Thomas Hobbes' körperbasierter Liberalismus: Eine kritische Analyse des »Leviathan« [1 ed.] 9783428547487, 9783428147489

Dieses Buch präsentiert eine neue Deutung des kontraktualistischen Arguments, wie es im englischen »Leviathan« formulier

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Thomas Hobbes' körperbasierter Liberalismus: Eine kritische Analyse des »Leviathan« [1 ed.]
 9783428547487, 9783428147489

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 184

Thomas Hobbes’ körperbasierter Liberalismus Eine kritische Analyse des Leviathan

Von Eva Helene Odzuck

Duncker & Humblot · Berlin

EVA HELENE ODZUCK

Thomas Hobbes’ körperbasierter Liberalismus

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 184

Thomas Hobbes’ körperbasierter Liberalismus Eine kritische Analyse des Leviathan

Von Eva Helene Odzuck

Duncker & Humblot · Berlin

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsund Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

Die Philosophische Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahr 2014 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2016 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormArt, Daniela Weiland, Göttingen Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-14748-9 (Print) ISBN 978-3-428-54748-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-84748-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern, Sylvia und Karl-Ludwig Ostertag-Henning (†)

Vorwort Dieses Buch ist die Druckfassung meiner Dissertation, die im Sommersemester  2014 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität­ Erlangen-Nürnberg angenommen wurde. Danken möchte ich an dieser Stelle denjenigen, die meine Arbeit unterstützt haben. PD Dr. Mathias Hildebrandt danke ich für die erste Feuer entfachende Begegnung mit dem Bereich der politischen Theorie, Philosophie und Ideengeschichte. Der Anfertigung meiner Dissertation äußerst zuträglich war die Möglichkeit, mein Vorgehen und erste Zwischenergebnisse mit den Professoren des Bayerischen Promotionskollegs Politische Theorie – Prof. Dr. Manfred Brocker, Prof. Dr. Hendrik Hansen, Prof. Dr. Karlfriedrich Herb, Prof. Dr. Clemens Kauffmann, PD Dr. Hans-Jörg Sigwart und Prof. Dr. Barbara Zehnpfennig – und mit meinen dortigen Doktorandenkolleginnen und -kollegen zu diskutieren. Insbesondere Herrn Prof. Dr. Karlfriedrich Herb danke ich für anregende und weiterführende Gespräche über Hobbes’ politische Philosophie, für die Übernahme des Drittgutachtens und für seine kontinuierliche freundliche Unterstützung auch über die Dissertation hinaus. Besonders hervorheben möchte ich auch PD Dr. Hans-Jörg Sigwart, der die Entstehung der Arbeit durch entscheidende Hinweise befördert und mir ein wertvolles, umfassendes Zweitgutachten geschrieben hat. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Gerhard Ernst für seine Mitwirkung an meiner Disputation. PD Dr. Andree Hahmann und Prof. Dr. Bernd Ludwig danke ich für ihr freundliches Interesse an meiner Arbeit und die Möglichkeit, Teile meiner Arbeit mit ihnen zu diskutieren. PD Dr. Dieter Hüning hat mir große wissenschaftliche Gastfreundschaft entgegengebracht. Für sein Interesse an der fachlichen Aus­einan­der­set­zung mit einer Interpretation, die sich als Ergänzung der rechtstheoretischen Deutung versteht, bin ich ihm sehr dankbar. Prof. Marcelo Villanova danke ich für abendfüllende, Freude machende Diskussionen über Thomas Hobbes und das Recht auf Selbstverteidigung. Prof. Aloysius Martinich und Dr. Adrian Blau bin ich für die Diskussion einiger fachlicher Probleme in der Korrespondenz dankbar. Den Teilnehmern des fünften Workshops der European Hobbes Society danke ich für anregende Gespräche, die mich in der Abschlussphase der Dissertation beflügelten. Den ersten Impuls zu dieser Arbeit gab mein Doktorvater Prof. Dr. Clemens Kauffmann. Ihm möchte ich an dieser Stelle herzlich danken für alles, was ich während meines Studiums und meiner Promotionsphase von ihm lernen durfte. Er hat mir in meiner Promotionsphase eine Freiheit gelassen, die es mir erlaubte, meinen eigenen wissenschaftlichen Weg zu gehen. Dadurch habe ich viel gelernt und Freude am selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten gewonnen. Trotz der

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Vorwort

großzügig gewährten Freiheit verstand er es, in den entscheidenden Momenten immer da zu sein und mir mit fachlichem Rat, Diskussionsbereitschaft und freundlicher Ermutigung zur Seite zu stehen. Ich hätte mir keine bessere Betreuung wünschen können. Ebenso fachliche wie freundschaftliche Unterstützung habe ich von meinen Kollegen am Lehrstuhl für Politische Wissenschaft II der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg erhalten. Ina Schildbach und Tamara Nauhardt danke ich für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts. Ohne eine Familie, die sich gemeinsam mit mir um die Betreuung unserer Söhne gekümmert hat, hätte ich diese Arbeit nicht schreiben können, weshalb ich an dieser Stelle auch meiner Mutter, meinen Schwiegereltern, Anita (†), Christa und meinem Mann Sebastian von Herzen danken möchte. Mein Mann hat mit seinen konstruktiven Nachfragen die Klarheit meines Arguments gefördert. Tief dankbar bin ich ihm dafür, dass er mit seiner Geduld, Unterstützung und Liebe nicht nur zum Entstehen dieses Buches beigetragen hat. Die Publikation wurde durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss vom Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT GmbH ermöglicht. Meinen Eltern danke ich für alles, was sie mir geschenkt und für mich getan haben. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Berkeley, im Oktober 2015

Eva Odzuck

Inhalt A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 I. Der body turn der modernen Sozialwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 III. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 B. Die politische Logik des Körpers. Eine Analyse von Thomas Hobbes’ körperbasiertem Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper? Rechtstheoretische Deutungen des kontraktualistischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 1. Der Naturzustand als Rechtsantinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2. Die natürlichen Gesetze als Reziprozitätsgebote der Vernunft . . . . . . . . . . . . 50 3. Die Autorisierung: Ein Schiedsrichter als Lösung des Rechtsproblems . . . . . 56 4. Hobbes’ Erwiderung auf den Narren als Widerlegung des Narren? . . . . . . . . 63 5. Fazit: Rechtstheoretische Deutungen des kontraktualistischen Arguments . . 71 II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments . . . . . . . . . 74 1. Der Körper als Grundlage des kontraktualistischen Arguments . . . . . . . . . . . 74 a) Die mechanistisch-materialistische Ontologie in Leviathan, Teil I . . . . . . 75 b) Der Naturzustand als Schlussfolgerung aus den Leidenschaften . . . . . . . . 91 c) Die natürlichen Gesetze als leidenschaftsabhängige Klugheitsregeln . . . . 96 d) Die Autorisierung: Ein Wächter der Freiheit als Lösung des Überlebensproblems? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 e) Fazit: Der Körper als Grundlage des kontraktualistischen Arguments . . . 116 2. Der Körper als Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Arguments . . 118 a) Handlungstheorie: Die Freiheit leidenschaftsgetriebener Körper . . . . . . . 118 b) Der Schutz des Körpers als Bedingung gültiger Verträge . . . . . . . . . . . . . 120 c) Die Freiheit der Untertanen und die Grenzen der Gehorsamsverpflichtung 124 d) Fazit: Der Körper als Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen ­ Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Der Körper als Problem: Die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 a) Die formale Struktur des Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

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Inhalt b) Die inhaltliche Füllung des Arguments durch Hobbes: Todesfurcht und Ruhmstreben – Selbsterhaltung und Wechselseitigkeit . . . . . . . . . . . . 134 c) Die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments . . . . . . . . . . 137 4. Fazit: Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments . 143 III. Der Status des kontraktualistischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Das kontraktualistische Argument zwischen Spieltheorie und Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Intentionalistische Hobbes-Hermeneutik: Ein Erklärungsversuch der biopolitischen Aporie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Der Leviathan als Ratgeberschrift für den Souverän? . . . . . . . . . . . . . . . . 153 aa) Hobbes über den Adressaten und den Inhalt seiner Schrift . . . . . . . . 153 bb) Die Kunst der öffentlichen Rede als erste Lektion für den Souverän . 157 cc) Ein mögliches Problem: Die Veröffentlichung des Beratungshandbuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 dd) Eine Lösung des Problems: Die Leidenschaftslehre und deren hermeneutische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 b) Adressaten und Nutznießer des kontraktualistischen Arguments . . . . . . . 174 aa) Die Verschiedenheit der Menschen und die Adressaten des kontraktualistischen Arguments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 bb) Die Position des Narren: Die Nützlichkeit der Vertragslehre und die Narrheit des offenen Vertragsbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 cc) Der Staat durch Aneignung als Beleg für die instrumentelle Funktion der Vertragsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 c) Der Leviathan als Wohlfahrtsstaat und Rechtsstaat? Die offene und die verborgene Logik des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 aa) Die öffentliche Lehre vom Körper als Fundament der Volkserziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 bb) Die verborgene Logik der Macht unter der Fassade des Rechtsstaates und des Wohlfahrtsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 cc) Die offene Logik der Macht in der Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 267 d) Das Interesse des Beraters: Die Ergänzung der intentionalistischen ­ Hermeneutik um den pragmatischen und kontradiktorischen Aspekt . . . . 272 3. Fazit: Das kontraktualistische Argument als argumentum ad hominem . . . . . 287

C. Fazit: Hobbes’ körperbasierter Liberalismus: Einsichten für das 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 I. Das demokratiepolitische Problem der biopolitischen Aporie . . . . . . . . . . . . . . . 294 II. Das Problem des machtphilosophischen Fundaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 III. Worte und Taten, oder: die Zukunft des Liberalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

Inhalt

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 I. Schriften von Thomas Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 II. Schriften anderer klassischer Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 III. Weitere Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

Abkürzungsverzeichnis Schriften von Thomas Hobbes DCD DCorD

EL

ELD

L LD

De Cive – deutsche Übersetzung Hobbes, Thomas (1994): Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlik. Hamburg: Meiner. De Corpore – deutsche Übersetzung Hobbes, Thomas (1997): Elemente der Philosophie. Erste Abteilung. Der Körper. Übersetzt, mit einer Einleitung und mit kritischen Annotationen versehen und herausgegeben von Karl Schuhmann. Hamburg: Meiner. Elements of Law Hobbes, Thomas (1888): The Elements of Law: Natural and Politic. The first complete and correct edition. With a preface and critical notes by Ferdinand Tönnies. Oxford: Thornton. Elements of Law – deutsche Übersetzung Hobbes, Thomas (1976): Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen. Mit einer Einführung von Ferdinand Tönnies. Mit einem Vorwort zum Neudruck von Arthur Kaufmann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Englischer und Lateinischer Leviathan Hobbes, Thomas (2012): Leviathan. Edited by Noel Malcolm. Volume 2: The English and Latin Texts (i). Oxford: Clarendon. Hobbes, Thomas (2012): Leviathan. Edited by Noel Malcolm. Volume 3: The English and Latin Texts (ii). Oxford: Clarendon. Leviathan – deutsche Übersetzung Hobbes, Thomas (1966): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Schriften anderer klassischer Autoren DK EN

Leg.

Fragmente der Vorsokratiker Diels, Hermann/Kranz, Wolfgang (1974) (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Drei Bände. Zürich: Weidmann (unveränderter Nach­druck der sechsten Auflage). Nikomachische Ethik Aristoteles (2006): Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung versehen von Olof Gigon. 7. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Nomoi Platon (1977): Gesetze. Buch I–VI. Bearbeitet von Klaus Schöpsdau. Griechischer Text von Éduard des Places. Deutsche Übersetzung von Klaus Schöpsdau. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung Ein neuer „Turn“ hat die Wissenschaften erreicht: Der body turn. Seit einigen Jahren ist es in den Geistes- und Sozialwissenschaften Mode geworden, den Körper als Forschungsgegenstand zu thematisieren. So wird etwa in der politischen Theorie das Desiderat formuliert, dass die politische Theorie sich dem Körper als bewegender Kraft des Politischen zuwenden solle. Während der Körper in den genannten Wissenschaften inzwischen sehr präsent ist, konzentriert sich die Hobbes-Forschung erstaunlich wenig auf den Körper. Obwohl Thomas Hobbes sich der vielzitierten Metapher des Staates als eines politischen Körpers bedient und seine politische Philosophie dem Augenschein nach auf eine materialistische, korporealistische Naturphilosophie gegründet ist, konzentriert sich ein Großteil der gegenwärtigen Hobbes-Literatur auf das sogenannte kontraktualistische Argument und rekonstruiert dieses weitgehend körperlos. Dieses Argument soll einer verbreiteten Lesart zufolge die Rechtmäßigkeit eines durch einen möglichen wechselseitigen Vertrag eingesetzten Souveräns und die korrespondierenden Pflichten der Untertanen begründen. Obwohl Hobbes das Argument verwendet, um für die Notwendigkeit eines rechtlich unbeschränkten Souveräns zu argumentieren, ist man sich in letzter Zeit erstaunlich einig, dass das kontraktualistische Argument ein genuin liberales Argument ist und Hobbes aus diesem Grund als Wegbereiter des Liberalismus angesehen werden kann: Vernunft, Stimme und Recht, Gleichheit und Reziprozität sollen die Koordinaten des kontraktualistischen Arguments sein – Aspekte des Körpers, der Ungleichheit und der Gewalt dagegen tauchen in der Rekonstruktion des Arguments selten auf. Ausgehend von diesen seltsam gegenläufigen Forschungsschwerpunkten soll in dieser Arbeit gezeigt werden, dass nicht so sehr Sprache, Recht und Vernunft, sondern die tieferliegende Entscheidung, Politik vom Körper her zu denken, der geeignete Ausgangspunkt ist, um Hobbes’ kontraktualistisches Argument angemessen zu verstehen. Die gegenläufigen Forschungstendenzen sollen in diesem Kapitel zunächst kurz skizziert werden, um anknüpfend daran den Gang der eigenen Untersuchung vorzustellen.

I. Der body turn der modernen Sozialwissenschaften Die akademische Wissenschaft im 20. und 21. Jahrhundert weist gewisse Konformitätstendenzen auf, die gemeinhin mit dem Namen turn bezeichnet werden. Nach der Ausrufung eines linguistic turn durch Richard Rorty in den 60er Jahren des

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

20. Jahrhunderts wurde in den 80er Jahren zunächst ein sogenannter cultural turn verkündet, dem nacheinander bestimmte Ausdifferenzierungen wie beispielsweise der practice turn, der performative turn, der pictorial turn oder der emotional turn folgten.1 Seit den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wollen zahlreiche Forscher einen neuen turn ausgemacht haben, der mit einem gesteigerten Interesse am menschlichen Körper einhergeht – und der mit den unterschiedlichen Begriffen des somatic turn, corporeal turn oder eben als sogenannter body turn bezeichnet wird.2 Beobachtet man den Wissenschaftsbetrieb, so scheint tatsächlich einiges für einen solchen body turn zu sprechen: Als Leitthema für Tagungen3 und gemeinsame Perspektive von Sammelbänden4 verbindet das Interesse am Körper so verschiedene Disziplinen wie die Literaturwissenschaft, die Theologie, die Philosophie, die Jurisprudenz oder die Politische Wissenschaft. In der Politischen Wissenschaft rief beispielsweise John Tambornino im Anschluss an Denker wie Stanley Cavell, Jean Cohen, William Conolly u.w.m. die Forderung nach einem body turn aus,5 und auch 1

Vgl. für diese Auflistung und weitere Belege zu diesen Turns Gugutzer 2009, 9. Vgl. für diese Aufzählung wiederum Gugutzer 2009, 9, der selbst den Begriff body turn bevorzugt: „Seit Anfang der 1990er Jahre wird zudem eine Wende hin zum menschlichen Körper konstatiert, die als somatic turn, corporeal turn oder, wie hier favorisiert, als body turn bezeichnet wird.“ 3 Vgl. beispielsweise den unlängst veranstalteten sechsten Kongress der Gesellschaft für Antike Philosophie in München, der den Körper zum Gegenstand machte (Körper. Σῶμα und corpus in der antiken Philosophie und Literatur, vgl. http://ganph.de/tagungen/kongresse/vierterkongress-2013, Zugriff 19.03.2014) oder die dritte internationale Tagung des Zentralinstituts Anthropologie der Religion(en) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit dem Titel „Grenzen der (religiösen) Zurichtung des Körpers“ bzw. dem Auftaktvortrag „Gott als Körper“ (vgl. http://www.ezire.fau.de/2013_08_06_zar%20dritte%20jahrestagung_programm. pdf, Zugriff 18.10.2013). 4 Als zwei aktuelle Beispiele der Flut von Sammelbänden mit einem Körperfokus vgl. den von den Soziologen Rainer Keller und Michael Meuser herausgegebenen Band „Körperwissen“ (Keller/Meuser 2011) sowie den von Ludger Schwarte und Christoph Wulf herausgegebenen Band „Körper und Recht. Anthropologische Dimensionen der Rechtsphilosophie“ (Schwarte/ Wulf 2003). Dass die Thematisierung des Körpers oft von einer speziellen wissenschaftstheoretischen Position aus erfolgt oder erfolgen sollte, dafür argumentiert selbstbewusst beispielsweise der Soziologe Stefan Hirschauer, der sich dezidiert für eine „Somatisierung des Wissens­ begriffs“ ausspricht (Hirschauer 2008). 5 Tambornino plädiert dafür, die körperlichen Faktoren, die das Politische bestimmen – etwa die Leidenschaften – nicht auszublenden, sondern in den Fokus des wissenschaftlichen Interes­ ses zu rücken. Ein Wandel von einem impliziten hin zu einem selbstbewussten Materialismus könnte und sollte die wünschbare Folge dieses Perspektivenwechsels sein: „In particular, much of the discussion of the body, especially in gender and cultural studies, focuses almost exclu­ sively on representations of the body. This focus, conceptually and substantively, tends to emphasize language, belief and symbolic systems while overlooking affect, disposition, and disciplinary practices […]. […] Such attention to the particularities of the body can rise to theoretical reflection […]. This allows us to advance from implicit materialism, which is increasingly prevalent today, to what Hampshire terms ‚self-conscious materialism‘ – a mode of embodiment constantly modified by reflection“ (Tambornino 2002, 2 und 11). Eine ähnliche Richtung scheint die politiktheoretische Bewegung des „New Materialism“ um Samantha Frost und Diana Coole einzuschlagen, vgl. deren Selbstbeschreibung: „For new materialists, no adequate political theory can ignore the importance of bodies in situating empirical actors within a material envi 2

I. Der body turn der modernen Sozialwissenschaften

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in Deutschland gibt es Tendenzen, den Körper oder körperliche Vorgänge wie Emotionen stärker in den Fokus des politiktheoretischen Interesses zu stellen.6 Aus benachbarten Disziplinen – der Literaturwissenschaft und der Rechtswissenschaft – wurde die politische Theorie aufgefordert, sich dem Körper – und insbesondere der Metapher des politischen Körpers als Ausdruck einer spezifischen Verkörperungslogik – als einem notwendigen Forschungs­gegenstand zu öffnen.7 Einer solchen Forderung kommen einige Forscher beispielsweise dadurch nach, dass sie eine als politische Theologie8 beschriebene politische Kulturforschung durchführen, die Überreste vordemokratischer Metaphorik  – die Metapher des politischen Körpers – in modernen liberalen Demokratien aufdecken soll. Philipp Manow etwa spricht von einer „Hermeneutik des Verdachts“ (Manow 2008, 12) und weist dabei der politischen Theorie als vornehmste Aufgabe die Aufklärung über die der Demokratie zu Grunde liegenden Mythen zu: ronment of nature, other bodies, and the socioeconomic structures that dictate where and how they find sustenance, satisfy their desires, or obtain the resources necessary for participating in political life“ (Coole/Frost 2010). 6 Vgl. beispielsweise den Band 23 der Schriftenreihe der Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte der DVPW, der sich dem Thema „Politische Theorie und Emotionen“ widmet. Die Herausgeber betonen in der Begründung der Themenwahl, dass die „essentialisierende Unterscheidung zwischen Gefühl und Vernunft […] aus guten Gründen unplausibel geworden [sei]“ (Schaal/Heidenreich 2012, 5). Der Verfasser der Einleitung, Felix Heidenreich, stellt in seinem Überblick heraus, dass die Relevanz der Emotionen in ihrer bewegenden Kraft liege. Während Emotionen bislang als Störfaktor rationaler Politik begriffen worden wären, betonten neuere Modelle der politischen Theorie deren Notwendigkeit, beispielsweise als „Motoren der Emanzipation“: „Emotionen stehen hier der Rationalität nicht unvermittelt entgegen, sondern werden als notwendige und genuin menschliche Dimension auch des Politischen akzeptiert und analysiert. […] Gefühle können in diesem zweiten Theorietypus Motor der Emanzipation sein, aber auch Indikator für Unterdrückung – und damit kognitiv bedeutsam“ (Heidenreich 2012, 17). 7 Völlig zurecht mahnt beispielsweise die Forschergruppe um Albrecht Koschorke, die im Rahmen eines von der DFG geförderten Projekts die „Poetologie der Körperschaften“ erforschte, an, dass der Körper als Bezugsobjekt von Repräsentationsvorstellungen in den Gegenstandsbereich der Politischen Wissenschaft falle. „Besonders folgenreich ist in diesem Zusammenhang die Metapher des sozialen Körpers, deren Wirkungsgeschichte sich von Platon und Paulus bis hin zur Biopolitik des 20. Jahrhunderts erstreckt. […] Es handelt sich also um einen Vorstellungskomplex, der funktionalen Charakter besitzt, weil sich das gesamte Bezugssystem der sozialen Adressierung und Autorisierung auf ihn stützt. Insofern gehört er sachlich dem Gegenstandsbereich der Geschichte, der Rechtsgeschichte und der politischen Wissenschaft an. Seiner metaphorischen Beschaffenheit nach fällt er indes in die Kompetenz der Literaturforschung: Sie spürt den rhetorisch-poetischen Verfahren nach, die der Produktion sozialer Realität selbst innewohnen“ (Koschorke et. al. 2007, 11). Und auch der Rechtswissenschaftler Ulrich Haltern kritisiert die „Körperlosigkeit“ der modernen Demokratietheorie (Haltern 2009, 36), vgl. dazu weiter unten. 8 Vgl. Haltern 2007, 10: „Der vorliegende Beitrag unternimmt diese Untersuchung. Er kann als politische Theologie des Souveränitätsbegriffes gelesen werden.“ Anders Manow 2008, 13: „Wenn in diesem Zusammenhang von politischer Theologie die Rede ist, dann meint das auch nicht – wie bei Schmitt – die Säkularisierung ursprünglich religiöser Begriffe durch ihre politische Verwendung, sondern […] die religiöse Aufladung ursprünglich säkular-politischer Begriffe.“

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung  „Die vornehmste Aufgabe einer zeitgemäßen politischen Theorie und Ideengeschichte liegt nicht in der Reproduktion fundierender Mythen, nicht darin, zum tausendsten Mal den mit der französischen Revolution angeblich vollzogenen Epochenwechsel nachzuerzählen. Eher ist es unsere Aufgabe, die in den Ideen und Theorien eingekapselten Mythen freizulegen, über sie aufzuklären und ihre Quellen zu identifizieren. […] Im wesentlichen bedeutet dies, die vordemokratischen Voraussetzungen der Demokratie zu erhellen und das Nachleben der politischen Vorstellungswelt des ancien régime in den Praktiken der Demokratie zu suchen, statt nur den idealen Selbstbeschreibungen der neuen Ordnung zu folgen […]“ (Manow 2008, 118).

Dabei wird diese Nachforschung jedoch, was Jan Christoph Suntrup9 völlig zu Recht kritisiert, zum Teil von einem bestimmten demokratietheoretischen Standpunkt aus vollzogen, der durchaus diskutierbar ist: Eine gemeinsame Grundprämisse dieser rechtswissenschaftlichen und politikwissenschaftlichen Ansätze lautet, dass die Demokratie auf eine bestimmte Logik des Körpers sowie auf eine Körpermetapher als Repräsentationsbezugspunkt angewiesen sei, d. h., dass diese notwendige Voraussetzungen einer Demokratie wären.10 9 „Besagt dieses [das Böckenförde-Theorem, E.O], dass der säkulare Staat nicht seine eigenen Voraussetzungen garantieren könne […], suggeriert die Rede von den vordemokratischen Voraussetzungen, dass auch die Demokratie ihren Bestand nicht aus eigener Kraft gewährleisten könne. Dies folgt nun keineswegs aus dem Bildererbe der Vormoderne, denn für die Kontinuität demokratischer Gesellschaften dürfte es, neben dem zur Solidarität sublimierten Festhalten an der Idee des Gemeinwohls, weitaus wichtiger sein, den symbolischen Rahmen für die zivilisierte Konfliktlösung zu reproduzieren als das Phantasma des politischen Körpers. Der kulturwissenschaftliche Nachweis, dass unsere politische Sprache und Symbolik noch Spuren der vordemokratischen Epoche aufweisen, macht diese nicht zu konstitutiven Elementen der Demokratie. Über solche Elemente nachzudenken ist nicht zuletzt Aufgabe der Demokratietheorie“ (Suntrup 2010, 21). 10 So formuliert beispielsweise Haltern eine Kritik an der gegenwärtigen politischen Theorie, die meint, die Demokratie als körperlos konzipieren zu können. Er verwendet die Forschungen Koschorkes als Beleg für die Beharrlichkeit der Körpermetapher, wohingegen die Forschergruppe um Koschorke ihr gemeinsames Buch gerade mit dem Hinweis auf die Netzwerkmetapher, die die Metapher des politischen Körpers abgelöst habe, beschließt (Koschorke et. al. 2007, 386 f.). Haltern schreibt: „Zum anderen läuft die moderne politische Theorie und Philosophie Sturm gegen jegliche Verkörperungsmechanismen. Dem Ausruf Michel Foucaults ‚Es gibt keinen Körper der Republik… Nie funktioniert sie wie der Körper des Königs unter der Monarchie.‘ folgten Bemerkungen über die Entkörperung von Macht, die Demokratie als Institutionalisierung einer körperlosen Gesellschaft und dem Ende aller Verkörperungsmechanismen. Doch Forschungen der neuesten Zeit lassen die Vermutung aufkommen, dass sich der Körper des Politischen auch in modernen Demokratien nicht erledigt hat. Verwunderlich ist das nicht. Man kann den Körper gut gebrauchen, etwa zur Definition der Außen/­Innen-Grenze des Gemeinwesens“ (Haltern 2009, 36). Und auch Philipp Manow behauptet, dass eine Metaphysik des Körpers notwendig sei, um die Macht der Demokratie zu legitimieren: „Kurz: die zentrale These dieses Buches lautet, daß die moderne Demokratie nicht nach-metaphysisch, sondern – wenn man so will – neo-metaphysisch ist. Jede politische Macht, also auch die Demokratie, benötigt und produziert ihre eigene politische Mythologie […]. […] Unsere Demokratie ist also nicht so rückstandslos nach-metaphysisch, wie die avancierte Demokratietheorie es uns glauben machen will. Ein Grund für das Nachleben des politischen Körpers in des modernen repräsentativen Demokratie ist – wie hier argumentiert wurde – der Umstand, daß erst der Durchgang durch die absolutistische Repräsentationsdoktrin es möglich gemacht hat, eine Theorie demokratischer Repräsentation zu entwickeln“ (Manow 2008, 12 f. und 119).

I. Der body turn der modernen Sozialwissenschaften

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Für unsere politikwissenschaftliche Perspektive relevant ist in erster Linie der politiktheoretische Standpunkt, von dem aus der Körper als notwendiger Forschungsgegenstand der Politikwissenschaft eingefordert wird: Wenn behauptet wird, dass man das Politische nur vom Körper aus angemessen verstehen könnte, lässt das einen Rückschluss auf einen bestimmten Politikbegriff zu.11 Vor allem die Forschungen von Haltern, der sich mit dem Konzept der Souveränität beschäftigte und die These vertritt, dass dieses Konzept theologische Ursprünge habe, die die Gewalttätigkeit moderner Rechtsstaaten erklären könnten, sind in dieser Hinsicht instruktiv: „Die [sic!] aufgeklärte Fortschrittsdiskurs sieht im Recht den Weg zur Überwindung der Gewalt, doch proliferieren Recht und Gewalt statt dessen gleichzeitig und zu gleichen Teilen. Sie arbeiten nicht gegeneinander, Recht überwindet – im Gegensatz zu dem, was seit Hobbes die politische Theorie erhofft – nicht die Gewalt, sondern beide werden allgegenwärtig. Der Grund liegt darin, dass der moderne Staat sowohl die katholische als auch die jüdische Tradition übernimmt“ (Haltern 2007, 111 f.).

Wichtig für unseren Themenkontext ist erstens eine bestimmte Wahrnehmung der Hobbes’schen politischen Philosophie  – Hobbes habe daran geglaubt, dass das Recht die Gewalt überwindet – und zweitens eine damit zusammenhängende Wahrnehmung des Kontraktualismus. Haltern betrachtet den Kontraktualismus als eine wesentlich unkörperliche politische Theorie.12 Diese Unkörperlichkeit des Liberalismus sei jedoch gerade dessen Problem. Haltern kritisiert den politischen 11

Vgl. etwa Coole/Frost 2010, 18: „Insofar as politics is understood as an ongoing process of negotiating power relations (a perspective, we suggest, that is particularly congruent with materialism) […] political analysts cannot afford to ignore the way biotechnological developments and their corporate owners are implicated in the entire geopolitical system.“ Ein solcher Politikbegriff ist dabei oftmals verbunden mit einem bestimmten Naturbegriff und einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Position. Manow und Haltern gehen beide von der Unerkennbarkeit der Natur aus. Manow bringt dies zum Ausdruck, wenn er vom „neo-metaphysischen“ Charakter der Demokratie spricht, unmittelbar im Anschluss daran Metaphysik und Mythologie gleichsetzt und seine These, dass politische Ordnungen ihre Mythen selbst produzieren, formuliert: „Jede politische Macht, also auch die Demokratie, benötigt und produziert ihre eigene politische Mythologie. […] Carl Schmitt glaubte, daß jede Zeit eine politische Ordnung hat, die ihren mythischen Überzeugungen entspricht (vgl. Schmitt 1934). Im Folgenden präsentiere ich Material, das die umgekehrte, meiner Meinung nach plausiblere These illustrieren soll, nach der jede Zeit mythische Überzeugungen hat, die ihrer politischen Ordnung entsprechen“ (Manow 2008, 13). Und Haltern schließlich sieht den Grund für die Kontinuität der Körpermetapher nicht zuletzt in deren Anschaulichkeit und bemerkt in diesem Kontext explizit: „Eine ‚natürliche‘ Welt gibt es für uns nicht, sondern nur eine solche, die wir mit Bedeutungen belegen. Fehlen Hinweise auf Bedeutungen, so sind wir verloren und wissen nichts mit den Dingen und mit uns anzufangen. Wir errichten uns die Welt erst, wenn wir sie mit Bedeutungen belegen – eine Idee, die am Beginn des menschlichen Ideenhaushalts steht“ (Haltern 2009, 37). 12 „Spätestens seit Rawls hat sich ein Paradigma durchgesetzt, das die entkörperlichte Stimme, das vernünftige Gespräch und die von irrationalen Leidenschaften geläuterte Deliberation in sein Zentrum stellt. Die politische Philosophie arbeitet sich in der Form des Gesellschaftsvertrages an Vernunft und Interesse ab. Beide können auf Räume und Körper verzichten“ (Haltern 2005, 209).

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

Liberalismus dafür, sich zu wenig um den Körper zu kümmern und deshalb Politik nicht hinreichend verstehen zu können.13 Das Problem der liberalen Theorie sei ihr übergroßes Vertrauen in die Vernunft, so gibt Haltern an zahlreichen Stellen zu verstehen.14 Die Kräfte, die Menschen in Bewegung setzten, seien nicht die Vernunft, sondern der Körper bzw. die Leidenschaften:15 Vom body turn der So­ zialwissenschaften führt, wie man sieht, eine Linie direkt in das Zentrum des liberalen Selbstverständnisses. Eine gemeinsame vernunftfeindliche, mindestens aber rationalitätsskeptische Prämisse der Kritik lautet, dass sich der Liberalismus zu sehr auf die Vernunft konzentriere und den Körper als bewegende Kraft vernachlässige, wogegen ein body turn entsprechend Abhilfe schaffen könne bzw. müsse. Unsere Arbeit wird von der Hypothese geleitet, dass Haltern und mit ihm zahlreiche weitere Interpreten sowohl Hobbes’ politische Philosophie als auch – damit zusammenhängend – die Ideengeschichte des politischen Liberalismus falsch rekonstruieren: Weder wird Hobbes’ politische Philosophie von dem Wunsch motiviert, das Recht möge die Gewalt überwinden, noch ist der von ihm entwickelte Kontraktualismus angemessen als eine primär vernunftorientierte, körperlose politische Theorie zu verstehen.16 Bei Hobbes’ politischer Philosophie handelt es sich 13 „Die hier vorgebrachte Kritik an der politischen Theorie des Liberalismus soll daher nicht missverstanden werden. Die Aufklärung hat uns selbst und die Welt, in der wir leben, erzeugt. Es wäre unaufrichtig, dies und die enormen Errungenschaften abstreiten zu wollen. Aber auch hieraus folgt nicht, dass liberale politische Theorie ein vollständiges oder auch nur zufriedenstellendes analytisches Instrumentarium zur Entzifferung der Gegenwart zur Verfügung stellte“ (Haltern 2007, 116). 14 „Alle drei Übergänge appellieren an das Recht, das zum Leitmotiv der gesamten Fortschrittserzählung wird. Im Zentrum steht die Gerechtigkeit, die als normative Spezifizierung des Vernünftigen im Politischen erscheint. Die rechtliche Erzählung ist insofern eine solche vom Fortschritt durch die Vernunft. Man findet sie nicht nur im Recht und im Politischen, sondern in allen denkbaren Bereichen: Die Wissenschaften werden von falschen Glaubenssätzen befreit, die Natur wird gezähmt, wirtschaftliche Produktion wird rationalisiert, seit Freud wird auch der Mensch einer Vernunfttherapie unterzogen. Das Politische ist nur eine von vielen Instanzen des Fortschritts in der Vernunft. […] Die Konflikte der Folgezeit, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg, haben die Schwäche des Rechts vor den Kräften gezeigt, die das Politische mobilisierten. Diese Kräfte besaßen etwas Elementares, nämlich das Vermögen der­ Nation, die Bürger zu Opfern aufzurufen“ (Haltern 2009, 295, Hervorhebungen E. O.). 15 „Die wissenschaftliche Diskussion konzentriert sich auf die Stimme und das Recht und verkennt so die Kräfte, die das Politische bewegen. Das Politische ist nicht das Moralische; unsere Zugehörigkeit zum Staat kann nicht durch die Sprache der Moral gerechtfertigt werden, sondern ist eine Frage der Erfahrung von Identität“ (Haltern 2007, 113, Hervorhebungen E. O.). „Das liberale Projekt des rationalen Diskurses kann man als Versuch begreifen, dem Volks­ souve­rän Worte in den Mund zu legen. […] Die Leidenschaften des Politischen können so lediglich als bedrohliche und destruktive Wiederkehr archaischer Glaubensformen erkannt werden. Dann ist es nur konsequent, Geschichte als Fortschrittserzählung zu konzipieren, die all jene Elemente hinter sich lässt, welche für Geschichte verantwortlich sind“ (Haltern 2007, 50 f.). 16 Die politiktheoretische Prämisse von Haltern und zahlreichen weiteren Vertretern der modernen politischen Theorie, wonach das Politische vom Körper her zu denken ist weil Menschen nur oder vor allem durch Körperkräfte bewegt werden können, während die Vernunft einsehen sollte, dass sie sowohl im Bereich der Erkenntnis der Natur, als auch im Versuch,

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung

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vielmehr um den Beginn eines neuen Politikverständnisses, das wesentlich auf dem Körper als politischer Grundtatsache basiert. In direkter Umkehrung von Giorgio Agambens vielrezipierter These einer „Politisierung des Körpers“ in der Moderne,17 die maßgeblich zum body turn der modernen Sozialwissenschaften beigetragen hat, soll in dieser Arbeit dafür argumentiert werden, dass Hobbes eine Verkörperlichung bzw. eine „Somatisierung der Politik“18 in Gang setzt, die für die Entwicklung des liberalen Staates eine wichtige, wenngleich kritisch zu hinterfragende Rolle spielt.

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung Während der Körper in nahezu allen Teilgebieten der modernen Geistes- und Sozialwissenschaften zum Thema geworden ist, hat die moderne Hobbes-Forschung sich diesem body turn bisher kaum geöffnet. Dies ist umso erstaunlicher, als bereits in der Begrifflichkeit – der Staat als politischer Körper – und in Hobbes’ Einteilung der Wissenschaften entlang des Körperparadigmas der Körper eine herausgeho­ homas Hobbes bene Rolle spielt. Das Schrifttum zur politischen Philosophie von T ist überaus zahlreich. Es existieren unzählige Studien zu verschiedenen Detailproblemen wie dem Status der natürlichen Gesetze, dem Recht auf Selbst­erhaltung, dem Argument des Narren, der Existenz eines Soldatenvertrags, der angemessenen Menschen zum Handeln zu bewegen, weitgehend machtlos ist, teilt die Verfasserin dieser Arbeit – soviel sei vorab verraten – nicht. Die methodische Prämisse, dass ideengeschichtliche Forschung dazu beitragen kann, die Grundlagen eines gegenwärtigen Selbstverständnisses aufzuklären und deshalb von fundamentaler politisch-praktischer Relevanz sein kann, teilt diese Arbeit jedoch durchaus mit den Arbeiten bspw. von Haltern und Manow. 17 Für diese These vgl. Agamben 2002, 14: „Der Tod hat Foucault daran gehindert, alle Implikationen des Konzepts der Biopolitik zu entfalten und die Richtung anzuzeigen, in der er die Untersuchung vertieft hätte. Doch das Eintreten der zoe in die Sphäre der polis, die Politisierung des nackten Lebens als solches bildet auf jeden Fall das entscheidende Ereignis der Moderne und markiert eine radikale Transformation der klassischen politisch-philosophischen Kategorien.“ Gegen die der Politisierungsthese zugrunde liegende Annahme Agambens, dass der Körper im politischen Denken der Antike keine Rolle gespielt hätte, bzw. aus der polis aus­ geschlossen worden sei (vgl. Agamben 2002, 12) ließen sich zahlreiche Gegenbeispiele anführen. Platons Gedankenexperiment des auf den Besitz von Frauen und Kindern ausgedehnten Kommunismus im fünften Buch der Politeia trägt dem Körper des Individuums als Grenze möglicher Vergemeinschaftung und als deshalb fundamental politischer Entität ebenso Rechnung wie Aristoteles’ kategorische Ablehnung einer solchen Einrichtung im zweiten Buch der Politik. Agambens ideengeschichtliche These einer „Politisierung des Körpers“ in der Moderne kann also nicht nur mit guten Gründen angezweifelt werden. Sondern auch die fehlende Reflexion des zugrundeliegenden Politikbegriffs stellt ein gravierendes Problem für Agambens These dar: Wenn Agamben Politik im Anschluss an Foucault als Machtbeziehungen begreift, ist das nach unserem Verständnis gerade die Folge eines körperbasierten Politikbegriffes, der deshalb das grundsätzlichere und eigentlich problematische Phänomen markiert. Auf eine vertiefte Beschäftigung mit Agambens gleichwohl diskussionswürdiger Hobbes-Interpretation kann deshalb an dieser Stelle verzichtet werden. 18 Für hilfreiche Gedanken zum Verhältnis der These von Hobbes’ körperbasiertem Politik­ begriff zur These Agambens von der Politisierung des Körpers in der Moderne bin ich Clemens Kauffmann dankbar.

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

Darstellung des Naturzustands, dem Freiheitsbegriff, der Theorie der Verpflichtung und vielem mehr. Das Korpus der wissenschaftlichen Sekundär­literatur ist auf ein solches Maß angewachsen, dass ein Hobbes-Forscher bereits in den 60er Jahren bemerkt hat, man müsse sich entscheiden, ob man ein Buch über Hobbes oder ein Buch über Bücher über Hobbes schreiben wolle.19 Allein – den Umstand, viel kommentiert worden zu sein, teilt Thomas ­Hobbes natürlich mit anderen Autoren der Philosophiegeschichte. Unabhängig von der Summe wird jedoch auch dem Interpreten jüngerer Texte stets die Leistung abverlangt, die bestehende Forschungslage in Hinblick auf die übergeordnete Frage­ stellung zu systematisieren. Diese Aufgabe scheint – im Vergleich zum bloßen Lesen – ohnehin die schwierigere zu sein, insofern eine Ordnung der Literatur nur möglich ist durch eine Bezugnahme auf den sachlichen Gehalt der zu interpretierenden Schriften und deshalb von selbst ins Zentrum der philosophischen Aus­ einandersetzung führt. Dass diese philosophische Auseinandersetzung mit Thomas Hobbes lohnenswert sein kann – von dieser Überzeugung geht die vorliegende Arbeit aus. Sie sieht daher die Existenz zahlreicher Bücher über Hobbes nicht so sehr als Problem an, von dem ausgehend man ausführlich zu begründen hätte, weshalb es noch eines weiteren Buches über Hobbes bedürfe.20 Im Gegenteil teilt die vorliegende Arbeit mit Sharon Anne Lloyd den Verdacht, dass Hobbes’ politische Philosophie für die Probleme des 21. Jahrhunderts überaus relevant sein könnte. Lloyd, die als Vertreterin einer neuen Strömung in der US-amerikanischen Hobbes-Forschung angesehen werden kann und die Hobbes’ Moralphilosophie als brauchbare Ressource für die Selbstverständigungsbemühungen einer liberalen Demokratie ansieht,21 gab 2013 einen Sammelband mit dem Titel Hobbes Today. Insights for the 21st Century heraus, in dessen Vorwort sie schreibt: 19 Vgl. Ludwig (1998, 9, n.1), der sich seinerseits auf das Vorwort des 1968 von Frederick McNeilly verfassten Buches The Anatomy of Leviathan stützt: „F. S. McNeilly hat schon 1968 zutreffend festgestellt, daß man sich entscheiden muß, ob man ein Buch über Hobbes oder ein Buch über Bücher über Hobbes schreiben will (S. 5). Daran hat sich – außer, daß inzwischen mit einem Buch über die Bücher wenig gewonnen wäre – in den letzten dreißig Jahren nichts geändert.“ Ludwig bemerkt dazu: „Eine dem Schrifttum auch nur ansatzweise gerecht werdende Rezeption desselben ist von einem Einzelnen ohnehin schon lange kaum mehr zu leisten und schon gar nicht mehr zu bekunden (allein eine annähernd vollständige Hobbes-Biblio­ graphie würde längst den üblichen Umfang von Hobbes-Monographien überschreiten […])“ (Ludwig 1998, 9). 20 „Eine weitere Arbeit über Thomas Hobbes, die zudem einen Schwerpunkt in der politischen Philosophie hat, läßt sich angesichts der mittlerweile ohnehin kaum mehr überschaubaren Literatur, die zu diesem Autor bereits vorliegt, nur dadurch rechtfertigen, daß man sogleich auf das hinweist, wodurch sich diese Arbeit vom allgemeinen, bisherigen Stand der Forschung abhebt“ (Ludwig 1998, 9). 21 Zu weiteren Vertretern einer solchen Strömung können – jeweils mit deutlichen Unterschieden, aber dennoch einer verbindenden Grundtendenz – auch Samantha Frost, Kinch ­Hoekstra, Susanne Sreedhar und Eleanor Curran gerechnet werden. Vgl. dazu den weiteren Fortgang unseres Textes und das Schlusskapitel [C. 2.] dieser Arbeit.

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung

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„The purpose of the present volume is to help to energize a new generation of North American Hobbes studies by recruiting some talented political philosophers, both established ­authorities and emerging scholars, to turn their attention to the relevance of Hobbesian theory to the problems we confront today. Some of the writers are Hobbes scholars, but many are applying their specialties to Hobbes for the first time. Our common hope is that by showing the continuing relevance and usefulness of Hobbes to 21st-century open problems, others may consider investigating whether study of Hobbes may be useful in addressing the problems that concern them“ (Lloyd 2013, xi, Hervorhebungen E. O.).

Naturgemäß sind die Problemwahrnehmungen verschiedener Hobbes-Forscher unterschiedlich, und so geht die vorliegende Studie – in dieser Hinsicht von den Forschungen Lloyds abweichend22 – davon aus, dass Hobbes eventuell nicht nur als Problemlöser für konkrete politisch-praktische Probleme des 21. Jahrhunderts fruchtbar gemacht werden kann, sondern dass er uns  – was viel wichtiger und grundlegender wäre –, zuvor eine große Hilfe darin sein könnte, bestimmte Probleme überhaupt erst als solche zu erkennen.23 Der Satz, dass man sich entscheiden müsse, ob man ein Buch über Hobbes oder ein Buch über Bücher über Hobbes schreibt, war 1968 ebenso falsch, wie er es 199824 war oder 2015 ist – wenngleich die Schwierigkeit, die große Menge an Literatur zu ordnen und zu systematisieren, natürlich unbestreitbar vorhanden ist. Im Folgenden soll dieser Versuch unternommen werden: Es werden Tendenzen der gegenwärtigen Hobbes-Forschung skizziert, die für unsere These vom angemessenen Verständnis des Hobbes’schen Kontraktualismus relevant sind. In Bezug auf unsere Fragestellung nach dem angemessenen Verständnis des kontraktualistischen Arguments und nach der Rolle, die der Körper dafür spielt, lässt sich zunächst feststellen, dass sich die politikwissenschaftliche Hobbes-Forschung fast ausschließlich auf das kontraktualistische Argument konzentriert. Dieses Argument,25 als dessen Begründer Thomas Hobbes meist angesehen wird, hat im Laufe der politischen Ideengeschichte durchaus unterschiedliche Füllungen ­bekommen und erlebte im 20. Jahrhundert eine steile Renaissance durch das Werk von John Rawls, der seine Theorie der Gerechtigkeit als eine entscheidungstheoretische Re 22 Zu einer Auseinandersetzung mit der reziprozitätstheoretischen Deutung des kontraktualistischen Arguments von Lloyd vgl. das Kapitel B über die Körperfundierung des Kontraktualismus; zu einer Auseinandersetzung mit den politischen Konsequenzen, die Lloyd aus­ ihrer Deutung zieht, vgl. nochmals das Schlusskapitel [C. 2.] dieser Arbeit. 23 Der These von Lloyd, dass Hobbes „continues to provide resources to refine our thinking“ (Lloyd 2013b, xi), stimmt die Verfasserin dabei durchaus zu, wenn auch – wie gezeigt werden soll – in einer völlig anderen Weise, als Lloyd dies tut. 24 Auch Ludwig selbst, der den Satz von McNeilly kolportiert, nimmt den Satz nur mit einem Augenzwinkern ernst: Er teilt mit, versucht zu haben, die Entscheidung dadurch zu umgehen, dass er ein Buch über die Bücher in die Fußnoten eingewoben habe (1998, 8). 25 Diese Form des Arguments funktioniert als Gedankenexperiment und besteht aus den drei Elementen einer (fiktiven) Naturzustandssituation, eines (fiktiven) Vertragsschlusses und einer nachvertraglichen (staatlichen) Situation, die als Ergebnis eines möglichen Vertrages und damit als von den als Vertragspartnern vorgestellten Untertanen gewollt präsentiert wird. Das Argument richtet sich an Menschen, die bereits in der Gesellschaft bzw. unter einer Herrschaft

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

konstruktion des kontraktualistischen Argumentes aus­geführt hat. Es dominiert die gegenwärtige Gerechtigkeitsdiskussion in liberalen Demokratien und bestimmt auch den interpretativen Schwerpunkt der gegenwärtigen ­Hobbes-­Forschung. Eine solche Konzentration der Forschung auf das kontraktualistische Argument und dessen angemessene Rekonstruktion ist insofern erstaunlich, als dieses Argument zwar durchaus einen zentralen Platz in denjenigen Schriften von Hobbes einnimmt, die üblicherweise zu den politiktheoretischen Schriften im engeren Sinn gezählt werden,26 in allen diesen Schriften aber nur eine von zwei „Ursprungs­ erzählungen“ legitimer Herrschaft ausmacht. Die Konzentration auf das kontraktualistische Argument lässt sich durch den einfachen Bezug auf den sachlichen Gehalt der Schriften also nicht ohne Weiteres erklären: Zwar nimmt das Gedankenexperiment der Entstehung eines Staates durch einen freiwilligen, wechsel­ seitigen Vertrag zwischen gleichen Menschen – der sogenannte Staat durch Einsetzung – eine wichtige Rolle in den drei Schriften Elements of Law, De Cive und dem Leviathan ein. Es wird aber in allen diesen Schriften auch nur als eine Möglichkeit der Entstehung legitimer Herrschaft geschildert. Neben dem Staat durch Einsetzung kennt Hobbes noch die Vorstellung einer auf Macht und Gewalt beruhenden Herrschaftsform, die durch einen Vertrag nachträglich rationalisiert wird. Dieser Staat durch Aneignung27 ist eine andere Ursprungserzählung der Entstehung legitimer Herrschaft, die – Hobbes nennt die Beispiele eines Kriegsgefangenen oder eines unterworfenen Sklaven – auf körperlicher Gewalt und der Möglichkeit zu töten beruht. Sie wird von Hobbes der Entstehung des Staates durch Einsetzung, d. h. durch einen freiwillig eingegangenen, wechselseitigen Vertrag, legitimationstheoretisch gleichgesetzt. Beim kontraktualistischen Argument handelt es sich also um nur eine der Ursprungserzählungen legitimer Herrschaft, die von Hobbes in seinen politischen Schriften gegeben wird. Dennoch konzentriert leben und soll diese davon überzeugen, dass Herrschaft, d. h. eine bestimmte Form der Freiheitseinschränkung notwendig ist. Damit das Argument funktioniert, muss der vorstaatliche, herrschaftslose Zustand, in dem grenzenlose Freiheit herrscht, als ein p­ roblematischer Zustand geschildert werden, auf den der staatliche Zustand, der als vertraglich hergestellt betrachtet wird, dann als dessen Problemlösung antwortet. Das spezifische Problem des Naturzustandes kann, so die These jedes kontraktualistischen Arguments, nur durch eine bestimmte Form der Herrschaft beantwortet werden. Das Argument dient dem Zweck, nachzuweisen, dass eine bestimmte Form staatlicher Herrschaft den von den Individuen verfolgten Zielen zuträglich ist, bzw. dass diese Ziele ohne diese bestimmte Form staatlicher Herrschaft nicht erreicht werden können. Wenn sich der staatliche Zustand als derjenige ausweisen lässt, der der Zielerreichung der Individuen förderlich ist, ist damit das Ziel der Rechtfertigung des Staates erreicht. Zu einer Vertiefung der strukturellen Darstellung des Arguments vgl. das Kapitel B. II. 3. dieser Arbeit. 26 Eine solche Einteilung ist wiederum nur möglich aufgrund des sachlichen Gehalts der Schriften. Häufig argumentiert die Forschung derart, dass es sich bei den Schriften Elements of Law, De Cive und dem Leviathan deshalb um politiktheoretische Schriften handelt, weil Hobbes in all diesen Schriften seine Lehre des kontraktualistischen Arguments entfalte. Für eine solche Auffassung vgl. bspw. Eggers 2008, 10. Münkler 2001, 22, warnt zu Recht vor einer solchen Verkürzung. 27 Eine ausführliche Darstellung und entsprechende Textbelege finden sich in Kapitel B. III. 2. b) cc) dieser Arbeit.

