflüchtete_r« für einen deutschen Text am geeignetsten sei. Vgl. Stefanowitsch, Anatol: Flüchtlinge und Geflüchtete, in: sprachlog.de (01.12.2012).

2

»Sprachlos« im Sinne jener Menschen, die Gayatri Spivak die »Subalternen« nennt. Vgl. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008. Ich behaupte hier jedoch nicht, dass Nurjana Arslanova aus der Subalterne heraustritt und ein dominantes Narrativ verändert. Wie sich im Verlauf der Arbeit zeigen wird, bleibt dieser Transkripitionsausschnitt eine Ausnahme.

3

Die Bezeichnung »menschenverachtend« begründet sich u.a. in der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts 2012, dass die 40 Euro Taschengeld (das Arslanova auf 63 Cent gekürzt wurde), »gegen das ›Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum‹ [verstoße]«. Rath, Christian: Endlich Existenzminimum, in: taz.de (18.07.2012).

1. Problemaufriss und Fragestellung

Geflüchtete sind in der Regel subaltern. Menschen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen, unterliegen rechtlichen Rahmenbedingungen, die stark einschränkend auf die Antragsstellenden wirken. Arslanova beschreibt in der vorangegangenen Szene die Repressionen, die in Form von Residenzpflicht, Arbeitsverbot, Unsicherheit über den zukünftigen Aufenthalt in Deutschland, Unterbringung in Lagern und Sicherung des bloßen Existenzminimums (oder weniger) rechtlich ausgestaltet wurden und immer wieder partiell verändert werden. Die Möglichkeiten, sich aus einer solchen Situation heraus öffentlich Gehör zu verschaffen, erfordern enorme Anstrengungen. Das Gefühl der Fremdheit, Dankbarkeit für die Aufnahme in Deutschland, Traumata, Angst vor weiteren Repressionen oder Sprachbarrieren können dazu führen, Missstände zu akzeptieren und das lange Warten auf eine Entscheidung des Asylantrags oder die Möglichkeit zu arbeiten hoffnungsvoll zu ertragen. Öffentlich Gehör zu finden funktioniert in einer mediatisierten Gesellschaft über Medien. Diese greifen in ihrer Berichterstattung über Geflüchtete häufig nicht auf Erfahrungen Geflüchteter zurück. So entschied sich beispielsweise die ARD-Reporterin Caroline Walter, selbst vier Wochen in einem Lager für Geflüchtete zu wohnen, und berichtete daraufhin erschüttert von den dortigen Zuständen und der Situation der Unterbringung. Der Beitrag wurde viel beachtet.1 Obwohl hunderttausende Geflüchtete das Leben in Lagern erfahren und erfahren haben, bedarf es offenbar einer Journalistin, um die Zustände in den Lagern glaubhaft öffentlich zu skandalisieren.2

1

Vgl. Frank, Arno: ARD-Doku »Vier Wochen Asyl«: Sie sind es uns nicht wert, in: SpiegelOnline (13.09.2012); Youtube: Vier Wochen Asyl – Ein Selbstversuch mit Rückkehrrecht (24.09.2012).

2

Der Journalist Günter Wallraff wollte mit seinem Dokumentarfilm Schwarz auf Weiß den alltäglichen Rassismus in Deutschland erfahren und aufdecken. Dazu begab er sich »als Schwarzer« (nach einer aufwändigen Maskerade) in öffentliche Räume. Dieses Vorgehen wurde u.a. von People of Color kritisiert. Statt die unzähligen wirklich Betroffenen alltäglicher rassistischer Diskriminierung zu fragen und zu Wort kommen zu lassen, spreche

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In dieser und anderen Reportagen kommen Geflüchtete zwar zu Wort; und auch in Interviews wird Geflüchteten gelegentlich die Möglichkeit gegeben, sich zu artikulieren. Doch ihre Aussagen werden in beiden Fällen durch journalistische und redaktionelle Auswahlverfahren oder Fragestellungen präjustiert. Polittalk-Sendungen sind ebenfalls in diese Reihe journalistischer Erzeugnisse einzuordnen. Geflüchtete können unter Umständen anwesend sein, wie sich im Fall von Arslanova bei Beckmann zeigt, und ihre Antworten sind durch die Fragen der Moderation teilweise vorbestimmt. Allerdings besteht in Polittalks die Möglichkeit, sich auch proaktiv zu artikulieren. Somit ist das Spektrum der Optionen erweitert. Aussagen werden nicht selektiert wie in einem Zeitungsinterview, in dem nur das erscheint, was die Redaktion als relevant erachtet. Darüber hinaus ist die Reichweite von Polittalk-Sendungen enorm. In beinahe jedem Haushalt in Deutschland können Polittalk-Sendungen empfangen werden. Die Einschaltquoten der Polittalks auf den Sendern ARD und ZDF belegen millionenfache Rezeption.3 Insofern scheint es aufschlussreich Polittalk-Sendung dahingehend zu überprüfen, ob und wie sich Geflüchtete darin artikulieren können oder wer stattdessen wie über sie spricht. Abbildung 1: Polittalk-Sendungen zwischen 2011 und 2015, die Flucht thematisierten      

 

 

 

 

 

Wallraff im Namen dieser und reproduziere damit deren Subalternität. Vgl. Pilarczyk, Hannah: Kritik an neuem Wallraff-Film: »Einfach nur der Fremde«, in: SpiegelOnline (21.10.2009). 3

Die Durchschnittsquote der in dieser Arbeit untersuchten Polittalk-Sendungen liegt im Jahr 2014 bei 11,25 %, was gut drei Millionen Zuschauenden entspricht. Die Quoten reichen von durchschnittlich 7,1 % für Beckmann bis zu 16,2 % für Günther Jauch. Vgl. Nöthling, Timo: Die Talk-Show-Bilanz 2014, in: Quotenmeter (18.12.2014).

P ROBLEMAUFRISS UND F RAGESTELLUNG | 23

Eine dahingehende Analyse von Polittalk-Sendungen ist von hoher Relevanz, befindet sich die deutsche mediale Öffentlichkeit doch spätestens seit Ende 2013 in einem enorm hitzig geführten Flüchtlingsdiskurs. Steigende Asylantragszahlen, Geflüchtete, die im Mittelmeer und in der Ägäis ertrinken, ersticken oder erfrieren, ehrenamtliches Engagement, brennende Flüchtlingslager, Asylrechtsänderungen, flüchtlingsfeindliche und rassistische Demonstrationen, politische Machtspiele uvm. bedingen eine dauerhafte Medienpräsenz der Themen Flucht und Asyl. Nicht zuletzt anhand der Menge einschlägiger Polittalk-Sendungen lässt sich die öffentliche Aufmerksamkeit bezüglich eines Themas bemessen, da die Redaktionen dazu tendieren, jeweils das »Top-Thema« der Tage vor der Sendung zur Diskussion zu stellen. Abbildung 1 (S. 22) veranschaulicht, wie häufig der Themenkomplex Flucht und Asyl zwischen 2011 und 2015 in Polittalk-Sendungen (ARD und ZDF) thematisiert wurde. Die Häufung der Polittalk-Sendungen korreliert mit diskursiven Ereignissen4, wie Abbildung 2 (S. 25) mit Blick auf die Jahre 2011 bis 2014 zeigt. 2011 »[stürzten] sich die Medien [...] auf Lampedusa [...], weil aufgrund der Umbruchsituation die Grenzen Tunesiens nur mehr lückenhaft überwacht wurden und zahlreiche junge Tunesier die Überfahrt nach Italien wagten«.5 »Arabien steht auf.«6 »Das Volk hat gesiegt.«7 »Freiheit, Recht und Revolution.«8 So titelten deutsche Leitmedien im Februar 2011. Euphorisch wurde davon berichtet, wie sich die Menschen in den arabischen Staaten Freiheit und Menschenrechte erkämpften. Schnell war die Rede vom arabischen Frühling,9 der sich als Bezeichnung für die »historische[…]

4

Vgl. Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 6. Aufl., Münster 2012, S. 82.

5

Reckinger, Gilles: Lampedusa. Begegnungen am Rande Europas, Bonn 2013, S. 188; vgl. Johnson, Dominic/Jakob, Christian: Flüchtling aus Afrika. Tod auf hoher See, in: taz (01.02.2012).

6

ZeitOnline: Ausgabe 06/2011, Artikelübersicht.

7

ARD: ARD-Brennpunkt: Das Volk hat gesiegt (11.02.2011).

8

Kornelius, Stefan: Freiheit, Recht und Revolution, in: SZ.de (04.02.2011).

9

Die Anlehnung an die Begriffe Prager Frühling und Deutscher Herbst sind offensichtlich. So wie der Deutsche Herbst als Metapher für die »stürmische« und schwierige Phase der deutschen Innenpolitik aufgrund der Entführung Hans-Martin Schleyers 1977 und schwerer Terroranschläge durch die RAF steht, so steht Prager Frühling für die Bestrebungen des slowakischen KP-Chefs Alexander Dubcek und Teilen der Zivilgesellschaft nach Liberalisierung und Meinungsfreiheit in der Tschechoslowakei. Sämtliche »westliche Medien« verwenden den Begriff »arabischer Frühling« wie eine Suche auf den Webseiten der englischen The Times und der französischen Le Monde nach »arab spring« bzw. »printemps arabe« ergab. Vgl. The Times: Search »arab spring« (o. D.) und Le Monde: Recherche »printemps arabe« (o. D.).

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Zäsur«10 etablierte. Er bezeichnet die komplexen politischen und gesellschaftlichen Prozesse in Staaten des Maghreb und des Nahen Ostens, die im Dezember 2010 ihren Anfang nahmen und bis heute andauern.11 Als absehbar war, dass revolutionäre Veränderungen nicht von heute auf morgen von statten gehen und teils chaotische politische und gesellschaftliche Zustände in den betreffenden Regionen herrschen würden, wich die Euphorie deutscher Medien. Ein Gros der Medien wendete den Blick auf die Folgen für Europa und Deutschland.12 Was, so wurde nun gefragt, bedeuten der Drang nach Freiheit und Menschenrechte sowie die instabilen Machtapparate eigentlich für »uns«? Bei Beckmann am 28.02.2011 feixte Peter Scholl-Latour, dass die Tunesier, die auf Lampedusa ankommen, »doch keine […] Asylanten [sind]«,13 vielmehr bloß »Wirtschaftsflüchtlinge« seien und kein Recht hätten nach Europa zu kommen. Gilles Reckinger, der Lampedusa über drei Jahre (2008-2011) hinweg ethnologisch erforschte, schreibt, dass die italienischen Behörden auf die »vorhersehbare[…] Flucht vieler Menschen« nicht adäquat reagierten und dadurch die Zustände in der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) auf Lampedusa entsprechend katastrophal waren. Die Medien zeigten entsprechende Bilder, die von Überfüllung, Menschenmassen und unhygienischen Zuständen zeugten, und der italienische Innenminister Roberto Maroni – Mitglied der rechtsextremen Partei Lega Nord – verkündete einen »biblischen Exodus«.14 »Wieder einmal war der Notstand erst durch die Politik hervorgerufen worden, die die Augen vor der Realität der Migration verschließen wollte, und wieder einmal konnte man nun diesen ›Notstand‹ unter dem Einsatz von Militär und Polizei medienwirksam als Bedrohung der Sicherheit bekämpfen.«15

10 Asseburg, Muriel: Die historische Zäsur des Arabischen Frühlings, in: Bundeszentrale für politische Bildung (11.10.2011), S. 2. 11 Vgl. Asseburg 2011; Perthes, Volker: Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, Bonn 2011. 12 Vgl. Rahmsdorf, Inga: Europas falsche Angst, in: SZ.de (12.04.2011). 13 Beckmann: Die Welt im Wandel – Welche Folgen hat der Aufruhr in Nordafrika? ARD, 28.02.2011, 0:45:10. 14 Reckinger 2013, S. 188. 15 Ebd.

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Abbildung 2: Übersicht über Polittalks zu Flucht zwischen 2011 und 2014 und diskursauslösende Ereignisse

Jahr

Diskursauslösende Ereignisse

Polittalk-Sendung

2010 Arabische Revolutionen (Beginn: Dezember 2010) 2011 Anne Will: Terror, Tote, Flüchtlinge – Wer stoppt den irren Gaddafi? 27.02.11 Beckmann: Die Welt im Wandel – Welche Folgen hat der Aufruhr in Nordafrika? 28.02.11 Anne Will: Flüchtlinge vor unseren Grenzen – Wen wollen wir reinlassen? 17.04.11 2012 2013 Zuspitzung des syrischen Bürgerkrieges Menschen bei Maischberger: Wut auf Asylbewerber – Sind wir Ausländerfeinde? 27.08.13 Beckmann: Bedroht, vertrieben und fern der Heimat – Menschen auf der Flucht 26.09.13 Tod von mindestens 366 geflüchteten Personen im Mittelmeer am 3. Oktober 2013 Hart aber fair: Tragödie am Strand – Etwas Besseres als den Tod bieten wir nicht? 07.10.13 Hart aber fair: Deutschland, wir kommen! – Aber welche Flüchtlinge sollen bleiben? 21.10.13 2014 Beckmann: Syrien – der vergessene Krieg 08.05.14 Maybrit Illner: Millionen auf der Flucht – Und wer darf nach Deutschland? 25.09.14 Beckmann: Menschen auf der Flucht – letzte Rettung Europa? 25.09.14 Günther Jauch: Der Folter-Skandal – Versagt unsere Flüchtlingspolitik? 05.10.14 Erste Pegida-Demonstrationen Maybrit Illner: Flüchtlinge in Deutschland – Vertrieben, verwaltet, verachtet? 13.11.14 Menschen bei Maischberger: Angst vor Flüchtlingen: Falsche Panik oder echtes Problem? 25.11.14 Maybrit Illner: »Aufstand für das Abendland« – Wut auf die Politik oder Fremdenhass? 11.12.14 Anne Will: Flüchtlinge Herzlich willkommen – Aber auch vor meiner Haustür? 17.12.14

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Reckinger schreibt »wieder einmal« und rekurriert damit auf die Situation und den Flüchtlingsdiskurs zu Beginn der 1990er Jahre, als die Asylantragszahlen in Deutschland ebenfalls stiegen und deutsche Medien apokalyptische Szenarien zeichneten.16 Die Ankunft von Geflüchteten auf Lampedusa wurde zu einem Leitthema in deutschen Medien. Im Berliner Anne Will-Studio begrüßte die Moderatorin am 17.04.2011 ihre Gäste u.a. mit den Worten »26.000 Flüchtlinge aus Nordafrika sind es schon, die sich unter Lebensgefahr bis nach Italien durchgeschlagen haben. 26.000, die unbedingt in Europa bleiben wollen. Nur: Hier will sie keiner. Es seien Wirtschaftsflüchtlinge heißt es überall«.17 Damit reproduzierte Will einige pejorative Perspektiven des Flüchtlingsdiskurses: Geflüchtete als quantitative Bedrohung, Europa als Ziel aller Geflüchteten, Ablehnung gegenüber Geflüchteten als normative Gegebenheit, Kriminalisierung und Illegalisierung Geflüchteter als »Wirtschaftsflüchtlinge«. Die Aufregung hielt sich nur kurz in der medialen Öffentlichkeit. 2012 gab es in den Programmen von ARD und ZDF keine Polittalk-Sendung, die Flucht thematisierte. Das änderte sich 2013. Steigende Asylantragszahlen, der anhaltende eskalierte Bürgerkrieg in Syrien und tausende Geflüchtete, die beim Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen, starben, waren diskursive Ereignisse, die Polittalk-Sendungen nach sich zogen. Die Asylantragszahlen stiegen weiter und Ende 2014 trat die rechtspopulistische bis rechtsextreme Bewegung Pegida (»Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«) ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit. Pegida organisierte Demonstrationen von beachtlicher Größe. Inhaltlich wendeten sich Pegida sowie zahlreiche lokale Ablegervereinigungen neben der befürchteten Islamisierung Europas gegen Asylbewerber_innen und Flüchtlingsunterbringungen in der Bundesrepublik. Auch in diesem Kontext mehrten sich Polittalk-Sendungen, die Flucht thematisierten. Dabei stellt sich vor allem die Frage, wie Flucht thematisiert wird. Um dies herauszufinden werden in der vorliegenden Arbeit alle einschlägigen Polittalk-Sendungen analysiert, die zwischen 2011 und 2014 in den Sendern ARD und ZDF erstausgestrahlt wurden. Es handelt sich hierbei um 15 Sendungen. Zwischen Januar und Dezember 2015 wurden in diesen beiden Sendern 43 Polittalks ausgestrahlt, die Flucht thematisierten (vgl. Abbildung 1, S. 22). In den Jahren 2013 und 2014, als erste Analyseschritte bezüglich der Sendungen aus dem Jahr 2011 für diese Arbeit erstellt wurden, mehrte sich das empirische Material. Es schien sinnvoll weitere Sendungen in die vorliegende Analyse mitaufzunehmen, um neben den arabischen Revolutionen weitere diskursive Ereignisse als Kontexte erfassen zu können. 16 Dieser Diskurs, in dessen Folge die Asylgesetzgebung 1993 verschärft wurde, wird in Kapitel 5.3, S. 53 sowie in Kapitel 8.1.2, S. 114-119 näher beschrieben. 17 Anne Will: Flüchtlinge vor unseren Grenzen – Wenn wollen wir reinlassen? ARD, 17.04.2011, 0:00:19.

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So lässt sich die Frage beantworten, ob sich Fluchtdiskurse in divergenten diskursiven Zusammenhängen unterscheiden. Da sich der diskursive Kontext im Jahr 2015 nicht weiterentwickelte, sondern weiterhin steigende Asylantragszahlen, brennende Flüchtlingslager, Asylgesetzänderungen, Engagement für Geflüchtete in der Bevölkerung und Demonstrationen der Pegida-Bewegung als diskursive Ereignisse zu konstatieren sind, erübrigte sich die Aufnahme weiterer Polittalk-Sendungen aus dem Jahr 2015. Gleichwohl zeigt die Häufung der Sendungen 2015, dass die mediale Relevanz des Themas offenbar höher bewertet wurde als noch in den Jahren zuvor. Dies zeigt auch die Anne Will-Sendung vom 07.10.2015, in der die Bundeskanzlerin Angela Merkel als einziger Gast der Sendung von Will interviewt und damit dem Thema Flucht große Aufmerksamkeit zuteil wurde. Polittalk-Gäste, insbesondere, wenn sie Politiker_innen sind, nutzen dieses Fernsehformat, um ihre politischen Ansichten zu bewerben. Quantitative Studien bestärken sie darin, im Fernsehen präsent zu sein, da dem Fernsehen unter allen Medien am meisten Glaubwürdigkeit und Authentizität zukomme. Fernsehen wird für Politikvermittlung als besonders relevant eingeschätzt.18 Im Bezug auf Migrationsthemen meint der Mediensoziologe Rainer Geißler, »dass das Wissen über die Einstellungen zu Migration und Integration sowohl bei Einheimischen als auch bei Migranten wesentlich davon beeinflusst sind [sic!], wie die Thematik von Migration und Integration in den Medien präsentiert wird«.19 So befinden sich auch Polittalks in einer wirklichkeitsbedingenden Position, wenn es um die Repräsentation migrantischer Wirklichkeiten wie Flucht geht. Ulrike Hormel und Albert Scherr stellen anhand einer Studie des Sinus-Instituts fest, dass »in nahezu allen Milieus starke, emotional getragene Vorbehalte gegenüber Ausländern und Migranten«20 bestehen. Sie bescheinigen dabei den Medien die Einnahme der anderen Seite der Debatte, die die »Unvereinbarkeit von Diskriminierung mit dem Selbstverständnis einer modernen, auf menschenrechtlichen Werten beruhenden Gesellschaft«21 betont. Zwar schreiben Hormel und Scherr, dass auch die diskrimi-

18 Vgl. Bußkamp, Heike: Politiker im Fernsehtalk. Strategien der medialen Darstellung des Privatlebens von Politikprominenz, Wiesbaden 2002, S. 27. 19 Geißler, Rainer: Welchen Beitrag leisten die Massenmedien zur Integration von Migranten? Forschungsbefunde zu Deutschland, Vortrag auf den Nürnberger Tagen zur Integration am 19. Mai 2011, Nürnberg 2011, S. 1. 20 Hormel, Ulrike/Scherr, Albert: Einleitung: Diskriminierung als gesellschaftliches Phänomen, in: Hormel, Ulrike/Scherr, Albert (Hg.): Diskriminierung. Grundlagen und Forschungsergebnisse, Wiesbaden 2010, S. 8; vgl. Bendel, Petra: Integrationspolitik der Europäischen Union. Gutachten im Auftrag des Gesprächskreises Migration und Integration der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2010, S. 9. 21 Hormel/Scherr 2010, S. 8.

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nierenden Mentalitäten einer Verbreitung bedürfen, konstatieren aber eine Diskrepanz zwischen dem »medialen Diskurs«, den sie diesbezüglich positiv und dem Diskurs der »Mehrheit der Deutschen«, den sie negativ konnotieren.22 Diese Sichtweise wird von anderen Arbeiten zu Migration und Medien nicht geteilt. So konstatiert Daniel Müller in einer Synopse von Studien zur Darstellung ethnischer Minderheiten in deutschen Medien, dass der mediale Diskurs nicht vom gesellschaftlichen Diskurs zu trennen sei. Er schreibt zusammenfassend: »Die Forschungsergebnisse zeigen, dass die Einwanderer negativ dargestellt werden: Sie kommen tendenziell selten vor; und wenn, dann häufig in negativ besetzten Zusammenhängen, insbesondere als Kriminelle und überhaupt als Personen, die Geld kosten und/oder gefährlich sind, kurz: als Belastung der Gesellschaft.«23

Zwischen diesen beiden Positionen lassen sich Margret Jäger und Siegfried Jäger verorten. Sie erklären, dass sich aus Mediendiskursen zwar nicht direkt die Positionen in Alltagsdiskursen ableiten ließen, doch die Verwobenheit von Medienproduktion und Alltagsbewusstsein hätten durchaus zur Folge, dass diese beiden Diskursebenen sich gegenseitig affirmieren und so ein konsensuales dominantes Repräsentationsgefüge entwickeln.24 Während der Flüchtlingsdiskurs Anfang 2011 begann, ebbte so langsam ein anderer Migrationsdiskurs ab. Thilo Sarrazin äußerte sich vor allem 2009, 2010, aber auch 2011 gruppenbezogen menschenfeindlich25 in seinem Buch Deutschland schafft

22 Vgl. ebd., S. 7f. 23 Müller, Daniel: Die Darstellung ethnischer Minderheiten in deutschen Medien, in: Geißler, Rainer/Pöttker, Horst (Hg.): Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland. Problemaufriss – Forschungsstand – Bibliographie, Bielefeld 2005, S. 112. 24 Vgl. Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried: Verstrickungen – Der rassistische Diskurs und seine Bedeutung für den politischen Gesamtdiskurs in der Bundesrepublik Deutschland, in: Jäger, Siegfried/Link, Jürgen: Die vierte Gewalt. Rassismus und die Medien, Duisburg 1993, S. 54. 25 Der Begriff der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit geht auf Wilhelm Heitmeyers Langzeitstudie »Deutsche Zustände« (2002-2012) zurück. Menschenfeindlichkeit wird dabei als Konzept begriffen, das »in der Betonung von Ungleichwertigkeit und der Verletzung von Integrität [erkennbar] [wird], wie [...] in öffentlichen Aussagen von Repräsentanten sozialer Eliten, die vornehmlich über die Medien vermittelt werden [...]«. (Herv. i.O.) Heitmeyer, Wilhelm: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin 2012, S. 15. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wird in diesem Konzept (und durch die Empirie bestätigt) als Nukleus verschiedener Ausprägungen (Abwertung von Asylbewerbern bzw.

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sich ab sowie in zahlreichen Interviews. Dafür wurde er kritisiert und gefeiert.26 Im Zentrum der Auseinandersetzung standen vor allem Muslime, die spätestens seit den Terroranschlägen am 11. September 2001 immer wieder Objekte eines Diskurses über die Möglichkeiten und Grenzen von Einwanderung und »Integration« waren und sind. Den Medien kam und kommt dabei die tragende Rolle zu, da »[d]iese Inszenierung von Fremdheit [...] in unserer Gesellschaft maßgeblich über die Medien [verläuft].«27 In Anbetracht einer Umfrage vom 15./16. Februar 2011, die im Auftrag des ARDMorgenmagazins durchgeführt wurde, wonach sich 25 Prozent der Befragten vor »Flüchtlingsströmen Richtung Europa« im Zuge der arabischen Revolutionen fürchten,28 muss davon ausgegangen werden, dass dieses Gefühl der Sorge maßgeblich medial bedingt ist. Wie sonst hätten die Menschen überhaupt von der Möglichkeit erfahren, dass Menschen aufgrund der arabischen Revolutionen nach Europa fliehen. Die Fragestellung ist tendenziös und zeigt bereits eine Intention der Redaktion, die diese Befragung in Auftrag gab. Es geht ihr um die Darstellung möglicher Gefahren und Bedrohungen durch die arabischen Revolutionen, die die deutsche Bevölkerung betreffen könnten. In einer weiteren Umfrage, die etwa eine Woche später durchgeführt wurde, gehen 79 Prozent der Befragten davon aus, dass in Folge der arabischen Revolutionen viele Geflüchtete nach Europa kommen werden.29 Auch vor dem Hintergrund, dass eine defizitäre, von Angst geprägte Perspektive auf Migration im Allgemeinen in bundesdeutschen Migrationsdiskursen zyklisch wiederkehrt, liegt die Vermutung nahe, dass Angst und Sorgen vor Migration eingeübte Reaktionsmuster sind, die die Berichterstattung forciert. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen kristallisieren sich Kernthemen heraus, die diese Arbeit erfassen will. Es geht um die Frage, wer spricht. Wenn Flüchtlingsfeindlichkeit, Abwertung von Obdachlosen, Antisemitismus, Homophobie, Rassismus u.a.) verstanden. Vgl. ebd. S. 16f. 26 Vgl. Hentges, Gudrun: Zwischen »Rasse« und Klasse. Rassismus der Eliten im heutigen Deutschland, in: Hentges, Gudrun/Nottbohm, Kristina/Jansen, Mechthild M./Adamou, Jamila (Hg.): Sprache – Macht – Rassismus, Berlin 2014, S. 193-226; Bade, Klaus J.: Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ›Islamkritik‹ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach/Ts. 2013. 27 Röben, Bärbel: Migrantinnen in den Medien. Diversität in der journalistischen Produktion – am Beispiel Frankfurt/Main, in: Wischermann, Ulla/Thomas, Tanja: Medien – Diversität – Ungleichheit. Zur medialen Konstruktion sozialer Differenz, Wiesbaden 2008, S. 143. 28 Statista: Was bereitet Ihnen die größten Sorgen an der Entwicklung in Nordafrika? (15.16.02.2011). 29 Statista: Werden nach den Unruhen in arabischen Ländern viele Flüchtlinge nach Europa kommen? (22.-24.02.2011).

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– wie oben bereits angedeutet – Geflüchtete wie Nurjana Arslanova in Polittalks eine Ausnahme sind, wer artikuliert dann auf welche Weise die Interessen Geflüchteter? Wie sprechen Moderationen und Gäste mit oder über Geflüchtete und Flucht? Welche Bedeutungen, Imaginationen und Perspektiven über Geflüchtete werden konstruiert? Wie werden Geflüchtete kontextualisiert? Welche sprachlichen und visuellen Texte werden produziert oder reproduziert? Oben wurde bereits konstatiert, dass Geflüchtete in der Regel subaltern bleiben. Diese Feststellung rekurriert auf die Rolle von Machtverhältnissen im Sinne Foucaults. So müssen die formulierten Fragen um die Dimension der Macht erweitert werden. Was bedeutet es, wenn bestimmte Wirklichkeitskonstruktionen artikuliert werden, für die Beziehung zwischen den Sprechenden und den Bezeichneten? Wie werden Verhältnisse geschaffen, die zu sozialer und rechtlicher Ungleichheit führen oder bestehende Ungleichheitsverhältnisse stabilisieren und legitimieren? Diese Fragen stehen im Zentrum dieser Arbeit. Sie sollen Aufschluss geben über spezifische Wirklichkeitskonstruktionen von Flucht und Geflüchteten und diese Wirklichkeitskonstruktionen kritisch hinterfragen.

2. Wissenschaftsverständnis und Bedeutung für Europäische Ethnologie und Cultural Studies

Kritik soll hier als Aufgabe verstanden werden, bestehende und dominante Artikulationen zu reflektieren und in einen kultur- und migrationswissenschaftlichen Kontext einzuordnen. Kritik bedeutet zudem die selbstreflexive Auseinandersetzung um ein Bewusstsein über die eigene Perspektive zu schaffen und das Maß an ideologischer Imprägnierung eigener Aussagen möglichst gering zu halten. Mangelnde selbstreflexive Verortung führt zur Suggestion von Objektivität. In Polittalks wird dies im Übrigen überdeutlich, da von vielen Gästen der Sendungen an zahlreichen Stellen behauptet wird, die eigene Position würde der Wahrheit entsprechen oder die Position des diskursiven Antagonisten sei wirklichkeitsfremd. Im politischen Gefecht einer Polittalk-Sendung mögen entsprechende Artikulationen zwar strategischer Teil der Agitation sein, doch der Effekt ist derselbe: Eine subtile, möglicherweise auch unbewusste Behauptung der Annäherung an eine vermeintliche Wahrheit bei gleichzeitiger Reproduktion einer spezifischen ideologischen Diskursposition. Jäger und Jäger schreiben: »Wissenschaft [ist] immer auch politisch.«1 Das Ziel kulturwissenschaftlicher Forschung ist die Generierung von Wissen über jene diskursive und ambivalente Alltagswelt, in denen widerstreitende Positionen aufeinandertreffen. In einer Darstellung der Entwicklung des wissenschaftlichen Wissensbegriffs erläutert Sabine Eggmann das derzeit bestimmende Verständnis kulturwissenschaftlichen Wissens. Demnach gibt es keine »›wahre‹ im Sinne von ›objektiv-neutrale[r]‹ Repräsentation menschlicher Realität«.2 (Herv. i. O.) Diese Sichtweise, die sich in den 1980er Jahren entwickelte, führte zu einer Krise des »(kultur-)wissenschaftlichen Wissens«, da jeder wissenschaftlichen Beschreibung der Realität, ja jeder Wissensproduktion, der Objektivitätscharakter entzogen werden kann. Was darauf folgen 1

Vgl. Jäger, Margarete/Jäger, Siegfried: Deutungskämpfe. Theorie und Praxis Kritischer Diskursanalyse, Wiesbaden 2007, S. 16.

2

Eggmann, Sabine: »Kultur«-Konstruktionen. Die gegenwärtige Gesellschaft im Spiegel volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Wissens, Bielefeld 2009, S. 25.

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musste, ist die selbstreflexive Auseinandersetzung wissenschaftlicher Disziplinen, »ein historisierender, soziologisierender und kulturalisierender Blick«,3 der so Autorität (zurück) zu gewinnen versucht. Für Repräsentationen der Wirklichkeit bedeutet dies die Gleichzeitigkeit mehrdeutigen, möglicherweise auch ambivalenten Wissens oder – wie Eggmann schreibt – eine »multible Selbstrepräsentation- und reproduktion«.4 Mit diesem Wissensbegriff zu operieren, bedeutet, Wissensproduktionen als Konstruktionen zu verstehen. Wissenskomplexe zu analysieren kann daher nicht ohne den Einbezug des jeweiligen insbesondere historischen und kulturellen Kontextes erfolgen, in dem das Wissen entsteht oder artikuliert wird. Als Analyst_innen von Wissensproduktionen müssen sich Forschende als ebenfalls in einem bestimmten Kontext von Wissen und Wissensproduktion befindliche Akteure betrachten, um hieraus wiederum eine Objektivierung der eigenen Perspektive zu versuchen.5 Auswege aus dieser Problematik werden von verschiedenen Forscher_innen formuliert. Uwe Wirth beispielsweise beschreibt in Anlehnung an Clifford Geertz Kulturwissenschaft als »Detailforschung«, als »eine Perspektivierung des Forschungsinteresses auf die ›dichte Beschreibung‹ der theoretischen Indienstnahme von Details. Zum einen auf jene Details, die als störende Nebensächlichkeiten aus dem theoriebildenden guessing ausgeschlossen werden; und zum anderen auf solche Details, die gerade wegen ihres Störpotenzials als kontingente, aber nicht zu vermeidende Irritationsfaktoren bei der Konstitution epistemischer Dinge Berücksichtigung finden.«6 (Herv. i.O.)

Diesem Verständnis liegt ein semiotischer Kulturbegriff7 zu Grunde, wonach es keine allgemein gültigen Daten gibt. Die Erfassung von Kultur ist demnach eine Interpretation, in die sich Forschende selbstreflexiv einbeziehen müssen. Das Forschungser-

3

Ebd., S. 27; der Ausdruck »kulturalisierend« ist hier unglücklich verwendet. Eggmann meint keinen essentialistischen Blick auf Kultur, sondern den Einbezug kultureller Einflüsse auf Wissenschaft.

4

Eggmann 2009, S. 28.

5

Vgl. Jäger/Jäger 2007, S. 15.

6

Wirth, Uwe: Logiken und Praktiken der Kulturforschung als Detailforschung, in: Wirth, Uwe: Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Berlin 2008, S. 28.

7

Vgl. Hess, Sabine/Moser, Johannes: Jenseits der Integration. Kulturwissenschaftliche Betrachtungen einer Debatte, in: Hess, Sabine/Binder, Jana/Moser, Johannes (Hg.): No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld 2009, S. 11-25.

W ISSENSCHAFTSVERSTÄNDNIS UND

FACHSPEZIFISCHE

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gebnis ist dann eine Bestandsaufnahme – abhängig von Zeit, Raum und der Persönlichkeit des Forschenden. Dies entspricht dem poststrukturalistischen Wissenschaftsbegriff der Spätmoderne.8 Mit Foucault entwickelte sich eine kulturwissenschaftliche Strömung, die ihre Forschungspraxis stärker reflektiert, um sich vom Kontext des Forschungsgegenstands zu distanzieren. Erst über die genaue Beobachtung von ihrer Außenperspektive aus nähern sich Forschende den historischen und ökologischen Zusammenhängen. So erschließen sie aus einer unabhängigen Distanz nahezu objektives Wissen. Entsprechend sieht Foucault das Hinaustreten aus dem kulturellen Kontext des Forschungsgegenstandes als essentielle Bedingung für die Wissensproduktion.9 Gleichzeitig kommen Forschende nicht umhin, trotz aller Objektivierungs-Bemühungen den eigenen sozialen und kulturellen Kontext als Einflussnahme auf die eigene Forschung zu betrachten. Alles andere, so Paddy Scannell, wäre »nicht bloß naiv, es kommt dem Verzicht auf moralische Verantwortung gleich«.10 Die Selbstreflexion gehört somit zu einem essentiellen Bestandteil wissenschaftlichen Arbeitens. Eine gängige Praxis der Selbstreflexion ist das Verfassen mehrerer Memos vor und während des Forschungsprozesses. Memos können den Forschenden Anhaltspunkte sein, die über die eigene Meinungsbildung Auskunft geben und darüber hinaus auch als Kompensatoren fungieren, die Meinungen absorbieren, um sie in der Folge des Forschungsprozesses neu und differenziert zu überdenken. Die Memos, die im Rahmen dieser Studie angefertigt wurden, deuten zum einen auf eine politisch-ethische Perspektive hin, die die Menschenwürde und globale Gerechtigkeit als argumentative Ausgangspunkte versteht. Dies bedeutet im Kontext von Fluchtmigration, dass Geflüchtete nicht als abstrahierte oder funktionale Bestandteile eines Migrationsphänomens sondern als Menschen betrachtet werden. Eine Asylpolitik, die bestimmte Menschen als Ungleiche gegenüber einer ansässigen Bevölkerung behandelt, gilt es demnach kritisch in den Blick zu nehmen. Zum andern werfen die Memos kritische Fragen auf, die aus der Beobachtung migrations- und fluchtspezifischer Mediendiskurse resultieren. Wie ist es möglich, dass die deutsche Asylpolitik über Jahrzehnte hinweg vielen Menschen die soziale, politische und kulturelle Teilhabe in Deutschland verwehren kann? Wie ist Folgendes möglich: Europäische Staaten können zwar Flüchtlingsschutz gewähren, doch um in ein Asylverfahren zu gelangen muss auf europäischem Boden Asyl beantragt werden. Die Grenzen Europas werden aber geschützt. Menschen ohne Visum dürfen nicht nach Europa 8

Vgl. Winter, Rainer: Reflexivität, Interpretation und Ethnografie: Zur kritischen Methodologie von Cultural Studies, in: Hepp, Andreas/Winter, Rainer: Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, 4. Aufl., Wiesbaden 2008a, S. 81.

9

Vgl. Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981 [1969]. Mehr dazu in Kapitel 4.2.2 S. 37 und Kapitel 7.2.3, S. 81.