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung

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sich die Forschung fast gänzlich auf die Auslegung des kontraktualistischen Argumentes und arbeitet sich in zahlreichen Studien an einzelnen Elementen des kontraktualistischen Elements – wie der Lehre vom Naturzustand oder der Lehre von den natürlichen Gesetzen – ab.28 Als symptomatisch für diese Tendenz der gegenwärtigen Hobbes-Forschung kann auch das letzte Kapitel des von Lloyd 2013 herausgegebenen BloomsburyCompanion to Hobbes gelten. Dieses letzte Kapitel, das offene Fragen und andauernde D ­ ebatten der Hobbes-Forschung abbilden möchte, wird eingerahmt von einer Besprechung der beiden großen alternativen Deutungsfamilien des kontraktualistischen Argumentes – der spieltheoretischen Deutung und der jüngeren reziprozitätstheoretischen Deutung – und einer Besprechung des Staates durch Aneignung. Während sich der erste Artikel ausführlich damit beschäftigt, verschiedene mögliche Deutungen des kontraktualistischen Arguments vorzustellen und ihre jeweiligen interpretativen Vorzüge zu vergleichen, untersucht der letzte, kurze Artikel über den Staat durch Aneignung diesen gar nicht erst unter einer systematischen Perspektive. Mary Nyquist, die Verfasserin des kurzen Artikels über den Staat durch Aneignung, bezieht nicht weiter Stellung zu dem Problem, dass H ­ obbes beide Herrschaftsformen als gleich legitim begriffen hat, sondern historisiert dieses Theorieelement des Staates durch Aneignung, indem sie vergleicht, inwieweit Hobbes sich darin von Vorläufern unterscheidet.29 Die zum Teil  sehr verschiedenen Deutungsfamilien des kontraktualistischen Arguments stimmen in diesem Punkt überein: In ihrer Konzentration auf das kontraktualistische Argument betrachten sie die andere von Hobbes ins Spiel gebrachte Herrschaft der Aneignung als Ärgernis, befremdliches Element oder negieren seine systematische Bedeutung durch eine rein historische Annäherung. So versucht beispielsweise Jean Hampton, eine Schülerin von Rawls, die in den 60er Jahren die von David P. Gauthier begründete spieltheoretische Deutung des kontraktualistischen Argumentes30 weiter entwickelte, in ihrem Buch zu Hobbes 28 Es wäre müßig, alle derartigen Veröffentlichungen aufzuzählen. Als Beleg für die Tendenz, ganze Bücher über Teilelemente des kontraktualistischen Arguments zu schreiben, kann beispielsweise die Dissertation von Eggers (Eggers 2008), der sich der Naturzustandslehre des kontraktualistischen Arguments widmet, oder die Monographie Lloyds (Lloyd 2009), die sich mit der Theorie der natürlichen Gesetze beschäftigt, genannt werden. 29 „Power, security, absolute rule on the one hand, and fear, self-preservation, obligation on the other are the known components of sovereignty as conceptualized by Hobbes. Yet how – or even if – they actually work together has stumped many commentators. Rather than survey of the views that have been offered over the years, I shall briefly advance my own, which attempts to historicize Hobbes’s engagement with contemporary debates on sovereignty, his use of the term ‚despotical‘, and his appropriation of selected features of Greco-Roman literature on freedom and slavery“ (Nyquist 2013, 313 f.). 30 Gauthiers 1969 veröffentlichtes Buch The Logic of Leviathan: The Moral and Political Theory of Thomas Hobbes gilt als Grundstein der spieltheoretischen Deutung, die neben Jean Hampton prominent auch von Gregory S. Kavka weiterentwickelt wurde und weit über den angelsächsischen Raum hinaus Einfluss hatte. Vgl. für einen Überblick über verschiedene spieltheoretische Deutungen des kontraktualistischen Arguments Nida-Rümelin 2008.

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

und der Tradition des Gesellschaftsvertrags dieses Theorieelement zu entschärfen: Sie präsentiert erstens eine Lösung für das sich aus diesem Theorieelement ergebende Problem, die Hobbes vielleicht toleriert hätte und möchte zweitens den Leser mit der These beruhigen, dass Hobbes diese gewalttätige Form der Herrschaftsaneignung sicherlich weniger gebilligt hätte als die friedlichere Form der Herrschaftsentstehung, wofür die prominentere Stellung der letzteren ja ein ausreichendes Indiz wäre.31 Aber auch die im Folgenden noch näher darzustellende rechtstheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments betrachtet das Theorieelement des Staates durch Aneignung als ein lästiges Ärgernis. Dieter Hüning, der die in Deutschland von Julius Ebbinghaus entwickelte und seit den 80er Jahren prominent von Georg Geismann und Karlfriedrich Herb vertretene rechtstheoretische Lesart in seiner Dissertation systematisierte und weiterentwickelte, geht in seiner Studie kurz auf den Staat durch Aneignung ein, allerdings nur, um festzustellen, dass Hobbes hier hinter sein bisher erreichtes theoretisches Niveau zurückfalle und – wie es schließlich auch schon der renommierte Hobbes-Forscher Ferdinand­ Tönnies vermutet habe – keine sinnvolle Möglichkeit existiere, diesem Theorieelement eine systematische Bedeutung abzugewinnen.32 Dieser Konzentration der Forschung auf das kontraktualistische Argument entspricht eine zunehmende Bereitschaft, Hobbes als Begründer des Liberalismus zu betrachten. Während noch in den 80er Jahren zahlreiche Autoren sich eher skeptisch bezüglich der Frage äußerten, ob Hobbes als Ideengeber des liberalen Staates angesehen werden könne, scheint sich spätestens um die Jahrtausendwende ein gewisser Wandel in dieser Einschätzung anzudeuten. Das Vorurteil, dass man nur von einer liberalismusfeindlichen Position aus die liberalen Elemente in H ­ obbes’ politischer Philosophie als solche benennen und zum Thema machen könne, scheint auf dem Rückzug begriffen zu sein.33 Es ist exakt dieses Vorurteil, 31 „However, he is wrong to say that a threat agreement between subject and sovereign legi­ timates the sovereigns rule. […] Of course, the failure of the commonwealth-by-acquisition story as Hobbes himself presents it is not something Hobbes admits in the Leviathan – we are correcting his argument here. […] The violence inherent in this scenario is certainly regrettable, and given the prominence of the institution story in Leviathan, Hobbes clearly preferred the more peaceful election process as a way of creating the commonwealth“ (Hampton 1986, 170 ff.). 32 „Dem institutionellen Staatsvertrag […] steht der im Kapitel XX des Leviathan entwickelte ‚covenant of obedience‘ gegenüber, der im Vergleich zu den vorhergehenden kontraktualistischen Ausführungen einen deutlichen begründungstheoretischen Rückfall markiert. Denn […] es […] ist nicht ersichtlich, welche rechtsphilosophische Begründungsfunktion mit dem ‚covenant of obedience‘ eigentlich verknüpft ist. Schon Tönnies hat daher vermutet, daß die ‚Hineinfügung des Begriffes von einem patrimonialen Königtum‘ nur aus Hobbes’ praktisch-politischen [sic!] Tendenz, nicht aber systematisch zu erklären ist“ (Hüning 1998, 219). 33 Heiner Bielefeldt etwa behauptete in den 90er Jahren noch, Hobbes’ politische Philosophie als liberal zu kennzeichnen, könne nur der politischen Absicht entspringen, den Liberalismus zu diskreditieren: „Die Identifikation von Liberalismus und Hobbesianismus bedeutet

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung

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welches Lucien Jaume als Grund dafür nennt, weshalb sich „Liberale“ – bedauer­ licherweise – bisher zu wenig mit den liberalen Elementen in Hobbes’ politischer Philosophie beschäftigt hätten.34 Die Bereitschaft, Hobbes als Wegbereiter des liberalen Staates anzusehen, ist in den letzten Jahren, wie nicht nur der entsprechende Überblicksartikel von Jaume zeigt, enorm gewachsen. Dafür können zahlreiche Belege herangezogen werden. So betont beispielsweise Jürgen Habermas in Faktizität und Geltung, dass er seine frühere Einschätzung über Hobbes korrigieren müsse und nun in „Hobbes eher einen Theoretiker des bürgerlichen Rechtsstaates ohne Demokratie als den Apologeten des unbeschränkten Absolutismus“ (Habermas 1992, 118) sehe. Ähnlich seine frühere Einschätzung korrigierend, betont auch Wolfgang Kersting im Vorwort seines Einführungsbändchens zu Hobbes, dass er in der zweiten Auflage deutlicher herausgearbeitet habe, „dass Thomas Hobbes der Ahnherr des Liberalismus ist“ (Kersting 2002, 7) und vertritt in dem von ihm herausgegebenen Band Klassiker Aus­legen zu Hobbes’ Leviathan die These, dass Hobbes, weil er das kontraktualistische Argument entwickelt habe, zumindest „rechtfertigungsmethodologisch ein Liberaler“35 sei. Die beiden neueren deutschsprachigen Einführungsbücher zu Hobbes von Otfried Höffe36 und Peter Schröder37 folgen dieser im Endeffekt immer eine Diskreditierung des Liberalismus – ganz gleich, ob eine solche beabsichtigt ist (wie bei Strauss), oder ob es umgekehrt um den Ruhm des Leviathan geht (wie bei Schmitt oder in seiner Nachfolge bei Koselleck und Willms)“ (Bielefeldt 1990, 43). 34 „If, for all these reasons, Hobbes may be considered a father of liberalism, one can also understand why liberals have not admitted to this lineage. […] By the same token, if Hobbes becomes, in the eyes of his twentieth-century interpreters, the ‚father of liberalism‘, this title is generally bestowed on him by the adversaries of liberalism“ (Jaume 2007, 210 f.). 35 „Der Anwalt des absoluten Staates ist rechtfertigungsmethodologisch ein Liberaler, und der philosophische Liberalismus der Neuzeit kann in seine Fußstapfen treten; er übernimmt den methodologischen und normativen Individualismus Hobbes’, übernimmt das kontraktualistische Argument, das diese individualistischen Voraussetzungen legitimationstheoretisch ausmünzt, und den damit verbundenen konsentischen Legitimationsbegriff“ (Kersting 2008, 24). 36 Höffe selbst weist zwar vorsorglich darauf hin, kein Hobbist zu sein sondern sich eher Kant als Hobbes verpflichtet zu fühlen. Er betont jedoch, in dieser Hinsicht ausdrücklich der Einschätzung von Habermas folgend, dass Hobbes durchaus als Begründer des modernen bürgerlichen Rechtsstaates angesehen werden könne, weil er den Kontraktualismus entwickelt habe: „Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erfährt die Vertragstheorie eine Wiederbelebung, die ohne deren ersten neuzeitlichen Vertreter, Thomas Hobbes, kaum denkbar ist. Der erste Hauptvertreter, John Rawls […] ist zwar, wie auch der Autor dieses Bandes […], weit mehr Kant als Hobbes verpflicht [sic!]. Das Gedankenexperiment eines ursprünglichen Zustandes der Gleichheit und die Begründung normativer Prinzipien aus diesem Gedankenexperiment heraus bleibt aber an die Anfänge der Vertragstheorie bei Hobbes zurückgebunden“ (Höffe 2010, 222). 37 Vgl. Schröder 2012, 8: „Dem staatsbegründenden Gesellschaftsvertrag, der in seiner legitimitätsstiftenden Variante so erstmals von Hobbes entwickelt wurde, kommt dabei eine kaum zu überschätzende Bedeutung für die weitere politische Philosophie zu. Die Legitimität staatlicher Herrschaft wird in den westlichen Demokratien bis heute mit diesem Theorem begründet. Hobbes’ politische Philosophie bildet somit, trotz der zuweilen äußerst scharfen Rhetorik gegen ihn, auch den eingestandenermaßen unbequemen Ausgangspunkt für die späteren liberalen und rechtsstaatlichen Theorien.“

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

Einschätzung.38 Auch der Herausgeber einer neuen kommentierten Studienausgabe des Leviathan, Lothar Waas, betont ausdrücklich Hobbes’ Stellung als Wegbereiter des liberalen Staates.39 Im frankophonen und angelsächsischen Raum bestätigen diese Tendenz beispielsweise der bereits genannte Jaume in seinem Überblicksartikel zu Hobbes und den philosophischen Grundlagen des liberalen Staates40 sowie Maurice M. Goldsmith, der den Hobbes’schen Staat als Rechtsstaat begreift.41 Dass nicht nur das kontraktualistische Argument, sondern auch eine diesem zugrunde liegende Moralphilosophie es zulasse, Hobbes als liberal zu bewerten, behauptet offensiv Sharon Anne Lloyd.42 38

Dagegen warnt jedoch Herfried Münkler in seinem Einführungsbuch ausdrücklich vor der Gefahr einer verkürzten Rekonstruktion der Hobbes’schen Theorie dadurch, dass man sich auf eines ihrer Elemente – beispielsweise das kontraktualistische Argument – konzentriere: „Gerade weil Hobbes unter die wichtigsten Klassiker des politischen Denkens zu zählen ist, gibt es eine verbreitete Neigung, aus seinem Werk nicht nur einen Kerngehalt herauszuschälen, sondern diesen dann auch als Hobbes’ eigentliche Theorie zu bezeichnen. Sowohl die Konzentration auf das kontraktualistische Argument als auch auf die geometrische Methode haben in diesem Sinn theorieverkürzend gewirkt. Die Folge solcher Verkürzungen ist jedoch nur ein zeitweiliger Gewinn an theoretischer Prägnanz, der beglichen werden muss mit einem langfristigen Verlust an Reflexionspotenzialen, die eine Theorie besitzt“ (Münkler 2001, 22). 39 Auch Waas liest Hobbes, wie er selbst sagt, von Kant her, wenn er die Reziprozität des Hobbesschen Freiheitsbegriffs betont: „’Freiheit’ als ein Rechtsbegriff hat daher nicht nur etwas mit einer ‚Abwesenheit äußerer Hindernisse‘ zu tun […], sondern darunter ist im Sinne des zweiten ‚natürlichen Gesetzes‘ gleichsam eine Abwesenheit äußerer Hindernisse in einem wechselseitig zugesicherten Sinne zu verstehen. Und insofern ist bereits bei Hobbes der ­Sache nach von dem die Rede, was Kant 150 Jahre später in der ‚Einleitung in die Rechtslehre‘ zu seiner Metaphysik der Sitten in die Worte fassen wird: ‚Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann‘“ (Waas 2011, 498). Die Grundthese, dass Hobbes ein Vorbereiter des modernen Rechtsstaates sei, formuliert Waas explizit: „Dies im Folgenden darzulegen und insofern zu zeigen, daß Hobbes tatsächlich als ein philosophischer Ahnherr des modernen Rechtsstaats angesehen werden kann, wird daher die nächste Aufgabe sein“ (Waas 2011, 554). 40 „By placing a centre of resistance and a reservoir of natural right at the core of society, Hobbes can be said to have inspired liberalism. At issue is not only the right of resistance, but also the capacity of the individual to judge whether his or her rights are being respected.­ Neither this kind of influence of Hobbes on liberalism – nor his proximity to liberalism – has been acknowledged until recently“ (Jaume 2007, 201). 41 „Despite Hobbes’s attempt to construct an absolutist theory, he conceives of the state as a rechtsstaat operating by the rule of law rather than as a despotism“ (Goldsmith 1996, 283). 42 Lloyd räumt allerdings ein, dass Hobbes kein vollständiger Liberaler sei, weil sein Autori­ tarismus ihn daran gehindert habe, grundlegende liberale Rechte zu institutionalisieren. „We now have in hand the best case I am able to make for the claim that Hobbes was  a political liberal, but it is not enough. It is not enough for the simple reason that Hobbes was not enough a liberal. Although he viewed all men and women as equal and free by nature, as reasonable and bound by a principle of reciprocity, insisted on equality before the law and held that democracy was a perfectly fine form of sovereignty, and was tempted toward religious­ toleration  – all respectable liberal ideas  – his authoritarianism refuses to institutionalize guarantees of such seemingly essential liberal rights as freedom of expression, religion and association“ (Lloyd 2009, 406 f.).

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung

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In eine ähnliche Richtung weisen die Titel einiger jüngerer Publikationen, die die mit Worten operierende Vernunft und die Rechte des Individuums im Titel tragen und jeweils beabsichtigen, Hobbes’ Nähe und Relevanz für die liberale Demokratie herauszuarbeiten: So hat sich etwa Philipp Pettit in seiner Studie Made with Words das Ziel gesetzt, die konstitutive Rolle der Sprache für das vertragstheoretische Denken von Hobbes aufzuzeigen,43 so vertritt Susanne Sreedhar in Hobbes on Resistance die These, dass Hobbes’ Theorie des Widerstandes erstaunlich liberal sei44 und Eleanor Curran argumentiert in ihrem Buch Re­claiming the Rights of the Hobbesian Subject dafür, dass Hobbes im ­Leviathan genuin politische Rechte für Untertanen entwickle.45 Auch David van Mills’ Versuch, Hobbes in seiner Studie Liberty, Rationality and Agency in Hobbes’s L ­ eviathan gegen den Vorwurf einer rein instrumentellen Rationalität zu verteidigen und zu zeigen, dass Hobbes über ein reichhaltigeres Verständnis menschlicher Rationalität und Handlungen verfüge, kann als Beleg für die genannten Tendenzen begriffen werden.46 Diese Konzentration auf die Vernunft, die Sprache und das Recht scheint dem sachlichen Gehalt der politischen Philosophie von Thomas Hobbes nicht ohne Weiteres gerecht zu werden, weil in dieser dem ersten Eindruck nach auch der Körper und die körperliche Gewalt eine zentrale Rolle einnehmen. Sowohl die äußere Form eines philosophischen, auf einer Schrift über den Körper aufbauenden Systems, als auch Hobbes’ wissenschaftstheoretische Erläuterungen und schließlich die Wahl seiner Metaphern – der Staat als politischer Körper – lassen eine solche Fixierung auf die Vernunft, die Sprache und das Recht zunächst kontraintuitiv erscheinen:

43 „Hobbes’s thesis about the transformative part played by speech shapes every aspect of his theory. […] It makes it possible for him to develop a theory of reasoning that equates it with the manipulation of words or symbols; a theory of personhood according to which persons are essentially spokespersons who can give their word to others and thereby ‚personate‘ them­selves; and a theory of group agency that equates incorporation with rallying behind the words of a collective representative or spokesperson“ (Pettit 2008, 2). 44 „Hobbes’s theory of resistance – as I have laid out in this book – bestows upon subjects liberties to disobey that contemporary liberals would likely find hard to countenance. My­ reading suggests that Hobbes is thus, at the very least, a fruitful resource and potential interlocutor for ongoing discussions about the limits of political obligation“ (Sreedhar 2010, 175). 45 Vgl. Curran 2007, 185: „What I hope I have demonstrated, however, is that, contrary to much modern analysis, Hobbes does provide substantive political rights for subjects in his theory, at least as that theory is proposed in Leviathan. He shows how two important categories of rights come to be protected: by the duties of other individuals and by whoever holds the office of sovereign, respectively, and that those rights are therefore strengthened beyond the ‚bare liberties‘ of the prevailing Hohfeldian analysis into genuine political rights.“ 46 Vgl. van Mill 2001, 75: „Those who support a more substantive concept of rationality, such as Jurgen [sic!] Habermas, look back through history to Immanuel Kant in order to find a more compelling concept of human agency. What I will attempt to demonstrate in this chapter is that Hobbes is not an ally of contemporary rational-choice theory and that Habermas and his supporters should reexamine Hobbes’s masterpiece, Leviathan; here they will find a concept of rational agency that they will find much to agree with.“

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

In der Widmung von De Corpore, dem systematisch ersten Teil seiner drei Elemente der Philosophie, erklärt Hobbes selbstbewusst, dass die Staatsphilosophie nicht älter sei als sein Buch De Cive.47 Die Mehrzahl der Interpreten ist sich einig, dass dieser Anspruch von Hobbes ernst genommen werden sollte. Trotz tief­liegen­ der Unterschiede stimmen Hobbes-Forscher zumeist darin überein, dass Hobbes als Begründer einer neuartigen Wissenschaft von Recht und Politik anzusehen ist.48 Die Meinungsverschiedenheiten und Probleme der Hobbes-Forschung bestehen darin, zu klären, worin diese Neuartigkeit besteht. Die Antwort scheint zunächst sehr einfach zu sein und in der systematischen Form, die Thomas Hobbes seiner politischen Philosophie gab, zu liegen. Hobbes veröffentlichte seine politische Philosophie in verschiedenen Schriften. Der Anspruch eines Systems der Philosophie wird deutlich durch die Titel der von Hobbes selbst so benannten Trilogie Elemente der Philosophie. Die drei Schriften De Corpore, De Homine und De Cive stehen, so behauptet es Hobbes zumindest an bestimmten Stellen selbst, in einem logischen Zusammenhang.49 Der logische Zusammenhang wird in dieser Charakterisierung des Systemgehalts hergestellt über den Begriff des Körpers. Die Philosophie beschäftige sich mit Körpern, von denen es wiederum zwei verschiedene Gattungen – natürliche und künstliche Körper – gebe. Die Naturphilosophie, die sich mit natürlichen Körpern beschäftige, gehe daher logisch der Staatsphilosophie, die sich mit den künstlichen (aus den natürlichen Menschenkörpern zu 47 „Die Physik ist also eine neue Erscheinung. Aber die Staatsphilosophie ist es noch weit mehr; ist sie doch nicht älter (ich sage das auf Angriff hin, und damit, die mich mißgünstig anfeinden, wissen mögen, wie wenig sie erreicht haben) als das Buch, das ich selber über den Staatsbürger geschrieben habe“ (DCorD Widmung, 5). Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden Belegstellen aus dem Hobbes’schen Werk in dieser Studie in der Regel in Form einer deutschen Übersetzung angegeben. An den Stellen, wo ich mit den vorgeschlagenen Übersetzungen nicht einverstanden bin, habe ich eigene Übersetzungsvorschläge angefertigt und dies jeweils deutlich gemacht. An einigen wenigen Stellen, an denen ich den Abdruck des Original­textes für unverzichtbar hielt, bin ich von dieser grundsätzlichen Praxis abgewichen. Die für die Belegstellen benutzten Ausgaben und Übersetzungen von Hobbes’ Schriften sowie die zugewiesenen Abkürzungen sind im Abkürzungsverzeichnis angegeben. 48 Für einen Überblick über verschiedene Positionen, die zu dieser Frage in der HobbesForschung vertreten wurden, vgl. Kauffmann 2008a. 49 „Die Philosophie hat zwei Hauptteile. Dem, der die Erzeugungsweisen und Eigenschaften der Körper zu ergründen sucht, bieten sich nämlich sozusagen zwei höchste und voneinander völlig verschiedene Gattungen von Körpern dar. Der eine, den die Natur zusammengefügt hat, heißt der Naturkörper, der andere, den der menschliche Wille durch Übereinkünfte und Abkommen errichtet, wird der Staat genannt. Dadurch ergeben sich also zunächst zwei Teile der Philosophie, die Naturphilosophie und die Staatsphilosophie. Da es aber des weiteren zur Erkenntnis der Eigenschaften des Staats notwendig ist, vorher die Sinnesarten, Affekte und Sitten der Menschen zu kennen, pflegt man die Staatsphilosophie wieder in zwei Teile zu zerlegen, von denen der eine, der von den Sinnesarten und Sitten handelt, Ethik und der andere, der mit den staatsbürgerlichen Pflichten bekannt macht, Politik oder schlechthin Staatsphilosophie genannt wird. Wir werden daher, nachdem wir vorausgeschickt haben, was zur Natur der Philosophie als solcher gehört an erster Stelle von den Naturkörpern, an zweiter von Sinnes­a rt und Sitten des Menschen und an dritter von den staatsbürgerlichen Pflichten sprechen“ (DCorD I, 9, 24).

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung

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sammengefügten) Körpern beschäftige, voraus. Das Neue an Hobbes’ politischer Philosophie besteht – so könnte man auf den ersten Blick auf die systematische Anordnung, die Hobbes seinem Werk selbst gab, glauben – also darin, dass sie auf den Körper, und das heißt auf eine materialistische bzw. korporealistische Naturphilosophie gegründet ist. Im 46. Kapitel des Leviathan wird diese Auffassung, nach der die Natur aus nichts Anderem als aus Körpern besteht, in eine berühmte Formulierung gegossen: „Die Welt (ich meine nicht nur die Erde, nach der ihre Liebhaber weltliche Menschen genannt werden, sondern das Universum, das heißt die gesamte Masse aller bestehenden Dinge) ist körperlich, das heißt ein Körper, und besitzt die Dimensionen der Größe, nämlich Länge, Breite und Tiefe. Auch ist jeder Teil eines Körpers gleichermaßen Körper und besitzt dieselben Dimensionen, und folglich ist jeder Teil des Universums Körper, und was nicht Körper ist, ist kein Teil des Universums. Und da das Universum alles ist, ist das, was kein Teil von ihm ist, Nichts, und folglich nirgends“ (LD 46, 512).

Auch in der Begrifflichkeit der politischen Philosophie erhält der Körper eine zentrale Stellung. Am eindrucksvollsten formuliert hat Hobbes seine Metapher vom politischen Körper in der Einleitung des Leviathan, in der er die Analogie von natürlichem und künstlichem politischen Körper verwendet, um die Funk­ tionsweise und die Aufgaben des Staates zu illustrieren.50 Obwohl also Hobbes dem Körper eine fundamentale Rolle insofern einräumt, als er erstens seine Elemente der Philosophie – De Corpore, De Homine und De Cive – mit dem Körper beginnen lässt, zweitens seine Einteilung der Wissenschaften entlang des Körperparadigmas vornimmt und der Körper drittens in der Begrifflichkeit der politischen Philosophie eine prominente Stellung erhält – der Staat wird als politischer Körper verstanden – scheint in der Forschung weitgehend Konsens darüber zu bestehen, dass der Körper für Hobbes’ politische Philosophie eine allenfalls metaphorische Bedeutung hat. Dass insbesondere die Analogie zwischen Mensch und Staat eine Analogie zwischen einem menschlichen und einem politischen Körper ist, wird in der Hobbes-Forschung wenig beachtet, weil schon von vornherein 50 „Denn durch Kunst wird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er er­sonnen wurde. Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt, die Beamten und anderen Bediensteten der Jurisdiktion und Exekutive künstliche Gelenke, Belohnung und Strafe, die mit dem Sitz der Souveränität verknüpft sind und durch die jedes Gelenk und Glied zur Verrichtung seines Dienstes veranlaßt wird, sind die Nerven, die in dem natürlichen Körper die gleiche Aufgabe erfüllen. Wohlstand und Reichtum aller einzelnen Glieder stellen die Stärke dar, salus populi (die Sicherheit des Volkes) seine Aufgabe; die Ratgeber, die ihm alle Dinge vortragen müssen, die er unbedingt wissen muß, sind das Gedächtnis, Billigkeit und Gesetze künstliche Vernunft und künstlicher Wille; Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und Bürgerkrieg Tod. Endlich aber gleichen die Verträge und Übereinkommen, durch welche die Teile des politischen Körpers zuerst geschaffen, zusammengesetzt und vereint wurden, jenem ‚Fiat‘ oder ‚Laßt uns Menschen machen‘, das Gott bei der Schöpfung aussprach“ (LD Einleitung, 5).

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

festzustehen scheint, dass Hobbes Menschen als etwas anderes denn als bewegte Körper begreift. Zur eben zitierten Einleitung des Leviathan meint beispielsweise Stiening, dass völlig klar sei, dass „die physische Anthropologie“ nicht „das entscheidende Systemzentrum“ ausmache, weil die Parallelisierung von natürlichem und künstlichem Körper rein „metaphorisch“ und „illustrativ“ gemeint sei.51 Obwohl Hobbes also selbst auf den Körper als zentralen Gegenstand und Grundlage seiner politischen Philosophie hinweist, wird Hobbes’ eigene Erklärung in der Forschung bisher selten ernst genommen.52 Weil man von vornherein annimmt, dass Hobbes diese Körperfundierung gar nicht ernst gemeint haben könnte, wird der Rede vom Körper ein rein illustrativer oder metaphorischer Status beigemessen. Was in Bezug auf die Begrifflichkeit in der Rede vom politischen Körper festgestellt wurde, gilt in ähnlichem Maße auch für die Behandlung des ersten Teils des Leviathan. Hobbes entwickelt sowohl im ersten Teil des Leviathan, als auch in dem De Cive vorgeschalteten De Homine sowie im ersten Teil der Elements of Law

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„Zwar scheint insbesondere durch die berühmten Passagen der Einleitung des Leviathan sowie deren Illustration durch das Titelblatt zweifelsfrei geklärt, daß für Hobbes schon die physische Anthropologie das entscheidende ‚Systemzentrum‘ ausmachte, in dem die Begriffe, Kategorien und Grundsätze auch der Staatstheorie ermittelt werden: […] Dennoch zeigt sich schnell, daß es Hobbes mit diesem Bild vor allem darum ging, den Begriff der Individualität und (künstlichen) Personalität, d. h. eine in sich differenzierte Einheit, auf den Staat applizieren zu können. Der hoch anschaulichen und einflußreichen Verknüpfung von natürlichem und künstlichem Körper kommt daher aufgrund der erheblichen Unterschiede in Logik und Systematik der genauen Gehalte der internen Organisation beider Körper ein rein metaphorische [sic!] Status zu; sie hat letztlich rein illustrativen Charakter“ (Stiening 2005, 57). ­Stiening belegt seine These von der rein metaphorischen und illustrativen Funktion allerdings nicht am Text. Wenngleich Stiening durchaus darin zugestimmt werden kann, dass erhebliche Unterschiede zwischen einem romantischen Staatsverständnis und dem von Thomas ­Hobbes bestehen, folgt aus dieser Unterschiedlichkeit allein auch noch nicht, dass der Körper für Thomas Hobbes kein normativer Begriff ist. Auch diese Behauptung in Bezug auf den Status des Körpers in der politischen Philosophie von Thomas Hobbes wird von Stiening nicht durch Textbelege näher plausibilisiert: „Gut 130 bis 150 Jahre später wird ein spätaufklärerischer und romantischer staatstheoretischer Organizismus diese enge Korrelation von menschlichem Körper und Staat als begriffliche zu erfassen suchen – allerdings, und an diesem Vergleich lässt sich die Besonderheit der Hobbesschen Passage ablesen, basiert jene romantische Identifizierung von natürlichem Organismus und Staat nicht, wie bei Hobbes, auf einem allgemeinen Mechanismus, der natürliche wie künstliche Körper zu Erscheinungsweisen einer universellen, durch Kausalität determinierten Bewegung erhebt, sondern auf einem spezifisch – nämlich alles Mechanistische abstrakt ausschließenden – organologischen Verständnis von Ganzheit; zudem kommt dieser Korrelation keineswegs, wie bei Hobbes, ein metaphorischer, d. h. ein rein illustrativer Status zu, sondern der eines normativen Begriffs – schon für Herder und Schiller, wie erst recht für Adam Müller soll der Staat einem natürlichen Organismus entsprechen“ (Stiening 2005, 58). 52 Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt die Studie Body and Cause in Hobbes. Natural and Political von Bertman (1991) dar, der jedoch den Fokus eher auf den wissenschaftstheoretischen Zusammenhang zwischen Hobbes’ Naturphilosophie und seiner politischen Philosophie legt und deshalb gar nicht erst nach der Rolle fragt, die der menschliche Körper im kontraktualistischen Argument spielt.

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung

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eine Art materialistisch-mechanistischer Anthropologie, die den Menschen als leidenschaftsbewegten Körper schildert. Obwohl Hobbes also durch dieses erste Kapitel des Leviathan, durch De Homine und durch den ersten Teil der Elements of Laws seiner politischen Philosophie eine nach dem Modell einer materialistischmechanistischen Naturphilosophie formulierte Anthropologie voranstellt, besteht in der Forschung ein weitgehender Konsens darüber, dass Hobbes’ politische Philosophie mit diesem Fundament wenig zu tun hat. Das Problem, in welcher Rela­ obbes tion Hobbes’ politische Philosophie zu seiner Naturphilosophie steht, hat H zum Teil  selbst mit verursacht, insofern er an bestimmten Stellen nahezulegen scheint, dass seine politische Philosophie unabhängig von seiner Naturphiloso­ obbes-Forschung phie betrachtet werden kann.53 J. W. N. Watkins fasst eine in der H des Jahres 1965 prominente These, die auch im neuen Jahrtausend noch zahlreich vertreten wird, folgendermaßen zusammen: Es sei selbstverständlich absurd, aus einer materialistischen Naturphilosophie Gedanken, Gefühle und Wünsche – also eine Psychologie abzuleiten, deswegen könne man Hobbes’ Anspruch, die politische Philosophie aus der Naturphilosophie abzuleiten, natürlich nicht ernst nehmen. Hobbes habe beim Übergang von der Naturphilosophie zur politischen Philosophie vielmehr einen frischen Start vorgenommen.54 Auch Henning Ottmann bezeichnet die genaue Verbindung zwischen Naturphilosophie und politischer Philosophie als rätselhaft.55 Die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit der politischen Philosophie von der Naturphilosophie hat Generationen von Hobbes-Forschern vor Rätsel gestellt. Wenn die naturphilosophische Fundierung überhaupt ernst genommen und explizit untersucht wurde, was selten genug geschah, wurden die sich daraus ergebenden Probleme meist auf philosophisch wenig befriedigende Weise gelöst. Sieht man sich an, wie das Problem der Relation von Naturphilosophie und 53

Für die Auffassung, dass die politische Philosophie unabhängig von der Naturphilosophie sei, wird in der Regel das Vorwort zur zweiten Auflage von De Cive bemüht, in dem­ Hobbes die Veröffentlichung des dritten Teils seiner Elemente der Philosophie, De Cive, vor dem ersten (De Corpore) und zweiten (De Homine) Teil damit rechtfertigt, dass sich dieser dritte Teil über den Bürger auf eigene Grundsätze stütze, die aus der Erfahrung bekannt wären, und deshalb der vorangehenden Teile nicht bedürfe: „So ist es gekommen, daß der der Anordnung nach letzte Teil zuerst fertig geworden ist, zumal da ich sah, daß er sich auf seine eigenen, durch Erfahrung bekannten Grundsätze stützte und deshalb der vorhergehenden Teile nicht bedurfte“ (DCD Vorrede, 72). Ludwig 2008, 49, diskutiert verschiedene Möglichkeiten, diesen Satz zu verstehen. 54 „Students of Hobbes who have asked, ‚What do his political doctrines owe to his philosophy?‘ have mostly confined themselves to the question of a relation between his politics and his natural philosophy, i. e. his materialism. […] And this does suggest that the question ‚What do Hobbes’ political doctrines owe to his philosophy?’ can be reformulated as ‚Did he derive his psychology from his materialism?‘ Now the answer to this question is obvious. Psychological conclusions about thoughts, feelings and wants cannot be deduced from materialistic premises about bodily movements: therefore Hobbes must have made a fresh start when he turned from nature to psychology and politics“ (Watkins 1965, 238). 55 Vgl. Ottmann 1992, 79: „Es ist ein Rätsel, wie Hobbes unter den Voraussetzungen dieser naturalistischen Anthropologie den Staat überhaupt anders begründen will, denn als Zwangsapparat, der auf den Druck und Stoß der Körper antwortet mit der Physik staatlichen Zwangs.“

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

politischer Philosophie in der Hobbes-Forschung bisher gelöst wurde, bekommt man zugleich einen Einblick in das Desiderat einer Hobbes-Hermeneutik: Am Beispiel des Verhältnisses von Naturphilosophie und politischer Philosophie kann gezeigt werden, welche Wege in der Hobbes-Forschung bisher eingeschlagen wurden, um mit Widersprüchen oder anderen textuellen Schwierigkeiten umzugehen. Thomas Spragens, der sich als einer von wenigen explizit dem Verhältnis von Naturphilosophie und politischer Philosophie annahm, kommt in seiner Studie The Politics of Motion. The World of Thomas Hobbes zu dem Ergebnis, dass Hobbes – natürlich – keine ganze politische Theorie auf einem kosmologischen Prinzip habe aufbauen können. Zur Erklärung der Probleme stellt er eine Art Ontologie-Devianz-Gesetz auf: So gebe es in jedem systematischen Denker einige Abweichungen zwischen seiner Ontologie und seinen politischen Vorschriften – von dieser Regel mache auch Hobbes keine Ausnahme.56 Einen ähnlichen Erklärungsversuch hat jüngst Patricia Springborg unternommen, insofern sie ebenfalls keine primär philosophisch-systematischen Gründe für die textuellen Schwierigkeiten annimmt. Springborg versteht Hobbes als paradoxen metaphysischen Denker mit politischen Interessen, der seinen metaphysischen Materialismus als „Klient des Hofes“ aus politischen Erwägungen um politische Konzepte wie „Wille“, „Autor“ oder „Vertrag“ erweitert hätte, die mit selbigen allerdings schlechterdings unvereinbar seien. Es handele sich um „systemische Paradoxa“ in Hobbes’ Theorie. Hobbes gleiche also in gewisser Weise einer schizophrenen Person: Als Wissenschaftler habe er auf der einen Seite eine Naturphilosophie entwickelt, die sich als politisch nutzlos herausgestellt habe. Als politisch engagierter Mensch habe Hobbes an dieser zwar nutzlosen, aber für wahr gehaltenen Theorie festgehalten und diese mit politisch nützlichen Elementen verbunden, die eigentlich unvereinbar damit sind.57 Die mit dem kontraktualistischen Argument schwer vereinbar scheinende Anthropologie wird von manchen Forschern gar als Ergebnis einer Methodenhörig 56 „Hobbes, of course, was unable to generate a complete political theory out of the new cosmological paradigm which he elaborated. In the first place, he had to import into his ­speculations attributes of human nature which he derived from his observations of life around him, since the new cosmological paradigm was quite devoid of human substance […]. And in the second place, there is always some slippage in even the most systematic political thinker between his governing ontology and his political prescriptions. All sorts of intermediate and contingent judgments as to appropriate and effective means of attaining given ends, assessments of the practical political context, and so on, intervene between one’s basic world view and his concrete political policy choices. Hobbes is no exception to this rule“ (Spragens 1973, 205). 57 „The most fundamental paradoxes are endemic to his system, as contemporaries came to realize. […] Hobbes’s first principles were not political but metaphysical, and the early commitments he had made in terms of his ontology and epistemology gave him no space to solve the political problems with which he was confronted and, as a courtier’s client, was charged with resolving. Struggle though he might through his successive works to establish consistency, he was ultimately forced to import concepts like „will“, „author“, „contract“ and impute processes, like ratiocination and deliberation, for which his metaphysics made no room“ (Springborg 2009, 684 f.).

II. Die Körpervergessenheit der Hobbes-Forschung

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keit verstanden: Weil Hobbes sich entschlossen habe, seine politische Philosophie nach dem Vorbild einer naturwissenschaftlichen Methode zu konzipieren, hätte er sich von dieser Methode anschließend ein sachlich unangemessenes Vorgehen aufzwingen lassen. So spricht beispielsweise Stiening von einer methodisch erzwungenen Anthropologie.58 Hobbes habe, so geht Stiening weiter, sich aber nicht nur von seiner einmal gewählten Methode ein bestimmtes Vorgehen aufzwingen lassen, sondern auch – vermutlich unabsichtlich – zwei unvereinbare Prämissen kombiniert bzw. zwei sich widersprechende Wissenschaftsverständnisse benutzt, deren Perspektiven er nicht klar genug voneinander getrennt habe.59 Stiening kommt also zu dem Schluss, dass Hobbes selbst zwar geglaubt habe, eine Anthropologie als Voraussetzung der politischen Theorie entwickeln zu müssen, und dies auch mehrfach explizit behauptet habe, dass er sich in diesem Punkt allerdings geirrt hätte.60 Als hermeneutische Konsequenz zieht er daraus den Schluss, dass man sich bei der Interpretation von Hobbes’ Schriften eben nicht darauf verlassen dürfe, was der Autor selbst über seine Intention bei der Abfassung des Werkes mitgeteilt habe.61 Der kleine Exkurs über die in der Hobbes-Forschung eingeschlagenen Wege, den Zusammenhang zwischen Naturphilosophie bzw. einer nach diesem Vorbild entworfenen Anthropologie und der Vertragstheorie zu erklären, der unter anderem ein Ontologie-Devianz-Gesetz, eine These über die primär politisch-zeit­bedingte Motivation der politischen Philosophie von Hobbes und die These der Methodenhörigkeit bzw. den Ratschlag eines Verzichts auf eine intentionalistische Herme 58

„Aufgrund der Universalität seiner resolutiv-kompositiven Methode ist Hobbes genötigt, den Staat in die ihn konstituierenden Bestandteile, die Menschen, analysierend zu zerlegen und diese Einzelteile hinsichtlich ihrer spezifischen Bestimmtheit zu betrachten. Methodisch ist Hobbes also zu einer voraussetzenden Anthropologie im Rahmen seiner Staatstheorie gezwungen“ (Stiening 2005, 104 f.). 59 „Der methodologisch erzwungenen Genesis einer Anthropologie als ‚vorhergehendem‘ Teil der Politik steht mithin ihre systematischen [sic!] Geltung(slosigkeit) unvermittelt gegenüber. Dabei zeigt sich, daß auch in diesem Fall das Verhältnis von Genesis und Geltung kein rein methodologisches ist, sondern vielmehr auf systematischen Prämissen basiert, die aufgrund ihrer Unvereinbarkeit zu gegensätzlichen Resultaten führen. Das empiristische Wissenschaftsverständnis der resolutiv-kompositiven Methode, das zu einer Anthropologie verpflichtet, steht dem rationalistischen Verfahren der rechtslogischen Deduktion vermittlungslos, ja im Widerspruch gegenüber. Beide nicht angemessen unterschiedenen Perspektiven konstituieren die konkrete argumentative Gestalt des Leviathan […]“ (Stiening 2005, 105). 60 „Nun ist aber nicht zu bestreiten, daß Psychologie und Handlungstheorie von Hobbes selbst als genuine und notwendige Bestandteile des Leviathan betrachtet wurden, ja, daß der Autor die gesamte theoretische und praktische Anthropologie, mithin den gesamten ersten Teil des Werkes, als Voraussetzung bzw. Grundlegung des zweiten ansah“ (Stiening 2005, 104). 61 „Zur Erörterung dieser Frage [nach der Relation von Anthropologie und Politik, E. O.] wird es sich als ratsam erweisen, zwischen der subjektiven Ab- bzw. Ansicht des Thomas Hobbes über das Verhältnis jener Systemteile und den Gegenständen der ihnen entsprechenden Wissenschaften einerseits sowie dem in seinem Text ausgeführten objektiven Gehalt andererseits zu unterscheiden. Die expliziten Aussagen Hobbes’ zu diesem Sachverhalt verunmöglichen nämlich jenen einfachen Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik, nach dem ‚gilt, daß das Selbstverständnis des Autors den wichtigsten Zugang zu seinem Werk eröffnet‘“ (Stiening 2005, 56).

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

neutik zu Tage förderte, belegt seinerseits das Desiderat der Entwicklung einer Hobbes-Hermeneutik.62 Samantha Frost ist eine von wenigen Hobbes-Forschern, die den Hobbesschen Materialismus als Grundlage seiner politischen Philosophie Ernst nimmt – wenn auch ihre Intention und die Ergebnisse, zu denen sie kommt, durchaus angezweifelt werden können.63 In ihrem Forschungsüberblick kommt sie zu dem Schluss, dass Hobbes’ Naturphilosophie  – und hier insbesondere sein Konzept des Körpers – von den meisten Forschern, die Hobbes’ politische Theorie untersuchen, ignoriert wird, und bestätigt damit unsere These von der Körpervergessenheit der modernen Hobbes-Forschung: „However, while some of his seventeenth-century interlocutors did indeed engage with and challenge the implications of his metaphysics for ethical and political practice, talk of Hobbes’s materialistic account of the subject, of his materialist ethics or his materialist politics, falls hard on contemporary ears: academic disciplinary politics have made it difficult for political theorists to conceive of a ‚metaphysical materialism‘ that does not also entail a deterministic behaviorism. In fact, the fear of a reductive behaviorism so haunts theorists’ engagement with Hobbes’s metaphysics that when his account of ‚Body‘ has actually been acknowledged, it has been construed as irrelevant or unrelated to his theory of politics and has been collectively excised from political theoretical consideration“ (Frost 2001, 30 f.).

Ob die Erklärung von Frost – die „Furcht vor einem reduktiven Behaviorismus“ – eine richtige oder ausreichende für die Körpervergessenheit der modernen HobbesForschung ist, mag dahin gestellt sein. Tatsache ist, dass es eine Tendenz in der politiktheoretischen Hobbes-Forschung gibt, die Naturphilosophie und den Körper zu vernachlässigen und sich stattdessen auf das kontraktualistische Argument zu konzentrieren. Die genannten Tendenzen der gegenwärtigen Hobbes-Forschung – die Konzentration auf das kontraktualistische Argument, die zunehmende Bereitschaft, Hobbes als Begründer des Liberalismus zu betrachten, die Vernachlässigung des Körpers und das Desiderat einer Hobbes-Hermeneutik – bilden, zusammen mit dem body turn der modernen Sozialwissenschaften, den Ausgangspunkt dieser Arbeit. 62 Obwohl sich die meisten Forscher darin einig sind, dass Hobbes zu den Autoren der Philosophiegeschichte zu zählen ist, dessen Schriften den Interpreten durch ungewöhnlich viele dunkle Stellen und Widersprüche vor besondere Herausforderungen stellen, gibt es bislang auffallend wenige Studien, die sich explizit dem Problem einer angemessenen Hobbes-­ Hermeneutik widmen. Ein gewisser Wandel scheint sich in den letzten Jahren allerdings anzudeuten. Im Jahr 2009 konstatiert beispielsweise Springborg einen gewissen Aufmerksamkeitswechsel, der zu einer erhöhten Berücksichtigung der textuellen Schwierigkeiten und einer Diskussion, wie mit diesen umzugehen sei, geführt habe: „Attention has turned from­ Hobbes the systematic thinker to his inconsistencies, as the essays in the Hobbes symposium published in the recent volume of Political Theory suggests“ (Springborg 2009, 676). Auch die neueren Studien von Skinner (1996), Hoekstra (2006) und Evrigenis (2014) können als Beleg dafür herangezogen werden, dass das Problem, wie Hobbes angemessen zu lesen sei, zunehmend ernst genommen wird. 63 Für eine Auseinandersetzung mit Frosts Rekonstruktion und Aktualitätsbewertung von Hobbes’ politischer Theorie vgl. das Schlusskapitel [C. II.] dieser Arbeit.