10 Scannell, Paddy: Medien und Kommunikation, Wiesbaden 2011, S. 91.

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reisen. Grenzübergänge können Geflüchtete also nicht passieren. Die Folge ist, dass Geflüchtete andere Wege suchen. Sie sind zur illegalen Einreise gezwungen, werden also ganz bewusst illegalisiert. Zudem sind diese alternativen Wege lebensgefährlich. Zehntausende Menschen sind bei dem Versuch, Europa zu erreichen, um einen Asylantrag zu stellen, gestorben. Wie kann das sein? Welche Wirklichkeitskonstruktionen sorgen dafür, dass der Tod Geflüchteter keine politischen Konsequenzen nach sich zieht? Warum muss diese Europäische Union den Friedensnobelpreis nicht zurückgeben? Diese drängenden Fragen sind bedeutsam für die Polittalk-Analysen, da gerade in diesen Sendungen Antworten zu erwarten sind. Christian Schicha bescheinigt Polittalks zwar fehlende Hintergrund- und Detailinformationen sowie die Vernachlässigung von Kontexten und argumentativer Logik, gleichwohl seien sie von großer Relevanz. Durch ihre breite Rezeption wirken sie als »Faktor und Motor in aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurse[n]«.11 Sie bedingen daher auch Identitätspolitiken wie Edith Pichler und Oliver Schmidtke schreiben: »In ihm [dem Medium, Anm. d.V.] verdichten sich relativ stabile Muster kollektiver Identität, normativ aufgeladene Bilder des Anderen. Diese wirken im öffentlichen Diskurs wie ein Prisma, durch das hindurch die soziale Realität wahrgenommen und bewertet wird. […] Die öffentliche Wahrnehmung wird von ihnen [den Migranten, Anm. d.V.] nicht zufällig als Macht wahrgenommen, die man bekämpfen oder umzudeuten trachten kann, aber nicht zu ignorieren imstande ist.«12

Wenn also Identitätskonflikte auf der imaginären Trennung von konstruierten Zugehörigkeiten beruhen, muss es ein Ziel sein, diese Zugehörigkeiten zu dekonstruieren und zu zeigen, wo Überschneidungen liegen statt Grenzen. »Wenn [...] in der deutschen Integrationsdebatte von ›Wir‹ die Rede ist, dann […] zumeist nicht in verbindendem, sondern in trennendem Sinne.«13 Inwiefern also sind Polittalks Teil dieses trennenden und konfliktverschärfenden Mediendiskurses? Oder bieten Polittalks auch eine Plattform für widerständige Aussagen, die Geflüchtete positiv attribuieren oder die gar essentialistischen Kulturalisierungen widersprechen? 11 Schicha, Christian: Die Inszenierung politischer Diskurse. Beobachtungen zu Politikerauftritten in Fernsehtalkshows, in: Tenscher, Jens/Schicha, Christian (Hg.): Talk auf allen Kanälen. Angebote, Akteure und Nutzer von Fernsehgesprächssendungen, Wiesbaden 2002, S. 213-232. 12 Pichler, Edith/Schmidtke, Oliver: Migranten im Spiegel des deutschen Mediendiskurses: »Bereicherung« oder »Belastung«? In: Eder, Klaus/Rauer, Valentin/Schmidtke, Oliver: Die Einhegung des Anderen. Türkische, polnische und russlanddeutsche Einwanderer in Deutschland, Wiesbaden 2004, S. 74. 13 Terkessidis, Mark: Interkultur, Bonn 2010, S. 49.

W ISSENSCHAFTSVERSTÄNDNIS UND

FACHSPEZIFISCHE

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Diese Fragen betreffen ein Kernthema ethnologischer Forschung. Die ethnologischen Disziplinen selbst sind in der Erforschung alltagskultureller Praxen teilweise noch bis in die 1990er Jahre von einem essentialistischen Kulturbegriff ausgegangen. Soziale Gruppen wurden entlang kultureller, ethnischer oder gar nationaler Identitätskonstruktionen analysiert und bezeichnet. Insofern hatten diese Fächer Mitschuld an der Reproduktion kulturalisierter Zugehörigkeitskonzeptionen. Erst seit den 1970er Jahren findet eine Rekonzeptualisierung des Kulturbegriffs statt – teils bis zur radikalen Ablehnung der Verwendung des Begriffs. Kultur wird in der gegenwärtigen Kulturanthropologie vor allem als Feld der Aushandlung divergierender Positionen verstanden, wodurch Kultur zwei zentrale Charakteristika zugeschrieben werden. Kultur ist prozesshaft und ambivalent.14 Dies zeigt eine Unvereinbarkeit mit unhintergehbaren Grenzziehungsprozessen und essentialistisch verstandenen Zugehörigkeitskonzeptionen. Diese relativ junge ethnologische Forschungsperspektive fokussiert gerade diese Disparität von alltagskulturellen Praxen, die einerseits von ethnischen, nationalen und kulturellen Identitätskonstruktionen gekennzeichnet sind,15 gleichwohl aber hybride und transkulturelle Identitäten beinhalten.16 Insofern betrifft die vorliegende Polittalk-Analyse genau dieses Spannungsverhältnis alltagskultureller diskursiver Praxen, die Identitäten medial aushandeln. Etwa zwei Jahrzehnte, bevor erste Ansätze ethnologischer Disziplinen zur Überwindung eines allzu starren Kulturbegriffs vorgenommen wurden, begann in Großbritannien mit den Cultural Studies ein ähnlicher Prozess, wenngleich die Vertreter_innen dieser Forschungsrichtung keine disziplinäre Vorgeschichte hatten. Stattdessen wurden interdisziplinäre Studien veröffentlicht, die den Kulturbegriff dekonstruierten und zur Erforschung von Populärkultur nutzbar machten. Dahinter stand eine Kritik an einer distinguierten Hochkulturforschung, die Alltagspraxen und Alltagsgegenstände für nicht erforschenswert hielt. Besonders in Medienanalysen etablierten die Vertreter_innen der Cultural Studies eine antiessentialistische Perspektive

14 Vgl. Goebel, Simon: »Der Deutsche ist pünktlich und trinkt Bier.« Über eine ethnologische Intervention in den Kulturbegriff in der Lehre Sozialer Arbeit, in: Treiber, Magnus/Grießmeier, Nicolas/Heider, Christian (Hg.): Ethnologie und Soziale Arbeit. Fremde Disziplinen, gemeinsame Fragen? Opladen/Berlin/Toronto 2015. 15 Vgl. Huntington, Samuel P.: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1998; Sarrazin, Thilo: Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010. 16 Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2007; Said, Edward W.: Orientalismus, Frankfurt a.M. 2009 [1978]; Ha, Kien Nghi: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005; Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität (Ausgewählte Schriften 2), Hamburg 1994; Hess/Moser 2009.

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auf Kultur, die u.a. auf antirassistischen Prämissen aufbaute. Insofern standen auch hier migrationsspezifische Themen im Zentrum. Bislang existieren nur wenige (neuere) Forschungsarbeiten, die explizit Polittalks untersuchen.17 Diese sind allesamt medienwissenschaftlich ausgerichtet. Verbreiteter sind Arbeiten, die sich mit dem Wechselverhältnis von Politik und Unterhaltung auseinandersetzen oder ihren Fokus allgemein auf Talkshows jedweder Art legen.18 Die bestehenden Arbeiten zu Polittalks beziehen sich zudem häufig auf Sendungen, die mit Wahlen in Zusammenhang stehen.19 Dennoch kommen Polittalks laut Tanjev Schultz bedeutende Funktionen für eine liberale Demokratie zu. Dazu zähle die Darstellung basaler politischer Informationen, die Vorführung der zur Wahl stehenden politischen Akteure und politischer Alternativen. Die Unterhaltung, die durch gekonnte Selbstinszenierung der Akteure erfolgt, sowie die Austragung von Konflikten könnten gesellschaftlich relevante Themen auf die Agenda setzen und Debatten aufgreifen und fortführen.20 Weil Unterhaltung ein bedeutender Bestandteil aller Polittalks ist und dieses Fernsehformat damit der Populärkultur zugerechnet werden muss, begründet sich ein ethnologisches Interesse sowie ein Interesse aus Sicht der Cultural Studies. In der Annahme, dass jene, die Macht über Diskurse auch Macht über die (Re-)Produktion von Wirklichkeiten haben, müssen Polittalk-Sendungen zudem hinsichtlich ihrer machtvollen Aussagen analysiert werden, um zu sehen welche Wirklichkeiten den Flüchtlingsdiskurs dominieren.21 Auch vor diesem Hintergrund scheint ein Cultural-Studies-Ansatz zweckmäßig, bei dem es dezidiert um Machtverhältnisse in kulturellen Aushandlungsprozessen geht. Die Ergebnisse, die diese qualitative Untersuchung erzielt, sind selbst in einem Diskurs befindlich, somit nur in einem bestimmten Kontext zu verstehen und sie stellen nur eine Wahrheit über die Wirklichkeitskonstruktionen von Flucht dar. Sie sind ein kleiner Ausschnitt eines weit verzweigten und komplexen Diskursgeflechts. 17 Vgl. Tenscher, Jens: Talkshowisierung als Element moderner Politikvermittlung, in: Tenscher, Jens/Schicha, Christian (Hg.): Talk auf allen Kanälen. Angebote, Akteure und Nutzer von Fernsehgesprächssendungen, Wiesbaden 2002, S. 55-72; Schultz, Tanjev: Geschwätz oder Diskurs? Die Rationalität politischer Talkshows im Fernsehen, Köln 2006; Schmidt, Christian: Die Qualität politischer Talkshows. Unterhaltung versus Information, Saarbrücken 2007; Fahr, Annette: Politische Talkshows aus Zuschauersicht. Informiertheit und Unterhaltung im Kontext der Politikvermittlung, München 2009. 18 Vgl. Bußkamp 2002; Tenscher 2002; Thomas, Tanja: Deutsch-Stunden. Zur Konstruktion nationaler Identität im Fernsehtalk, Frankfurt a.M. 2003; Saxer, Ulrich: Politik als Unterhaltung. Zum Wandel politischer Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft, Konstanz 2007; Keller, Harald: Die Geschichte der Talkshow in Deutschland, Frankfurt a.M. 2009. 19 Vgl. Schultz 2006, S. 30. 20 Vgl. ebd., S. 124f. 21 Vgl. Jäger/Jäger 2007, S. 23f.

3. Aufbau der Arbeit

Europäische Ethnologie und Cultural Studies bilden die disziplinäre Grundlage dieser Arbeit. Ihre Ansätze, Perspektiven und relevanten Konzepte werden in Kapitel 4 näher ausgeführt und zum theoretischen Ausgangspunkt verdichtet. Dabei geht es um eine ausführlichere Begründung eines antiessentialistischen Kulturbegriffs, sowie um die Vorzüge eines Cultural-Studies-Ansatzes für eine Polittalk-Analyse im Kontext von Fluchtmigration. Insbesondere die bereits angesprochene Dimension der Machtverhältnisse zwischen Signifikanten und Signifikaten wird in den Cultural Studies in sinnvoller Weise analytisch nutzbar gemacht. Ergänzend werden die Postcolonial Studies einbezogen, die in Anlehnung an die Cultural Studies speziell jene Diskurse fokussieren, die in einer neokolonialen Kontinuitätslinie bis heute Machtasymmetrien reproduzieren. Da viele Geflüchtete aus Regionen kommen, die von europäischen Staaten kolonisiert waren, kann der Einbezug dieser Perspektive nützlich sein. Kapitel 5 diskutiert den Forschungsstand der Migrations- und Flüchtlingsforschung. Kulturanthropologische Flüchtlingsforschung ist im deutschsprachigen Raum bislang äußerst rar. Umso größer ist das Repertoire an Forschungen zu Migration und »Integration« insbesondere bezüglich eines als »islamisch« imaginierten Teils der Bevölkerung. Diese und andere Kategorisierungen von Menschen werden in diesem Kapitel hinterfragt. Für die Analyse der Polittalks wird der Bezug zu migrationsspezifischen Kategorienbildungen besonders relevant sein, da Kategorisierungen in den Sendungen vielfach vorgenommen werden. Ein historischer Abriss über die maßgeblichen Einwanderungsphasen nach Deutschland seit 1945 soll die Diskurse in den Polittalks zusätzlich historisch kontextualisieren. Mit einer Fokussierung auf das Format »Polittalk-Sendung« wird in Kapitel 6 auf Spezifika eingegangen, die für die Analyse relevant sein könnten und die die Forschungsperspektive begründen. Kenntnisse über die funktionalen Bestandteile in Polittalks, also wie sich Gäste, Redaktion, Technik usw. (zueinander) verhalten, dienen der Interpretation und Analyse. Die Forschungsperspektive erhält in diesem Kapitel

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nochmals ihre Legitimation, indem dargelegt wird, warum Polittalks in der vorliegenden Arbeit als Unterhaltungssendung verstanden werden, worauf wiederum der Zugang über Europäische Ethnologie und Cultural Studies basiert. Nachdem in Kapitel 7 ein geeignetes Analyseinstrumentarium aus methodologischen Ansätzen der Cultural Studies sowie der Kritischen Diskursanalyse und Medienanalyse geschaffen wurde, schließen sich die Polittalk-Analysen an. Die Kapitel des Analyse-Teils fassen die analysierten Aussagen und Aussagensysteme thematisch zusammen. Die Leitidee dieser Arbeit ist es, neben Kontextualisierungen aus den Polittalk-Sendungen selbst, die Äußerungen und Aussagen mit wissenschaftlicher Literatur zu kontextualisieren. Daraus sind die Kapitel 8-13 hervorgegangen, die sich thematisch wiederum in diverse Unterkapitel ausdifferenzieren.

Teil II. Theorie und Methode

4. Europäische Ethnologie und Cultural Studies

4.1 E XPLIKATIONEN

DES

K ULTURBEGRIFFS

4.1.1 Konstruktivismus und Antiessentialismus Die Entstehungsgeschichte eines essentialistischen Kulturverständnisses, wie es spätestens seit dem 20. Jahrhundert vorherrschend ist, ist im deutschsprachigen Raum eng verbunden mit der Entstehung der wissenschaftlichen Disziplinen Volkskunde und Völkerkunde. Auf dem Nährboden eines Denkens, das Abgrenzungskategorien konstituierte, war auch die Erfassung der Alltagskultur eines »Volkes« und die Beschreibung typischer Eigenschaften angeblich kulturell homogener Gruppen sinnhaft.1 Kategorienbildung ist Teil des modernen Wissenschaftsverständnisses, welche in der Volks- und Völkerkunde besonders identitätsrelevante Ausformungen zeitigte. Erst seit den 1970er Jahren fand im Zuge einer selbstkritischen Reflexion eine Infragestellung der eigenen Forschungsleitlinien statt.2 Die Fächer erlebten eine Phase der Umbenennungen, da sich die Einsicht durchsetzte, dass ein »Volk« keine Kategorie ist, von der man sich Kunde verschaffen kann. Ein »Volk« ist demnach eine identitätsstiftende Konstruktion, jedoch kein der Wirklichkeit entsprechendes Objekt. Nicht zuletzt war »Volk« in Misskredit geraten, weil die Nationalsozialisten den Begriff als Kerngedanke ihres rassistischen Konzepts einer organischen deutschen Bevölkerung verwandten. Doch auch neue Fachbezeichnungen sind nicht zufriedenstellend. So behauptet der Begriff »Ethnologie« die Existenz von »Ethnien«, deren spezifische Eigenschaften erforschbar seien. Die darin immanente biologistische Perspektive ist kaum von der »Volkskunde« zu unterscheiden. Auch »Kulturanthropo-

1

Vgl. Gerndt, Helge: Kulturwissenschaft im Zeitalter der Globalisierung. Volkskundliche Markierungen, Münster/New York/München/Berlin 2002, S. 192.

2

Vgl. Kramer, Dieter: »Wem nützt Volkskunde?« In: Zeitschrift für Volkskunde, 66, 1970.

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logie« oder »Empirische Kulturwissenschaft« sind Alternativbegriffe für »Volkskunde« an manchen Universitäten und werden teils kritisch beurteilt.3 Demnach suggeriert »Kultur« im Sinne des beschriebenen alltäglichen Kulturverständnisses eben jene identitäre Einheit von Personen, die es in Wirklichkeit niemals geben kann, da sich Menschen niemals auf ein Identitätskriterium allein beziehen. Aye Ça lar wandte sich Anfang der 1990er Jahre entsprechend vehement gegen den Kulturbegriff und seine verbreitete Verwendung auch in ethnologischen Disziplinen. Das Konzept von Kultur als abgrenzbare Einheit sei alles andere als überholt: »It might be objected that that kind of simplistic view of culture no longer exists, I think, on the contrary, it is more common than usually thought […].«4 Stattdessen versteht Ça lar Kulturen als Gebilde, die sich durch synkretistische, sich zufällig verändernde Elemente auszeichnen, die temporär und räumlich divergent und fragil sind.5 Die Auseinandersetzung mit Kultur hat über eine »sehr kritische[…] Haltung vieler Ethnologen ihrem eigenen Fach gegenüber«6 hinaus zu einer Selbstreflexivität in ethnologischen Disziplinen geführt, die auch über die Fachgrenzen hinaus zu konstruktiven erkenntnistheoretischen Konzepten beigetragen hat.7 Einige versuchen sich vom Kulturbegriff zu distanzieren.8 Viele sehen inzwischen von Begriffen wie »Einwanderer« oder »Ausländer« ab, um keine eindimensionalen Identitätskonstruktionen zu reproduzieren, um Personen also nicht auf eine Identität festzulegen. Stattdessen sind translokale Verflechtungen, in die Migrant_innen eingebunden sind, stärker im Blick der Forschung. Eine vermeintliche »kulturelle Herkunft« wird so relativiert.9 Brigitta Schmidt-Lauber plädiert nicht dafür, den Kulturbegriff abzuschaffen, sondern Kultur als »offene[n], instabile[n] Prozess der Aushandlung von Bedeutungen und Grenzen zu verstehen«.10

3

Gerndt 2002, S. 193.

4

Ça lar, Ay e: The Prison House of Culture in the Studies of Turks in Germany. Sozialanthropologische Arbeitspapiere, Band 31, Berlin 1990, S. 6; vgl. Schmidt-Lauber, Brigitta: Zum Kulturbegriff in der ethnologischen Migrationsforschung, in: Johler, Reinhard/Marchetti, Christian/Tschofen, Bernhard/Weith, Carmen (Hg.): Kultur_Kultur. Denken. Forschen. Darstellen. 38. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Tübingen vom 21. bis 24. September 2011, Münster/New York/München/Berlin 2013, S. 179.

5

Ça lar 1990, S. 9, 19; vgl. Goebel 2015, S. 141.

6

Hahn, Hans Peter: Ethnologie. Eine Einführung, Berlin 2013, S. 17.

7

Schmidt-Lauber 2013, S. 180.

8

Vgl. Abu-Lughod, Lila: Writing Against Culture, in: Fox, Richard G. (Hg.): Recapturing Anthropology. Working in the Present, Santa Fe 1991, S. 137-162.

9

Schmidt-Lauber 2013, S. 182.

10 Ebd., S. 184.

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Wenn es um Migration geht, ist die Diskussion um den Kulturbegriff besonders relevant, da es bei Migrationsdiskursen meist um die Beschreibung etwas vermeintlich Fremden innerhalb etwas vermeintlich Eigenen geht. Bei fehlender Akzeptanz des Nicht-»Eigenen« wird das »Andere« als dem Außen zugehörig definiert. Handelt es sich bei dem Zugehörigkeitskriterium um die Nationalität, wird dieses Verhältnis besonders brisant, da die politische Organisationsform und damit gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Verantwortung nun einmal nationalstaatlich funktionieren. Aus Abgrenzung folgt so relativ leicht Ausgrenzung. Es ist zu erwarten, dass Identitätskonstruktionen, wie sie in der bereits zitierten Rede von Anne Will ersichtlich sind,11 die Diskussionen in den Polittalks begleiten werden. So scheint es bedeutsam zu sein, ein spezifisches Kulturverständnis als Maßstab zur Analyse anderer Kulturverständnisse heranzuziehen. In dieser Arbeit wird ein nicht-essentialistisches Kulturverständnis angewendet, welches Kultur zwar als Grundlage begreift, auf welcher Menschen ihre alltäglichen Ausdrucksformen suchen, finden, verwerfen und reproduzieren, das jedoch gerade dadurch als prozesshaft, dynamisch und ambivalent zu verstehen ist. Kultur ist ein Konstrukt, das permanent als Lieferant divergierender Vorstellungen dient, ebenso wie es permanent gestaltet und transformiert wird.12 4.1.2 Cultural Turns und kulturwissenschaftliche Theoriebildung Bilder sind allgegenwärtige Begleiter menschlichen Lebens. Soziale Wirklichkeit und kulturelle Ordnungen konstituieren sich u.a. in Bildern, weshalb die Erforschung dieser Wirklichkeiten und Ordnungen die Symbole und Zeichen, die in Bildern und Medien transportiert werden, nicht ignorieren kann.13 Im Zuge der Mediatisierung von Gesellschaften, die sich über Jahrtausende entwickelte, doch erst im 20. Jahrhundert massiv erfolgte, fokussierten auch die Geistes- und Kulturwissenschaften verstärkt das Bild als Träger kultureller Prozesse und Dynamiken. Begrifflich hat sich hierbei das Schlagwort iconic turn durchgesetzt – in Anlehnung an verschiedenste cultural turns in den Geistes- und Sozialwissenschaften.14 Cultural turns beschreiben kulturwissenschaftliche Orientierungen. Der cultural turn als solcher ist der theore-

11 Vgl. Kapitel 1, S. 26. 12 Vgl. Goebel 2015. 13 Vgl. Soeffner, Hans-Georg/Raab, Jürgen: Bildverstehen als Kulturverstehen in medialisierten Gesellschaften, in: Assmann, Aleida/Gaier, Ulrich/Trommsdorff, Gisela: Positionen der Kulturanthropologie, Frankfurt a.M. 2004, S. 249. 14 Vgl. Soeffer/Raab 2004, S. 252f; ausführlich zu den cultural turns: Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 3. Aufl., Hamburg 2009.

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tische Prozess mit dem die Geisteswissenschaften semantisch von den Kulturwissenschaften abgelöst wurden. Demnach wird Kultur nun als zentrales Feld gesellschaftlicher Interaktionsprozesse verstanden.15 »Die Basis der kulturwissenschaftlichen Theorien«, so Sabina Becker, sei »eine enge Beziehung zwischen literarischem Text und sozialem Kontext«.16 Dieses »Postulat« – wie Becker es nennt – bezieht sie auf Literatur,17 wobei aus ethnologischer Perspektive eine Erweiterung auf alle bedeutungstragenden Dinge stattfinden muss. Somit können Alltagspraxen oder mediale Inhalte nicht ohne ihren normativen und sozialen Kontext analysiert werden. Dabei bestimmen Diskurse, »welche Gegenstände zu welcher Zeit in welcher Weise wahrgenommen werden und wie über sie gedacht und gesprochen wird«.18 Diskurse formen Wissensbestände in einer Kultur. Die konservative Vorstellung wonach die Wissen vermittelnde Kultur die Hochkultur sei, wird aus volkskundlicher Sicht wie auch aus Sicht der Cultural Studies revidiert.19 Die Disziplinen erforschen Bilder, Objekte, Texte und Kontexte als Bedeutungsträger, die Wissen vermitteln und in einem kulturellen Bezugsrahmen verschiedene, auch ambivalente, Bedeutungsstrukturen schaffen. 4.1.3 Wissen in der Populärkultur Populärkultur bzw. Popularisierung ist folglich ein zentraler Gegenstand der Kulturwissenschaft, da »sie in einem dynamischen Prozess Wissen, Weltdeutungen und Vergemeinschaftung durch Wissen befördert«.20 Der Begriff des Populären Wissens geht auf den Unterschied zwischen »dem unwissenden Volk«21 und der Wissenschaft zurück. In der »Wissenskultur« einer Gesellschaft bestand (und besteht) demnach ein »Riss«, der beispielsweise von Theologen in Predigten zu umgehen versucht wurde, indem abstrakte theologische Konzepte verständlich und praxisorientiert vermittelt wurden. Auch Informationssendungen im Fernsehen hegen den Anspruch, komplexe Themen verständlich zu vermitteln. Diese Umgehung ist der Popularisierungspro-

15 Vgl. Hepp, Andreas: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, 3. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 103; Eggmann 2009, S. 37f. 16 Becker, Sabina: Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien, Hamburg 2007, S. 64. 17 Vgl. ebd., S. 64f. 18 Ebd., S. 149. 19 Vgl. Soeffner/Raab 2004, S. 256. 20 Kretschmann, Carsten: Wissenspopularisierung. Verfahren und Beschreibungsmodelle – ein Aufriss, in: Boden, Petra/Müller, Dorit (Hg.): Populäres Wissen im medialen Wandel seit 1850, Berlin 2009, S. 33. 21 Ebd., S. 18.

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zess, in dem »die höhere, abstrakte Erkenntnisart der Wissenschaften mit der niederen, sinnlich-konkreten Erfahrungswelt des Volkes«22 vereinigt werden soll. Diese Popularisierungstheorie geht auf Johann Christoph Greiling zurück, der diese im Jahr 1805 veröffentlichte.23 Mit dem Entstehen des Bürgertums im 19. Jahrhundert entwickelten sich Bildung und Leistung zu Leitideen der Rolle oder Funktionalität des »verständigen« Menschen. Die Popularisierung von Wissen wurde zum Maßstab gesellschaftlicher Teilhabe, was jedoch zwangsläufig zu einer Abgrenzung zwischen »Volk« und »Pöbel« führte bzw. zu einer Unterscheidung zwischen »guter« und »schlechter« Popularisierung. Carsten Kretschmann zeigt, dass diese Dichotomie ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund des sozialen und medialen Wandels (»Verwestlichung«, »Massenmedien«) relativiert wurde. Der »Pöbel« wurde zur »Masse« – die Populärkultur wurde zur repräsentativen Kultur. Gesellschaftliche Identifikation erfolge inzwischen vornehmlich über die Populärkultur, weniger über die Nation oder ökonomischen Erfolg.24 Kretschmann betont, »dass der Rezipient innerhalb des Popularisierungsprozesses immer schon emanzipierter war, als es die kulturpessimistische Kritik an der Massenkommunikation vermuten lässt«.25 Dass es hierbei um eine asymmetrische Beziehung zwischen »Ungebildeten« und »Gebildeten« geht, ist bis heute Bestandteil in der Kommunikationstheorie. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Wissensvermittlung immer hierarchisch von »oben« nach »unten« verläuft – ganz im Sinne aufklärerischer Bestrebungen, das »einfache Volk« zu emanzipieren.26 Nach Kretschmann ist dieser Popularisierungsprozess »abhängig von den Möglichkeiten und Grenzen der jeweils benutzten Medien«.27 Diese Medien bezeichnet er auch als »Zwischenbereich«, in dem die reine Wissenschaftlichkeit nicht mehr gegeben und die alltägliche Lebenswelt noch nicht erreicht ist.28 Erst Ende der 1970er Jahre, so Kretschmann, haben Erklärungsmodelle der Wissenssoziologie eine »interaktionistische Sicht […]« entwickelt, »in der Wissenschaftler, Popularisatoren und Öffentlichkeit als Akteure einer wechselseitigen Kommunikation zwischen Produzenten und Rezipienten erscheinen«29 – und zwar ohne hierarchische Gewichtung. Wurde Popularisierung von Wissen vor dieser Zeit vornehmlich als Aufklärung begriffen, die sich gegen Aberglaube und Irrtümer richtete, so betonen neuere For-

22 Ebd. 23 Vgl. ebd., S. 17. 24 Vgl. ebd., S. 31-33. 25 Ebd., S. 28. 26 Vgl. ebd., S. 18. 27 Ebd., S. 19. 28 Vgl. ebd. 29 Ebd., S. 21.

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schungsbeiträge die Dialektik zwischen wissenschaftlichem Wissen und nicht-wissenschaftlichem Wissen.30 Diese Dialektik beschreibt keine schlichte Vereinfachung: »Sie [die Popularisierung, Anm. d.V.] verwandelt vielmehr Wissen, sie transformiert es und konstituiert es neu.«31 Dennoch: Die öffentlich-rechtlichen Sender sind gesetzlich dazu verpflichtet, eine gewisse Menge an »Informationssendungen« auszustrahlen, was eben jenem aufklärerischen Gedanken entspricht. Die Dialektik von wissenschaftlichem Wissen und populärem Wissen lässt sich an zwei Beispielen verdeutlichen. (1) Die häufig vernehmbare Rede von der Universität als »Elfenbeinturm« kritisiert, dass die Sprache der Wissenschaft für Menschen außerhalb des akademischen Bereichs unverständlich sei. Damit grenzt sich Wissenschaft nicht nur ab, vielmehr verweigert sie dadurch einem Großteil der Bevölkerung den Zugang zu wissenschaftlichem Wissen. Dass diese Rede als Kritik formuliert ist, zeigt gerade das Interesse an einer popularisierten Wissenschaft, die es möglichst vielen Menschen ermöglicht, wissenschaftliche Informationen zu erhalten und zu verstehen, die also wissenschaftliches Wissen transformiert. (2) Umgekehrt besteht die Dialektik in der wissenschaftlichen Forschung über populäres Wissen. Insbesondere die Geistes- und Kulturwissenschaften mit ihren ethnographischen Methoden ermitteln populäres Wissen, transformieren es wiederum in wissenschaftliche Kontexte, um die Diskurse und Ambivalenzen in der Alltagswelt verstehbar zu machen. Polittalks sind ein prädestiniertes Beispiel für die praktische Vermengung von wissenschaftlichem Wissen und populärem Wissen, wodurch die Kommunikationen darin weder als das eine noch als das andere abgegrenzt werden können. So handelt es sich in Polittalks keinesfalls um den Austausch rein wissenschaftlichen Wissens – in den analysierten Sendungen ist kein_e Wissenschaftlicher_in anwesend – es handelt sich jedoch auch nicht allein um populäres Wissen, da die Gäste teilweise auf wissenschaftliches Wissen zurückgreifen, beispielsweise indem sie Studien zitieren. Demnach befinden sich Polittalks in eben jenem von Kretschmann beschriebenen »Zwischenbereich«; sie sind Teil eines Popularisierungsprozesses. 4.1.4 Abgrenzung der Populärkultur zur Alltagskultur »Alltag besteht in der routinierten, pragmatischen Bewegung in einer gewohnten, als unhinterfragte Normalität bewohnten Welt.«32 Gewöhnlichkeit setzt voraus, dass Subjekte ihre alltäglichen Handlungen an dem als »normal« vorgefassten Bedeutungsrahmen und damit an einem normativ aufgeladenen Kontext ausrichten. Es bedarf einer Reproduzierbarkeit und einer Reproduktion alltagskultureller Handlungen, 30 Vgl. ebd., S. 23f. 31 Ebd., S. 25. 32 Weiß, Ralph: Alltagskultur, in: Hügel, Hans-Otto: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien, Diskussionen, Stuttgart 2003, S. 23.

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um sie als solche definieren zu können. Diese Verortung im »Normalen« macht sie zu »unsichtbaren« Handlungen, die nicht auffallen und damit nichts Besonderes sind. Damit »ducken« sie sich vor der Aufmerksamkeit wissenschaftlicher, politischer oder öffentlicher Beobachtung weg. Die Auseinandersetzung um das richtige Zusammenleben im Sinne einer sich ständig transformierenden Kultur und »um die Bedeutung von Handlungsweisen und Deutungsmustern verschränkt kulturelle Einstellung und alltagspraktische Orientierungen miteinander«.33 »Populäre Kultur ist zwar ein Moment der Alltagskultur. Aber populäre Kultur kann – als ›besonderes Erlebnis‹ inszeniert und wahrgenommen – auch als Wirklichkeitsbereich erfahren werden, der den ›Alltag‹ transzendiert. Die Begriffe bezeichnen miteinander verbundene, aber gleichwohl unterschiedliche Daseins-, Funktions- und Aneignungsweisen von ›Kultur‹.«34

Demnach sind Polittalk-Sendungen eher der Populärkultur zuzuordnen, da sie als mediales Produkt versuchen Aufmerksamkeit zu erheischen – die Produzent_innen versuchen etwas Besonderes zu inszenieren und eben nichts »Normales«. Polittalks als popkulturelle Erscheinungsform resümieren und diskutieren den Alltag, der von politischen und gesetzlichen Neuerungen, besorgniserregenden oder sensationellen Ereignissen unterbrochen wird. Gleichwohl sind Polittalks auch von Gewöhnlichem durchzogen. Zur Bindung von Zuschauer_innen werden standardisierte Elemente – visuell (Studiodesign), auditiv (Jingles) und narrativ (Begrüßung) – zur Wiedererkennung bzw. als Identifikationsmittel verwendet. Polittalks sind dann erfolgreich (hohe Einschaltquoten), wenn die Rezipient_innen sie als Konstante in ihren Alltag integrieren.

4.2 D ER C ULTURAL -S TUDIES -ANSATZ 4.2.1 Das Centre for Contemporary Cultural Studies – Von der Populärkultur zur Macht Der Beschäftigung mit Alltags- und Populärkultur haben sich neben den ethnologischen Wissenschaften die Cultural Studies verschrieben. Sie »machen das Normale und Alltägliche zum Gegenstand ihrer Forschung«.35 Auch die Cultural Studies begreifen Kultur »als Feld der Signifikation [...], auf dem gesellschaftliche Bedeutung ausgehandelt wird«.36 Demnach muss eine kulturwissenschaftliche Perspektive auch 33 Ebd., S. 24. 34 Ebd., S. 25. 35 Scannell 2011, S. 323. 36 Machart, Oliver: Cultural Studies, Konstanz 2008, S. 180.

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angewandt werden, wenn es um gesellschaftliche Prozesse geht, wie sie im Forschungsinteresse dieser Arbeit stehen – Migration, Flucht, Medien: »If we seek to investigate the place of mobility in social life we therefore cannot ignore the ways in which it has been represented culturally and the ways in which metaphors of travel and movement form an important part of the cultural tradition of modernism.«37

Renger zeigt, warum Cultural Studies insbesondere auch journalistische Erzeugnisse als Forschungsobjekte fokussieren: »Das Interesse einer Cultural Studies-orientierten Medienforschung zielt im Bereich Journalismus auf die Untersuchung der Signifikanz des Trivialen, der ›Bedeutung des Nicht-Bedeutenden‹ […] bzw. auf jene ›geringfügigen Botschaften‹ des Populären Journalismus, die unseren gesellschaftlichen und sozialen Alltag begleiten. Journalismus wird an der Schnittfläche zwischen einer allumfassenden Kultur-, Medien- und Bewusstseinsindustrie und dem Alltagsleben interpretiert und somit als Teil bzw. Objekt der Populärkultur definiert.«38

Polittalks als journalistische Events sind demnach Objekte der Populärkultur. Sie zu interpretieren heißt, ihre suggestiven, als »normal« erscheinenden Ausdrucksformen zu hinterfragen und im Kontext der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Flucht zu reflektieren. Dieses visuell Vorhandene, aber nicht zu Sehende, dieses auditiv wahrnehmbare, aber nicht zu Hörende, muss zudem im Hinblick auf Dominanz, Macht und Ideologie untersucht werden, um die bloßen Narrationen in ihrem kulturellen Kontext interpretieren zu können. Immer wieder wird darauf verwiesen, dass das Birmingham Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) ein übergreifender Bezugspunkt der inzwischen international etablierten Cultural Studies ist. Das CCCS scheint ein Identitätsmerkmal von Vertreter_innen der Cultural Studies zu sein, was möglicherweise auch an der prekären Situation lag, unter der sich das CCCS Zeit seines Bestehens befand und welches schließlich 2002 geschlossen werden musste.39 Gerade dieses Prekäre, verbunden mit einer linken Diskursposition – die Theoretiker_innen der Cultural Studies definieren sich als Teil der New Left, die in Großbritannien dem Thatcherismus eine akademische, antielitäre Perspektive entgegensetzen wollte – legt die Vermutung nahe, dass die Studien der Cultural Studies nicht zufällig herausgefunden haben, dass 37 Featherstone, Mike: Undoing Culture. Globalization, Postmodernism and Identity, London/Thousand Oaks/New Dehli 1995, S. 128. 38 Renger, Rudi: Populärer Journalismus, in: Hepp, Andreas/Winter, Rainer: Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, 4. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 274. 39 Vgl. Moebius, Stefan: Cultural Studies, in: Moebius, Stefan (Hg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung, Bielefeld 2012, S. 22.

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Rezipient_innen Medien auch widerständig interpretieren können. Vielmehr könnten sich die Vertreter_innen der Cultural Studies in ihren Arbeiten selbst beschrieben haben bzw. sich selbst den Wunsch erfüllt haben, Widerständigkeit auch in Alltagskontexten zu entdecken und zu honorieren. Daher werden Studien der Cultural Studies »dahingehend kritisiert, dass Erfahrungen und Praktiken im Feld zur Unterstützung der theoretischen und politischen Auffassung des Forschers funktionalisiert würden. Der Untersuchungsrahmen gäbe vor, was entdeckt und was übersehen werde.«40 Dieser Kritikpunkt wird von Vertreter_innen der Cultural Studies mit dem Verweis auf die ideologiekritische Selbstreflexion widerlegt. In Kapitel 7.3 wird methodologisch beschrieben, dass eine Cultural-Studies-Perspektive durchaus einen politischen Standpunkt vertritt, diesen jedoch transparent macht und reflektiert, so dass die Ergebnisse ein hohes Maß an Validität erhalten – höher als jene Studien, die behaupten, objektive Ergebnisse zu erzielen und dabei ihre diskursive Verortung vertuschen.41 Rolf Lindner stellt in Die Stunde der Cultural Studies den Versuch an, die Cultural Studies einer Kulturanalyse zu unterziehen. Er geht davon aus, dass, ebenso wie die Produktion anderer Kulturgegenstände durch das kulturelle System, auch die Popularität von Cultural Studies auf das kulturelle System zurückzuführen ist: »Paradigmenwechsel in den Kulturwissenschaften haben Verweisungscharakter; sie sind Ausdruck eines generellen kulturellen Umbruchs, zuweilen sogar dessen Vorbote.«42 Vor diesem Hintergrund also positioniert Lindner die Cultural Studies in die Zeit eines Generationenkonflikts, den er in die Mitte der 1950er Jahre in Großbritannien verortet, als die jungen Erwachsenen der Arbeiterklasse erstmals Zugang zu den altehrwürdigen Bildungsinstitutionen hatten und sich somit im Sinne eines marginal man zwischen zwei Kulturen befanden.43 Lindner belegt dies anhand zweier als Gründungstexte der Cultural Studies gehandelten (und abgelehnten44) Werke (The Uses of Literacy von Richard Hoggart [1957] und Culture and Society von Raymond Williams [1958]), in denen die Autoren Bildung im Sinne eines konservativen, elitären Bildungsbegriffs kritisieren. Lindner schlussfolgert, dass es den Cultural Studies insbesondere »um eine Politik der Anerkennung [geht], in einem Kontext, in dem Kultur zum Mittel symbolischer Gewalt wird«.45 Die Ideen der Cultural Studies waren demnach eng verbunden mit den persönlichen Erfahrungen ihrer Protagonisten. 40 Winter 2008a, S. 85. 41 Vgl. ebd.; Hall, Stuart: Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt (Ausgewählte Schriften 3), Hamburg 2000; Kramer, Jürgen: British Cultural Studies, München 1997, S. 111-113. 42 Lindner, Rolf: Die Stunde der Cultural Studies, Wien 2000, S. 18. 43 Vgl. ebd., S. 24-27. 44 Vgl. ebd., S. 34. 45 Ebd., S. 21f.

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»Augenscheinlich geht es Autoren wie Lesern [der Universities and Left Review, dem 1957 gegründeten Organ der New Left, Anm. d.V.] um Selbstvergewisserung.«46 Laut Lindner erfuhren die Protagonisten der Cultural Studies mit ihrem Einzug in die Akademien zwei Kulturen und positionierten sich zwangsläufig dazwischen, da sie sich nun weder zur Arbeiterklasse noch zur Elite zählen konnten oder wollten. Damit fand durch diese Akteure eine andere Art der Aneignung von Wissen statt. Insbesondere revidierten sie den vorherrschenden Begriff von Kultur, der ausgrenzenden Charakter hatte – im Sinne einer bedeutsamen, sinnhaften Hochkultur, deren Gegenpart die unbedeutende, sinnlose Massenkultur darstellt.47 Die sich hieraus entwickelnde Sichtweise zeigte in ihren Forschungsarbeiten, dass Klasse nicht allein ökonomisch bedingt ist, sondern sich darüber hinaus durch »Einstellungen, Haltungen und Ausdrucksformen«, durch die »Prinzipien der Lebensführung« auszeichnet.48 In der Konsequenz erforschten die Vertreter_innen der Cultural Studies Bestandteile der »Massenkultur«. Polittalks als massenmediale Erzeugnisse lassen sich demnach aus einer Cultural-Studies-Perspektive erforschen. Sie sind intentional unterhaltend und erreichen im Massenmedium Fernsehen hohe Einschaltquoten.49 Mit der Fokussierung auf die »Massenkultur« ging auch ihre Aufwertung einher. Dieser Aspekt ist die maßgebliche Verbindung der aus dem deutschsprachigen Raum hervorgegangenen Europäischen Ethnologie/Volkskunde und der aus dem britischen Kontext kommenden Cultural Studies. Lindner schreibt über die Cultural Studies: »Verblüffend sind aus heutiger Sicht die Übereinstimmungen mit Forschungsfeldern einer erneuerten Volkskunde […].« Dies mache der modernisierende Wandel auf der philologischen Ebene deutlich, »der sich auf der gesamtkulturellen Ebene als Übergang von der Hochkultur als Leitkultur zur Massenkultur bzw. besser: Popularkultur äußert«.50 Der bedingt trennende Aspekt zwischen Cultural Studies und Europäischer Ethnologie/Volkskunde liegt im implizit politischen Interesse. Die kritische Auseinandersetzung mit dem Gegenstandsbereich fand in der Volkskunde erst mit der kritischen Reflexion des eigenen Faches in den 1970er Jahren Überschneidungen mit den Cultural Studies, wobei auch diese Kritik lediglich einen Teil der Volkskunde betraf. Ein originäres Interesse der Cultural-Studies-Analysen ist dagegen die Erforschung

46 Ebd., S. 29. 47 Vgl. ebd., S. 30f. 48 Ebd. 49 Vgl. Michel, Sascha/Girnth, Heiko: Die Polit-Talkshow als Bühne – Was macht den Erfolg politischer Talkshows aus? In: Michel, Sascha/Girnth, Heiko (Hg.): Polit-Talkshows – Bühnen der Macht. Ein Blick hinter die Kulissen, Bonn 2009, S. 11. 50 Lindner, R. 2000, S. 40; vgl. Moebius 2012, S. 13; Storey, John: Cultural Theory and Popular Culture. An Introduction, 5. Aufl., London 2009, S. 5-12.

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impliziter Machtverhältnisse. Da in Diskussionen um Migration und Flucht erhebliche politische Interessen und ideologische Implikationen zu erwarten sind, ist die Analyse der Machtbeziehungen zwischen Talkgästen, vielmehr aber noch zwischen deren Diskurspositionen, ein relevanter Aspekt der Polittalk-Analysen. Im partiellen Gegensatz zur Volkskunde beschränken die Cultural Studies ihren Fokus vornehmlich auf gegenwärtige Phänomene, wie es Polittalks sind. Die Cultural Studies analysieren ihren Gegenstand »auf seine diskursiven, politischen und lebensweltlichen Implikationen und Kontexte hin«51. Im Zentrum stehen dabei nach Moritz Baßler insbesondere konfliktträchtige kulturelle Situationen »wie institutionalisierte Vorurteile, Ausgrenzung und Diskriminierung«.52 In Polittalks, die Flucht und/oder Migration thematisieren, sind diese Konfliktformen zu beobachten. Eine CulturalStudies-Analyse zielt auf die makropolitischen Implikationen mikropolitischer Praktiken ab, da die übergeordnete Dimension im Alltag meist unbewusst bleibt.53 Oliver Machart schreibt: »All die Cultural Studies-typischen Fragen nach Macht, Unterordnung und Widerstand, nach Hegemonie und Subalternität oder nach der diskursiven Produktion und Reproduktion sozialer Identitäten […] ergeben sich nahtlos aus diesem Grundinteresse an einer politischen Analyse von Kultur und einer das Kulturelle berücksichtigenden Analyse von Politik.«54

Mit diesem Grundgedanken versuchen die Cultural Studies Macht- und Inhaltsstrukturen freizulegen. Sie folgen dabei dem diskurstheoretischen Paradigma, welches Identitäten als Folge diskursiver Kommunikationen betrachtet.55 Gesellschaftspolitisch werden essentialistische und totalitätsorientierte Identitäts- und Kulturkonzeptionen zwar verhandelt, doch die Aufdeckung ihrer tieferen Bedeutung und ihrer normativen Determinanten wird erst durch kulturwissenschaftliche Analysearbeit möglich, wie sie die Cultural Studies vorschlagen. Die Fokussierung auf Macht als Produkt kultureller Aushandlungsprozesse wird von Hans-Georg Soeffner und Jürgen Raab kritisiert. Sie sehen die Analyse des Verhältnisses von Kultur und Medien in den Cultural Studies auf diesen einzigen Aspekt beschränkt. Damit, so konstatieren die Autoren skeptisch, würde die Vieldeutigkeit

51 Baßler, Moritz: New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies, in: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera: Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektive, Stuttgart 2008, S. 150. 52 Ebd. 53 Vgl. Machart 2008, S. 13. 54 Ebd., S. 25. 55 Vgl. ebd., S. 179.

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des Kulturbegriffs begrenzt.56 Der Hinweis scheint insofern sinnvoll, als dass die Bedeutungen des Begriffs »Kultur« sich eben nicht in Machtpolitik erschöpfen. Andererseits ist die Herausstellung der machtvollen Verstrickungen in Kultur gerade das neue und gewinnbringende, das mit den Cultural Studies in die Beobachtung der Alltagskultur Einzug gehalten hat. Das Verständnis hegemonialer Praktiken ist essentiell für eine Gesellschaftsanalyse, da Macht – wie Pierre Bourdieu schreibt – konstitutiv für das reziproke Verhältnis zwischen »der Realität« und den Denkweisen der Menschen ist: »Aus meiner Sicht existieren die sozialen Klassen und die hierarchische Unterordnung und Überordnung von Menschen immer in zweifacher Weise: Einmal in der Realität und einmal in den Köpfen der Menschen. Selbst wenn diese Klassen und Hierarchien einmal aufhören sollten, in Wirklichkeit zu existieren, dann würden sie dennoch wohl schnell wieder Wirklichkeit werden, weil die Menschen, in deren Köpfen sie weiter herumspuken, sie immer wieder in die Realität projezieren [sic!] würden.«57

Bourdieu vernachlässigt in dieser Aussage die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit verschiedener Realitäten, die sich widerstreiten und so zu Veränderungen dominanter Sichtweisen und hegemonialer Strukturen beitragen können. Diese Möglichkeit liegt in der Instabilität von Kultur begründet, in welcher diese widerstreitenden Wirklichkeiten um Macht ringen. Diese Möglichkeit der Widerständigkeit wird von Vertreter_innen der Cultural Studies häufig sehr zuversichtlich artikuliert. John Fiske beispielsweise vertritt die Auffassung, dass das Fernsehen eine enorme Vielfalt an medialen Veröffentlichungen produziert, um eine ebenso enorme Vielfalt an Bedürfnissen der Konsument_innen zu befriedigen und damit profitabel zu sein. Er meint, dass mediale Texte »offen« sein müssen und dadurch »polysem« sind, um all die subkulturellen Identitäten zu bedienen.58 Fiske folgert: »So wie sich Texte niemals gänzlich von den Herrschenden kontrollieren lassen, können auch Subjektivitäten niemals nur ausschließlich von der dominanten Ideologie produziert werden – ansonsten wäre sozialer Wandel unmöglich.«59 Fiske hat wohl Recht, dass ohne innovative Reproduktionen60 – und dazu gehört Widerständigkeit – sozialer Wandel unmöglich wäre.

56 Vgl. Soeffner/Raab 2004, S. 254f. 57 Bourdieu, Pierre: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992, S. 20. 58 Vgl. Fiske, John: Fernsehen: Polysemie und Popularität, in: Winter, Rainer/Mikos, Lothar (Hg.): Die Fabrikation des Populären. Der John Fiske-Reader, Bielefeld 2001, S. 86f. 59 Fiske 2001, S. 106. 60 Stefan Lüddemann erklärt »Kultur« u.a. damit, dass in der Wiederholung kultureller Muster immer auch innovatives Potential liegt. Vgl. Lüddemann, Stefan: Kultur. Eine Einführung, Wiesbaden 2010, S. 14.

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Doch diese Feststellung unterscheidet sich von Bourdieus Ansatz in der sozialen Dimension. Fiske erkennt vor allem kleinräumig manifestierte Widerständigkeiten gegenüber einer herrschenden Ideologie, während Bourdieu bezweifelt, dass sich ganze Gesellschaften aus der Dominanz einer herrschenden Ideologie befreien können. Polittalks sollten in diesem Kontext als soziale Räume verstanden werden, in denen Widerständigkeiten ihren Ausdruck finden können, was es zu untersuchen gilt. Die Diskurse über Flucht befinden sich gleichwohl in einem den Polittalks übergeordneten kulturellen Aushandlungsprozess, welcher die Diskussionen in den Polittalks maßgeblich beeinflusst. Insofern stellt sich die Frage, wie Kommunikation in Polittalks funktioniert. 4.2.2 Amüsierte Masse oder widerständige Subkulturen? Kommunikation aus Sicht der Cultural Studies »Wenn es um die Erreichbarkeit eines Massenpublikums geht, haben Polit-Talkshows unangefochtene Autorität.«61 Polittalks sind Bestandteil eines komplexen Beziehungsgeflechts zwischen Medien und Kultur. Einen Eindruck dieser komplexen Beziehungen bietet Bärbel Röben: »Medien sind in unserer Gesellschaft zentrale Orte für die Aushandlung von Bedeutungszuweisungen und für Wirklichkeitskonstruktionen, die wiederum zur Festigung bzw. zum Aufbrechen struktureller Ungleichheitslagen beitragen können. Diese medialen Wirklichkeitskonstruktionen sind immer kontextgebunden – historisch, sozial und kulturell. Sie sind strukturell abhängig von technischen, ökonomischen, sozialen Produktions- und Rezeptionsbedingungen und auf individueller Ebene von der Perspektive der KommunikatorInnen und des Publikums, deren Deutungsmuster wiederum mit ihrer jeweiligen kulturellen Positionierung korrelieren. In unserer Einwanderungsgesellschaft spielen Ethnie und Geschlecht in diesem Konstruktionsprozess eine bedeutende Rolle«62

Röben verweist einerseits auf die immensen Beeinflussungsmöglichkeiten von Medien, andererseits auf die Abhängigkeit der Beeinflussung von Rezeptionsbedingungen. Mediale Beeinflussung funktioniert demnach nie linear, sondern ist von den rezipierenden Subjekten abhängig, die dieselben Medieninhalte divergent interpretieren. Medien dienen zudem der Identitätsfindung oder -vergewisserung. Sie bilden eine Sozialisationsinstanz, die nicht nur neben anderen Sozialisationsinstanzen (Fa-

61 Michel/Girnth 2009, S. 11. 62 Röben 2008, S. 142f.

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milie, Peers, Schule, Beruf etc.) besteht, sondern gleichzeitig sämtlichen Sozialisationsinstanzen immanent ist, da diese wiederum von Medien geprägt werden.63 Medien befinden sich in einem komplexen Netz64 gesellschaftlicher Prozesse, die sozialisieren. Es ist eine basale Erkenntnis, dass Medien als Teil kultureller Übermittlungsprozesse zu subjektiven Wahrnehmungen, Vorstellungen, Bedeutungskonzeptionen und Sinngehalten beitragen und damit Teil der Wirklichkeit sind: »The old understanding of the media – that it represents or comments on the world and that it exists on a different plane than life itself – has been completely undone by the broadcast media over the past century. […] Rather the media folds into everyday life; it transverses it; it fuses into it and deterritorialises it; it forms blocks of emotion in the real world or grounds social activities there which appear and disappear in their own opaque rhythms.«65 (Herv. i.O.)

Die Vorstellung der Medien als Sozialisationsinstanzen wurde von Horkheimer und Adorno in ihrer Dialektik der Aufklärung zugespitzt. Ausgehend von der Totalitarismus stützenden Wirkung gleichgeschalteter und regierungseigener Medien in den Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kamen sie zu der Erkenntnis, dass sich Massenmedien dazu eignen, Menschen zu manipulieren und zu instrumentalisieren. Sie erklärten, »daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist.«66 Film und Fernsehen seien nach Ende des deutschen Staatsterrors von ökonomischem Einfluss abhängig. Die Rezipient_innen verlören jede kommunikative Potenz, weil sie lediglich als Faktor in der ökonomischen Rechnung bestünden.67 Sie seien einer Kapitalismus und Macht erhaltenden Ablenkungsprozedur unterzogen, indem die »Totalität der Kulturindustrie«68 ihnen keine Wahl lasse, als die immer gleichen Botschaften zu empfangen, um in ihnen schließlich ein Amüsement zu empfinden, das

63 Vgl. Keppler, Angela: Variationen des Selbstverständnisses. Das Fernsehen als Schauplatz der Formung sozialer Identität, in: Hartmann, Maren/Hepp, Andreas (Hg.): Die Mediatisierung der Alltagswelt, Wiesbaden 2010, S. 115; Meyer, Torsten: Medien, Mimesis und historisches Apriori, in: Fromme, Johannes/Iske, Stefan/Marotzki, Winfried (Hg.): Medialität und Realität. Zur konstitutiven Kraft der Medien, Wiesbaden 2011, S. 31f. 64 Der Begriff des »Netzes« wird hier im Sinne Umberto Ecos gebraucht. Vgl. Eco, Umberto: Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, S. 125-130, aus: Wirth, Uwe (Hg.): Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte, Frankfurt a.M. 2008, S. 262-267. 65 During, Simon: Cultural studies: a critical introduction, New York 2005, S. 122. 66 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969 [1947], S. 129. 67 Vgl. ebd., S. 131. 68 Ebd., S. 144.

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keiner eigenen Gedanken bedürfe.69 Für die Massenkommunikationsforschung der 1940er und 1950er Jahre in den USA war klar: »Die Medien waren aktiv, ihre Rezipienten passiv.«70 Demnach würde auch die Rezeption von Polittalks direkten Einfluss auf die Vorstellungen der Rezipient_innen ausüben. Diese grundlegende Auffassung der Frankfurter Schule ist bis heute ein gängiger Ansatz der Medienkritik.71 Der Medienwissenschaftler Knut Hickethier stellt ebenfalls Modelle dar, die den Rezipient_innen eine passive Rolle zuschreiben: »Das Öffentlichkeitsmodell gilt auch für die explizit unterhaltenden Angebote der Medien, die wie die anderen Programmangebote Meinungen bilden, Wissen vermitteln, Haltungen erzeugen.«72 (Herv. i.O.) Er bezeichnet die audiovisuellen Medien als »kulturelle Foren«,73 in denen durch die Auseinandersetzung mit der Fiktion reale Suggestionen entstehen. Neben dem Öffentlichkeitsmodell spricht Hickethier auch von dem Ansatz des Dispositivs, basierend auf Foucault, der Kommunikation immer in Verbindung mit Macht und Herrschaftsverhältnissen betrachtet. Der Kommunikator – nicht als Person oder Produkt, sondern als Macht ausübendes Ganzes – gestaltet und präsentiert das Produkt und kontrolliert den Zugang zur Öffentlichkeit, während die Rezipienten die Machtausübung bzw. die Machtverhältnisse durch Akzeptieren konsolidieren.74 Immerhin räumt Hickethier den Rezipient_innen ein, durch die Wahl der rezipierten Medien Einfluss nehmen zu können. Doch bleibt dieses Argument bei dem Bild einer aktiven Rolle des Kommunikators und einer passiven Rolle der Rezipient_innen, da eine »Wahl« hier doch eher einer Auswahl aus einem vorgegebenen Spektrum entspricht. Diese marxistisch und neomarxistisch inspirierte Medienkritik hält am Klassenmodell einer Gesellschaft fest, in dem eine ökonomisch, sozial und kulturell dominante Elite die unteren Schichten beherrscht und für ihre Zwecke zu manipulieren versucht. Andere halten den Klassenbegriff für nicht mehr zeitgemäß, wie Angela Treiber in einer Bestandsaufnahme der italienischen »Volkskunde« bezüglich des Endes der lange Zeit vorherrschenden Gramsci-Rezeption zeigt:75 »Eine Analyse 69 Vgl. ebd., S. 131-145. 70 Scannell 2011, S. 104. 71 Vgl. Denzin, Norman K.: Symbolischer Interaktionismus, in: Flick, Uwe/Kardorff, Ernst von/Steinke, Ines (Hg.): Qualitative Sozialforschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 139f. 72 Hickethier, Knut: Film- und Fernsehanalyse, 3. Aufl., Stuttgart/Weimar 2001, S. 14. 73 Ebd. 74 Vgl. ebd., S. 21. 75 Vgl. Treiber, Angela: »Cultura populare« und die demo-ethno-anthropologischen Disziplinen (DEA) in Italien. Wissenschaftsgeschichtliche Erläuterungen zu theoretischen und methodologischen Tendenzen, in: Jahrbuch für Europäische Ethnologie. Italien, Paderborn/München/Wien/Zürich 2010, S. 18f.

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mittels des sozialen Klassenbegriffs schaffe horizontale Schnitte, es bestehe aber die Notwendigkeit, eine ›quer‹ zu den sozialen Schichten liegende Perspektive einzunehmen, denn die von der Volkskunde […] bearbeiteten Phänomene lägen quer zu denselben«.76 Demnach kann nicht davon ausgegangen werden, dass es eine herrschende Elite gibt, die sich ihrer Macht bewusst ist und Medien gezielt instrumentalisiert. Vielmehr befinden sich Medien in allen sozialen Schichten in einem komplexen Bedeutungs- und Beziehungsgeflecht. Und so verweisen Kritiker_innen der Theorie der Kulturindustrie auf deren einengende »geschichtsphilosophische Verankerung«.77 Rainer Winter schreibt, dass Massenmedien keiner »autoritären Steuerung« unterlägen, die die Öffentlichkeit liquidiert, sondern dass sie »unterschiedliche, medial vermittelte Teilöffentlichkeiten« ermöglichten.78 Die Kritik Adornos und Horkheimers an Medienprodukten beruhe ferner auf deren Annahme, dass Medien in ihrer Gleichheit die Ideologie der Herrschenden reproduzierten. Kulturprodukte sind heute jedoch ausdifferenzierter als das Medienmaterial der 1930er und 1940er Jahre, in denen die Dialektik der Aufklärung entstand.79 »Die Menschen sind dem System der Kulturindustrie keineswegs bedingungslos unterworfen und zur Passivität verdammt.«80 Schließlich sei die Theorie der Kulturindustrie von einer ausschließlich adaptierenden Rezeption ausgegangen. Winter entgegnet dem, dass Individuen und soziale Gruppen unterschiedlich auf Medien reagieren, selbst wenn immer die gleichen Zeichencodes verwendet werden. Die Decodierungsleistung bliebe von Adorno und Horkheimer unbeachtet.81 So führe – auch aufgrund der Konkurrenz zwischen den Sendern – ein divergierendes Medienangebot zu divergierenden Medienrezeptionen: »Die Gestaltungsfunktion liegt […] bei den Menschen, die als Rezipienten und Konsumenten in einem Prozess der Bedeutungskonstitution in ihrer individuellen, thematischen Sinnperspektive, bezogen auf ihre konkrete soziale Umgebung, das intertextuell gemischte Medienangebot in die Alltagswelt integrieren.«82

Diese Theorie ist insbesondere auf die Cultural Studies und speziell auf ihren Vertreter Stuart Hall zurückzuführen. Halls Modell der Aneignung von Medien sei »eine 76 Ebd., S. 23. 77 Winter, Rainer: Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess, Köln 2010, S. 41. 78 Ebd., S. 41f. 79 Vgl. ebd., S. 42f. 80 Ebd., S. 43. 81 Vgl. ebd., S. 43-45. 82 Bachmair, Ben: Mediensozialisation: Entwicklung von Subjektivität in medialen und kulturellen Figurationen, in: Hoffmann, Dagmar/Mikos, Lothar (Hg.): Mediensozialisationstheorien. Neue Modelle und Ansätze in der Diskussion, Wiesbaden 2007, S.86.

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Alternative zum Mainstream in der Medienforschung, sowohl zur traditionellen Wirkungsforschung und ihrer ›Erzählung‹ von der großen Macht der Medien über ein passives Publikum als auch zur entgegengesetzten Theorie von der eher medienunabhängigen Aktivität der Rezipienten, die, so der ›Uses-and-Gratification‹-Ansatz, von deren psychologischen Eigenschaften und gerade nicht von den Merkmalen der Medien bestimmt sein soll«.83 Das Medienverständnis in den Cultural Studies beschreibt Machart so: »Sie [die Medien, Anm. d.V.] produzieren soziales Wissen und schaffen ein Inventarium an Werten, Bildern, Klassifikationen und Lebensstilen, das es uns erlaubt, uns im sozialen Raum zurechtzufinden. Mit anderen Worten: sie wirken direkt auf den popularen Alltagsverstand ein.«84 Machart suggeriert durch die Verwendung des Singular, dass es einen übergreifenden »popularen Alltagsverstand« gäbe. Tatsächlich zeigt er aber die Pluralität des Medienangebots, was zu pluralen popularen Alltagsverständnissen führt – zu partiellen kulturellen Räumen. Um Alltagspraxen zu analysieren, griffen Studien der Cultural Studies vielfach auf Medienanalysen zurück. Die Kommunikationsmodelle der Cultural Studies betrachten die Sender, Empfänger und Informationen eines Kommunikationsvorgangs als in einen kulturellen Diskurs eingebettet. Das Encoding/Decoding-Modell Stuart Halls beschreibt mediale Kommunikation als »Schleife«, in der der Sender – beruhend auf seinem Wissensrahmen, den Produktionsverhältnissen und der technischen Infrastruktur (Bedeutungsrahmen 1) – eine Information mit einer spezifischen Bedeutung kodiert. Diese Information wird in einem Medium transportiert, möglicherweise diskursiv transformiert, beispielsweise über Kameratechnik und Regie, und schließlich von Rezipient_innen dekodiert. Die Empfänger stehen wiederum unter dem Einfluss eines spezifischen Wissensrahmens, der Produktionsverhältnisse und der technischen Infrastruktur (Bedeutungsrahmen 2). Bedeutungsrahmen 1, Medium und Bedeutungsrahmen 2 stellen jeweils diskursive Praktiken dar, was dazu führt, dass in aller Regel Bedeutungsrahmen 1 und Bedeutungsrahmen 2 nicht übereinstimmen.85 Das heißt, dass sich die intendierte Botschaft des Senders zwar stellenweise mit dem (Ein-)Verständnis des Empfängers überschneidet, zu diesem aber nicht äquivalent ist. Folglich stellt eine solche Kommunikation einen »Kampf im Diskurs«86 dar. Der Unterschied zum linearen Kommunikationsmodell ist, dass »Hall loosened the tie between the text’s meaning and its reception«.87 Die den Medientexten inhärenten Bedeutungen sind somit von den Rezipient_innen immer auf unterschiedliche Weise interpretierbar; sie sind »polysemisch«.88 Während das Encoding/Decoding83 Winter 2010, S. 114. 84 Machart 2008, S. 135. 85 Vgl. Scannel 2011, S. 247f. 86 Machart 2008, S. 146. 87 During 2005, S. 116. 88 Renger 2008, S. 275.

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Modell auch die Analyse der Aneignungsprozesse auf einer mikropolitischen Ebene ermöglicht, wird es in dieser Arbeit ausschließlich in Bezug auf die Analyse makropolitischer Immanenzen angewendet, also jener Themen und Konstruktionen von Wirklichkeit, die in Polittalks produziert und reproduziert werden. Machart geht davon aus, dass in den heutigen Massenmedien vornehmlich versucht wird, innerhalb dominant-hegemonialer Sprechakte zu bleiben, wodurch die Dekodierung meist verständnisvoll und ungestört erfolgt.89 Arbeiten des CCCS zeigten, dass Medien in Großbritannien – auch Nachrichtenmedien – einer hegemonialen Sichtweise der sozialen Wirklichkeit entsprechen.90 »Die herrschende Hegemonie manifestiert sich für ihn [Stuart Hall, Anm. d.V.] bereits nachhaltig in der staatlichen und privaten Verfügungsmacht über die Medien […].«91 So gilt es in der PolittalkAnalyse herauszufinden, welche herrschenden Diskurse vorkommen und ob widerständige Sprechakte zu beobachten sind. Polittalks sind kulturelle Aushandlungsprozesse im Sinne Marian Adolfs: »Das kapitalistisch organisierte Mediensystem bringt Inhalte und Vermittlungsformen hervor, welche seinen eigenen Zielen und Interessen nützlich sind, und reproduziert seine materielle Vormachtstellung in der Kultur, die es hervorbringt. Dieser Reproduktionskreislauf auf Seiten der Mainstream-Kultur wird von Dekonstruktionen auf der Rezeptionsseite konterkariert, wobei das kulturelle Feld somit zum Ort des diskursiven Widerstreits um Identitäten und Werte wird.«92

In diesem Sinne befindet sich auch diese Arbeit – wie jede wissenschaftliche Arbeit, wie jeder Text – auf dem kulturellen Feld der Aushandlung von Identitäten und Werten. In der Analyse und Reflexion von Medieninhalten sind Arbeiten aus der Perspektive der Cultural Studies immer dezidiert dekonstruktivistisch und widerständig, um unterdrückende, ausbeuterische und diskriminierende Verhältnisse als solche zu beschreiben, sie zu kritisieren und damit einen Beitrag zu ihrer Überwindung zu leisten. Die Frankfurter Schule wie auch die Cultural Studies stimmen darin überein, dass Medien Bedeutungen und Sinn konstruieren und dabei herrschende Positionen repro-

89 Vgl. Machart 2008, S. 143-148. 90 Scannell 2011, S. 261. 91 Hecken, Thomas: Theorien der Populärkultur. Dreißig Positionen von Schiller bis zu den Cultural Studies, Bielefeld 2007, S. 135. 92 Adolf, Marian: Die unverstandene Kultur. Perspektiven einer Kritischen Theorie der Mediengesellschaft, Bielefeld 2006, S. 131.

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duzieren. Das heißt, dass der normative Einfluss als konstitutiver Moment von Medien ein zentraler Aspekt der Medienforschung ist – insbesondere auch in der Verbindung mit Migrationsforschung.93 Zusammenfassen lässt sich dieses Kapitel mit Andreas Dörner, der in seinem Aufsatz Medienkultur und politische Öffentlichkeit mit Douglas Kellner einen dritten Weg zwischen den beiden Polen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule einerseits und den an John Fiske orientierten Theoretiker_innen andererseits beschreibt. Ersteren wirft Dörner vor, die Übermacht der Bedeutungskonstruktion und Sinnkonstitution medialer Konzerne überzubetonen, letzteren die Medienrezeption zu einem »Fetischismus des Widerstands« zu erheben und damit der Komplexität der diffusen – vielleicht auch ambivalenten – kulturellen Praxis der Medienproduktion und -rezeption nicht gerecht zu werden.94 Für die Praxis der Cultural Studies fordert Kellner daher »eine Rehabilitierung und Reformulierung der Ideologiekritik«. 95 Die semiotisch bedingten, beeinflussenden Möglichkeiten medialer Texte müssten anerkannt und dargestellt werden, um »eine Rekontextualisierung der Texte im sozialen und politischen Makro-Kosmos« zu ermöglichen.96 Die Forschung dürfe sich nicht in einer mikrosoziologischen relativen Bedeutungslosigkeit verlieren. Und schließlich fordert er »eine Inklusion der politisch-ökonomischen Perspektive, um die Voraussetzungen kultureller Sinn- und Identitätsprozesse im Rahmen einer Marktökonomie zu klären«.97 Die Ideologiekritik, fügt Dörner hinzu, verstehe Kellner nicht allein im Sinne marxistischer Theorie, die jede kulturelle Dimension auf ihre ökonomischen Produktionsverhältnisse reduziert.98 Stattdessen müsse Ideologiekritik Kultur multidimensional beschreiben, um so insbesondere auf Identität und Bedeutungskonstitutionen beruhende Machtverhältnisse miteinzubeziehen. Ideologiekritik müsse sich daher besonders auch »visuelle Repräsentationen von Ideologien« vornehmen, »die in der gegenwärtigen Medienkultur weitaus schneller und intensiver Wirkung entfalten können, als rein sprachliche Kommunikationen«.99

93 Vgl. Beck-Gernsheim, Elisabeth: Die deutschen Medien und die Unterdrückung der türkischen Frau, in: Bendel, Petra/Hildebrandt, Mathias: Integration von Muslimen, München 2006, S. 147. 94 Vgl. Dörner, Andreas: Medienkultur und politische Öffentlichkeit: Perspektiven und Probleme der Cultural Studies aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: Hepp, Andreas/Winter, Rainer (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, 4. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 225. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Vgl. Storey 2009, S. 5. 99 Dörner 2008, S. 226.

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Obwohl die Polittalk-Analyse der vorliegenden Arbeit eine Medienanalyse ist, das Augenmerk also auf der Kommunikatorseite liegt, war der theoretische Einbezug der Rezeptionsseite aus drei Gründen sinnvoll. Erstens wurde damit auf die Bedeutung der Medien als gesellschaftliche Instanz hingewiesen; ohne die Bedeutung der Rezeption, gäbe es keine Bedeutung der Kommunikation. Zweitens wurde die Polittalk-Analyse im Kontext medien- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung verortet. Und drittens zeigt die Darstellung der Rezeptionsseite für mich als Forschenden die Konsequenz meines Handelns: Ich bin selbst Rezipient und nehme auf dem kulturellen Feld Teil an einem Aushandlungsprozess über die Wirklichkeitskonstruktionen von Flucht in deutschen Polittalks. Ich vermag in die ideologischen Diskursstränge zu intervenieren. 4.2.3 Zwischen Kultur und Ökonomie: Ideologiekritik und Interventionismus der Cultural Studies »Macht plus Wissen ergibt Wahrheit«,100 so reduziert Paddy Scannell die Essenz aus Foucaults Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Derjenige Akteur in einer sozialen Struktur (Staat, Kultur, Subkultur etc.), der Deutungshoheit – also Macht – hat, ist potenziell in der Lage, Wissen so zu generieren und zu distribuieren, dass das Wissen kulturell und normativ standardisiert wird. Die breite Zustimmung zu normativ standardisiertem Wissen wird dann zur unhinterfragten Wahrheit. So existieren beispielsweise eurozentristische Bilder und Vorstellungen von einem »Schwarzafrika« als einer relativ homogenen, kulturellen Einheit, die von Armut, Hunger, Krieg und Zerstörung geprägt ist. Als Ursachen für diese Zustände werden häufig neokoloniale Imaginationen herangeführt, die Stereotype über »die Schwarze Bevölkerung Afrikas« beinhalten wie ein verbreitetes Phlegma, Wildheit, infantile Verspieltheit, Korrumpierbarkeit, Reizbarkeit oder niedrigere Intelligenz.101 Unverkennbar haben einige Staaten des afrikanischen Kontinents zum Teil erhebliche wirtschaftliche, soziale und politische Probleme. Die verbreiteten undifferenzierten Generalisierungen, die rassistisch konnotierten Begründungsbemühungen und die häufige Ignoranz globaler Verflechtungen, die solche Probleme teilweise bedingen, führen freilich zu keiner Lösung, sondern verstärken eher die Schwierigkeiten. Ebensolchen zweifelhaften normativen Positionen versuchen die Cultural Studies kritisch zu

100 Scannell 2011, S. 285. 101 Vgl. Hall, Stuart: Ausgewählte Schriften. Ideologie, Kultur, Medien, Neue Rechte, Rassismus, Hamburg/Berlin 1989, S. 160f.; Ziegler, Jean: Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, 2. Aufl., München 2005, S. 12; Arndt/Hornscheid 2009, S. 18-24; Arndt, Susan: Die 101 wichtigsten Fragen: Rassismus, München 2012.

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begegnen: »Die wissenschaftliche Theoriebildung und Forschung [der Cultural Studies, Anm. d.V.] sind von der Grundintention des Ansatzes her performativ, strategisch und interventionistisch angelegt. Sie möchten zur Lösung wichtiger wirtschaftlicher, sozialer und politischer Probleme beitragen.«102 Diese Intention bezieht sich auf die Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, welche die Austragung von Machtbeziehungen und Hegemonie auf dem Feld der Kultur verorten. Die Forschungen der Cultural Studies bestätigen die Hegemonietheorie, indem sie zeigen, dass wenige beherrschende und viele beherrschte Menschen interagieren, und dass »die Leute«, also die Beherrschten, Gegenmacht und Widerständigkeit entwickeln können. Machtbeziehungen legen ein »kreatives Potential der […] marginalisierten und unterdrückten Subjekte« frei.103 Das heißt, dass es der Seite der Herrschenden zwar gelingt, die gesellschaftlichen Symbole soweit zu verfestigen, dass die positive Identifikation mit den gesellschaftlichen Verhältnissen revolutionäre Sinnstiftungen untergräbt, letztlich jedoch keine endgültige Sinnfestlegung erreicht und damit auf die ständige Reproduktion des hegemonialen Sinnsystems angewiesen ist. So erklärt John Fiske die »Über-Produktion« an Kulturgütern der Kulturindustrie. Die »Massenkultur« lässt so viel soziale Differenzen und damit widerständige Interpretationsmöglichkeiten zu, dass sich nur in der permanenten Über-Produktion eine hegemoniale Dominanz generieren könne.104 Die inzwischen weit differenzierten Gegenstandsbereiche sowie die unterschiedlichen theoretischen Bezugnahmen innerhalb der Cultural Studies drängen zur Beantwortung der Frage, in was sich die Cultural Studies eigen sind. Hier verweist Stefan Moebius auf Oliver Machart, der erklärt, dass im Zentrum aller Analysen der Cultural Studies die Bereiche Kultur, Macht und Identität stehen. Demnach ist Kultur »jener ›Ort‹ des Sozialen, […] an dem Machtverhältnisse verhandelt werden, an dem um die Definition und Redefinition von Unterordnung und Unterdrückung gekämpft wird‹», an dem also Identitäten konstruiert oder verworfen werden. Polittalks sind in diesem Sinne einer jener Orte, an denen die Machtverhältnisse ausgehandelt werden. Wird in Polittalks Migration und Flucht thematisiert, dann werden Identitätskonzeptionen zur Disposition gestellt, indem Imaginationen »des Eigenen« und »des Fremden« artikuliert werden. John Storey spricht in diesem Zusammenhang von Ideologie, welche Alltagsmythen zu schreiben vermag, indem sie soziale Identitäten in bestimmten Differenzierungen kreiert:

102 Winter, Rainer: Widerständige Sozialität im postmodernen Alltagsleben: Das Projekt der Cultural Studies und die poststrukturalistische Diskussion, in: Thomas, Tanja (Hg.): Medienkultur und soziales Handeln, Wiesbaden 2008b, S. 302. 103 Vgl. Moebius 2012, S. 19. 104 Vgl. ebd., S. 19f.