III. Gang der Untersuchung

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III. Gang der Untersuchung Die vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, die Frage nach der Rolle des Körpers in Thomas Hobbes’ kontraktualistischem Argument zu beantworten. In ihr soll gezeigt werden, dass Hobbes’ kontraktualistisches Argument auf der Grundentscheidung basiert, den Körper als zentralen Ausgangspunkt von Politik zu betrachten. Die oben bereits zitierte Bestimmung der Philosophie über den Begriff des Körpers und die darauf basierende Anthropologie ist demnach nicht nur eine unbedeutende Metaphorik, sondern eine bewusste Entscheidung, die ernst genommen werden muss, um das kontraktualistische Argument angemessen zu verstehen. Wie gezeigt werden soll, bestimmt der Körper die Anwendungs­bedingungen und den Gehalt, die Gültigkeitsbedingungen und den Status des kontraktualistischen Argumentes entscheidend. Um für die grundlegende These des körper­basierten Liberalismus von Thomas Hobbes zu argumentieren, werde ich folgendermaßen vorgehen: In einem ersten Kapitel [B. I.] werde ich knapp die rechtstheoretische Deutungsfamilie des kontraktualistischen Arguments skizzieren, um damit eine Kontrastfolie zu schaffen, auf deren Basis die eigene These von der Relevanz des Körpers für das kontraktualistische Argument deutlicher entfaltet werden kann. In vier einzelnen Unterkapiteln wird gezeigt, wie diese zunehmend Anhängerschaft gewinnende Deutungsfamilie  – für die stellvertretend ein deutscher Vertreter der rechtstheoretischen Deutung und eine US-amerikanische Vertreterin der reziprozitätstheoretischen Deutung herangezogen werden – zentrale Elemente des kontraktualistischen Argumentes von Hobbes interpretiert: die Lehre vom Natur­ zustand, die Lehre von den natürlichen Gesetzen, die Lehre von der Autorisierung und die Erwiderung auf den Narren. In einem zweiten Schritt [B. II.] möchte ich eine alternative Deutung des kontraktualistischen Arguments vorschlagen, die ich als körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments bezeichne. Durch eine argumentlogische, vor allem auf den englischsprachigen Leviathan64 gestützte Analyse soll gezeigt wer 64 Um die These von einer angemessenen Deutung des kontraktualistischen Arguments zusätzlich zu stützen, werden vereinzelt weitere Belegstellen der anderen Schriften, in denen das kontraktualistische Argument entfaltet wird (Elements of Law, De Cive, lateinischer Leviathan) zur Unterstützung unserer Deutung herangezogen. Gleichwohl konzentriert sich unsere Untersuchung in erster Linie auf den englischsprachigen Leviathan: Diese Konzentration erfolgt deshalb, weil der englischsprachige Leviathan erstens die hauptsächliche Referenzquelle auch der Vertreter alternativer Deutungen ist und konkurrierende Deutungen nur sinnvoll vor dem gleichen Textbefund diskutiert werden können: Sowohl die spieltheoretische, als auch die reziprozitätstheoretische Deutung stützt sich vor allem auf den englischsprachigen Leviathan. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht lediglich die deutsche rechtstheoretische Deutung dar, die schwerpunktmäßig mit De Cive arbeitet. Auch diese zieht jedoch, wie gezeigt wird, den Leviathan zur Stützung ihrer Deutung heran und setzt sich ausführlich mit der  – so nur im Leviathan enthaltenen  – Autorisierungstheorie auseinander, weshalb eine Aus­einandersetzung hier zumindest zu großen Teilen auch auf identischer Textbasis erfolgen kann. Hinsichtlich der für die Hobbes-Forschung fundamental wichtigen Frage, welcher

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

den, dass das kontraktualistische Argument nicht hinreichend verstanden werden kann, wenn man dessen Körperorientierung nicht berücksichtigt. Die Argumentation für die These der körpertheoretischen Deutung des kontraktualistischen Arguments erfolgt über drei isolierbare Einzelthesen, für die jeweils in gesonderten Unterkapiteln argumentiert wird: Zunächst wird für die erste These argumentiert, dass der Körper die Grundlage, d. h. den Ausgangspunkt und die inhaltliche Füllung des Argumentes wesentlich bestimmt [B. II. 1.]. Sowohl die Ursachen des Konflikts als auch dessen Problemlösung liegen – anders als von den Vertretern der rechtstheoretischen Deutungs­ familie behauptet – in der Körperlichkeit. Es wird dafür argumentiert, dass die im ersten Teil des Leviathan entwickelte Anthropologie von entscheidender Bedeutung für das kontraktualistische Argument ist und gezeigt, wie diese Anthropologie in drei Elemente des kontraktualistischen Arguments – in die Lehre vom Naturzustand, in die Lehre von den natürlichen Gesetzen und in die Lehre von der Autorisierung – Eingang findet.65 Anschließend wird für die zweite These argumentiert, dass dem Körper auch eine entscheidende Rolle dahingehend zukommt, dass er als Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Argumentes fungiert [B. II. 2.]. Wenngleich auf den ersten Blick die Freiwilligkeit und die Reziprozität die einzigen Gültigkeitsbedingungen des wechselseitigen Vertrages zu sein scheinen, erweist sich der Körper als zentrales normatives Kriterium des Vertrages, weil er das Freiwilligkeitskriterium inhaltlich ausfüllt: Die im ersten Teil des Leviathan von Hobbes entwickelte Leidenschaftslehre und die darauf basierende deterministische Handlungstheorie Status den verschiedenen Schriften von Hobbes, die das kontraktualistische Argument enthalten, jeweils zukommt (vgl. Brantl 2011, 255 f.), wird dieser Arbeit die Hypothese zugrunde gelegt, dass sich diese Schriften in der Perspektive unterscheiden, aus der diese formuliert sind: Während sich Hobbes in De Cive erklärtermaßen an Bürger wendet (vgl. DCD Vorwort, 72), um diesen Bürgerpflichten zu vermitteln, stellt der Leviathan eine Schrift dar, die Schlussfolgerungen eher aus der Perspektive des Souveräns zieht. Um die These auf breiterer Basis abzusichern, könnte in einem späteren Schritt eine umfassendere vergleichende Analyse von De Cive und De Homine, den Elements of Law, die allesamt das kontraktualistische Argument entfalten, erfolgen. Auf der Basis unserer Hypothese der unterschiedlichen Perspektive, aus der die Schriften formuliert sind, und der Tatsache, dass die alternativen Deutungen sich ebenfalls weitgehend auf den englischsprachigen Leviathan stützen, scheint uns die Konzentration auf den englischsprachigen Leviathan für die Zwecke dieser Arbeit geeignet zu sein. Um die Frage nach Hobbes’ Intention und die genaue Relation von Naturphilosophie und politischer Philosophie, die beide in dieser Arbeit nicht abschließend beantwortet werden sollen, zu klären, müssten in einem späteren Schritt weitere, insbesondere naturwissenschaftliche und wissenschaftstheoretische Schriften von Hobbes analysiert werden. 65 Die Darstellung folgt dabei den Elementen, deren Interpretation durch die rechtstheoretische Deutungsfamilie bereits im Kapitel B. I. skizziert wurde. Aus systematischen Gründen wird eine eigene Interpretation des vierten dort vorab skizzierten Elementes – Hobbes’ Erwide­r ung auf den Narren – jedoch erst in einem späteren Teil der Arbeit [B. III. 2. b) bb)] dargelegt werden. Auch die Darstellung der Autorisierungstheorie aus der Perspektive der körpertheoretischen Deutung an dieser Stelle muss als vorläufig gelten und wird im weiteren Verlauf der Arbeit durch wesentliche Einsichten ergänzt.

III. Gang der Untersuchung

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führen, wie Hobbes in der Besprechung von Kriterien gültiger Verträge deutlich ausführt, dazu, dass der Schutz des Körpers eine Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Argumentes darstellt. Das Argument kann nicht hinreichend verstanden werden, wenn man die Rolle, die Hobbes dem Körper als Kriterium für gültige Verträge zuweist, außer Acht lässt. Die dritte These lautet, dass dem kontraktualistischen Argument gerade durch diese Rolle des Körpers als Gültigkeitskriterium für Verträge ein fundamentales Problem erwächst [B. II. 3.]. Durch eine formal-logische Analyse des kontraktualistischen Arguments wird gezeigt, dass das Argument seinen Zweck  – die Rechtfertigung des Staates – notwendigerweise verfehlen muss. Die aus den anthropologischen Prämissen abgeleiteten Gültigkeitsbedingungen der Selbsterhaltungsdienlichkeit und der Wechselseitigkeit können nicht gleichzeitig erfüllt werden, weshalb es nicht möglich ist, den Staat als denkbares Ergebnis eines fiktiven, gültigen Vertrages und damit als rechtmäßig auszuweisen. Das logische Problem des Arguments wird als biopolitische Aporie bezeichnet, weil der Staat, um seine Rechtmäßigkeit zu sichern, zu einer biopolitischen Gesetzgebung gezwungen wäre, die seine Rechtmäßigkeit zugleich untergraben würde. In einem knappen Fazit wird die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments nochmals zusammengefasst [B. II. 4.]. Diese Rekonstruktion des kontraktualistischen Argumentes als eines theoretisch schwachen bzw. fehlerhaften Argumentes scheint unsere Deutung zunächst vor ein empfindliches Problem zu stellen: Worin besteht der Mehrwert der körpertheoretischen Deutung, wenn eine solche Rekonstruktion des Arguments dessen theoretische Schwäche offenbart? Die Arbeit setzt sich mit diesem möglichen Einwand gegen die körpertheoretische Deutung auseinander und argumentiert dafür, dass der Vorteil dieser Deutung erstens in ihrer größeren Textnähe besteht und dass der Nachteil der Deutung  – die theoretische Schwäche des kontraktualistischen Arguments – von den beiden anderen großen Deutungsfamilien des kontraktualistischen Arguments geteilt wird. Sie zeigt, dass nicht nur die körpertheoretische Deutung, sondern auch die rechtstheoretische und die spieltheoretische Deutung jeweils spezifische theoretische Schwächen des kontraktualistischen Arguments identifizieren. Weil dem Problem, wie mit textuellen Schwierigkeiten umgegangen werden soll, in der Hobbes-Forschung bisher vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit gewidmet wurde, bzw. auf philosophisch wenig befriedigende Weise versucht wurde, diese Probleme zu lösen, identifiziert die Arbeit das Desiderat einer intentionalistischen Hobbes-Hermeneutik [B. III. 1.]. Die Arbeit wagt daher einen Neuanfang und erprobt erste Ansätze einer solchen intentionalistischen Hobbes-Hermeneutik am Leviathan [B. III. 2.]. Über eine Berücksichtigung von Hobbes’ expliziten Hinweisen zu seiner Intention, dem Adressaten und der Funktion seiner Schrift wird versucht, diejenigen Verständnisprobleme, die sowohl die vorgeschlagene Neudeutung, als auch die beiden großen bestehenden Deutungsfamilien mit dem kontraktualistischen Argument haben, aufzulösen.

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

Durch eine Berücksichtigung der expliziten Intention von Hobbes – u. a. seine geäußerte Hoffnung, dass sein Buch einem Souverän in die Hände fallen werde – wird die interpretatorische Hypothese, dass es sich beim Leviathan um ein Beratungshandbuch für den Souverän handelt, entwickelt und der weiteren Textanalyse zu Grunde gelegt. Es wird dafür argumentiert, dass sich weite Teile des Leviathan tatsächlich so lesen lassen, als verfolge Hobbes primär das praktische Ziel, den Souverän in Techniken des Machterhalts einzuweihen: So wird in einem ersten Teil [B. III. 2. a)] gezeigt, dass der Leviathan intensive Reflexionen über die verschiedenen Ziele und Erfolgsaussichten öffentlicher Rede enthält und in diesem Zusammenhang auch der Einsatz unwahrer Leidenschaftsappelle erwogen wird, um eine Menge zum Handeln anzutreiben. Diese Reflexionen lassen sich durchaus als eine erste „Lektion“ für den Souverän lesen: eine Einführung in die Kunst der öffentlichen Rede, in der Hobbes dem Souverän empfiehlt, Leidenschaftsappelle ohne Wahrheitsanspruch zu benutzen, wenn er mit einer Menge spräche. Das mögliche Problem, dass es sich beim Leviathan um eine veröffentlichte Schrift handelt und man schwerlich davon ausgehen kann, dass Hobbes solche Techniken öffentlich habe verbreiten wollen, kann aufgelöst werden durch eine bestimmte Rezeptionstheorie, die Hobbes formuliert: Nach Hobbes unterscheiden sich die Menschen in ihren Leidenschaften. Weil diese Leidenschaften aber wie Wahrnehmungsfilter wirken und daher unterschiedliche Verstandeskräfte nach sich ziehen, kann ein und derselbe Text von verschiedenen Menschen verschieden rezipiert werden. Die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Argumentes scheint also einfach dadurch erklärt werden zu können, dass es sich dabei um ein Argument ohne Wahrheitsanspruch handelt, was lediglich an Leidenschaften appellieren und dadurch eine praktische Wirkung entfalten soll. Ein neues Problem ergibt sich dann jedoch aus der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften: Wenn durch den Appell an Todesfurcht und Genussstreben nicht alle Menschen zu Gehorsam und Vertragstreue bewegt werden können – welche Möglichkeit hat der Souverän dann, Menschen mit anderen Leidenschaften zu einem gewünschten Handeln zu bewegen? Die zweite These stellt daher eine Ausdifferenzierung der interpretatorischen Hypothese vom Beraterhandbuch dar und betrifft nochmals die Adressaten und die Nutznießer des kontraktualistischen Arguments [B. III. 2. b)]. Es wird gezeigt, dass nicht nur der Souverän, sondern auch andere machtgierige Menschen das kontraktualistische Argument für sich ausnutzen können, um sich an argloseren und gutmütigeren anderen Menschen zu bereichern. Hobbes teilt in der Maske des Narren die unreine Wahrheit mit, dass man sich an abgeschlossene Verträge nicht halten müsse und zeigt – auch durch das Theorieelement des Staates durch Aneignung – wie nützlich die Verschleierung bzw. nachträgliche Rationalisierung von Gewaltverhältnissen durch die Rede vom Vertrag ist. Das nächste Kapitel [B. III. 2. c)] enthält eine These über die Voraussetzungen der praktischen Wirksamkeit des kontraktualistischen Arguments. Es untersucht, wie Hobbes dem Souverän eine Umerziehung des Volkes empfiehlt, damit das auf

III. Gang der Untersuchung

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diese Weise an die körperlichen Leidenschaften Todesfurcht und Genusssucht appellierende kontraktualistische Argument seine volle Wirksamkeit entfalten kann: Erst wenn der falsche Einfluss gewisser heidnischer und religiöser Lehren zurückgedrängt ist und der Mensch sich vor allem als Körper versteht, der auch eine nur körperlich gedachte Freiheit ausleben will, kann das Argument seine praktische Wirksamkeit – die Herstellung gesetzestreuer Untertanen – voll entfalten. Zudem zeigt Hobbes dem Souverän, wie dieses Selbstverständnis des Menschen als Körper liberale, rechtstaatliche und wohlfahrtsstaatliche Konsequenzen nahelegt: Die Zustimmung der Untertanen, die ihre körperliche Freiheit ausleben wollen und ungestört und sicher ihren leiblichen Genüssen frönen wollen, kann durch eine auf den Körper ausgerichtete Politik leicht erreicht werden. Das Argument kann jedoch – und das ist dessen eigentliche Voraussetzung – nur wirksam werden, wenn die Menschen eine entsprechende Leidenschaftsstruktur haben: Hobbes macht deutlich, dass die Umerziehung bzw. der Gehorsams­appell bei Menschen mit großem Machtstreben unwirksam bleiben wird. Auch solche sind jedoch neben dem Souverän potentielle Nutznießer des kontraktualistischen Arguments: Unter dem Deckmantel des Rechts- und Wohlfahrtsstaates kann sich der Souverän die Zustimmung derjenigen Menschen, die stärker als andere nach Macht und Reichtum streben, sichern, indem er diese beispielsweise in der Steuer­ gesetzgebung bevorzugt behandelt: Die reichen und machtgierigen Menschen können die armen und arglosen Menschen als Arbeitssklaven geschickt für ihre Zwecke ausnutzen. Dass der nach Macht strebende Souverän nie im Interesse des Volkes, sondern stets im eigenen Interesse des Machterhalts bzw. der Machtvergrößerung handelt, wird deutlich in der Außenpolitik, in der der Souverän die nie aufgegebene Logik von Gewalt und List offen ausleben kann. Bevor ein Fazit zum Status des Arguments gezogen wird, wird die Hypothese vom Beraterhandbuch nochmals aufgegriffen und diskutiert [B. III. 2. d)]: Wenngleich sich zahlreiche Elemente des Leviathan als Lektionen für potentielle, an ihrem Machterhalt interessierte Souveräne lesen lassen, sprechen die von Hobbes formulierten anthropologischen und handlungstheoretischen Prämissen dagegen, das Buch primär oder ausschließlich als eine für Friedenszwecke formulierte Ratgeberschrift zu verstehen. Ohne die Frage nach Hobbes’ Intention bei der Abfassung seines Werks abschließend beantworten zu können, werden doch einige Belegstellen des Leviathan vorgestellt und diskutiert, die es nicht nur nahelegen, im Leviathan mehr als nur ein Beratungshandbuch zu sehen, sondern auch erfordern, die intentionalistische Hobbes-Hermeneutik um einen pragmatischen und kontradiktorischen Aspekt zu ergänzen. In einem Fazit zum zweiten Teil der Arbeit [B. III. 3.] wird die Argumentation für die These, dass es sich beim kontraktualistischen Argument um ein argumentum ad hominem handelt, nochmals zusammengefasst und als Möglichkeit, die von der körpertheoretischen Deutung identifizierte theoretische Schwäche des Arguments – die biopolitische Aporie – zu erklären, verteidigt.

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A. Der Körper als Gegenstand der Politikwissenschaft und der Hobbes-Forschung 

Abschließend [C.] wird die in der Einleitung aufgeworfene Frage nach Hobbes’ Beitrag zur Lösung von Problemen des 21. Jahrhunderts diskutiert. Es wird dabei für die grundlegende These argumentiert, dass Hobbes ein theoretisch schwaches und moralisch fragwürdiges Argument konzipiert hat, das durchaus praktische Konsequenzen hat. Die Beschäftigung mit Hobbes’ körperbasiertem Liberalismus könnte, wie gezeigt werden soll, zunächst problemsensibilisierend wirken: Die theoretische Schwäche des kontraktualistischen Arguments birgt die Gefahr der Delegitimierung liberaler Demokratien in der Biopolitik [C. I.]. Die Körperorientierung und der machtphilosophische Ursprung erweisen sich darüber hinaus als mögliches Erklärungsmoment für die Gewaltbereitschaft liberaler Demokratien [C. II.]. Wenn unsere körpertheoretische Rekonstruktion des kontraktualistischen Argumentes richtig sein sollte, würde diese damit eine breitere und damit angemessenere Grundlage der Beurteilung des Arguments darstellen. Angesichts der Tatsache, dass das kontraktualistische Argument das gegenwärtige liberale Selbstverständnis stark dominiert und es aktuell vermehrt Tendenzen gibt, ­Hobbes als geeigneten Ideengeber für die liberale Demokratie zu empfehlen, möchte unsere Rekonstruktion damit auch einen Beitrag zu der stets notwendigen Selbstverständigungsdiskussion liberaler Demokratien leisten. Hobbes’ Beitrag zur Lösung konkreter Probleme des 21. Jahrhunderts muss jedoch vielleicht nicht ein bloß negativer, problemsensibilisierender bleiben. Die Arbeit schließt mit einem Versuch [C. III.], mit Hobbes über Hobbes hinaus zu gehen und zu zeigen, dass mit den Hobbes’schen Prämissen eine andere als die von Hobbes vorgeschlagene Politik denkbar wäre.

B. Die politische Logik des Körpers. Eine Analyse von Thomas Hobbes’ körperbasiertem Liberalismus I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper? Rechtstheoretische Deutungen des kontraktualistischen Arguments Die folgende Darstellung geht von der Beobachtung einer strukturellen Ähnlichkeit der in Deutschland einflussreichen rechtstheoretischen Hobbes-Deutung und der in den USA zunehmend Anhängerschaft gewinnenden reziprozitätstheoretischen Hobbes-Deutung aus. Gemeinsam ist den beiden durchaus verschiedenen Deutungsansätzen eine Konzentration auf die Vernunft und das Recht sowie – etwas unbestimmt gesprochen – der Versuch, Hobbes von Kant her zu lesen.1 Im deutschen Sprachraum einflussreich ist eine Hobbes-Deutung, die als rechtstheoretische Auslegung bekannt ist und die häufig von Forschern vertreten wird, die zugleich Kant-Forscher sind: Die Wurzeln dieser Deutungsschule, als deren Begründer zuweilen Georg Geismann genannt wird,2 gehen auf Julius Ebbinghaus zurück.3 Eine umfassende systematische Darstellung der rechtstheoretischen Deutung nahm 1998 Dieter Hüning in seiner Dissertationsschrift vor, in der er nicht nur den Text 1 Die Gemeinsamkeiten beider Denker zu identifizieren, ist ein Versuch, der auch in der französischsprachigen Hobbes-Forschung unternommen wird (vgl. den Titel des 2005 von Foisneau und Thouard herausgegebenen Bandes Kant et Hobbes – De la violence à la poli­ tique) und der auch nach wie vor auf das Interesse der englischsprachigen Hobbes-Forschung stößt (vgl. den Schwerpunkt Hobbes and Kant des 25. Bandes der Hobbes-Studies). 2 Eggers 2008, 129: „Die rechtstheoretische Lesart des Hobbes’schen Naturzustandes ist in derjenigen Form, in der sie Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist, ohne Zweifel von Georg Geismann geprägt worden.“ Geismann veröffentlichte seine Hobbes-Deutung nicht nur in dem 1982 erschienenen Aufsatz Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau, sondern wirkungsmächtig auch in einer 1988 zusammen mit Herb herausgegebenen lateinisch-­ deutschen und mit Scholien versehenen Textausgabe der ersten beiden Teile von De Cive. 3 Eggers weist im gleichen Kontext (2008, 129) dann auch darauf hin, dass in gewisser Weise auch schon Julius Ebbinghaus diese Hobbes-Deutung vertreten habe und es schließlich auch Anzeichen dafür gebe, dass Kant selbst Hobbes so gelesen habe, wie es die Vertreter der rechtstheoretischen Deutung noch heute tun. Auch Leo Strauss, der mit gewissen Ab­strichen ebenfalls der rechtstheoretischen Deutungsfamilie zugerechnet werden kann und dessen vertieftes Interesse an Hobbes durch eine Vorlesung, die er bei 1922 Ebbinghaus gehört hatte, geweckt wurde, sieht die Wurzel dieser Hobbes von Kant her lesenden Deutungsfamilie bei Ebbinghaus: „Ebbinghaus würdigte auf eine unkonventionelle Weise die Ursprünglichkeit von Hobbes; in seiner lebhaften Darstellung wurde Hobbes’ Lehre nicht nur plastisch, sondern lebendig. Er war alles andere als ein Hobbist; falls mich meine Erinnerung nicht täuscht, glaubte er schon damals, daß das Bedeutende in der Hobbes’schen Lehre in der Kantischen Philosophie ‚aufgehoben‘ sei“ (Strauss 1965, 7).

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B. Die politische Logik des Körpers

von De Cive, sondern auch einzelne Theorieelemente des Leviathan (die Autorisierungstheorie) in der rechtstheoretischen Perspektive interpretierte. Die rechtstheoretische Deutung begreift Hobbes’ politische Philosophie im Wesentlichen als eine Rechtslehre und sieht in ihm den Begründer der neuzeitlichen Rechtsphilosophie.4 In den USA gibt es ebenfalls zunehmend Tendenzen, Hobbes von Kant her zu lesen. Dabei konzentriert man sich nicht so sehr auf Hobbes’ Rechtsphilosophie, sondern auf dessen Moralphilosophie, die Ähnlichkeiten mit Kants Moralphilosophie haben soll und als geeignete Grundlage eines neuen Selbstverständnisses der liberalen Demokratie erwogen wird. Während im angelsächsischen Sprachraum lange Zeit spieltheoretische Interpretationen des kontraktualistischen Argumentes dominierten, scheint sich eine gewisse Änderung dahingehend anzubahnen, dass nun stärker moralitätsorientierte Deutungen in den Vordergrund rücken, die frappierende Ähnlichkeiten zu der deutschen rechtstheoretischen Lesart aufweisen.5 Eine der wichtigsten Vertreterinnen dieses auch als „revisionist reading“ bezeichneten Ansatzes, Hobbes zu lesen, ist dabei Sharon Anne Lloyd.6 Lloyd stellte ihre Hobbes-Deutung in zwei Monographien vor: In Ideals as Interests in Hobbes’s ­Leviathan. The Power of Mind over Matter vertrat sie 1992 die These, dass ­Hobbes nicht einen solchen psychologischen Egoismus vertreten habe, wie ihm meistens unterstellt wurde, sondern er eine komplexe Psychologie ent­ wickelt habe, die auch „transzendentale Interessen“ beinhalte.7 Weil solche Interessen eine der Ursachen für soziale Konflikte wären, hätte Hobbes eine Strategie­ vorgeschlagen, wie man solche Interessen derart reformulieren könnte, dass ­deren Anhänger sich zu einem bestimmten Prinzip politischer Verpflichtung bekennen würden. In ihrem 2009 erschienenen Buch Morality in the Philosophy of Thomas 4 Vgl. Hüning 1998, 284: „Wenngleich Hobbes’ Durchführung dieses Programms einer philosophischen Grundlegung des positiven Rechts nicht frei von Widersprüchen ist, nimmt die neuzeitliche Rechtsphilosophie von seiner Lehre ihren Ausgang.“ 5 Wenngleich sich die spieltheoretische und die reziprozitätstheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments in zahlreichen Punkten unterscheiden, teilen sie auf der anderen Seite wesentliche Voraussetzungen: Beide gehen von einem rationalen Akteur aus, der im Eigeninteresse handelt und beide verstehen das kontraktualistische Argument als ein Argument, was an einen solchen Adressaten gerichtet ist und diesen mit Vernunftgründen bzw. einem gültigen Argument überzeugen will. 6 Gaus 2013, 271, erwägt, neben Lloyd auch Robert E. Ewin, der 1991 ein Buch über die Moralphilosophie von Hobbes veröffentlichte, zu den Vertretern einer „revisionist reading“ des kontraktualistischen Arguments zu rechnen, weist aber vorsorglich auf größere sachliche Unterschiede, die einer solchen Klassifizierung vielleicht auch entgegenstünden, hin: „What I shall call ‚revisionist interpretations‘ are more diverse […]. Nevertheless, we can discern some common themes that connect the work of the two main revisionists, S. A. Lloyd and R. E. Ewin, as well as others who take this route.“ 7 Vgl. Lloyd 1992, 2: „Part of the thesis of this book is that Hobbes’s masterwork, Leviathan, is intended to address precisely this problem of domestic social disorder generated by transcendent interests. […] The second part of this book’s thesis is that Hobbes develops an effective, stable solution to the problem of disorder generated by transcendent interests. […] His solution has much less to do with coercive force than is generally supposed. […] It is education, and not might, that makes for social order in Hobbes’s system.“

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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Hobbes. Cases in the Laws of Nature, in dem sie ihre ursprüngliche Deutung weiter zu untermauern sucht, vertritt sie die These, dass Hobbes eine spezifische Moralphilosophie entwickelt habe, die auffällige Ähnlichkeiten zu derjenigen von Kant aufweise.8 Diese neue Moralphilosophie sei, so Lloyd dort weiter, die überzeugendste Lösung für eines der derzeit drängendsten Probleme. Hobbes habe, so resümiert Lloyd, nicht nur ein fundamentales Problem erkannt, sondern uns auch die erfolgversprechendste Strategie zu dessen Lösung geliefert.9 Wirkungsmächtig könnte diese Deutung des kontraktualistischen Arguments auch dadurch werden, dass Lloyd ihre Deutung nicht nur in den bereits erwähnten zwei Monographien und dem von ihr herausgegebenen Sammelband, sondern ebenfalls in zahlreichen Lexika und Nachschlagewerken veröffentlicht hat. Sie ist Herausgeberin des 2013 veröffentlichten Bloomsbury Companion to H ­ obbes, hat den Artikel über Hobbes im 2013 veröffentlichten Routledge Companion to Social and Political Philosophy verfasst und ebenfalls, gemeinsam mit Susanne­ Sreedhar, den Artikel über Hobbes’ Moral- und politische Philosophie bei der online veröffentlichten und breit rezipierten Stanford Encyclopedia of Philosophy. Im letztgenannten Artikel behaupten die Autorinnen beispielsweise, dass es bereits in weiten Teilen der Hobbes-Forschung anerkannt sei, dass der psy­cho­logische Egoismus nicht die wahre Grundlage der Hobbes’schen Moraltheorie ist.10 Lloyds Deutung des kontraktualistischen Arguments blieb, ebenso wie die rechtstheoretische Deutung in Deutschland, durchaus nicht unwidersprochen.11 Dennoch 8 „Thus the main motivation for the present investigation of Hobbes’s moral philosophy is to provide an alternative to the traditional interpretation of Hobbes’s Laws of Nature that shows how these laws support, rather than undermine, the transcendent interests interpretation of Hobbes’s political philosophy. But in the course of arguing the case for that thesis, I learned something that surprised me very much: Hobbes does have a distinctive, original, and philosophically attractive moral philosophy, a philosophy not only worth considering on its own merits, but one that helps us to think critically about our own contemporary dispute between reasonability and rationality accounts of morality. Time spent with Hobbes is never wasted, and having continued to study him, I now believe that just as he first articulated significant philosophical ideas for which Locke and Hume received credit, so did he offer an early articulation and defense of the idea Rawls has termed ‚the reasonable‘ and Scanlon ‚reasonableness‘ ordinarily traced to Kant“ (Lloyd 2009, xiv). 9 „This is perhaps the most pressing problem of our world. Many of the religious conflicts, and ethnic conflicts, and pride and blood feuds we confront every day seem to have the ‚force resistant‘ character of transcendent interests. So we need  a theory that addresses dis­order ­fueled by transcendent interests, and Hobbes was the first to have made significant progress toward designing such a theory. The real Hobbes brought an astounding intellect to bear on one of the most pressing problems of human life, and suggested what, to my knowledge, is the most promising strategy for solving it“ (Lloyd 2009, 407). 10 „The formerly dominant view that Hobbes espoused psychological egoism as the foundation of his moral theory is currently widely rejected, and there has been to date no fully systematic study of Hobbes’s moral psychology“ (Lloyd/Sreedhar 2014). 11 Vgl. dazu beispielsweise das Heft 23 (2010) der Hobbes-Studies: In diesem Heft sind zwei Buchbesprechungen von Lloyds 2009 erschienenem Buch sowie eine Stellungnahme Lloyds zu der Kritik abgedruckt, die auf ein Buch-Symposium zurückgehen, das seinerseits unsere These,

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B. Die politische Logik des Körpers

scheinen die Tendenzen, Hobbes eher als Rechtsphilosophen denn als politischen Philosophen zu begreifen und ihn in diesem Kontext anerkennend als einen Wegbereiter des Rechtsstaates zu würdigen bzw. sogar euphorisch als einen angemessenen Moralphilosophen für die liberale Demokratie zu feiern, zuzunehmen. Wenngleich sich die Vertreter der hier unter die rechtstheoretische Lesart subsummierten Autoren in Deutschland sowohl untereinander, als auch von den Vertretern der reziprozitätstheoretischen Lesart in den USA, in zahlreichen Punkten unterscheiden, werde ich in diesem Kapitel deren Ähnlichkeiten in der Deutung des kontraktualistischen Argumentes darstellen, um daraus eine Kontrastfolie für eine alternative Deutungsmöglichkeit des kontraktualistischen Argumentes zu gewinnen.12 Im Folgenden wird gezeigt, wie die Vertreter dieser beiden Deutungen, die sich aufgrund gewisser Ähnlichkeiten einer gemeinsamen „Deutungsfamilie“ zurechnen lassen, zentrale Elemente des kontraktualistischen Argumentes, wie es im englischsprachigen Leviathan vorgestellt wird, interpretieren: den Naturzustand, die natürlichen Gesetze, die Autorisierungstheorie und Hobbes’ Erwiderung auf den Narren. Dabei geht es nicht darum, zu behaupten, alle Autoren würden in jedem Detail der Interpretation übereinstimmen, sondern zu zeigen, dass eine gemeinsame Grundtendenz erkennbar ist. Dieses methodische Vorgehen  – die Rekonstruktion einer Kontrastfolie – scheint mir geeignet, die systematischen Alternativen verschiedener Deutungsmöglichkeiten deutlich hervortreten zu lassen. An dieser Stelle geht es indessen nicht darum, die unbestreitbaren interpretatorischen Leistungen der Einzelautoren und der Deutungsfamilie als ganzer an­ gemessen darzustellen.13 dass Lloyds Hobbes-Deutung durchaus einflussreich werden könnte, bestätigt: Das Sym­posium wurde 2010 beim Pacific Division Meeting der American Philosophical Association in San Francisco veranstaltet, von der International Hobbes Association gesponsort und unter dem Vorsitz von Kinch Hoekstra durchgeführt. Aloysius P. Martinich und Rosamond Rhodes verfassten die Buchbesprechungen, in denen sie das Buch in Teilen durchaus kritisch besprechen, insgesamt aber als „eines der besten jüngsten Bücher über Hobbes“ (Martinich 2010, 169) bzw. als eines, welches „wertvolle Einsichten in Implikationen von Hobbes’ Positionen“ bereithalte (Rhodes 2010, 179), einschätzen. Für eine Kritik der rechtstheoretischen Deutung vgl. zum Beispiel Eggers 2008, 158 ff. Für weitere kritische Auseinandersetzungen mit der deutschen rechtstheoretischen Deutung vgl. die entsprechende Sammlung bei Eggers 2008, 131, n.42. 12 Tatsächlich hat diese Arbeit wesentlich profitiert von der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der rechtstheoretischen Deutung, nicht nur durch intensive Lektüre, sondern auch durch wiederholte persönliche Diskussionen mit Karlfriedrich Herb und Dieter Hüning. Wenngleich ich im Rahmen dieses Kapitels die Unterschiede zwischen den Deutungen stark hervorhebe, um sie als systematische Alternativen deutlich zu konturieren, sehe ich tatsächlich auch Möglichkeiten einer Integration zentraler rechtstheoretischer Elemente in die körpertheoretische Deutung. Auf diese Möglichkeiten werde ich im Kapitel B. III. näher eingehen. 13 Auf eine gesonderte Darstellung der spieltheoretischen Deutungsfamilie wird an dieser Stelle zunächst bewusst verzichtet. Diese stellt, wie gezeigt werden wird, häufig den polemischen Kontext der rechtstheoretischen und der reziprozitätstheoretischen Deutung dar, weshalb eine eigene Darstellung an dieser Stelle erstens bestimmte Redundanzen erzeugen würde. Zweitens teilen die Vertreter der rechts- und reziprozitätstheoretischen Deutung  – trotz der lautstark polternden Polemik gegen diese – mit der spieltheoretischen Deutung we-

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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1. Der Naturzustand als Rechtsantinomie Gemeinsam ist den genannten Interpretationsfamilien eine bestimmte Auffassung des Hobbes’schen Naturzustandes. Diese Interpretation des Naturzustandes ist argumentationslogisch überaus relevant, weil sich das dort dargestellte Problem auswirkt auf die Art der Problemlösung. Jedes kontraktualistische Argument besteht aus den drei Teilen der Naturzustandsschilderung, der Schilderung des Vertrags sowie der Schilderung der nachvertraglichen, staatlichen Situation, die als geeignete Problemlösung präsentiert werden soll.14 Der Naturzustand wird nun von den Vertretern der rechtstheoretischen und der reziprozitätstheoretischen Deutung in erster Linie als eine Rechtsantinomie bzw. eine Konfrontation verschiedener Rechtsansprüche begriffen, das Problem also in erster Linie als ein rechtstheoretisches Problem beschrieben. Hobbes schildert den Naturzustand, und auf diese Stellen stützen sich die Vertreter dieser Deutungsfamilie, unter anderem als einen Zustand, in dem alle Menschen ein umfassendes Recht auf Selbsterhaltung hätten. Dieses Recht ist, wie Hobbes schreibt, prinzipiell unbegrenzt und kann – weil jeder selbst Richter darüber ist, was für seine Selbsterhaltung notwendig ist – auch das Benutzen oder Töten von anderen Menschen umfassen. Als natürliches Recht besitzen dieses Recht auf alles alle Menschen gleichermaßen. Im Leviathan sind entsprechende Äußerungen besonders im 14.  Kapitel zu finden. Die Definition des natürlichen Rechts und die aus der Tatsache, dass jeder selbst Richter über das zu seiner Selbsterhaltung Notwendige ist, gezogene Schlussfolgerung, dass dieses Recht ein allumfassendes Recht ist, stellen die Bezugspunkte der rechtstheoretischen Argumentation dar.15 Diese Konstruktion eines Rechts aller auf alles ist es nun, die von den Autoren der rechtstheoretischen Deutung als Problem des Naturzustandes herausgestellt wird.16 Geismann fasst 1982 das Problem folgendermaßen zusammen: sentliche Prämissen, was weitere Redundanzen zur Folge hätte. Im zweiten Teil der Arbeit [B.], in dem ich meine eigene Deutung entfalte und verteidige, beziehe ich die spieltheoretische Deutungsfamilie als alternative Deutungsmöglichkeit mit ein und zeige, wo ich auch gegenüber dieser Deutungsfamilie die Vorteile meiner körpertheoretischen Deutung sehe [insbesondere B. III. 1. und B. III. 3.]. 14 Vgl. die strukturelle Skizze des kontraktualistischen Arguments in der Einleitung [A.]. 15 „Das natürliche Recht, in der Literatur gewöhnlich jus naturale genannt, ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht. […] Und weil sich die Menschen, wie im vorhergehenden Kapitel dargelegt, im Zustand des Kriegs eines jeden gegen jeden befinden, was bedeutet, daß jedermann von seiner eigenen Vernunft angeleitet wird, und weil es nichts gibt, das er nicht möglicherweise zum Schutze seines Lebens­ gegen seine Feinde verwenden könnte, so folgt daraus, daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen“ (LD 14, 99). 16 Die Autoren der rechtsphilosophischen Deutung im engeren Sinne, also Geismann, Herb und Hüning, stützen sich zur Begründung ihrer These meist auf die entsprechenden Stellen in De Cive, beanspruchen aber gleichwohl, dass die These der juridischen Widersprüchlichkeit auch für die anderen Werke Gültigkeit habe.

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B. Die politische Logik des Körpers „Dieses natürliche Recht auf alles steht nun allerdings als ein jedermann zukommendes Recht mit sich selbst im Widerspruch und hebt sich damit auf: das Recht auf alles des einen bedeutet die vollständige Aufhebung dieses Rechts aller anderen. Ein universales Recht auf alles ist gleichbedeutend mit einem universalen ‚Recht auf nichts‘, d. h. mit der Beseitigung allen Rechts überhaupt. Und also ist der Naturzustand des Menschen als ein Zustand des Naturrechts auf Selbsterhaltung zugleich ein rechtloser Zustand und somit in sich widersprüchlich“ (Geismann 1982b, 165).

Noch zugespitzter formulieren 1988 Geismann und Herb die These von der juri­ dischen Widersprüchlichkeit17 des Naturzustandes: Hobbes schildere, so behaupten die Herausgeber dort, den Naturzustand als eine primär „juridische Struktur“. Wer diese primär juridische Struktur missachte, könne den Naturzustand nicht angemessen verstehen.18 Der Naturzustand könnte darüber hinaus, so spitzen die Autoren ihre These von der primär juridischen Struktur noch weiter zu, völlig unabhängig von der Anthropologie verstanden werden. Die besondere Natur des Menschen und dessen Wille sei für das angemessene Verständnis des Natur­ zustandes schlichtweg irrelevant: „Es macht eines der kardinalen Mißverständnisse innerhalb der Geschichte der Rezeption der Hobbesschen Naturzustandstheorie aus, die Negativität des Naturzustands in etwas anderem als in dessen ursprünglicher rechtlicher Widersprüchlichkeit zu suchen, etwa in der von Hobbes angeblich behaupteten natürlichen Bösartigkeit des Menschen. Die Triftigkeit von Hobbes rechtsphilosophischer Argumentation ist von der Frage nach der besonderen Natur der Naturzustandssubjekte und deren Willen ganz unabhängig“ (Geismann/Herb 1988, 25, Hervorhebungen E. O.).

Die Vertreter der rechtstheoretischen Deutung sprechen sich also dezidiert dagegen aus, dass die naturphilosophischen, wissenschaftstheoretischen und anthropologischen Lehren, die Hobbes im De Cive logisch vorgeordneten De Homine und im ersten Teil  des Leviathan unter der Überschrift „Vom Menschen“ ent­ wickelt, für das Verständnis des kontraktualistischen Argumentes notwendig wären. Sie beziehen sich zur Rechtfertigung dieser Auffassung vor allem auf das oben bereits erwähnte Vorwort zur zweiten Auflage von De Cive.19 17 Diese These blieb in der Forschung nicht unwidersprochen. Den Versuch, die These, dass es sich tatsächlich um einen Widerspruch handelt, d. h., dass ein unbegrenztes Recht aller auf alles nicht widerspruchsfrei zu denken ist, zu widerlegen, unternahm beispielsweise Eggers 2008, 158–164. 18 „Hobbes liefert die Begründung für dieses ‚dictamen rationis‘, indem er die juridische Struktur eines Zustands allseitig reziproker Rechtsansprüche analysiert und den immanenten Widerspruch dieser Struktur aufzeigt. Der Aufweis der inneren Widersprüchlichkeit dieses Zustands bildet den Kernpunkt der Theorie vom vorstaatlichen und in diesem Sinne ‚natürlichen‘ Zustand. […] Wer der entsprechenden rechtslogischen Analyse, die vom subjek­tiven Naturrecht zum Recht auf alles führt und in die apodiktische Kennzeichnung des Natur­ zustandes als Krieges aller gegen alle mündet, nicht die größte Aufmerksamkeit widmet, begibt sich der Möglichkeit, Hobbes ‚philosophia civilis‘ in ihrem Begründungsaufbau und hinsichtlich ihrer Leistung zu verstehen“ (Geismann/Herb 1988, 24, Hervorhebungen E. O.). 19 Hüning beispielsweise rekurriert auf das Vorwort von De Cive, in dem Hobbes von den Erfahrungsgrundsätzen spricht, auf die sich De Cive stützen könne, als Grund dafür, weshalb

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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Die im deutschen Sprachraum verbreitete rechtstheoretische Deutung rekonstruiert den Naturzustand also als einen Zustand, dessen Problemhaftigkeit vor allem in dessen rechtlicher Struktur zu suchen ist. Die Autoren weisen auf die ihrer Meinung nach bestehende frappierende Nähe zur Rechtsphilosophie von Kant hin20 und begreifen Hobbes, besonders was den ipse-judex-Grundsatz21 betrifft, als einen Vorläufer der Kant’schen Rechtsphilosophie. In der Argumentation für die rechtstheoretische Deutung des Naturzustandes räumt z. B. Hüning zwar ein, dass Hobbes selbst durch seine Formulierungen Anlass zu Fehlinterpretationen gegeben habe. So würden manche Textstellen tatsächlich so klingen, als hätte Hobbes die Notwendigkeit des Gehorsams mit dem Rekurs auf das SelbsterhalDe Homine vernachlässigt werden kann, merkt aber zugleich an, dass die angebliche Eigenständigkeit der Rechts- und Staatslehre im Leviathan nicht mehr beobachtet werden könne: „Während Hobbes im Rahmen seiner philosophischen Systematik die jeweiligen Lehren De Homine und De Cive deutlich trennt und betont, daß insbesondere seine in De Cive entwickelte philosophia civilis in begründungstheoretischer Hinsicht auf eigenen Prinzipien beruht und daher selbständig entfaltet werden kann, werden im Leviathan beide Systemteile in einer Weise aufeinander bezogen, in welcher die Eigenständigkeit der Rechts- und Staatslehre nur mehr unzureichend zur Darstellung kommt“ (Hüning 1998, 31). Für einen nützlichen Überblick über die verschiedenen Stellen des Hobbes’schen Werkes, die von diversen Autoren für die systematische Unabhängigkeit oder die systematische Abhängigkeit der Staatsphilosophie von der Anthropologie herangezogen werden, vgl. Stiening 2005, 56–61. Für den Leviathan versucht Stiening, der der rechtstheoretischen Lesart nahe steht, den Nachweis zu erbringen, dass der erste Teil „Vom Menschen“ vernachlässigt werden kann, und spricht in diesem Kontext, wie oben bereits erwähnt, von einer erzwungenen Anthropologie. Stiening fasst seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: „Unter dem Vorbehalt, daß die vorstehenden Über­ legungen nicht zu den eigentlichen rechtsphilosophischen Ableitungen des Textes Stellung nehmen konnten, läßt sich doch hinsichtlich der dargelegten Psychologie und Handlungstheorie und ihres Verhältnisses zur politischen Systematik das Folgende festhalten: Weder ist aus diesem Teil der Anthropologie die spezifische Gestalt jener politischen Philosophie zu deduzieren, noch umgekehrt jene Anthropologie aus dieser Rechts- und Staatstheorie. Sie bestehen zwar widerspruchsfrei nebeneinander, d. h. durchaus möglich, aber eben auch weitgehend anschlußfrei“ (Stiening 2005, 104). 20 Während Hüning an zentralen Stellen zur Erläuterung seiner These Kant zitiert (vgl. etwa Hüning 1998, 156, 282), erklären Geismann und Herb, darauf verzichten zu wollen, Kant zu zitieren oder Hobbes’ Philosophie in der Kant’schen Begrifflichkeit zu rekonstruieren, räumen aber gleichfalls ein, dass dies eine „Versuchung“ dargestellt hätte, der sie nur „so gut es ging“ widerstanden hätten: „Wer sich einmal mit der Rechtsphilosophie Kants beschäftigt hat, wird bemerkt haben, wie nahe Hobbes diesem in vielen Stücken kommt. So bot es sich oft an, ja drängte sich zuweilen auf, die hier vorgelegten Analysen in Kantischer Begrifflichkeit und mit Hilfe der von Kant geleisteten Problemlösung durchzuführen. Gewiß hätte dadurch manches klarer, eindeutiger, präziser und profunder dargestellt werden können. Wir haben dennoch dieser Versuchung, so gut es ging, widerstanden, weil uns etwas Anderes noch wichtiger erschien: den Hobbesschen Text nach Möglichkeit aus sich selbst und nur mit dem von ihm selbst gelieferten geistigen Rüstzeug zu verstehen und zu deuten […]“ (Geismann/Herb 1988, 33 f.). 21 Hüning 1998, 89, zitiert Kants Formulierung des Problems des ipse-judex-Prinzips im Naturzustand, weil Kant die rechtsphilosophische Begründungsfunktion der Naturzustandskonstruktion deutlicher als Hobbes herausgearbeitet habe: „Der Zustand der Läsion würde immerwährend seyn, solange jeder allein Gesetzgeber und Richter wäre: Dies ist es, was man statum naturalem nennt, ein Zustand aber, der der angeborenen Freiheit ganz entgegen läuft.“

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B. Die politische Logik des Körpers

tungsinteresse (also nicht rein rechtslogisch sondern durch Rekurs auf anthropologische Prämissen) begründen wollen. Hüning führt als Beispiele Argumente aus dem 14. und 20. Kapitel des Leviathan an, die er als „pragmatische, nicht spezifisch rechtslogische Argumente“ bezeichnet und bemerkt dazu: „Durch den Rekurs auf die Notwendigkeit des Selbsterhaltungsstrebens und die mit ihm verknüpfte individuelle Motivationslage sowie den Appell an das individuelle Nutzenkalkül, demgemäß die einzelnen auf die prognostizierbaren ‚evill consequences‘ eines nichtstaatlichen Zustandes reflektieren sollen, denen gegenüber auch der despotische Staat als kleineres Übel erscheinen soll, hat Hobbes jedoch selbst Ansatzpunkte für eine Reihe von Interpretationen in der neueren Forschung geliefert, die – zum Schaden für das spezifisch rechtsphilosophische Problembewusstsein – ausschließlich auf diese klugheitstheoretischen Aspekte abstellen“ (Hüning 1998, 85).

Auch räumt er ein, dass die rechtsphilosophische Begründungsfunktion von Hobbes gar nicht so scharf formuliert wurde wie von seinem Nachfolger Kant.22 Auch wenn Hobbes’ Naturzustand jedoch – im Gegensatz zu dem Kants – durchaus noch empirische oder anthropologische Randbedingungen enthalte,23 sei der Naturzustand einzig als rechtliche Struktur angemessen zu rekonstruieren. Eine zu dieser Deutung des Naturzustandes durchaus verwandte Deutung findet gegenwärtig in den USA zunehmend Anhänger. Sharon Anne Lloyd entwickelte eine reziprozitätstheoretische Deutung des kontraktualistischen Argumentes, die der rechtstheoretischen Deutung in Deutschland in entscheidenden Punkten ähnelt. Auch Lloyd sieht das Problem des Naturzustandes in erster Linie in der privaten Beurteilung des je eigenen Rechts. Deutlicher als die rechtstheoretische Interpretationsrichtung in Deutschland, die beanspruchte, einen anthropologiefreien Naturzustand bei Hobbes gefunden zu haben, macht Lloyd jedoch klar, dass es sich nicht um einen abstrakten Rechtswiderspruch handelt, sondern um ein praktisches Problem von Menschen. Sie rekonstruiert den Naturzustand als ein Pro 22 „Kant hat sich im Hinblick auf die Lehre vom Naturzustand und die Forderung des exeundum mehrfach eindeutig auf Hobbes bezogen und keinen Zweifel daran gelassen, daß er sich dieser ‚Hobbesschen Erbschaft‘ seiner Rechtsphilosophie bewußt ist. Aber noch schärfer als sein Vorgänger hat Kant die rechtsphilosophische Begründungsfunktion der Natur­ zustandskonstruktion herausgearbeitet […]“ (Hüning 1998, 88 f.). 23 „Die Präzisierung des Naturzustandsarguments bei Kant äußert sich zunächst darin, daß Kant den hypothetischen Charakter des Naturzustands bzw. seine heuristische Funktion als ‚Vernunft-Idee‘ betont und darüber hinaus die Konzeption des Naturzustandes von den bei Hobbes noch vorhandenen empirischen Randbedingungen befreit und dadurch allen Versuchen einer entwicklungsgeschichtlichen oder anthropologischen Deutung des Naturzustands eine entschiedene Absage erteilt“ (Hüning 1998, 89 f.). Auch Hüning vertritt also, obwohl er die Existenz „anthropologischer Randbedingungen“ konzediert, wie Geismann und Herb die These, dass der Naturzustand und dessen Problem letztlich von der Eigenart der Menschen völlig unabhängig wäre. Angesichts der Tatsache, dass auch die rechtstheoretische Deutung von der Minimalannahme eines rationales Akteurs ausgeht und ihrer Deutung damit letztlich ebenfalls fundamentale anthropologische Prämissen zugrunde liegen, scheint es jedoch nicht sinnvoll, eine juridische gegen eine anthropologische Lesart des Naturzustandes auszuspielen.

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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blem rationaler Akteure, die sich größtmögliche Handlungsfreiheit sichern wollen. Wie die rechtstheoretische Deutung auch, sieht sie das grundlegende Problem im ipse-judex-Grundsatz, nach dem jeder Mensch Richter in eigener Sache wäre. Ein umfassendes Recht aller auf alles und uneingeschränkte Handlungsfreiheiten aller rationalen Akteure sind ein Zustand notwendigen Streits und Konflikts, und deswegen aus der Perspektive rationaler Akteure unerwünscht.24 Wie auch bei den Vertretern der rechtstheoretischen Deutung wird das Problem vor allem als ein Rechtsproblem gesehen. Das Problem des Naturzustandes liegt, so formuliert Lloyd unmissverständlich, darin, dass er ein Zustand sei, in dem jeder selbst be­ urteilen könne, wie weit sein Recht reiche: „To return to reciprocity, once Hobbes derives the necessary unacceptability to any rational agent living in a condition in which everyone has a right to everything, the duty to quit that condition of universal private judgment (the state of nature) by submitting to political authority follows straightforwardly. If, as Hobbes argues, a condition of universal private judgment (such as reciprocity insists must be allowed if any are to be granted the Right of Nature) entails a condition in which everyone must be allowed a right to everything, rational agents must will the abridgment of that condition“ (Lloyd 2009, 25, Hervorhebungen E.O).

Während Lloyd also dem ersten Teil des Leviathan durchaus eine gewisse systematische Bedeutung zuschreibt,25 teilt sie die grundsätzliche Prämisse, dass das spezifische Problem des Naturzustandes ein juridisches Problem sei, mit der deutschen rechtstheoretischen Deutung. 24

„The point of departure of Hobbes’s moral philosophy is our shared conception of ourselves as rational agents. […] Yet, if men disagree in their judgments, as we can see they do, a condition of universal self-government by private judgment will be a condition of perpetual irresoluble contention and conflict. Such a condition thwarts men’s effective pursuit of their ends (whatsoever those ends may be)  and is, for this reason, something any rational agent must, qua rational agent, be concerned to avoid“ (Lloyd 2009, 5). 25 Was die im ersten Teil des Leviathan entwickelte Lehre vom Menschen als einem leidenschaftsbewegten Körper angeht, gelangt Lloyd allerdings zu dem gleichen Ergebnis wie die deutsche rechtstheoretische Deutung. Obwohl Lloyd bemerkt, dass Hobbes die politische Relevanz seiner korporealistischen Naturphilosophie explizit hervorhebt, beharrt sie darauf, dass es Hobbes’ eigenen Prämissen zufolge nicht möglich sei, die politische Theorie deduktiv aus der Naturphilosophie abzuleiten und schlussfolgert dann daraus, dass seine politische Theorie von seiner Naturphilosophie wesentlich unabhängig sei: „In short, Hobbes’s remarks on natural science are present in order to correct several identifiable disruptive religious errors, and not, as the standard interpretation would have it, to ground some general psychological theory, and through that, a political theory. […] It is not that Hobbes is generally un­ interested in science; he wrote many scientific works and engaged in many scientific debates. But not in the service of his political theory. There the science had a strictly limited, nonfoundational, role“ (Lloyd 2009, 393). Während Lloyd also bestreitet, dass die Psychologie des ersten Teils ein Element der Problemhaftigkeit des Naturzustandes darstelle und diesen als rein juristisches Problem rekonstruiert, gesteht sie der Psychologie auf der anderen Seite durchaus Relevanz zu, insofern diese Ursache der Unordnung im staatlichen Zustand sein könne:­ „Hobbes’s remarks on science, morality, language, and so on must be taken in context. What appears at first to be a motley hodgepodge of disconnected topics in part I of Leviathan turns out to be a catalog of most of the root sources of disorder in Hobbes’s commonwealth, and a first pass at correcting disruptive errors at their source“ (Lloyd 2009, 395).

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B. Die politische Logik des Körpers

2. Die natürlichen Gesetze als Reziprozitätsgebote der Vernunft Rekonstruiert man das kontraktualistische Argument als eines, welches Gründe für die Anerkennung von Herrschaft und Gesetz formuliert, stellt sich die weitere Frage, welcher Art diese Gründe sind. In der Hobbes-Forschung wird dieser Streit als Streit über die angemessene Interpretation der natürlichen Gesetze geführt. Hobbes formuliert, nachdem er den Naturzustand beschrieben hat, bestimmte Gesetze, die die Notwendigkeit der Freiheitseinschränkung und die Notwendigkeit bestimmter weiterer Orientierungen und Verhaltensweisen  – darunter beispielsweise die Vertragstreue und die Gleichheitsorientierung – darlegen. Doch von welcher Art ist diese Notwendigkeit? Bestand das Problem des Naturzustandes für die rechtstheoretische und die reziprozitätstheoretische Deutung in dessen juridischer Struktur bzw. vor allem im privaten Urteil darüber, was Recht ist, begreifen beide die natürlichen Gesetze als Vernunftgebote, diese problemhafte Struktur zu überwinden. Der Weg der Problemlösung korrespondiert mit der Beschreibung des Problems als eines ipse-judex-Problems. Die Deutungsfamilie beharrt darauf, dass es sich um Vernunftgebote einer Vernunft handelt, die auf mehr als nur den individuellen Nutzen abzielt und wendet sich damit ausdrücklich gegen spieltheoretische bzw. klugheitstheoretische Deutungen der natürlichen Gesetze. Unterschiede zwischen den beiden Interpretationsfamilien bestehen vor allem darin, dass die deutschen Vertreter diese spezifische vernünftige Einsicht als eine dezidiert nicht-moralische, sondern als eine davon verschiedene, spezifisch rechtstheoretische Einsicht verstehen wollen, während die Vertreter der reziprozitätstheoretischen Deutung das Reziprozitätsprinzip freimütig als ein moralisches Prinzip kennzeichnen. H ­ üning etwa beurteilt die Debatte über den Status der natürlichen Gesetze dahingehend, dass in der Debatte das Bewusstsein für Hobbes’ spezifische Leistung einer anthropologie- und moralfreien Begründung von Pflichten verlorengegangen sei: „Die oben skizzierten Debatten um den verbindlichkeitstheoretischen Status der natürlichen Gesetze können als Indiz dafür gelten, daß in den zeitgenössischen Diskussionen weitgehend das Bewußtsein für die Eigenart der spezifisch rechtsphilosophischen Begründung der Verbindlichkeit geschwunden ist. Zu dieser rechtsphilosophischen Eigenart gehört, daß Hobbes’ verbindlichkeitstheoretische Position im Hinblick auf die systematisch notwendigen Voraussetzungen minimalistisch ist. Sie setzt auf seiten des Individuums kein anderes Interesse voraus als das Interesse an der rechtsförmigen Sicherung des Rechts auf Selbsterhaltung. Die Begründung der praktischen Geltung der Gesetze ist deshalb mora­ litätsunabhängig. Das bedeutet, daß auf seiten der normunterworfenen Individuen für das pflichtgemäße Handeln keine spezifisch moralischen Bestimmungsgründe erforderlich sind“ (Hüning 1998, 154, Hervorhebungen E. O.).26 26

Die These der minimalistischen Anthropologie, für die Hüning argumentiert, verliert durch sein gleichzeitiges Einräumen eines notwendigen Interesses an der rechtsförmigen Sicherung des Rechts auf Selbsterhaltung an Plausibilität: Erstens ist das Interesse an Selbst­ erhaltung keine minimalistische, sondern eine durchaus fundamentale anthropologische Bestimmung. Zweitens wird durch die gewählte Formulierung des Interesses als ein „Interesse an der rechtsförmigen Sicherung“ der mögliche Konflikt zwischen Rechtsinteresse und Selbst­

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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Die Frage, welcher Art die Gründe sind, die zum Verlassen des Naturzustandes zwingen, beantwortet Hüning damit, dass es sich um eine „objektiv-praktische Notwendigkeit widerspruchsfreien Handelns“ handle, und diese schlichte Einsicht das einzige „verbindlichkeitstheoretische Geheimnis“ der Hobbes’schen Rechtsphilosophie darstelle.27 Aber ist es tatsächlich so, wie Hüning schreibt, dass ein Wille, der sich selbst nicht einschränken will, notwendigerweise „die Bedingungen seiner eigenen Wirksamkeit und Existenz zerstört“? Wenngleich Hüning an anderer Stelle konzediert, dass der Vergleich mit dem hypothetischen Imperativ insofern problematisch sei, als der Wille der Hobbes’­ schen Individuen eben nicht frei, sondern von vornherein auf den Frieden aus­ gerichtet sei,28 schließt er sein Kapitel über den Status der Naturgesetze ab mit einem Vergleich mit Kants staatsgründenden Teufeln und argumentiert auf dieser Ebene wieder für die sachliche Nähe zwischen der Hobbes’schen und der Kant’schen Rechtsphilosophie.29 erhaltungsinteresse verdeckt: Was geschieht, wenn Recht und Selbsterhaltung in einen Konflikt geraten? Wird sich der minimalistisch konzipierte, aber an seiner Selbsterhaltung interessierte Naturzustandsbewohner dann wirklich für das Recht entscheiden? 27 „In diesem Begriff der theoretischen wie praktischen Konsequenzen freien Handelns bzw. des objektiven zwangsmäßigen Eingeschränktseins des äußeren Freiheitsgebrauchs auf die Bedingungen möglicher Vereinbarkeit mit der gleichen Freiheit aller anderen liegt das ganze verbindlichkeitstheoretische Geheimnis der Hobbesschen Rechtsphilosophie. Hobbes gibt auf die Frage, warum man überhaupt die Widersprüche des Naturzustandes vermeiden und eine Rechtsordnung etablieren soll, warum jeder von seiner Freiheit einen gesetzlichen Gebrauch machen und das Recht als Bedingung der Freiheitsrealisierung wollen soll, keine über die Gründe der Handlungsrationalität – der objektiv-praktischen Notwendigkeit widerspruchsfreien Handelns – systematisch hinausführende Antwort. Für die Aufstellung der transzendentalen Bedingungen der Rechtsordnung sowie für die Begründung der Erzwingbarkeit dieser in Gestalt der natürlichen Gesetze festgesetzten Prinzipien genügt Hobbes das Argument der vernunftnotwendigen Vermeidung der Widersprüche des Naturzustandes, d. h. der Nachweis, daß ein Wille, der ein absolutes Recht ohne das komplementäre Moment der gesetzlichen Freiheitseinschränkung will, die Bedingungen seiner eigenen Wirksamkeit und Existenz zerstört“ (Hüning 1998, 155 f.). 28 „Dennoch verstellt die ausschließliche Reflexion auf diese formale Struktur der besonderen natürlichen Gesetze den Weg zu einem angemessenen Verständnis ihres verbindlichkeitstheoretischen Status. Denn die einseitige Fixierung auf die formale Struktur der natürlichen Gesetze trübt den Blick für ihre Abhängigkeit von der vernunftrechtlichen Grundnorm der Friedenssuche“ (Hüning 1998, 151). Hünings These der Orientierung des menschlichen Willens auf den Frieden muss und kann insofern korrigiert werden, als Hobbes deutlich macht, daß das fundamentale Begehren des Menschen auf dessen Selbsterhaltung zielt und der Frieden nur als Mittel zu dessen Sicherung begriffen wird. Vgl. für diese Argumentation Kapitel B. II. 1. c). 29 „Im Nachweis, daß ein ‚Volk von Teufeln‘ klug, d. h. in Übereinstimmung mit dem vernünftigen Selbstinteresse eines jeden handelt, wenn es eine souveräne Staatsgewalt errichtet, liegt nicht nur der Grund der Legitimation des Rechtszwangs, sondern darüber hinaus der Grund für die Verbindlichkeit derjenigen Regeln, die nach Art der natürlichen Gesetze überhaupt bestimmen, unter welchen Voraussetzungen eine Rechtsordnung möglich ist. Die Pointe von Hobbes’ Theorie der natürlichen Gesetze liegt also nicht darin, daß er die einzelnen als solche auffordert, diese Gesetze zu moralischen Bestimmungsgründen ihres Handelns zu m ­ achen, sondern in der Einsicht, daß ‚Frieden halten (d. h. keine Gewalt gegen andere zu gebrauchen),

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B. Die politische Logik des Körpers

Das Problem an dieser dezidiert kantischen und gleichzeitig nicht-moralischen Deutung der Naturgesetze besteht aber nun darin, dass die natürlichen Gesetze durchaus moralische Pflichten formulieren, wie Hüning an anderer Stelle auch selbst feststellt. Hüning formuliert also eine Theorie der natürlichen Gesetze, die sich (wie er auch selbst an anderer Stelle deutlich macht) nur auf die ersten beiden von insgesamt zwanzig30 natürlichen Gesetzen bezieht.31 Hüning stellt aufgrund dieses Problems aber nicht seine Interpretation in Frage, sondern lokalisiert das Problem bei Hobbes: Dieser habe die juridische Struktur seines Naturzustandes offenbar selbst nicht richtig begriffen und sei deshalb im weiteren Fortgang seiner natürlichen Gesetze inkonsequent geworden, insofern er diese weiteren natürlichen Gesetze als moralische Pflichten formuliert habe: „Der in der Lehre von den natürlichen Gesetzen unternommene Versuch, Grundprinzipien einer Tugendlehre des Rechtsfriedens zu formulieren, ist insofern nicht unproblematisch, als eines der zentralen Ergebnisse der Naturzustandsanalyse in der Einsicht bestand, daß die Unvermeidlichkeit der Rechtsantinomie nicht durch die mangelnde Gesinnung oder Tugend auf Seiten der einzelnen verursacht wird, sondern in der juridischen Struktur des Naturzustandes selbst begründet liegt. […] Da Hobbes den ursprünglichen Gesichtspunkt seines Ableitungsanspruchs, in erster Linie rechtsnotwendige Prinzipien der Kriegszustandsvermeidung und der Stiftung des Rechtsfriedens zu entwickeln, nicht konsequent durchzuhalten vermag, verwandelt sich seine Theorie der natürlichen Gesetze im weiteren Gang der Argumentation in eine sich weitgehend an den Tugendkanon der Naturrechtslehre anlehnende ‚Sammlung von Billigkeitstopoi‘, die ethische Gemeinplätze formuliert, von denen denn auch in der nachfolgenden Staatsrechtslehre kein systematischer Gebrauch gemacht worden ist“ (Hüning 1998, 126 f.).

Im Vergleich zur rechtstheoretischen Deutung konsequenter, behauptet die reziprozitätstheoretische Deutung in Bezug auf dieses Problem von vornherein, dass es sich bei der spezifischen Einsicht der natürlichen Gesetze um eine Einsicht nicht juridischer, sondern moralischer Natur handelt. Lloyd behauptet, das in den natürlichen Gesetzen auftauchende Reziprozitätstheorem sei die Quintessenz von­ Hobbes’ Moralphilosophie. Als rationaler Akteur, der seine Handlungen vor andesich der Staatsgewalt und ihrer souveränen Verfügung über die Zwecke, Wege und Mittel der Vergesellschaftung zu unterwerfen, sich der bestehenden Eigentumsordnung zu unterwerfen‘, die objektiven Bedingungen einer jeden Rechtsordnung und deshalb Rechtspflichten sind, zu deren Einhaltung jedes Individuum aus Gründen der Vernunft und in Übereinstimmung mit dem jeweiligen Selbstinteresse gezwungen werden kann“ (Hüning 1998, 156 f.). 30 Die Zählung der einzelnen Gesetze variiert zwischen den einzelnen Werken, worauf auch Hüning 1998, 126, n.71 hinweist; an deren inhaltlichem Gehalt ändert sich indessen nichts für unseren Zusammenhang Grundlegendes. 31 „Für die beiden ersten speziellen Gesetze der Natur formuliert Hobbes damit sicherlich einen nachvollziehbaren Anspruch, insofern es sich bei diesen Forderungen in der Tat um Mittel handelt, die als analytische Konsequenzen aus der Grundnorm der Friedenssuche folgen. Bei den weiteren natürlichen Gesetzen ist die Einlösung dieses Ableitungsanspruchs weniger deutlich. Dies ist darin begründet, daß es sich bei den nachfolgenden natürlichen Gesetzen nicht mehr um spezifisch juridische Grundprinzipien für die Konstruktion einer jeden möglichen Rechtsordnung, sondern um die bloße Aufzählung bestimmter moralischer Tugenden handelt […]“ (Hüning 1998, 125).

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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ren rechtfertigen wolle, müsse man gleichermaßen akzeptieren, dass die gleichen Rechtfertigungen auch bei Handlungen anderer Akteure Gültigkeit hätten. Wenn man etwas täte, das man bei anderen Menschen als nicht rechtfertigbar bezeichnen würde, würde man demnach gegen die Vernunft verstoßen: „The point of departure of Hobbes’s moral philosophy is our shared conception of ourselves as rational agents. From our common definition of man as rational, Hobbes argues that we won’t count a person as rational unless he can formulate and is willing to offer, at least post hoc, what he regards as justifying reasons for his conduct (and beliefs). But to offer some consideration as justifying one’s action commits one to accepting that same consideration as justifying the like action of others, ceteris paribus. […] So one acts against reason if one does what one would judge another unjustified in doing“ (Lloyd 2009, 4).

Dieses Reziprozitätstheorem als Quintessenz der Hobbes’schen Moralphilosophie sei nun ebenfalls der systematische Kern der natürlichen Gesetze. Obwohl Hobbes ein Gesetz der Natur als eine „Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann“32 definiert und – in Übereinstimmung dazu – das unbedingte Recht auf Selbstverteidigung als obersten Grundsatz des natürlichen Rechts bezeichnet,33 vertritt Lloyd die These, dass das Reziprozitätstheorem für Hobbes’ natürliche Gesetze die zentrale Grundlage sei. Sie stützt sich in ihrer Argumentation für diese These auf den Umstand, dass Hobbes selbst eine Art goldene Regel als Summe seiner natürlichen Gesetze formuliert hat.34 Lloyd schlussfolgert aus dieser summarischen Formulierung, dass diese ein Indiz dafür wäre, dass das Reziprozitätstheorem für Hobbes grundlegend sei. Gegen die von Hobbes angeführte Hierarchie, die mit der Pflicht zur Selbsterhaltung beginnt und gegen den Wortlaut der Formulierung von Hobbes, der an zahlreichen Stellen die Priorität nicht des Reziprozitätstheorems, sondern des Selbsterhaltungsrechts behauptet,35 stützt Lloyd ihre These von der Priorität des Reziprozitätstheorems auf die summarische Formulierung.36 Aus dieser Rekonstruktion der natürlichen Gesetze als Gebote der Reziprozität leitet Lloyd im Folgenden die Pflicht zum unbedingten Gesetzesgehorsam ab: Weil wir es als unvernünftig betrachten würden, jedem selbst die Entscheidung darüber zu überlassen, ob und gegebenenfalls wel 32

LD 14, 99. LD 14, 100. 34 „Another possible way of forging the needed connection, is by appealing to the ‚sum of the Laws of Nature‘, to wit ‚Do not that to another, which thou wouldest not have done to thyself‘. ‚The laws of nature therefore need not any publishing, nor proclamation‘, Hobbes tells us, ‚as being contained in this one sentence, approved by all the world, Do not that to another, which thou thinkest unreasonable to be done by another to thyself‘. This summary formulation of the Laws of Nature is familiar to us as the reciprocity theorem“ (Lloyd 2009, 273). 35 Zu einer ausführlichen Darstellung und Interpretation der entsprechenden Textstellen vgl. Kapitel B. II. 1. c). 36 „If one need know only the reciprocity theorem in order to count as knowing the Laws of Nature, while Hobbes never asserts this of any other of the discrete Laws of Nature, then we may reasonably conclude that Hobbes is willing for this summary formulation to have priority over any other“ (Lloyd 2009, 276). 33

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B. Die politische Logik des Körpers

chen Gesetzen er gehorchen möchte, müssen wir auf ein privates Urteil über die Gesetze verzichten.37 Den Grund der Normativität der natürlichen Gesetze lokalisiert Lloyd also, in dieser Hinsicht konsequenter als die von den Vertretern der rechtstheoretischen Deutung geäußerte These eines „anthropologiefreien“ Zustandes, in der Rationalität handelnder Menschen. Auf die Frage nach dem Ursprung der Normativität gibt sie jedoch eine prinzipiell ähnliche Antwort wie Hüning, nämlich die Antwort, dass der Grund der Normativität aus der Handlungsrationalität abgeleitet werden könnte. Sie spricht sich in diesem Zusammenhang – ebenso wie Hüning – deutlich gegen theologische oder begehrens- bzw. spieltheoretische Interpretationen der natürlichen Gesetze aus und beharrt darauf, dass einzig das Selbstverständnis als rationaler Akteur diese Normativität begründe.38 Unverständlich ist jedoch, weshalb Lloyd, die sich dezidiert gegen auf dem Begehren basierende Interpretationen ausspricht, als Grund für die Motivation zur Beachtung des Reziprozitätsgebotes selbst ein Begehren anführt: „What then can motivate us to follow the Laws of Nature as we ought to do? There is an obvious source of motivation, introduced in Chapter 2, widespread among people and very powerful. This is the desire to justify oneself – to be in the right, to show that one is reasonable, to command from others the respect due a person of wisdom, a sense of pride in one’s own judgment – and the desire to be admired or approved of by others“ (Lloyd 2009, 249, Hervorhebungen E. O.). 37

„I shall argue that the core commitment of natural law – the reciprocity theorem – imposes upon subjects a genuine and virtually indefeasible duty to comply with the sovereign’s civil laws, even when the behaviors commanded violate the requirements of discrete particular Laws of Nature. Because we would not think it reasonable of everyone else to exercise their own private judgment as to which, if any, civil laws to obey (for such license is likely to undermine the arrangements that make it possible for us effectively to pursue our ends), the reciprocity theorem requires us also to refrain from holding those laws hostage to our private judgment of their merits. In short, a commitment to being reasonable, as is needed if we are to justify our actions to others, requires that we subordinate our private judgments to an agreed upon public judgment in all matters of common concern, and so defer to the laws even when we correctly believe them to command immoral actions“ (Lloyd 2009, 265 f.). 38 „What accounts for the normativity of Hobbes’s conclusion, on this interpretation of his derivation? And is it realistic to suppose that people can be motivated to do what this conclusion shows they ought? Hobbes points to our shared conception of ourselves as rational agents, beings who pursue ends for justifying reasons […]. Unlike lesser elements of God’s creation, we humans direct our actions according to the reasons we take ourselves to have. Supposing Hobbes’s substantive argument is sound, it follows that if we are rational agents, we ought to be willing to join into a scheme of reciprocal universal restriction of the scope of private judgment. […] Thus we ought to participate in limiting the scope of private judgment because rational agency requires it, and we view ourselves as rational agents. On this account, the normativity of the Laws of Nature depends neither upon their having been commanded by God, as divine command interpretations maintain, nor upon their instrumentality to preserving the agent’s life or promoting his narrow self-interest, as desire-based interpretations would have it. In locating normativity where it does, it avoids the epistemological problems of the divine command view as well as the implausibly impoverished psychological theory of traditional views“ (Lloyd 2009, 249, Hervorhebungen E. O.).

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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Ihre These (2009, xiv), dass bereits Hobbes die Kant zugeschriebene Konzeption des Vernünftigen („reasonableness“) entwickelt habe, die in der Unterscheidung zwischen Rationalem und Vernünftigen in der zeitgenössischen Moralphilosophie eine so große Rolle spiele und Hobbes deshalb auch impulsgebend für die gegenwärtige post-kantische Moralphilosophie sein könne, verteidigt sie mit eben diesem Hinweis auf das Begehren nach Rechtfertigung. Hobbes habe gezeigt, so argumentiert Lloyd in der Erläuterung des Reziprozitätstheorems, dass die Vernünftigkeit notwendigerweise mit dem Selbstverständnis als rationaler Akteur verbunden sei.39 Diese notwendige Verbindung wird jedoch bei Lloyd gerade dadurch hergestellt, dass Menschen den Wunsch bzw. das Begehren nach Rechtfertigung angeblich qua ihres Menschseins, sprich von Natur aus, besitzen. Es ist also bei Lloyd ebenfalls ein Begehren, was die Grundlage der Anerkennung der normativen Kraft der natürlichen Gesetze darstellt: Weil Menschen als rational und vernünftig gelten wollen, erkennen sie die Ableitung von Normen aus der Konzeption rationaler Akteure an.40 Sowohl Hüning als auch Lloyd deuten die natürlichen Gesetze also – und hier wird jeweils die Stoßrichtung gegen spieltheoretische Deutungen sichtbar – als etwas anderes denn als reine Klugheitsregeln: Hüning vertritt die These, dass die Begründung der Geltung der natürlichen Gesetze moralitätsunabhängig sei und in der „objektiv-praktischen Notwendigkeit widerspruchsfreien Handelns“ liege und stützt sich in der Argumentation für seine These auf zwei von zwanzig natürlichen Gesetzen, wobei er jedoch einräumt, dass die übrigen achtzehn natürlichen Gesetze durchaus moralische Appelle enthielten. Lloyd dagegen vertritt die These, dass Menschen sich als rationale Akteure betrachten und deswegen von selbst das moralphilosophisch grundlegende Reziprozitätstheorem akzeptieren würden. In ihrer Deutung der natürlichen Gesetze als Reziprozitätspflichten stützt sie sich auf die summarische Formulierung von Hobbes, und lässt dabei die von Hobbes vorgenommene Hierarchisierung der natürlichen Gesetze und deren Ableitung von dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung außer Acht.

39 „It would be more accurate to say that he is pulling a rabbit out of a hat with a rabbit in it already (as the science of illusionists teaches), showing us that the reasonable is built into our conception of man as rational animal from the very beginning“ (Lloyd 2009, 232 f.). 40 „Whatever the exact connection Hobbes had in mind, it is clear that Hobbes identified natural law with reason, and reason with distinctively human nature. […] On this picture, it seems plausible that those who see themselves as fundamentally rational, that is, reason-bearing agents […] should recognize as normative for them a derivation of duty beginning from the requirements of rational agency. And it is also natural to suppose that such people would strongly desire to justify themselves to others and in the sight of God, and would thus be motivated to act as Hobbes’s derivation proves they ought“ (Lloyd 2009, 250 f.).

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B. Die politische Logik des Körpers

3. Die Autorisierung: Ein Schiedsrichter als Lösung des Rechtsproblems Die enge argumentlogische Verbindung des Naturzustands mit dem staatlichen Zustand wurde bereits hervorgehoben: Der staatliche Zustand soll als Lösung für ein spezifisches Problem präsentiert werden, das der Naturzustand formuliert. Weil sowohl die rechtstheoretische als auch die reziprozitätstheoretische Deutung das ipse-judex-Prinzip als das zentrale Problem des Naturzustandes herausstellten, ist es nur konsequent, dass die Lösung in einem Verzicht auf das eigene Urteil sowie in der Unterordnung unter eine gesetzgebende bzw. rechtssprechende Gewalt gesehen wird. Die im Leviathan von Hobbes formulierte Theorie der Autorisierung, die von einer Unterwerfung des eigenen Urteils unter das des entstehenden Souveräns spricht, wird von beiden Deutungsschulen als Hobbes’ Problemlösung für das ipse-judex-Prinzip begriffen. Die beiden Deutungsschulen können sich dabei durchaus auf Textbelege stützen, die genau eine solche „Lösung“ des Natur­ zustandsproblems zu behaupten scheinen.41 Die Theorie der Autorisierung verstehen beide Deutungsschulen als eine bedingungslose Ermächtigung eines Dritten mit dem Zweck, die Bedingungen der Möglichkeit der Rechtsrealisierung und damit freier Handlungen herzustellen. Hüning beispielsweise schreibt: „Nach der gesamten argumentativen Struktur des staatsphilosophischen Kontraktualismus kann nun kein Zweifel daran bestehen, daß für Hobbes nur die bedingungslose Ermächtigung, welche eine unbeschränkte Autorität begründet, die notwendige Bedingung für die Schaffung einer souveränen Staatsgewalt ist. […] Die Bedingungslosigkeit der Ermächtigung ist die Voraussetzung dafür, daß der durch die Autorisation mit dem ‚right of Dominion‘ ausgestattete Souverän überhaupt als Repräsentant des Willens aller begriffen werden kann. […] Denn nur durch die uneingeschränkte Vertretungsmacht wird diejenige Rechtsfolge erreicht, die der staatsbegründende Vertrag bezweckt: die Verwandlung einer Menge von isolierten Individuen in eine einzige Person (bzw. in eine Körperschaft, die durch eine Person repräsentiert wird), die den identischen Willen aller getrennt von empirischen Sonderwillen darstellt“ (Hüning 1998, 218, Hervorhebungen E. O.).

Wenngleich Lloyd beansprucht, eine von der Standarddeutung divergierende Theorie der Autorisierung entwickelt zu haben, ist es jedoch nur ein Unterschied der Benennungen, der inhaltlich keine nennenswerte Differenz verursacht, insofern auch für Lloyd das Faktum der bedingungslosen Unterordnung und des bedingungslosen Gehorsams das Entscheidende an der Autorisierungstheorie ist. Lloyd behauptet also zunächst, eine andere Deutung zu haben, weil sie den Souverän als Problemlösung des Naturzustandes nicht als Gesetzgeber, sondern als 41 „Das heißt soviel wie einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, daß jedermann alles als eigen an­ erkennt, was derjenige, der auf diese Weise die Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Urteil unterwirft“ (LD 17, 134, Hervorhebungen E. O.).

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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Richter bzw. ultimativen Entscheider ansehe.42 Insofern sie anschließend aber einräumt, dass diese universale Richterkompetenz den Souverän dazu berechtige, zu entscheiden, was Gesetz ist,43 macht sie jedoch deutlich, dass ihre Deutung sich von der juridischen Deutung nicht wesentlich unterscheidet. Ich habe an anderer Stelle dafür argumentiert, dass diese Deutung der Autorisierungstheorie als einer Theorie bedingungsloser Autorisierung inzwischen so weit verbreitet ist, dass sie als Standarddeutung angesehen werden kann.44 So folgen auch Vertreter, die in anderen Punkten  – beispielsweise der angemessenen Darstellung des Naturzustandes – von der rechtstheoretischen und reziprozitätstheoretischen Deutung durchaus abweichen, der rechtstheoretischen Deutung der Autorisierungstheorie. Kersting beispielsweise versteht das Problem des Naturzustandes anders, deutet die Autorisierungstheorie aber prinzipiell ähnlich, nämlich als eine radikale Unterwerfung des eigenen Willens und Urteils unter das eines rechtssprechenden Souveräns.45 Der Unterschied liegt nun vor allem in der normativen Beurteilung der Autorisierungstheorie. Während beispielsweise Kersting die Absurdität anprangert, sich aus einem Freiheitswillen heraus einer Autorität bedingungslos zu unterwerfen,46 halten sowohl Hüning als auch Lloyd dies für eine 42 „Traditionally, the Hobbesian sovereign has been thought of as a mechanism for making and enforcing laws. But on our account, the sovereign’s essential function is as supreme judge. That is to say, the essential function of sovereignty is authoritative adjudication of disputes, rather than legislation or execution of existing laws; it is to replace the cacophony of clashing private judgments with a uniform public judgment“ (Lloyd 2009, 279 f.). 43 „If we understand the sovereign to be the authoritative arbiter of all disputes, it follows that she may legitimately settle disputes as to what the law – including natural law – is, how it is properly interpreted, whether a particular question falls under any existing law, whether she has or has not rightly judged the question at hand, whether she has or has not exceeded its legitimate authority, and the like. Absolutism falls out of this grant of authority to judge all disputes“ (Lloyd 2009, 280). 44 Vgl. Odzuck 2014b. In dem Aufsatz argumentiere ich für die These, dass die Standarddeutung der Autorisierungstheorie als einer Theorie unbedingter Unterwerfung nicht richtig ist, weil Hobbes tatsächlich die Unterwerfung an Bedingungen knüpft. Ich vertrete dort die These, dass der scheinbare Widerspruch, der sich aus dem Theorieelement der Autorisierung und der Freiheit der Untertanen ergibt, durch eine Lesart aufgelöst werden kann, der die Autorisierung als eine nur bedingte Autorisierung begreift. Diese Interpretation würde ich heute ergänzen um den Aspekt der verschiedenen Adressaten und der praktischen Intention von Hobbes, der mir eine probate Möglichkeit zu sein scheint, logische Widersprüche angemessen und in Übereinstimmung mit der Intention des Autors zu erklären. Vgl. dazu ebenfalls das Kapitel B. II. 1. d) dieser Arbeit. 45 „Der Verzicht auf das Recht auf alles, die Aufgabe der natürlichen Freiheit und die Autorisierung und Übertragung des Rechts auf Selbstregierung sind allesamt vorbehaltlose Ent­ äußerungen, die keinerlei Freiheit und keinerlei Recht auf seiten [sic!] der Vertragsparteien zurückbehalten. […] Die Gehorsamsverpflichtung der Bürger ist nicht minder absolut, als die Macht, der sie gilt“ (Kersting 2002: 167 f., Hervorhebungen E. O.). 46 Kersting spricht von einer freiheitstheoretischen Paradoxie: „Obwohl nichts anderes als ein rechtliches Erzeugnis der Bürger, ist der Souverän doch zugleich frei von aller rechtlichen Bindung an den Bürger: genau diese freiheitstheoretische Paradoxie steht im Zentrum des kontraktualistischen Absolutismus Hobbes’“ (Kersting 1994, 92). Ähnlich spricht auch ­Martinich von einer Absurdität: „Typically, authorizations are revocable at will when

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B. Die politische Logik des Körpers

von der Vernunft gebotene Lösung. Lloyd argumentiert aus der Alltagserfahrung von Streit bzw. Rechtsstreitigkeiten heraus dafür, dass die Individuen sich selbstverständlich dem Souverän vollständig unterwerfen müssten, was beinhalte, dass nicht die Individuen selbst, sondern der Souverän entscheide, ob sein Urteil fair wäre.47 Sie weist zwar auf die möglichen gewalttätigen Konsequenzen einer solchen Vernunftkonzeption hin,48 beharrt aber trotzdem darauf, dass Hobbes gerade deswegen als liberal angesehen werden könne: „His view turns out to be, perhaps surprisingly, liberal, if liberals are those who take seriously the claims of their opponents and seek to resolve disputes in a way that can be justified to all willing reciprocally to take seriously the claims of their opponents. In just this way Hobbes’s Law of Nature (the reciprocity theorem) requires men to submit mutually to authoritative arbitration with all willing others“ (Lloyd 2009, 288 f.).

In ihrer Beurteilung der Gebundenheit des Souveräns an das Reziprozitätstheorem widerspricht sich Lloyd selbst, wenn sie auf der einen Seite dessen Gebundenheit,49 they do not terminate after a fixed period of time. […] Such cases of authorization always require a contract between the author and the actor in order to protect the rights of each. But Hobbes cannot think of authorization in this way since he refuses to have the sovereign be a party to the contract. […] When a person’s life is at stake, it is absurd to give someone else carte blanche […]“ (Martinich 1995b: 39). Auch Ottmann identifiziert einen Fehler in der Konstruktion: „Die Autorisierung wiederum weicht von einer privatrechtlichen Bevollmächtigung radikal ab, da sie keine Spezifizität der Aufgabe und keine Beschränkung durch die Rechte des Beauftragenden kennt. Der Fehler der Konstruktion ist leicht zu erkennen: Warum eine Person uneingeschränkt autorisieren?“ (Ottmann 2006: 293). 47 „According to Hobbes, disagreeing with others, but affording them the consideration we claim due to ourselves as the reciprocity theorem requires, we must submit to fair arbitration. Whether the arbitration is or isn’t fair must be judged – as must be any other disputed issue – not by the disputing parties, but by a fair arbitrator. To avoid an interminable regress, all parties must agree to let the buck stop somewhere. That somewhere, Hobbes termed a sovereign“ (Lloyd 2009, 289). 48 Unmittelbar im Anschluss an das Zitat fährt Lloyd fort zu erklären, dass es zwar durchaus Fälle geben könne, in denen das Urteil des Souveräns so ausfiele, dass einige Untertanen dies nicht akzeptieren könnten. In einem solchen Fall bliebe als einzige Möglichkeit, seine Interessen durchzusetzen, der Krieg übrig. Trotz der notwendigerweise gewalttätigen Konsequenzen eines solchen absoluten Urteilsverzichtes fährt Lloyd jedoch fort, diesen von dem moralphilosophischen Prinzip der Reziprozität geforderten Verzicht auf ein eigenes Urteil eine friedensfördernde Wirkung zuzuschreiben: „And when they really cannot live with the decisions of that authoritative judge, they will defy the requirements of reason and wage war to reshuffle the deck, as Hobbes recognizes. Sometimes, when the provocation is extreme, we will find ourselves unwilling to fault them for doing so. But they won’t be able to settle a new peace, unless and until they and their adversaries are willing once again to be guided by reason in its demand to submit to authoritative adjudication of contested questions. This is the way in which reason dictates reciprocity, and reciprocity lays the foundation for peace“ (Lloyd 2009, 289). 49 Lloyd behauptet auf der einen Seite die Gebundenheit des Souveräns, indem sie behauptet, auch dieser wäre dem Reziprozitätstheorem unterworfen: „Furthermore, because reason requires that one conform her behavior to the standards she would accept as reasonable were she on the receiving end of such behavior, sovereigns themselves will be subject to strict equity constraints on the kinds of laws they may justifiably make, and those they must not omit to make. This constraint creates a strong pressure on legislation toward substantive equity“ (Lloyd 2009, 214).

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auf der anderen Seite aber dessen Ungebundenheit50 herausstellt, und verteidigt die Theorie des ungebundenen Stellvertreters schlussendlich damit, dass schließlich jede Theorie ausgenutzt oder verfälscht werden könne: „Of course, this fact provides no practical guarantee that actual sovereigns would never legislate iniquitously. No theory guarantees conformity with its own requirements, nor preclude corrupt, illegitimate departures from is [sic!] requirements. (We might say, bad things happen to good theories, sometimes.)“ (Lloyd 2009, 259).

Lloyd arbeitet in einer Babysitter-Analogie, die die Funktion der Autorisierung veranschaulichen soll, die paternalistische, autoritäre Tendenz von Hobbes’ Autori­sierungstheorie zwar deutlich heraus. Zugleich bestreitet sie aber, dass es sich bei die­ser Tendenz um ein wesentliches Kennzeichen der Autorisierungstheorie handele: „The alternative of letting the children decide whether the babysitter is to be obeyed (and hence how to act) is rejected as more dangerous than subjecting them to his authority, even though he is fallible. […] There is textual evidence that Hobbes does think even adult persons need such paternalistic intervention […]. […] But we need not assume this paternalistic stance in order to make sense of Hobbes’s position that we ought to submit to authoritative impartial arbitration of disputes; that is a requirement of reciprocity or fairness in the face of disagreement and does not depend on any attribution of childlike incompetence“ (Lloyd 2009, 286 und 286 n.51).51

Lloyd präsentiert ihre Deutung der natürlichen Gesetze vom Reziprozitätstheorem her als eine elegante Lösung für ein bestimmtes Problem: Auf der einen Seite spreche Hobbes von natürlichen Gesetzen und scheint damit einen naturrechtlichen Standard der Evaluation positiver Gesetze zu behaupten. Auf der anderen Seite mache Hobbes aber deutlich, dass es nicht der Inhalt, sondern die Entstehungsbedingungen, d. h. die Autorität ist, die die Gesetze macht. Entgegen dem ersten Eindruck könne Hobbes also kein Naturgesetzlehrer, sondern müsse ein Rechtspositivist sein. Wenn das natürliche Gesetz nun aber als fundamentale und alle anderen Pflichten „ausstechende“ Pflicht die Pflicht formuliere, dem staatlichen Gesetz zu ge 50 Auf der anderen Seite behauptet Lloyd jedoch die Ungebundenheit des Souveräns, der nicht an das Reziprozitätstheorem gebunden sei, und bezeichnet das auch als konzeptionelle Inkohärenz von Hobbes Perspektive: „Reciprocity does not require that sovereigns be subjects (a conceptual incoherence on Hobbes’s view) nor more generally that all persons take on the same roles and corresponding responsibilities“ (Lloyd 2009, 26). 51 Gerade das Babysitter-Beispiel scheint geeignet, die problematischen Konsequenzen von Hobbes’ körperbasiertem Liberalismus zu verdeutlichen, weil es die möglichen seelischen Schäden, die durch Kindesmissbrauch entstehen können, radikal verharmlost: Missbrauchsformen, die nicht lebensbedrohend sind, sondern das seelische Wohlbefinden des Kindes betreffen, können mit einer körperzentrierten Perspektive nicht erfasst werden. Ganz im Gegenteil preist Lloyd mit dem Beispiel gerade Hobbes’ körperbasierte Liberalität, die darin bestehe, dass Hobbes ja immerhin zulassen würde, dass man sich gegen lebensbedrohende Gewalt wenden dürfe: „Here the babysitting analogy can even support Hobbes’s insistence that subjects retain the right to resist force used against them, since parents will of course not require that children passively submit to life-threatening abuse by their babysitter“ (Lloyd 2009, 286).

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horchen, so sei dies eine elegante Lösung, weil sie es erlaube, Hobbes sowohl als einen Rechtspositivisten als auch als einen Naturgesetzlehrer zu begreifen. „We understand what it is to espouse legal positivism as an alternative to natural law theory, but the prospect of a legal positivism grounded in natural law is puzzling, to say the least. On traditional understanding of natural law, natural law imposes moral constraints on the content of positive law, and may under certain conditions justify disobedience to civil laws that fail to respect those moral constraints. Yet Hobbes elects to employ this language of ‚natural law‘ to build his case for virtually absolute obedience to the civil law, no matter its content. What I shall argue in this chapter is that Hobbes successfully did what he seems to have so improbably intended to do, namely, to ground a practical ‚as if‘ legal positivism in a theory that gives ultimate normative authority to Laws of Nature conceived as independent of any human legislation“ (Lloyd 2009, 265).

Lloyd bezeichnet ihre Theorie der natürlichen Gesetze konsequenterweise auch als eine Theorie bescheidener bzw. zurückhaltender natürlicher Gesetze. Wenn die natürlichen Gesetze ausschließlich oder zumindest primär den Gehorsam gegenüber den staatlichen Gesetzen verlangen, sind diese natürlichen Gesetze – insofern sie gar nicht beanspruchen, einen Maßstab zur Beurteilung konkreter staatlicher Gesetze liefern zu können oder zu wollen – tatsächlich zurückhaltend bzw. bescheiden. „Natural Law has supreme authority; but it directs us, first and foremost, to act as if legal positivism were true. Natural law is thus self-effacing“ (Lloyd 2009, 280).52

Sie gesteht zwar zu, dass diese Theorie nicht nur elegant, sondern auch beängstigend wirken könnte,53 kommt aber dennoch zu dem Schluss, dass Hobbes gerade wegen seines Reziprozitätstheorems als Liberaler gelten könne und empfiehlt Hobbes’ Lösung des Problems konfligierender Interessen als beste Strategie, mit diesem Problem umzugehen. Dass dies ein radikal autoritätsorientiertes Staatsverständnis nach sich zieht, scheint sie als Zufälligkeit der Hobbes’schen Theorie anzusehen, wenn sie auf der einen Seite dafür argumentiert, dass es ohne weiteres möglich sei, ein System souveräner Regierung mit verfassungsmäßigen Beschränkungen und ausbalancierten Gewalten zu schaffen.54 Auf der anderen Seite macht sie jedoch deutlich, dass sie die autoritären Tendenzen von Hobbes’ Problemlösung 52

Vgl. auch den entsprechenden Titel ihres Aufsatzes „Hobbes’s Self-Effacing Natural Law Theory“ (Lloyd 2001). 53 „Hobbes self-effacing natural law theory seems to me to be quite ingenious, and sensible, even if somewhat frightening“ (Lloyd 2009, 288). An anderer Stelle benennt Lloyd den Grund möglicher Befürchtungen: „Some scholars have worried that Hobbes comes dangerously close to a Nuremberg defense of citizen immunity for obedience to sovereign commands. Hobbes gives priority to the moral imperative of avoiding the Armageddon of civil war“ (Lloyd 2013a, 133). 54 „The real Hobbes brought an astounding intellect to bear on one of the most pressing problems of human life, and suggested what, to my knowledge, is the most promising strategy for solving it. […] That Hobbes’s theory selected as the appropriate mechanism a sovereign ­authority explains why it is so terrifying. Deference to authority is dangerous. […] But civil war is also dangerous. And there is plenty of conceptual room in Hobbes to design a system of sovereign government that contains constitutional restraints and the balancing of power to check arbitrariness and corruption. There is room to design a safer system“ (Lloyd 2009, 407 f.).

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durchaus teilt, wenn sie die Notwendigkeit einer Instanz des letzten Entscheiders, einer öffentlichen Autorität, proklamiert: „The only real requirement of Hobbesian sovereignty is that we be able to resolve every question. It must be a system sufficiently nimble to provide a complete resolution mechanism for every dispute. The buck must stop somewhere. And we must share a principled commitment to accept that public authority. Failing that, we’ll have no choice but to ‚appeal to heaven‘ by fighting it out“ (Lloyd 2009, 408).

Lloyd ist so fasziniert von Hobbes’ Lösung des Problems des Bürgerkriegs, dass sie dazu auffordert, diese in die Tat umzusetzen. Wenn nur das Reziprozitätstheorem Eingang in die politische Bildung55 fände und dadurch ein stärkeres Bekenntnis zur liberalen Demokratie erreicht werden könnte, wäre es möglich, die Gesellschaft zu reformieren und zu Stabilität und innerstaatlichem Frieden beizutragen.56 Ungleich nüchterner, jedoch in der sachlichen Einschätzung von Hobbes’ Problemlösung durchaus ähnlich, äußert sich die rechtstheoretische Deutung in Deutschland. Auch Hüning kommt in seiner abschließenden Einschätzung der Hobbes’schen Leistung zu dem Ergebnis, dass diese in einer naturrechtlichen Begründung des Rechtspositivismus liege.57 Wie auch Lloyd verteidigt Hüning auf der einen Seite Hobbes gegen den Vorwurf des Rechtspositivismus. Der Rechtspositivismus sei ja immerhin naturgesetzlich begründet, weshalb man nicht mehr von einem Rechtspositivismus sprechen könne, sondern von einer  – wenn auch sehr eingeschränkten – Naturgesetzlehre: „Damit ist die Grenzlinie zwischen Rechtspositivismus und neuzeitlichem Vernunftrecht gezogen: die staatliche Gesetzgebungskompetenz, v. a. aber die Lehre von der Positivität als unverzichtbarer Bedingung für die Verwirklichung einer Rechtsordnung ist für Hobbes systematisch abhängig von einer vernunftrechtlichen Theorie des Geltungsgrundes des positiven Rechts“ (Hüning 1998, 282).58 55 Dass Lloyd in diesem Zusammenhang auch Hobbes’ Vorschlag einer Volks-Indoktrination ausdrücklich als eine angemessene Form politischer Bildung verteidigt, soll an späterer Stelle ausführlicher diskutiert werden, vgl. Lloyd 2009, 339. 56 „Happily for us, every moment of every day, new individuals roll onto the moving sidewalk of civil life, while intransigent elders exit it. This makes reform of our society possible because we can affect the formation of the ideals and interests in which our progressive projects will have to find their support. We can affect the character of citizens toward greater attachment to liberal democracy, if we can persuade enough of the existing factional idealists – by means the reciprocity principle would approve – that they have what they can see to be a principled interest in the needed reforms“ (Lloyd 408 f.). 57 „Die Frage nach der rechtsphilosophischen Quintessenz der Hobbesschen Theorie kann deshalb abschließend dahingehend beantwortet werden, daß die Bedeutung von Hobbes’ Vernunftrechtslehre in der Tat darin besteht, daß sie eine ‚die Wissenschaft vom positiven Recht ergänzende, universale und allgemeine Rechtslehre‘ begründen bzw. eine ‚naturrechtliche Begründung des positiven Rechts‘ liefern will. […] Das Wesen der Hobbesschen Rechtsphilo­ sophie besteht darin, daß sie eine vernunftrechtliche, d. h. überpositive Begründung für die Geltung und Verbindlichkeit des positiven Rechts liefert“ (Hüning 1998, 283 f.). 58 Auch an dieser Stelle zitiert Hüning als Beleg für diese Interpretation von Hobbes nicht Hobbes selbst, sondern Kant, weil Kant diese Einsicht wiederum klarer formuliert habe als

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B. Die politische Logik des Körpers

Auf der anderen Seite wird aber nicht nur Hobbes gegen den Vorwurf des Rechtspositivismus verteidigt, sondern auch der Rechtspositivismus selbst. Hüning nimmt die Verteidigung des Rechtspositivismus allerdings nicht selbst vor, sondern stützt sich in dieser Verteidigung des Rechtspositivismus auf Andere, die Zweifel an der Notwendigkeit oder Wünschbarkeit eines Rechtspositivismus als „naiv“ oder „trivial“ bezeichnen. So bemüht er auf der einen Seite die Autorität von Höffe, um die These stark zu machen, dass das Hobbes’sche Diktum auctoritas, non veritas, facit legem keine rechtspositivistische Deutung zuließe, obwohl er im gleichen Kontext durchaus eingeräumt hatte, dass nach Hobbes die Verbindlichkeit des Gesetzes dem Willen des Gesetzgebers entspränge:59 „Berücksichtigt man darüber hinaus den o.a. argumentativen Kontext, dann bestätigt sich die Einschätzung Höffes, daß Hobbes mit seiner These ‚auctoritas, non veritas, facit legem‘ nicht, wie viele glauben, die Grunddevise des neuzeitlichen Recht- und Staatspositivismus‘ formuliert, sondern die ‚Minimalbedingungen […], bei deren Mißachtung eine Rechtstheorie – sei sie positivistisch oder antipositivistisch – als naiv gelten darf‘“ (Hüning 1998, 283).

Daneben zitiert er in der letzten Fußnote seiner Arbeit jedoch abschließend Geismann.60 Geismann spricht sich an der entsprechenden Stelle, auf die Hüning verweist, explizit gegen eine negative Konnotation des Begriffs Rechtspositivismus aus und kennzeichnet Positionen, die die Positivität des Rechts als angemessene Problemlösung widerstreitender Rechtsansprüche nicht anerkennen – wiederum unter dem Rückgriff auf Autoritäten – als naiv, insofern sie eine „rechtsphilosophische Trivialität“, die auch schon Kant und Fichte herausgefunden hätten, nicht verstanden hätten.61 Hobbes: „Der auch von Hobbes gegen eine derartige Identifikation von Macht und Recht erhobene Einwand lautet, daß auf diese Weise keine Pflicht des staatsbürgerlichen Gehorsams begründet werden kann – eine Grundüberzeugung der neuzeitlichen Rechtsphilosophie, die Kant folgendermaßen und in völliger Übereinstimmung mit Hobbes auf den Punkt gebracht hat […]“ (Hüning 1998, 282). 59 „Unbestreitbar liegt für Hobbes der Grund der Befolgung, d. h. der Grund der Verbindlichkeit des positiven Rechts (sowie der Geltung der einzelnen Gesetze) im Willen des Gesetzgebers, nicht aber in der Qualität des Gesetzes selber […]. Hierin stimmt Hobbes mit den Vertretern der positivistischen Imperativentheorie überein“ (Hüning 1998, 280). 60 „Vgl. auch Geismann […] der auf die ‚rechtsphilosophische Trivialität‘ verweist, daß es [sic!] die Etablierung von Rechtsverhältnis [sic!] nur unter der Voraussetzung der Positivierung von Recht möglich ist und Hobbes’ Leistung herausstreicht, den sog. Rechtspositivismus als eine ‚juridisch notwendige Folge seines Naturrechts‘ entwickelt zu haben“ (Hüning 1998, 284, n.26). 61 „Die (auch in einigen anderen Papers immer wieder vorkommende)  Erwähnung, daß Hobbes ein Begründer des neuzeitlichen Rechtspositivismus sei, hat meistens einen negativen Beiklang, den ich nicht verstehe: denn es ist eine – auch zum Beispiel für Kant und Fichte geltende – rechtsphilosophische Trivialität, daß ‚gar kein Naturrecht d. h. …kein rechtliches Verhältnis zwischen Menschen möglich (ist), außer in einem gemeinen Wesen und unter positiven Gesetzen‘ […]“ (Geismann 1982a, 65). Interessant ist jedoch die Tatsache, dass Geismann in seiner harschen Kritik derartig „naiver Positionen“ gerade jenen Autor kritisiert, den Hüning als Gewährsmann gegen die These herangezogen hatte, dass das Diktum au­c­

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Wenngleich durch die doppelte Bemühung, sowohl Hobbes gegen den Vorwurf des Rechtspositivismus zu verteidigen,62 als auch, den Rechtspositivismus selbst gegen „naive“ und „triviale“ Einwände zu verteidigen, die Position der deutschen rechtstheoretischen Deutung ambivalenter und differenzierter ausfällt als die emphatisch zustimmende Position von Lloyd, sind sich die beiden Deutungsschulen dennoch einig darin, dass Hobbes als Begründer einer spezifischen Naturgesetzlehre anzusehen ist, in der er Vernunftgründe für den Rechtspositivismus entwickelt habe: Der Souverän als rechtssetzende Instanz wird als Problemlösung der konfligierenden Rechtsansprüche des Naturzustandes begriffen.63 4. Hobbes’ Erwiderung auf den Narren als Widerlegung des Narren? Weil beide Deutungsfamilien behaupten, dass die Hobbes’schen Individuen einsehen, dass nur eine vertragliche, rechtliche Lösung die angemessene Problem­ lösung für das Problem der Rechtskonflikte sein kann, ist für beide der Umgang mit Hobbes’ Erwiderung auf den Narren zentral: Im 15. Kapitel des Leviathan dis-

toritas, non v­ eritas, facit legem bei Hobbes rechtspositivistisch zu verstehen sei. Die Äußerung Geismanns, auf die Hüning verweist, entstammt einem von Bermbach und Kodalle heraus­ gegebenen Sammelband, der Vorträge und Diskussionsbeiträge, die auf ein 1979 an der Universität Hamburg stattgefundenes Hobbes-Kolloquium zurückgehen, versammelt. Die dort abgedruckte harsche Kritik von Geismann richtet sich direkt gegen einen Vortrag von Höffe, in dem dieser sich dezidiert dafür ausspricht, dass das Hobbes’sche Diktum „auctoritas non veritas facit legem“ von einem radikalen Rechtspositivismus zeuge: „Erst mit diesem Theoriestück vertritt Hobbes den antiliberalen, den absolutistischen Staat mit seinem voluntaris­ tischen (dezisionistischen) Grundsatz eines radikalen (nicht bloß gesetzestechnisch zu verstehenden) Rechtspositivismus: auctoritas non veritas facit legem“ (Höffe 1982, 48). 62 Auch in den letzten Jahren ist die Debatte darüber, ob, und wenn ja, inwiefern, Hobbes als ein Rechtspositivist zu begreifen sei, nicht abgeflammt. Beispielsweise fand in den Jahren 1998–2005 eine rege Debatte zwischen Campagna, Kersting, Waas und Gebauer in der Zeitschrift Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie statt, die Gebauer zusammenfasst und mit folgender eigener These bilanziert: „Ich vertrete hier die klassisch zu nennende Deutung, dass eine Absolutismus-relativierende ‚Zähmung‘ des Leviathan im Sinne einer Bindung des Souveräns an die natürlichen Gesetze mit der Intention der Hobbesschen Friedenslehre nicht in Übereinstimmung zu bringen ist und deswegen verworfen werden muss. Damit zusammen hängt die Ansicht, dass man in einer zu spezifizierenden Hinsicht Hobbes einen Rechtspositivisten nennen kann“ (Gebauer 2005, 241). 63 Dafür, dass diese Wahrnehmung des Naturzustandsproblems und dessen Lösung durch Hobbes nicht nur eine exzentrische Meinung darstellte, sondern auf dem Symposium durchaus mehrheitsfähig war, spricht die abgedruckte Diskussion und der Diskussionsbeitrag von Siep, der, ganz in Übereinstimmung mit der Zielsetzung dieser Arbeit, davor warnte, Hobbes zu sehr von Kant her zu lesen: „Ich möchte der Tendenz der Diskussion entgegentreten, Hobbes allzusehr von Kant her zu interpretieren. Die Bedeutung der Begriffe Recht und Freiheit bei Hobbes muß, so scheint mir, deutlich unterschieden werden von der Bedeutung der gleichen Begriffe bei Kant und im deutschen Idealismus. Hobbes versteht Freiheit von der Bewegungsfreiheit her […] und Recht als erlaubte Bewegungsfreiheit“ (Siep 1982, 70).