62 | P OLITISCHE T ALKSHOWS ÜBER F LUCHT »It could be argued that in British society white, masculine, heterosexual, middle class, are unmarked in the sense that they are the ›normal‹, the ›natural‹, the ›universal‹, from which other ways of being are an inferior variation on an original. This is made clear in such formulations as a female pop singer, a black journalist, a working-class writer, a gay comedian. In each instance the first term is used to qualify the second as a deviation from the ›universal‹ categories of pop singer, journalist, writer and comedian.«105

Ideologie wird deshalb zu einer zentralen Angriffsfläche der Cultural Studies auf dem zentralen Kampfplatz »Kultur«. Althusser versteht unter Ideologie jene Vorstellungen, die das Bewusstsein von Menschen beherrschen. Dabei handelt es sich nicht um singuläre Imaginationen, sondern um ganze Systeme normativer Sinnzusammenhänge.106 Ideologie beschreibt demnach das herrschende Wissen einer bestimmten sozialen Gruppe zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten sozialen Raum. Diese Kontextgebundenheit ermöglicht die Existenz gegensätzlicher Ideologien, die durch Raum (z.B. Kalter Krieg: Ost- und Westblock) oder durch Zeit (z.B. »Ostdeutschland« vor und nach »der Wende«) abgegrenzt werden können. Jedoch kann Ideologie niemals wahr sein, gerade dadurch, dass sie für sich beansprucht, wahr zu sein. Althusser beschreibt sie marxistisch gedeutet »als pure Illusion, als reiner Traum, als Nichts. Ihre gesamte Wirklichkeit ist ihr äußerlich. Folglich wird die Ideologie als eine imaginäre Konstruktion gedacht […]«.107 Stuart Hall knüpft an diese Beschreibung von Ideologie an. Er versteht darunter »Bilder, Konzepte und Prämissen, durch die wir bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Lebens darstellen, interpretieren, verstehen und ihnen einen Sinn geben«.108 Ideologien verfolgen demnach drei Funktionsweisen: (1) Sie beinhalten keine isolierten Begriffe, sondern artikulierte Verknüpfungen verschiedener Begriffe. Beispielsweise verflechte die liberale Ideologie u.a. die Begriffe »Freiheit«, »Individualismus« und »freie Marktwirtschaft«.109 (2) Ideologien existieren vor ihrer Verwendung durch ein Individuum. Erst durch die Sozialisation von Individuen durch Ideologie treffen Individuen schließlich ideologische Aussagen. Indem die Aussagen für gewöhnlich unbewusst artikuliert werden, sind sie am wirksamsten, da Menschen davon ausgehen, Dinge aus sich selbst heraus und wahrhaftig zu beschreiben, statt ideologischen Prämissen zu folgen.110 (3) In dieser Unbewusstheit und der Annahme, »authentische, originäre Wahrheiten«111 zu for-

105 Storey 2009, S. 4. 106 Vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1977, S. 130. 107 Ebd., S. 131. 108 Hall 1989, S. 151. 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. ebd., S. 151f. 111 Ebd., S. 152.

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mulieren, liegt die »Leistung« von Ideologien. Den im ideologischen Diskurs befindlichen Subjekten bietet die Ideologie Identifikationsmöglichkeiten und Wissensstrukturen, die das Subjekt bereits als eigene verinnerlicht hat. »Tatsächlich […] hängt ein ideologischer Diskurs nicht von den bewußten Intentionen derjenigen ab, die innerhalb dieses Diskurses Aussagen formulieren.«112 In der Wiederkehr ideologischer Diskurspositionen findet sich das Subjekt dann regelmäßig wieder, wodurch eine stetige (Selbst-)Bestätigung und damit Bestätigung und Reproduktion des ideologischen Diskurses stattfindet.113 Polittalks haben als Medien eine relevante ideologische Funktion, da »Ideologie […] auch eine Praxis [ist]«, die »insbesondere in den ideologischen Apparaten [produziert und reproduziert]« wird, »in Apparaten wie den Medien«.114 Die vordergründige Diskursivität, die von Seiten der Sendeanstalten für Polittalks beansprucht wird, also der Austausch von Argumenten – vielleicht auch mit dem Ziel, Lösungsansätze für Problemstellungen zu finden – wird tatsächlich von ideologischen Diskurspositionen konterkariert. Ein kurzer Vorgriff auf die Polittalk-Analysen kann verdeutlichen, dass die ideologischen Diskurspositionen verschiedener Gäste in den Sendungen äußert stabil und gegenüber Abweichungen resistent sind. Der Moderator Frank Plasberg, der die Sendung Hart aber fair moderiert, bestätigte dies in seiner Sendung vom 7. Oktober 2013 erstaunlich ehrlich. Die Sendung thematisierte die europäische Flüchtlingspolitik, nachdem im Mittelmeer vor Lampedusa vier Tage vor der Sendung mindestens 366 Geflüchtete ertranken. Eingeladen waren unter anderem der Journalist Roger Köppel und der Flüchtlingshelfer Elias Bierdel. Köppel äußerte sich erwartungsgemäß rechtspopulistisch, rassistisch und flüchtlingsfeindlich. Bierdel nannte Köppel gegen Ende der Sendung indirekt einen »rechten Schmierfinken«, wogegen Köppel sich vehement wehrte und behauptete »unangenehme Wahrheiten auszusprechen«. Plasberg sagte dann: »Ich bin Herrn Köppel ausdrücklich dankbar, dass er in einer Runde, der in einer Runde, die natürlich auch unter großer Betroffenheit stand, diese Position vertreten, gehalten hat und gelebt hat und dafür Ihnen auch Dankeschön, Herr Köppel.«115 Plasberg versucht also nicht einmal den Anschein zu erwecken, als handle es sich bei seiner Sendung um einen konstruktiven Austausch. Die Konfrontation, die durch die Unnachgiebigkeit der ideologischen Diskurspositionen entsteht, bewertet er damit als Auszeichnungsmerkmal von Polittalks. Diese Beobachtung bestätigt der Medienwissenschaftler Christian Schicha, der schreibt,

112 Ebd., S. 158. 113 Vgl. ebd., S. 152. 114 Ebd., S. 153; Althusser 1977: »Eine Ideologie existiert immer in einem Apparat und dessen Praxis oder dessen Praxen.« (S. 137). 115 Hart aber fair: Tragödie am Strand – Etwas Besseres als den Tod bieten wir nicht? ARD, 07.10.2013, 1:13:41-1:13:57.

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dass es in Polittalks primär um die Artikulation von Interessen und Meinungen politischer Akteure geht sowie um deren Selbstinszenierung und weniger um eine konstruktive Diskussion oder gar um Verständigung oder Problemlösungen. Unter dem Gesichtspunkt von Entertainment ist dies zweckmäßig, nicht aber im Sinne einer informativen Diskussion. Die Ideologiekritik Halls bezieht sich vor allem auf rassistische Ideologie. Weil unzählige Studien konstatieren, dass die mediale Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex Migration von rassistischen Implikationen durchzogen ist, liegt die Vermutung nahe, dass auch in Polittalk-Sendungen rassistische Aussagen vorzufinden sind.116 Damit rückt die Ideologiekritik auch ins Zentrum dieser Arbeit: »Das Thema Rassismus und Medien berührt unmittelbar die Frage der ›Ideologie‹, da die Medien überwiegend in der Sphäre der Produktion und Transformation von Ideologien operieren.«117 Nach Hall repräsentieren Medien Wirklichkeit in Bildern und Narrativen, die häufig affirmativ rezipiert werden. Menschen haben in dieser Mediengesellschaft prinzipiell nur zwei Möglichkeiten sich zu Medien zu verhalten. Entweder sie ignorieren Medien größtenteils (in Gänze wäre dies unmöglich) und nehmen damit in Kauf keine Informationen über jegliches Geschehen ihres unmittelbaren sozialen Nahraums zu erhalten. Oder sie rezipieren Medien und nehmen damit in Kauf, große Teile der kommunikativen Inhalte schlichtweg glauben zu müssen. Denn selbst die Überprüfung von medialen Informationen kann in aller Regel nur medial stattfinden. Die zahlreichen Zwischenbereiche dieser beiden Extreme, können den Umstand nicht auflösen, dass Mediennutzer_innen (und Medienkritiker_innen) den Großteil des tagtäglich Rezipierten affirmativ in Folgekommunikationen verwenden. Unter den ideologischen Produkten, die Medien distribuieren, »befindet sich eben auch die von den Medien konstruierte Definition dessen, was ›Rasse‹ ist […]. Die Medien tragen dazu bei, die Welt im Rahmen der Kategorien von ›Rasse‹ zu klassifizieren.«118 Zwar verweist Hall darauf, dass sowohl die herrschende Klasse als auch Medien nicht verallgemeinert werden können als einheitlich rassistischer Komplex. Doch die schiere Menge an medialen Produkten und die inhärente Komplexität und Subtilität, mit denen rassistische Ideologien als kulturelles Wissen reproduziert und aufrechterhalten werden, lässt vermuten, dass Medien in diesem Kontext einen deutlichen Effekt auf Rezipient_innen haben.119 Hall fordert, die Formen eines Fernseh-Diskurses zu dekonstruieren, da diese die entscheidende Beschränkung darstellten, in denen kein Ausbruch aus der rassistischen Ideologie möglich sei. Durch die Form, also die programmatische und auch 116 Vgl. Kapitel 12.2-12.5. 117 Hall 1989, S. 150. 118 Ebd., S. 155. 119 Vgl. ebd., S. 150.

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ästhetische Gestaltung des Fernsehens, können demnach Inhalte ideologisch determiniert werden. Doch auch Hall hat keine Idee für revolutionäre »Formen« der Medienproduktion. Insbesondere problematisiert er die Beobachtung, dass Medien, wie manche Zeitschriften, zwar durchaus avantgardistisch und progressiv sind, jedoch nur einen kleinen, distinguierten und vor allem bereits überzeugten Personenkreis ansprechen.120 Und so schließen Halls Ausführungen zu rassistischer Ideologie mit einer Kritik an der Linken, die keine gemeinsame Strategie finde, um erfolgreich antirassistische Ideen in das öffentliche Bewusstsein zu tragen.121 In den Cultural Studies gibt es verschiedene Strömungen, wobei die einen Ökonomie, die anderen Kultur als übergeordneten Machtdiskurs wahrnehmen. Einerseits bemühen sich Theoretiker_innen der Cultural Studies, sich von marxistischer Theorie zu lösen, um der Kultur als Bedeutungsträger Raum zu geben. Andererseits verweisen sie immer wieder auf die Bedeutung der Ökonomie für die Reproduktionsmechanismen von Bedeutungsträgern und damit für Identitäten und Normativitäten. Laut Dörner sei eine Gradwanderung, ein Konzept zwischen Horkheimer/Adorno und Fiske ratsam, um die Bedeutung beider Aspekte in angemessener Weise einzubeziehen. Polittalks sind Teil eines kulturellen Aushandlungsprozesses, gleichzeitig aber ökonomischen Maßstäben unterworfen. Mit Stuart Hall soll in dieser Arbeit von einer gegenseitigen Inkorporation von Kultur und Ökonomie ausgegangen werden. Die ideologischen Bestandteile, die eine Reproduktion des ökonomistischen Primats zur Folge haben, befinden sich in kulturellen Bedeutungslieferanten wie »Familie, Bildung, Medien«.122 Diese sich gegenseitig bedingenden, ergänzenden und durchdringenden Instanzen der Sozialisation und damit der Herausbildung eines das Individuelle überragenden Commonsense bilden »das Terrain gelebter Erfahrung«.123 Diese alltägliche und geteilte Lebensweise ist die Grundlage für die Kontinuität und Dominanz der Reproduktion der Produktionsverhältnisse. Reflexion und potentielle Kritik kommen laut Hall allein dem Denken zu.124 4.2.4 Ergänzend: Postcolonial Studies Ergänzend zu den Cultural Studies und aus ihnen hervorgehend wird die Postkoloniale Theorie (Postcolonial Studies) von dem Gedanken gespeist, dass gegenwärtige

120 Vgl. ebd., S. 169f. 121 Vgl. ebd., S. 170f. 122 Vgl. Scannell 2011, S. 238. 123 Ebd., S. 239. 124 Vgl. ebd.

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Diskurse über Migration allzu oft neokolonialen Imaginationen entspringen. Postkoloniale Studien erforschen die Kontinuitätslinien kolonialer Unterdrückung.125 Darin zeigt sich, dass Stereotypisierungen, Stigmatisierungen, Rassismus und Ethno- bzw. Eurozentrismus andauernde Elemente u.a. in »westlichen« Gesellschaften sind. Die ökonomische Dominanz des »Westens« über die globale Peripherie basiert bekanntermaßen auf kolonialen und neokolonialen Machtstrukturen. Dieses Gefälle zwischen arm und reich wird nicht zuletzt durch Identitätspolitiken stabilisiert. Die Postkoloniale Theorie vermag darüber hinaus verdeckte und unscheinbare neokoloniale Strukturen sichtbar zu machen, insbesondere in Literatur, Medien, Populärkultur etc.126 So schreibt Doris Bachmann-Medick über den Postcolonial Turn, dass mit seinen »kritischen Analysekategorien […] die anhaltende und weiterhin problematische Konstruktion des ›Anderen‹ (›Othering‹) aufgearbeitet werden kann«.127 Die Postkoloniale Theorie zielt auf die Produktion kritischer Denkanstöße, um aktuelle Prozesse auf ihre kolonial-geschichtliche Herkunft hin zu analysieren, um die Historiographie in globale Bahnen zu lenken statt Identitätskonstrukteur_innen das Feld zu überlassen und um eine Globalisierung zu erreichen, die keine Europäisierung ist, die keine Abgrenzungen schafft, sondern die sich der Komplexität individueller und kultureller Ambivalenzen annimmt.128 In die Polittalk-Analyse kann die Postkoloniale Theorie wichtige Aspekte einbringen. So wird zu überprüfen sein, ob sich in den Diskussionen der Talkgäste neokoloniale Äußerungen wiederfinden. In negativer Form wäre dies beispielsweise eine Abwertung von Menschen aufgrund ihrer »Unterentwicklung«, welche aus einem im Fortschrittsdenken verankerten linearen Geschichtsbild entspringt;129 in positiver Form wäre dies beispielsweise eine joviale Geste der Zuschreibung von »Hilfsbedürftigkeit« aller »Afrikaner«, der es beizukommen gelte. Nicht zuletzt bleibt eine Trennung von »uns« und »den Anderen« zu erwarten. Gegen diese kulturelle und nationale Identität stiftende Rede erheben Postkoloniale Theoretiker_innen u.a. mit 125 Vgl. Spivak 2008; Bhabha 2007; Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005; Weibel, Peter: Die koloniale Kondition. Eine Einführung, in: Weibel, Peter/Žižek, Slavoj (Hg.): Inklusion : Exklusion. Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration, Wien 1997, S. 13-18; Said 2009 [1978]. 126 Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005. 127 Bachmann-Medick 2009, S. 185. 128 Vgl. Chakrabarty, Dipesh: Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte, in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 283-312. 129 Dieses lineare Fortschrittsdenken sieht Featherstone in Teilen der modernen Soziologie verhaftet. Vgl. Featherstone 1995, S. 134f.

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dem Konzept der Hybridität Einspruch. Homi K. Bhabha hebt die »kulturelle Hybridität« von Menschen hervor, die sich in verschiedenen kulturellen Sphären aufhalten und sich dadurch in einem ständigen Prozess der dislokalen Aneignung, Ablegung und Vermischung von angeblich kulturspezifischen Werten, Normen und Verhaltensweisen befinden.130 Dennoch muss auch zur Postkolonialen Theorie kritische Distanz bewahrt werden, um beispielsweise einer bei Bhabha zu erkennenden Idealisierung des »Hybriden« zu widerstehen, durch welche er die »›Entdeckung‹ von produktiven Differenzen in der gegenwärtigen Aufbruchstimmung als Eintrittsportal zu einer aufregenden Hybridität […], die es zu kultivieren und nutzbar zu machen gilt«,131 fördert – so Kien Nghi Ha.

130 Vgl. Bhabha 2007; Castro Varela/Dhawan 2005, S. 94-97. 131 Ha 2005, S. 59.

5. Migrations- und Flüchtlingsforschung

5.1 M IGRATIONSFORSCHUNG UND IHRER K ATEGORIENBILDUNG

DIE I NFRAGESTELLUNG

Während in der gegenwärtigen Migrationsforschung Hybridisierung im Sinne Bhabhas, Dekonstruktionen diverser Identitätskonzeptionen oder neuerdings auch eine Entmigrantisierung der Migrationsforschung1 präsent sind, war in der Geschichte der Migrationsforschung die Bildung von Zugehörigkeitskategorien weit verbreitet. Entsprechend den nationalen Paradigmen, die zu einem spezifischen, eher problemhaften, Verhältnis von Staat und Migration führten, spiegelten laut Michael Bommes die nationalen Migrationsforschungen diese Konzeptualisierungen und Problemstellungen wider. So orientierte sich die deutsche Migrationsforschung an den jeweils gegenwärtigen Migrationsgruppen, wie den Geflüchteten und Vertriebenen aus Osteuropa, dann den Gastarbeitern und später den Aussiedlern – als Wissenschaft jeweils versehen mit dem Suffix -forschung – bis sich eine übergeordnete Migrationsforschung entwickelte.2 Einige in der Migrationsforschung verwendete Begrifflichkeiten werden in Anführungszeichen gesetzt. Dabei handelt es sich meist um Begriffe, die Menschen als spezifische Migrant_innen-Gruppen kategorisieren. Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass die Begriffe, die sich politisch und gesellschaftlich durchgesetzt haben, von Seiten der Wissenschaft häufig in Frage gestellt oder gar revidiert werden,

1

Vgl. Bojadžijev, Manuela/Römhild, Regina: Was kommt nach dem ›transnational turn‹? Perspektiven für eine kritische Migrationsforschung, in: Labor Migration (Hg.): Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung, Berliner Blätter, 65, Berlin 2014, S. 10-24.

2

Vgl. Bommes, Michael: Nationale Paradigmen der Migrationsforschung, in: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück (Hg.): Migration und Migrationsforschung in der modernen Gesellschaft. Eine Aufsatzsammlung, Heft 38, Osnabrück 2011, S. 33.

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jedoch Alternativen fehlen, welche die Bedeutung der jeweiligen Begriffe prägnant wiedergeben könnten. »Werden Begriffe bestimmten Menschen und Menschengruppen zugeordnet, entwickeln sie eine Eigendynamik, indem sie sich zu einem Bild des Andersseins dieser Menschen verdichten und – wenn auch ungewollt bzw. unbewusst – die Ausgrenzung dieser Menschen signalisieren.«3 Als Beispiel nennt Martin H.W. Möllers den Begriff »Migrationshintergrund«, der meist nur in Bezug auf Problemsituationen Erwähnung findet.4 Was Möllers allerdings als Gegenüberstellung zu den Problemsituationen vorschlägt, sind ökonomistische Nutzenerwägungen. Menschen seien dann nützlich und dadurch positiv etikettiert, wenn sie »gewinnbringende Innovationen«, »Motivationen« und ein »nach oben […] streben« vorweisen könnten.5 Damit bleibt Möllers einer dichotomisierenden Denkweise verhaftet, die »gute«, d.h. nützliche, und »schlechte«, kriminelle, »nichtsnutzige« Menschen unterscheidet. Um zu zeigen, dass »Menschen mit Migrationshintergrund« weitaus heterogener sind, als dies in öffentlichen Debatten häufig suggeriert wird, rekurriert er auf soziologische Erkenntnisse, die »Schicht- bzw. Bildungsniveau sowie den Grad der Verstädterung«6 als Ursachen von Unterschieden anführen. Da sich Heterogenität bei weitem nicht in diesen quantifizierenden Kategorien erfassen lässt, da diese Kategorien vielmehr Unterschiede zementieren statt sie in Frage zu stellen, konterkariert Möllers sein eigenes Argument. Indem er schließlich mit positiver Konnotation feststellt, dass sich die Nachkommen von Migrant_innen der deutschen Mehrheitsgesellschaft annähern würden, sabotiert er seine vordergründig betriebene Dekonstruktion von Differenzen. Denn Letzteres versteht sich so, als ob die Migrant_innen auch deswegen kein Problem darstellten, weil sie sich kontinuierlich an die deutsche Gesellschaft assimilierten. Die Problematisierung der Perspektive von Möllers zeigt, dass es die Migrationsforschung nicht gibt. Stattdessen ist eine theoretische Spezifizierung notwendig. Die Organisation einer Gesellschaft – ob regional, nationalstaatlich oder kommunal – kann nur funktionieren, wenn die politischen Institutionen Informationen über die Bevölkerung haben. Dieser Allgemeinplatz bedeutet aber auch eine Gradwanderung, da Ordnungsorganen und Institutionen Herrschaftsfunktionen inhärent sind, die wiederum die Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Ordnung – wie auch immer diese definiert wird – konterkarieren können. Die Verwaltung einer Gesellschaft, die ihre Anfänge in der Kameralistik hat, ist darauf angewiesen, dass Menschen kategorisiert 3

Möllers, Martin H.W.: Einführung: Bemerkungen zur amtlichen Definition des Begriffs »Migrationshintergrund«, in: Möllers, Martin H.W./van Ooyen, Robert Chr. (Hg.): Migration, Integration und europäische Grenzpolitik, Jahrbuch Öffentliche Sicherheit – Sonderband 5, Frankfurt 2011, S. 13.

4

Vgl. ebd., S. 13f.

5

Ebd., S. 13.

6

Ebd., S. 14.

M IGRATIONS-

UND

FLÜCHTLINGSFORSCHUNG | 71

und damit unterschieden werden. Kategorien können das Einkommen, das Alter, das Geschlecht, die Herkunft u.v.m. sein. In einer bestimmten Behandlung von Menschen aufgrund einer bestimmten, ihnen zugeteilten Kategorie, werden Menschen mit Identitäten konfrontiert, die sie akzeptieren oder ablehnen dürfen, denen sie sich jedoch nicht entziehen können. Es werden also mehrere Innen und Außen konstruiert, die sich überlagern und je nach gesellschaftlichen Situationen unterschiedlich bedeutsam werden. Stand beispielsweise der »Generationenkonflikt« einige Jahre in besonderem öffentlichem Interesse, so ist es zeitweise der »Geschlechterkonflikt«. Diese als »Konflikte« titulierten gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zielen je nach Standpunkt auf die Gleichberechtigung von verschiedenen Identitäten, beispielsweise mittels Affirmative Action, oder auf die Aufrechterhaltung bestehender Strukturen. Dass die Kameralistik auch Vorläufer volkskundlicher und schließlich kulturwissenschaftlicher Forschung war, zeigt, dass auch Wissenschaft auf Kategorisierungen angewiesen ist. Die Beschreibung oder Analyse von Sachverhalten kann nur erfolgen, wenn die Objekte abgegrenzt werden von anderen Objekten, um so konkretes empirisches Material definieren zu können. Gleichzeitig werden so aber auch in der Wissenschaft Verallgemeinerungen und Identitäten (re-)produziert, weshalb eine Notwendigkeit darin besteht, diese Kategorisierungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu kritisieren, wie es Harald Kleinschmidt in Bezug auf politische Kategorisierungen von Migration macht: »[…] die Verwaltung und die ihr vorgesetzten politischen Institutionen wie Parlament und Regierung zeigen eine überbordende Fähigkeit zur Entwicklung immer neuer Kategorien von Migration und Gruppen von Migranten und Migrantinnen. Da gibt es ›Arbeitsmigration‹, ›Wirtschaftsflüchtlinge‹ und ›Scheinasylanten‹, ›Familienzusammenführung‹ und ›Nachzug‹, ›Migration Hochqualifizierter‹, die die Politik will, und ›Zuwanderung in die Sozialsysteme‹, die die Politik nicht will. Migranten und Migrantinnen werden sortiert nach Staatsangehörigkeit und Glaubensbekenntnis.«7

Diese in öffentlich-politischen Auseinandersetzungen verwendeten Begriffe sind mitunter politische Kampfbegriffe und entbehren jeder analytischen oder definitorischen Kongruenz zur Realität. Dies wird in den Polittalk-Analysen u.a. an dem Begriff »Wirtschaftsflüchtling« offenkundig, dessen Verwendung teils bewusst, teils unbewusst, Geflüchteten ökonomischen Egoismus unterstellt, obwohl eigentlich die Intention hinter dem Begriff ökonomisch egoistisch ist.8

7

Kleinschmidt, Harald: Migration und Integration. Theoretische und historische Perspektiven, Münster 2011, S. 12.

8

Vgl. Kapitel 13.1.2.

72 | P OLITISCHE T ALKSHOWS ÜBER F LUCHT

Wissenschaftliche Kategorisierungen legen ihre Maßstäbe dagegen an fachspezifischen Interessen an. Wo sich beispielsweise die Kategorisierungen der Politikwissenschaften an internationalen Rechtsverbindlichkeiten orientieren, fragt die Soziologie u.a. nach quantitativen und die Kulturanthropologie u.a. nach qualitativen Eigenschaften von Migrant_innen. Neben diesen fachspezifischen Interessen kommen urteilende Positionen hinzu, wodurch Migration in verschiedene Legitimitätsgrade eingeteilt wird.9 Hierbei vermischen sich die wissenschaftliche und die politische Definitionsmacht, da Politik auf wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgreift und Wissenschaft politische Kriterien als zu erforschende Realität betrachtet. Anhand der politisch strittigen Frage, ob sich albanische Migrant_innen in den Jahren 1996 und 1997 in Italien bessere Arbeitsbedingungen erhofften oder aufgrund gesellschaftlicher Missstände zur Flucht gezwungen wurden, exemplifiziert Annette Treibel Kategorisierungsprozesse.10 Dabei wird deutlich, dass Migration unter ständigem und erheblichem Rechtfertigungsdruck steht, was sich dadurch erklärt, dass Migration grundsätzlich als Abweichung von der »Normalität« verstanden wird. Migration wird als Abweichung einer »normalen« – d.h. nationalstaatlichen – Ordnung wahrgenommen. Migrant_innen sind den Aufnahmegesellschaften demnach eine Rechtfertigung schuldig, um toleriert – im wörtlichen Sinne: geduldet – zu werden. Indem bestimmten Migrant_innengruppen bestimmte Stigmata auferlegt werden, aufgrund derer sie mehr oder weniger als Abweichung angesehen werden, kommt eine transdisziplinäre Migrationsforschung nicht umhin, diese Kategorisierungen – wenn auch kritisch – aufzunehmen.11 Wenn beispielsweise Menschen, die als »türkisch« oder »arabisch« bezeichnet werden, vermehrter Diskriminierung ausgesetzt sind, dann findet sich die Bezeichnung zwangsläufig in einer diesbezüglichen Studie wieder. Auch eine Relativierung, die erklärt, dass als »Türken« und »Araber« etikettierte Menschen möglicherweise die deutsche Staatsangehörigkeit haben oder in der dritten Generation in Deutschland leben, bezieht sich also auf den (relativierten) Personenkreis »Türken und Araber«. Dies zeigt, dass die Zugehörigkeit von Individuen oder Gruppen an eine Herkunftsgruppe (»Volk«, Religion) und an ein Herkunftsterritorium (Nation, Region) weiterhin eine fundamentale Norm darstellt, derer sich kaum entzogen werden kann. Im Folgenden wird ein knapper Überblick über vorhandene wissenschaftliche Kategorisierungen und Typologisierungen von Migration gegeben. Nach Treibel wird Migration räumlich unterschieden in Binnenwanderung und internationale Wanderung. Der Nationalstaat bildet dabei den ordnungsrelevanten Maßstab. Unter temporären Aspekten wird begrenzte von dauerhafter Wanderung abgegrenzt. Die Wanderungsentscheidung bzw. -ursache wird als entweder freiwillig 9

Vgl. Treibel, Annette: Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, 5. Aufl., München 2011, S. 17-20.

10 Vgl. ebd., S. 20. 11 Vgl. Bommes 2011, S. 33.

M IGRATIONS-

UND

FLÜCHTLINGSFORSCHUNG | 73

oder erzwungen betrachtet. Der Umfang einer Wanderungsbewegung zeigt, ob es sich um Einzelwanderung, Gruppenwanderung oder Massenwanderung handelt.12 Diese allesamt quantitativen Unterscheidungsmerkmale sind in einer kulturwissenschaftlichen Betrachtungsweise zwar basale Merkmale, jedoch nicht hinreichend, wie Treibel in ihrer Beschreibung fachspezifischer Perspektiven auf Migration zeigt. Demnach seien die qualitativ ausgerichteten kulturanthropologischen Studien, die »den gesellschaftlichen Umgang mit ›Fremden‹ und die Frage [untersuchen], wie diese ihre neue soziale bzw. kulturelle Umgebung wahrnehmen und sich spezifische Verhaltensstile […] entwickeln«, eine »wichtige Ergänzung« in der Migrationsforschung.13

5.2 K ULTURANTHROPOLOGISCHE F LÜCHTLINGSFORSCHUNG Ein Aufsatz, der sich mit anthropologischer Flüchtlingsforschung beschäftigt, zeigt, dass diese im deutschsprachigen Raum kaum vorhanden ist.14 Und auch im englischsprachigen Raum wurde erst 1982 mit der Gründung des Refugee Studies Centre in Oxford eine entsprechende Institution geschaffen, die anthropologisch und interdisziplinär forscht. Diese lange Ausblendung des Themas und bis heute sehr marginale Forschungsansätze haben u.a. mit den Lebensumständen Geflüchteter zu tun, die für Forschende allerlei Schwierigkeiten bedeuten. Die Auseinandersetzung mit Geflüchteten erfordert Wissen über den Umgang mit Traumatisierten und ein hohes Maß an Sensibilität. Hinzu kommt die hohe Mobilität von Geflüchteten, sowohl während der Flucht als auch im Zielstaat. So ist nicht gewährleistet, dass ein_e Interviewpartner_in während eines Forschungszeitraums erreichbar ist. Gleichwohl konstatieren Toši , Kroner und Binder eine bedeutende Rolle der anthropologischen Flüchtlingsforschung für die Dekonstruktion des lange Zeit vorherrschenden Kulturessentialismus in den kulturanthropologischen Disziplinen.15 Ziel der Feldforschung ist entsprechend des Cultural-Studies-Ansatzes keine Beschränkung auf deskriptive Publikationen. Vielmehr geht es darum, »[i]m Zuge der Feldforschung [...] die Lebensumstände der Flüchtlinge und dementsprechend auch die Wirkung bestimmter

12 Vgl. Treibel 2011, S. 20. 13 Ebd., S. 18. 14 Vgl. Toši , Jelena/Kroner, Gudrun/Binder, Susanne: Anthropologische Flüchtlingsforschung, in: Six-Hohenbalken, Maria/Toši , Jelena (Hg.): Anthropologie der Migration. Theoretische Grundlagen und interdisziplinäre Aspekte, Wien 2009, S. 110-126. 15 Vgl. ebd., S. 113f.

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Hilfsmaßnahmen und humanitärer Projekte fest[zu]stellen, und somit Verbesserungen und innovative Strategien vor[zu]schlagen«,16 also eine sich einmischende Forschung zu betreiben, die auch auf politische Veränderung abzielt.17 Besonders relevant sind dabei auch die medial verbreitete Vorstellung der »Entwurzelung« von Geflüchteten und die damit verbundenen identitätsspezifischen Implikationen. Das gängige Bild von Geflüchteten betont den Verlust ihrer kulturellen Zugehörigkeit, deren Exklusion aus Kategorien der Vergemeinschaftung (Kultur, Nation, Ethnie). Damit würden Geflüchtete zu etwas potentiell Unkontrolliertem, Nicht-Einzuordnendem, zu einer Gefahr.18 »So entstehen klischeehafte und fremdenfeindliche Identitätszuschreibungen wie etwa jene des ›Kriminellen‹, des ›Drogendealers‹ oder des ›religiösen Fanatikers‹, die zum festen Bestandteil des Alltagsdiskurses und des politischen Diskurses […] werden.«19 Der Ansatz des Transnationalismus in der Flüchtlingsforschung will Geflüchtete als aktive Akteure beschreiben, die ihr Leben gestalten und beispielsweise in Communities auch neue Lebensformen erzeugen.20

5.3 D IE

DREI

P HASEN DER E INWANDERUNG IN DIE BRD

Geflüchtete und Migrant_innen als autonome Subjekte sind wie alle anderen Menschen an der Gestaltung von Gesellschaft beteiligt. Einwanderung verändert folglich Gesellschaften, indem neue und alte kulturelle Vorstellungen und Bedeutungen transformiert, reinterpretiert und hybridisiert werden. Arbeiten, die die Geschichte von Migrationen nach Deutschland untersuchen, stellen vor allem dann bedeutungsvolle gesellschaftliche Veränderungen im Zuge von Migrationen fest, wenn viele Menschen an einem Migrationsprozess beteiligt waren. Der Blick in die bundesdeutsche Migrationsgeschichte ist für diese Arbeit relevant, um Vergleichswerte zu schaffen. Verschiedene Gäste in den Polittalk-Sendungen rekurrieren auf die verschiedenen Einwanderungsphasen in die BRD, deuten und bewerten diese und vergleichen sie mit der Phase der Fluchtmigration zum Zeitpunkt der Sendung. Darüber hinaus sehen sich Menschen mit Fluchterfahrung immer wieder einer Identifizierung mit einer bestimmten Migrationskategorie ausgesetzt, wie z.B. boat people, Nachkriegsflüchtlinge/»Heimatvertriebene« oder »Balkan-Flüchtlinge«, wenngleich diese Personen sich selbst möglicherweise nicht mehr mit ihrer Migrationsgeschichte identifizieren, 16 Ebd., S. 115. 17 Vgl. Reckinger, Gilles: Jenseits des Alarmismus. Lampedusa und die Notwendigkeit eingreifender Wissenschaft, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Band 117, Heft 3+4, Wien 2014, S. 203-228. 18 Vgl. Toši /Kroner/Binder 2009, S. 116. 19 Ebd.; vgl. Kapitel 11.3.1. 20 Vgl. Toši /Kroner/Binder 2009, S. 122.

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sondern mit Anknüpfungspunkten in ihrer postmigrantischen Umgebung. Sie sind demnach spezifischen Mustern der Wahrnehmung von Seiten der Mehrheitsgesellschaft oder spezifischen rechtlichen Kategorisierungen aufgrund ihres Aufenthaltsstatus ausgesetzt. Auch wenn Migration und Flucht seit jeher Phänomene menschlichen Lebens sind,21 beginnt die folgende Darstellung an der historischen Zäsur nach Ende des Zweiten Weltkrieges.22 Dies hat den Vorteil, an einer Stelle anzusetzen, die global und nicht nur migrationsspezifisch von essentieller Bedeutung ist; außerdem beginnen zu dieser Zeit Migrationsprozesse, deren Auswirkungen bis heute immer wieder von besonderem öffentlichen Interesse sind.23 Schließlich haben das deutsche Asylrecht sowie die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) in den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs ihren Ausgangspunkt. Die bundesdeutsche Migrationsgeschichte weist einige Eckpunkte auf, die sämtliche historisierende Darstellungen mehr oder weniger gemein haben.24 Es handelt sich dabei um drei große Zuwanderungsphasen in die BRD: die Zuwanderung der »Heimatvertriebenen«, dann die der Gastarbeiter und schließlich die Zuwanderung von Asylsuchenden. Die erste Phase war die Einwanderung der sogenannten »Heimatvertriebenen« – ca. 13 Millionen Deutsche, die in den deutschen Ostgebieten nach dem Zerfall des Dritten Reichs gen Westen flohen und vertrieben wurden.25 Nach dem Ende der Nazi-Tyrannei und den in dieser Zeit 21 Vgl. Bade, Klaus J.: Einwanderung und Gesellschaftspolitik in Deutschland – quo vadis Bundesrepublik? In: Bade, Klaus J. (Hg.): Menschen über Grenzen – Grenzen über Menschen. Die multikulturelle Herausforderung, Herne 1995, S. 207; Trojanow, Ilija/Hoskoté, Ranjit: Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen, München 2007. 22 Zu Migration in »Deutschland« seit dem 17. Jahrhundert vgl. Bade, Klaus J./Oltmer, Jochen: Mitteleuropa. Deutschland, in: Bade, Klaus J./Emmer, Pieter C./Lucassen, Leo/Oltmer, Jochen (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2010, 3. Aufl., S. 141-170. 23 Ein Beispiel hierfür ist der zyklisch wiederkehrende Disput über den Islam in Deutschland, der insbesondere auf Gastarbeiter bezugnehmend Teil und Streitpunkt einer gegenwärtigen deutschen Öffentlichkeit geworden ist. Darüber hinaus gab es auch vor Ende des Zweiten Weltkrieges Migrationen, die bis heute bedeutsam sind, jedoch das öffentliche Interesse weniger berühren. 24 Vgl. Bade 1995; Benz, Wolfgang: Einwanderungsland Deutschland. Rückblick auf ein halbes Jahrhundert Migration, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Umgang mit Flüchtlingen. Ein humanitäres Problem, München 2006, insb. S. 93-98; Butterwegge, Carolin: Von der »Gastarbeiter«-Anwerbung zum Zuwanderungsgesetz. Migrationsgeschehen und Zuwanderungspolitik in der Bundesrepublik, in: Bade, Klaus J./Oltmer, Jochen: Normalfall Migration, ZeitBilder, Bd. 15, Bonn 2004. 25 Vgl. Benz 2006, S. 93.