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kutiert Thomas Hobbes im Kontext der Argumentation für eine naturrechtliche Pflicht, sich an abgeschlossene Verträge zu halten, auch das Argument eines Narren, der behauptet, es gebe keine Gerechtigkeit und insofern könne auch von keiner Pflicht, sich an Verträge zu halten, gesprochen werden. Die Argumentation des Narren und Hobbes’ Erwiderung auf diesen wurde in der Forschung breit diskutiert64 und ist für die rechtstheoretische und reziprozitätstheoretische Deutung deshalb von Relevanz, weil der Narr gerade die Position einer radikalen, rein instrumentellen, an der Selbsterhaltung orientierten Vernunft einnimmt, gegen die beide Deutungsschulen argumentieren. In der Forschung wurde durchaus beobachtet, dass die Argumente, mit denen Hobbes die Position des Narren zurück­zuweisen versucht, auffallend schwach sind.65 Gerade deshalb wäre eine umfassende Auseinandersetzung und Diskussion dieser Textstelle für die Deutungsfamilie unbedingt notwendig. Eine solche nimmt die rechtstheoretische Deutung in Deutschland jedoch nicht vor. Hüning bemerkt zwar in seiner Interpretation des dritten natürlichen Gesetzes, dass Hobbes’ „Ausführungen über die Narren“ von besonderem Interesse wären.66 Er führt an dieser Stelle dennoch keine detaillierte Analyse durch und liefert keine textnahe Rekonstruktion derjenigen Argumente, mit denen Hobbes den Narren scheinbar zu widerlegen sucht, sondern fasst das, was seiner Meinung nach die Position von Hobbes darstellt, knapp in einer an Kant erinnernden Terminologie zusammen. Auf das Problem, dass Hobbes selbst davon spricht, dass es im Naturzustand gute Gründe gibt, sich nicht an Verträge zu halten, geht Hüning an dieser Stelle nicht näher ein, sondern belässt es bei dem Hinweis, Hobbes lehre den Nutzen der Vertragstreue: 64 Für eine umfassende Darstellung und kritische Diskussion verschiedener Deutungen der letzten 20 Jahre vgl. Hoekstra 1997. 65 Vgl. Hoekstra 1997, 620: „The primary reason that this short section has drawn so much ink, I suppose, is that this answer seems unrealistic and simply wrong, and critics have hurried to worry the chink in Hobbes’s argumentative armor.“ Vgl. auch Zaitchik 1982, 246: „The problems with this reply are so astoundingly obvious that one must wonder how Hobbes dared to give it.“ Zahlreiche Interpreten bemühen sich aufgrund der diagnostizierten Schwäche der Argumentation des Narren auch darum, Hobbes zu korrigieren um seine Antwort auf den Narren überzeugender zu gestalten, vgl. bspw. Zaitchik 1982, 247: „Clearly enough Hobbes has worked himself into an uncomfortable corner. Can we explain what drove Hobbes into this predicament? Can we offer Hobbes  a way out which he might have found congenial enough had he but seen it?“ Ähnlich auch Gauthier 1969, 94: „However, we may now confront Hobbes with a dilemma. […] Now in practice it may always be advantageous to keep such a covenant. Hobbes holds this in his reply to ‚the fool‘. But it need not be so in theory. R(A)e does not entail R(A)k, so that it is in principle possible that unilateral non-performance is more reasonable for A than mutual performance.“ 66 „Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Hobbes’ Ausführungen über die Narren, die der Auffassung sind ‚that Justice is but a word without Substance‘ (Lev. XXX, p.232). Indem die Narren fragen, ‚whether Injustice […] may not sometimes stand with that Reason, which dictates every man his own good‘ (Lev. XV, p.101) und zu dem Ergebnis kommen, daß die Einhaltung abgeschlossener Verträge nicht in jedem Fall vernünftig ist, konstruieren sie einen Gegensatz zwischen den vernunftrechtlichen Forderungen einerseits und dem obersten Handlungsmotiv des Strebens nach dem bonum sibi“ (Hüning 1998, 123 f.).

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„Hobbes’ Kritik an dieser relativistischen Position scheint auf den ersten Blick überraschend, wenn man daran erinnert, daß auch Hobbes im Naturzustand Gründe für die Nichteinhaltung von Verträgen anerkannt hat. Aber insofern Verträge überhaupt die Rechtsform darstellen, in welcher Menschen den Gebrauch ihrer Willkür in Übereinstimmung bringen können, lehrt die recta ratio den Nutzen prinzipieller Vertragstreue“ (Hüning 1998, 124).

Auch auf das sich daraus erst ergebende Problem des möglichen Auseinanderfallens von Nutzen und Vertragstreue geht Hüning nicht ein.67 Er rekonstruiert das Argument, mit dem Hobbes den Narren zu widerlegen sucht, als Argumentation des langfristigen Nutzens: Weil sich Vertragstreue langfristig immer auszahlen werde, sei es rationaler, sich an Verträge zu halten. Was aber, wenn es eine Möglichkeit gäbe, dass sich auch der Vertragsbruch langfristig zum eigenen Vorteil auswirken würde? Diese Möglichkeit, die sich gerade aus dem auch von Hüning an dieser Stelle anerkannten, von Hobbes zu Grunde gelegten Recht auf Selbsterhaltung ergibt, wird von Hüning hier nicht diskutiert.68 Hüning rekonstruiert ein Urteil von Hobbes, allerdings, wie bereits die Auslassungen in dem von Hüning angeführten Zitat zeigen, auf eine verkürzte und – wie in unserer eigenen Interpretation der Stelle argumentiert werden wird – deshalb möglicherweise auf eine falsche Weise. Hobbes erklärt an der entsprechenden Stelle zwar, wie Hüning in seinem Zitat auch wiedergibt, dass er ein bestimmtes Räsonnement des Narren für falsch halte. Hüning untersucht jedoch nicht detaillierter die Frage, was genau an diesem Räsonnement nach Hobbes falsch ist. Der Narr erwägt verschiedene Dinge  – darunter beispielsweise den Vertragsbruch zwischen Untertanen, aber auch Rebellion oder Tötung des Herrschers. Wie weiter unten argumentiert wird, hält Hobbes jedoch nicht das ganze Räsonnement des Narren für falsch, sondern bezieht sein Urteil über die Falschheit der Argumentation des Narren nur auf eine spezielle Schlussfolgerung des Narren. Hüning jedoch bezieht Hobbes’ Urteil auf die gesamten Erwägungen des Narren und lässt die Stellen, die dafür sprechen, dass Hobbes’ Urteil nur für eine spezielle Schlussfolgerung des Narren gilt, in seinem Zitat aus:

67 Dieses Problem stellt dagegen Hoekstra sinnvollerweise an den Anfang seiner Interpretation von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren: „There is disagreement about how best to characterize Hobbes’s response. Let c stand for the dictate to keep covenants and s for the dictate of self-interest, understanding the possibility of diverging dictates as the possibility that one dictate can prescribe different actions from the other“ (Hoekstra 1997, 621). 68 „Deshalb kann es nach Hobbes’ Auffassung unmöglich vernünftig sein, dieses Mittel der Friedensstiftung zugunsten kurzfristiger Vorteile in Frage zu stellen. Diejenigen hingegen, die über das nach vernünftigen Prinzipien organisierte Zusammenleben der Menschen und die Bedingungen des ‚peace of Mankind‘ (Lev. XV, p.100) nachdenken, müssen nach Hobbes notwendig die Frage nach der Möglichkeit der durch das positive Recht verwirklichten Gerechtigkeit stellen. Diese Ausführungen machen deutlich, daß Hobbes versucht, die Prinzipien der Rechtsverbindlichkeit aus der Logik des subjektiven Rechts der Selbsterhaltung selbst zu entwickeln“ (Hüning 1998, 124, Hervorhebungen E.O).

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B. Die politische Logik des Körpers „Im Anschluß daran wirft Hobbes die Frage auf, ‚whether Injustice, taking away the feare of God, […] may not sometimes stand with that Reason, which dictateth to every man his own good, and particularly then, when it conduceth to such a benefit, as shall put a man in  a condition, to neglect not onely the dispraise, and revillings, but also the power of other men‘, um darauf zu antworten, daß ‘[t]his specious reasoning is neverthelesse false‘ (Lev. XV, p. 102)“ (Hüning 1998, 29, Hervorhebungen E. O.).

Hüning geht in seiner rechtstheoretischen Rekonstruktion des kontraktualistischen Argumentes also davon aus, dass Hobbes das ganze Räsonnement des Narren für falsch hält, und setzt sich – angesichts der Relevanz der Stelle für seine eigene These69  – zu wenig mit der Stelle auseinander: Weder ist eine Rekonstruktion der Position des Narren und eine vollständige Aufzählung der einzelnen Behauptungen, die dieser vertritt, noch ist eine umfassendere Rekonstruktion der Argumentation von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren in Hünings Studie zu finden. Anders als Hüning widmet Lloyd Hobbes’ Erwiderung auf den Narren einen breiten Raum und setzt sich insbesondere mit konkurrierenden Interpretationen der Stelle in der Sekundärliteratur explizit auseinander. Lloyd widmet sich detailliert der Frage, worin nach Hobbes die Narrheit des Narren genau besteht und diskutiert dabei alternative Interpretationen der Sekundärliteratur. Den polemischen Kontext stellt dabei, wie schon in ihrer Interpretation der natürlichen Gesetze, die spieltheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments dar. Diese Deutung, die die natürlichen Gesetze vor allem als selbsterhaltungsförderliche Klugheitsregeln interpretiere, sehe sich in ihrer Deutung darin bestätigt, dass Hobbes in seiner Antwort auf den Narren die Prämissen des Narren akzeptiere und dafür argumentiere, dass es im Selbstinteresse des Narren läge, die natürlichen Gesetze einzuhalten.70 Lloyd hält dagegen, dass Hobbes nur adressatenbezogen die Prämissen des Narren teile, um den Narren davon zu überzeugen, dass der Narr mit seinen eigenen Prämissen zu einem anderen Ergebnis kommen müsste und dass daher der Umstand, dass Hobbes die spieltheoretischen Prämissen des Narren teilt, allenfalls eine schwache Evidenz für die Interpretation der natürlichen 69

Gerade weil Hüning als Ziel seiner Arbeit angibt, zu rekonstruieren, warum Hobbes das Räsonnement des Narren für falsch hält, ist unklar, weshalb eine ausführliche Analyse von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren in seiner Studie fehlt: „Die Gründe zu rekonstruieren, warum Hobbes dieses Räsonnement für falsch hält und warum für ihn der Begriff der Gerechtigkeit keine bloße Schimäre ist, und zu zeigen, worin die vernunftrechtliche Revolution, die mit dem Namen Thomas Hobbes verbunden ist, besteht, wird die Aufgabe der vorliegenden Studie sein“ (Hüning 1998, 29). 70 „Some commentators have supposed that Hobbes is arguing that it is never in one’s self-interest to violate the third Law of Nature prohibiting breaking covenants, or, for that matter, to violate any others Laws of Nature. Thus understood, the Foole passage is presumed to count as evidence in favor of a self-interest interpretation of the Laws of Nature, for unless the Laws of Nature are themselves rules for securing the self-interest of the agent, how could it be crucial to showing that those laws are in accord with reason (hence Laws of Nature) to show that they cannot require actions not approved by self-interest?“ (Lloyd 2009, 296)

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Gesetze als Klugheitsregeln liefere.71 Ihr Ziel ist es, eine Deutung zu entwickeln, die zeigt, dass die spieltheoretische Interpretation, die die natürlichen Gesetze als Klugheitsregeln versteht und sich zur Untermauerung ihrer These auch auf Hobbes’ Erwiderung auf den Narren stützt, falsch ist.72 In der Beantwortung der Frage, worin die Narrheit des Narren besteht, weist Lloyd denn auch überzeugend die von ihrem Lehrer Gregory Kavka entwickelte spieltheoretische Deutung des Narren-Arguments zurück: Dass die Narrheit des Narren darin bestehe, keine Desaster-Vermeidungs-Strategie anzuwenden73 und nicht zu erkennen, dass sich das Einhalten von Verträgen eine sichere Möglichkeit sei, Desaster abzuwenden, findet tatsächlich nicht nur wenig textuelle Unterstützung,74 sondern kann auch mit den Grundannahmen der spieltheoretischen Position schlecht gerechtfertigt werden: Wenn die zentrale Grundannahme der spieltheoretischen Deutung diejenige ist, dass die Hobbes’schen Individuen ihren persönlichen Nutzen fördern wollen, dann ist tatsächlich nicht einzusehen, warum diese Individuen auf einmal nicht mehr ihr je persönliches Gut anstreben, sondern mit ihren Handlungen vor allem Unheil abwehren wollten.75 Während die Zurückweisung einer bestimmten spieltheoretischen Interpretation76 von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren durchaus Plausibilität besitzt, kann die Zurückweisung der spieltheoretischen Grundannahme und die eigene Interpre 71 „However, as David van Mill has correctly argued, because the only thing the Foole cares about is his self-interest, and not his religious or moral duties, and perhaps not even the good of others, it can be but weak evidence indeed for the self-interest interpretation of the Laws of Nature that Hobbes does not reply to the Foole by insisting that injustice is contrary to duty or bad for humanity generally“ (Lloyd 2009, 296). 72 „If this interpretation is plausible, traditional self-interest accounts of the Laws of Nature will have been deprived of one of their main props in Hobbes’s discussions of the Foole“ (Lloyd 2009, 297). 73 „The idea is that although injustice does sometimes pay, and although sometimes we can very well see that it will pay, reason nonetheless dictates that we are to forego those gains in order to adopt the most conservative strategy of seeking to avoid all highly negative outcomes, no matter their improbability“ (Lloyd 2009, 299). 74 „First, there is the textual difficulty that Hobbes nowhere actually makes this argument“ (Lloyd 2009, 299). 75 „The second difficulty is philosophical. Why suppose that Hobbesean agents should determine the requirements of reason by inquiring about how to avoid the worst outcomes rather than how to acquire the best outcomes, or how to maximize their expected utility overall? Desire-based interpretations typically ascribe to Hobbes the view that the good is just whatever the agent desires. And so on those views, there is no principled reason to privilege disutility avoidance over utility acquisition. That will depend on the relative strength of the individual agent’s desires, which, as Hobbes consistently maintains, will vary from person to person and over time“ (Lloyd 2009, 300). 76 Die spieltheoretische Interpretation des kontraktualistischen Arguments ist vielgestaltig. Neben dem Versuch, den Konflikt des Naturzustandes als ein Gefangenendilemma zu rekonstruieren, existiert der Versuch, den Naturzustand als eine Art Vertrauensspiel bzw. „assurance game“ zu rekonstruieren. Erste Überlegungen in diese Richtung finden sich bereits bei Hampton 1986, 67–68. Für einen Überblick über die beiden großen Hauptlinien

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B. Die politische Logik des Körpers

tation der Stelle durch Lloyd weniger Plausibilität für sich beanspruchen. Lloyd vertritt die These, dass die Narrheit des Narren in der Anwendung einer falschen Schlussregel bestehe.77 Diese falsche Schlussregel sieht Lloyd aber nun gerade in der für die Argumentation des Narren (und der spieltheoretischen Deutung der natürlichen Gesetze) zentralen Prämisse des Eigennutzens am Werk. Auch Lloyd rekonstruiert dabei – ähnlich wie Hüning – die Argumentation des Narren lückenhaft, wie ohne Berücksichtigung des Inhaltes des Textbefundes bereits aus ihrem formalen Umgang mit dem vermeintlichen Textbefund gesehen werden kann. In ihrer Rekonstruktion der Argumentation des Narren identifiziert Lloyd als zentrale Prämisse des Narren diejenige, nach der diejenigen Handlungen am vernünftigsten sind, die am meisten zu den Zielen der Akteure beitragen würden.78 Diese zitierte Prämisse wird auch in der ersten Reformulierung der Prämisse durch Lloyds eigene Worte noch nicht wesentlich verändert.79 Die zweite Reformulierung der Prämisse verändert dagegen deren Bedeutung grundlegend. Während der Narr zielführende Handlungen als vernünftig bezeichnet und damit ein Kriterium für die Auswahl verschiedener möglicher Handlungen aufstellt,80 verändert Lloyd die Prämisse in ihrer zweiten Reformulierung so, als ob der Narr ein Handlungsergebnis nachträglich als Kriterium dafür benutzen wollte, eine Handlung als vernünftig zu rechtfertigen. Diese fundamental veränderte Prämisse kann dann von Lloyd sehr einfach als auf einer falschen Schlussregel basierend zurückgewiesen werden: Natürlich garantiert ein glücklicher Ausgang nicht die Vernünftigkeit einer Handlung – Lloyds absurde Beispiele, die diese fundamental veränderte Prämisse widerlegen sollen (ein Lottogewinn als Ergebnis der Auswahl der eigenen Geburtsdaten, eine glückliche Ehe als Ergebnis eines zufälligen Aufschlagens des Telefonbuchs, etc.), wären also gar nicht notwendig gewesen, wenn sie nicht selbst die Prämisse fundamental verändert hätte. der spiel­theoretischen Deutung vgl. Nida-Rümelin 2008. Die Einschätzung, dass die Perspektive des „assurance game“ zunehmend Anhängerschaft gewinnt, formuliert Baumgold 2013, 3: „While unfamiliar as an interpretation of the relationship between ruler and ruled in Hobbes’s theory, the concept of trust has figured in recent years in game-theoretic analyses of the state of nature. Rather than representing a prisoner’s dilemma in which the dominant strategy (in a one-shot game) is to defect, Hobbes’s narrative, it is argued, corresponds to an assurance game.“ 77 „First and foremost, the fault of the fool who denies that injustice is a rule of reason is his reliance on a faulty rule of inference. In using a strictly speaking absurd rule, he acts contrary to reason“ (Lloyd 2009, 302). 78 „The fundamental claim of the unjust fool is that covenant keeping is not a rule of reason because covenant breaking is sometimes profitable to those who unjustly engage in it, and ‚those actions are most reasonable that most conduce to their ends‘“ (Lloyd 2009, 304). 79 Lloyd analysiert die Argumentation des Narren durch die Isolierung und Identifikation zentraler Prämissen und reformuliert dabei das obige Zitat folgendermaßen: „2. If an action most conduces to one’s ends, then it is reasonable to perform that action“ (Lloyd 2009, 304). 80 Man muss zur Untermauerung dieser These nicht auf Hobbes’ Text zurückgehen, sondern kann sich bereits die präsentische Wenn-Dann-Formulierung in der ersten Reformulierung von Lloyd selbst stützen.

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Obwohl Lloyd darauf beharrt, dass die Narrheit des Narren in einer falschen Schlussfolgerung bestehe und auf diese Weise zugleich dafür argumentiert, dass Hobbes die Prämisse der Vernünftigkeit derjenigen Handlungen, die am meisten zur Zielerreichung beitragen, ablehnt,81 kann diese Rekonstruktion der Argumentation des Narren also schon deshalb nicht überzeugen, weil in ihr eine Ausgangsprämisse, die die Argumentation des Narren angeblich enthält, von der Interpretin fundamental verändert wird. Das Argumentationsziel der reziprozitätstheore­ tischen Deutung, zu zeigen, dass Hobbes die fundamentale Prämisse der Vernünftigkeit des Eigennutzens nicht teilt, lässt sich auf diese Weise nicht erreichen.82 Auch eine zweite Argumentationsstrategie Lloyds ist für ihr Ziel der Widerlegung der spieltheoretischen Deutung der natürlichen Gesetze ungeeignet, weil sie eine bestimmte Interpretation der natürlichen Gesetze bereits voraussetzt. Sie geht – gegen zahlreiche spieltheoretische Deutungen der natürlichen Gesetze, die Hobbes’ Argumentation für schwach und wenig überzeugend halten83  – davon aus, dass Hobbes’ Argumentation durchaus erfolgreich ist, weil nämlich sein Argumentationsziel begrenzter sei, als vielfach angenommen. Weil – und hier benutzt Lloyd ihre eigene Interpretation der natürlichen Gesetze – Hobbes bereits vor seiner Antwort auf den Narren bewiesen habe, dass es eine Regel der Vernunft sei, sich an Verträge zu halten, verfolge Hobbes in seiner Zurückweisung des Narren gar nicht mehr das Ziel, dafür zu argumentieren, dass es – im Sinne der Selbst­ erhaltung – immer vernünftig sei, sich an Verträge zu halten.84 Sie gesteht also durchaus zu, dass es Hobbes in seiner Erwiderung auf den Narren nicht gelingt, die Vernünftigkeit der Moralität zu zeigen. Diese Deutung, die sie selbst als „deflationäre Interpretation“ bezeichnet und verteidigt, basiert aber ja gerade auf einer bestimmten Auslegung der natürlichen Gesetze und kann deswegen schwerlich benutzt werden, um die Falschheit einer anderen Interpretation der natürlichen Gesetze zurückzuweisen. Lloyd betont die Wichtigkeit des Kon 81 „For this reason, the Foole errs in inferring from the fact that an action turned out well that it was not against reason to do it. Hobbes sees as do we the fault in the Foole’s principle ‚that those actions are most reasonable that most conduce to their ends‘“ (Lloyd 2009, 305). 82 „I argue that Hobbes does not see accordance with reason as a mere matter of promoting the agent’s narrow self-interest, and so that he resists reducing reason to prudence“ (Lloyd 2009, 302). Das gleiche Argumentationsziel verfolgt Rhodes 1992. Vgl. Rhodes 1992, 100: „To Hobbes the Fool’s self-interested calculation represents the antithesis of his method. Also, the Fool’s conclusion, advocating the violation of covenants when it appears that conformance ‚will damage rather than further one’s best interests’ (a recommendation Hobbes never makes!) is inimical to the foundation of Hobbes’s moral theory which holds assent and promise as the basis of obligation. Hobbes’s sense of ‚Reason‘ is not prudence, and his sense of obligation is normative not merely prudential advice that can be disregarded.“ 83 Vgl. etwa Gauthier 1969, 87: „Hobbes’s reply to ‚the fool‘ is not very convincing. It seems simply false to maintain that a man can never expect breach of covenant to be conducive to his preservation.“ 84 Ein solches Argumentationsziel vermutet beispielsweise Hampton 1986, 65: „However, in his answer to the fool, Hobbes reaches the opposite conclusion; that is, understood correctly, it is always rational (i. e. in one’s self-interest) to keep covenants.“

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textes der Antwort auf den Narren und behauptet – und das ist eine Prämisse über den Status und die Funktion der natürlichen Gesetze, die an dieser Stelle von Lloyd nicht begründet wird –, dass Hobbes bereits bewiesen habe, dass es eine Regel der Vernunft sei, sich an abgeschlossene Verträge zu halten:85 „It is also important to notice the context in which Hobbes’s discussion of the Foole is offered. Hobbes, by showing that the transference of right demanded by the second Law of Nature (which was previously proved to be a rule of reason) would be ‚vain‘ (ineffectual) without the third Law of Nature, has already proved that the third law of Nature requiring the keeping of covenants is a rule of reason“ (Lloyd 2009, 303).

Nur weil Lloyd also bereits eine bestimmte Auffassung über den Status und die Funktion der natürlichen Gesetze hat, gelangt sie zu einer bestimmten Deutung der Antwort von Hobbes auf den Narren, die sie selbst als deflationäre Interpretation bezeichnet.86 Wenn aber ihre Deutung der Antwort des Narren bereits auf einem bestimmten Verständnis der natürlichen Gesetze beruht, dann kann diese Deutung der Antwort des Narren nicht gleichzeitig dazu benutzt werden, eine bestimmte andere Deutung der natürlichen Gesetze zurückzuweisen, wie Lloyd ihr Argumentationsziel auch an anderer Stelle zusammenfasst.87 Wir müssen unseren Versuch, den Umgang der reziprozitätstheoretischen Deutungsfamilie mit Hobbes’ Antwort auf den Narren zu bewerten, an dieser Stelle verlassen, weil eine detaillierte, kritische Würdigung eine genaue, textnahe Ana 85 Mit den Argumenten, die Lloyd als „Beweis“ für die These der vernunftnotwendigen Vertragstreue heranzieht, werde ich mich oben [B. III. 2. b) bb)] in meiner Interpretation von Hobbes’ Antwort auf den Narren detaillierter auseinandersetzen. Ich werde dort dafür argumentieren, dass Hobbes’ Antwort auf den Narren einer von drei logisch nicht überzeugenden Strategien ist, für das dritte natürliche Gesetz, welches Vertragstreue gebietet, zu argumentieren, und dass Hobbes es also nicht – wie Lloyd behauptet – bereits geschafft hat, die Notwendigkeit der Vertragstreue zu begründen. 86 „So it would be a mistake to imagine that Hobbes’s reply to the Foole is meant to establish covenant making as a rule of reason and thus a Law of Nature. All Hobbes need to do successfully to answer the Foole is to show that the Foole’s particular objection is a bad objection. I shall argue that he succeeds, absolutely decisively, in doing that much. It is because I see the aim of Hobbes’s reply to the Foole to be much less grand than that of demonstrating the rationality of morality, that I term my interpretation ‚deflationary‘. This is not to deny that Hobbes aims to demonstrate that morality accords with reason […] but it is rather to say that his reply to the Foole does not contain his arguments for that conclusion“ (Lloyd 2009, 303). 87 „On traditional interpretations of the Foole passage as intended to provide a defense of morality in terms of self-interest, Hobbes’s reply to the Foole is hopelessly flawed. I have argued for a deflationary definitional interpretation of Hobbes’s reply to the Foole, according to which that reply is not intended to provide an argument for morality, but merely to answer a particular objection to Hobbes’s prior demonstration that justice is a rule of reason. It does so simply by discrediting the Fooles’s principle of inference, and showing that on a correct principle of inference, the imprudence of seditious injustice would be manifest. In this more limited aim, Hobbes’s reply succeeds entirely. And it does so in a way that deprives self-interest interpretations of Hobbes’s Laws of Nature of any support in Hobbes’s reply to the Foole“ (Lloyd 2009, 325).

I. Das kontraktualistische Argument ohne Körper?

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lyse und Diskussion der einzelnen Textstellen bei Hobbes erfordern würde und dies erst im Zuge der Vorstellung der eigenen Interpretation unternommen werden soll. Es soll für unsere Zwecke an dieser Stelle genügen, darauf hingewiesen zu haben, dass Hobbes’ Erwiderung auf den Narren zentral für die rechtstheoretische Deutungsfamilie ist, deren Umgang mit diesem Theorieelement aber bereits formal gewisse Mängel aufweist. Festzuhalten bleibt, dass die Deutungsfamilie ­Hobbes’ Erwiderung auf den Narren zum einen – wie die deutsche rechtstheoretische Deutung – als Versuch interpretiert, die Prämisse des Narren, wonach Gerechtigkeit ein bloßes Wort bzw. eine bloße Schimäre sei, zurückzuweisen. Zum anderen wird Hobbes’ Erwiderung – von der reziprozitätstheoretischen Deutung – als Versuch begriffen, die Prämisse des Narren, der zufolge diejenigen Handlungen am vernünftigsten sind, die am meisten zum Eigennutz beitragen, zurückzuweisen. Die Deutungsfamilie ist sich einig darin, dass es nicht Hobbes’ Auffassung ist, dass es (langfristig) rational sein könnte, Verträge zu brechen und behauptet, dass Hobbes in seiner Erwiderung auf den Narren entweder gegen diese These, oder gegen die Prämisse der Vernünftigkeit der am Eigennutz ausgerichteten Handlungen argumentiert. In seiner Erwiderung auf den Narren verfolge Hobbes also das Ziel, zentrale Prämissen (Rationalität des Eigennutzens) oder Schlussfolgerungen (Rationalität des Vertragsbruchs) der Argumentation des Narren zu widerlegen. 5. Fazit: Rechtstheoretische Deutungen des kontraktualistischen Arguments Die rechtstheoretische und die reziprozitätstheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments gleichen sich, wie in der vorhergehenden Analyse herausgearbeitet wurde, in zahlreichen Punkten: Sie verstehen den Naturzustand vor allem als ein Problem konfligierender Rechtsansprüche und begreifen den entstehenden Souverän dementsprechend als rechtssetzende Instanz, die auf dieses Problem konfligierender Rechtsansprüche antwortet, indem sie selbst erklärt, was Recht ist. In der Deutung der natürlichen Gesetze wenden sich beide primär gegen spieltheoretische Deutungen: Die natürlichen Gesetze seien keine bloßen Klugheitsregeln, sondern Vernunftgebote, die Reziprozität, d. h. eine grundlegende Gleichheitsorientierung, lehren. Während die deutsche rechtstheoretische Deutung betont, dass es sich bei den natürlichen Gesetzen um rein rechtsphilosophische Prinzipien handele (dabei jedoch konzediert, dass Hobbes diesen streng rechtsphilosophischen Anspruch nur in der Formulierung der ersten beiden natürlichen Gesetze aufrechterhalten konnte, in der Formulierung der 18 weiteren natürlichen Gesetze dagegen leider moralisch geworden sei), liest die reziprozitätstheoretische Deutung die natürlichen Gesetze von vornherein als Formulierung von Hobbes’ Moralphilosophie, dessen Grundprämisse das Reziprozitätsgebot sei. Beide gehen also – wenngleich die rechtstheoretische These des anthropologiefreien Naturzustandes das zum Teil verdeckt – davon aus, dass das kontraktualistische Argument wesentlich auf der Annahme rationaler Akteure beruht und sich

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B. Die politische Logik des Körpers

auch an solche wendet: Rationale Akteure sollen mit dem Argument davon überzeugt werden, dass es in ihrem eigenen Interesse als rationale Handelnde liegt, sich einer souveränen, rechtssetzenden Gewalt zu unterstellen. Die Motivation für die Zustimmung zu der allgemeinen Gewalt wird also in dem Selbstverständnis der Akteure als rational Handelnde gesehen: Weil die Menschen sich als solche verstehen, sind sie bereit, sich einer allgemeinen Macht und deren Gesetzen bedingungslos zu unterwerfen, um dadurch ihre Handlungsfreiheit und/oder ihre An­erkennung als vernünftige Menschen zu gewährleisten. Aus ihrem Selbstverständnis als rationale Akteure heraus würden sie sich von der Notwendigkeit eines Rechtspositivismus überzeugen lassen. Während die rechtstheoretische Deutung behauptet, dass Hobbes einen anthropologiefreien Naturzustand skizziere bzw. von einer Minimalanthropologie spricht, schreibt die reziprozitätstheoretische Deutung Hobbes ein „differenziertes“ Menschenbild zu, welches in dem Wunsch nach Rechtfertigung kulminiert. Betont die rechtstheoretische Deutung mehr das „Interesse an der rechtsförmigen Sicherung des Rechts auf Selbsterhaltung“, welches dazu motiviert, sich gleichen Freiheitsbeschränkungen zu unterwerfen, so rückt in der reziprozitätstheoretischen Deutung der „Wunsch nach Rechtfertigung“ in den Vordergrund. Beide Schulen gehen also davon aus, dass aus dem Konzept rationaler Akteure Normen abgeleitet werden können, die von den Akteuren anerkannt und akzeptiert werden würden. Dieses inhaltlich jeweils etwas anders gefüllte Konzept rationaler Akteure entwickeln beide Deutungen durch eine Analyse des Hobbes’schen Naturzustandes. Beide sind sich einig darin, dass die Naturphilosophie bzw. die nach diesem Vorbild konzipierte körperbasierte Anthropologie und Psychologie, die Hobbes in De Homine und im ersten Teil des Leviathan entwickelt, in keinem begründungsrelevanten Zusammenhang zum kontraktualistischen Argument stehen und sie beginnen daher ihre Rekonstruktion der Hobbes’schen Anthropologie mit Hobbes’ Beschreibung des Naturzustandes im 13. Kapitel. In der Behandlung von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren behauptet die Deutungsfamilie, dass es Hobbes primär um eine Widerlegung des Narren gehe. Es wird dafür argumentiert, dass Hobbes entweder die Prämisse, dass diejenigen Handlungen am vernünftigsten sind, die am meisten zum Eigennutz beitragen (Lloyd), oder die daraus abgeleitete Schlussfolgerung, dass es nicht ungerecht sei, Verträge zu brechen (Hüning), zurückweisen wolle. Ohne die textuelle Grundlage von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren inhaltlich heranzuziehen, konnte bereits durch den formalen Umgang der Deutungsfamilie, die die Textstelle nicht detailliert analysiert (Hüning) bzw. in der Analyse die textuelle Grundlage verändert (Lloyd), gezeigt werden, dass es gute Gründe gibt, skeptisch gegenüber diesen Deutungen zu sein. Mit dieser Kritik an der rechtstheoretischen Deutungsfamilie soll deren interpretative Leistung keinesfalls in Abrede gestellt werden: Die rechtstheoretische Deutungsfamilie des kontraktualistischen Argumentes kann sich – wie beispielsweise in der Autorisierungstheorie – durchaus auf einige Textbelege stützen, die

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diese Deutung zunächst sehr plausibel erscheinen lässt. In der Tat wird beispielsweise in der Autorisierungstheorie von einer bedingungslosen Unterwerfung gesprochen. Die spezifische Leistung der rechtstheoretischen Deutung des kontraktualistischen Arguments besteht demnach darin, dass diese Textstellen und Elemente des kontraktualistischen Arguments, die durchaus zentral sind, zu einer kohärenten Gesamtdeutung zusammenfügt. Dennoch kann das kontraktualistische Argument in seinem eigentlichen Inhalt und Status nicht hinreichend verstanden werden, wenn man dessen Körperfundierung außer Acht lässt und es primär als ein Argument rekonstruiert, das von rationalen Akteuren handelt und sich an solche richtet, um diese von der Vernünftigkeit bzw. Rationalität des Gesetzesgehorsams zu überzeugen.88 Menschen als rationale, an Recht oder Moralität interessierte Lebewesen zu begreifen, genügt nicht, um den Inhalt und den Zweck des kontraktualistischen Arguments zu verstehen. Die Rekonstruktion des kontraktualistischen Argumentes als eines körperlosen Argumentes ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, nicht haltbar, weil es zahlreiche Textbelege gibt, die zeigen, dass der Körper und die Körperlichkeit des Menschen die spezifische Grundlage, inhaltliche Füllung und logische Grenze des kontraktualistischen Argumentes darstellen und darüber hinaus dessen Status als Argument wesentlich beeinflussen.

88 Die Kritik an der Körpervergessenheit der rechtstheoretischen Deutungsschule ist als eine konstruktive Kritik gedacht, die das interpretatorische Verdienst der Deutungsfamilie anerkennt und eine Integration der rechtstheoretischen Deutung in die körpertheoretische Deutung für fruchtbar und möglich hält: In gewisser Weise kann die Position von Strauss, dessen Beschäftigung mit Hobbes mit einer Vorlesung von Ebbinghaus ihren Anfang nahm (vgl. Strauss 1965, 7), als ein Beleg dafür herangezogen werden, dass sich die rechtstheoretische und die körpertheoretische Perspektive auf das kontraktualistische Argument nicht grundsätzlich ausschließen müssen. So sieht Strauss nämlich Hobbes’ besondere Leistung, ganz wie die rechtstheoretische Deutungsschule, darin, dass Hobbes eine spezifisch moderne Rechtslehre begründet habe: „Die Souveränitätslehre ist eine Rechtslehre. […] Die Rechte der Souveränität werden der höchsten Gewalt nicht auf der Grundlage eines positiven Gesetzes oder allgemeinen Brauchs, sondern des Naturgesetzes zugewiesen. Die Souveränitätsdoktrin formuliert natürliches öffentliches Recht“ (Strauss 1977, 197). Zugleich erachtet Strauss jedoch die körperbasierten Leidenschaften als zentrales Kernelement von Hobbes’ Anthropologie und sieht darin nicht nur die Wurzel von Hobbes’ Realismus, sondern die Wurzeln einer Lehre, die er im Kontrast zu Epikurs Hedonismus als „politischen Hedonismus“ bezeichnet und die er ebenfalls als eine spezifische Leistung von Hobbes betrachtet (vgl. Strauss 1977, 196). Dafür, dass sich zentrale Teile der rechtstheoretischen Rekonstruktion des kontrak­ tualistischen Arguments durchaus konstruktiv in die hier entwickelte körpertheoretische Deutung integrieren lassen, wird im Teil B. III. dieser Arbeit argumentiert. Dort wird ebenfalls eine sich von Strauss’ Hobbes-Interpretation wesentlich unterscheidende Rekonstruktion der Hobbes’schen Leidenschaftslehre erarbeitet.

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B. Die politische Logik des Körpers

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments 1. Der Körper als Grundlage des kontraktualistischen Arguments Wie Julian Nida-Rümelin bemerkte, hängt die Beschreibung des kontraktualistischen Argumentes wesentlich von der vorhergehenden Beschreibung des Naturzustandes ab.89 Gemäß der logischen Struktur des kontraktualistischen Arguments, in dem der staatliche Zustand auf das Problem des Naturzustandes antwortet, hängt in der Darstellung des Argumentes nahezu alles von einer angemessenen Beschreibung des Naturzustandes ab. Die rechtstheoretische und die reziprozitätstheoretische Deutung hatten, wie gezeigt wurde, den Naturzustand wesentlich als einen Zustand konfligierender Rechtsansprüche charakterisiert. Dieser Zustand entsteht oder entstand aber nicht unabhängig oder ohne Menschen – wie dies zumindest einzelne Behauptungen einer möglichen anthropologiefreien Konstruktion des Naturzustandes von Geismann oder Hüning nahelegten. Ein solcher Zustand entsteht – wenn er denn überhaupt aus diesen Gründen der konfligierenden Rechtsansprüche entsteht  – dann auch nur, weil Menschen konfligierende Rechtsansprüche bzw. private Urteile über das Ausmaß ihres Rechtes haben. Auch die Vertreter der beiden untersuchten Deutungsschulen setzen also eine bestimmte Auffassung von der Natur des Menschen voraus. Sie begreifen den Menschen als rationalen Akteur, der die Bedingungen seiner zukünftigen Handlungsmöglichkeiten sicherstellen möchte und zusätzlich ein „Interesse an einer rechtlichen Sicherung“ bzw. ein „Bedürfnis nach der Rechtfertigung seiner Handlungen“ hat. Diese Auffassungen können nun zwar durchaus eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen, weil es einige Textstellen, besonders in den Kapiteln 16 bis 18 des Leviathan gibt, die sich so lesen lassen, als sei der Mensch des Naturzustandes und der Adressat des kontraktualistischen Arguments ein rationaler, an Recht und Rechtfertigung interessierter Akteur. Die Konzentration auf diese Kapitel und Textstellen erweist sich jedoch nicht als zielführend für eine angemessene Rekonstruktion des kontraktualistischen Arguments. Im Folgenden werde ich für die These argumentieren, dass die körper­ basierte Anthropologie, die Hobbes in den ersten Kapiteln des Leviathan entwickelt, die entscheidende Grundlage für das kontraktualistische Argument darstellt und dessen Teilelemente – die Lehre vom Naturzustand, die Lehre von den natürlichen Gesetzen und die Lehre von der Autorisierung – maßgeblich formt. 89 Nida-Rümelin 2008, 89: „Anthropologie, Moralphilosophie und politische Theorie bündeln sich bei Hobbes in der Theorie des Naturzustandes. Die Naturzustandskonzeption, wie sie insbesondere in Kapitel 13 des Leviathan entwickelt wird, kann man als Kondensat der politischen und ethischen Theorie lesen. Dies erklärt, daß gerade die in jüngerer Zeit wieder aufgelebten Kontroversen um eine angemessene Interpretation Hobbes’ in unterschiedlichen Interpretationen des Naturzustandes kulminierten.“ Die These von Nida-Rümelin, nach der das 13. Kapitel ein „Kondensat“ darstellt, wird von der vorliegenden Untersuchung durchaus geteilt. Entgegen einer weitverbreiteten Tendenz, die ersten zwölf Kapitel darüber zu vernachlässigen, geht unsere Untersuchung jedoch davon aus, dass die dem 13. vorhergehenden Kapitel für dessen angemessenes Verständnis absolut zentral sind.

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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a) Die mechanistisch-materialistische Ontologie in Leviathan, Teil I Ein erstes Argument gegen die Möglichkeit einer körperlosen Deutung des kontraktualistischen Arguments kann nun bereits in dem Umstand gesehen werden, dass Hobbes im ersten Teil des Leviathan, der mit „On Man“ überschrieben ist, eine auf einer materialistisch-mechanistischen Ontologie basierende Anthropologie entwickelt, in deren Konsequenz der Mensch als leidenschaftsgetriebener, mit nur instrumenteller Rationalität ausgestatteter Körper beschrieben wird. In diesen Kapiteln entwickelt Hobbes eine Lehre vom natürlichen Menschen, die sich  – wie zu zeigen sein wird  – erheblich auf die Darstellung des Natur­ zustandes auswirken wird. Deutungen, die diesen ersten Teil des Leviathan und die dort entwickelte Anthropologie ausblenden, sind also in der Begründungspflicht, nachzuweisen, dass die dort entwickelte Anthropologie für das Verständnis des vertragstheoretischen Arguments irrelevant ist.90 Hobbes entwickelt im ersten Teil des Leviathan eine mechanistische Ontologie, die die Bewegung von Körpern91 im Raum und deren Auswirkungen zum Inhalt hat. 90 Der einfache Hinweis auf das Vorwort von De Cive oder andere wissenschaftstheore­ tische oder methodische Äußerungen von Hobbes reichen nicht aus, um die Irrelevanzthese zu belegen, wenn gezeigt werden kann, dass die im ersten Teil entworfene Anthropologie Eingang in das kontraktualistische Argument findet und dieser dort eine für das Argument zentrale Rolle zukommt. Auch die Vermutung, Hobbes habe sich von seiner Methode eine systematisch bedeutungslose Anthropologie aufzwingen lassen (Stiening 2005, 105), ist als philosophische Erklärung nicht befriedigend, weil sie gar nicht erst den Versuch macht, dem Autor sachlich gute Gründe für die Konzeption der ersten zwölf Kapitel zu unterstellen. Während die rechtstheoretische Deutung aufgrund ihrer These von der Anthropologiefreiheit die vollkommene Unabhängigkeit des kontraktualistischen Arguments von diesen materialistisch-mechanis­ tischen Grundlagen behauptet und auf die explizite Auseinandersetzung mit diesen Stellen verzichtet, argumentiert Lloyd als Vertreterin der reziprozitätstheoretischen Deutung explizit gegen die These, dass der Mensch bei Hobbes wesentlich von seinem Körper her zu verstehen sei. Vgl. Lloyd 2009, 390: „In this light we can see that Hobbes’s problem of social dis­order cannot be solved by threatening civil punishment for disobedience. People simply aren’t the bodily preservation-centered egoists needed to make that sort of threat motivationally reliable.“ Mit dem durchaus überzeugend klingenden Argument von Lloyd, dass Hobbes anerkennt, dass es Menschen gibt, die – wie Märtyrer – ihr körperliches Überleben geringer schätzen als jenseitiges Heil, und ihrer Schlussfolgerung, dass deshalb die körperbasierte Anthropologie nicht die von Hobbes sein könne, beschäftige ich mich im Kapitel B. III. 2. c) aa). 91 Thomas Spragens, dessen Dissertation eine bemerkenswerte Ausnahme in der ansonsten eher „körpervergessenen“ Hobbes-Forschung darstellt, vertritt die These, dass der neue Begriff der Bewegung das naturphilosophisch entscheidende Motiv sei, welches die Anthropologie von Hobbes stärker als alles andere präge. Vgl. Spragens 1973, 176 f.: „The motif in Hobbes’s view of nature which has the most profound and pervasive carry-over into his psychological and poli­ tical models is his conception of motion. […] The analogical carry-over into the interpretation of human, political phenomena of the new motion-model leads Hobbes to a profoundly significant assumption from which his political theory must begin: men, too, move inertially.“ Auch Christine Chwaszcza (2008, 70 und 75, Hervorhebungen E. O.), folgt Spragens darin explizit und fordert den Interpreten zudem auf, die mögliche systematische Bedeutung dieser Anthropologie für das kontraktualistische Argument zu prüfen: „Der zentrale Begriff der Hobbes­schen

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B. Die politische Logik des Körpers

Die Bewegung menschlicher Körper wird demzufolge über die Bewegung anderer Körper erklärt.92 Dem Gesetz von Druck und Stoß folgend, entstehen aufgrund der Einwirkung äußerer Körper im menschlichen Körper bestimmte Bewegungen. „Ursache der Empfindung ist der äußere Körper oder Objekt, der auf das jeder Empfindung entsprechende Organ drückt, entweder unmittelbar wie beim Schmecken und Fühlen, oder mittelbar, wie beim Sehen, Hören und Riechen. […] Alle diese Qualitäten, die sinnlich genannt werden, stellen in dem Objekt, das sie verursacht, nichts anderes dar als lauter verschiedenartige Bewegungen der Materie, durch die es auf unsere Organe verschiedenartig drückt. Sie sind auch in uns, auf die ein Druck ausgeübt wird, nichts anderes als entsprechend viele Bewegungen, denn eine Bewegung bringt nichts anderes hervor als Bewegung“ (LD 1, 11 f.).

Aufgrund des Grundsatzes der Trägheit der Masse bleibt die von außen kommende Bewegung im menschlichen Körper als Einbildung erhalten.93 Dieses VerNaturphilosophie, also auch der physikalischen Lehre vom Menschen, ist der Begriff der Bewegung (vgl. Spragens 1973). […] Obwohl der argumentative und explanatorische Zusammenhang weniger eng sein mag, als Hobbes selbst dies wohl gedacht hat – die Plausibilität der Hobbesschen Interaktionslogik des Naturzustands setzt nicht notwendig die Übernahme einer materialistisch-mechanistische [sic!] Psychologie voraus –, verlangt eine textangemessene Interpretation, diese systematischen Verbindungen zwischen der mechanistischen Psychologie und der Struktur der Interaktion im Naturzustand sowie der Güterlehre herauszustellen.“ 92 Hobbes beginnt seine langwierige, sich über mehrere Kapitel hinziehende Schilderung der mechanistischen Psychologie gleich im ersten Kapitel mit dem Hinweis, dass die Kenntnis der Entstehung der Bewegungen für den Moment eigentlich gar nicht erforderlich wäre, zumal er sich dazu bereits an anderer Stelle breit geäußert habe: „Die Kenntnis der natürlichen Ursachen der Empfindung ist in diesem Zusammenhang nicht unbedingt erforderlich, und ich habe darüber an anderer Stelle in aller Breite geschrieben. Trotzdem möchte ich sie an diesem Ort kurz darlegen, um jeden Teil meiner vorliegenden Lehre kurz auszuführen“ (LD 1, 11). In methodischer Hinsicht distanziert sich Hobbes also nicht nur im bereits zitierten und von den Vertretern der rechtstheoretischen Deutung gern angeführte Vorwort von De Cive, sondern auch im ersten Kapitel des Leviathan davon, dass die mechanistische Psychologie eine notwendige Voraussetzung für die politische Philosophie sei. Gerade dann ist es aber umso notwendiger, zu fragen, weshalb Hobbes trotzdem so breit und ausführlich über den natürlichen Menschen spricht und diesen und all dessen Fähigkeiten in den Kategorien von Druck und Stoß reformuliert. Ein möglicher Grund, so breit von der mechanistischen Psychologie – die er, wie die Rede von der natürlichen Veranlagung in der Einleitung belegt, selbst gar nicht ausschließlich vertrat – zu sprechen, könnte darin bestehen, dass Hobbes die radikale Anthropologie, die den Menschen als lebendigen, Konsequenzen berechnenden Körper begreift, gar nicht in einem naturwissenschaftlichen Sinn ableiten möchte, sondern in einem rhetorischen Sinn durch stete Wiederholung und wissenschaftliche Einkleidung plausibel machen möchte. Dass eine solche Lehre dem Common Sense, der sich den Dingen vom Tastsinn her nähert, sehr entgegen kommen würde, macht Hobbes ebenso deutlich, wie seine Auffassung, dass stete, mechanische Wiederholung dazu beitragen könnte, eine gewünschte Überzeugung in Köpfen zu installieren, vgl. LD 34, 300; LD 46, 513 und LD 30, 259. 93 „Ist ein Körper einmal in Bewegung, so bewegt er sich ewig, bis ihn etwas anderes bremst, und alles, was die Bewegung bremst, kann sie nicht auf einmal, sondern nur in einer bestimmten Zeit und schrittweise völlig auslöschen. […] Denn nach Entfernen des Objekts oder Schließen der Augen behalten wir immer noch ein Bild des gesehenen Dings zurück, wenn auch dunkler als im Augenblick des Sehens. […] Einbildung ist daher nichts anderes als zerfallende Empfindung und findet sich im Menschen und in vielen anderen Lebewesen im Schlafen so gut wie im Wachen“ (LD 2, 13).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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hältnis äußerer und innerer, durch Druck und Stoß vermittelter Bewegungen bestimmt auch Hobbes’ Auffassung davon, was Denken, Sprache und Vernunft ist. Denken definiert Hobbes als eine Reihenfolge von Gedanken, die der äußeren Abfolge bestimmter, durch Druck und Stoß entstandener Bewegungen korrespondieren: „Aber da in der Empfindung auf ein- und dasselbe wahrgenommene Ding einmal dies, einmal jenes nachfolgt, kommt es bald dazu, daß wir uns bei der Einbildung eines Dings nicht sicher sind, was wir uns als nächstes einbilden werden. Es ist nur gewiß, daß es etwas sein wird, das dem vorangegangenen Ding irgendeinmal nachgefolgt war“ (LD 3, 19).