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erfahrenen Fluchtbewegungen konstatierte der Parlamentarische Rat bei der Erarbeitung des Grundgesetzes die Notwendigkeit, einen Asylrechtsartikel einzufügen (Art. 16), der zum einen die Öffnung Deutschlands zeigen und zum andern die erfahrene Aufnahmebereitschaft gegenüber Geflüchteten aus Deutschland honorieren und anderen Schutzsuchenden zuteilwerden lassen sollte. Auch die internationale Gemeinschaft entschied sich 1951 für eine supranationale Regelung des Flüchtlingsrechts, die in Form der GFK umgesetzt wurde. Die Kontrolle und Koordination von Migrationsbewegungen und die Verantwortung für Geflüchtete sollte so auf einen gemeinsamen völkerrechtlichen Nenner gebracht werden. Das Prinzip des Non-Refoulement, das die Konvention vorschreibt, beinhaltet das Recht, überall Asyl zu beantragen, woraus jedoch kein Schutz gemäß nationalen Asylrechts hervorgehen muss. Indem das Non-Refoulement aber die Zurückweisung in das Herkunftsland bei drohenden Menschenrechtsverletzungen für Asylsuchende untersagte, erhielten jene, deren Antrag abgelehnt wurde, zumindest ein de-facto-Recht auf Asyl, nämlich Schutz im Sinne der GFK. Die Staaten versuchten diese Situation durch Assimilation der Geflüchteten zu ihren Gunsten zu nutzen. So wurden entsprechenden Geflüchteten auch staatsbürgerliche Rechte gewährt.26 Neben der GFK konstatiert die ein Jahr zuvor verabschiedete Europäische Menschenrechtskonvention das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung in Art. 3, so dass europäische Grenzbehörden Geflüchtete nicht uneingeschränkt aus- oder zurückweisen konnten. Dennoch: In der EU herrschten 15 verschiedene Migrationsregimes,27 die von nationalstaatlichen Interessen geprägt waren.

26 Vgl. Caestecker, Frank: Tradition und Tendenzen europäischer Flüchtlingspolitik, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Umgang mit Flüchtlingen. Ein humanitäres Problem, München 2006, S. 76f. 27 Vgl. ebd., S. 77-79. Der Regimebegriff stammt aus der politikwissenschaftlichen Diskussion und versucht, ein Regelwerk außerhalb einer nationalstaatlichen Ordnung zu beschreiben, in dem temporär vorhandene »Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren« herrschen. Mit den Begriffen Migrationsregime und Grenzregime wird demnach die Bedeutung zum Ausdruck gebracht, dass hier politische Systeme existieren und politische Akteure interagieren, die nicht allein staatlicher Souveränität unterliegen und die den Nationalstaaten damit die prioritäre Rolle als politische Gestalter (hier bezüglich Migration und Grenzräumen) absprechen. Dieses Phänomen wird im Sinne der Governance-(statt Government)Diskussion praktisch institutionalisiert, so beispielsweise mit der Grenzschutzagentur Frontex (vgl. Riedel, Sabine: Die Migrationspolitik der EU im Mittelmeerraum zwischen Sicherung der Außengrenzen und wirtschaftlicher Integration, in: Ruß-Satter, Sabine/Bender, Peter/Walter, Georg (Hg.): Europa und der Arabische Frühling. Deutschland, Frankreich und die Umbrüche der EU-Mittelmeerpolitik, Baden-Baden 2013, S. 122f.), dem Migrationsprogramm der Balkanstaaten MARRI oder der Internationalen

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In der BRD sorgte die wieder in Gang gekommene Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg für einen hohen Bedarf an Arbeitnehmern, insbesondere im Industriesektor. Diesen Bedarf deckte die Regierung über die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ab. Diese zweite Phase war die der »Gastarbeiter«, die zwischen 1955 und 1973 über die Anwerbeabkommen nach Deutschland kamen. Der Name war Programm: »Gastarbeiter« sollten als »Gäste« nur vorübergehend in Deutschland arbeiten und den Arbeitskräftemangel der deutschen Wirtschaft ausgleichen. Während die Arbeitsplätze deutscher Arbeitnehmer_innen zunehmend dem Wandel von einer industriellen in eine Dienstleistungsökonomie folgten, waren die »Gastarbeiter« für Arbeiten gefragt, die als körperlich belastend oder »schmutzig« galten. Sie »übernahmen während des Wirtschaftswunders, aber auch in Zeiten der Rezession wichtige Ersatz-, Erweiterungs- und Pufferfunktionen«.28 Das Ausländergesetz von 1965 ermöglichte die »Gastarbeit«, indem es den betreffenden Personen Aufenthalts- und Zuzugsgenehmigungen erteilte. Grundsätzlich sieht Carolin Butterwegge den politischen Umgang mit Ausländern und ihren Familienangehörigen jedoch von Restriktionen gekennzeichnet.29 Das Kernanliegen der »Ausländerpolitik« war die Arbeitsmarktpolitik. Der Ausspruch »Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen« von Max Frisch (1965) wurde gerade deshalb zum geflügelten Wort, weil darin die politische und gesellschaftliche Paradoxie zum Ausdruck kommt, dass die »Gastarbeiter« den deutschen Wohlstand garantierten, selbst jedoch in prekären Verhältnissen lebten und von staatsbürgerlichen Rechten ausgeschlossen wurden – anders als noch die »Heimatvertriebenen«. Als diese Situation ins Bewusstsein politischer Akteure gelangte, wurden erste zögerliche Versuche unternommen, um »Angebote zu ›sozialer Integration auf Zeit‹« und zugleich Anreize zur »›Erhaltung‹ beziehungsweise ›Förderung der Rückkehrbereitschaft‹« zu schaffen.30 Organisation für Migration (IOM), welche außerhalb parlamentarischer Entscheidungsfindungen umgesetzt werden und agieren. Vgl. Hess, Sabine/Karakayalı, Serhat: New Governance oder Die imperiale Kunst des Regierens. Asyldiskurs und Menschenrechtsdispositiv im neuen EU-Migrationsmanagement, in: TRANSIT MIGRATION Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Bielefeld 2007, S. 41f, 47-49. Hess und Karakayalı stehen diesen Regimentern skeptisch gegenüber, da diese »nicht-staatlichen Akteure in vielfacher Hinsicht eine wichtige Funktion als Wissensproduzenten [haben]« (S. 53), doch zum einen nicht demokratisch legitimiert sind und zum anderen von wissenschaftlichen Maßstäben unbeeinflusst ihre Funktion als Datenbank, Politikberater, Supervisor und think tanks, mit dem Ziel »moderner Regulationspolitik« ausüben. (S. 53). 28 Butterwegge 2004, S. 2; vgl. Sintenis, Monique: Nordafrika, in: Opitz, Peter J.: Der globale Marsch. Flucht und Migration als Weltproblem, München 1997, S. 249. 29 Vgl. Butterwegge 2004, S. 2f. 30 Bade 1995, S. 212f.

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In Folge des Ölpreisschocks kam es 1973 zu einer Weltwirtschaftskrise. Die damalige Bundesregierung stoppte die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich rund 2,6 Millionen ausländische Arbeitnehmer in Deutschland. Butterwegge datiert die Transformation Deutschlands vom Auswanderungs- zum de-facto-Einwanderungsland auf diese frühen Jahre der BRD.31 Die dritte Phase der Zuwanderung bezeichnet Klaus J. Bade als »unübersichtlicher«, da nun verschiedene zugewanderte Gruppen in Deutschland lebten,32 so auch »einheimische Ausländer und fremde Deutsche«.33 Als einheimische Ausländer bezeichnet er »Gastarbeiter«, die – teilweise ihre Familien nachziehend – ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland wollten. Mit »fremden Deutschen« sind dagegen »Aussiedler« aus Osteuropa gemeint, die aufgrund ihrer Abstammung verwaltungspolitisch als Deutsche anerkannt wurden, deren Anwesenheit jedoch immer wieder von Unbehagen auf Seiten der Aufnahmegesellschaft begleitet war.34 Darüber hinaus sind seit den 1980er Jahren verstärkt (Abbildung 3, S. 79) Geflüchtete aus dem globalen Süden, später auch aus Osteuropa zugewandert.35 Im Zuge der Erhöhung der Asylantragszahlen entstand eine flüchtlingsfeindliche Debatte, die auch von Medien und Politik befeuert wurde. Die aufgeheizt Stimmung führte 1993 zur Änderung des Art. 16 GG zu Art. 16a GG. Geflüchtete haben seither kaum Chancen, über diesen Grundrechtsartikel ein Bleiberecht in Deutschland zu erhalten.36

31 Vgl. Butterwegge 2004, S. 1. 32 Vgl. Bade 1995, S. 211-214. 33 Ebd., S. 214. 34 Vgl. Goebel, Simon: Weder Da- noch Dortsein. Wie die Hegemonie des Nationalen einen sinnvollen Begriff von »Heimat« verhindert, in: Koschyk, Hartmut/de Maizière, Lothar (Hg.): Wie viel Heimat braucht der Mensch? Auf der Suche nach einer Identität zwischen Russland und Deutschland. Ein studentischer Essaywettbewerb, Berlin 2014a, S. 46-50. 35 Bade 1995, S. 214f. 36 Dieser Kontext wird ausführlich und in Verbindung mit den Polittalk-Analysen in Kapitel 8.1.2. thematisiert.

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Abbildung 3: Asylanträge in der BRD zwischen 1953 und 2015 1955

1.926 16.284 3.112 2.785 2.267 2.980 2.722 2.550 3.238 4.542 4.337 4.370 2.992 5.608 11.664 8.645 5.388 5.289 5.595 9.424 9.627 11.123 16.410 33.136 51.493

1960

1965

1970

1975

1980

107.818 49.391 37.423 19.737 35.278 73.832 99.650 57.379 103.076 121.315

1985

1990

193.063

256.112

1995

2000

2005

2010

2015 0

100.000

200.000

438.191

322.599

127.210 166.951 149.193 151.700 143.429 138.319 117.648 118.306 91.471 67.848 50.152 42.908 30.100 30.303 28.018 33.033 48.589 53.347 77.651 127.023 202.834

476.649 300.000

400.000

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl. Ausgabe Dezember 2015 (12.01.2016), S. 3.

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Mitte der 1990er Jahre änderte sich laut Bade die Perspektive auf die Migrations- und Flüchtlingsdebatten – jedoch nicht zum Besseren. Weiterhin sei das Verhältnis von Einheimischen und Einwanderern konfliktträchtig, von Misstrauen und Angst geprägt und Bade schrieb 1995 fast resigniert: »Der Sensationswert fremdenfeindlicher Gewalt ist gesunken. Fremdenfeindliche und allgemein gegen Minderheiten gerichtete Gewalttaten, die sich noch immer ereignen und die noch vor wenigen Jahren allgemeines Entsetzen erregt hätten, werden, wenn überhaupt, in der Berichterstattung eher beiläufig annotiert wie eine Art gesellschaftliche Unfallstatistik. Polizeisprecher und um den Ruf ihrer Gemeinden besorgte Kommunalvertreter sind bemüht, ›ausländerfeindliche Hintergründe‹ zu dementieren oder doch als ›nicht nachweisbar‹ zu kennzeichnen. An die Stelle von Alarmismus und Hysterie traten politisches Desinteresse und gesellschaftliche De-Sensibilisierung.«37

Aufgrund der ablehnenden Haltung gegenüber Geflüchteten forderte Bade mit Blick auf die europäische Ebene ein Migrations-Steuerungs-Konzept, das nicht im Sinne einer »Festung Europa« zu einer defensiven Sicherheitspolitik verkommt, sondern u.a. Geflüchteten Schutz bietet und Fluchtursachen in den Herkunftsregionen bekämpft. Dabei sei ein nationales oder supranationales Eigeninteresse zwar miteinzubeziehen, auf keinen Fall jedoch gegen Migrationen aufzurechnen und entgegenzusetzen.38 Gerda Heck stellt fest, dass ein solcher supranationaler Paradigmenwechsel in der europäischen Migrationspolitik Mitte der 1990er Jahre zumindest behauptet wurde. So wurde der als restriktiv konnotierte Begriff »Migrationskontrolle« von dem ökonomisch ausgerichteten Begriff »Migrationsmanagement« abgelöst.39 »Tatsächlich«, so Heck, »fand die Abkehr von einer restriktiven Migrationspolitik weniger eindeutig statt als weithin angenommen«.40 Es ist gut möglich, dass die Geschichtsschreibung aufgrund des Anstiegs der Asylantragszahlen seit 2011 eine vierte Phase der Einwanderung in die BRD konstatieren wird, in der wiederum spezifische Bedeutungskonstruktionen den öffentlichen Diskurs über Geflüchtete beherrschen. Um eben jene Bedeutungskonstruktionen zu produzieren oder aufrechtzuerhalten, werden Medien benötigt. Das Format »Polittalk-Sendung« fungiert in diesem Prozess als wichtiger Ideengeber und als Diskursplattform.

37 Bade 1995, S. 221. 38 Vgl. ebd., S. 222f 39 Vgl. Heck, Gerda: »Die beste Reise meines Lebens«. Migrationsmanagement und migrantische Strategien am Beispiel Marokkos, in: Kasparek, Bernd/Hess, Sabine (Hg.): Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin/Hamburg 2010, S. 44. 40 Ebd.

6. Polittalks als Forschungsgegenstand

6.1 H ISTORIE

DES

P OLITTALK -F ORMATS

Der Beginn des Talkshow-Formats wird gemeinhin mit der US-amerikanischen Hörfunk-Sendung »Meet The Press« von 1945 in Verbindung gebracht, wobei Harald Keller darauf hinweist, dass Hörfunk allein aufgrund der Abwesenheit von Bild verbale Dialog- und Monologformen bereits früher verwendete bzw. verwenden musste.1 Die Sendereihe »Meet the Press« verweist bereits in ihrem Titel auf einen journalistischen und damit informationszentrierten Fokus. Das Format wurde 1947 von US-amerikanischen Fernsehsendern übernommen und audiovisuell umgesetzt. Keller merkt zudem an, dass die politische Relevanz der Sendungen zum Teil sehr hoch war, so dass auf die Ausstrahlung sonntagmorgens nicht selten Schlagzeilen in der gedruckten Tagespresse am darauffolgenden Montag folgten. Im Rahmen der in den 1950er Jahren erstarkenden Sender-Strategie des audience flow, welche darum bemüht ist, das Fernsehpublikum möglichst rund um die Uhr an das eigene Programm zu binden, wurde der Unterhaltungsaspekt immer wichtiger.2 Diese Logik, die bis heute Bestand hat, ist in erster Linie eine profitorientierte Unternehmensstrategie, die Unterhaltung will, weil Unterhaltung die Zuschauer_innen an das Programm bindet, wodurch Einschaltquoten erhöht werden, wodurch wiederum die Werbeeinnahmen steigen. Talkshows jeder Couleur wurden mit dem Zweck konzipiert, (auch) zu unterhalten. Ein Faktor, der die Unterhaltung ausmacht, ist die Live-Ausstrahlung, die eine gewisse Unvorhersehbarkeit der Geschehnisse impliziert und damit automatisch eine gewisse Spannung erzeugt.3 Ein Blick auf den deutschsprachigen Raum zeigt, dass die Anfänge des Hörfunks im Deutschen Reich der 1920er Jahre von pädagogischen und bildenden Inhalten mit

1

Vgl. Keller, H. 2009, S. 29f.

2

Vgl. ebd., S. 30-37.

3

Vgl. ebd., S. 34, 43.

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dem Ziel der »Volksbildung« gekennzeichnet waren.4 Unter der Aufsicht und Kontrolle eines staatlichen »Überwachungsausschusses« fanden erste Gesprächsrunden statt. Die nationalsozialistische Herrschaft nutzte das Radio in propagandistischer Weise und verwandte hierzu ebenfalls das Format der Gesprächsrunden. In der Nachkriegszeit waren Gesprächssendungen weiterhin gefragt; die Möglichkeit der offenen Auseinandersetzung im Hörfunk war ein Zeichen des Neubeginns einer demokratischen Öffentlichkeit.5 Im Jahr 1953 forderte der CDU-Rundfunkreferent das »Politische Forum« – eine Gesprächssendung im Hörfunk – mit einem Programm zu ersetzen, das die jeweilige Partei, die an der Reihe ist, selbst erarbeitet. So könnten neben Diskussionen auch monologisierende Reden und Vorträge gesendet werden. Keller gibt die Debatte über diese eigennützige Forderung wieder, wobei sich herausstellt, dass Sendungen als Monolog und damit ohne Streit und Konflikt schlicht auf wenig Interesse beim Publikum gestoßen waren.6 Der Aspekt der Unterhaltung war somit bereits bei den ersten politischen Diskussionsrunden im deutschen Rundfunk mit angelegt. Die Anfänge des Fernsehens (ab 1951) waren gekennzeichnet von dem Bemühen um Popularisierung, welche aus ökonomischen Gründen angestrebt wurde. Eine Strategie war es, bereits bekannte Persönlichkeiten – und diese kamen überwiegend aus dem Hörfunk – zu Wort kommen zu lassen.7 Dies zeigt einmal mehr die von Beginn an vorhandene grundlegende Motivation des Mediums Fernsehen und seiner Formate: die Eroberung und Formation eines neuen lukrativen Marktes, dessen Anziehungskraft und Wirkmächtigkeit die Unterhaltung ist. Auch der Moderator von Der Internationale Frühshoppen, Werner Höfer, verstand die unterhaltende Präsentation in Verbindung mit der Informationsvermittlung aktueller Themen als »Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Sendung.«8 Keller konstatiert mit Blick auf die Situation des deutschen Fernsehens in der Mitte der 1950er Jahre, dass das Genre der Gesprächssendung »bereits in diversen Gestaltungsvarianten«9 publiziert wurde und dass »bei all dem […] unterhaltende Aspekte nicht zu kurz [kommen]«.10

4

Ebd., S. 60.

5

Vgl. ebd., S. 60-77.

6

Vgl. ebd., S. 81-83.

7

Vgl. ebd., S. 89f.

8

Ebd., S. 113.

9

Ebd., S. 157.

10 Ebd.

P OLITTALKS ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND | 83

In den 1960er Jahren fand eine eher kontinuierliche Weiterentwicklung der Gesprächsformate statt. Neben Personalityshows wurden demnach zunehmend Jugendliche als Gesprächspartner gefragt und damit auch als Zielgruppe anvisiert.11 Der Begriff »Talkshow« fand damals nur vereinzelt Verwendung, er etablierte sich jedoch spätestens in den 1970er Jahren in Deutschland. Waren damit in den USA sämtliche Formen der Gesprächssendung gemeint, so wurden damit in Deutschland die zunehmenden unterhaltenden Gesprächssendungen tituliert und implizit von politischen Gesprächssendungen abgegrenzt. Letztere befanden sich in einer Krise, da das Format als überholt galt. Gleichzeitig erreichten neuere Formen der politischen Gesprächssendung nicht die erwünschte Aufmerksamkeit beim Fernsehpublikum. In den Jahren gesellschaftlicher Polarisierung von Meinungen in Politik und Gesellschaft kamen Forderungen auf, das Private stärker in den Blick zu nehmen, auch von Personen außerhalb des öffentlichen Lebens.12 Dies war der Startschuss für Fernsehshows im Sinne von Bekenntnisshows und Vorläufer heutiger Realityshows. Vor der Einführung des dualen Rundfunksystems 1984 widmeten sich Gesprächsrunden im deutschen Fernsehen größtenteils politischen Themen oder Themen von öffentlichem Interesse. Die 1984 neu hinzugekommenen privaten Sendeanstalten legten ihren Schwerpunkt noch stärker auf Unterhaltung und übernahmen häufig US-amerikanische Sendeformate. So auch die Daily Talks, in denen der Fokus auf individuellen und alltäglichen Lebensumständen der Gäste lag. Der Boom des Daily Talk Anfang der 1990er Jahre ebbte gegen Ende des Jahrzehnts wieder ab.13 Während Keller die erste erfolgreiche neuere Polittalk-Sendung auf Anfang der 1990er Jahre (Talk im Turm, Sat.1) datiert,14 sieht Christian Schmidt eine »Renaissance« des »Subgenres der Polittalks mit der Einführung der Sendereihe Sabine Christiansen am 4. Januar 1998 im Programm der ARD«.15 (Herv. i. O.) Dass die politische und vielfach gelobte Talkshow Talk im Turm von einem privaten Sender initiiert und produziert wurde, zeigt indes, dass die Logik des Fernsehens maßgeblich nicht nach inhaltlichen oder darstellenden, sondern nach ökonomischen Aspekten funktioniert. Sollte sich also eine politische Unterhaltungssendung ebenso gut verkaufen wie eine unpolitische Unterhaltungssendung, so steht der Ausstrahlung nichts im Wege. Umgekehrt sind die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gesetzlich verpflichtet, ihr Programm bis zu einem gewissen Grad mit bildenden, informativen und gesellschaftsrelevanten Themen zu füllen. Ein damit möglicherweise verbunde-

11 Vgl. ebd., S. 211-213. 12 Vgl. ebd., S. 262f. 13 Vgl. Schmidt, C. 2007, S. 20-22. 14 Vgl. Keller, H. 2009, S. 300-302. 15 Schmidt, C. 2007, S. 22.

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nes wirtschaftliches Risiko wird durch die Gebührenfinanzierung relativiert. Dies erklärt, warum es insgesamt mehr Sendungen mit politischen Inhalten in »den Öffentlichen« gibt. Neben der Historiographie sind für eine Polittalk-Analyse auch die funktionalen Bestandteile des Sendeformats von Interesse, die ihre je eigenen und sich gegenseitig beeinflussenden Charakteristika besitzen.

6.2 D IE

FUNKTIONALEN B ESTANDTEILE VON P OLITTALK -S ENDUNGEN

6.2.1 Typisierung Die Ausstrahlung von Polittalks erfolgt wöchentlich und live in einem Produktionsrahmen mit hohem Wiedererkennungswert (Studio, Jingles etc.). Neben den Gästen sind meist ein Studiopublikum sowie »die Schlüsselposition eines imagegenerierenden, identitätsstiftenden und publikumsbindenden Moderators« anwesend.16 In Polittalks wird eine gesamte Sendung lang über ein Thema gesprochen, auf das die Moderation immer wieder zurückkommt, wobei »das Publikum […] der eigentliche Adressat der Aussagen [ist]«.17 Die Entwicklung der Talkshow-Formate stellt Keller als eine Art Evolution dar. Als »übergeordnete Gattung«18 (Herv. i.O.) bezeichnet er die Show, während die Talkshow ein Genre dieser Gattung darstellt, welches sich wiederum in diverse Subgenres ausdifferenziert. Diese Subgenres sind die »politische Talkshow, Unterhaltungs-Talkshow, Prominenten-Talkshow, Ratgeber-/Lebenshilfe-Talkshow, Konfrontations-/Combat-/Streit-Talkshow, Bekenntnis-Talkshow, Late-Night-Show, Jugend-Talkshow«.19 Christian Schicha verwendet zusätzlich die Kategorie des kooperativen Gesprächs, wozu er die auch im Rahmen dieser Arbeit behandelte Sendung Beckmann zählt.20 Diese Art der Polittalk-Sendung zeichnet sich dadurch aus, dass dem Gast »die Bühne für seine Selbstdarstellungsrituale überlassen wird, ohne ihn durch Zwischenfragen unter Druck zu setzen oder mit einem Gegner zu konfrontieren«.21 Es soll wie ein vertrauliches, persönliches Gespräch wirken. Die analysierten

16 Tenscher 2002, S. 63. 17 Fahr 2009, S. 20. 18 Keller, H. 2009, S. 20. 19 Ebd. 20 Vgl. Schicha 2002, S. 223. 21 Ebd., S. 222.

P OLITTALKS ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND | 85

Beckmann-Sendungen sind jedoch teilweise konfrontativer als es in dieser Sendung üblich ist, was wiederum die Flexibilität des Sendeformats verdeutlicht. Andreas Dörner und Ludgera Vogt kategorisieren nach der Art und Weise der »Gesprächskultur«22: In der Debattenshow geht es demnach um Fragen von öffentlichem Interesse in größeren politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen. Die Gäste können meist eine thematisch passende Expertise vorweisen. Personalityshows konzentrieren sich inhaltlich mehr auf persönliche Geschichten prominenter Gäste, deren Motivation demensprechend auch die Selbstdarstellung ist. Schließlich werden in Bekenntnisshows vorwiegend emotionale Befindlichkeiten ausgetauscht. Die Gäste sind meist nicht oder kaum bekannt.23 Beispiele für die Debattenshow sind die auch in dieser Arbeit diskutierten Sendungen Anne Will oder Hart aber fair. Als Personalityshow wäre (in der Regel) die Sendung Beckmann zu bezeichnen. Beispiele für Bekenntnisshows (Daily Talk) sind rar geworden. Sie wurden zunehmend von den heute das Mittags- und Vorabendprogramm dominierenden Realityshows abgelöst. Auch Überschneidungen gibt es. So sind einzelne Günther Jauch-Sendungen mal als Debattenshow, mal als Personalityshow einzustufen. Der politische Aspekt tritt in dieser Typisierung in Debatten- und in Personalityshows auf – entweder indem das Thema politisch ist oder indem Gäste aus dem Umfeld der Politik kommen oder beides. Die Debattenshow bezeichnet das, was als politische Talkshow oder Polittalk im Sinne Kellers verstanden wird.24 6.2.2 Gäste Polittalks sind eine Plattform, auf der sich Politiker_innen und Meinungsmacher_innen präsentieren und damit ins Gedächtnis des Publikums gelangen können. Gerhard Vowe und Marco Dohle schreiben, dass »die politischen Akteure versuchen, insbesondere das Fernsehen für ihre Zwecke zu nutzen und dafür die Selektionskriterien, die Darstellungsformen und das Timing des Fernsehens akzeptieren [müssen]. Dies wiederum hat Folgen für die Rezeption von Politik durch die Bürger«.25 Politischer 22 Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera: Entertainment, Talkshow und Politikvermittlung in Deutschland, in: Nieland, Jörg-Uwe/Kamps, Klaus (Hg.): Politikdarstellung und Unterhaltungskultur. Zum Wandel der politischen Kommunikation, Köln 2004, S. 44. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. ebd.; Vogt, Ludgera: Die Talk-Kultur in Deutschland: Politik zwischen öffentlichen Berufs- und Privatrollen, in: Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera (Hg.): Unterhaltungsrepublik Deutschland. Medien, Politik und Entertainment, Bonn 2012, S. 112f. 25 Vowe, Gerhard/Dohle, Marco: Welche Macht wird den Medien zugeschrieben? Das Verhältnis von Medien und Politik im Spiegel der Mediatisierungsdebatte, in: Jäckel, Michael/Mai, Manfred: Medienmacht und Gesellschaft. Zum Wandel öffentlicher Kommunikation, Frankfurt a.M. 2008, S. 13.

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Erfolg basiert auf Bekanntheit und Popularität. Diese Form der Repräsentation erfordert die Beachtung spezifischer medialer Regeln, womit das Verhalten von in Medien agierenden Menschen zu einem gewissen Grad prädisponiert ist. Die Auswahl der Gäste wiederum ist ein Ergebnis redaktioneller Planung. Die Gäste werden entsprechend eines vorgeblich ausgewogenen Meinungsspektrums ausgewählt. Die Aussagen der Gäste lassen sich bis zu einem gewissen Grad voraussagen. Ihre Interaktion ist ausschlaggebend für den Unterhaltungsgrad einer Sendung. Auch sie planen ihren Auftritt und werden gleichzeitig für ein bestimmtes Verhalten konditioniert, wie die SPD-Politikerin Andrea Nahles angibt. Sie stellt einige wenige Verhaltensweisen heraus, die sie in ihrer bisherigen Laufbahn als PolittalkGast zu beachten gelernt hat. Aus ihren Aussagen ergeben sich einige interessante Aspekte für die vorliegende Arbeit. Nahles macht beispielsweise deutlich, dass mimische und gestikulierende Reaktionen immer mit Bedeutungen belegt sind und somit als nonverbale Kommentierung ausgelegt werden müssen; mit einer Ausnahme: unprofessionelle Gäste. Dies könnten Personen sein, die noch nie oder selten in Fernsehsendungen waren26 und die kein Mediencoaching absolviert haben, welches laut Bruno Jonas einen gelassenen und souveränen Gestus fördert. Als kritischer Medienbeobachter stellt er fest, dass Polittalk-Gäste häufig nicht über eine Frage nachdenken, sondern bereits vor der Frage ihre Antwort parat haben. Dabei würden u.a. Strategien eingeübt, die nicht unbedingt argumentativ auf Vorredner_innen eingehen, sondern vor allem die eigene Person und Partei positiv herausstellen. Konfrontationen, so Jonas, würden für diejenige Person positiver ausgehen, die sich als Opfer, mit dem man Mitleid hat, in Szene setzen kann.27 »Überspitzt gesagt handelt es sich bei den Debattenshows häufig um ein Medium der Repräsentation und der Selbstthematisierung der politischen Klasse.«28 Nonverbale wie verbale Regungen verschaffen einer Person die Chance, die Aufmerksamkeit der Kamera(leute) und der Moderation auf sich zu ziehen, weshalb dies sehr gezielt eingesetzt wird. Das bedeutet, dass Mimik in der Regel gezielt angewendet wird und damit als Artikulationsmittel analysiert werden kann. Nahles erwähnt außerdem das äußere Erscheinungsbild weiblicher Talk-Gäste. Kleidung könne zielgerichtet eingesetzt werden, um beispielsweise Kompetenz zu signalisieren.29 Tanja Thomas hat in ihren Talkshow-Analysen verschiedene Argumentationsstrategien beobachtet und dargelegt. So wird die Verantwortung für politische 26 Vgl. Nahles, Andrea: Die Kamera sieht alles – Wie frau sich in Polit-Talkshows verhalten sollte, in: Michel, Sascha/Girnth, Heiko (Hg.): Polit-Talkshows – Bühnen der Macht. Ein Blick hinter die Kulissen, Bonn 2009, S. 174. 27 Jonas, Bruno: Glücksmomente, in: Michel, Sascha/Girnth, Heiko (Hg.): Polit-Talkshows – Bühnen der Macht. Ein Blick hinter die Kulissen, Bonn 2009, S. 50. 28 Dörner/Vogt 2004, S. 46. 29 Vgl. Nahles 2009, S. 174f.

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Schwierigkeiten dem politischen Gegner zugeschrieben.30 Im Umkehrschluss würde von den Gästen häufig behauptet, »die schweigende Mehrheit« der Menschen zu vertreten – auch gerne versehen mit konkreten Prozentzahlen, die das untermauern sollen.31 Mit der Aussage, die Mehrheit – oder generalisierender »das Volk« – zu vertreten, wird auf eine »Wir«-Gruppe rekurriert, was Thomas als »häufig zu beobachtendes sprachliches Phänomen« und einen »›Kernbereich‹ des offiziellen politischen Sprachgebrauchs« bezeichnet.32 Meinungen von Prominenten – auch aus dem Showbereich – erscheinen dem Publikum häufig als glaubwürdig, ungeachtet der jeweiligen tatsächlichen Sachkompetenz der Person, so dass allein aufgrund der Prominenz eine Meinungsführerschaft entsteht, die auch in der medialen Verflechtung von Politik und Unterhaltung zu spezifischen Wirklichkeiten beiträgt.33 Dabei sind Talkshows als fernsehmediales Produkt auch von den technischen Produktionsbedingungen geprägt. 6.2.3 Redaktion und Moderation Entscheidender als die Gäste sei laut Dörner und Vogt die Instanz der Moderation. Ihre Fähigkeit entscheidet laut Dörner und Vogt darüber, ob die Diskussion gut strukturiert ist, ob ein roter Faden existiert und wie unterhaltsam und spannend die Sendung gestaltet ist. Die Sachkenntnis von Moderator_innen bestimme maßgeblich das Niveau der Gespräche. Schließlich erteilen oder entziehen sie den Gästen das Wort, um Redebeiträge aller Gäste gleichberechtigt zu ermöglichen.34 Die Redaktion und mit ihr der Moderator oder die Moderatorin planen die Sendung inhaltlich und technisch. Stuart Hall hat die Rolle »des Rundfunksprechers« als »interessant und wichtig« beschrieben, jedoch nicht maßgebend für den ideologischen Verlauf einer Sendung, da die Rundfunksprecher_innen die von anderen getätigten Aussagen bloß reproduzierten und damit »[u]nwissentlich und unbewusst […] die Reproduktion eines dominanten ideologischen Diskursfeldes unterstützt« hätten.35 Diese Darstellung Halls greift zu kurz, da die redaktionelle Konzeptionen und insbesondere auch die Produktion der Einspieler ideologische Implikationen tragen und das Gespräch richtungsweisend beeinflussen. Die Erteilung und der Entzug des Wortes an einem bestimmten diskursiven Punkt kann daher auch Rückschlüsse auf die ideologische Verortung der Redaktion bzw. der Moderation liefern. 30 Vgl. Thomas 2003, S. 358. 31 Vgl. ebd., S. 359. 32 Ebd., S. 360. 33 Vgl. Dörner/Vogt 2004, S. 47. 34 Vgl. Schicha 2002, S. 215f. 35 Hall 1982, zitiert nach Scannell 2011, S. 270.

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Die Moderator_innen schneiden in medialen Rezensionen und wissenschaftlichen Kommentaren häufig nicht gut ab. Dörner und Vogt beispielsweise schreiben, dass es deutschen Polittalk-Moderator_innen an »Widerständigkeit und Hartnäckigkeit« mangelt, wodurch keine argumentativen Auseinandersetzungen entstehen.36 6.2.4 Studiopublikum Offensichtlich war Studiopublikum 1989 noch nicht die Regel in politischen Gesprächsrunden. So schreibt der ehemalige Moderator Wolf Schneider damals: »Mich stört […], daß die meisten Gesprächsrunden in einem sterilen Raum stattfinden, also in der widernatürlichen Atmosphäre, daß man zwar zu Millionen spricht, aber kein Echo bekommt in Form von Beifall, Gelächter, Murren, Pfeifen oder jenem steigenden Geräuschpegel, der sinkendes Interesse signalisiert.«37

Dies trifft heute nur noch selten zu. In den in dieser Arbeit analysierten Sendungen sind Beckmann und Menschen bei Maischberger ohne Studiopublikum. Ansonsten spielen neben Moderation und Gästen einer Polittalk-Sendung die im Studio anwesenden Zuschauer_innen eine gelegentlich bedeutende Rolle – eben aufgrund der Merkmale, die Schneider noch vermisste. In Form von Applauslautstärke, Applauslänge, Gelächter oder Raunen kann das Publikum auditiv direkt auf die Interaktion der Talkrunde Einfluss nehmen. Das Bezeugen von Zustimmung oder Ablehnung durch den Applaus kann bei kontroversen Themen für die Gesprächsteilnehmer_innen fördernd, gefährdend oder irritierend wirken und zu weiteren kommunikativen Reaktionen führen. Auf die Redebeiträge der Gäste reagiert das Studiopublikum sehr heterogen. So ist zu beobachten, dass teilweise nur wenige Gäste zustimmend applaudieren, während andere ihre Zustimmung verweigern. Dies liegt mitunter daran, dass Talkshow-Gäste – wie aus einem Interview mit dem FDP-Politiker Wolfgang Kubicki hervorgeht38 – Personen als Studiopublikum mitbringen können und diese unter Umständen auch entsprechend instruieren, an den »richtigen« Stellen zu klatschen oder dem politischen Gegner den Applaus zu verweigern.39 36 Dörner/Vogt 2004, S. 45f. 37 Schneider, Wolf: Moderatorennöte – Moderatorenkünste, in: Holly, Werner/Kühn, Peter/Püschel, Ulrich (Hg.): Redeshows. Fernsehdiskussionen in der Diskussion, Tübingen 1989, S. 143. 38 Vgl. Maier, Anja: »Mir sind Frauen lieber«. Kubicki über Talkshow-Debatten, in: taz.de (08.06.2013). 39 Beispielsweise bei Anne Will: Das Studiopublikum applaudiert nach einer Äußerung von Klaus Töpfer, die sich vor allem gegen Roger Köppel richtet. Drei nebeneinandersitzende Personen applaudieren nicht. Die in der Mitte der drei Personen sitzende Frau verschränkt

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6.2.5 Technik Bei audiovisuellen Produkten muss sich eine qualitative Analyse des konstruierten Charakters und der prätendierten Authentizität der auditiven und visuellen Ebene bewusst sein, die Bedeutungen dieser einzelnen Elemente interpretieren und »sich gründlich mit den visuellen Ausdrucksmitteln und Konventionen auseinander[…]setzen«.40 Da Polittalks ein hohes Maß an Authentizität erreichen wollen, kann von den fiktionalen Anteilen schon fast als klandestine Fiktionalität gesprochen werden. Zwar wird die Live-Übertragung, wie sie beispielsweise bei Anne Will gehandhabt wird, als Zeichen der Authentizität propagiert, doch wird auch live das Hier und Jetzt (direkte Interaktion im Studio) von einem Hier und Dort (Fernsehpublikum) überlagert. Die Produktionsseite plant, organisiert, strukturiert, zeichnet auf und sendet das Ereignis, so dass die Distanz vom Studio zum Fernsehapparat zwar überwunden wird, jedoch die tatsächlichen Betrachtungsmöglichkeiten im Studio durch die produktionsspezifische und technische Bearbeitung stark reduziert und kanalisiert werden. Da die technischen Rahmenbedingungen von Rezipient_innen nicht direkt wahrgenommen werden können, spricht Schicha von einer subtilen Vermittlungsleistung durch Polittalk-Sendungen. Eine Gesprächsrunde ist eine sehr bewegungsarme Situation, welche durch die technischen Möglichkeiten der Kameraführung »bewegt« wird: »Faktisch arbeitet die Talkshowregie mit einer Reihe subtiler Mechanismen, die durch die perfekt inszenierte Kameraführung dramaturgisch aufbereitet werden. Die Körpersprache wird bis zur Darstellung der Schweißperle auf der Stirn eines Diskutanten ›erbarmungslos‹ festgehalten.«41 Die Aufgabe der Kamera ist das Einfangen nonverbaler Kommunikation. In Gesprächsrunden hat sie drei bedeutungsproduzierende Funktionen. Sie versucht durch Nahaufnahmen – z.B. von einem Gesicht – affektive Reaktionen sichtbar zu machen. Indem eine andere als die sprechende Person gefilmt wird, z.B. jene Person, die angesprochen wird, oder eine Person, die ablehnende Reaktionen zeigt, wird Interaktion visualisiert. Unter Kommentar ist die Einstellung zu verstehen, die eine andere Person als die Sprechende zeigt, die aber demselben Meinungsspektrum zuzurechnen ist, und von der somit bestätigende (nonverbale) Reaktionen zu erwarten sind.42

außerdem ihre Arme, was ein weiteres Signal für ihre Ablehnung der Äußerung Töpfers darstellt. Anne Will: Terror, Tote, Flüchtlinge – Wer stoppt den irren Gaddafi? ARD, 27.02.2011, 0:49:57. 40 Keifenheim, Barbara: Der Einsatz von Film und Video, in: Beer, Bettina (Hg.): Methoden ethnologischer Feldforschung, 2. Aufl., Berlin 2008, S. 277. 41 Schicha 2002, S. 216. 42 Vgl. ebd., S. 217.

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Durch die Einstellungsgrößen der Kamera können menschliche Reaktionen wie Nervosität, Wut, Freude etc. aufs Eindringlichste eingefangen werden.43 Im Regieraum werden alle verfügbaren Kamerabilder auf verschiedenen Bildschirmen angezeigt. Die Regie wählt in Echtzeit jene Bilder aus, die sie aus dramaturgischen und unterhaltenden Gründen im Moment für geeignet ansieht und weist ihre Mitarbeitenden an, welches Bild gesendet werden soll. Dies führt zu der in Polittalks gelegentlich beobachtbaren Situation, dass Reaktionen von Gästen einen kurzen Moment zu spät gezeigt werden, ja die Reaktion im schlechtesten Fall bereits vorbei ist. Die Regie hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Bedeutungsproduktion der visuellen Darstellung.44 6.2.6 Einspieler Die Technik ermöglicht der Moderation das zwar geplante, aber im Sendungsverlauf spontane Abrufen eines Einspielers. »Damit bietet sich ihm [dem Moderator, Anm. d.V.] unter anderem die Möglichkeit, die Auskünfte seiner Gäste zu be- oder zu widerlegen oder widersprüchliche Angaben zu entlarven. Eine neue Art von Konfrontations-Talk also […].«45 Die Einspieler sind fester Bestandteil in Polittalks. Sie bringen mehrmals pro Sendung neue Aspekte ein oder sollen bereits Diskutiertes mit Fakten unterstützen oder widerlegen. Sie ermöglichen es der Moderation Tatsachen zu präsentieren und thematische Schwerpunkte zu setzen, die bereits im Voraus redaktionell geplant und erarbeitet wurden. Einspieler sind stets dokumentarisch konzipiert, d.h. sie geben den Eindruck hoher Authentizität bei niedriger oder keiner Fiktionalität.46 Dieses Selbstverständnis, mit Einspielern die Wirklichkeit zu repräsentieren, belegt auch die Hinführung Anne Wills auf einen Einspieler in der Sendung »Terror, Tote, Flüchtlinge – Wer stoppt den irren Gaddafi?« vom 27.02.2011. Will sagt: »[…] ich […] will unsere Zuschauerinnen und Zuschauer aber nochmal auf den Stand bringen […].«47 So soll eine Diskussionsgrundlage geschaffen und Zuschauenden der Kontext erklärt werden. Unhinterfragt werden die Einspieler als Tatsachen vorgestellt. Ihre immanente Perspektive wird nicht thematisiert. Das Zusammenspiel all dieser beschriebenen Funktionsmechanismen führt zu einem Produkt, das immer auch aufgrund seiner Diskrepanz zwischen Information und Unterhaltung diskutiert werden muss.

43 Jonas 2009, S. 50. 44 Vgl. ebd. 45 Keller, H. 2009, S. 375. 46 Vgl. Hißnauer, Christian: Fernsehdokumentarismus. Theoretische Näherungen, pragmatische Abgrenzungen, begriffliche Klärungen, Konstanz 2011, S. 41f. 47 Anne Will 27.02.2011, 0:38:20.

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6.3 I NFORMATION , U NTERHALTUNG UND EIN POPULÄRES S ENDEFORMAT Keller zitiert einen Nachruf auf die im Sommer 2006 eingestellte Sendung Sabine Christiansen aus der Berliner Zeitung, der einmal mehr das Unpolitische in der politischen Talkshow schlechthin kenntlich macht: »Vom Börsenboom bis zum rot-grünen Neuanfang, vom Zusammenbruch der Twin Towers in New York bis zu George Bushs Kampf gegen die ›Achse des Bösen‹ reduzierte diese Sendung alles Ungemach auf das handhabbare Maß eines Gesprächsabends.«48 Die Frage, wie sehr politische Sendungen unterhaltend sind, ist bedeutsam für eine Perspektive der Cultural Studies, da eine Einordnung des Forschungsgegenstands als alltagskulturelles Phänomen in Abgrenzung zu einer imaginierten Hochkultur die Untersuchung legitimiert. Bruno Jonas meint, dass eine Polittalk-Sendung dann »[a]m unterhaltsamsten ist […], wenn sich die Gäste richtig fetzen und alle aufeinander einprügeln«.49 Zweifelsohne sollen Polittalks die Zuschauer_innen unterhalten. Dies wurde bereits in der Historie des Sendungsformats deutlich. Das Fernsehen beruht auf der fesselnden und programmbindenden Wirkung von Unterhaltung. Da Fernsehen (auch das öffentlichrechtliche) auf Werbeeinnahmen angewiesen ist, müssen Einschaltquoten vorgewiesen werden, die Werbetreibende locken und dadurch Einnahmen für die Sender sichern. Und Polittalks können durchaus hohe Einschaltquoten vorweisen.50 Diese hohen Einschaltquoten können nicht erzielt werden, wenn sich Polittalk-Sendungen einem rein informationsinteressierten Publikum zuwenden würden und Unterhaltungsaspekte ignorierten. So schreibt Schmidt: »Durch die unterhaltsame Präsentation erreicht der öffentliche Schlagabtausch […] auch jene Bürger, die sich wenig für Politik interessieren oder sich ganz bewusst von ihr abwenden und bindet sie wieder in den aktuellen Diskurs mit ein.«51

48 Klaudia Wick, zitiert in Keller, H. 2009, S. 304. 49 Jonas 2009, S. 51. 50 Die Sendung Sabine Christiansen (1998-2007) hatte einen durchschnittlichen (!) Marktanteil von 17,8 %, was 4,71 Millionen Zuschauenden entspricht. Vgl. Fahr 2009, S. 19. Die hohen Einschaltquoten von Polittalks bestätigen auch Vogt 2012, S. 112 und Tenscher 2002, S. 56. 51 Schmidt, C. 2007, S. 30. Die Einbindung in einen Diskurs ist überwiegend passiver Art. Jedoch bieten sämtliche Polittalks Anschlussdiskussionen an eine Sendung auf ihren jeweiligen Websites an, vereinzelt erklären sich Gäste einer solchen Sendung auch zu anschließenden Live-Chats bereit, um mit Interessierten zu diskutieren. Einige Rezipient_innen machen von diesen Möglichkeiten Gebrauch, jedoch insgesamt eine kleine Minderheit. So bleibt die Macht des Diskurses auf den Fernsehbildschirm gebannt. Dort finden die öffentlichkeitswirksamen Artikulationen statt.

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Mit einer Studie zur Rationalität der in Polittalks enthaltenen Argumentationen versucht Schultz zu zeigen, dass die vielfältige Kritik an eben diesen Sendungen von zu hohen normativen Ansprüchen ausgeht.52 Er sieht in Polittalks eine Bereicherung für das Habermassche Konzept einer deliberativen Demokratie: »Aus der Perspektive einer soziologisch gedämpften deliberativen Öffentlichkeitstheorie können Polit-Talks, wenn sie ernst genommen werden und sich der Blick nicht von vornherein und ausschließlich auf ihre problematischen Parts richtet, durchaus einen vernünftigen Beitrag zur politischen Kommunikation leisten. Indem sie unterschiedliche Akteure mit ihren voneinander abweichenden, teils sich ergänzenden, teils sich widersprechenden Perspektiven und Argumentationen zusammenbringen und eine Zusammenschau organisieren, dienen sie noch unabhängig von etwaigen weiter reichenden Lerneffekten der Orientierung und Information des Publikums.«53

Jedoch weist die Studie von Schultz keinerlei inhaltsanalytische Beobachtungen auf. So zeigt sich aus dem Codebuch im Anhang seiner Studie, dass lediglich die Art und Weise der Kommunikation Eingang in die Untersuchung fand.54 Damit kann er der Form nach erkennen, dass zwei Sprecher nicht einer Meinung sind, zum Beispiel wenn der eine Atomkraftwerke sofort abgeschaltet haben will, sein Gegenüber jedoch erst in acht Jahren. Inhaltlich sind die Meinungen dieser beiden Sprecher jedoch nicht weit voneinander entfernt. Denn beide wollen Atomkraftwerke (früher oder später) abschalten. Das heißt, dass Schultz die analysierten Talkshows allein aufgrund ihrer äußeren Form als diskursiv und informativ einschätzt und nicht aufgrund ihrer dominanten Bedeutungskonstruktionen. Seine Kritik an Medienkritikern läuft ins Leere, wenn er die Essenz politischer Gesprächsrunden außer Acht lässt und ihm die Bedeutungen entgehen. Sein Zugang zu Polittalks ist kommunikationswissenschaftlich und quantitativ angelegt. Dies kann im Hinblick auf den Inhalt im Allgemeinen und auf inhaltliche Konnotationen, Assoziationen und Subtilität im Besonderen kaum gewinnbringend sein. Darüber hinaus spricht er in seinem Zitat von einer »soziologisch gedämpften deliberativen Öffentlichkeitstheorie« und er verknüpft das Ernstnehmen von Polittalks damit, nicht »ausschließlich« die »problematischen Parts« in den Blick zu nehmen. Erstens: Von einer »soziologisch gedämpften deliberativen Öffentlichkeitstheorie« kann keine Rede sein. Wenn »soziologisch gedämpft« eine Theorie beschreibt, die aufgrund sozialer Realitäten ihre theoretisch fundierte Urteilskraft relativiert, dann kann nicht mehr von einer deliberativen Öffentlichkeitstheorie gesprochen werden. Diese zeichnet sich durch die Annahme eines Idealzustandes aus, dessen Erreichen zumindest angestrebt werden sollte, um emanzipatorisch wirksam zu 52 Vgl. Schultz 2006, S. 299-315. 53 Ebd., S. 316f. 54 Vgl. ebd., 323-362.

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sein. Zweitens kann insofern gar nicht umhin gegangen werden die »problematischen Parts« in Polittalks zu dekonstruieren, da nur so kritische und widerständige Aussagen folgen können. Eine schlichte Akzeptanz der rezipierten Sendungen käme einer Genügsamkeit gleich, die jedweden deliberativen Diskurs entbehren würde. Im Selbstverständnis der Sendeanstalten und Sendungen wird von einem wichtigen Beitrag für gesellschaftsrelevante Themen ausgegangen: »Sendungen wie Sabine Christiansen oder Berlin Mitte wollen nach ihrem Selbstverständnis und ihrer Aufnahme beim Publikum einen wesentlichen Beitrag zur Diskussion leisten und so ist es nicht verwunderlich, dass auch von Seiten der Wissenschaftler und Experten an solche Gesprächsrunden normative Ansprüche und Erwartungen gestellt werden.«55 (Herv. i.O.)

Diese Ansprüche werden jedoch häufig nicht erfüllt und so ist Kritik an Polittalks allgegenwärtig. Meist basiert sie auf der Sorge vor zu großem Einfluss der Unterhaltung auf die Information.56 Was andere als Politainment preisten, sei in Wirklichkeit eine Inszenierung von Politik, die zu einer Entpolitisierung des Politischen führe, während reale Politik gar nicht in der Öffentlichkeit stattfinde, meint Christian Schmidt.57 Jens Tenscher, der Medienforschung mit politikwissenschaftlichem Fokus betreibt, bezeichnet die Entwicklung zur dauernden Präsenz von Politik und Politiker_innen in Polittalks als »Talkshowisierung des Politischen«.58 Dass der Auftritt in Polittalks für Personen der Öffentlichkeit und insbesondere für Politiker_innen auch Teil einer Strategie ist, die eigene Person zu vermarkten, liegt nahe. Die Repräsentant_innen in einer repräsentativen Demokratie benötigen öffentliche Aufmerksamkeit, um ihre Interessen durchzusetzen und ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen. Ulrich Saxer spricht hier von der Entstehung einer »Mediendemokratie«.59 Die meist kommunikations- und medienwissenschaftlich ausgerichteten Arbeiten wie jene von Tenscher, Schicha und Fahr erzielen ihre Erkenntnisse in der Regel aus quantitativen Erhebungen, in denen sie beispielsweise Attribute wie Humor oder Kontroverse zählen, um so wiederum Zuschauer_innen oder Sendungsformate zu kategorisieren.60 Für die vorliegende Arbeit sind diese Studien als Grundlage wichtig, da sie funktionale Medien-Rezipient_innen-Wirkungsgefüge aufzeigen und da Kategorisierungen hilfreich sein können, um daran anzuknüpfen. Um zu erkennen, wie ein bestimmter Diskurs verhandelt wird, welche normativen Strukturen dabei geteilt

55 Schmidt, C. 2007, S. 29; vgl. auch Dörner/Vogt 2004, S. 45. 56 Vgl. Renger 2008, S. 270. 57 Vgl. Schmidt, C. 2007, S. 31. 58 Tenscher 2002, S. 56. 59 Vgl. Saxer 2007, S. 81ff. 60 Vgl. Fahr 2009, S.134ff

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und welche Wissensbestände produziert und reproduziert werden, bedarf es allerdings eines anderen, qualitativen Zugangs. Polittalks haben bisher keine Beachtung von Seiten der Cultural Studies erfahren. Dies mag daran liegen, dass Polittalk-Sendungen – anders als Bravo-Hefte oder James-Bond-Filme – erst auf den zweiten Blick als Teil der populären Kultur begriffen werden. Polittalks scheinen vordergründig meist als Institution im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags verstanden zu werden, womit bildungsbürgerliche und hochkulturelle Eigenschaften assoziiert sind, während ihre alltagskulturellen Implikationen kaum wahrgenommen werden. Tatsächlich aber sind auch Polittalks eine mit allen Mitteln der Medienkunst inszenierte und auf Entertainment geeichte, für den Konsum produzierte mediale Ware. Ludgera Vogt nennt die Unterhaltung des Publikums die »primäre Funktion« des Talk-Formats.61 Aus einer medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektive unterscheiden Dörner und Vogt zwischen unterhaltender Politik und politischer Unterhaltung, um deutlich zu machen, dass die unterhaltende Komponente aus zwei Richtungen aufwarten kann – und in der Praxis nicht selten aus beiden Richtungen aufwartet. Die unterhaltende Politik geht demnach von der Politik aus, die sich unterhaltender Strategien bedient, um die Gunst der Wähler_innen zu erlangen und so die eigene Macht zu sichern oder zu erweitern. Politische Unterhaltung findet dagegen von Seiten der Unterhaltungs-Produktion im unternehmerischen Sinne statt.62 Unterhaltungsprodukte, zum Beispiel eine Fernsehsendung, werden mit politischen Inhalten versehen und sollen dadurch Anziehungskraft für eine politisch interessierte Zielgruppe ausüben. Dabei ist die Präsentation politischer Inhalte nicht das eigentliche Ziel der Produzent_innen, sondern die »Hauptsache bleibt der Erfolg auf dem massenmedialen Markt«.63 Auch die Kombination beider Strategien wird eingesetzt, wobei beide Seiten von der jeweils anderen zu profitieren hoffen. Jede dieser möglichen Kombinationen aus Politik und Unterhaltung geht jedoch mit einer Simplifizierung von Politik einher.64 »Politik im Unterhaltungsformat stellt immer eine personalisierte und auf einfache Grundkonstellationen reduzierte Wirklichkeit dar. Einfach Erzählungen, Anekdoten und pointiert zugespitzte Aussagen bilden den Normalmodus der unterhaltenden Politik. In dieser Reduktion liegen zweifellos Verzerrungen und Verkürzungen dessen, was die Komplexität der Politik in der

61 Vogt 2012, S. 112; damit stimmen auch Michel und Girnth überein, die von »Wortgefechten« und »den peitschenschwingenden Magistraten Illner, Plasberg oder Will« schreiben, vgl. Michel/Girnth 2009, S. 12. 62 Vgl. Dörner/Vogt 2004, S. 40f. 63 Ebd., S. 41. 64 Vgl. ebd.

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außermedialen Realität ausmacht. All das, was sich dem Format unterhaltender Politikpräsentation nicht fügt, wird in der Regel ausgeblendet. Diesem Manko steht jedoch eine Veranschaulichung und Verlebendigung der politischen Welt gegenüber.«65

Rudi Renger befasst sich in einem Aufsatz aus dem Jahr 2000 mit dem populären Journalismus und betritt damit Neuland. Kulturwissenschaftliche Ansätze verstanden Journalismus bisher als nicht-populär, was zur Folge hatte, dass das Interesse an journalistischem Forschungsmaterial gering war. Renger geht jedoch davon aus, dass sich die Charakteristika journalistischer Formate einerseits und boulevardesker Formate andererseits in der Praxis vermischen, so dass von einem populären Journalismus die Rede sein müsse.66 Er versteht »Journalismus weniger als Aufgabe einer funktionalen Informationsleistung […], sondern vielmehr als Leistung von textueller Bedeutungsproduktion sowie als öffentliche Orientierung und soziale Konstruktion von Wirklichkeit«.67 (Herv. i.O.) Renger bezieht sich in seiner Auseinandersetzung auf den Cultural-Studies-Ansatz. Er schreibt: »Journalismus wird in einer gegenüber dem kommunikationswissenschaftlichen Mainstream veränderten (interdisziplinären) Perspektive an der Schnittfläche zwischen einer allumfassenden Kultur-, Medien- und Bewusstseinsindustrie und dem Alltagsleben interpretiert und somit als Teil bzw. Objekt der Populärkultur definiert.«68 (Herv. i.O.)

Renger erkennt zwar eine Vermischung der Genres, destilliert jedoch immer noch die typischen Genre-Charakteristika wie »Überfrachtung, Maßlosigkeit und grelle Gebärden« heraus.69 So erkennt er zwar die Vermischung von fernsehmedialen, journalistischen Genres an, folgt aber weiterhin einer Differenzierung in Qualitätsjournalismus und Populärjournalismus. Das erklärt, warum Renger trotz seiner »gewagten«70 Herangehensweise weder die tagesschau als Beispiel heranzieht noch irgendeine Polittalk-Sendung, sondern lediglich Sendungen wie Vera am Mittag und dementsprechend von Genres wie Reality-TV, Daily Talks oder Trash TV schreibt.71 The-

65 Ebd. 66 Vgl. Renger, Rudi: Geringfügige Nachrichten. Populärer Journalismus zwischen wissenschaftlicher Agnosie und theoretischem Pluralismus, in: Paus-Haase, Ingrid/Schnatmeyer, Dorothee/Wegener, Claudia (Hg.): Information, Emotion, Sensation. Wenn im Fernsehen die Grenzen zerfließen, Bielefeld 2000, S. 12-16. 67 Renger 2000, S. 17. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 23. 70 Ebd., S. 15. 71 Vgl. ebd., S. 20-22.

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oretisch schließt er zwar mit dem Bezug auf Luhmann, der gegenwärtigen Massenmedien eine generelle Popularisierung bescheinigt, Polittalks mit ein, in der Auswahl seiner Beispiele wird Renger dem jedoch nicht gerecht. Da Unterhaltung ein bedeutender Bestandteil aller Polittalks ist, können und sollten auch diese als Objekte der Populärkultur aus Sicht der Cultural Studies analysiert werden.

6.4 U NTERHALTENDE P ROPAGANDA HEISST , DASS M ACHTBEZIEHUNGEN IM S PIEL SIND Der Widerspruch ist nach Wolf Schneider die »journalistische Kardinaltugend«72. Dazu gehört, dass »keiner […] den anderen auch nur einen Fußbreit von seiner Position wegbewegen« kann.73 Demnach besteht die Motivation eines politischen Streitgesprächs in einer Polittalk-Sendung nicht im Versuch der direkten Überzeugung oder Konsensfindung der Diskutant_innen, sondern in der Offenlegung oder Verdeutlichung bestimmter Standpunkte, die meist bereits bekannt sind, manchmal aber auch innovativ sein können. Andererseits argumentieren Dörner und Vogt, dass die Sichtbarwerdung von »Konfliktlinien und Diskurspositionen, die sich innerhalb der Gesellschaft herausgebildet haben«74 zu einer medialen Präsenz von Interdiskursen führt. Neben dem Vorteil des Publikums, diese Interdiskurse ohne die Kompliziertheit von Spezialdiskursen verfolgen zu können, ergibt sich für die Medien- und Kulturforschung die Möglichkeit, aus den Interdiskursen die gegenwärtigen »relevanten politischen Entwicklungen und Probleme« zu erkennen und zu analysieren.75 Auch Werner Holly, Peter Kühn und Ulrich Püschel konstatierten bereits in den 1980er Jahren in einer linguistischen Studie, dass Fernsehdiskussionen keine Diskussionen im eigentlichen Sinne sind. Stattdessen wiesen sie einen ausgeprägten Propagandacharakter auf:76 »Problematisch wird es […], wenn die Art der Inszenierung verdecken kann, daß es sich überhaupt um Werbung handelt.«77 Holly, Kühn und Püschel zitieren den Journalisten W. Dietrich, der angab, seine FernsehdiskussionsSendung in »journalistisch ansprechender Weise« gestalten zu wollen, worauf sie die darin enthaltende Bedeutung offenlegen:

72 Schneider 1989, S. 146; vgl. Dörner/Vogt 2004, S. 45. 73 Schneider 1989, S. 145. 74 Dörner/Vogt 2004, S. 46. 75 Ebd. 76 Vgl. Holly, Werner/Kühn, Peter/Püschel, Ulrich: Politische Fernsehdiskussionen. Zur medienspezifischen Inszenierung von Propaganda als Diskussion, Tübingen 1986, S. 1-3; 22. 77 Ebd., S. 23.

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»Journalistisch ansprechend heißt also so viel wie ›unterhaltend‹, womit ein weiteres Detail für das Parteieninteresse an dieser Sendeform deutlich wird. Es kann den Parteien nämlich nur recht sein, wenn die Journalisten sich darum bemühen, die Werbeauftritte ihrer Vertreter attraktiv zu gestalten. Und das Fernsehen seinerseits kann sich zugutehalten, daß es seinen Zuschauern eine Sendung mit relativ hohem Unterhaltungswert anzubieten vermag.«78 (Herv. i.O.)

Hier zeigt sich, dass bereits 1986 die Frage aktuell war, ob Polittalk-Sendungen eher als Informations- oder als Unterhaltungssendung einzuordnen seien. Während Holly, Kühn und Püschel darauf verweisen, dass die Programmgestalter_innen und Fernsehmacher_innen ausdrücklich den Informationscharakter hervorheben, empfehlen sie, »diese mediale Textsorte wegen ihres Unterhaltungswerts, der sich kaum von dem einer Talk-Show unterscheidet, dem Bereich der Unterhaltung zuzuordnen«.79 Die dargelegten wissenschaftlichen Auffassungen stehen in diametralem Gegensatz zur journalistischen Auffassung. Reinhard Appel, der Journalist und Moderator der ehemaligen Polittalk-Reihe des ZDF »Journalisten fragen – Politiker antworten«80, wird von Holly, Kühn und Püschel mit den Worten zitiert, dass es in seiner Sendung darum gehe, »dem Bürger durch eine fernsehgerechte Berichterstattung zu helfen, seine Rechte und Pflichten im demokratischen Willensbildungsprozeß zu erkennen und im Rahmen der gebotenen Meinungsvielfalt mitentscheidend wahrzunehmen«.81 Hierin sehen die Autoren jedoch lediglich die Legitimation – oder besser: Tarnung – für Propaganda. Letztere würde insbesondere auf der nonverbalen, visuellen Darstellungsebene deutlich. Indem die Parteien ihre Spitzenleute in die Sendungen schicken, die einen gewissen Starcharakter aufweisen, Persönlichkeiten, die als Medienprofis Erfahrung im Umgang mit Selbstrepräsentation haben, träten Inhalte hinter eine Personalisierung der Politik zurück.82 »In gutem Licht dazustehen« bleibt hier also keine Metapher. Selbst Tanjev Schultz, der diskursive Elemente in Polittalks erkennt, relativiert die Diskursivität: »Die diskursiven Anteile und die Komplexität der Auseinandersetzungen werden allerdings durch die direkte mündliche und trialogische Kommunikationsform sowie durch unterstellbar starke strategische, massiv von Konkurrenzbeziehungen dominierte Orientierungen der Teilnehmer limitiert.«83 So komme das Gespräch einem argumentativen und rhetorischen »Wettkampf«84 gleich. Versteht man unterhaltende Agitation und agitative Popularität gemäß Holly, 78 Ebd., S. 29. 79 Ebd., S. 30. 80 Ausstrahlung von 1986-1991. 81 Appel, zitiert in Holly/Kühn/Püschel 1986, S. 30. 82 Vgl. Holly/Kühn/Püschel 1986, S. 30-33. 83 Schultz 2006, S. 124. 84 Ebd., S. 282.

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Kühn und Püschel als Propaganda, so wird der Unterhaltungsaspekt um den der Macht ergänzt. In Polittalks werden demnach Interessen vertreten, die vordergründig möglicherweise gar nicht in Erscheinung treten, doch durch Gäste und Redaktion/Moderation implizit und subtil transportiert werden können. Die Zuschauenden sollen bestimmte Inhalte affirmieren. Wenn zusätzlich Bedeutungen repräsentiert werden, die nur scheinbar widersprüchlich sind, fehlen widerständige und kritische Artikulationen und die Wahrscheinlichkeit der Affirmation durch das Publikum steigt. Gleichwohl nehmen Zuschauer_innen die ideologischen Positionen im Abgleich mit eigenen ideologischen Positionen wahr: »Man erregt sich über Meinungen, nimmt Partei, lobt, schimpft und gibt seine eigenen Kommentare ab.«85 Wie nun dargestellt wurde, ist die Zuordnung von Polittalks zur Populärkultur nicht selbstverständlich. Ihr Informations- und Bildungsanspruch scheint größtenteils – auch von wissenschaftlicher Seite – anerkannt zu werden. So schreibt Udo Göttlich, dass »der Dualismus von Information und Unterhaltung trotz der mittlerweile eingetretenen Verschiebungen und Grenzüberschreitungen von Genres und Formaten […] hartnäckig«86 Bestand habe. Damit weist er auf die Möglichkeit der Vermischung von Genres (Infotainment) hin, geht jedoch wie Renger lediglich auf den Dualismus ein, der sich in der Beschreibung des Rezipient_innen-Verhaltens zeigt. Unterhaltung würde passiv und Information aktiv rezipiert.87 Die Polittalk-Analysen in dieser Arbeit werden zeigen, dass die Vermischung und Überschneidung von Information und Unterhaltung in Polittalk-Formaten allgegenwärtig und keine Ausnahme ist, weshalb Polittalks unbedingt als Teil der populären Kultur angesehen werden sollten. Sinnvoller als Rengers Dualismus scheint somit die Aufhebung dieser Polarität. Jegliche fernsehmediale Produktion wird nach Maßstäben des Populären gebildet. Dies muss Qualität jedoch nicht ausschließen, selbst wenn dies viele Feuilletonist_innen und andere so sehen.88 Nun stellt sich die Frage, wie eine Polittalk-Analyse aussehen kann. Hierzu werden im Folgenden methodologische Überlegungen der Cultural Studies mit jenen der Kritischen Diskursanalyse und der Medienanalyse verknüpft, um daraus ein spezifisches methodisches Instrument für die Analyse der 15 Polittalk-Sendungen zu entwickeln.

85 Vogt 2012, S. 112. 86 Göttlich, Udo: Auf dem Weg zur Unterhaltungsöffentlichkeit? Aktuelle Herausforderungen des Öffentlichkeitswandels in der Medienkultur, in: Göttlich, Udo/Porombka, Stephan (Hg.): Die Zweideutigkeit der Unterhaltung. Zugangsweisen zur Populären Kultur, Köln 2009, S. 206. 87 Vgl. ebd., S. 206f. 88 Vgl. Renger 2008, S. 276.

7. Entwicklung eines Analyseinstrumentariums

7.1 D IE M ETHODOLOGIE

DER

C ULTURAL S TUDIES

Der Cultural-Studies-Ansatz ist keine Methode. Dennoch beinhaltet das Theoriegebäude der Cultural Studies methodologische Überlegungen. Sie speisen sich mitunter aus der Kritik an der Methodologie soziologischer Disziplinen: »Es ist diese Fähigkeit [der Cultural Studies, Anm. d.V.] […], die es uns erlaubt, das in Frage zu stellen, was man die methodologische Illusion der Sozialwissenschaften nennen könnte – die Idee, die Methode sei eine Landkarte der Realität.«1 Cultural Studies verweisen auf die Unmöglichkeit der Beschreibung einer Wirklichkeit. Es ist das Charakteristikum von Kultur, viele – auch ambivalente – Wirklichkeiten zu ermöglichen. Die Sozialwissenschaften befinden sich, wie sämtliche Wissenschaften, auf diesem kulturellen Feld der Aushandlung von Wirklichkeiten. Der Versuch der Beschreibung einer Wirklichkeit muss demnach im Bewusstsein seiner relativen Kontextualität verortet sein und diese offenlegen. Die häufig quantitativ ausgerichteten soziologischen Methoden bedeuten zudem für ein Thema wie Flucht eine besonders prekäre Sichtweise, wie Sabine Hess und Serhat Karakayalı schreiben: »Es erscheint problematisch, klandestine Migrationen, die sich ihrer Natur nach jeder Zählung entziehen, messen zu wollen.«2 Sie sehen quantitative Forschungsmethoden in einem Macht-Wissen-Komplex verhaftet, dessen Verständnis von Raum und Bevölkerung mit dem von nationalen Grenzen und Kontrolle korrespondiert. So verbarg sich hinter der Statistik – historisch gesehen – nicht nur eine Methode der Beschreibung von Bevölkerung – einschließlich Migrationen –, sondern der Versuch ihrer Kontrolle, ihrer Bürokrati-

1

Ryan, Michael: Prolegomena zu den Kulturwissenschaften, in: Winter, Rainer (Hg.): Die Zukunft der Cultural Studies. Theorie, Kultur und Gesellschaft im 21. Jahrhundert, Bielefeldt 2011, S. 24.

2

Hess/Karakayalı 2007, S. 39.

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sierung und Nationalisierung zum Zwecke einer kapitalistischen Produktionssteigerung im Kontext von Biomacht.3 Diese grundlegende Skepsis gegenüber quantitativen Methoden ergänzt die bereits in den bisherigen Ausführungen mitschwingende Forderung nach interpretativen Methoden, die die Aussagen von Diskursen nicht nur aufspüren, sondern sie in ihren Kontexten zu verstehen suchen. Es geht also nicht darum, Ergebnisse zu erzielen, die in Form von Tabellen und Kalkulationen vorgeben, unwiderlegbare Tatsachen zu sein. Es geht um die selbst in einem Kontext befindliche reflexive Analyse von Aussagen, die Diskursen entnommen werden. Cultural Studies betreiben demnach eine Art der Inhaltsanalyse. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine primäre Analyse, die im Gegensatz zu einer sekundären Analyse nicht selbst das empirische Material produziert (z.B. in Form von Videobeobachtungen), sondern lediglich darauf zugreift. Die Auswahl des Materials ergibt sich aus der Fragestellung und den daraus folgenden theoretischen Vorüberlegungen.4 Die »Inhaltsanalyse« wird sinnvoll anwendbar, indem sie in ein theoretisch-methodisches Konzept eingebettet wird. Claudia Wegener unterscheidet zwischen Inhaltsanalysen, die als »tiefenhermeneutische[…] Rekonstruktion«, »Textanalyse« und »Diskursanalyse« verwendet werden können. Die jeweils dahinter stehende Absicht ist die Offenlegung »manifester und latenter Sinnstrukturen«, die Darlegung der »narrativen Struktur [eines Films]«, sowie die Rekonstruktion des »Sinns symbolischer Texte im Kontext je spezifischer Diskurse«.5 Letztere Absicht schreibt Wegener den Cultural Studies zu. Sie betont die Möglichkeit von Überschneidungen inhaltsanalytischer Methoden, so dass die Wahl einer theoretisch-methodischen Vorüberlegung nicht zum Ausschluss anderer Herangehensweisen führen soll. Die »Disziplin«6 im Sinne des Einhaltens bestimmter Vorschriften als besonderes Merkmal der Methodologie in den Cultural Studies findet in der Konzeption inhaltsanalytischer Vorgehensweisen konkret Anwendung. So führt Wegener drei Aspekte an, die sie als konstitutiv für Inhaltsanalysen ansieht. (1) Je nach theoretischer Vorüberlegung sei zunächst das Erkenntnisinteresse und damit der theoretische Zugang expliziert. Im Falle einer diskursanalytischen Herangehensweise stünde das Erkenntnisinteresse in der Offenlegung »kollektiver Wissensordnungen und Wissenspraktiken«.7 Bei identitätstheoretischen Ansätzen müsste hingegen der Fokus auf die Herstellung von Identitätsmustern gelegt werden. Gleichwohl können Identitätsmuster Teil kollektiver Wissensordnungen sein; dies muss sich nicht ausschließen. Die

3

Vgl. Hess/Karakayalı 2007, S. 39.

4

Wegener, Claudia: Inhaltsanalyse, in: Mikos, Lothar/Wegener, Claudia (Hg.): Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch, Konstanz 2005, S. 200f.

5

Ebd., S. 202.

6

Vgl. Moebius 2012, S. 23f.

7

Wegener 2005, S. 202.