Das Denken ist insofern abhängig von äußeren Drücken und Stößen. Es hat nichts mit Erkennen oder Verstehen von uns äußerlichen, natürlichen Dingen zu tun, sondern ist beschränkt auf die Wahrnehmung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, die durch Druck und Stoß mit dem eigenen wahrnehmenden Körper verbunden sind. Je größer der Druck bzw. Eindruck gewesen ist, den ein Ding hinterlassen hat, desto zielgerichteter kann das instrumentelle Denken funktionieren.94 Während sich der Mensch als von Drücken und Stößen umhergestoßener Körper in dieser Hinsicht in nichts vom Tier unterscheidet, macht Hobbes auf eine spezifische Fähigkeit des Menschen aufmerksam, die an ein bestimmtes Zeit- bzw. Zukunftsbewusstsein gekoppelt ist. Während auch Tiere eine normale, instrumentelle Vernunft besitzen, d. h. sich an Mittel erinnern können, die einmal eine gewünschte Wirkung hervorgebracht haben, sei es eine Besonderheit menschlichen Denkens, dass der Mensch Dinge hinsichtlich ihres möglichen Mittelcharakters prüfen könne. Während das Tier also, gebunden an seine früheren Eindrücke, nur solche Dinge als Mittel erkennt, die auch in der Vergangenheit einmal Mittel für bestimmte Zwecke waren, kann der Mensch Dinge, die in ihm Eindrücke hinterlassen, hinsichtlich ihres zukünftigen, möglichen Mittelcharakters beurteilen: „Der geregelte Gedankengang besteht aus zwei Arten. Die eine liegt vor, wenn wir nach den Ursachen einer eingebildeten Wirkung oder den Mitteln, die sie hervorbringen, suchen, und dies ist Mensch und Tier gemeinsam. Die andere Art liegt vor, wenn wir bei der Einbildung eines beliebigen Dings nach allen möglichen Wirkungen suchen, die damit hervorgebracht werden können. Das heißt, wir stellen uns vor, was wir damit tun können, wenn wir es haben. Anzeichen von dieser Denkweise habe ich ausschließlich beim Menschen gefunden. Denn es handelt sich dabei um eine Neugier, die kaum zu der Natur eines Lebe­ wesens gehören kann, das nur sinnliche Triebe wie Hunger, Durst, Geschlechtstrieb und Wut besitzt“ (LD 3, 20 f.).

94 „Denn der Eindruck, der von solchen Dingen hervorgerufen wird, die wir wünschen oder fürchten, ist stark und andauernd oder kehrt, wenn er eine Zeitlang aufgehört hat, schnell zurück – manchmal ist er so stark, daß er uns den Schlaf nimmt oder ihn unterbricht. Aus dem Verlangen entsteht der Gedanke an ein Mittel, von dem wir gesehen haben, daß er etwas von der Art des Angestrebten hervorbringt, und aus dem Gedanken daran, ein Gedanke an ein Mittel für dieses Mittel, und so geht es beständig weiter, bis wir auf einen Anfang kommen, der in unserem Machtbereich liegt“ (LD 3, 20).

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B. Die politische Logik des Körpers

Diese Fähigkeit, auch durch Prospektion Dinge zu erkennen, „die in unserem Machtbereich liegen“, d. h. Mittel für zukünftige Zwecke zu identifizieren, und damit die Fähigkeit, dafür zu sorgen, in der Zukunft gezielt gewünschte Wirkungen zu verursachen, ist nun nach Hobbes das entscheidende und auch das einzige Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet. Der Mensch kann seine Fähigkeit, selbst Ursache zu sein und bestimmte Wirkungen hervorzubringen, durch Prospektion extrem steigern. Der Wunsch, seine eigene Macht zu vergrößern und so in Zukunft andere Körper effektiver nach seinem Willen bewegen zu können, ist nach Hobbes etwas spezifisch Menschliches.95 Auch dieser Wunsch ist aber mit dem Körper verbunden, insofern diese Macht erstens auch dazu benutzt werden kann, körperliche Bedürfnisse zu befriedigen. Zweites ist die Grundlage dieses Wunsches zwar etwas Geistiges, Reflexives – eine im Vergleich zu den Tieren andere Verstandesleistung – aber auch diese bleibt zurückgebunden an die Körperlichkeit insofern sie ein reflexives Verhältnis zu sich selbst als Körperwesen voraussetzt. Dieses Körperwesen Mensch wird zwar ebenfalls – wie alle anderen Körperwesen  – von seinen sinnlichen Trieben bewegt; es kann aber bestimmte Bewegungsgesetze, denen es selbst unterliegt, erkennen und für sich ausnutzen, indem es Dinge hinsichtlich ihres möglichen Mittelcharakters prüft und so seine Macht vergrößert. 95

Nach Strauss stellt diese Lehre über den natürlichen Menschen eine entscheidende Grundlage der politischen Theorie von Hobbes dar: „On the other hand, Hobbes is able to deduce from his definition of man his characteristic doctrine of man: man alone can consider himself as a cause of possible effects, i. e. man can be aware of his power; he can be concerned with power, he can desire to possess power […]“ (Strauss 1959, 176). Bemerkenswerterweise stimmt Stiening, der das Strauss-Problem zwar als Ausgangspunkt seines Aufsatzes nimmt, sich mit Strauss’ komplexer Hobbes-Interpretation aber sachlich nicht näher auseinandersetzt – vielleicht weil, wie er schreibt, „die eigentlich weltanschauliche Ausrichtung der Ausführungen Straussens“ bekannt sei (Stiening 2005, 62) – in diesem Punkt (der Zentralität des Macht­strebens) mit Strauss überein. Diese sachliche Übereinstimmung stellt jedoch nicht nur seine in Anlehnung an die rechtstheoretische Deutung formulierte Prämisse der logischen Unabhän­gigkeit der Staatsphilosophie von der Anthropologie in Frage. Sondern es kann ebenfalls danach gefragt werden, ob nicht auch Stienings Ausführungen an dieser Stelle bestimmte weltanschauliche Prämissen voraussetzen, wenn er – in diesem Punkt völlig anders als Strauss – Hobbes für dessen Leistung rühmt, das Machtstreben der Menschen moralisch geadelt und zudem demokratisiert zu haben: „Entgegen den leicht moralinsauren Interpretationen der Hobbesschen Machtkonzeption […] muß vielmehr betont werden, daß es eine der bedeutenden Leistungen des Thomas Hobbes ausmacht, das bei Machiavelli noch auf politische Funktionsträger eingeschränkte […] Machtkalkül anthropologisiert zu haben“ (Stiening 2005, 103, n 248). ­Stiening scheint dem Bemühen von Hobbes, das Machtstreben als ein unschuldiges, moralisch un­angreifbares Streben zu etablieren, weil es eine notwendige Konsequenz „der ontologischen Grundbestimmung des Menschen“ sei, insofern durchaus zu folgen: „Dieses Kalkül macht den Menschen keineswegs zu einer machtversessenen Bestie […], sondern zu einem kühlen Berechner seiner Interessen auf eine möglichst weit in die Zukunft ausgedehnte Erhaltung seiner selbst, auf die er – daran sei erinnert – aufgrund seiner ontologischen Grundbestimmungen verpflichtet ist“ (Stiening 2005, 103). Eine in Hinblick auf das Machtstreben sowohl von Strauss als auch von Stiening abweichende Deutung wird im Kapitel B. III. 2. b) und B. III. 2. c) entwickelt.

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Während Hobbes also einerseits einen prinzipiellen Unterschied zwischen Mensch und Tier annimmt, verwendet er auf der anderen Seite auffällig viel Mühe darauf, zu behaupten, dass der Mensch dennoch – ebenso wie das Tier – ein primär leidenschaftsbewegter Körper sei. Er betont ausdrücklich, dass dies der einzige natürliche Unterschied zwischen Menschen und Tieren als bewegten Körpern sei und dass alle anderen Unterschiede auf Erfindungen des Menschen zurückgehen würden. Der Mensch ist also, wie auch das Tier, nichts anderes als ein durch Drücke und Eindrücke bewegter Körper96 – mit dem einzigen Unterschied, dass der Mensch bestimmte Eindrücke auch prospektiv hinsichtlich ihres Mittel­charakters prüfen kann. „Ich kann mir keine andere Tätigkeit des menschlichen Geistes denken, die ihm so von Natur eingepflanzt worden wäre, daß zu ihrer Ausübung nichts weiter erforderlich ist, als daß man als Mensch geboren ist und seine fünf Sinne gebrauchen kann. Jene anderen Fähigkeiten, auf die ich gleich nachher zu sprechen komme und die allein dem Menschen eigen zu sein scheinen, werden durch Lernen und Fleiß erworben und vergrößert, von den meisten Menschen mit Hilfe von Unterricht und Zucht gelernt und ergeben sich alle aus der Erfindung von Wörtern und der Sprache. Denn außer Empfindung, Gedanken und Gedankengang kennt der menschliche Geist keine Bewegung, obwohl diese Fähigkeiten mit Hilfe von Sprache und Methode auf eine solche Höhe gebracht werden können, daß man die Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheiden kann“ (LD 3, 22 f.).

Die Erfindung von Sprache und Methode sei nun die Voraussetzung dafür, immer komplexere Ursachen-Wirkungszusammenhänge zu erkennen und für sich zu nutzen. Dabei geht es nach wie vor nicht darum, die Welt als etwas vom Menschen Verschiedenes zu erkennen, sondern Sprache und Benennungen dienen dazu, Rechnungen im Dienste individuell nützlicher Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge zu erstellen. Allgemeine Dinge gibt es nicht.97 Namen dienen dazu, mit den Folgen von Benennungen zu rechnen.98 Der Zweck dieses Rechnens mit Namen ist – angesichts einer ohnehin nicht zu verstehenden Welt – das menschliche Wohlergehen: „So gibt es also ohne Wörter keine Möglichkeit, mit Zahlen zu rechnen, noch weniger mit Größen, Geschwindigkeiten, Kräften und anderen Dingen, deren Berechnung für den Bestand oder die Wohlfahrt der Menschheit notwendig sind“ (LD 4, 27, Hervorhebungen E. O.). 96

Ausdrücklich stellt Hobbes den Menschen als leidenschaftsbewegten Körper auf eine Stufe mit dem Tier, wenn er bestimmte logische Fähigkeiten – das Verstehen und das Über­ legen – als dem Tier und dem Menschen gemeinsam beschreibt: „Die Einbildung, die im Menschen oder in anderen Lebewesen, die Einbildungskraft besitzen, durch Wörter oder andere willkürliche Zeichen entsteht, nennen wir gewöhnlich Verstehen, und sie ist Mensch und Tier gemeinsam. Denn ein Hund wird durch Gewöhnung den Ruf oder das Schelten seines Herrn verstehen, ebenso wie viele andere Tiere“ (LD 2, 18). „Diese abwechselnde Folge von Neigungen, Abneigungen, Hoffnungen und Befürchtungen kommt bei anderen Lebewesen genauso vor wie bei Menschen und deshalb überlegen auch Tiere“ (LD 6, 46). 97 „Es ist nämlich auf der Welt nichts allgemein außer den Namen, denn jedes benannte Ding ist individuell und einzeln“ (LD 4, 26). 98 „Indem wir Namen von weiterer und engerer Bedeutung einführen, verwandeln wir das Rechnen mit den Folgen der im Geist eingebildeten Dingen [sic!] in ein Rechnen mit den Folgen von Benennungen“ (LD 4, 26).

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B. Die politische Logik des Körpers

Auch die Wissenschaft wird folgerichtig als eine auf der Erfindung von Sprache und Methode beruhende Kunst des Berechnens verstanden. Der Anfang der Wissenschaft besteht darin, Namen richtig zu definieren,99 was von Hobbes zugleich auch als spezifische „Methode“ des Denkens bezeichnet wird.100 Auffallend ist, dass Hobbes nicht nur den Unterschied zwischen Mensch und Tier für gering erachtet, sondern, zumindest vordergründig,101 auch von einer prinzipiell gleichen Fähigkeit der Menschen zu denken – d. h. mit Namen zu rechnen – ausgeht. Nach seiner Besprechung häufig auftretender logischer Fehler von Philosophieprofessoren und der Definition der Wissenschaft über die Methode der Geometrie behauptet Hobbes, dass alle Menschen von Natur aus gleich und gut denken würden, wenn man ihnen nur richtige Prinzipien bzw. eine richtige Methode geben würde: „Wer diese Dinge vermeiden kann, wird sich nicht leicht in Widersinnigkeiten verwickeln, es sei denn, durch die Länge einer Rechnung, in der er vielleicht vergessen hat, was vorausgesetzt war. Denn alle Menschen denken von Natur aus gleich und gut, wenn sie gute Prinzipien haben. Denn wer ist so dumm, dass er auf einem Fehler, den er in der Geometrie gemacht hat, auch dann noch beharrt, wenn ihm ein anderer seinen Fehler zeigt?“ (LD 5, 36)

Hobbes spricht sich also an dieser Stelle dezidiert dagegen aus, dass es angeborene Begabungsunterschiede zwischen Menschen gebe. Als Körperwesen sind sich die Menschen in ihrer Vernunft prinzipiell gleich. Fleiß und Methode seien die notwendigen Voraussetzungen, das Denken auf eine solche Höhe zu bringen, dass es damit möglich sei, den Menschen vom Tier zu unterscheiden.102 Wissen 99 „So wird also die Sprache zuerst dazu gebraucht, die Namen richtig zu definieren: hierin liegt der Anfang aller Wissenschaft“ (LD 4, 28). 100 In der Besprechung mangelhafter Formen des Denkens, die Hobbes als ein Privileg des Widersinns charakterisiert, dem vor allem Professoren für Philosophie ausgesetzt wären, charakterisiert Hobbes das Einführen von Definitionen als eine Methode: „Denn keiner von ihnen stellt Definitionen oder Erklärungen der Namen, die er benützen will, an den Anfang seines Denkens. Diese Methode wurde nur in der Geometrie angewandt, wodurch ihre Schlußfolgerungen unbestreitbar geworden sind. Die erste Ursache absurder Schlüsse liegt meines Erachtens im Mangel an Methode. Sie gehen nämlich beim Denken nicht von Definitionen aus, das heißt, von festgesetzten Bedeutungen ihrer Wörter […]“ (LD 5, 35). 101 Dass Hobbes durchaus Unterschiede in den menschlichen Verstandeskräften annimmt, die auf der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften basieren, wird in Kapitel B. III. 2. a) dd) und B. III. 2. b) aa) gezeigt werden. Ein möglicher Grund dafür, dass Hobbes – obwohl er von einer Verschiedenheit der menschlichen Verstandeskräfte ausgeht – dennoch die intellektuelle Gleichheit der Menschen an zahlreichen Stellen lautstark betont, wird dort ebenfalls erörtert. 102 „Hieraus ergibt sich, daß uns die Vernunft weder angeboren ist wie Empfindung und Gedächtnis, noch durch bloße Erfahrung erworben wird wie die Klugheit. Sie wird vielmehr durch Fleiß erlangt: zuerst durch passendes Belegen mit Namen, zweitens durch Aneignung einer guten und systematischen Methode des Fortschreitens von den Elementen, den Namen, zu Behauptungen, die dadurch entstehen, daß man einen Namen mit einem anderen verbindet, und ebenso zu Syllogismen, den Verbindungen einer Behauptung mit einer anderen, bis wir alles kennen, was aus den Namen folgt, die dem in Frage stehenden Gegenstand zugehören. Und eben dies nennt man Wissenschaft“ (LD 5, 36).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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schaft ist also kein Erkennen der Natur oder ein Verstehen bestimmter Dinge, sondern in erster Linie ein Berechnen von Folgen, um gewünschte Wirkungen hervorzubringen, zu dem prinzipiell alle Menschen genauso in der Lage sind.103 Während Vernunft und Wissenschaft auf der einen Seite also sehr einfach zu sein scheinen, weil sie nur etwas Fleiß und eine angemessene Methode erfordern, ist ihre Leistungsfähigkeit auf der anderen Seite denkbar gering. Der erkenntnistheoretische Skeptizismus, der aus Hobbes materialistisch-mechanistischer Ontologie folgt, ist ungeheuer groß: Hobbes ist Nominalist. Weil es aber nie möglich sein wird, zu erkennen, welche Rechnung mit Namen eine richtige Rechnung ist, wenn zwei verschiedene Menschen mit der Rechenmethode des Namenrechnens zu verschiedenen Ergebnissen gelangen, bleibt als praktische Problemlösung konkurrierender Wahrheitsansprüche nur eine Autoritätstheorie der Wahrheit. Die politischen Folgen der korporealistischen, mechanistisch-materialistischen Ontologie und der davon abgeleiteten Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie werden bereits im ersten Teil des Leviathan, benannt. Es bedarf einer Autorität, zu der sich die Menschen bekennen, um konkurrierende Wahrheitsansprüche konfliktfrei ­lösen zu können. „Und wie in der Arithmetik Ungeübte irren müssen und selbst Professoren sich oftmals täuschen und falsch rechnen können, so können auch bei anderen Gegenständen des Denkens die fähigsten, aufmerksamsten und geübtesten Leute sich täuschen und zu falschen Schlüssen kommen. Nicht als ob die Vernunft nicht immer rechte Vernunft wäre, so gut wie die Arithmetik eine sichere und untrügliche Kunst ist: Die Sicherheit ergibt sich aber weder aus der Vernunft eines einzelnen noch aus der irgendeiner Anzahl von Menschen – ebensowenig wie eine Rechnung deshalb richtig durchgeführt worden ist, weil sie von einer großen Anzahl von Menschen übereinstimmend für richtig befunden wurde. Und deshalb müssen die Parteien bei einem Streit über eine Rechnung durch eigene Übereinkunft die Vernunft eines Schiedsrichters oder Richters, zu dessen Urteil sie beide stehen wollen, als rechte Vernunft einführen, oder ihr Streit muß entweder zu Handgreiflichkeiten führen oder unentschieden bleiben, da es keine von der Natur eingesetzte rechte Vernunft gibt“ (LD 5, 33).

Die anthropologischen Prämissen scheinen also nicht nur nicht unwichtig, sondern gerade die entscheidende Voraussetzung zum Verständnis des kontraktualistischen Arguments zu sein: Nur weil Menschen als gestoßene Körper innerhalb eines mechanistisch funktionierenden Universums mit anderen Körpern durch Druck und Stoß interagieren, und das Universum also keine vom Menschen unabhängige Ordnung darstellt, die erkannt werden könnte, erhält das Problem der konkurrierenden Urteile eine solche Dringlichkeit. Dass Menschen unterschiedliche Meinungen – zum Beispiel in Bezug auf die Richtigkeit einer Rechnung – haben, 103 „Und während Empfindung und Erinnerung nur Kenntnis von Tatsachen ist, das heißt von Vergangenem und Unwiderruflichen, ist Wissenschaft die Kenntnis dessen, was aus einer Tatsache für eine andere folgt und wie die eine von einer anderen abhängt. Durch sie erkennen wir aus dem, was wir gegenwärtig tun können, wie etwas anderes oder dasselbe zu einem anderen Zeitpunkt anzufassen ist, wenn wir wollen. Denn sehen wir, durch welche Ursachen und auf welche Weise etwas zustande kommt, so sehen wir auch, wie wir die gleichen Ur­ sachen veranlassen können, die gleichen Wirkungen hervorzubringen, wenn sie in unsere Gewalt kommen“ (LD 5, 36).

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B. Die politische Logik des Körpers

ist an sich noch kein Grund zu Streit und Kampf. Das Problem entsteht, wenn die Vernunft prinzipiell keine Möglichkeit hat, bei solchen konkurrierenden Rechen­ ergebnissen mit Bestimmtheit richtig von falsch zu unterscheiden. Wenn nichts allgemein ist außer den Namen und die höchste menschliche Verstandesfähigkeit darin besteht, Methoden zu erfinden, kann über die Richtigkeit von Rechenergebnissen keine Einigkeit erzielt werden. Weil eine Methode aus sich heraus noch nicht die Richtigkeit des Rechenergebnisses garantiert, sondern eine richtige Anwendung der Methode voraussetzt, diese richtige Anwendung der Rechenregeln aber selbst nicht methodisch bestimmt werden kann, sind alle Rechenergebnisse letztlich ungewiss. Die menschliche Vernunft ist also angesichts unterschiedlicher Rechenergebnisse machtlos und kann einen Streit über verschiedene Rechenergebnisse nicht vermitteln, indem sie etwa logisch und für die am Streit beteiligten Parteien nachvollziehbar zeigt, wer von den streitenden Parteien die der Aufgabenstellung angemessenen Rechenregeln richtig angewendet hat.104 Aus der materialistisch-mechanistischen Ontologie folgt, wie Hobbes in seiner Erläuterung fortfährt, auch ein ethischer Relativismus, auf dessen politische Bedeutung Hobbes in diesem Zusammenhang auch dezidiert hinweist. Hobbes rekonstruiert auf der Basis des Paradigmas seiner materialistisch-mechanistischen Ontologie nicht nur Denken und Handeln, sondern auch die Leidenschaften als durch äußere Körper entstandene Bewegungen. Er unterscheidet im sechsten Kapitel zunächst verschiedene Arten der Bewegungen innerhalb des menschlichen Körpers: Auf der einen Seite gibt es Bewegungen, die durch die Zeugungsbewegung zweier Körper angestoßen wurden und seitdem ununterbrochen weiterlaufen; diese Art der Bewegungen nennt Hobbes vital.105 Auf der anderen Seite existieren Bewegungen im Körper, die, angestoßen von äußeren Körpern, durch Eindrücke mitverursacht werden. Diese andere Bewegungsart nennt Hobbes animalische Bewegung.106 Auch in diesem Kontext macht Hobbes aber unmissverständlich 104 Stellt die Ohnmacht der Vernunft einen Grund dafür dar, warum Konflikte die entstehen, gar nicht gelöst werden können, ist die notwendige instrumentelle Gerichtetheit der Vernunft ein Grund dafür, dass Konflikte über die sachliche Richtigkeit eventuell gar nicht gelöst werden wollen: Im Fortgang des Rechenbeispiels macht Hobbes deutlich, dass die Menschen vielleicht gar nicht an der Wahrheit, sondern an dem persönlichen Nutzen eines Rechenergebnisses interessiert sind: „Wenn ein Familienvater beim Aufstellen einer Rechnung die Summen aller einzelnen Rechnungen zusammenzählt, ohne darauf zu achten, wie jede einzelne Rechnung von den Ausstellern addiert worden war, noch darauf, wofür er bezahlt, so nützt er sich damit nicht mehr, als wenn er mit der Aufstellung einer ungefähren Rechnung einverstanden wäre und dabei der Geschicklichkeit und Ehrlichkeit der Aussteller vertraute“ (LD 5, 33 f.). 105 „In den Tieren gibt es zwei Arten von Bewegungen, die ihnen eigentümlich sind. Die eine wird vital genannt; sie begann mit der Zeugung und setzte sich ununterbrochen durch das ganze Leben fort. Dazu gehören Blutkreislauf, Pulsschlag, Atmung, Verdauung, Ernährung, Ausscheidung usw. Diese Bewegungen bedürfen keiner Unterstützung durch die Vorstellungskraft“ (LD 6, 39). 106 „Die andere Art heißt animalische Bewegung, auch willentliche Bewegung genannt, wie Gehen, Sprechen, das Bewegen eines unserer Glieder auf die Weise, wie wir es zuerst in unserem Geist vorgestellt hatten“ (LD 6, 39).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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deutlich, dass es sich hierbei nicht um Handlungen eines freien oder ungerichteten Willens handelt, sondern dass diese Bewegung ihre Ursache in Körpern hat, die auf unsere Sinnesorgane gedrückt und dadurch eine Empfindung in uns hinterlassen haben. Die Vorstellung ist also nur der erste innere Anfang der Bewegung, die ihren eigentlichen Anfangspunkt in den außerhalb von uns liegenden Körpern hat.107 Wenngleich diese durch äußere Materie angestoßenen, wiederum als Bewegung von Materie ablaufenden Prozesse vielleicht nicht wahrnehmbar sind,108 existieren sie im menschlichen Körper und bewegen diesen in verschiedene Richtungen: „Dieses Streben nennt man Trieb oder Verlangen, wenn es auf etwas gerichtet ist, durch das es verursacht wird. […] Und führt das Streben von etwas weg, so nennt man es gewöhnlich Abneigung“ (LD 6, 39 f.).

Für die Argumentation der Vertragstheorie entscheidend ist nun der sich auf der Basis dieser materialistisch-mechanistischen Psychologie ergebende ethische Relativismus. Weil Menschen sich als Körper, die durch die Bewegung anderer Körper bewegt werden, ständig verändern, ist es weder so, dass alle Dinge in einem menschlichen Körper immer die gleichen Triebe oder Abneigungen hervorrufen, noch so, dass die gleichen Dinge bei verschiedenen Menschen immer die gleichen Triebe oder Abneigungen hervorrufen: „Und weil die Verfassung des menschlichen Körpers sich fortwährend ändert, ist es unmöglich, daß alle Dinge in ihm immer die gleichen Neigungen oder Abneigungen verursachen. Noch viel weniger können alle Menschen in dem Verlangen nach ein und demselben Objekt übereinstimmen“ (LD 6, 40).

Menschliche Körper streben also nach verschiedenen Dingen. Weil Menschen immer das gut nennen, was sie erstreben und das böse, was sie vermeiden wollen, werden sich die Menschen nie einig über Gut und Böse sein. Dieser ethische Relativismus, der sowohl aus dem erkenntnistheoretischen Skeptizismus und darauf basierenden Nominalismus, wie auch aus der Verschiedenheit menschlicher Strebungen resultiert, hat nun unmittelbar politische Konsequenzen, insofern er zu Uneinigkeit führt. Selbst wenn Hobbes an dieser Stelle noch nicht über den gewaltsamen Kampf oder Krieg des Naturzustandes spricht, leitet er aus dem ethischen Relativismus bereits im sechsten Kapitel die Konsequenz ab, dass es einen Staat geben müsse, der die Uneinigkeit beendet: 107 „Daß Empfindung eine Bewegung in den Organen und inneren Teilen des menschlichen Körpers ist, hervorgerufen durch die Wirkung der Dinge, die wir sehen, hören, usw., und die Vorstellung nur die Überreste derselben Bewegung, die nach der Empfindung zurückbleiben, wurde schon im ersten und zweiten Kapitel gesagt. Und weil Gehen, Sprechen und ähnliche willentliche Bewegungen immer von einem vorher gedachten Wohin, Wodurch, und Was ­abhängen, ist es klar, daß die Vorstellung der erste innere Anfang aller willentlichen Bewegung ist“ (LD 6, 39). 108 „Und obwohl Laien sich dort, wo das bewegte Ding unsichtbar oder die Strecke, auf der es bewegt wird, wegen ihrer Kürze nicht wahrnehmbar ist, überhaupt keine Bewegung vorstellen können, so verhindert dies doch nicht, daß solche Bewegungen existieren“ (LD 6, 39).

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B. Die politische Logik des Körpers „Aber was auch immer das Objekt des Triebes oder Verlangens eines Menschen ist: Dieses Objekt nennt er für seinen Teil gut, das Objekt seines Hasses und seiner Verachtung böse und das seiner Verachtung verächtlich und belanglos. Denn die Wörter gut, böse und verächtlich werden immer in Beziehung zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts, das schlechthin und an sich so ist. Es gibt auch keine allgemeine Regel für gut und böse, die aus dem Wesen der Objekte selbst entnommen werden kann. Sie entstammt vielmehr dort, wo es keinen Staat gibt, der Person des Menschen, oder im Staat der Person, die ihn vertritt, oder aber einem Schiedsrichter oder Richter, den uneinige Menschen durch Übereinstimmung einsetzen und dessen Urteil sie zur Richtschnur machen“ (LD 6, 41).

Wie schon beim Denken nur ein einziger Unterschied zwischen Menschen und Tieren als leidenschaftsbewegten Körpern existiert, unterscheiden sich die Menschen auch in ihren Handlungen prinzipiell nicht von den Tieren. Sie sind Körper, in denen äußere Drücke Eindrücke und eine Bewegungsrichtung – entweder auf das Ding, das den Eindruck hinterlassen hat, hin oder davon weg – erzeugen.­ Hobbes reformuliert nun nicht nur das Denken und Verstehen in den Kategorien von Druck und Stoß, sondern beschreibt folgerichtig auch menschliche Handlungen als Ergebnis einer Abfolge bestimmter Drücke und Eindrücke. Bevor der menschliche Körper sich in Bewegung setzt, wird sein Geist durch das „Berechnen“ möglicher Handlungsfolgen bewegt. Es ist eine Bewegung, die dem Gesetz der Reihenfolge der Eindrücke folgt und die unabhängig vom menschlichen Zutun im menschlichen Geist „entsteht“ und vom Menschen nicht gesteuert wird, die von Hobbes „Überlegung“ genannt wird: „Entstehen im menschlichen Geist abwechslungsweise Neigungen und Abneigungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die ein- und dasselbe Ding betreffen, und fallen uns nacheinander gute und schlechte Folgen ein, die sich ergeben, wenn wir das in Frage stehende Ding tun oder unterlassen, so daß wir manchmal eine Neigung dazu, manchmal eine Abneigung dagegen verspüren und manchmal hoffen, dazu in der Lage zu sein, dann wieder verzweifeln oder uns davor fürchten, es zu versuchen, so nennen wir die gesamte Summe der Verlangen, Abneigungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die sich fortsetzen, bis das Ding entweder getan oder für unmöglich gehalten wird, Überlegung“ (LD 6, 46).

Dieses durch äußere Drücke entstehende und von selbst ablaufende Überlegen ist nichts spezifisch Menschliches, wie Hobbes dezidiert betont.109 Die Vorstellung einer prinzipiellen Freiheitsfähigkeit des Menschen wird von Hobbes in dieser Rekonstruktion des menschlichen Selbstverständnisses auf der Basis materialistischmechanistischer Kategorien zwar dem Begriff nach aufrecht erhalten, aber grundlegend in ihrer Bedeutung verändert: Bevor die Handlung des Menschen beginnt, ist eine Freiheit insofern vorhanden, als das Ergebnis der Überlegung noch nicht feststeht und folglich noch unklar ist, ob überhaupt gehandelt wird. Es ist eine Freiheit der Unentschiedenheit, die in dem Hin- und Hergerissen-Werden zwischen verschiedenen Neigungen und Abneigungen besteht und die solange anhält, bis 109 „Diese abwechselnde Folge von Neigungen, Abneigungen, Hoffnungen und Befürchtungen kommt bei anderen Lebewesen genauso vor wie beim Menschen und deshalb überlegen auch Tiere“ (LD 6, 46).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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sich eine stärkere Neigung bzw. ein stärkerer Eindruck durchsetzt.110 Hobbes gibt eine angeblich etymologische Bestimmung des Wortes Überlegung (deliberation) und führt damit in sein deterministisches Handlungsverständnis einen gewissen Begriff von Freiheit ein: „Und Überlegung wird dies deshalb genannt, weil es der Freiheit, es je nach unserer Neigung oder Abneigung zu tun oder zu unterlassen, die wir zuvor hatten, ein Ende setzt. […] Jede Überlegung wird dann als beendet bezeichnet, wenn der Gegenstand der Überlegung entweder verwirklicht oder für unmöglich gehalten wird, da wir bis zu diesem Zeitpunkt im Besitz der Freiheit bleiben, je nach unserer Neigung und Abneigung zu handeln oder nicht zu handeln“ (LD 6, 46).111

Auch der Begriff des Willens wird von Hobbes zwar aufrechterhalten, seine Bedeutung aber radikal umgeschrieben. Hobbes selbst markiert die Differenz zu einem traditionellen Verständnis, wenn er sich dagegen ausspricht, unter einem Willen eine „vernünftige Neigung“ zu verstehen. Der Wille wird als letzte Neigung oder Abneigung in einer Kette von verschiedenen Neigungen und Abneigungen verstanden, nicht aber als eine von diesen Neigungen unabhängige Sache. „Die letzte Neigung oder Abneigung bei einer Überlegung, die unmittelbar mit der Handlung oder Unterlassung zusammenhängt, nennt man den Willen, und zwar handelt es sich dabei um den Akt, nicht um die Fähigkeit des Wollens. Und Tiere, die überlegen können, müssen notwendig auch Willen besitzen. Die Definition des Willens, die gewöhnlich von den Schulen gegeben wird, daß er nämlich eine vernünftige Neigung sei, ist nicht richtig. Denn wäre dies so, dann könnte es keinen gegen die Vernunft gerichteten Willensakt geben. Denn ein Willensakt ist das, was aus dem Willen hervorgeht, und nichts anderes. Aber sagen wir statt vernünftiger Neigung eine Neigung, die sich aus einer vorhergegangenen Überlegung ergibt, dann ist dies dieselbe Definition, die ich hier gegeben habe. Wille ist deshalb die Neigung, die beim Überlegen am Schluß überwiegt“ (LD 6, 46 f.). 110 Fraglich ist deshalb, ob in diesem Kontext wirklich von einer Handlungsfreiheit des Menschen gesprochen werden kann, wie dies Chwaszcza 2008, 80 tut. Allerdings räumt auch Chwaszcza gewisse Zweifel an ihrer eigenen Deutung ein, insofern sie betont, dass der Erfolg des Hobbes’schen Versuches, Freiheit und Handlungsfreiheit materialistisch zu verstehen, eine eingehendere Überprüfung erfordern würde: „Offensichtlich versucht Hobbes hier, vertraute Positionen unseres praktischen Selbstverständnisses auf der Grundlage seines Materialismus zu rekonstruieren. Ob dieses Unternehmen gelungen oder gescheitert sind [sic!], muß hier offen bleiben. Die Beantwortung dieser Frage verlangt eine umfassende systematische Analyse, die hier nicht geleistet werden kann“ (Chwaszcza 2008, 81, n.1). 111 Die Übersetzung stammt von mir, weil in diesem Fall die Euchner’sche Übersetzung die Gebundenheit des Willens nicht so deutlich betont, wie das englische Original: Während Hobbes schreibt, dass das Tun oder Unterlassen von der jeweiligen Neigung oder Abneigung abhinge und es die Überlegung sei, die der Freiheit ein Ende setze („And it is called Deliberation; because it is a putting an end to the Liberty we had of doing, or omitting, according to our own Appetite or Aversion.“ L 6, 28, 92) übersetzt Euchner die Stelle so, als ob die Menschen als handelnde und denkende Akteure („wir“) der Freiheit ein Ende setzen würden und als ob nicht das Tun von der Neigung abhängig sei und hervorgebracht werde, sondern als ob die Freiheit mit der jeweiligen Neigung zusammenhinge: „Und Überlegung wird dies deshalb genannt, weil wir damit der Freiheit unseres Tuns oder Unterlassens, die wir zuvor je nach unserer Neigung oder Abneigung hatten, ein Ende setzen“ (LD 6, 40).

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B. Die politische Logik des Körpers

Nach dieser Bestimmung von Freiheit und Wille folgt, dass alle Handlungen freiwillige bzw. willentliche Handlungen sind, d. h. dass es per definitionem keine unfreien oder unwillentlichen Handlungen geben kann: Wenn der Wille als handlungsauslösende Kraft bestimmt wird, muss jeder Handlung als einer leidenschaftsgetriebenen Bewegung notwendigerweise ein Wille vorausgehen. Hobbes zieht diese Konsequenz ausdrücklich, indem er sogar eigens Beispiele für Handlungen anführt, die von verschiedenen Leidenschaften verursacht wurden: „Daraus ergibt sich klar, daß nicht nur Handlungen, die Habgier, Ehrgeiz, Lust oder anderen Neigungen zu dem in Frage stehenden Ding entspringen, willentliche Handlungen sind, sondern auch diejenigen, welche aus Abneigung oder Furcht vor den Folgen einer Unterlassung entstehen“ (LD 6, 47).

Ebenso wie ein Hund frei und willentlich „handelt“, der von seiner Hoffnung auf eine wohlschmeckende Wurst und der Befürchtung vor den Schlägen seines Herrn innerlich hin- und herbewegt wird und den dann die Neigung nach der Wurst, weil sie stärker als alle anderen ist, überwältigt, handeln gemäß dieser Bestimmung auch Menschen frei und willentlich, die sich – hin und hergerissen zwischen der Furcht vor körperlicher Verletzung und der Hoffnung auf freien, unbehelligten Genuss  – aus Furcht vor dem gewaltsamen Tod einem Angreifer unterwerfen. Die mechanistische Psychologie, die über die Vorstellung eines von Leidenschaften bewegten Körpers zu einer deterministischen Handlungstheorie und einem spezifischen Freiheitsbegriff führt, hat fundamentale politische Konsequenzen. Wir werden im Fortgang dieser Arbeit noch sehen, dass der dergestalt durch die Umkehrung traditioneller Freiheitsbegriffe gewonnene Freiheitsbegriff für Hobbes’ Vertragstheorie von entscheidender Bedeutung ist, allerdings in anderer Hinsicht, als es beispielsweise von Chwaszcza vermutet wird.112 112 Während Chwaszcza die These vertritt, dass der Mensch nach Hobbes frei in seinen Handlungen wäre und dies eine Voraussetzung der Vertragstheorie sei, werden wir sehen, dass der Mensch nicht frei in seinen Handlungen ist, sondern die Rede von Freiheit und Verpflichtung von Hobbes vor allem benutzt wird, an die Dummheit bzw. das Pflichtgefühl bestimmter Menschen zu appellieren. Chwaszcza rekonstruiert Hobbes’ Theorie der Deliberation so, dass sie eine prinzipielle Freiheitsfähigkeit des Menschen zulässt und damit eine Theorie der Verpflichtung, wie es die Vertragstheorie ist, möglich macht: „Für das staatsphilosophische Argument Hobbes’ ist jedoch einzig entscheidend, daß der Mensch diese Deliberationsfähigkeit prinzipiell besitzt; denn damit enthält er genau die Voraussetzung, die er als Subjekt des natürlichen Konfliktzustandes und des Staatsgründungsvertrags benötigt. Die im Deliberationsvermögen begründete Handlungsfreiheit gestattet ihm, sein Handeln von den aktualen und konkreten Neigungen abzukoppeln und an prospektiven und allgemeinen Überlegungen zu orientieren“ (Chwaszcza 2008, 81). Chwaszcza rekonstruiert die Deliberation also nicht als einen von selbst ablaufenden Prozess, sondern als eine von Menschen besessene und ausgeübte Fähigkeit bzw. Tätigkeit. Allerdings widerspricht sich Chwaszcza selbst, indem sie einerseits behauptet, dass es die Deliberationsfähigkeit sei, die zur Handlungsfreiheit des Menschen führe, und damit die Voraussetzung für das staatsphilosophische Argument sei, auf der anderen Seite aber deutlich macht, dass es nicht die Deliberationsfähigkeit sein kann, die den Menschen vom Tier unterscheidet, weil sie zugibt, dass sowohl Tier als auch Mensch diese Fähigkeit besäßen und dennoch nur das Tier funktioniere wie ein Automat – folglich kann es

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Die Zentralität des Körpers als grundlegendem Paradigma der materialistischmechanistischen Ontologie und als dasjenige Paradigma, welches aus der Natur­ philosophie übernommen wird und auf die politische Philosophie angewendet wird, tritt ebenfalls in Hobbes’ Einteilung der verschiedenen Wissensgebiete im neunten Kapitel hervor, in dem – entsprechend der Aufteilung der Wissenschaften in De Corpore – zwischen Naturphilosophie und politischer Philosophie unterschieden wird: Die Wissenschaft handelt von Körpern, die durch ihre Entstehungsart  – natürliche Körper und künstliche bzw. politische Körper  – unterschieden werden. Der Mensch wird also in den ersten Kapiteln des Leviathan geschildert als ein Körper, der durch andere Körper direkt oder durch Eindrücke, die er von anderen Körpern erhalten hat, indirekt bewegt wird. Die Handlungsfreiheit des Menschen währt immer so lange, wie der Widerstreit der Neigungen in ihm andauert und noch keine Neigung sich durchgesetzt hat, die ihn zum Handeln antreibt. Im Gegensatz zum Tier kann der Mensch aber nicht nur Dinge, die er in ihrer Mittelwirkung bereits einmal als solche kennengelernt hat, wiedererkennen (wie der Hund die Wurst als Mittel der Hungerbefriedigung) sondern er kann auch die Dinge, die auf seine Wahrnehmung drücken und bis dahin noch keine Mittel für seine Bedürfnisbefriedigung waren, als solche möglichen Mittel wahrnehmen. Er sichert sich also Dinge, die nicht der unmittelbaren, sondern der späteren Bedürfnis­ befriedigung dienen, d. h. er strebt nach Macht. Diese Charakterisierung des Menschen erfährt Bestätigung durch Hobbes’ berühmte Definition der Glückseligkeit. Ganz in Übereinstimmung mit der These vom ständigen Wechsel der Körperkonstitution, die zu einem ständigen Wechsel der Neigungen und Abneigungen führt, bestimmt Hobbes die Glückseligkeit als ein permanentes Fortschreiten des Ver­ langens von einem Gegenstand zum nächsten: „Hierbei haben wir zu beachten, daß die Glückseligkeit dieses Lebens nicht in der zufriedenen Seelenruhe besteht. Denn es gibt kein finis ultimus, d. h. letztes Ziel, oder summum bonum, d. h. höchstes Gut, von welchen in den Schriften der alten Moralphilosophen die Rede ist“ (LD 11, 75).

Nun rührt dieses ständige Verlangen des Menschen jedoch nicht daher, dass ununterbrochen Körper auf ihn drücken, die jeweils neues Verlangen auslösen. In diesem Fall wäre auch das Tier rastlos. Der Unterschied besteht darin, dass der Mensch sich zu diesem seinen von Neigungen in verschiedene Richtungen gezogenen Körper in ein reflexives Verhältnis setzen kann: Weil der Mensch im Unterschied zum Tier versteht, dass er ein von seinen Neigungen umherbewegter nicht die Deliberationsfähigkeit sein, die bewirkt, dass der Mensch nicht funktioniert wie ein Apparat und also frei ist: „Daher ist Cramer (1981) zuzustimmen, daß es nicht die durch die Überlegung ermöglichte Distanzierung des Menschen zu seinen natürlichen Neigungen ist, die ihn vom Tier unterscheidet, denn auch Tiere können […] überlegen, sondern die durch die Vernunft ermöglichte Reflexion auf die eigene natürliche Konstitution, die den Menschen zu autonomen Handeln [sic!] befähigt“ (Chwaszcza 2008, 82).

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B. Die politische Logik des Körpers

Körper ist,113 dessen Neigungen sich ändern, kann er auch seine zukünftigen Neigungen befriedigen wollen: Der Mensch ist in der Lage, Mittel anzuhäufen, die ihm in der Zukunft dazu dienen können, seine Verlangen – welche auch immer das dann sein mögen – zu befriedigen: „Der Grund hierfür liegt darin, daß es Gegenstand menschlichen Verlangens ist, nicht nur einmal und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu genießen, sondern sicherzustellen, daß seinem künftigen Verlangen nichts im Wege steht. Und deshalb gehen die willentlichen Handlungen und Neigungen der Menschen nicht nur darauf, sich ein zufriedenes Leben zu verschaffen, sondern auch darauf, es zu sichern“ (LD 11, 75).

Diese Anhäufung von Mitteln zur Sicherung zukünftiger Bedürfnisbefriedigung kann ganz allgemein und neutral als Macht beschrieben werden. Dabei ist eine stete Anhäufung von Macht nicht unbedingt deswegen notwendig, weil die Macht um ihrer selbst willen erstrebt würde oder weil die Begierden des Menschen an sich unersättlich wären, sondern weil – aufgrund der Relationalität der Macht, die immer größer sein muss als die von anderen – der Mensch auch seine gegebenenfalls bescheidenen Bedürfnisse und deren zukünftige Befriedigung nicht ohne den Erwerb zusätzlicher Macht sichern könnte.114 Auch an dieser Stelle zieht­ Hobbes bereits fundamentale politische Konsequenzen aus seiner körper­basierten Anthropologie: Der Wettkampf zwischen Körpern um Macht ist notwendigerweise gewaltsam und blutig. Aufgrund des relationalen Charakters von Macht, die nur nützt, wenn sie größer ist, als die eines anderen Körpers muss ein Körper, der seine Macht vergrößern will, die Macht der anderen Körper einschränken. Der Wettkampf um Ehre und Reichtum – beides nur verschiedene Formen von Macht, wie Hobbes sagt – muss daher ebenso wie der Kampf um die Macht selbst notwendigerweise gewaltsam sein:

113 Hobbes macht am Ende des zweiten Kapitels diesen Unterschied zwischen Mensch und Tier vollkommen deutlich: Obwohl in gewisser Weise beide „verstehen“ können, weil sie vergangene (sprachliche)  Zeichen wiedererkennen und hinsichtlich ihrer Relation zur Bedürfnisbefriedigung beurteilen können, kann nur der Mensch sich, d. h. seinen Willen und seine Vorstellungen und Gedanken verstehen: „Die Einbildung, die im Menschen oder in anderen Lebewesen, die Einbildungskraft besitzen, durch Wörter oder andere willkürliche Zeichen entsteht, nennen wir gewöhnlich Verstehen, und sie ist Mensch und Tier gemeinsam. Denn ein Hund wird durch Gewöhnung den Ruf oder das Schelten seines Herrn verstehen, ebenso viele andere Tiere. Das dem Menschen eigentümliche Verstehen liegt darin, daß er nicht nur seinen Willen, sondern auch seine Vorstellungen und Gedanken versteht, indem er Namen von Dingen zu Bejahungen, Verneinungen und anderen Sprachformen aneinanderreiht und verknüpft“ (LD 2, 18). 114 „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und rastloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet. Und der Grund hierfür liegt nicht immer darin, daß sich ein Mensch einen größeren Genuß erhofft als den bereits erlangten, oder daß er mit einer bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann, sondern darin, daß er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zusätzlicher Macht nicht sicherstellen kann“ (LD 11, 75).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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„Wetteifer um Reichtum, Ehre, Befehlsgewalt oder eine andere Macht führt zu Streit, Feindschaft und Krieg, da der Weg des einen Bewerbers zur Erlangung seines Wunsches dazu führt, den anderen zu töten, zu unterwerfen, zu verdrängen oder zurückzuwerfen“ (LD 11, 76, Hervorhebungen E. O.).

Und auch eine weitere mögliche Konsequenz wird an dieser Stelle bereits ausgeführt: Als Körperwesen, die um ihre Konstitution und ihre wechselnden und zukünftigen Neigungen wissen und die Befriedigung ihrer zukünftigen Neigungen sicherstellen wollen, ersinnen sich die Menschen die Einrichtung einer all­ gemeinen Gewalt, der sie diese Schutzfunktion übertragen. Weil die Menschen als Körperwesen den Tod und körperliche Verletzungen abwenden und das sinnliche, d. h. körperliche Vergnügen sichern wollen, sind sie bereit, sich zu diesem Zweck einer allgemeinen Gewalt zu unterstellen: „Das Verlangen nach angenehmem Leben und sinnlichen Vergnügen veranlaßt die Menschen, einer allgemeinen Gewalt zu gehorchen, denn durch dieses Verlangen gibt man den Schutz auf, den man von eigener Anstrengung und Arbeit hätte erhoffen können. Furcht vor Tod und Mißhandlungen bewirkt aus dem gleichen Grund dasselbe“ (LD 11, 76).

Die Menschen, die im Unterschied zum Tier wissen, dass sie auch zukünftig Neigungen haben werden, die sie befriedigen wollen bzw. dass zukünftige Übel auftreten werden, vor denen sie sich schützen wollen, können sich aufgrund ihrer bisherigen Wahrnehmung von Ereignisketten etwas vorstellen, was ihnen für die Sicherung ihrer zukünftigen Begierdenbefriedigung ein probates Mittel wäre. Im zwölften Kapitel, in dem Hobbes über die Religion spricht, führt er diesen Unterschied zwischen Mensch und Tier als letzten Unterschied zwischen diesen zwei leidenschaftsbewegten Körpern an.115 Fassen wir zusammen: Der erste Teil des Leviathan beschreibt den Menschen innerhalb einer materialistisch-mechanistischen Ontologie. Wie alle anderen existierenden Dinge auch, so wird der Mensch dort im Wesentlichen als ein Körper betrachtet, der durch den Druck und Stoß anderer Körper bewegt wird und seiner­seits durch Stoß und Druck andere Körper bewegt. Die menschlichen Verstandesfähig­ keiten werden ganz im Rahmen dieser korporealistischen Ontologie erklärt: Die Wahrnehmungstheorie, die Erkenntnistheorie, die Sprachtheorie, die Wissenschaftstheorie, die Wahrheitstheorie, die Psychologie und die Handlungstheorie basieren auf der Grundprämisse eines materialistisch-mechanistischen Universums und sind von dieser her ausgeführt. Wie das Tier auch, ist der Mensch in seinen Handlungen nicht frei, sondern wird durch seine wechselnden Neigungen und Abneigungen bewegt. Die Vernunft, die er besitzt, ist eine instrumentelle Vernunft, die sich an geeignete Mittel, die zu einem gewünschten Ziel geführt haben, erin 115 „Drittens. Während die Tiere kein anderes Glücksgefühl als den Genuß des täglichen Futters, von Ruhe und von Lust kennen, da sie die Zukunft aus Mangel an Beobachtungsgabe und Erinnerung an die Ordnung, Folge und Abhängigkeit der Dinge, die sie sehen, kaum oder überhaupt nicht vorhersehen können, beobachten die Menschen, wie ein Ereignis von einem anderen hervorgebracht wurde und erinnern sich dabei an das, was vorausgegangen war und was darauf folgte“ (LD 12, 82).