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Festlegung der Spezifität des Erkenntnisinteresses präjustiert die zielgerichtete Analyse und schließt Willkürlichkeit aus. (2) Ebenfalls aus dem Erkenntnisinteresse hervorgehend ist die Bestimmung des empirischen Materials selbst, das untersucht werden soll. Hierbei ist ebenfalls wichtig, dass die Auswahl einer gut argumentierten Begründung folgt, um Zufälligkeit zu vermeiden. Die Menge an empirischem Material ergibt sich aus einer Abwägung zwischen dem theoretisch vorhandenen Material und den Ressourcen des Forschenden.8 Die 15 Polittalk-Sendungen, die Eingang in die Analyse fanden, decken sämtliche Polittalk-Sendungen der Sender ARD und ZDF im Zeitraum 2011-2014 ab, die Flucht zum Thema hatten, und können somit auch den Anspruch der temporär begrenzten Vollständigkeit erheben. Eine Sendung hat Eingang in das empirische Material gefunden, wenn im Titel oder im Teaser das Thema Flucht tangiert wurde. (3) Schließlich nennt Wegener die Kategorienbildung als dritten wichtigen Bestandteil einer qualitativen Inhaltanalyse. So sollen in der Vorbereitung der Analyse Dimensionen unterschieden werden, die es zu berücksichtigen gilt und die den Analysevorgang intersubjektiv nachprüfbar machen.9 Diese Vorgehensweise kann jedoch in der vorliegenden Arbeit keine Anwendung finden, da eine Bestimmung relevanter Diskursstränge erst in der Betrachtung der PolittalkSendungen vollzogen werden kann. Zwar ergeben sich durch die Analyse Kategorien, jedoch nicht im Vorfeld, sondern durch die diskursanalytische Aufarbeitung des Materials. Die diskursanalytische Vorgehensweise wird im Folgenden erläutert. Unter Diskursanalyse ist ebenfalls keine Methode zu verstehen. Sie ist vielmehr ein Konzept, ein Begriffsapparat, der sich auf theoretische Überlegungen bezieht und Methoden in einer bestimmten Weise ausrichtet.10

7.2 K RITISCHE D ISKURSANALYSE 7.2.1 Die Macht der Diskurse Die Auseinandersetzung mit Diskursen als bedeutungstragende und Bedeutungen evozierende Performanzen ist maßgeblich auf Foucaults Arbeiten zurückzuführen. Insbesondere Jürgen Link und Siegfried Jäger sind im deutschsprachigen Raum diejenigen Autoren, die die methodologischen Fragmente des Foucaultschen Gesamtwerks zu einem handhabbaren Werkzeug für die kritische Analyse von Diskursen 8

Vgl. ebd., S. 203.

9

Vgl. ebd., S. 204.

10 Vgl. Keller, Reiner: Wissen oder Sprache? Für eine wissensanalytische Profilierung der Diskursforschung, in: Eder, Franz X. (Hg.): Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 55.

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synthetisierten – wenngleich immer wieder darauf hingewiesen wird, dass die Diskursanalyse keine einheitliche Methodologie darstellt. Weder ist die Synthese der fragmentarischen Überlegungen Foucaults also abgeschlossen, noch steht die Vorstellung im Raum, diese überhaupt abschließen zu können. Im Sinne der Objekte der Diskursanalyse, den sich ständig verändernden Diskursen, ist auch die Diskursanalyse in einem stetigen Wandel begriffen.11 Sie verfügt über kein festgelegtes Instrumentarium, sondern über methodische und theoretische Vorzüge, die es dem entsprechenden Forschungsobjekt anzupassen gilt. Die Nähe der Cultural Studies zur Diskursanalyse ist für diese Arbeit äußerst konstruktiv. Sie wird beispielsweise in folgendem Zitat von Paddy Scannell deutlich: »Michel Foucaults Theorie der diskursiven Praktiken und Formationen aus der Archäologie des Wissens […], wurde am Centre [for Contemporary Cultural Studies, Anm. d.V.] in die zunehmende Auseinandersetzung mit Sprache und Subjektivität integriert.«12 (Herv. i.O.) Foucault kennzeichnet das Denken des Menschen in der Moderne als hauptsächlich abhängig von zwei Mustern – dem historischen Kontext und dem anthropologischen Paradigma. Der historische Kontext erkläre das Jetzt, also die historischen Bedingungen der Gegenwart. Das anthropologische Paradigma fokussiere den Menschen – genauer: den Menschen, der ausschließlich dazu fähig ist, endlich zu denken.13 »Die Analytik der Endlichkeit wird so zum historischen Apriori des modernen Wissens.«14 Die Endlichkeit des menschlichen Denkens zwingt den Menschen, sein Wissen auf einer apriorischen und kontextuellen Grundlage aufzubauen. Diese Grundlage ist nie einheitlich, sondern im Gegenteil beschreibt Foucault die Wissensordnung des Menschen als widersprüchlich. Denn als »transzendentales Subjekt« – als Subjekt also, das seine Erkenntnisse auf der Grundlage von (Apriori-)Gesetzmäßigkeiten gewinnt, die seine Sinneswahrnehmungen übersteigen – schafft und akkumuliert der Mensch Wissen und ist gleichzeitig »empirisches Objekt« dieses Wissens, also sein eigener Betrachtungsgegenstand. Die Diskursanalyse soll diese Ambivalenz dieser Wissensordnung wenn auch nicht überwinden, so zumindest anerkennen und dadurch die Perspektive nach »außen« setzen, um die innere Logik eines

11 Dies zeigt sich beispielsweise in der inzwischen sechsten Auflage der Einführung in die »Kritische Diskursanalyse« von Siegfried Jäger (Münster 2012). 12 Scannell 2011, S. 255. 13 Vgl. Lavagno, Christian: Michel Foucault: Ethnologie der eigenen Kultur, in: Moebius, Stephan/Quadflieg, Dirk: Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden 2011, S. 48. 14 Ebd.

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Gegenstandes im Sinne einer historischen und kulturellen Kontextualität wahrnehmen zu können.15 Wissen, welches sich Menschen aneignen, wird in sozialen Interaktionen hergestellt. Wie der Symbolische Interaktionismus geht auch die Diskursanalyse davon aus, dass die sozialen Interaktionen auf Symbolen beruhen. Dem vorhandenen Wissen bzw. der Wissensaneignung liegt demnach eine symbolische Ordnung zugrunde. Wo der Symbolische Interaktionismus von Handeln als Bedingung der Generierung einer symbolischen Ordnung spricht, spricht die Diskursanalyse von Diskursen. Mittels dieser Diskurse werden Bedeutungen und damit gesellschaftliche Wirklichkeit produziert.16 Diskurse sind alle wahrnehmbaren kommunikativen Ausdrucksformen. »Nach Foucault bezeichnen Diskurse Beziehungen, in denen Bezeichnungen und ›Dinge‹ miteinander verknüpft werden und: ›Diskurse sind Praktiken, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.‹«17 Aussagen sind »Wissen hervorbringende und reproduzierende Praktiken sowie mit Machtwirkungen verkoppelte Sprechpraktiken«, die »tatsächlich auftreten« und »in einer Epoche in einem sozialen Feld ein Aussagensystem gebildet haben oder bilden«.18 Die Entstehung eines Aussagensystems bzw. die Regeln, die ein Aussagensystem definieren, führt Foucault auf »anonyme und überindividuelle Prozesse«19 zurück. Diese Aussagensysteme sind in ihrer historischen Aktualität relativ stabil, können jedoch ebenso wieder verfallen oder verändert werden. Das heißt, dass die in den Aussagensystemen enthaltenen Wissensordnungen und Diskurspraxen aus einer Konstruktion hervorgehen. In ihrer relativen Präsenz tut dies ihrer Wirkmächtigkeit keinen Abbruch.20 Laut Siegfried Jäger spiegeln »Diskurse gesellschaftliche Wirklichkeit nicht einfach wider[…]«;21 vielmehr determinieren Diskurse die Wirklichkeiten. Äquivalent zu der in der Film- und Fernsehforschung gängigen Vorstellung, dass Bilder keine bloßen Abbilder der Realität sind, sondern Realität in spezifischer Weise beschreiben, transformieren Diskurse (von Subjekten rezipiert, produziert und vermittelt) die Wirklichkeiten.22

15 Vgl. Thomas, Tanja: Michel Foucault: Diskurs, Macht und Subjekt, in: Hepp, Andreas/Krotz, Friedrich/Thomas, Tanja (Hg.): Schlüsselwerke der Cultural Studies, Wiesbaden 2009, S. 62. 16 Vgl. ebd. 17 Schade, Sigrid/Wenk, Silke: Studien zur visuellen Kultur. Einführung in ein transdisziplinäres Forschungsfeld, Bielefeld 2011, S. 54. 18 Diaz-Bone, Rainer: Diskursanalyse, in: Mikos, Lothar/Wegener, Claudia (Hg.): Qualitative Medienforschung. Ein Handbuch, Konstanz 2005, S. 540. 19 Ebd. 20 Vgl. ebd. 21 Jäger 2012, S. 33. 22 Vgl. ebd., S. 35.

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7.2.2 Zur Anwendung einer kritischen Perspektive Die Diskursanalyse hat insbesondere Wissenschaftler_innen begeistert, die kritisch über gesellschaftliche Verhältnisse nachdenken. »Es geht bei der Diskursanalyse folglich auch nicht (nur) um Deutungen von etwas bereits Vorhandenem, also nicht (nur) um die Analyse einer Bedeutungszuweisung post festum, sondern um die Analyse der Produktion von Wirklichkeit, die durch die Diskurse – vermittelt über die tätigen Menschen – geleistet wird.«23

Grund ist die in der Diskursanalyse angelegte dekonstruktivistische und kritische Perspektive – insbesondere aber die mit ihr ermöglichte Entlarvung von Machtverhältnissen. Foucault unterscheidet drei Formen der Machtausübung auf Individuen: »Ausbeutung, Herrschaft und Unterwerfung«.24 Ausbeutung ist dabei die Folge ökonomischer Macht, Herrschaft wird über politische und religiöse Ideologeme ausgeübt und Unterwerfung bezieht sich auf die Ablehnung spezifischer Identitäten. Hier zeigen sich politische Implikationen Foucaultscher Diskurstheorie. Diskurse selbst müssen also als Machtfaktoren verstanden werden. Sie beeinflussen andere Diskurse und schließlich gesamtgesellschaftliche Verhältnisse. Macht und Wissen sind somit hochgradig vernetzt, weshalb Foucault auch von Macht-Wissen-Komplexen spricht. Macht und Wissen werden zu einer Einheit, aus welcher Herrschaftsverhältnisse resultieren.25 Die Kritik daran weckt natürlich das Interesse marginalisierter Gruppen, die ihre Identitäten unterworfen oder benachteiligt sehen. Dabei liegt es an der Kritischen Diskursanalyse sich auch der möglichen Ideologisierung von Kritik bewusst zu sein. Sie wendet sich gegen jede Form von Ideologie, aus der es jedoch, wenn man Althusser folgt, kein Entrinnen gibt, da sie uns in Form der Sprache unumgänglich sozialisiert.26 Und Scannell schreibt: »Menschen werden sowohl in der Sprache als auch von ihr als Subjekte konstruiert. Im gewöhnlichen Gebrauch verbirgt sie die Tatsache, dass sie selbst eine Konstruktion ist. Wenn wir, als unwiderruflich fraktuierte Subjekte der Sprache, tatsächlich abhängig sind von ihrer Gnade, bleibt uns nichts weiter übrig, als dieses Verhältnis sichtbar zu machen, indem wir ›am Zeichen rütteln‹, es dekonstruieren und als Konstruktion entlarven.«27 (Herv. i.O.)

23 Jäger/Jäger 2007, S. 24. 24 Scannell 2011, S. 255. 25 Vgl. Jäger 2012, S. 38. 26 Vgl. Scannell 2011, S. 256f. 27 Ebd., S. 257.

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Diese Formulierung verweist auf die Möglichkeit, Wirklichkeitskonstruktionen als solche zu beschreiben, ihr Zustandekommen zu analysieren und ihre Wirkmechanismen in der Gesellschaft zu hinterfragen. Die Ziele dieser Arbeit lassen sich folglich diskursanalytisch erreichen. In der Analyse der Polittalk-Sendungen müssen die Beziehungen zwischen den gesprochenen Worten, ihren unausgesprochenen Bedeutungen, ihren Sprecher_innen und ihren sonstigen Rahmenbedingungen (Filmtechnik, Regie, Produktionsbedingungen) offengelegt und analysiert werden. Kritische Diskursanalyse erfordert die Einbeziehung kontextueller Bezüge, da Diskurse nur in Kontexten auftreten können. Bedeutungen werden genealogisch entwickelt; sie existieren nicht ohne ihre Beziehungen, »die ›zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationen und Charakterisierungsweisen‹ hergestellt werden«.28 Es ergibt sich ein komplexes Netz aus Zusammenhängen, das den Rezipient_innen beim Betrachten einer Sendung auf der Wohnzimmercouch in seiner Gesamtheit weitgehend verborgen bleiben muss. Die Rezeption soll im Rahmen dieser Arbeit nicht berücksichtigt werden. Vielmehr dient die Kritische Diskursanalyse der Beantwortung der Frage, welches Wissen die Diskussionen bestimmt oder zumindest eine dominante Rolle spielt und wie und aus welchen Machtpositionen heraus dieses Wissen (re-)produziert wird. Sabina Becker schreibt, dass »[d]as Selbstverständnis einer Gesellschaft [...] mithin in ihren Diskursen enthalten [ist]«.29 Allerdings suggeriert sie mit dieser Aussage die Existenz eines Selbstverständnisses der Gesellschaft, das es nicht geben kann, versteht man die kulturellen Aushandlungsprozesse als ambivalent und widersprüchlich und betrachtet man die Gesellschaft als Zusammenhang diverser Teilöffentlichkeiten, die unterschiedlichen symbolischen Ordnungen und Vorstellungen folgen. Fest steht, dass die Äußerungen und Handlungen eines Diskurses analysiert werden müssen, um die darin enthaltenen Wirklichkeiten zu erkennen und möglicherweise dekonstruieren zu können. 7.2.3 Die Detailarbeit der Kritischen Diskursanalyse Noch einmal: Foucault »geht davon aus, dass Machtstrategien, um erfolgreich zu sein, Wissen produzieren müssen, auf das sie sich bei ihren Manövern stützen können. Dadurch sind Wissen und Macht ineinander verschränkt«.30 Da aber Diskurse nicht freistehend, Artikulationen also kontextuell bedingt sind, ist das übergeordnete

28 Schade/Wenk 2011, S. 53f. 29 Becker 2007, S. 149f. 30 Lavagno 2011, S. 50.

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Ziel der Diskursanalyse die »Freilegung und Analyse spezifischer Denk- und Diskursvoraussetzungen«.31 Grundsätzlich herrscht Konsens unter foucaultschen Diskursanalytiker_innen, dass Diskursanalyse zum einen Diskurse vergleichen soll, wodurch u.a. festgestellt werden kann, ob es sich um einen Spezialdiskurs oder einen Interdiskurs handelt; zum anderen sollen diskursive Praktiken mit nicht-diskursiven Praktiken in Beziehung gesetzt werden, um zu sehen, wie das Zusammenspiel funktioniert.32 So sollte beispielsweise auch die Kameratechnik Beachtung finden, um festzustellen, welchen Einfluss sie auf einen in einer Polittalk-Sendung geführten Diskurs hat. »Die diskursanalytische Vergleichsperspektive kann dann aufzeigen, dass eine vorhandene Weise der Weltauslegung auch anders möglich wäre. Dieser konstruktivistische Blick zersetzt oder entzaubert damit Alltagsevidenzen […].«33 Dabei müssen verschiedene sprachliche Ebenen analysiert werden, da »einer sprachlichen Äußerung […] in der Regel ganze Netze von Handlungsmustern zuzuordnen [sind]«.34 Beim Sprechen werden verschiedene Bereiche gleichzeitig tangiert, so die Erfüllung einer Beziehungskomponente, die Organisation der Themenfolge zum gegenseitigen Verständnis und strukturierende Muster wie These, Antithese, Widerspruch, Antwort etc.35 In jedem der gleichzeitig verhandelten Bereiche sind Bedeutungen impliziert, die es zu interpretieren gilt. Im Folgenden soll nur knapp und in Anlehnung an Rainer Diaz-Bone, Jürgen Link und Siegfried Jäger die methodische Herangehensweise an Diskurse beschrieben werden, um daraufhin das methodische Analyseinstrumentarium, das dieser Arbeit zugrunde liegt, näher auszuführen. Ein Diskurs ist laut Diaz-Bone von vier Bestandteilen bestimmt, die Foucault »diskursive Formationen« nennt: Objekte, Begriffe, Sprecher und thematische Wahlen. Diese Bestandteile stehen in einem spezifischen Kontext zur Diskursanalyse. Abbildung 4 (S. 107) fasst diese Kontexte in Anlehnung an Diaz-Bone36 und Ingrid Jungwirth37 zusammen.

31 Thomas 2009, S. 62. 32 Vgl. Diaz-Bone 2005, S. 542. 33 Ebd., S. 543. 34 Holly/Kühn/Püschel 1986, S. 43. 35 Vgl. ebd., S. 43-48. 36 Vgl. Diaz-Bone 2005, S. 540-543. 37 Vgl. Jungwirth, Ingrid: Zur Spezifität von Diskursen. Die Rede von Identität in Sozialwissenschaftlichen und sozialen Bewegungen, in: Bock von Wülfingen, Bettina/Frietsch, Ute (Hg.): Epistemologie und Differenz. Zur Reproduktion des Wissens in den Wissenschaften, Bielefeld 2010, S. 156f.

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Abbildung 4: Bezüge zwischen Diskurs und Diskursanalyse Diskurs

Diskursanalyse

Objekte

beinhalten

Regeln,

die es abzuleiten gilt.

Begriffe

beinhalten Wissen, welches gekennzeichnet ist durch

Spezifität,

die Dynamiken aufzeigt.

Sprecher

schaffen durch

diskursive Praktiken

die Objekte.

Thematische Wahlen

grenzen einen Diskurs ein. Die Diskursanalyse kann eine

Veränderung von Diskursen

vornehmen.

In der Praxis der Diskursanalyse stellt sich die Frage, wie empirisches Material ohne den Einfluss der Perspektive des Forschers untersucht werden kann, die ebenfalls in einem diskursiven Aussagensystem befindlich ist. Hierzu bedarf es einer vorurteilsfreien Annäherung an den Gegenstand. Erst aus der Betrachtung des freigelegten Gegenstandes erschließt sich eine dem Gegenstand inhärente Wissensordnung. Hierfür müssen »Klassifikationen, Denkprinzipien, Begriffe, Konzepte« vom Gegenstand abgeleitet und die Frage gestellt werden, welcher der Aspekte für eine Begründung der Wissensordnung relevant ist. Wichtig für die Diskursanalyse ist also eine strenge Distanzierung der Forschenden. Sie müssen eine Perspektive von außen einnehmen, um die Ordnung des Aussagensystems von Grund auf beschreiben und Machtstrukturen entdecken zu können. Diese strukturalistische Sicht transformiert sich in eine poststrukturalistische, sobald angenommen wird, dass Aussagen auch dem Aussagensystem entgegen artikuliert werden. Das Aussagensystem ist in seiner historischen Kohärenz Dynamiken unterworfen und damit in seiner diskursiven Praxis möglicherweise auch ambivalent.38 Um Diskurspraxen zunächst ausfindig zu machen und schließlich explizieren und interpretieren zu können, sei im Folgenden die auf Jürgen Link zurückgehende und insbesondere von Siegfried Jäger weiter verfolgte diskursanalytische Methode samt ihrem Jargon konkret dargelegt. Tätigkeiten, sowohl ideelle, gedankliche Tätigkeiten, wie auch handelnde Tätigkeiten (wobei Sprechen im Idealfall sowohl denkend als auch handelnd vonstattengeht), sind materielle Tätigkeiten: »Diskurse sind nicht Ausdruck irgendwelcher Materialitäten, die sie geistig widerspiegeln. Sie sind selbst Materialitäten sui generis,

38 Vgl. Diaz-Bone 2005, S. 541f.

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wie andere Materialitäten auch. Daher beansprucht die Diskurstheorie, eine materialistische Kulturtheorie zu sein.«39 (Herv. i.O.) Tätigkeiten sind jedoch erst dann diskursiv, wenn sie gesellschaftlich eingebunden sind, wenn sie also interagiert werden. So begründet Jäger einen sozialen und historischen Kontext, an den Texte rückgebunden sind. Einzelne Texte bezeichnet er als »Fragmente eines (überindividuellen) sozio-historischen Diskurses«.40 »Diskursfragmente […] sind Bestandteile bzw. Fragmente von Diskurssträngen (= Abfolgen von Diskursfragmenten mit gleicher Thematik), die sich auf verschiedenen Diskursebenen (= Orte, von denen aus gesprochen wird, also Wissenschaft, Politik, Medien, Alltag etc.) bewegen und in ihrer Gesamtheit den Gesamtdiskurs einer Gesellschaft ausmachen, den man sich als ein großes wucherndes diskursives Gewimmel vorstellen kann; zugleich bilden die Diskurse (bzw. dieses gesamte diskursive Gewimmel) die jeweiligen Voraussetzungen für den weiteren Verlauf des gesamtgesellschaftlichen Diskurses.«41 (Herv. i.O.)

Darüber hinaus gibt es Spezialdiskurse, deren Thema nur von einer relativ kleinen Gruppe verstanden werden kann. Interdiskurse wiederum vermitteln Spezialdiskurse in verständlicher Weise, beispielsweise ohne Fachtermini. Diaz-Bone beschreibt Links Verständnis von Interdiskursen als »allgemeine, populäre Wissensregionen […], die massenmedial verankert« sind.42 Von Bedeutung dabei seien »Kollektivsymbole«,43 die zur Übersetzung von Spezialdiskursen verwendet werden. Je nach Diskursposition würden unterschiedliche Kollektivsymbole verwendet werden. Als Beispiel nennt Diaz-Bone die Metapher des »sozialen Netzes«, das einerseits als Errungenschaft des Sozialstaats und andererseits als Forcierung von »Faulenzertum« Verwendung finden kann.44 So kann eine Diskursanalyse, gerade wenn sie sich auf massenmediale Inhalte bezieht, Kollektivsymbole ausfindig machen und die jeweiligen Positionierungen der Sprechenden untersuchen.45 Denn während der einzelne Text individuell produziert ist, ist der Diskurs überindividuell vielfach verschränkt. So sind zwar alle Individuen an der Produktion des Diskurses beteiligt, doch kein Individuum bedingt ihn alleine. Der gesamtgesellschaftliche Diskurs ist ein Ergebnis unzähliger und vielfältiger individueller und performativer Einflüsse. Im selben Zug, in dem Diskurse produziert werden, werden die Denk- und Handlungsweisen von Individuen von dem Diskurs ebenfalls produziert und variiert. So sind Denken und 39 Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 2004, S. 116. 40 Ebd., S. 117. 41 Ebd. 42 Diaz-Bone, 2005 S. 542. 43 Vgl. Jäger 2012, S. 55ff. 44 Vgl. Diaz-Bone 2005, S. 542. 45 Vgl. Jäger 2004, S. 134ff.

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Handeln dem Diskurs einerseits vorgelagert, andererseits ergeben sie sich aus ihm.46 Letzteres ist der entscheidende Aspekt, der den Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit herstellt. Denn Diskurse sind eben keine abstrakten Ideen, sondern sie produzieren »als gesellschaftliche Produktionsmittel […] Subjekte und – vermittelt über diese, als ›Bevölkerung‹ gedacht – gesellschaftliche Wirklichkeiten«.47 Bezüglich der diskursanalytischen Vorgehensweise in dieser Arbeit orientiere ich mich hauptsächlich an Rainer Diaz-Bone und Siegfried Jäger. Beide erläutern detailreich, was in einer Diskursanalyse beachtet werden muss.48 Bei der Übertragung der methodischen Vorgehensweise auf Polittalk-Sendung zeigen sich einige Schwierigkeiten. So lassen sich relativ einfach Aussagen aus Zeitungsartikeln entnehmen und strukturieren, wie Jäger es beschreibt, da der empirische Korpus eines Zeitungsartikels sehr begrenzt ist. Außerdem ist die Perspektive immer diejenige des Autors oder der Autorin. Polittalk-Sendungen hingegen weisen ein enorm umfangreiches Repertoire an Aussagen auf, deren Strukturierung an die Grenzen der Handhabbarkeit und Überschaubarkeit stößt. Des Weiteren geben zwar die Polittalk-Redaktionen eine thematische Linie vor, doch die Polittalk-Gäste sprechen frei und spontan, was zu thematischen Abweichungen und zu vielfältigen und diskontinuierlichen Argumentationen führt. Aus diesem Grund wurden die Materialaufbereitungen entlang der Aussagen der Polittalk-Gäste strukturiert, um innerhalb der subjektbezogenen Einheiten Argumentationslinien, Objekte, Begriffe und Widersprüchlichkeiten zu identifizieren. Dieses Vorgehen fokussiert also die jeweiligen Perspektiven der Gäste sowie der Moderation/Redaktion. Daraufhin können die Aussagen(systeme) der Diskutant_innen gegeneinandergestellt und die diskursiven Verflechtungen zwischen den Interagierenden analysiert werden. Manche Vorschläge Jägers können aus forschungspragmatischen Gründen nicht berücksichtigt werden. So ist beispielsweise die Sammlung aller Pronomen, was Jäger als besonders wichtig einstuft, hier nicht praktikabel, da es sich um unzählige Pronomen handelt. Die dahinterstehende Idee Jägers, zu fragen, welche Implikationen Worte wie »wir« in einem entsprechenden Kontext haben können, wird jedoch nicht vernachlässigt, sondern qualitativ (und nicht vollumfassend) analysiert. Ein für die vorliegende Arbeit bedeutsamer Analyseschritt ist die Analyse der inhaltlichideologischen Aussagen, in der Menschenbilder, Gesellschaftsverständnis etc. ermittelt werden sollen. Diesen Schritt betont auch Diaz-Bone, der hier von der Suche nach Regelsystemen, Kategorien, Wertungen, Gegensätzlichkeiten, Kohärenzen sowie vom Finden von Klassifikationen, Hierarchien und Tiefenstrukturen spricht, welche anhand von »Textstellen« zu erläutern sind.49 Schließlich sollen Diskursfragmente 46 Vgl. ebd., S. 147f. 47 Ebd., S. 147. 48 Vgl. Jäger 2012; Diaz-Bone 2005. 49 Vgl. Diaz-Bone 2005, S. 544-546.

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systematisch dargestellt werden. Im Gegensatz zu Diaz-Bone ergänzt Jäger seine Ausführungen mit einer kritischen Dimension, indem er eine auf ethischen Maßstäben beruhende kritische Einschätzung der Analyse sowie die Darlegung von Lösungsvorschlägen bezüglich der analysierten Problemfelder empfiehlt.50 Die Darstellung der Diskursanalysen (Teil III) folgt ihrer Struktur nach der analysierten Semantik der Diskursfragmente. Diese Struktur entsteht daher erst während der Analyse selbst, durch die die Semantik aufgedeckt wird.

7.3 C ULTURAL S TUDIES , K RITISCHE D ISKURSANALYSE UND M EDIENANALYSE Diskursanalyse, die sich an Foucault orientiert, ist keine in sich abgeschlossene Theorie, die beanspruchen kann, »alle sozialen Phänomene beschreiben zu können«.51 Vielmehr bietet die Diskursanalyse theoretische und methodologische Ansätze, die in Kombination mit anderen Theorien die Hervorbringung von Bedeutungen, Sinn, Wertvorstellungen etc. zu erklären vermag. Diskurstheorie zielt also auf Ausschnitte von Gesellschaft, auf einen begrenzten Diskursbereich oder auf Interaktionen, um aus diesen über bestimmte gesellschaftliche Ausprägungen Aussagen treffen zu können.52 Die Kombination des diskurstheoretischen Ansatzes mit anderen sozialwissenschaftlichen Theorien kann dabei nicht wahllos vonstattengehen. Kombinationen ergeben sich aus einer basalen Übereinstimmung. Solche Übereinstimmungen sind zwischen der Diskursanalyse und den Cultural Studies gegeben. Ein offensichtlicher und entscheidender Konsens zwischen der Diskursanalyse und den Cultural Studies ist die Fokussierung auf Machtverhältnisse. Beide theoretisch-methodologischen Richtungen versuchen Macht in einer kulturellen oder sozialen, räumlich und zeitlich kontextualisierten Situation zu erfassen und zu dekonstruieren. Diskursanalyse und Cultural Studies erfahren eine größere Rezeption bzw. Anwendung im Zusammenhang mit kulturellen und sozialen Phänomenen, denen es unter einem ethischen Gesichtspunkt an Gerechtigkeit mangelt. Zudem ist es in Folge der theoretischen Überlegungen beider Strömungen naheliegend, das Datenmaterial publizierten Medien zu entnehmen. Wie Diaz-Bone konstatiert, ist »die Diskursanalyse […] eine Form der Analyse (vorwiegend) von Medieninhalten, die auch ein theoretisches Denken in die Medienforschung einbringt«.53 Das nicht allein auf schriftliche Aufzeichnungen beschränkte, sondern auf Gegenstände, soziale Handlungen und Interaktionen erweiterte Verständnis von Text ermöglicht das »Lesen« 50 Vgl. Jäger 2012, S. 91. 51 Diaz-Bone 2005, S. 539. 52 Vgl. ebd., S. 538f. 53 Ebd., S. 539.

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kultureller Aspekte. So mimt die Kultur-Analyse in den Cultural Studies in gewisser Weise die Diskursanalyse. Dies zeigt sich u.a. an der Darstellung von sechs methodologischen Prämissen der Cultural Studies nach Lawrence Grossberg: Disziplin, radikale Kontextualität, Theorie, Politik, Interdisziplinarität und Selbstreflexion. Disziplin meint dabei die strenge Orientierung an wissenschaftlichen Regeln, eine als intellektuell zu bewertende Argumentation und Analyse empirischen Materials sowie die »intersubjektive Überprüfbarkeit der Datengewinnung«.54 Mit radikaler Kontextualität wird die Bezugnahme auf sämtliche sozialen und kulturellen Kontexte des empirischen Materials beschrieben, womit im Sinne der Diskurstheorie das diskursive Geflecht zu verstehen ist. Dabei steht eine »antireduktionistische Sichtweise«55 im Vordergrund. Rassismen, die in den Polittalk-Sendungen geäußert werden, müssen demnach auf ihre Verflechtungen mit anderen relevanten Diskurssträngen (z.B. ökonomistischer Diskursstrang) in und außerhalb der Sendungen überprüft werden. Die Theorie sei insbesondere deshalb von großer Bedeutung, da der Kontext nur theoretisch erschlossen werden kann. Somit liegt es am Forschenden, je nach Kontext geeignete Theorien zu finden und mit ihnen flexibel umzugehen. Das Wissen, das dabei produziert wird, soll in eine politische Perspektive Eingang finden und interdisziplinär zusammengetragen werden, um keiner möglichen Begrenzung der Forschungsfrage Vorschub zu leisten. Schließlich wird die Selbstreflexivität als entscheidende methodologische Vergewisserung angeführt, die von Forschenden fordert, die eigenen kontextuellen Beziehungen darzulegen.56 Diese Prämissen sind geeignet, um sie diskursanalytisch zu implementieren. 7.3.1 Kontextualisierung Um Diskurse überhaupt erfassen zu können, um darüber hinaus die diskursiven Verstrickungen des zu erforschenden Gegenstands sichtbar zu machen, müssen die gefundenen Aussagen kontextualisiert werden. Aus der Unübersichtlichkeit und Unmenge an öffentlich vorgebrachten Äußerungen diejenigen herauszufiltern, die tatsächlich relevant sind, muss methodisch erörtert werden, um eine systematische Vorgehensweise garantieren zu können. Siegfried Jäger spricht in diesem Zusammenhang von der Unmöglichkeit, einen Gesamtdiskurs zu erforschen, der eine in einem bestimmten Kontext existierende Gesellschaft als Ganze erklären könnte.57 So muss sich eine Diskursanalyse an diskursiven Kontexten orientieren, die weder einen Anfangs- noch einen Endpunkt als Maßstab besitzen. Vielmehr stürzt sich eine Diskursanalyse in ein »diskursive[s] Gewimmel[…], das nicht vollständig darstellbar 54 Moebius 2012, S. 24. 55 Ebd., S. 25. 56 Vgl. ebd., S. 27f. 57 Vgl. Jäger 2012, S. 123.

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ist«.58 Jäger schlägt deshalb vor, bestimmte Äußerungen, die aus sprachlichen Texten, Handlungen und Gegenständen abzuleiten sind, zu Aussagen zu bündeln. Die daraus gewonnenen Aussagen können in ihrer Vernetzung, in ihren Verschränkungen und in ihren möglichen Widersprüchlichkeiten relevante Zusammenhänge für die Analyse aufzeigen. Denn um die Repräsentativität zu gewährleisten, erfordert das Forschungsdesign wohlbegründete Argumente für das Heranziehen bzw. Weglassen bestimmter Kontexte. Notwenige Kontextualisierungen sind (1) die Polittalk-Gäste, (2) das Genre Polittalk, (3) die diskursauslösenden Ereignisse sowie (4) der bundesdeutsche Migrationsdiskurs mit Schwerpunkt auf Flucht. Um Äußerungen und Aussagen aus den Polittalk-Sendungen mit anderen Aussagen aus den Sendungen selbst sowie mit wissenschaftlicher Literatur zu kontextualisieren, werden zunächst die relevanten Aussagen aus den Sendungen in einer diskursanalytischen Materialaufbereitung extrahiert und interpretiert, um sie daraufhin im Analyse-Teil dieser Arbeit inhaltlich zu systematisieren. Die Kontextualisierung findet dann anhand von systematisch geordneten und inhaltlich akkumulierten Aussagen statt. Das heißt, dass aus semantisch zusammengehörigen Aussagen semantisch abgrenzbare Kapitel geschaffen werden, in denen eine diskursive Auseinandersetzung mit den Aussagen aus den Polittalks stattfindet. Mit dieser Methode entsteht ein dichtes diskursives Geflecht, aus dem schließlich zentrale Argumentationsmuster, dominante Diskurspositionen und hegemoniale Strukturen herausgearbeitet werden. 7.3.2 Fernseh- und Dokumentarfilmanalyse In audiovisuellen Medien wie dem Fernsehen setzen sich die bedeutungsbildenden Symbole und Zeichen aus drei Zeichenebenen zusammen: Text, Bild und Ton. Aus dem Zusammenspiel dieser drei Zeichenebenen entsteht ein Symbolsystem voller Bedeutungen, dessen Inhalte in der üblichen Geschwindigkeit fernsehmedialer Bildund Bedeutungsabfolgen nicht differenziert erfasst werden kann. Vielmehr interpretieren und verstehen Rezipient_innen die medialen Inhalte punktuell, individuell und damit entsprechend vielfältig, fragmentiert und intuitiv. Dem gegenüber will die Film- und Fernsehanalyse, »hinter diesem Schein des allgemein Verständlichen die Strukturen der Gestaltung […] und die zusätzlich noch vorhandenen Bedeutungsebenen und Sinnpotentiale«59 hervorheben und aufdecken. Häufig werden dabei hermeneutische Verfahren angewendet. Im Idealfall wird die hermeneutische Differenz zwischen Kommunikator und Rezipient reduziert. Knut Hickethier verweist außerdem auf die Verwendung dekonstruktivistischer Ansätze. Damit soll verhindert werden, dass eine Film- oder Fernsehanalyse den Sinn des zu analysierenden Objekts in 58 Ebd., S. 128. 59 Hickethier 2001, S. 32.

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harmonisierender Weise detailliert reproduziert. Stattdessen sollen die Differenzen und Widersprüchlichkeiten, die in den Sinnbedeutungen des Films oder der Sendung aufgedeckt werden, in den Blick genommen werden.60 Um das Sendungsmaterial in geeigneter Weise (d.h. mit größtmöglichem Nutzen für die Analyse bei kleinstmöglichem Aufwand) aufzubereiten, bieten sich Sequenzund Einstellungsprotokolle an. Sequenzprotokolle erfassen die einzelnen Sequenzen einer Sendung und haben den Sinn, die zu analysierenden Teile in einer Übersicht zu verankern und damit den inhärenten Sendungskontext zu literarisieren. Sind bei Filmen Sequenzen insbesondere durch Szenenwechsel oder thematische Wechsel zu unterscheiden, so ist es bei Polittalks aufgrund teils diffuser inhaltlicher Sprünge schwerer, Sequenzen voneinander abzugrenzen. Einstellungsprotokolle haben den Zweck, in Folge einer oberflächenanalytischen Auswahl bestimmte Sequenzen oder Teile von Sequenzen im Detail zu transkribieren. Einstellungsprotokolle umfassen in der Regel alle drei Zeichenebenen. »Diese Einstellungsprotokollierung führt […] zu einer sehr genauen und intensiven Beobachtung des Films, sie fördert dabei oft neue Details zutage […].«61 Da Polittalks ihren Schwerpunkt auf sprachlichen Äußerungen haben und das Visuelle deutlich weniger gewichtig erscheint, werden zwar sämtliche sprachliche Äußerungen transkribiert, Bild und Ton aber nur in elliptischer Weise zu Interpretationszwecken herangezogen. Diese Verknappungen der Einstellungsprotokolle sind dem Bedarf an effizienter Datenaufbereitung geschuldet, die die Relation aus Aufwand und Nutzen berücksichtigt.62 Im Folgenden werden fernsehanalytische Überlegungen über das Visuelle, das Auditive und das Narrative angestellt, wobei hier eine Orientierung an der Film- und Fernsehanalyse von Knut Hickethier erfolgt. Seine Verfahren rekurrieren auf eine Phänomenologie, die das Ganze auf seine Einzelaspekte hin fragmentiert, um daraufhin die vielfältigen kontextuellen Bezüge erkennen und interpretieren zu können. Da es keine Darstellungen über eine qualitative fernsehmediale Analysemethode von Polittalk-Sendungen gibt, werde ich Hickethiers Überlegungen mit den bereits in Kapitel 6 angestellten Überlegungen zu Polittalks verbinden. Bild und Kamera Bei der Bildproduktion in Polittalk-Sendungen handelt es sich um den Versuch einer möglichst authentischen Darstellung einer Gruppendiskussion. Eine Kameraeinstellung ist nicht gleichzusetzen mit der Perspektive der Zuschauer_innen, denn die Kamera ist ein aktives Mittel, das »uns vor dem Bild [positioniert]«.63 Bildausschnitte, 60 Vgl. ebd., S. 32f. 61 Ebd., S. 39. 62 Vgl. ebd., S. 38f. 63 Mikos, Lothar: Einführung in die klassische Film- und Fernsehanalyse, Hagen/Paderborn 2002, S. 47.