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B. Die politische Logik des Körpers

nert und diese wiedererkennt, wenn die Mittel erneut auf die Sinnesorgane drücken oder deren Vorstellungsabbilder als gespeicherte Eindrücke im Geist hervortreten. Sie kann dazu beitragen, das gewünschte Ziel schneller oder effektiver zu erreichen, aber nicht, dieses Ziel selbst auszuwählen. Der einzige Unterschied zum Tier besteht darin, dass der Mensch versteht, dass er ein solcher hin- und herbewegter Körper ist und insofern ein zusätzliches Ziel hat: Weil der Mensch weiß, dass er auch zukünftig Hunger haben wird, versucht er bereits prophylaktisch, sich Mittel zu sichern, die seinen zukünftigen Hunger oder andere zukünftige Bedürfnisse befriedigen können. Der Mensch besitzt im Unterschied zum Tier ein Machtstreben und kann deshalb mit seiner instrumentellen Vernunft auch Dinge als Mittel zur zukünftigen Bedürfnisbefriedigung erkennen, die bis dahin noch nicht auf seine Sinnesorgane gedrückt haben. Der Mensch als denkender Körper kann lernen, Dinge als Mittel bzw. Instrumente zu erkennen und damit Macht anhäufen. Die politischen Konsequenzen des erkenntnistheoretischen Skeptizismus, des ethischen Relativismus und der Vernunft- und Freiheitskonzeption deutet Hobbes in diesem ersten Teil – noch bevor die eigentliche Naturzustandsschilderung des 13. Kapitels beginnt – bereits explizit an: Weil die Vernunft nicht in der Lage ist, zwischen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen zu vermitteln, wird als einzige Möglichkeit die Autorität eines Schiedsrichters genannt. Wenn jedoch gar nicht die Wahrheit das primäre Ziel dieser bewegten Körperwesen ist, sondern die Anhäufung von Macht, kann auch nur eine größere Macht bzw. Gewalt – und nicht das Wort eines Schiedsrichters – die Körper dazu bringen, die Entscheidung eines Schiedsrichters zu akzeptieren. Die schlichte Tatsache, dass Hobbes seinem kontraktualistischen Argument eine solche, nach dem Vorbild einer materialistisch-mechanistischen Ontologie konzipierte Anthropologie voranstellte, kann bereits als ein Indiz dafür betrachtet werden, dass diese Anthropologie eine nicht unwesentliche Rolle für und in diesem Argument des fiktiven Naturzustandes spielt. Auch die Tatsache, dass Hobbes in diesem ersten Teil politische Konsequenzen, die sich aus dieser Anthropologie ergeben, bereits ausdrücklich zieht, und dass dies Konsequenzen sind, die auch in der späteren Darstellung der Vertragstheorie explizit gezogen werden, spricht für die argumentlogische Relevanz der Anthropologie. Außerdem spricht zunächst auch die äußere Form dafür, dass Hobbes nicht etwa ein von der materialistisch-mechanistischen Anthropologie deutlich getrenntes kontraktualistisches Argument habe entwickeln wollen. Hobbes trennt die ersten zwölf Kapitel nicht etwa als eine besondere Anthropologie vom kontraktualistischen Argument ab, sondern stellt diese, wie auch die explizite Darstellung des Naturzustandes ab dem 13. Kapitel, unter die gemeinsame Überschrift „Vom Menschen“. Die argumentlogisch und kapitellogisch zunächst plausible Hypothese einer Relevanz der dergestalt nach naturphilosophischem Vorbild konzipierten Anthropologie muss nun allerdings durch eine textnahe, detaillierte Rekonstruktion des Arguments nachgewiesen werden. Begeben wir uns zu diesem Zweck direkt in das 13. Kapitel des Leviathan, in dem der Naturzustand in seiner Konflikthaftigkeit geschildert wird.

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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b) Der Naturzustand als Schlussfolgerung aus den Leidenschaften Inwiefern waren diese ersten zwölf Kapitel des Leviathan nun von Bedeutung für das kontraktualistische Argument? Es fällt zunächst auf, dass die Beschreibung des natürlichen Menschen weitgehend identisch bleibt: Auch im Natur­ zustandskapitel wird der Mensch vor allem als Körperwesen dargestellt, welches seinen – wie auch immer entstandenen – Leidenschaften folgt und dabei Zusammenstöße mit anderen Körpern produziert. Der Begriff, der in den ersten drei Sätzen des Naturzustandskapitels am häufigsten – nämlich insgesamt drei Mal – auftaucht, ist derjenige der Körperstärke. Bereits der zweite Satz enthält die Problemstellung, die sich aus den konfligierenden Körpern ergibt: Die lebendigen Körper sind beständig in Gefahr, durch Körperstärke und List von anderen Körpern getötet zu werden: „Die Natur hat die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, daß trotz der Tatsache, daß bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder gewandteren Geist als der andere besitzt, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als daß der eine auf Grund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebensogut für sich verlangen dürfte. Denn was die Körperstärke betrifft, so ist der Schwächste stark genug, den Stärksten zu töten – entweder durch Hinterlist oder durch ein Bündnis mit anderen, die sich in derselben Gefahr wie er selbst befinden. Und was die geistigen Fähigkeiten betrifft, so finde ich, daß die Gleichheit unter den Menschen noch größer ist als bei der Körperstärke […]“ (LD 13, 94, Hervorhebungen E. O.).

Bereits die ersten beiden Sätze des Naturzustandskapitels sprechen also nicht unbedingt dafür, dass es sich um rationale Akteure handelt, die Rechtskonflikte haben, sondern es klingt nach Körpern mit Machtkonflikten und einem daraus resultierenden Überlebensproblem. Es handelt sich um Körper, die ihren Leidenschaften, d. h. bestimmten Bewegungsimpulsen, folgen und dabei auf Bewegungshindernisse in Form von anderen Körpern stoßen können. Diese Bewegungsimpulse der Körper sind auf die Ziele der Selbsterhaltung und des Genusses gerichtet – von dem Interesse einer rechtlichen Sicherung eines Rechtes oder dem Bedürfnis nach Rechtfertigung spricht Hobbes an dieser Stelle ausdrücklich nicht: „Und wenn daher zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuß ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen“ (LD 13, 95, Hervorhebungen E. O.).

Der Naturzustand wird als ein Aufeinanderprallen von Körpern, Kräften und Mächten beschrieben. Es setzt sich in der durch die Absicht zielgerichteten Bewegung derjenige Körper durch, der entweder am stärksten oder am listigsten ist – oder derjenige, der seine listige Vernunft dazu benutzt, andere Körper anzuwerben und dadurch seine eigene Körperstärke künstlich vermehrt:

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B. Die politische Logik des Körpers „Daher kommt es auch, daß, wenn jemand ein geeignetes Stück Land anpflanzt, einsät, bebaut oder besitzt und ein Angreifer nur die Macht eines einzelnen zu fürchten hat, mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, daß andere mit vereinten Kräften anrücken, um ihn von seinem Besitz zu vertreiben und ihn nicht nur der Früchte seiner Arbeit, sondern auch seines Lebens und seiner Freiheit zu berauben“ (LD 13, 95, Hervorhebungen E. O.).

Vorausschauende Körper, die Konsequenzen berechnen können, erkennen deshalb, dass sie ihre eigene Körperkraft und ihre listige Vernunft116 vorsorglich gegen die anderen Körper wenden müssen, um den Genuss sicherzustellen und den Tod abzuwehren: „Und wegen dieses gegenseitigen Mißtrauens gibt es für niemand einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, das heißt mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden“ (LD 13, 95, Hervorhebungen E. O.).

Auch die Besonderheit des Menschen, nach Macht streben zu können, die Hobbes in den ersten zwölf Kapiteln als gattungskonstituierendes Merkmal eingeführt hatte, findet in die Schilderung des Naturzustandes Eingang: Weil es einige Körper gibt, die sich ihre Körperstärke stets aufs neue beweisen wollen, sei es auch für ansonsten bescheidene oder friedliebende Menschen notwendig, eine kriegerische Haltung anzunehmen und von der Verteidigung zum Angriff, von der bloßen Sicherung des Status quo zur Machtakkumulation überzugehen.117 Hobbes betont im weiteren Verlauf des Kapitels noch zwei Mal, dass die Körper durch Gewalt und List versuchen werden, sich gegenseitig umzubringen, und kennzeichnet diese beiden Eigenschaften als „Kriegstugenden“: „Aber obwohl es niemals eine Zeit gegeben hat, in der sich einzelne Menschen im Zustand des gegenseitigen Kriegs befanden, so befinden sich doch zu allen Zeiten Könige und souveräne Machthaber aufgrund ihrer Unabhängigkeit in ständigen Eifersüchteleien und verhalten sich wie Gladiatoren: sie richten ihre Waffen gegeneinander und lassen sich nicht aus den Augen – das heißt sie haben ihre Festungen, Garnisonen und Geschütze an den Grenzen ihrer Reiche und ihre ständigen Spione bei ihren Nachbarn. Das ist eine kriegerische Haltung. […] Gewalt und Betrug sind im Krieg die beiden Kardinaltugenden“ (LD 13, 97 f., Hervorhebungen E. O.).

Dass Hobbes Gewalt und List nicht nur nicht moralisch verurteilt, sondern diese als Kriegstugenden sogar adelt, wird aus weiteren ähnlichen Textbelegen im zehn 116 Hobbes spricht an dieser Stelle ausdrücklich von der Vernünftigkeit („reasonable“) der gewaltsamen Unterwerfung und Machtakkumulation, was bereits hier gegen die von Lloyd vertretene These von der Reziprozitätsorientierung der Hobbesschen Vernünftigkeit spricht: „And from this diffidence of one another, there is no way for any man to secure himselfe, so reasonable, as Anticipation; that is, by force, or wiles, to master the persons of all men he can, so long, till he see no other power great enough to endanger him“ (L 13, (61) 190, Hervorhebungen E. O.). 117 „Auch weil es einige gibt, denen es Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben, die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden, sich durch bloße Verteidigung unmöglich lange halten, wenn sie nicht durch Angriff ihre Macht vermehrten“ (LD 13, 95).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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ten und 17. Kapitel deutlich: Das zehnte Kapitel vertieft – besonders deutlich in der lateinischen Version – die moralische Auszeichnung der Gewalt und Kampfbereitschaft des natürlichen Menschen: „Die Bereitwilligkeit zum Kampf ist immer ein Zeichen von Tapferkeit, welche in dem natürlichen Zustande der Menschen, wo nicht die einzige, doch die größte Tugend ist; Weigerung zum Kampf hingegen wird durch Gesetze, nicht aber durch die Natur zur Tugend, und die Natur hat mehr Kraft als alle Gesetze“ (LD 10, 71, Hervorhebungen E. O.).

Auch im 17. Kapitel werden die Tugenden der Gewalt und der List besprochen. Hier wird von Hobbes in diesem Kontext nicht nur eine Relation zwischen dem Erfolg des Kampfes und der Ehre hergestellt, sondern erneut deutlich gemacht, dass Staaten untereinander immer noch im Naturzustand leben und deshalb ein Herrscher stets die Kriegstugenden Gewalt und List benötigt.118 Im Naturzustand herrscht eine Logik der Gewalt, die es den stärkeren und listigeren Körpern erlaubt, sich zu nehmen, was sie haben wollen – und sei es der Körper eines anderen Menschen.119 Hobbes betont ausdrücklich, dass im Naturzustand das Recht des stärkeren Körpers herrscht, der zum Zwecke seiner Selbsterhaltung andere Körper unterwerfen, verletzen oder töten kann.120 Neben der Selbsterhaltung und dem Genussstreben nennt Hobbes die Ruhmsucht als eine dritte Leidenschaft, durch die sich der natürliche Mensch auszeichnet. Auch diese Leidenschaft führt dazu, dass sich Körper gewaltsam gegen andere Körper richten. Der Wunsch, stärker als andere Körper zu sein oder zumindest für einen starken Körper gehalten zu werden, führt zu gewaltsamen Übergriffen: „Denn jedermann sieht darauf, daß ihn sein Nebenmann ebenso schätzt, wie er sich selbst einschätzt, und auf alle Zeichen von Verachtung oder Unterschätzung hin ist er von Natur aus bestrebt, […] seinen Verächtern durch Schädigung und den anderen Menschen durch das Exempel größere Wertschätzung abzunötigen“ (LD 13, 95). 118 „Und überall dort, wo die Menschen in kleinen Familien zusammenlebten, war gegenseitiges Rauben und Plündern ein Gewerbe und weit davon entfernt, als naturrechtswidrig angesehen zu werden: je größer die Beute, die sie machten, desto größer die Ehre. […] Und wie damals kleine Familien, so vergrößern jetzt Städte und Königreiche […] ihren Herrschaftsbereich […] und bemühen sich nach Kräften, ihre Nachbarn mit offener Gewalt und Hinterlist zu unterwerfen oder zu schwächen  – mit Recht, da es keine andere Sicherheits­ garantie gibt“ (LD 17, 131 f., Hervorhebungen E. O.). 119 „Eine weitere Folge dieses Zustandes ist, daß es weder Eigentum noch Herrschaft, noch ein bestimmtes Mein und Dein gibt, sondern das jedem nur das gehört, was er erlangen kann, und zwar so lange, wie er es zu behaupten vermag. […] Und weil sich die Menschen, wie im vorhergehenden Kapitel dargelegt, im Zustand des Kriegs eines jeden gegen jeden befinden, was bedeutet, daß jedermann von seiner eigenen Vernunft angeleitet wird, und weil es nichts gibt, daß er nicht möglicherweise zum Schutze seines Lebens gegen seine Feinde verwenden könnte, so folgt daraus, daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen“ (LD 13, 98 und 14, 99). 120 „Aber ich habe oben ebenfalls gezeigt, daß vor Errichtung des Staates jedermann ein Recht auf alles und zur Vornahme alles dessen hatte, was ihm zu seiner Selbsterhaltung notwendig schien, nämlich zu diesem Zweck jeden zu unterwerfen, zu verletzen oder zu töten“ (LD 28, 237).

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B. Die politische Logik des Körpers

Offensichtlich werden die Menschen auch in dieser Beschreibung des Natur­ zustandes als Körperwesen begriffen, die sich durch ihre Körperbewegung gegenseitig behindern und verletzen können oder – wie das Beispiel der Ruhmsucht zeigt – dies sogar wollen. Die Leidenschaften stellen die Bewegungsimpulse der Körper dar, und diese sind es auch, die zur Körperkollision und zum Krieg führen. Von Vernunft wird in diesem Zusammenhang zunächst nur als instrumenteller Vernunft gesprochen, die durch Antizipation die Machtakkumulation als ge­ eignetes Mittel der Überlebenssicherung erkennt bzw. den Kampf als geeignetes Mittel, Ruhm zu erwerben, identifiziert. Die menschlichen Leidenschaften führen also zu Übergriffen oder zumindest zu einer latenten, permanenten Kampfbereitschaft: „Daraus ergibt sich klar, daß die Menschen während der Zeit, in der sie ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht leben, sich in einem Zustand befinden, der Krieg genannt wird, und zwar in einem Krieg eines jeden gegen jeden. Denn Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist“ (LD 13, 96, Hervorhebungen E. O.).

Menschen werden also im Naturzustand als leidenschaftsgesteuerte Körperwesen begriffen. Die Beschreibung des Naturzustandes wird explizit als eine Schlussfolgerung aus den Leidenschaften121 bezeichnet: „Manchem, der sich diese Dinge nicht gründlich überlegt hat, mag es seltsam vorkommen, daß die Natur die Menschen so sehr entzweien und zu gegenseitigem Angriff und gegenseitiger Vernichtung treiben sollte, und wünscht vielleicht deshalb, da er dieser Schluß­ folgerung aus den Leidenschaften nicht traut, dies durch die Erfahrung bestätigt zu haben“ (LD 13, 96, Hervorhebungen E. O.).

Das Problem des Naturzustandes scheint demnach nicht so sehr ein Rechtsproblem rationaler Akteure zu sein, sondern vielmehr ein Überlebensproblem begierdegesteuerter Körperwesen. Die für die Kampfbereitschaft und das Gewinnstreben auch an anderen Stellen explizit unternommene moralische Aufwertung nimmt Hobbes ebenfalls im Kontext des Naturzustandskapitels selbst vor, wenn er sowohl die Leidenschaften, als auch die aus diesen entspringenden Handlungen, verteidigt. Weshalb sollte man bei körpergesteuerten Leidenschaftswesen auch mit moralischen Erwägungen beginnen? „Die Begierden und anderen menschlichen Leidenschaften sind an sich keine Sünde. Die aus diesen Leidenschaften entspringenden Handlungen sind es ebenfalls so lange nicht, bis die Menschen ein Gesetz kennen, das sie verbietet […]“ (LD 13, 97).

Diese natürlichen und moralisch nobilitierten Leidenschaften122 sind nun nicht nur Ursache des Problems, sondern auch der Schlüssel zur Lösung des Problems. 121 Vgl. auch den Beginn des 17. Kapitels, in dem Hobbes den Naturzustand ebenfalls wieder als Schlussfolgerung aus den Leidenschaften bezeichnet und sogar darauf hinweist, dass die natürlichen Gesetze den natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt sind (LD 17, 131). 122 Dass Hobbes in der Beschreibung des Naturzustandes und der natürlichen Leidenschaften der Menschen das Ziel hatte, die Leidenschaften von moralischem Makel zu befreien und

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Worin besteht das Problem? Die berühmte Schilderung des Naturzustandes macht deutlich, dass das Problem schlichtweg darin besteht, dass die Leidenschaften von den Körpern nicht ohne Hindernisse anderer Körper und – was noch schlimmer scheint – ohne die ständige Gefahr, von diesen anderen Körpern getötet zu werden, ausgelebt werden können. Zudem würden die Reibungsverluste dafür sorgen, dass sich ein bestimmtes, Zivilisation voraussetzendes Wohlstandsniveau, nicht bilden könnte: „In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann; und folglich gibt es keinen Ackerbau, keine Schiffahrt, keine Waren, die auf dem Seeweg eingeführt werden können, keine bequemen Gebäude, keine Geräte, um Dinge, deren Fortbewegung viel Kraft erfordert, hin- und herzubewegen, keine Kenntnis von der Erdoberfläche, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (LD 13, 96, Hervorhebungen E. O.).

Das Problem scheint also nach dieser Beschreibung weniger ein Rechtsproblem zwischen Menschen zu sein, die das Recht lieben und sich fragen, wessen Deutung des Rechtsanspruchs zutreffe, sondern vielmehr darin zu liegen, dass keine ungestörte Befriedigung der von den Leidenschaften diktierten Ziele möglich ist: Die berühmte Schilderung des Naturzustandes verortet dessen Problematik nicht in einer fehlenden Rechtlichkeit, sondern in den fehlenden Arbeitsfrüchten und  – Hobbes nimmt eine eindeutige Hierarchisierung vor  – in der Furcht vor dem gewaltsamen Tod. Der Naturzustand wird von Hobbes als tierisch beschrieben. Die Charakterisierung als „tierisch“ verwendet Hobbes gleich zwei Mal, um den Naturzustand zu kennzeichnen.123 Eine Untersuchung der ­Naturzustandsschilderung ergibt wiederum eine Übereinstimmung mit der Charakterisierung des Unterschieds zwischen Mensch und Tier, den Hobbes bereits in den ersten zehn Kapiteln entwickelt hatte: Wie dort das Tier insofern vom Menschen unterschieden wurde, als das Tier nur von seinen gegenwärtigen Neigungen und Abneigungen gelenkt wird und der Mensch demgegenüber auch die zukünftigen Begierden mit einkalkulieren kann, zeichnet sich auch der Naturzustand durch die Kurzsichtigkeit der Bedürfnisbefriedigung aus, durch die das Tier charakterisiert wurde. Der Naturzustand scheint also tierisch zu

somit eine „neue Moral“ zu begründen, vermutet auch Hoekstra: „Hobbes attempts to invert the expected values of his readers, maintaining that submission to the artifice of Leviathan is not only prudentially but also morally superior to retaining or regaining their natural liberty. […] As self-preservation is required by the moral law (and by divine law), these arguments are also meant to further the moral case for obeying the authority that provides for our security“ (Hoekstra 2007, 122). 123 „Denn die wilden Völker verschiedener Gebiete Amerikas besitzen überhaupt keine Regierung, ausgenommen die Regierung über kleine Familien, deren Eintracht von der natürlichen Lust abhängt und die bis zum heutigen Tag auf jene tierische Weise leben, die ich oben beschrieben habe“ (LD 13, 97).

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B. Die politische Logik des Körpers

sein,124 weil der Mensch noch nicht erkannt hat, welche Strategien sich langfristig als vorteilhaft für die Bedürfnisbefriedigung erweisen würden: Erst in einem Zustand, der gegenseitige Übergriffe verhindert, können die Gefahr des gewaltsamen Todes gebannt und Früchte für zukünftige Bedürfnisse erzeugt und erworben werden. Die Anthropologie des leidenschaftsbewegten Körpers, die Hobbes in den ersten zwölf Kapiteln des Leviathan entwickelt, findet also unmittelbar Eingang in die Darstellung des Naturzustandes im 13. Kapitel. c) Die natürlichen Gesetze als leidenschaftsabhängige Klugheitsregeln Ganz im Gegensatz zur rechtstheoretischen These der Irrelevanz der Anthropologie für das kontraktualistische Argument legt der Textbefund unserer Ansicht nach nahe, dass die Leidenschaften nicht nur die Ursache des Problems darstellen, sondern es ebenfalls die Leidenschaften sind, die den Weg zur Problemlösung vorgeben:125 Unterstützt von seiner instrumentellen Vernunft ersinnt das Körperwesen, das im Gegensatz zum Tier fähig zur Prospektion ist, einen Weg, seine Leidenschaften ohne Kollisionen oder die Furcht vor dem gewaltsamen Tod auszuleben. Der erste Schritt besteht nach Hobbes darin, den Willen zum Kampf gegen eine prinzipielle Friedensbereitschaft einzutauschen. Ganz in Übereinstimmung mit der deterministischen Handlungstheorie kann nicht die Vernunft, sondern können nur die Leidenschaften den Menschen zu einer Änderung seiner Bewegung antreiben. Nur die Leidenschaften, die dem Menschen die angenehmen Folgen dieses Orientierungswechsels nahelegen, können den Menschen davon überzeugen, dass ein solcher Gesinnungswandel rational, d. h. zweckdienlich ist. 124

Dass Hobbes’ Bestimmung des Unterschiedes zwischen Mensch und Tier nicht einheitlich ist und sich an anderer Stelle Äußerungen finden, die eine Unterteilung der Menschen hinsichtlich ihrer tierischen, sinnlichen Leidenschaften und ihrer menschlichen, auf Macht gerichteten Leidenschaften vornimmt und daher das Adjektiv „tierisch“ auch eine andere Bedeutung erhält, wird in Kapitel B. III. 2. a) dd) und B. III. 2. b) aa) näher ausgeführt. 125 Die rechtstheoretische Deutung hält dagegen die Anthropologie allenfalls für problemkonstitutiv, jedoch nicht für problemlösungsrelevant. Hüning 1998, 53, führt dies im Anschluss an Geismann/Herb 1988, 22 für die Schrift De Cive aus: „Hobbes macht zwar im Rahmen der Begründung des natürlichen Rechts von anthropologischen Voraussetzungen Gebrauch, die im Hinblick auf das Lehrstück vom Naturzustand von problemkonstitutiver Bedeutung sind, insofern sie die allgemeinen Bedingungen der menschlichen Natur formulieren, mit denen die philosophische Rechtstheorie zu rechnen hat. Aber dies bedeutet nicht, daß das Lehrstück vom Naturzustand das faktische Verhalten der Menschen zum Gegenstand hat oder daß Hobbes die Menschen hier in anthropologischer Hinsicht thematisiert […]. Ebensowenig ist der Weg zur Überwindung des Naturzustandes von der Voraussetzung bestimmter anthropologischer Eigenschaften abhängig.“ Dass bereits die Vernunft eine menschliche – wenngleich nach Hobbes eine mit dem Tier geteilte – Eigenschaft ist, die für das Verlassen des Naturzustandes, wenn er denn als rechtliche Antinomie erkannt werden soll, eine Voraussetzung ist, dürfte die Aufrechterhaltung der These von der Irrelevanz anthropologischer Bestimmungen ebenso vor Probleme stellen, wie die Tatsache, dass das Motiv dafür, den Naturzustand zu verlassen (Todesfurcht) eine notwendige Voraussetzung des Arguments ist.

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Hobbes stellt am Ende des 13. Kapitels eine Möglichkeit in Aussicht, den Natur­ zustand zu verlassen, die durch ein spezielles Zusammenwirken von Leidenschaften und Vernunft gegeben ist: „Und soviel über den elenden Zustand, in den der Mensch durch die reine Natur tatsächlich versetzt wird, wenn auch mit einer Möglichkeit, herauszukommen, die teils in den Leidenschaften, teils in seiner Vernunft liegt“ (LD 13, 98).

Im weiteren Fortgang wird deutlich, dass es die Leidenschaften sind, denen die zentrale Rolle bei der Problemlösung zukommt.126 Hobbes nennt am Ende des 13. Kapitels die gleichen Leidenschaften, die er auch innerhalb des Kapitels für den Kriegszustand verantwortlich gemacht hatte127 – die Todesfurcht und das Genussstreben – als geeignete Mittel, den Gesinnungswandel von der ständigen Kampfbereitschaft zur Friedfertigkeit zu bewirken: „Die Leidenschaften, die den Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können. Und die Vernunft legt die geeigneten Grundsätze des ­Friedens nahe, auf Grund derer die Menschen zur Übereinstimmung gebracht werden können“ (LD 13, 98, Hervorhebungen E. O.).

Nur wenn durch die Leidenschaften die Einsicht in die Problemhaftigkeit des Naturzustandes erreicht wurde und daher eine Änderung der Bewegungsrichtung gewünscht wird, kann die instrumentelle Vernunft nach Wegen suchen, dieses neue, durch die Leidenschaften diktierte Handlungsziel zu erreichen. Die Vernunft ist also nach wie vor nur eine instrumentelle Vernunft, die der Befriedigung der Bedürfnisse dient. Die Leidenschaften der Todesfurcht und des Genussstrebens haben der Vernunft nur – unterstützt durch die Fähigkeit zur Prospektion – ein neues mittelbares Ziel diktiert: Weil sich der latente Kriegszustand als ungünstig für die Vermeidung der Todesfurcht und die ungestörte Bedürfnisbefriedigung erwiesen hat, wird der Frieden als neues mittelbares Ziel angestrebt – der Frieden jedoch nicht als Ziel an sich, sondern nur als Mittel der gesicherten Bedürfnis­ befriedigung. Erst wenn die Leidenschaften den Menschen auf die Friedfertigkeit ausgerichtet haben, die die Prospektion als geeignetes Mittel der Bedürfnisbefriedigung identifiziert hat, kann die instrumentelle Vernunft anfangen, nach Mitteln für dieses neue, von den Leidenschaften diktierte Ziel zu suchen.

126 Die Relation von Vernunft und Leidenschaft bei Hobbes betrachte ich in dieser Hinsicht ähnlich wie Strauss als die einer notwendigen Verbindung, in der die Vernunft von den Leidenschaften abhängig ist: „Die Vernunft ist ohnmächtig gegenüber der Leidenschaft, aber sie kann allmächtig werden, wenn sie mit der stärksten Leidenschaft zusammenarbeitet oder sich in ihren Dienst stellt.“ (Strauss 1977, 209) Hinsichtlich der Konsequenzen der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften für die Vernunftausstattung der Menschen komme ich jedoch zu anderen Schlussfolgerungen als Strauss. Vgl. dazu den Fortgang des Textes und insbesondere Kapitel B. III. 2. b) aa). 127 Die Ruhmsucht fehlt an dieser Stelle, findet jedoch an anderer Stelle Eingang in das kontraktualistische Argument, wie in Kapitel B. II. 2. gezeigt werden wird.

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B. Die politische Logik des Körpers

Worin bestehen nun diese „Grundsätze des Friedens“, die die instrumentelle Vernunft herausfindet? Hobbes leitet diese Grundsätze aus dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung ab und zeigt dabei deutlich, dass das natürliche Recht unbedingte Priorität vor allen anderen, davon abgeleiteten Pflichten hat. Unsere Interpretation des Naturzustandes als einem Konflikt zwischen sich bewegenden Körpern unterschiedlicher Größe und Macht, die ihre Leidenschaften ausleben wollen, kann gestützt werden durch Hobbes’ Definitionen von natürlichem Recht und Gesetz der Natur: Das natürliche Recht ist die Freiheit zum Machtgebrauch. Die Freiheit ist eine äußerliche Freiheit von sich bewegenden Körpern; sie besteht darin, in der Verfolgung seines Willens auf kein Hindernis zu stoßen. Diese Bestimmung des menschlichen Willens bzw. der Freiheit entspricht vollkommen der deterministischen Handlungstheorie, die Hobbes vor allem im sechsten Kapitel des Leviathan entwickelt hatte: Der Wille des Menschen ist nicht frei, sondern er ist nur die letzte Abneigung oder Neigung vor einer Handlung. Grundsätzlich und allgemein scheint der Mensch dabei eine Neigung zu haben, sich selbst zu erhalten bzw. den Tod als Übel zu fliehen.128 Das natürliche Recht ist die Erlaubnis der Körper, sich so zu bewegen, wie sie es aufgrund ihrer Neigungen ohnehin immer schon tun – und all ihre Körperstärke und sonstige Macht dazu benutzen, das von ihnen angestrebte Ziel zu erreichen: „Das natürliche Recht, in der Literatur gewöhnlich jus naturale genannt, ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht. Unter Freiheit versteht man nach der eigentlichen Bedeutung des Wortes die Abwesenheit ­äußerer Hindernisse. Diese Hindernisse können einem Menschen oftmals einen Teil seiner Macht wegnehmen, das zu tun, was er möchte, aber sie können ihn nicht daran hindern, die ihm verbliebene Macht so anzuwenden, wie es ihm sein Urteil und seine Vernunft gebieten“ (LD 14, 99).

Das Gesetz der Natur ist gegenüber dem natürlichen Recht zwar keine Freiheit, sondern wird von Hobbes als eine „Verpflichtung“ eingeführt. Es ist aber denkbar einfach zu erfüllen, weil es dem Menschen nur befiehlt, das zu tun, was er ohnehin immer schon anstrebt – nämlich in steter Bewegung zu bleiben und sich die für sein körperliches Überleben erforderlichen Mittel zu sichern. Genau genommen formuliert das Gesetz der Natur also den Imperativ, den Leidenschaften zu gehorchen, sprich das zu tun, was man als leidenschaftsbewegter Körper ohnehin tut, weil man es, gelenkt durch die Leidenschaften, tun muss. Die Leidenschaft gibt das Ziel vor und die instrumentelle Vernunft überlegt sich Handlungsvorschriften, die als probate Mittel der Zielerreichung fungieren können: 128 Dass es durchaus Ausnahmen von dieser Regel gibt, gesteht Hobbes an verschiedenen Stellen zu. Dennoch wurden diese Ausnahmen von der Forschung bislang nicht genügend untersucht, wie Olsthoorn 2014, 148 zu Recht moniert. Zu diesem möglichen Problem für das kontraktualistische Argument, wie auch zu der in der Sekundärliteratur mit Verwunderung registrierten Tatsache, dass Hobbes sich wenig Mühe gibt, die Todesfurcht bzw. das Streben nach Selbsterhaltung, die ja für sein Argument so zentral sind, zu begründen, vgl. den Fortgang dieses Kapitels.

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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„Ein Gesetz der Natur, lex naturalis, ist eine von der Vernunft ermittelte Vorschrift oder allgemeine Regel, nach der es einem Menschen verboten ist, das zu tun, was sein Leben vernichten oder ihn der Mittel zu seiner Erhaltung berauben kann, und das zu unterlassen, wodurch es seiner Meinung nach am besten erhalten werden kann“ (LD 14, 99).

Während jeder Körper von Natur aus von der ihm zur Verfügung stehenden Macht freien Gebrauch machen kann und dies gemäß dem Naturgesetz auch tun soll, stößt diese freie Machtausübung an materielle Grenzen in Form von anderen Körpern. Die instrumentelle Vernunft muss daher nach einem Weg suchen, den gewaltsamen Tod abzuwehren und eine möglichst ungehinderte Körperbewegung aufrecht zu erhalten. Wie kann das geschehen? Die an der Selbsterhaltung interessierte Vernunft diktiert in der Form der ersten beiden „Gesetze der Natur“ den Weg: Weil ein Problem des Naturzustandes in der ständigen Kampfbereitschaft lag, muss diese im wohlverstandenen Eigeninteresse einer Friedensorientierung weichen. Das erste Gesetz der Natur lautet: ­„ Jeder­ mann hat sich um Frieden zu bemühen, solange dazu Hoffnung besteht“ (LD 14, 100). Die Bedingung – solange dazu Hoffnung besteht – weist auf die Instrumentalität der Friedfertigkeit hin: Diese ist als ein Mittel ersonnen worden, die Bedürfnisbefriedigung sicherzustellen und ist folglich nur solange sinnvoll, wie sie diesen Mittelcharakter besitzt. Ebenso muss es, weil die ungehinderte Freiheit aller sich bewegenden Körper Kollisionen und Todesgefahr erzeugte, Freiheitseinschränkungen geben, um dies zu vermeiden. Diese Freiheitseinschränkungen werden von Hobbes explizit als Mittel – um den Frieden, der aber ja seinerseits nur ein Mittel für die Selbsterhaltung war und um die Selbsterhaltung zu gewährleisten – bezeichnet. Nur wenn es für die Selbsterhaltung notwendig und zuträglich ist, können Freiheitseinschränkungen als rational gelten: „Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf a­ lles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbstverteidigung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde“ (LD 14, 100).

Diese durch das Naturgesetz formulierten „Pflichten“ sind aber von vornherein bedingte Pflichten, insofern das fundamentale Recht auf Selbsterhaltung die unbedingte Priorität des Selbstschutzes formuliert.129 Auch in der weiteren Formulierung des ersten Gesetzes der Natur wird diese Priorität des natürlichen Rechts auf

129 In dieser Hinsicht stimme ich völlig mit der Analyse von Strauss überein, der die These vom Vorrang des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung im Hobbes-Kapitel von Naturrecht und Geschichte formulierte: „Alle Pflichten sind von dem fundamentalen und unveräußerlichen Recht auf Selbsterhaltung abgeleitet. Somit gibt es keine absoluten oder bedingungslosen Pflichten. Pflichten sind nur insoweit bindend, als ihre Erfüllung nicht unsere Selbst­ erhaltung in Gefahr bringt. Nur das Recht auf Selbsterhaltung ist bedingungslos und absolut“ (Strauss 1956, 188).

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B. Die politische Logik des Körpers

Selbsterhaltung deutlich und von Hobbes explizit formuliert – der oberste Grundsatz des natürlichen Rechts liegt allen Verpflichtungen zu Grunde und hebt diese im Zweifelsfall auf: „Kann er ihn [den Frieden, E.O] nicht herstellen, so darf er sich alle Hilfsmittel und Vorteile des Kriegs verschaffen und sie benützen. Der erste Teil dieser Regel enthält das erste und grundlegende Gesetz der Natur, nämlich: Suche Frieden und halte ihn ein. Der zweite Teil enthält den obersten Grundsatz des natürlichen Rechts: Wir sind befugt uns mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen“ (LD 14, 100).

Wie die Friedensorientierung, so ist auch die freiwillige Freiheitseinschränkung nur in gewissen Fällen zu empfehlen: Schränken andere Körper ihre Freiheit nicht ein, würde eine eigene Einschränkung der Logik der Selbsterhaltung widersprechen und nur bedeuten, sich diesen anderen auszuliefern. Die Reziprozitätsorientierung ist also ausdrücklich das Ergebnis einer instrumentell kalkulierenden Vernunft. Sowohl die Friedensorientierung wie auch die Freiheitseinschränkung zahlen sich nur aus, wenn alle anderen ebenfalls dazu bereit sind. Dabei ist die Rationalität nach wie vor auf den Zweck der Selbsterhaltung ausgerichtet: Nur weil und nur wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, ihren Handlungsradius zu begrenzen und auf offene Macht- und Gewaltausübung zu verzichten, kann es selbsterhaltungsdienlich und daher rational sein, sich ebenfalls zu mäßigen.130 Die instrumentelle Vernunft der machtorientierten Körper ersinnt also zur Lösung des Problems einer gehinderten Bewegung, d. h. einer gebremsten Leidenschaftsausübung, das Mittel eines wechselseitigen Rechtsverzichtes. Dieser Verzicht bedeutet keinen Verzicht auf ein Recht, sondern nur den Verzicht auf die Wahrnehmung eines Rechts, sprich eines gewissen Freiheitsspielraums. In Übereinstimmung mit der Logik der Freiheit äußerer Körper verzichten die Körper darauf, sich gegenseitig zu behindern oder, wie Hobbes formuliert, sie „geben den Weg frei“ und verzichten darauf, den anderen Körpern im Weg zu stehen. Obwohl Hobbes von Rechtsübertragungen spricht, macht er deutlich, dass in diesem Fall nicht ein Recht auf einen anderen Menschen übergeht. Weil ohnehin alle Menschen ein natürliches Recht auf alles, d. h. auch auf den Körper eines anderen haben, bedeutet Rechtsübertragung lediglich, den Nutznießer der Rechtsübertragung131 nicht daran zu hindern, dass dieser von seinem natürlichen Recht ungehindert Gebrauch machen kann.

130 „Verzichten aber andere nicht ebenso wie er auf sein Recht, so besteht für niemanden Grund, sich seines Rechtes zu begeben, denn dies hieße eher, sich selbst als Beute darbieten – wozu niemand verpflichtet ist – als seine Friedensbereitschaft zeigen“ (LD 14, 100). 131 Rechtsverzicht und Rechtsübertragung unterscheiden sich bei Hobbes dadurch, dass die Rechtsübertragung einen eindeutigen Nutznießer erfordert: „Einfacher Verzicht liegt dann vor, wenn man sich nicht darum kümmert, wem der Vorteil daraus zufällt, Übertragung, wenn man beabsichtigt, den Vorteil einer gewissen Person oder Personenmehrheit zukommen zu lassen“ (LD 14, 100).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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„Auf das Recht auf irgend etwas verzichten heißt sich der Freiheit begeben, einen anderen daran zu hindern, den Nutzen aus seinem Recht hierauf zu ziehen. Denn verzichtet jemand auf sein Recht oder überträgt er es, so gibt er damit niemandem ein Recht, das dieser nicht vorher schon besessen hätte, da es nichts gibt, worauf nicht jedermann von Natur aus ein Recht hätte. Er gibt vielmehr dem anderen nur den Weg frei, damit dieser sein eigenes, ursprüngliches Recht ohne eine von ihm verursachte Behinderung ausüben kann, nicht aber ohne Behinderung durch einen anderen. So liegt die Wirkung, die der Wegfall des Rechts eines anderen auf jemanden hat, in einer entsprechenden Verringerung der Hindernisse in der Ausübung seines eigenen ursprünglichen Rechts“ (LD 14, 100, Hervorhebungen E. O.).

Ein Rechtsverzicht, d. h. eine freiwillige Verkleinerung des Bewegungsradius kann allerdings nur dann von Nutzen sein, wenn alle anderen Körper ebenfalls dazu bereit sind, ihr umfassendes Recht auf alles nicht wahrzunehmen und ihren Bewegungsspielraum dort, wo er sich auf andere Körper erstreckt, einzuschränken. Die Wechselseitigkeit ist also eine notwendige, aber sie ist noch keine hinreichende Voraussetzung für die Rationalität des Verzichts auf die Wahrnehmung seines Rechtes. Die Bereitschaft zu einer Verkleinerung des Bewegungsradius stellt für sich genommen noch keine Lösung dar, wenn es nicht ein Mittel gibt, diese Bereitschaft auch bei anderen Menschen zu erzwingen und dauerhaft zu machen. Damit die von der Vernunft ersonnene Lösung des Problems wirksam ist, muss sie durch die Leidenschaften unterstützt werden; andernfalls ist diese machtlos. Die Leidenschaft gibt der Vernunft nicht nur das Ziel vor – Selbsterhaltung –, sondern sie muss auch dafür sorgen, dass der Körper sich geradlinig und ohne Ablenkung auf das von der Leidenschaft identifizierte mittelbare Ziel zubewegt. Auch wenn der Rechtsverzicht als geeignetes Mittel einer ungehinderten Körperbewegung ersonnen wurde, entfaltet die instrumentelle Vernunft allein nicht genügend Kraft, dieses mittelbare Ziel anzustreben. Die Bande der Worte und Handlungen, mit denen ein Rechtsverzicht erklärt wird, besitzen nicht genügend Kraft, um die von den Leidenschaften bewegten Körper zu bremsen, sondern Letztere müssen durch eine größere Macht in geordnete Bahnen gezwungen werden: „Und diese Zeichen [des Rechtsverzichts, E. O.] sind entweder nur Worte oder nur Handlungen, oder, wie meistens, Worte und Handlungen. Und sie stellen die Bande dar, durch welche die Menschen gebunden und verpflichtet werden, Bande, deren Stärke nicht auf ­ihrer eigenen Natur beruht – denn nichts wird leichter gebrochen als das Wort eines Menschen –, sondern auf der Furcht vor der üblen Folge eines Wortbruchs“ (LD 14, 101).

Nicht die Kraft von Worten, sondern allein die Kraft der Leidenschaften – und hier vor allem die Furcht vor der üblen Folge eines Wortbruchs – kann einen Menschen dazu bewegen, Absichtserklärungen zur Freiheitseinschränkung einzuhalten. Hobbes betont an zahlreichen Stellen, dass die Leidenschaften nur durch eine noch stärkere Leidenschaft  – die Furcht  – gezügelt werden können. Als leidenschaftsbewegter Körper hat der Mensch keine Freiheit, sich nach anderen Zielen auszurichten als nach denjenigen, die ihm von seinen Leidenschaften diktiert werden: Selbst wenn also die instrumentelle Vernunft Verträge als probates Mittel der Leidenschaftsbefriedigung identifiziert, muss für die Einhaltung der Verträge die Leidenschaft sorgen. Aus diesem Grund kann es auch nur dann rational

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B. Die politische Logik des Körpers

sein, sich an Verträge zu halten, wenn es eine Macht gibt, die die Einhaltung der Verträge erzwingen kann. Die Einhaltung von Verträgen ist also keine unbedingte „Pflicht“.132 Auch am Ende des 14. Kapitels, in dem die Rechtsübertragung als geeignetes Mittel der Vermeidung des Kriegszustandes präsentiert wurde, macht Hobbes noch einmal unmissverständlich deutlich, dass es nicht Worte oder Abmachungen, sondern nur Leidenschaften sind, die die Körper dazu zwingen können, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Nur die Furcht kann Menschen zwingen, sich an ihre Verträge zu halten. Hobbes weist in diesem Kontext zwar darauf hin, dass es manchmal eine andere Leidenschaft geben mag, die den Körper in eine bestimmte Richtung bewegen kann – nämlich das Streben nach einem speziellen Ruhm, den man als Edelmut charakterisieren könnte. Eine solche Leidenschaft wäre jedoch zu selten und – selbst wenn sie vorhanden wäre – zu unzuverlässig. Man könne sich einzig auf die Furcht als starke und weit verbreitete Leidenschaft verlassen.133 Während die Vernunft also Friedensbereitschaft und Verträge als geeignete Mittel der Selbsterhaltung und der Bedürfnisbefriedigung ersinnt, müssen wiederum die Leidenschaften dafür sorgen, dass diese mittel­baren Ziele auch tatsächlich angestrebt werden. 132 „Wird ein Vertrag abgeschlossen, bei dem keine der Parteien sofort erfüllt, sondern nur im gegenseitigen Vertrauen, so ist er im reinen Naturzustand – im Zustand des Kriegs eines jeden gegen jeden – bei jedem vernünftigen Verdacht unwirksam. […] Denn wer zuerst erfüllt, kann nicht sicher sein, daß der andere daraufhin erfüllen wird, da das Band der Worte viel zu schwach ist, um den Ehrgeiz, die Habgier, den Zorn und die anderen menschlichen Leidenschaften ohne die Furcht vor einer Zwangsgewalt zu zügeln. […] Und deshalb gibt sich der zuerst Erfüllende nur seinen Feinden preis – entgegen dem unverzichtbaren Recht auf Verteidigung seines Lebens und auf die zur Fristung seines Lebens notwendigen Mittel“ (LD 14, 105, Hervorhebungen E. O.). 133 „Da die Kraft von Worten, wie ich oben schon bemerkt habe, zu schwach ist, um die Menschen zur Erfüllung ihrer Verträge anzuhalten, gibt es in der menschlichen Natur nur zwei denkbare Hilfsmittel zu ihrer Stärkung, und diese sind einmal die Furcht vor den Folgen eines Wortbruches, oder aber das Gefühl des Ruhms oder Stolzes, als jemand dazustehen, der einen Wortbruch nicht nötig hat. Dieser letzte Fall ist ein Edelmut, den man zu selten antrifft, als daß er vorausgesetzt werden könnte, ganz besonders bei Leuten, die Reichtum, Kommandogewalt und sinnlichen Vergnügen nachjagen, und dies ist der größte Teil der Menschheit. Die Leidenschaft, auf die man zählen kann, ist die Furcht […].“ (LD 14, 108) Wenngleich es auch eine natürliche Religion jedes Menschen gebe, die Hobbes als Furcht vor unsichtbaren Geistern bezeichnet, sei die größere Furcht diejenige vor der Macht anderer Menschen, die der Vertragsbruch schädigt. Auch diese Furcht erweist sich im Naturzustand aber als nicht stark genug, die Menschen zur Einhaltung von Verträgen zu zwingen: Bevor man nicht gekämpft hat, weiß man nicht, ob der andere Körper nicht vielleicht schwächer ist, als man selbst, und es deswegen durchaus lohnenswert sein könnte, einen Vertrag zu brechen: „Die Leidenschaft, auf die man zählen kann, ist die Furcht, die zwei sehr allgemeine Dinge zum Gegenstand hat: einmal die Macht unsichtbarer Geister und sodann die Macht der Menschen, die der Vertragsbruch schädigt. Obwohl die erste die größere Macht ist, so ist doch die Furcht vor der zweiten gewöhnlich die größere Furcht. Die Furcht vor der ersten Macht ist die eigene Religion jedes Menschen, die schon vor der bürgerlichen Gesellschaft in der Natur des Menschen angelegt ist. Auf die zweite Macht trifft dies nicht zu, sie hat mindestens nicht genügend Gewicht, um die Menschen an ihre Versprechen zu binden, da im reinen Naturzustand die Ungleichheit der Macht nur an dem Ausgang eines Kampfes festgestellt wird“ (LD 14, 108).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Die Rolle der Leidenschaften bei den natürlichen Gesetzen ist also eine zwei­ fache: Die Leidenschaften geben das Ziel vor – die Selbsterhaltung – von dem ausgehend die instrumentelle Vernunft dann geeignete Mittel zur Erreichung dieses Ziels suchen kann. Die Leidenschaft wird aber zweitens benötigt, um die Körper zur dauerhaften Ausrichtung auf dieses von der instrumentellen Vernunft identifizierte, mittelbare Ziel zu zwingen. Die Leidenschaften geben also nicht nur das Ziel der natürlichen Gesetze vor, sondern sie sind auch das einzige Mittel, das dafür sorgen kann, dass diese „Gesetze“ auch eingehalten werden können. Hobbes zählt im Folgenden noch weitere natürliche „Gesetze“ der Vernunft auf. So spricht er von einem natürlichen Gesetz, Verträge einzuhalten, und einigen weiteren, die Dankbarkeit, Bescheidenheit, eine Gleichheitsorientierung sowie die Akzeptanz eines Schiedsrichters anempfehlen. Auch in der Erläuterung dieser „Gesetze“ macht Hobbes aber nach wie vor deutlich, daß es sich um Mittel handelt, um die Selbsterhaltung zu gewährleisten. Auch das erste natürliche Gesetz, das die Friedensbereitschaft befiehlt, ist nur ein Mittel zum Zweck. Der fundamentale, durch die Leidenschaft diktierte Zweck ist derjenige der Selbsterhaltung.134 Der oberste Grundsatz des natürlichen „Rechts“ hat unbedingte Priorität, wie Hobbes auch durch seine Unterscheidung von Verpflichtungen „in foro interno“ und „in foro externo“ verdeutlicht. Die Erhaltung der menschlichen Natur ist das Ziel und die Grundlage der Geltung aller natürlichen Gesetze. Man wäre zwar verpflichtet, sich zu wünschen, dass die Gesetze gelten mögen  – d. h. dass (andere) Menschen friedensbereit sind und Verträge einhalten –, aber man wäre nicht unter allen Umständen verpflichtet, die Gesetze selbst zu befolgen.135 Überhaupt wäre die Rede von Verpflichtungen136 eher unpassend, so räumt Hobbes an anderer Stelle auch selbst ein. Eigentlich handele es sich bei den natürlichen Gesetzen nämlich gar nicht um Gesetze, sondern um Schlussfolgerungen, die das betreffen, was der Erhaltung und Verteidigung der Menschen dient: 134 „Dies sind die natürlichen Gesetze, die den Frieden als Mittel zur Selbsterhaltung der in einer Menge lebenden Menschen befehlen und die ausschließlich die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft betreffen“ (LD 15, 120, Hervorhebungen E. O.). 135 „Die natürlichen Gesetze verpflichten in foro interno, das heißt sie verpflichten zu dem Wunsch, daß sie gelten mögen, aber in foro externo, das heißt zu ihrer Anwendung, nicht immer. Denn jemand, der zu einer Zeit und an einem Ort bescheiden und umgänglich wäre und alle seine Versprechen erfüllte, wo sich sonst niemand so benimmt, würde sich nur den anderen als Beute darbieten und seinen sicheren Ruin herbeiführen, im Widerspruch zur Grundlage aller natürlichen Gesetze, die die Erhaltung der menschlichen Natur zum Ziel haben“ (LD 15, 121). 136 Hobbes rechtfertigt seine eigene Rede von Verpflichtungen denn auch mit dem Common Sense: Üblicherweise spreche man bei Rechtsübertragungen eben davon, dass Pflichten entstehen: „Und wenn jemand auf irgendeine Weise sein Recht aufgegeben oder übertragen hat, so sagt man, er sei verpflichtet oder gebunden, diejenigen, zu deren Gunsten er dieses Recht übertragen oder aufgegeben hat, nicht an der Wahrnehmung des daraus entspringenden Vorteils zu hindern, und er soll – es sei seine Pflicht – seiner eigenen willentlichen Handlung nicht ent­ gegenhandeln. Und eine solche Behinderung wird Ungerechtigkeit und Unrecht genannt, da sie sine jure geschieht, denn das Recht wurde zuvor aufgegeben oder übertragen“ (LD 14, 100 f.).