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Perspektiven und Bewegungen der Kamera evozieren spezifische Wirkungen und Aussagen.64 Daher ist die Wahl der Perspektive immer eine bewusste Entscheidung der Regie. Audiovisuelle Medien reproduzieren nicht einfach Bilder im Sinne einer objektiven Wirklichkeitsdarstellung, sondern produzieren und inszenieren im Sinne einer subjektiven Wirklichkeitsdarstellung. So können die Kameraeinstellungen als Inszenierung des Abgebildeten von Interesse sein.65 Für die Analyse der Bildebene werden insbesondere die Arbeiten von Lothar Mikos66 und Knut Hickethier67 herangezogen. Nach detaillierten Transkriptionen der relevanten Sequenzen der Sendungen Anne Will (27.02.2011) und Beckmann (28.02.2011) und analytischen Vorüberlegungen zu diesen Transkriptionen wurde schnell ersichtlich, dass eine detailreiche BildTranskription der Sendungen keinen analytischen Mehrwert verspricht. Polittalks sind vor allem auf der sprachlich-narrativen Ebene relevant. In der Regel kommen auf der Bildebene keine Bedeutungen hinzu, die die sprachlich-narrative Ebene ergänzen oder verändern würde. Es kann beispielsweise beobachtet werden, dass das Kopfschütteln eines Diskutanten gezeigt wird während eine Diskutantin spricht; für die Analyse hat dies jedoch meist keine Auswirkungen, da die unterschiedlichen Diskurspositionen bereits bekannt sind und der Verweis auf nonverbalen Widerspruch redundant wäre. Anders würde es sich verhalten, wenn zu sehen wäre, dass sämtliche Talkgäste einem Diskutanten nonverbal widersprechen. Daraus könnte eine dominante Diskursposition jener, die nonverbal widersprechen, abgeleitet werden. Als Konsequenz für die Transkriptionen bedeutet diese Feststellung eine rudimentäre Transkription der Bild-Ebene, der nur dann größere Beachtung geschenkt wird, wenn nicht-redundante und für die Fragestellung relevante Bedeutungen vermutet werden. Ton Neben der musikalischen, stimmungsverstärkenden Untermalung68 von Einspielern sind in Polittalks Geräusche auf der auditiven Zeichenebene wahrzunehmen. Hierbei spielt insbesondere der Applaus des Studiopublikums eine Rolle, der Aussagen der Gäste zu bestätigen vermag. Der Applaus kann dabei als Stimmungsbarometer aufgefasst werden. Gelegentlich ist Lachen zu vernehmen, selten geht ein Raunen durch das Studio. Wie solche Reaktionen zu interpretieren sind, ist in der Regel eindeutig. 64 Vgl. ebd. 65 Vgl. Hickethier 2001, S. 56f. 66 Vgl. Mikos 2002. 67 Vgl. Hickethier 2001. 68 Ebd., S. 94-98. Über den Ton im Film hat Barbara Flückiger eine umfassende und detaillierte Arbeit verfasst, die an vielen Beispielen die Theorie des Sound Designs im Film diskutiert. Vgl. Flückiger, Barbara: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films, Schüren 2001.

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In den dokumentarischen Einspielern sind vielfältigere Geräusche wahrnehmbar. Oft jedoch werden Geräusche lediglich als Tautologien verwendet. Sie überschneiden sich dann mit der Bildebene.69 Interessant wird es, wenn Geräusche im Widerspruch zum Visuellen stehen und so symbolische Assoziationen hervorrufen.70 Schließlich ist die Sprache als auditives Mittel – das wichtigste im Polittalk – zu erwähnen. Sprache wird in On- und Off-Sprechen unterschieden. Beim On-Sprechen lassen sich Wort und Bild sowohl zeitlich als auch räumlich zuordnen (Sprecher_in ist zu sehen). Beim Off-Sprechen ist die Zuordnung von Wort und Bild zeitlich möglich, jedoch nicht räumlich (Sprecher_in ist nicht zu sehen).71 Narration Erzählen lässt sich sowohl in Worten, als auch in Bildern. Erzählen stellt Wahrnehmbares in einen strukturierten Zusammenhang, wodurch eine Geschichte entsteht. Auch Nicht-Fiktionales beruht auf diesem Erzählprozess. »Erzählen bedeutet, einen eigenen, gestalteten (d.h. ästhetisch strukturierten) Kosmos zu schaffen, etwas durch Anfang und Ende als in sich Geschlossenes zu begrenzen und zu strukturieren.«72 Daher, so Hickethier, haben Anfang und Ende eines Films eine zentrale Bedeutung, indem sie sich aufeinander beziehen und so den Film umschließen. Der Aufbau einer Erzählung manifestiert sich im sukzessiven Werden, im zeitlich bedingten Fortschreiten der Handlung. Bei Bildern ist das Gegenteil der Fall. Sie sind die Inszenierungen von Räumen – unabhängig von der Zeit. Somit tritt neben den Ordnungsfaktor Ort durch das Erzählen der Ordnungsfaktor Zeit.73 Erzählt wird in Polittalk-Sendungen auf der Grundlage eines redaktionell geplanten Ablaufs, den der Moderator oder die Moderatorin einzuhalten versucht – u.a. mit der Verwendung von Einspielern. Anders als Filme sind Polittalks jedoch narrativ fragmentiert, da verschiedene Akteure (Gäste und Moderation/Redaktion) divergente Narrationen hervorbringen oder vielmehr durchzusetzen versuchen. Insofern sind Narrationen ideologische Aussagensysteme spezifischer Diskurspositionen. Hier gilt es in der Analyse herauszufinden, ob sich dominante Narrationen in einer Sendung durchsetzen können oder möglicherweise sogar sendungsübergreifend vorherrschend sind. Moderation und Redaktion planen und organisieren eine Erzählstruktur, die zwischen dem Anfang, der Mitte und dem Ende einer Polittalk-Sendung eine Geschichte bilden soll. Dabei kommen auch in Polittalks dramaturgische Mittel zum Einsatz. In der Anmoderation und der Vorstellung der Gäste versucht die Moderation bereits

69 Vgl. Flückiger 2001, S. 134. 70 Vgl. ebd., S. 96f. 71 Vgl. Hickethier 2001, S. 106-108. 72 Ebd., S. 111. 73 Vgl. Hickethier 2001, S. 112.

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konfliktäre Thesen einander gegenüberzustellen. Zu beobachten sind außerdem Veränderungen der Bedeutungskonstruktion von Seiten der Redaktion während einer Sendung. So entstehen in Polittalks Wendepunkte, die der Spannungserzeugung dienen sollen – ähnlich wie im Film: Der Anfang dient als Exposition der Einführung von Figuren und Charakteren. Die darauf folgende Durchführung beinhaltet einen Konflikt, der zunächst vorbereitet wird, um dann in Form von Wendepunkten die Handlungslinien zu verändern. Der Konflikt erreicht einen Höhepunkt, der sich durch besondere inhaltliche, kognitive, emotionale und/oder sinnliche Reaktionen auszeichnet; entweder weil die kausale Kette von Ereignissen einen Höhepunkt erreicht, oder weil die Antagonist_innen einen konfrontativen Höhepunkt erreichen. Mit diesem »Show down« wird das Ende eingeleitet.74 Unter dem Kriterium der Unterhaltung ist ein Polittalk dann gelungen, wenn es der Moderation gelingt, einen solchen Höhepunkt herbeizuführen. Der Schluss ist in Polittalks jedoch meist unversöhnlich, da – wie bereits erwähnt – keine Lösungen gesucht werden, sondern unvereinbare Positionen aufeinandertreffen. Dokumentarischer Stil Für die Interpretation von Polittalks sind auch die Einspieler relevant, in denen »das Gesehene […] über das einzelne Produkt hinaus auf einen kulturellen Kontext hin interpretiert« werden muss.75 Für die Analyse der Einspieler sind dokumentarfilmanalytische Überlegungen sinnvoll. Die Intention, vermeintliche Tatsachen zu präsentieren, die danach diskutiert werden können, verweist auf den dokumentarischen Charakter dieser Einspieler. Non-fiktionales Filmmaterial und non-fiktionale Interview-Sequenzen erzielen ein hohes Maß an Authentizität. Der Wirklichkeitsgehalt von Einspielern wird von Seiten der Diskutant_innen dementsprechend selten in Frage gestellt. Bei Zuschauer_innen kann so der Eindruck erweckt werden, einen wahrheitsgemäßen Einblick in die Wirklichkeit zu erhalten.76 Matthias Thiele fordert »idealtypische« Dokumentationen zu den Themen Einwanderung, Flucht und Asyl, da Dokumentationen seiner Ansicht nach häufig nicht die medienwissenschaftlichen Gütekriterien einer Dokumentation erfüllen. Ein audiovisuelles Produkt in dokumentarischem Stil muss also keine »gute« Dokumentation sein. Fraglich bleibt, ob es überhaupt »idealtypische« Dokumentationen gibt.

74 Vgl. ebd., S. 120-125. 75 Ebd., S. 118. 76 Vgl. Winter 2008a, S. 88.

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Schließlich enthalten Dokumentationen immer die Perspektive ihrer Macher. Jedenfalls erreicht allein der dokumentarische Stil ein enormes Maß an Authentizität, da Dokumentationen als »das Zeigen der Wirklichkeit« rezipiert werden.77 7.3.3 Datenaufbereitung Die Transkriptionen der Polittalks sind so angefertigt, dass möglichst viele Informationen aus dem Filmmaterial verschriftlicht dargestellt werden können. Die Darstellungsweise entwickelte sich teilweise aus Vorüberlegungen und teilweise während der ersten Transkriptionsversuche, da die Transkription immer wieder Änderungen zur einfacheren Handhabung des Datenmaterials erforderte. Das gewählte Prinzip der Darstellung der Transkriptionsdateien war von vornherein festgelegt und hatte sich bereits im Rahmen einer früheren Forschungsarbeit bewährt. Der tabellarische Aufbau des Programms Excel ermöglicht die Darstellung der audiovisuellen Ebenen »Ton« und »Bild«, die neben der »Zeit« (Timecode) in Spalten festgehalten werden. Dadurch wird die Gleichzeitigkeit der filmischen Ebenen schriftlich sichtbar gemacht. Die Spalte »Ton« ist in zwei »Sprecher_in«-Spalten, sowie »Geräusche« unterteilt. Eine andere gängige Möglichkeit der Verschriftlichung von Filmmaterial ist das Verfassen einer Transkriptionspartitur. Der Timecode verläuft hier horizontal von links nach rechts; ebenso werden die auditiven und visuellen Hinweise in Zeilen geschrieben. Diese Transkriptionsweise hat den Vorteil, dass das Datenmaterial beispielsweise in 1- oder 2-Sekunden-Schritte untergliedert und somit dem Timecode die dominante Rolle verliehen werden kann. Diese Technik scheint für die Fülle des vorliegenden Datenmaterials nicht praktikabel, da beinahe jedes gesprochene Wort in eine andere Zeit-Spalte eingefügt werden müsste. Aufgrund der diskursanalytischen Vorgehensweise in dieser Arbeit werden auditive und visuelle Narrative zwar selbstverständlich ebenfalls in den Blick genommen, doch haben die sprachlichen Äußerungen Vorrang. Ihre grafische Bündelung im Transkriptionsdokument (im Gegensatz zu einer Zerstückelung im Falle einer Transkriptionspartitur) ist somit besonders wichtig.

77 Vgl. Goebel, Simon: Die Konstruktion neokolonialen Wissens in deutschen Dokumentarfilmen über die deutsche Geschichte, in: Przegld Zachodni, Jahrgang 70, 1, Pozna 2014b, S. 13f.

Teil III. Polittalk-Analysen

8. Asylrecht und quantitative Zuschreibungen

8.1 D IFFERENZIERUNGEN G EFLÜCHTETER : AUFENTHALTSSTATUS UND RECHTLICHE L EGITIMITÄT 8.1.1 Konstruktionen rechtlicher Differenzlinien Juridisch ist der Flüchtlingsstatus klar definiert. Im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951 (Art. 1 Abs. 2) ist ein Flüchtling eine Person, die »aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.«1

Da es sich bei der GFK um ein Abkommen handelt, das nicht rechtsverbindlich ist, dient sie zwar »als die völkerrechtliche Grundlage für Asylgewährung« (Herv. i.O.),2 die eigentlichen Asylpolitiken jedoch werden von nationalstaatlichem Asylrecht und in Europa zusätzlich von europäischem Recht bestimmt. Wie Annette Treibel zeigt, bleibt das Phänomen der »Massenflucht«, das einen großen Teil gegenwärtiger Fluchtbewegungen ausmacht, von der GFK unberücksichtigt; die GFK bezieht sich auf individuelle Verfolgungsgründe. Demgegenüber definieren die Deklarationen der Organisation für Afrikanische Einheit in ihrer Konvention über die spezifischen Aspekte von Flüchtlingsproblemen in Afrika und die von mittelamerikanischen Staaten

1

UNHCR: Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951. Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967.

2

Treibel 2011, S. 161.

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verfügte Flüchtlingsdeklaration von Cartagena als Ursache von Flucht auch die Gefährdung von Sicherheit und Freiheit aufgrund einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch Krieg oder innere Unruhen.3 Ferner muss Flucht – wie Fluchtbewegungen zeigen – nicht zwangsläufig das Überschreiten einer Staatsgrenze bedeuten. So geht das UNHCR von 38,2 Millionen Binnenflüchtlingen im Jahr 2014 aus.4 Treibel verwendet aufgrund ihrer Ausführung einen Flüchtlingsbegriff, der »unter Flüchtlingen diejenigen Personen [versteht], die durch Kriege, Bürgerkriege, Katastrophen und andere Notlagen gezwungen werden, ihre Heimat zu verlassen«.5 Die Einschätzung darüber, was eine Notlage in genanntem Sinne ist, sollte Geflüchteten überlassen sein. Insofern bedeutet »Zwang« ein subjektives Sich-gezwungen-fühlen zu fliehen. Es ist eine persönliche Einschätzung, die in möglicherweise diffusen Situationen entsteht. Die Entscheidung bedeutet vielfach den Verlust von Heimat, die Aufgabe persönlicher Beziehungen und ein Risiko, das lebensbedrohlich sein kann – wie die Flucht in kleinen seeuntauglichen Booten über das Mittelmeer oder die Ägäis. In den Polittalk-Sendungen wird vielfach über den Begriff »Flüchtling« diskutiert. Definitionsversuche werden u.a. im juristischen Sinn angestellt. Dabei zeigt sich eine große Bandbreite an verkürzt oder falsch dargestellten juristischen Typisierungen Geflüchteter. Mit den Definitionen werden verschiedene Kategorien von Geflüchteten gebildet, denen unterschiedliche Legitimationsgrade ihres Aufenthalts in Deutschland zugeordnet werden. Die Definitionsversuche zielen also nicht nur darauf ab, eine Diskussionsgrundlage zu schaffen, sondern sie dienen den Gästen der Sendungen auch als Basis ihrer Agitation. Die Kategorisierung von Geflüchteten zieht sich durch alle analysierten Sendungen. Beispielhaft für die Motivation auf Redaktionsseite, Kategorien zu bilden, ist diese Aussage von Sandra Maischberger am 25.11.2014: »[W]ir versuchen hier so ne Unterscheidung zu treffen zwischen Kriegsflüchtlingen, Einwanderern usw.«6 In einem dialogischen Gespräch mit ihrem Gast Farzam Vazifehdan, einem Chefarzt, der als Jugendlicher und Sohn vermögender Eltern allein aus dem Iran nach Deutschland kam, fragt sie ihn: »[D]ie Kategorien sind, äh Asyl, also politischer Flüchtling, Wirtschaftsflüchtling, Armutsflüchtling, was trifft denn jetzt auf Sie zu?«7 Maischberger gibt ohne nähere Begründung zu verstehen, dass diese Kategorisierung ihr Ziel sei. Neben der grundsätzlichen Frage, welchen Sinn diese Kategorienbildungen machen, sind Maischbergers aufgestellte Kategorien untauglich, um Geflüchtete zu beschreiben, da rechtliche und politische Ebenen vermischt werden. Bevor die von 3

Vgl. ebd.

4

UNHCR: Global Trends. Forced Displacement in 2014, Genf 2015b, S. 2.

5

Treibel 2011, S. 162.

6

Menschen bei Maischberger: Angst vor Flüchtlingen – Falsche Panik oder echtes Problem? ARD, 25.11.2014, 0:47:52.

7

Ebd., 0:54:58.

A SYLRECHT

UND QUANTITATIVE

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Maischberger hier genannten sowie weitere Kategorien in ihrem jeweiligen Kontext beschrieben werden, sollen einige Aussagen gezeigt werden, die sich ebenfalls an der Kategorienbildung versuchen und die Aufschluss über die dahinterstehenden Intentionen geben können. Im Übrigen sind in seltenen Fällen Aussagen zu vernehmen, die sich gegen diese Kategorisierung zur Wehr setzen. Farzam Vazifehdan beispielsweise entgegnet Maischberger, dass die Kategorien »Schublade[n]« seien und er »will ja gar nicht in ne Schublade«,8 d.h. er kritisiert die den Kategorien immanenten Pauschalisierungen. Um ein weiteres Mal zu zeigen, dass die Kategorienbildung auch von Seiten der Moderationen angestrebt wird, sei Maybrit Illner zitiert: »[N]un sitzen in diesen Behörden ja Menschen, die müssen tatsächlich entscheiden, kommt da jemand, weil er aus dem Elend entfliehen will und ist eben wirklich ein Flüchtling oder kommt jemand hier nach Deutschland, weil er sich in diesem Land ein bessere[s] Leben erhofft.«9 Sie thematisiert hier das Zustandekommen der Kategorien im Asylverfahren. Dieses Verfahren wird nur rudimentär erklärt. Deutlich wird, dass eine Behörde (gemeint ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF]) Entscheidungen trifft, die die Asylantragssteller_innen differenzieren. Illner unterscheidet zwei Kategorien, nämlich Menschen, die »aus dem Elend entfliehen« und jene, die »sich in diesem Land ein besseres[s] Leben« erhoffen. Diese Differenzierung ist äußerst unpräzise, da »Elend« kein objektiv erfassbarer Zustand, sondern eine subjektive Empfindung ist. Insofern sind sich beide Kategorien ähnlich, da eine Person, die aus dem Elend flieht, selbstverständlich im Zielland der Flucht ein besseres Leben erhofft. Vielleicht kommt sie mit dieser Formulierung den Realitäten aber auch näher als die rechtlichen Kategorien, da die Entscheidung zur Flucht aus diversen individuellen und subjektiven Motiven heraus entsteht. Entsprechend äußert sich Illners Gast mram Ayata kritisch gegenüber den Entscheidungen des BAMF: »[W]ie wollen wir da jetzt eigentlich festlegen, ist der jetzt äh verfolgt oder nicht. Ich glaub nicht, dass n deutscher Beamter das wirklich final beantworten kann.«10 Dieser Zweifel an den Entscheidungen der Entscheider_innen des BAMF ist einmalig in allen analysierten Sendungen. Dass Ayata ganz zu Recht auf die Fehlbarkeit der Entscheider_innen hinweist, beweisen die Verwaltungsgerichtsurteile über die Klagen von Asylbewerber_innen gegen die vom BAMF getroffenen Entscheidungen über Asylanträge. Im

8

Menschen bei Maischberger, 25.11.2014, 0:55:30. An einer Stelle sagt er in Bezug auf das deutsche Schulsystem, dass »wir in Deutschland das Problem haben, dass wir immer wieder kategorisieren«. Was er hier zwar auf das Schulsystem bezieht, ist übertragbar auf die Diskussion über Geflüchtete. Ebd., 0:49:55.

9

Maybrit Illner: ›Aufstand für das Abendland‹ – Wut auf die Politik oder Fremdenhass? ZDF, 11.12.2014, 0:49:24.

10 Ebd., 0:51:38.

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Jahr 2014 erreichten immerhin 10,2 Prozent der Kläger_innen einen Schutzstatus.11 Das BAMF hieß noch vor dem Zuwanderungsgesetz, das 2005 in Kraft trat, »Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge«. Mit dem Zuwanderungsgesetz wurden die Kompetenzen des BAMF erweitert. Als Bundesbehörde verfolgt es in erster Linie politische Interessen, die in der Migrationsgesetzgebung befindlich und grundsätzlich defizitorientiert sind; die Entscheidungen über Asylanträge sind entsprechend häufig ablehnend. Mit deutlicher Polemik schreibt Wolfgang Benz über das BAMF: »Das Amt, untergebracht in einer ehemaligen SS-Kaserne in Nürnberg am Rand des Parteitagsgeländes auf einem Areal, das nach dem Krieg Displaced Persons und Migranten beherbergte, widmet sich mit über 2000 Mitarbeitern der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.«12 (Herv. i.O.) Migration wird durch die Institution BAMF zur Abnormalität erklärt und Migrant_innen zu »dem Anderen«, das einer Spezialbürokratie bedarf. Während die Moderationen mit ihren Differenzierungsversuchen deskriptive Ziele zu verfolgen scheinen, versuchen Gäste mit rechts-konservativen Diskurspositionen Geflüchtete vor allem zu kategorisieren, um einem Teil der Geflüchteten ihren rechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland abzusprechen. In der Sendung Maybrit Illner vom 11.12.2014 wird der Gast und bayerische Innenminister Joachim Herrmann in einem Einspieler zitiert: »Man muss deutlich sagen, dass über die Hälfte äh der Flüchtlinge, die hier her kommen, eigentlich nicht berechtigt sind.«13 Herrmann suggeriert, dass eine Mehrheit der Geflüchteten rechtlich gesehen nicht nach Deutschland kommen darf. Er meint damit diejenigen, deren Asylantrag abgelehnt oder formell entschieden wurde14 (Abbildung 5, S. 126). Ein gewisser Teil derer, die ein abgelehntes Asylverfahren haben, wird geduldet, d.h. die Abschiebung wird ausgesetzt, womit ein zeitlich eng begrenzter legaler Aufenthalt in Deutschland gewährt wird, der paradoxerweise gleichzeitig eine Ausreisepflicht bedeutet.15 Was die Einreise nach Deutschland angeht, die Herrmann anspricht, muss von einer rechtlichen Krux gesprochen werden. Personen aus Drittstaaten ist die Einreise nach Deutschland u.a. dann nicht erlaubt, wenn sie keinen Aufenthaltstitel besitzen.16 Da Geflüchtete (mit 11 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2014, S. 58. 12 Benz 2006, S. 100. 13 Maybrit Illner 11.12.2014, 0:44:07. 14 Formelle Entscheidungen beziehen sich in der Regel auf das Dublin-Abkommen, d.h. ein anderer EU-Staat ist für den Asylantrag zuständig. 15 Die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) begründet sich durch rechtliche und tatsächliche Gründe, die eine Abschiebung verhindern (z. B. Bürgerkrieg im Herkunftsstaat, Unmöglichkeit des Transports (z.B. aus gesundheitlichen Gründen) und fehlende Identitätsdokumente). Vgl. § 60a AufenthG. 16 Vgl. § 14.2 AufenthG. Aufenthaltstitel: Visum, Aufenthaltserlaubnis, Blaue Karte EU, Niederlassungserlaubnis, Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU. Vgl. § 4 AufenthG.

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wenigen Ausnahmen) keinen Aufenthaltstitel besitzen, müssen sie unerlaubt einreisen, da sie erst in Deutschland einen Schutz beantragen dürfen. Geflüchtete werden also gezwungen, unerlaubt einzureisen.17 Unerlaubte Einreise steht unter Strafe (§ 95.3 AufenthG), ebenso wie der darauf folgende Aufenthalt in Deutschland ohne Aufenthaltstitel (§ 95.2 AufenthG). Der Aufenthalt kann nur legalisiert werden, wenn die Person einen Asylantrag stellt. Dazu genügt die Äußerung »Asyl« in der Gegenwart einer behördlichen Instanz wie der Bundespolizei. Herrmann hat also Recht damit, dass Geflüchtete nicht nach Deutschland kommen dürfen, da die Einreise unerlaubt erfolgt. Er spricht ihnen das Recht der Einreise jedoch erst im Nachhinein, also nach der Entscheidung des Asylverfahrens ab, da er ja die Zahlen der Asylverfahrensentscheidungen nennt (»über die Hälfte«). Damit konstruiert er eine Kriminalisierung Geflüchteter aufgrund ihrer unerlaubten Einreise, obwohl jeder Mensch, der nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, gemäß Art. 16a GG ein Recht darauf hat, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Herrmann konstatiert eine Unrechtmäßigkeit, wo keine ist. Eng verbunden mit dieser Suggestion von Herrmann ist der Vorwurf gegen Geflüchtete, sie würden das Asylrecht missbrauchen. Um diesen argumentativen Zusammenhang zu verdeutlichen, sei der stellvertretende Chefredakteur der Schweizer Wochenzeitung Weltwoche Philipp Gut zitiert, der einer rechts-nationalen Diskursposition zuzuordnen ist und von der Menschen bei Maischberger-Redaktion offensichtlich eingeladen wurde, um eine Geflüchteten gegenüber feindliche Position zu vertreten. Er sagt in den ersten Minuten der Sendung: »[W]ieviele Asylbewerber, von 100 zum Beispiel werden anerkannt als politische Flüchtlinge, das waren die letzten Zahlen, im Jahr 2011 warens 1,5 Prozent, das heißt 58,5 Prozent ähm ha~ sind hier her gekommen und haben nicht äh Asyl bekommen das heißt man hat sie nicht als politische Flüchtlinge anerkannt und ich glaube die die Leute merken, dass eben sehr viele Leute hierher kommen, die eben nicht wirklich politisch verfolgt werden äh im es gibt dann weitere Probleme s~ die Kriminalität unter Asylbewerbern ist relativ hoch […].«18

Gut versucht darzustellen, dass die meisten Geflüchteten keine rechtliche Legitimität haben, in Deutschland zu sein. Er verweist dabei auf den Art. 16a GG, was an der Verwendung der Worte »Asyl« und »politischer Flüchtling« zu erkennen ist. In Art. 17 Günther Burkhardt (Pro Asyl) kritisiert, dass für Geflüchtete »kaum bis keine humanitären Spielräume« zugelassen werden, um legal einzureisen und diese dadurch »nur einen Weg gehen [können]«, »sie müssen Geld auf den Tisch legen«, also Schlepper bezahlen und illegal einreisen. Beckmann: Bedroht, vertrieben und fern der Heimat – Menschen auf der Flucht, ARD, 26.09.2013, 0:09:49 und 0:14:57. 18 Menschen bei Maischberger: Wut auf Asylbewerber – Sind wir Ausländerfeinde? ARD, 27.08.2013, 0:05:13.

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16a Abs. 1 heißt es: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Die Zahl, die er nennt, wonach nur 1,5 Prozent »Asyl« erhalten haben, ist korrekt. Allerdings verschweigt er sämtliche andere Entscheidung über die Asylanträge in dem von ihm genannten Vergleichsjahr 2011, nämlich internationaler Flüchtlingsschutz im Sinne der GFK (§ 3.1 AsylVfG),19 subsidiärer Schutz (§ 4.1 AsylVfG), nationale Abschiebeverbote (§ 60.3, 5 und 7 AufenthG) sowie die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) (§ 60a AufenthG). So haben immerhin 22,3 Prozent der Asylantragssteller_innen eine Aufenthaltserlaubnis im Sinne eines Schutzes erhalten. Zudem wird ein nicht bezifferbarer Teil der 54,7 Prozent der Geflüchteten mit abgelehntem Asylverfahren eine Duldung erhalten oder ein Widerrufverfahren angestrengt haben. Abbildung 5: Entscheidungen über Asylanträge zwischen 2006 und 2015 Sachentscheidungen

Jahr Insgesamt

2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015

davon Rechtsstellung als Flüchtling i.S.d. i.S.d. GFK Art. 16a GG

30.759 1.348 4,3 % 251 0,8 % 28.572 7.197 24,9 % 304 1,1 % 20.817 7.291 34,6 % 233 1,1 % 28.816 8.115 27.7 % 452 1,5 % 48.187 7.704 15,8 % 643 1,3 % 43.362 7.098 16,1 % 652 1,5 % 61.826 8.764 14,0 % 740 1,2 % 80.978 10.915 13,3 % 919 1,1 % 128.911 33.310 25,8 % 2.285 1,8 % 282.726 137.136 48,5 % 2.029 0,7 %

Formelle Entscheidungen

davon Gewährung von subsidiärem Schutz

davon davon Feststellung eines Ablehnungen Abschiebungsverbotes

144 226 126 395 548 666 6.974 7.005 5.174 1.707

459 447 436 1.126 2.143 1.911 1.402 2.208 2.079 2.072

0,5 % 0,8 % 0,6 % 1,4 % 1,1 % 1,5 % 11,3 % 8,7 % 4,0 % 0,6 %

1,5 % 1,6 % 2,1 % 4,2 % 4,4 % 4,4 % 2,3 % 2,7 % 1,6 % 0,7 %

17.781 12.749 6.761 11.360 27.255 23.717 30.700 31.145 43.018 91.514

57,8 % 44,6 % 32,5 % 39,4 % 56,6 % 54,7 % 49,7 % 38,5 % 33,4 % 32,4 %

11.027 7.953 6.203 7.730 10.537 9.970 13.986 29.705 45.330 50.297

35,8 % 27,8 % 29,8 % 26,8 % 21,9 % 23,0 % 22,6 % 36,7 % 35,2 % 17,8 %

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl. Ausgabe Dezember 2015 (12.01.2016), S. 11.

Die Reaktionen auf diese Darstellung von Gut sind verhalten. Die ARD-Reporterin Caroline Walter möchte »einhaken«, kommt dann aber nicht zu Wort. Vermutlich liegt die verhaltene Reaktion mitunter darin begründet, dass Philipp Gut sich hier verspricht. Die Differenz der 1,5 Prozent zu den 100 Prozent sind 98,5 Prozent – er spricht jedoch von 58,5 Prozent, die »nicht wirklich politisch verfolgt werden«. Diese nicht nachvollziehbare Irritation könnte dazu geführt haben, dass andere Gäste mit seiner Aussage nur wenig anzufangen wussten. Als er schließlich Asylbewerber_innen als kriminell markiert, handelt er sich eine abfällige, lächerlich machende Be-

19 Das »Asylverfahrensgesetz« heißt seit dem Inkrafttreten des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes am 24.10.2015 »Asylgesetz«.

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merkung von Maischberger ein: »Jetzt packen Sie aber alles gleich in die erste Antwort […].« »Alles« meint hier offensichtlich alle Vorurteile und Ressentiments, für die Gut bekannt ist und wegen denen er eingeladen wurde. In der 56. Minute der Sendung wiederholt Gut seine Aussage, die allermeisten Geflüchteten seien nicht berechtigt, in Deutschland zu sein, diesmal spricht er von 98,5 Prozent, wie folgender Transkriptionsauszug zeigt: Transkriptionsauszug 2: Philipp Gut über die Anerkennungsquoten Zeit Sprecher_in Sprecher_in Bild Beteiligte Sprecher_innen: Sandra Maischberger (SM), Philipp Gut (PG), Caroline Walter (CW), Michel Friedman (MF), Khadra Sufi (KS) SM: […] Sie sagen ja es kommen 54:59 die Leute dahin, wo es äh wirtschaftlich äh oder wo es Ihnen besser geht ähm Sie unterstellen, dass das gar nicht alles Menschen sind, die in Not sind und vor Krieg flüchten? PG: Das unterstell ich ganz und 55:08 gar nicht. Das sind die Statistiken in Deutschland, ich wiederhol es, SM: Also was sind das dann, wenn die Anerkennungsquote 2011, 1,5 sie keine~ Prozent, das heißt 98,5 CW: Ja, da würd ich aber gerne Prozent von denen Kopfschütteln nochmal einhaken. wurde offiziell von CW MF: Das stimmt so nicht. gesagt, dass sie CW: Das stimmt so nicht. politisch nicht verfolgt sind. SM: Und was sind das dann für 55:21 Menschen? PG: In der Schweiz geht’s zum 55:22 Teil die Anerkennungsquote bis 20 Prozent, aber Fachleute sagen, real seis noch tiefer, weil man oft eben äh ja ein~ großzügig mit dem Asylrecht umgeht. Das heißt die überwiegende Mehrzahl, stellen Sie sich mal vor, 98 Prozent~ SM: Ist was, wenn kein Flücht55:38 ling? PG: ~sind nicht politische Flücht55:39 linge, die werden in ihrer Heimat SM: Sondern? nicht politisch verfolgt. SM: Sondern? PG: Ja die kommen her, weil sie KS: Weil sie eine 55:43 äh andere Perspektiven suchen (.) Chance bekommen, wie ich zum ja aber das ist, ja aber das ist Beispiel, die ich genutzt habe das geht nicht unabhängig von [?] MF: Aber sie ist Kriegskind, sie ist MF deutet auf Ja, Sie warn eins, ja, eben, wirklich Kriegskind. KS sie wäre bei diesen 1,5 Prozent [räuspert sich] entschuldigung,

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98,5 Prozent, die kommen nicht aus solchen Kriegssituationen und darüber muss man doch mal sprechen, das ist ein Milliardenleerlauf, stellen Sie sich das mal vor. SM: Frau Walter. PG: Nein, [?] SM: Lassen Sie Frau Walter auch mal ihres sagen. PG: Ja, das ist Asyl [?] SM: Jetzt ist Frau Walter dran.

SM: Solange sie in ihren Ländern tatsächlich Bürgerkrieg oder Krieg ist ohne dass sie ein (.) dauerhaftes Bleiberecht [?] | PG: [-?-]

56:57

PG: Es ist auch es ist auch ein internationaler politischer Missstand, es ist zum Beispiel ist ein großes Problem, Flüchtlinge, die abgewiesen wurden, Asylbewerber, die abgewiesen wurden in ihre Heimatländer zurückzubringen, weil die Staaten sagen, das interessiert uns nicht, die nehmen wir nicht, das ist das verstößt aber gegen internationales Recht diese Rückübernahmeabkommen

SM: Mhm und dann haben sie auch kein Recht auf Asyl. CW: Nein, Sie argumentieren aber mit den falschen Zahlen. Sie argumentieren mit den fal~ doch. Das sind die rein politisch Verfolgten, geb ich Ihnen Recht, die Zahl ist gering. Ja aber, es gibt noch viele Menschen und das sind fast 40 Prozent, die Flüchtlingsschutz gewährt bekommen aufgrund von Bürgerkriegen wie in Syrien, Afghanistan oder anderen Ländern. Das heißt, die müssen Sie, es gibt nun mal die äh Flüchtlingskonvention und diesen Flüchtlingsschutz. Und die müssen Sie (2) genau, siehe der ehemalige Jugoslawienkrieg, wie lange warn sie dort und sind dann nach zwölf Jahren vielleicht wieder zurückgegangen. Diese Menschen müssen Sie aber genau dazu zählen, dann kommen Sie auf ungefähr 45 bis 50 Prozent, die längerfristig für mehrere Jahre hier in Deutschland leben, ja, und die ein Schutzgewähr oder es gibt Leute, die können nicht abgeschoben werden aus Krankheit oder zum Beispiel weil ihre Herkunftsländer sie gar nicht haben wollen und sagen, geben wir kein Pass, wir nehmen diesen Menschen nicht zurück. Hab ich mehrere Fälle erlebt.

MF setzt zum Sprechen an, Kopfschütteln von PG, Nicken von CW

Dezentes Nicken von PG geht in dezentes Kopfschütteln über

MF erhebt Zeigefinger, zieht Augenbrauen zusammen und schüttelt Kopf

SM: Und dann SM: Is es | CW: Ja aber dafür

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existieren, aber viele Staaten [?] sich da [?] MF: Aber ich halte es für einen sehr | PG: [-?-] wichtigen Begriff, den Sie grade eingeführt haben, wir reden nämlich nicht nur von Asylanten nach dem Asylgesetz, sondern wir reden auch nach dem Flüchtlingsrecht, den die UN schon lange vorher auch beschrieben hat und in der Tat Flüchtlinge müssen nicht politisch verfolgt gewesen sein, sondern müssen mit Leib und Leben weil in ihren Ländern Diktaturen oder sonstwas gewesen sind, flüchten. Und das ergibt in Deutschland dann doch fast 50 Prozent Anerkennung und das muss man schon ernst nehmen. Flüchtlinge, das ist auch eine Gruppe von Menschen, die mit Leib und Leben in ihren Ländern bedroht sind und ich glaube schon, noch einmal die Zahl, 100.000 dieses Jahr, bei 80 Millionen, wovor haben wir eigentlich Angst? Wollen wir wieder anfangen wie mit Begriffen i~ in Anführungszeichen wie Überschwemmung~ ?

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dafür können die Flüchtlinge nichts. SM: Aber dann ist doch die Frage, warum (.) was machen wir mit diesen Menschen dann? MF und PG aus HN gefilmt, Zoom