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B. Die politische Logik des Körpers

„Diese Weisungen der Vernunft werden von den Menschen gewöhnlich als Gesetze bezeichnet, aber ungenau. Sie sind nämlich nur Schlüsse oder Lehrsätze, die das betreffen, was zur Erhaltung und Verteidigung der Menschen dient, während ein Gesetz genau genommen das Wort desjenigen ist, der rechtmäßig Befehlsgewalt über andere hat“ (LD 15, 122).

Auch diese weiteren Schlussfolgerungen können – selbst wenn sie von der instrumentellen Vernunft gefunden werden – nicht von selbst ihre Anwendung garantieren, sondern sind auf die Leidenschaften angewiesen. Im 17. Kapitel fasst Hobbes die Rolle der Leidenschaften bei der Problemgenese und der Problem­ lösung nochmals zusammen und bestätigt dabei den doppelten Status der Naturgesetze, den unsere Analyse herausgearbeitet hat: Leidenschaftsgesteuerte Körperwesen bewegen sich zunächst ungehindert so, wie es ihnen ihre Leidenschaften diktieren, was zum Kriegszustand, d. h. zu Machtkonflikten zwischen Körpern führt. Zwar kann die Leidenschaft, die die Menschen zur Selbsterhaltung treibt (Todesfurcht), der instrumentellen Vernunft ein neues Ziel vorgeben (Frieden) und die instrumentelle Vernunft kann dann die natürlichen Gesetze (Reziprozitäts­ orientierung, Vertragstreue, etc.) als geeignete Mittel der Selbsterhaltung identifizieren. Auch wenn diese Klugheitsregeln gefunden sind, müssen aber die Leidenschaften hinzukommen, um die Einhaltung dieser Klugheitsregeln zu erzwingen, gerade weil die natürlichen Gesetze den natürlichen Leidenschaften der Menschen entgegengesetzt sind.137 Die Körper können nur dauerhaft dazu bewegt werden, sich entlang dieser von den Klugheitsregeln vorgeschriebenen Wege zu bewegen, wenn es eine Zwangsgewalt gibt, die sie dazu zwingt. Die natürlichen Gesetze sind den natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt und können nur eingehalten werden, wenn eine stärkere Leidenschaft deren Befolgung erzwingt: „Denn die natürlichen Gesetze wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Bescheidenheit, Dankbarkeit, kurz, das Gesetz, andere so zu behandeln wie wir selbst behandelt werden wollen, sind an sich, ohne die Furcht vor einer Macht, die ihre Befolgung veranlaßt, unseren natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt, die uns zu Parteilichkeit, Hochmut, Rachsucht und Ähnlichem verleiten. Und Verträge ohne das Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten“ (LD 17, 131).

Ohne eine solche Gewalt würden solche Klugheitsregeln nur dann eingehalten werden, wenn sie der eigenen Selbsterhaltung nicht schaden würden und zweitens  – noch wichtiger  – wenn überhaupt ein Wille da wäre, diese einzuhalten. Nachdem die natürlichen Gesetze aber den natürlichen Leidenschaften entgegengesetzt sind und der Wille von den Leidenschaften nicht unabhängig ist, sondern 137 „Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen – das heißt, dem elenden Kriegszustand zu entkommen, der, wie im 13. Kapitel gezeigt wurde, aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen notwendig folgt, dann nämlich, wenn es keine sichtbare Gewalt gibt, die sie im Zaume zu halten und durch Furcht vor Strafe an die Erfüllung ihrer Verträge und an die Beachtung der natürlichen Gesetze zu binden vermag, die im vierzehnten und fünfzehnten Kapitel aufgestellt wurden“ (LD 17, 131).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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jeweils nur die letzte, stärkste und handlungsauslösende Leidenschaft beschreibt, ist ein solcher Wille eher unwahrscheinlich.138 Die natürlichen Gesetze sind also Klugheitsregeln, die eine instrumentelle Vernunft ersonnen hat, um das von den Leidenschaften diktierte Ziel der Selbsterhaltung zu gewährleisten und die nur dann eingehalten werden, wenn es eine Leidenschaft gibt, die deren Einhaltung erzwingen kann. Die instrumentelle Vernunft, die die natürlichen Gesetze findet, ist also in doppelter Weise von den Leidenschaften abhängig: Ihr wird das Ziel von den Leidenschaften diktiert und sie benötigt die Leidenschaften, um den Körper auf dieses Ziel auszurichten. Die im Kontext der mechanistisch-materialistischen Naturphilosophie entworfene Anthropologie der ersten Kapitel des Leviathan, die den Menschen als leidenschaftsbewegten Körper konzipiert, findet also ebenfalls Eingang in die Lehre von den natürlichen Gesetzen. d) Die Autorisierung: Ein Wächter der Freiheit als Lösung des Überlebensproblems? Das Problem des Naturzustandes – die Kollision von Körpern, die Machtakkumulation und die daraus resultierende Todesfurcht – verweist von sich aus auf eine bestimmte Problemlösung: Die Erzeugung eines Körpers mit größerer Macht als alle anderen Körper, der dadurch in der Lage ist, diese Körper zur Einhaltung bestimmter Bewegungen zu zwingen und so das Überleben zu sichern. Wie kann nun dieser stärkere Körper erzeugt werden? Zunächst könnte man meinen, die einfache Addition möglichst vieler kleinerer Körper könnte dafür ausreichen, eine unvergleichlich große Macht als Summe vieler kleiner Einzelmächte herzustellen. Gerade im Hinblick auf die Verteidigung gegen andere große künstliche Körper – also im Hinblick auf die Außenpolitik – empfiehlt es sich, möglichst viele Körper zusammen zu binden, um durch die Herstellung einer größeren Macht Angriffe von vornherein abzuwehren.139 Wenngleich die Logik von Druck und Stoß zum Erfordernis einer quantitativen Vermehrung der Körper führt, reicht die einfache Addition jedoch nicht aus, um den entstehenden großen Körper handlungsfähig zu machen. Weil die Leidenschaften der Menschen auf verschiedene Ziele gerichtet sind, streben die einzelnen Körper in verschiedene Richtungen oder so 138 „Falls keine Zwangsgewalt errichtet worden oder diese für unsere Sicherheit nicht stark genug ist, wird und darf deshalb jedermann sich rechtmäßig zur Sicherung gegen alle anderen Menschen auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit verlassen – ungeachtet der natürlichen Gesetze (die jedermann dann eingehalten hat, wenn er willens ist, sie in den Fällen einzuhalten, wo er dies ungefährdet tun kann)“ (LD 17, 131). 139 „Auch der Zusammenschluß einer kleinen Anzahl von Menschen gibt ihnen diese Sicherheit nicht, denn bei kleinen Zahlen verleihen kleine Zunahmen auf der einen oder anderen Seite eine so große Übermacht, daß sie genügt, zum Sieg zu führen und deshalb zu einem angriff ermutigt. Die Menge, die zu einer verläßlichen Sicherheit ausreicht, ergibt sich nicht aus einer bestimmten Zahl, sondern aus einem Vergleich mit dem gefürchteten Feind, und sie reicht dann aus, wenn die Überzahl des Feindes nicht so offensichtlich ist, daß von vornherein der Ausgang des Friedens feststeht und ihn deshalb zu einem Versuch ermuntert“ (LD 17, 132).

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gar gegeneinander. Macht und Stärke können sich durch einfache Addition nicht ergeben, wenn nicht auch die einheitliche und kontinuierliche Ausrichtung auf ein Ziel gewährleistet ist.140 Die einzelne Addition von Körpern zu einem größeren Körper oder von Menschen zu einer Menge von Menschen reicht folglich nach Hobbes nicht aus, um die Selbsterhaltung zu garantieren. Gerade weil die leidenschaftsbewegten Körper nur durch ihren einzelnen Willen bewegt werden, stellt die einfache Addition einer Menge von Körpern noch keine Macht dar, solange sich diese nicht einheitlich bewegen.141 Hobbes macht unmissverständlich deutlich, dass ein bloßer Vertrag eine solche Einheitlichkeit aller Willen nicht herstellen könnte. Auch eine temporäre Übereinstimmung der Einzelwillen, die durch die Furcht vor einem auswärtigen Feind erzeugt wird, könne keine dauerhafte Lösung des Problems sein.142 Um die Einzelwillen dauerhaft in eine einheitliche Richtung lenken zu können, ist daher ein permanenter Schrecken bzw. eine allge­ ewalt notwendig: meine G „Letztlich. Die Übereinstimmung dieser Lebewesen [Bienen und Ameisen, E. O.] ist natürlich, die der Menschen beruht nur auf Vertrag, der künstlich ist. Und deshalb ist es kein Wunder, daß außer dem Vertrag noch etwas erforderlich ist, um ihre Übereinstimmung beständig und dauerhaft zu machen, nämlich eine allgemeine Gewalt, die sie im Zaum halten und ihre Handlungen auf das Gemeinwohl hinlenken soll“ (LD 17, 134, Hervorhebungen E. O.). 140 „Und eine Menge mag noch so groß sein: Wenn die Handlungen der einzelnen von ihren besonderen Urteilen und Neigungen geleitet werden, so können sie von ihnen weder Verteidigung noch Schutz gegen einen gemeinsamen Feind, noch gegen Übergriffe, die sie sich gegenseitig zufügen, erwarten. Denn da ihre Meinungen über die beste Ausnützung und Anwendung ihrer Stärke auseinandergehen, helfen sie sich nicht, sondern hindern sich gegen­ seitig und reduzieren ihre Stärke, indem sie sich gegenseitig bekämpfen, auf ein Nichts“ (LD 17, 132, Hervorhebungen E. O.). 141 „Dadurch werden sie nicht nur leicht durch eine sehr kleine Zahl von Menschen, die sich einig sind, unterworfen, sondern sie führen auch ohne gemeinsamen Feind wegen ihrer Einzelinteressen gegeneinander Krieg. Denn könnten wir annehmen, eine große Menge von Menschen stimmte ohne eine allgemeine, sie alle im Zaum haltende Macht miteinander in der Beachtung von Gerechtigkeit und allen anderen natürlichen Gesetzen überein, so könnten wir ebensogut annehmen, die ganze Menschheit verhielte sich so, und dann gäbe es überhaupt keine bürgerliche Regierung oder einen Staat, noch wären sie nötig, denn es herrschte Frieden ohne Unterwerfung“ (LD 17, 132). 142 „Die Sicherheit, von der die Menschen wünschen, sie möge ihr Leben lang andauern, ist auch nicht gewährleistet, wenn diese nach dem Ermessen eines einzelnen für eine begrenzte Zeit, z. B. in einer Schlacht oder in einem Krieg, regiert werden. Denn selbst wenn sie durch ihre einmütige Anstrengung einen Sieg über einen auswärtigen Feind erringen, so müssen sie danach doch notwendig sich wegen ihrer unterschiedlichen Interessen entzweien und wieder in einen Krieg untereinander zurückfallen, wenn sie nämlich entweder keinen gemeinsamen Feind haben oder aber jemand von der einen Partei als Feind und von der anderen als Freund angesehen wird“ (LD 17, 132). Hobbes nennt ebd. weitere Gründe dafür, weshalb ein auswärtiger Feind eine solche Furcht nicht dauerhaft erzeugen könnte: Sobald der auswärtige Feind besiegt ist, hört die Angst vor ihm auf. Wenn er aber nicht besiegt werden kann, und auch von sich aus für eine längere Zeit nicht angreift, verlieren einige Menschen die Furcht vor ihm. Ein auswärtiger Feind ist also nicht geeignet, diese Furcht dauerhaft zu erzeugen.

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Es ist also nicht so, dass sich rationale Akteure in dem Bewusstsein, dass ein Schiedsrichter die einzige Lösung für Rechtskonflikte darstellt, freiwillig dem Urteil dieses Schiedsrichters beugen. Nicht die Einsicht in die Notwendigkeit einer Rechtsordnung bringt Menschen dazu, sich rechtlich zu verhalten. Eine solche temporäre Einsicht reichte zur Lösung des Problems gar nicht aus.143 Es ist Gewalt bzw. die Macht der Leidenschaft der Todesfurcht und nicht Einsicht, die den Willen lenkt: „Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm soviel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, daß er durch den dadurch erzeugten Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde zu lenken“ (LD 17, 134, Hervorhebungen E. O.).

Nicht die aus vernünftiger Einsicht gewonnene Vereinigung der Willen, sondern die Macht ist es, die die dauerhafte Handlungsfähigkeit sicherstellt, weil nur die Macht Schrecken erzeugen kann und dadurch in der Lage ist, Willen zu lenken.144 Weil das Problem des Naturzustandes in den Leidenschaften lag und auch die Naturgesetze als Klugheitsregeln machtlos sind, wenn sie nicht durch die Leidenschaften unterstützt werden, liegt auch die Lösung des Naturzustandsproblems in den Leidenschaften: Die durch die instrumentelle Vernunft gefundene vermeintliche Lösung, sich einem einheitlichen Willen zu unterstellen, ist keine Problemlösung, weil die Bereitschaft, auf diesen Willen zu hören, nur durch Zwang, d. h. durch die kontinuierlich erzeugte Leidenschaft der Todesfurcht hergestellt werden kann. In eine ähnliche Richtung weisen Hobbes’ Ausführungen zur Wirksamkeit von Gesetzen. Das Gesetz wird von Hobbes als „Wille und Trieb des Staates“ bezeichnet145 und die Stärke und Gewalt der Gesetze in Menschen und Waffen gesehen: 143

So aber beispielsweise Lloyd 2009, 289: „But they won’t be able to settle a new peace, unless and until they and their adversaries are willing once again to be guided by reason in its demands to submit to authoritative adjudication of contested questions“ (Hervorhebungen E. O.). 144 Dagegen beispielsweise Hüning 1998, 223: „Und dieser in den Formen der Staatlichkeit ‚vereinigte Wille des Volkes‘ (um eine Kantische Formulierung zu benutzen) stiftet eine reziproke Verbindlichkeit aller gegen alle, weil diesem Willen genau diejenige Eigenschaft­ zukommt, die dem bloßen Willensverband bzw. der Zweckgemeinschaft fehlt, nämlich einen Zweck zu haben und etwas zu wollen, was alle um ihrer eigenen besonderen Zwecke willen ihrerseits haben wollen.“ Hünings Beschreibung des Hobbes’schen Akteurs stellt ein Problem dar, insofern Hüning einerseits freies Handeln mit der Möglichkeit „sich […] irgendwelche Zwecke zu setzen und diese zu realisieren“ identifiziert, andererseits aber bestreitet, dass hierfür die Annahme der Willensfreiheit notwendig wäre (ebd. 155). 145 „Aristoteles und andere heidnische Philosophen definierten Gut und Böse durch die Triebe der Menschen, und zurecht, solange wir davon ausgehen, daß jeder von seinem eigenen Gesetz beherrscht wird. […] In einem Staat ist dieser Maßstab aber falsch: nicht der Trieb von Privatleuten, sondern das Gesetz, das Willen und Trieb des Staates darstellt, ist der Maßstab“ (LD 46, 518 f.).

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„Welcher Mensch, der seine natürlichen Sinne beisammen hat, selbst wenn er weder lesen noch schreiben kann, hält sich nicht von denjenigen beherrscht, die er fürchtet und von denen er annimmt, daß sie ihn töten oder ihm schaden können, wenn er nicht gehorcht? Oder wer glaubt, das Gesetz könne ihm schaden, das heißt Worte und Papier, ohne die Hände und Schwerter von Menschen?“ (LD 46, 521, Hervorhebungen E. O.)

An dieser Stelle kann nun also die gemeinsame Grundannahme der rechtstheoretischen Deutungsfamilie, dass es sich bei dem Hobbes’schen Subjekt um einen rationalen Akteur handelt, der an einer rechtmäßigen Sicherung seiner Freiheit interessiert ist, diskutiert werden.146 Tatsächlich klingen einige Formulierungen von Hobbes so, als wäre der Naturzustandsbewohner ein rationaler Akteur, der insofern frei handeln könnte, als er durch seinen Willen seinen Körper lenken könnte und folglich auch zu einem kontinuierlichen Willen und Selbstverpflichtungen in der Lage wäre.147 Die im 16. Kapitel eingeführten Begriffe der Person, des Autors, und der Handlung werden von Hobbes in der Tat so verwendet, als könne der Mensch frei über seinen Willen verfügen und sich beispielsweise dazu verpflichten, auch in Zukunft friedensorientiert und vertragstreu zu handeln. Er spricht von Autoren, die Handlungen initiieren können, als wäre der menschliche Wille frei und davon, dass Menschen ihren Willen dem Willen eines anderen unterwerfen könnten: Menschen würden Hobbes zufolge ihr eigenes Urteil und ihren eigenen Willen dem des Souveräns unterordnen. Außerdem erwähnt er ein Recht auf Selbstregierung, was eine gewisse Unabhängigkeit des Willens vom Körper sug-

146 Vgl. Hüning 1998, 154 f.: „Hobbes’ verbindlichkeitstheoretische Position […] setzt auf seiten [sic!] des Individuums kein anderes Interesse voraus als das Interesse an der rechtsförmigen Sicherung des Rechts auf Selbsterhaltung. […] Es ist die immanente Logik des eigenen freien Handelns, das den einzelnen die Einschränkung ihrer natürlichen Freiheit auf­nötigt, so daß der Zwang, der aufgrund der Logik des eigenen freien Handelns der Individuen erfolgt, der Zwang eines Willens, den sie als frei Handelnde notwendig selbst haben müssen [sic!] [ist, E. O.].“ Ähnlich Lloyd 2009, 250 und 260: „Again, the relevant contrast is not between philosophical voluntarism and determinism of the will; it is rather a contrast between being a distinctively human being, whose actions, although strictly determined, are nonetheless determined by the exercise of human judgment as well as one’s animal passions, and being a creature whose doings are driven by instincts or desires alone. […] The only assumptions Hobbes makes about our essential interests are that we are concerned to conform to the requirements of rationality, and of effective exercise of our agency.“ 147 Auf den Punkt bringt diese Prämissen eines rationalen Akteurs und eines vom Körper unabhängigen Willens als Grundlagen der Autorisierungstheorie beispielsweise Kersting 1994, 87 f., der schreibt: „Während das Recht auf alles sich auf das Äußere bezieht, auf das Dingliche und Körperliche, auch auf die Körper und äußeren Handlungen der Konkurrenten, kommen mit dem Recht auf Selbstregierung die Momente des Willens, der Subjektivität und Personalität ins Spiel. Damit gewinnt die Vorstellung der Formierung einer handlungsfähigen, dem Modell der personalen Einheit nachgebildeten, mit Subjektivitätsmerkmalen aus­gestatteten politischen Einheit an Deutlichkeit und innerer Stringenz. […] Das Herrschaftsrecht des Souveräns hat seinen Rechtsgrund in der vertraglichen Übertragung des Selbstregierungsrechts und ist nach dem Modell der Selbstbestimmung, der Herrschaft des Willens über den Körper konstruiert“ (Hervorhebungen E. O.). Eine ähnliche Deutung eines rationalen Akteurs versuchte unlängst ebenso van Mill 2001 zu etablieren.

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geriert. Autoren scheinen demnach rationale Akteure zu sein, die ihren Körper durch einen vom Körper unabhängigen Willen bewegen können. Auch durch den Begriff der Person knüpft Hobbes an einen Sprachgebrauch an, der eine gewisse Zurechenbarkeit impliziert, die aus einer Kontinuität des Willens resultiert: „Das heißt soviel wie einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, daß jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese Weise die Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Urteil unterwirft“ (LD 17, 134, Hervorhebungen E. O.).

Der Begriff der Person, die als freiwilliger Akteur begriffen wird, und der Begriff des Willens sind für die Hobbes’sche Souveränitätstheorie also zentral. Der freie Wille, die freiwillige Verpflichtung zum Gehorsam in Form einer absoluten Unterwerfung soll die Ursache für die Rechte und Befugnisse des durch die wechselseitige Unterwerfungserklärung entstandenen Souveräns sein. Gerade diese Idee der Freiwilligkeit führt dazu, dass der Souverän per definitionem unbegrenztes Recht hat, also kein Unrecht tun kann. Hobbes benutzt den Grundsatz des volenti non fit iniuria,148 um für die absolute Rechtmäßigkeit des Souveräns zu argumentieren. Wenn dem Wollenden kein Unrecht geschehen kann, kann den Untertanen als denjenigen, die den Souverän wollen, per definitionem kein Unrecht geschehen. In verschiedenen Variationen wiederholt Hobbes im 18. Kapitel gebetsmühlenartig dieses Argument: „Da jeder Untertan durch diese Einsetzung Autor aller Handlungen und Urteile des eingesetzten Souveräns ist, so folgt daraus, daß dieser durch keine seiner Handlungen einem seiner Untertanen Unrecht zufügen kann, und daß er von keinem von ihnen eines Unrechts angeklagt werden darf. Denn wer auf Grund der Autorität eines anderen eine Handlung vornimmt, tut damit dem kein Unrecht, auf Grund von dessen Autorität er handelt“ (LD 18, 139).

Hobbes macht die Radikalität und Unbedingtheit dieser Unterwerfung überaus deutlich: Weil die Ursache der Verpflichtung nur ein wechselseitiger Vertrag, und kein Vertrag mit dem Souverän wäre, könne der Souverän den Vertrag gar nicht brechen und deshalb kein Unrecht – was ja gemäß der Definition des dritten natürlichen Gesetzes im Bruch eines Vertrages besteht – begehen.149 Hobbes führt dieses auf dem Grundsatz des volenti non fit iniuria beruhende Argument anhand verschiedener Beispiele aus: Wer versuchen würde, seinen Souverän abzusetzen oder zu töten und daraufhin vom Souverän bestraft oder getötet würde, könne sich nicht über Unrecht beklagen, da er ja Autor seiner eigenen Bestrafung 148 Vgl. Kersting 1994, 98: „Das ist das Motto aller Verträge: volenti non fit iniuria – dem, der eingewilligt hat, kann aus dem, worin er eingewilligt hat, kein Unrecht erwachsen.“ 149 „Da von den Vertragsschließenden das Recht, ihre Person zu verkörpern, demjenigen, den sie zum Souverän ernennen, nur durch einen untereinander und nicht zwischen ihm und jedem einzelnen von ihnen abgeschlossenen Vertrag übertragen wurde, kann seitens des Souveräns der Vertrag nicht gebrochen werden, und folglich kann sich keiner seiner Untertanen von seiner Unterwerfung befreien, indem er sich auf Verwirkung beruft“ (LD 18, 139).

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sei.150 An anderer Stelle bekräftigt Hobbes diesen Grundsatz, indem er das Argument von der Unmöglichkeit des Souveräns, Unrecht zu tun, ausweitet dahin­ gehend, dass nicht nur die Hinrichtung eines Rebellen, sondern auch die Hinrichtung eines Unschuldigen durch den Souverän kein Unrecht darstelle.151 Textstellen wie diese legen durchaus die nicht nur von der rechtstheoretischen Deutungsfamilie vertretene Ansicht nahe, dass der Mensch mit dem Autorisierungsvertrag alle künftigen Handlungen des Souveräns bedingungslos autorisiert, d. h. auf alle seine Rechte verzichtet und sich zum absoluten Gehorsam dem Souverän gegenüber verpflichtet. Diese Interpretation der Autorisierungstheorie findet sich auch in den meisten der jüngeren deutschsprachigen Einführungsbücher zu Hobbes und in Überblicksdarstellungen zum politischen Denken, so etwa bei Kersting,152 Höffe153 und Ottmann.154 Nicht nur im deutschen, sondern auch im angelsächsischen Sprachraum ist diese Deutung der Autorisierungstheorie die vorherrschende Interpretationsrichtung.155 Die Standarddeutung der Autorisierungs 150 „Wenn außerdem derjenige, welcher versucht, seinen Souverän abzusetzen, wegen dieses Versuches getötet oder bestraft wird, so ist er Autor seiner eigenen Bestrafung, da er durch die Einsetzung Autor aller künftigen Handlungen des Souveräns ist […]“ (LD 18, 136). 151 „Denn es wurde schon gezeigt, daß die souveräne Vertretung einem Untertan nichts zufügen kann, was aus irgendeinem Grund zu Recht Ungerechtigkeit oder Unrecht genannt werden könnte, da jeder Untertan Autor jeder Handlung des Souveräns ist. […] Das gilt auch für einen souveränen Fürsten, der einen unschuldigen Untertanen tötet“ (LD 21, 165, Hervor­ hebungen E. O.). 152 „Der Verzicht auf das Recht auf alles, die Aufgabe der natürlichen Freiheit und die Autorisierung und Übertragung des Rechts auf Selbstregierung sind allesamt vorbehaltlose Entäußerungen, die keinerlei Freiheit und keinerlei Recht auf seiten der Vertragsparteien zurückbehalten. […] Die Gehorsamsverpflichtung der Bürger ist nicht minder absolut, als die Macht, der sie gilt“ (Kersting 2002, 167 f., Hervorhebungen E. O.). 153 „Der Leviathan steigert diese Bedeutung [eines Bevollmächtigten, E. O.]. Bei ihm wird der Stellvertreter zum bevollmächtigten Vertreter, dem sich alle vorbehaltlos unterwerfen, indem sie ihm alle Rechte übertragen“ (Höffe 2010, 149, Hervorhebungen E. O.). 154 „Die Autorisierung wiederum weicht von einer privatrechtlichen Bevollmächtigung radikal ab, da sie keine Spezifizität der Aufgabe und keine Beschränkung durch die Rechte des Beauftragenden kennt. Der Fehler der Konstruktion ist leicht zu erkennen: Warum eine Person uneingeschränkt autorisieren?“ (Ottmann 2006, 293) 155 Exemplarisch herangezogen werden können als Beleg dafür die entsprechenden Artikel in den englischsprachigen Wörterbüchern zu Hobbes. So schreibt etwa Juhana Lemetti in dem von ihm verfassten Historical Dictionary of Hobbes’s Philosophy unter dem Stichwort „representation“: „An author (a subject or subjects) does not give only, if at all, a set of well-­ defined rights to an actor, but gives virtually unlimited rights not only to speak and act on his behalf but also the right to interpret what is best for the commonwealth“ (Lemetti 2012, 280, Hervorhebungen E. O.). Und auch Martinich erläutert die Autorisierung in dem von ihm verfassten Hobbes Dictionary als unbedingte Autorisierung, die jedoch angesichts des Ziels der Selbsterhaltung absurd erscheine: „Typically, authorizations are revocable at will when they do not terminate after a fixed period of time. […] Such cases of authorization always require a contract between the author and the actor in order to protect the rights of each. But Hobbes cannot think of authorization in this way since he refuses to have the sovereign be a party to the contract. […] When a person’s life is at stake, it is absurd to give someone else carte blanche […]“ (Martinich 1995b, 39).

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theorie – die, wie gezeigt wurde, durch den Wortlaut zahlreicher Stellen im Leviathan durchaus nahegelegt wird – geht also davon aus, dass ausnahmslos alle Handlungen des Souveräns durch den Autorisierungsvertrag autorisiert werden und keinerlei Rechte und Freiheiten beim Untertanen verbleiben. Mögliche Zweifel an diesem Argument, die den Verdacht äußern, dass der Souverän seine Macht missbrauchen und zum Nachteil der Untertanen verwenden könnte, wischt Hobbes mit dem lapidaren Hinweis weg, dass es schließlich im menschlichen Leben immer bestimmte Unannehmlichkeiten gebe.156 Dieser Hinweis auf bestehende Unannehmlichkeiten wird verbunden mit einem wenig überzeugenden Argument: Basierend auf der Prämisse einer an der Selbsterhaltung interessierten Vernunft kann die Behauptung, dass es schlimmer sei, von zügellosen Mitmenschen während eines Bürgerkriegs als von einem zügellosen Monarchen zu Friedenszeiten getötet zu werden, nicht überzeugen. Einzig durch die Zusatzannahme, dass der Souverän eine solche Tötungs- oder Schadensabsicht nicht verfolge, wäre das Argument vollständig. Dann aber kann dieses Argument Zweifler nicht überzeugen, weil diese ja gerade von der Möglichkeit der Existenz eines zügellosen, leidenschaftlichen Souveräns ausgegangen waren. Dennoch entfaltet Hobbes im Folgenden das Argument auf der Prämisse des um das Wohlergehen seiner Untertanen besorgten Souveräns und verbindet es mit der Ermahnung, dem Souverän als Lohn für seine Verteidigungsarbeit bereitwillig die eigene Habe zu überantworten.157 Hobbes entkräftet also das Argument, 156 „Man mag hier aber einwenden, die Untertanen befänden sich in einer sehr elenden Lage, da sie den Begierden und anderen zügellosen Leidenschaften dessen oder derer ausgesetzt seien, die eine so unbegrenzte Macht in Händen halten. Und gewöhnlich meinen diejenigen, die unter einem Monarchen leben, dies sei ein Mangel der Monarchie, und die unter einer demokratischen Regierung oder einer anderen souveränen Versammlung leben, schreiben alle Unannehmlichkeiten dieser Staatsform zu, während die Gewalt, wenn sie vollkommen genug ist, sie zu schützen, in allen Formen dieselbe ist. Sie bedenken nicht, daß der Zustand der Menschen nie ohne die eine oder andere Unannehmlichkeit sein kann, und daß die größte, die in jeder Regierungsform dem Volk gewöhnlich zustoßen mag, kaum fühlbar ist, wenn man sie mit dem Elend und den schrecklichen Nöten vergleicht, die ein Bürgerkrieg oder die Zügellosigkeit herrenloser Menschen ohne Unterwerfung unter Gesetze und unter eine Zwangs­ gewalt, die ihre Hände von Raub und Rache abhält, mit sich bringen“ (LD 18, 143 f.). 157 „Sie bedenken ebenfalls nicht, daß auch der größte Druck durch souveräne Regierungen nicht von irgendeiner Freude oder irgendeinem Nutzen herrührt, die sie aus dem Schaden oder der Schwächung ihrer Untertanen erwarten können, in deren Kraft ihre eigene Stärke und ihr eigener Ruhm bestehen, sondern von der Widerspenstigkeit der Untertanen selbst, die nur ungern zu ihrer eigenen Verteidigung beitragen und somit bewirken, daß es für ihren Regenten zur Notwendigkeit wird, im Frieden aus ihnen herauszuholen, was sie können, damit sie bei jedem unvorhergesehenen Ereignis oder jeder plötzlichen Notlage die Mittel zur Verfügung haben, ihren Feinden zu widerstehen oder sie zu übertreffen. Denn alle Menschen sind von Natur aus mit bemerkenswerten Vergrößerungsgläsern ausgestattet, nämlich ihren Leidenschaften und ihrer Eigenliebe, durch die jede kleine Abgabe als große Belastung erscheint, aber es fehlen ihnen die Ferngläser, nämlich Wissenschaft von der Moral und vom Staate, um von ferne die elenden Zustände zu sehen, die über ihnen hängen und ohne diese Abgaben nicht abgewendet werden können“ (LD 18, 144, Hervorhebungen E. O.).

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dass ein zügelloser und feindselig gegen seine Untertanen vorgehender Souverän vorstellbar und deshalb eine völlige Unterwerfung unter den Souverän gar nicht zweckdienlich für eine an der Selbsterhaltung interessierte Vernunft wäre, nicht, sondern setzt in seiner weiteren Argumentation einfach voraus, dass der Souverän an der Selbsterhaltung seiner Untertanen interessiert sei. Weil der Souverän auf jeden Fall seine Unter­tanen verteidigen wolle, sei es auch unbedingt notwendig, dem Souverän freudig alles zu geben, was für die Verteidigung notwendig sein könnte.158 Genau genommen scheint Hobbes also zu empfehlen, sich einem Souverän mit blindem Vertrauen in dessen gute Absichten zu unterwerfen. Im darauffolgenden Kapitel beschäftigt sich Hobbes dann doch etwas ausführlicher mit dem berechtigten Einwand von Zweiflern, dass Menschen sich von ihren Leidenschaften und ihrem Selbstinteresse leiten lassen und deshalb ein Souverän immer zu seinem eigenen Nutzen, nicht aber zu dem seines Volkes regieren würde. Dieses Argument wird nun interessanterweise nicht gegen, sondern für die monarchische Staatsform und die absolute Unterwerfung verwendet: Gerade weil Menschen nur ihr eigenes Wohl im Auge haben, sei es am nützlichsten, sich jemandem be­ dingungslos zu unterwerfen, dessen Interesse am meisten im Einklang mit den eigenen Interessen stehe. Die Argumentation für die Vorzugswürdigkeit der monarchischen Staatsform basiert auf der Prämisse einer Koinzidenz von öffentlichem Wohl und Privatwohl des Souveräns in der Monarchie. Darin vertritt Hobbes – ganz in Übereinstimmung mit der Anthropologie des leidenschaftsgesteuerten Körperwesens – die These, dass die Leidenschaften der Menschen mächtiger seien als deren Vernunft. „Erstens: Jeder, der die Person des Volkes verkörpert oder Mitglied der verkörpernden Versammlung ist, verkörpert auch seine eigene natürliche Person. Und selbst wenn er als politische Person sich sorgfältig um das Gemeinwohl kümmert, so kümmert er sich doch mehr, oder zumindest nicht weniger, um sein Privatwohl, um das Wohl seiner Familie, Verwandtschaft und seiner Freunde, und wenn das öffentliche Interesse zufällig dem privaten in die Quere kommt, so zieht er meistens das private vor, denn die Leidenschaften der Menschen sind gewöhnlich mächtiger als ihre Vernunft. Daraus folgt, daß dort, wo das öffentliche und das private Interesse am meisten zusammenfallen, das öffentliche am meisten gefördert wird. Nun fällt in der Monarchie das Privatinteresse mit dem öffentlichen zusammen. Reichtum, Macht und Ehre eines Monarchen ergeben sich allein aus dem Reichtum, der Stärke und dem Ansehen seiner Untertanen. Denn kein König kann reich, ruhmvoll und sicher sein, dessen Untertanen entweder arm oder verachtenswert oder durch Not oder Uneinigkeit zu schwach sind, um einen Krieg gegen ihre Feinde durchhalten zu können“ (LD 19, 146 f., Hervorhebungen E. O.).

158 Dieses Problem wurde in der Literatur vielfach registriert. Gebauer 2005, 251 nennt entsprechende Belege und fasst die Fragestellung selbst so zusammen: „Wie ist es zu erklären, dass Hobbes eine spontane, selbsttätige Friedenskonstituierung klug handelnder Menschen ohne Rechtsübertragung im Naturzustand ausschließt, während er beim Souverän auf eine Naturgesetztreue hofft?“

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Genau genommen argumentiert Hobbes also gar nicht dafür, dass der Souverän den Untertanen nicht schaden wollen kann, sondern allein dafür, dass es meistens in dessen wohlverstandenem Eigeninteresse liege, seine Stärke, seinen Wohlstand und seinen Ruhm durch starke und fleißige Untertanen zu befördern – zumindest sei die Chance dafür größer als in einer Demokratie oder in einer Aristokratie (wo sich die Souveräne den Kuchen teilen müssen).159 Die im 17. Kapitel aufgestellte Formel von der Unterwerfung des eigenen Willens und Urteils unter den Willen und das Urteil des Souveräns erfährt im 19. Kapitel eine Bestätigung durch das paradox anmutende Bild eines die Freiheit schützenden Diktators: In dem Moment, in dem ein Mensch oder mehrere Menschen nicht dazu in der Lage sind, ihr eigenes Wohl effektiv zu verfolgen, ist ein rechtlicher Vormund eine effektive Kompensation für die fehlende Fähigkeit der Zielerreichung. Das Problem der Monarchie, die die Regierungsgewalt auf ein minderjähriges Kind überübertragen könnte, das sein eigenes Wohl nicht adäquat erfassen und dadurch auch seinen Untertanen schaden könnte, ist nach Hobbes kein genuines Problem der Monarchie. So seien Versammlungen oft in einer ähnlichen Lage wie ein Kind, weil Versammlungen an den Beschluss der Mehrheit gebunden seien, der ebenfalls nicht immer für das private (und deswegen auch das öffentliche)  Wohl am nützlichsten wäre. Um effektiv und schnell reagieren zu können, brauche vielmehr sowohl das unmündige Kind als auch die prinzipiell mündige Versammlung einen Diktator. Die Souveränitätslehre von Hobbes läuft darauf hinaus, dass sich Menschen mit ihrer bedingungslosen Unterwerfung freiwillig in die Hände eines Diktators begeben, der ihr Überleben sichern soll. Der absolute Staat soll und darf rechtmäßig wie ein Diktator über seine Unter­tanen herrschen, die sich zum Zwecke der Selbsterhaltung selbst entmündigt haben: „Auf der anderen Seite gibt es kein großes Staatswesen, dessen Souveränität bei einer großen Versammlung liegt, das sich nicht hinsichtlich der Beratung über Frieden und Krieg und des Erlasses von Gesetzen in derselben Lage befände, wie wenn die Regierungsgewalt bei einem Kind liegt. Denn wie einem Kind die Urteilskraft fehlt, ob es von einem erteilten Rat abweichen soll, und es dadurch genötigt ist, den Rat derer oder dessen anzunehmen, denen es anvertraut ist, so fehlt einer Versammlung die Freiheit, vom Rat der Majorität abzuweichen, mag er gut oder schlecht sein. Und wie ein Kind einen Vormund oder Beschützer zur Erhaltung seiner Person und Autorität braucht, so benötigt in großen Staaten die souveräne Versammlung in allen großen Gefahren und Zwangslagen custodes libertatis, das heißt Diktatoren oder Beschützer ihrer Autorität, die nichts anderes als Monarchen auf Zeit sind, denen sie auf eine gewisse Zeit die gesamte Ausübung ihrer Autorität übertragen“ (LD 19, 149).

Ist der Mensch bei Hobbes aber wirklich der rationale Akteur, der sich aus Vernunftgründen freiwillig einem Diktator unterstellt? Ist es nicht widersprüchlich, sich zum Schutze der Freiheit einem „Wächter der Freiheit“ zu unterstellen, der eigenmächtig Entscheidungen trifft und gegen den man keinerlei rechtliche Hand 159 „In einer Demokratie oder Aristokratie dagegen trägt der öffentliche Wohlstand zum Privatvermögen eines korrupten oder ehrgeizigen Menschen weniger bei als oftmals ein hinterlistiger Rat, eine verräterische Handlung oder ein Bürgerkrieg“ (LD 19, 147).

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B. Die politische Logik des Körpers

habe hat? Das, was einige Autoren auch als eine „freiheitstheoretische Paradoxie“160 bezeichnet haben, kann aufgelöst werden dadurch, dass man die Bedeutung der Begriffe eines Autors und einer Autorisierung klärt. Hobbes macht in seiner Erläuterung der Autorisierungstheorie im 16. Kapitel deutlich, dass die entscheidende Voraussetzung für einen Autor nicht dessen Vernünftigkeit, sondern dessen Lebendigkeit darstellt. So könnten leblose Dinge wie Kirchen oder Brücken zwar vertreten werden, aber nicht Autoren sein. Um Autor zu sein, müsse man lebendig sein: „Es gibt nur wenige Dinge, die nicht durch Fiktion vertreten werden können. Leblose Dinge wie eine Kirche, ein Hospital und eine Brücke können durch einen Pfarrherrn, Vorstand oder Aufseher vertreten werden. Leblose Dinge können aber nicht Autor sein und deshalb auch ihren Vertretern keine Autorität verleihen“ (LD 16, 124 f., Hervorhebungen E. O.).

Während die Lebendigkeit also eine Voraussetzung dafür ist, Autor sein zu können, stellt die Vernünftigkeit keine notwendige Voraussetzung dar. Ebenso wie Hobbes von Diktatoren und Wächtern der Freiheit spricht, als er die Möglichkeit diskutiert, dass die Regierungsgewalt in einer Monarchie auf ein unvernünftiges Kind übergehen könnte, spricht er im 16. Kapitel von der Möglichkeit, dass Kinder, Geistesschwache oder Wahnsinnige  – also allgemein Menschen, die keine Vernunft besitzen – Autoren sein können: „Ebenso können Kinder, Geistesschwache und Wahnsinnige, die keine Vernunft besitzen, von Vormündern oder Pflegern vertreten werden. Sie können aber während dieser Zeit nur Autoren der Handlungen sein, die sie als vernünftig beurteilen, wenn sie ihre Vernunft wiedererlangt haben“ (LD 16, 125, Hervorhebungen E. O.).161

Die scheinbare freiheitstheoretische Paradoxie kann also aufgelöst werden deshalb, weil nicht der Schutz der Freiheit, sondern der Schutz des Lebens das zentrale Ziel darstellt: Autoren, d. h. lebendige Dinge, unterwerfen sich zum Zwecke des Überlebens Diktatoren. Nicht der Mensch als freier, rationaler Akteur, sondern der Mensch als Körper mit einer vitalen Bewegung bzw. einem Überlebenswillen ist das Hobbes’sche Subjekt162 und kann Autor sein. In völliger Übereinstimmung 160 „Obwohl nichts anderes als ein rechtliches Erzeugnis der Bürger, ist der Souverän doch zugleich frei von aller rechtlichen Bindung an den Bürger: genau diese freiheitstheoretische Paradoxie steht im Zentrum des kontraktualistischen Absolutismus Hobbes’“ (Kersting 1994, 92). 161 In gewisser Weise gegensätzlich ist die Formulierung im 26. Kapitel des Leviathan, die besagt, dass unvernünftige Menschen keine Autoren sein können und keine Verträge schließen können (LD 26, 208). Dagegen vgl. jedoch beispielsweise auch DCD IIX, 10, 165, wo durch den Kontext deutlich wird, dass Hobbes „Verträge“ mit Tieren, die sich zähmen lassen, durchaus für denkbar hält und LD 2, 18, wo Hobbes schreibt, dass Hunde den Willen ihres Herrn verstehen können, sowie allgemein das Theorieelement des Staates durch Aneignung, das Herrschaftsverhältnisse zwischen Mutter und Kind – also zwischen Personen, von denen zumindest eine nicht als vernünftig zu betrachten ist – als vertragliche Herrschaftsverhältnisse reinterpretiert. 162 In dieser Hinsicht stimme ich völlig überein mit der Analyse von Frost, die den Hobbes’­ schen Menschen zurecht als „denkenden Körper“ rekonstruiert: „One of the most important implications of Hobbes’s proposal that we conceive of people as ‚thinking-bodies‘ is the secularization of the human will. According to his metaphysics, human beings, like other bodies on the world, are wholly composed of matter: there is nothing else they could be. What distinguishes the human, animal body from other material bodies in the universe is ‚Vital motion‘ (Frost 2001, 34).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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mit der deterministischen Handlungstheorie und dem Begriff des Willens,163 den Hobbes im ersten Teil des Leviathan entwickelte, versteht er unter einem Autor einen leidenschaftsgetriebenen Körper. Nicht freie Akteure unterstellen sich zum Schutz ihrer Freiheit einem Wächter der Freiheit, sondern leidenschaftsgetriebene, den Tod fürchtende Körper unterwerfen sich zum Schutze des Überlebens einem Diktator. Dass der Mensch nicht etwa durch die Vernunft seinen Willen steuern kann und insofern für die Kontinuität seines Willens bürgen könnte, macht ­Hobbes an zahlreichen Stellen unmissverständlich deutlich.164 Gerade weil die Vernunft in der Regel zu schwach sei, die Leidenschaften zu zügeln, müsste die Kraft der Leidenschaften – die Todesfurcht bzw. die Furcht vor Strafe – benutzt werden, um Menschen verlässlich zum gewünschten Handeln anzutreiben.165 Unter der Voraussetzung eines leidenschaftsgetriebenen Körpers und des Motivs der Selbsterhaltung zeigt sich aber – auch wenn die freiheitstheoretische Paradoxie aufgelöst werden kann – ein gravierendes Problem der Standarddeutung: Wie kann, wenn der Mensch ein leidenschaftsgetriebener Körper ist, der nicht dazu fähig ist, die Kontinuität seines Willens selbst zu verbürgen, eine bedingungslose Unterwerfung überhaupt theoretisch möglich sein? Wie kann die rechtstheoretische Deutung davon ausgehen, dass Menschen sich dem Urteil eines Schiedsrichters bedingungslos unterwerfen würden?166 Fassen wir das vorläufige Ergebnis dieses Kapitels kurz zusammen: Zunächst wurde für die These argumentiert, dass die Autorisierungstheorie nicht als Lö 163

„When we conceptualize subjects as thinking-bodies, the will turns out to be nothing other than ‚the last act of our deliberation‘, the last appetite or movement in the series of thoughts and considerations, hopes and fears, that constitute deliberation […]“ (Frost 2001, 35). 164 Hobbes eröffnet den dritten Teil des Leviathan mit der Ankündigung, seine Ausführungen auch auf die Autorität der Bibel stützen zu wollen. In diesem Zusammenhang erläutert er ebenfalls, was es bedeutet, seinen Verstand bzw. Willen zu unterwerfen und macht hierbei deutlich, dass der menschliche Wille nicht frei ist, sondern – entsprechend der mechanistischmaterialistischen Psychologie – das Ergebnis äußerer Einwirkungen und gespeicherter Empfindungen: „Denn es liegt nicht in unserer Macht, Empfindung, Erinnerung, Verstand, Vernunft und Meinung zu ändern, sondern diese sind immer und notwendig so beschaffen, wie sie uns von den Dingen, die wir sehen, hören oder erwägen, eingegeben werden und werden deshalb nicht von unserem Willen bewirkt, sondern unser Wille von ihnen“ (LD 32, 286). 165 „Welche Verbrechen aus Leidenschaften wie Haß, Lust, Ehrgeiz und Habgier begangen werden können, weiß jeder auf Grund seiner Erfahrung und seines Verstands genau, so daß darüber nichts gesagt zu werden braucht, außer, daß es sich dabei um Schwächen handelt, die mit der menschlichen Natur und der aller anderen Lebewesen so fest verbunden sind, daß ihre Auswirkungen nur durch außergewöhnliche Vernunftanstrengungen oder eine ständige, strenge Bestrafung verhindert werden können. […] Ehrgeiz und Habgier sind ebenfalls ständig vorhandene und drängende Leidenschaften, während die Vernunft nicht immer gegenwärtig ist, um ihnen widerstehen zu können, und deshalb wirken sie sich immer dann aus, wenn die Hoffnung besteht, straflos zu bleiben. […] Die Leidenschaft, die die Menschen am wenigsten die Gesetze übertreten läßt, ist die Furcht“ (LD 27, 228). 166 Vgl. Hüning 1998, 218: „Die Bedingungslosigkeit der Ermächtigung ist die Voraussetzung dafür, daß der durch die Autorisation mit dem ‚right of Dominion‘ ausgestattete Souverän überhaupt als Repräsentant des Willens aller begriffen werden kann“. Vgl. ebenfalls Lloyd 2009, 280.

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B. Die politische Logik des Körpers

sung eines Rechtsproblems zu verstehen ist, sondern als Lösung eines Überlebensproblems: Die Selbsterhaltung und der ungestörte Genuss kann nur gesichert werden, wenn eine Macht existiert, die stärker als alle anderen zusammen ist und die einzelnen Körper zur Befolgung der Bewegungsregeln zwingen kann. In völliger Übereinstimmung mit der deterministischen Handlungstheorie behauptet H ­ obbes, dass Selbstverpflichtungen oder Verträge das Problem des Naturzustands gar nicht lösen können, weil die einzelnen Körper als leidenschaftsbestimmte Körper die Kontinuität ihres Willens gar nicht garantieren können. Auf der anderen Seite bedient sich Hobbes jedoch einer Begrifflichkeit, die es nahelegt, dass der Mensch in gewisser Weise frei über seine Handlungen verfügen kann. Er spricht von einem Autorisierungsakt, davon, dass der Mensch Autor seiner Handlungen ist – oder als solcher betrachtet wird und als ein solcher für die Kontinuität seines Willens sorgen kann. Er spricht von einer Unterwerfung des eigenen Willens und einer Anerkennung der Handlungen einer anderen Person als eigener Handlungen. Aber handelt es sich tatsächlich um eine vorbehaltlose Unterwerfung bzw. um eine bedingungslose Autorisierung, wie dies die Standard­deutung der Autorisierungstheorie nahelegt? Wenn Menschen leidenschafts­getriebene Körper sind und ihr Wille jeweils nur die letzte Neigung oder Abneigung vor einer Handlung ist, können diese Menschen die Konstanz ihres Willens nicht selbst verbürgen. Bedingungslose Unterwerfungen wären nicht nur logisch unmöglich, weil Menschen die Kontinuität ihres Willens nicht verbürgen könnten, sondern auch wenig zweckdienlich für die auf die Selbsterhaltung ausgerichtete instrumentelle Vernunft: Wenn das Motiv für den Vertragsschluss und die Autorisierung die Selbsterhaltung ist, inwiefern könnte eine absolute Unterwerfung dann überhaupt selbsterhaltungsdienlich sein? Im nächsten Kapitel werde ich diese Probleme aufgreifen und darauf aufbauend eine alternative Deutung der Autorisierungstheorie als einer Theorie bedingter Autorisierung entwickeln. e) Fazit: Der Körper als Grundlage des kontraktualistischen Arguments In diesem Kapitel wurde dafür argumentiert, dass die materialistisch-mechanistische Ontologie, die Hobbes im ersten Teil des Leviathan entwickelt, für das kontraktualistische Argument von erheblicher Relevanz ist. Es wurde gezeigt, dass Hobbes im ersten Teil des Leviathan eine auf einer materialistisch-mechanistischen Naturphilosophie basierende Anthropologie entwickelt, die den Menschen als leidenschaftsbewegten Körper konzipiert und alle dessen Fähigkeiten und Eigenschaften  – von der Wahrnehmung, über seine Verstandesfähigkeiten bis hin zu seinem Handeln – in den Kategorien von Druck und Stoß reformuliert. Dass diese Anthropologie erhebliche politische Auswirkungen hat bzw. – wegen des Skeptizismus bzw. Nominalismus – zumindest in gewisser Hinsicht die Konzeption einer Vertragstheorie nahelegt, spricht Hobbes in diesem ersten Teil des Leviathan sogar schon explizit an. Nach der skizzenhaften Rekonstruktion der

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Anthropologie des ersten Teils des Leviathan wurde gezeigt, wie diese Anthropologie Eingang in das kontraktualistische Argument findet und sich in den wesentlichen Bestandeilen des kontraktualistischen Argumentes  – der Lehre vom Naturzustand, der Lehre von den natürlichen Gesetzen und der Autorisierungstheorie – wiederfinden lässt und diese formt: Sowohl das spezifische Problem des Naturzustandes wie auch der Weg und die Art der Problemlösung kann nur adäquat verstanden werden, wenn man die im ersten Teil des Leviathan entwickelte und im kontraktualistischen Argument angewandte Anthropologie, die den Menschen als leidenschaftsbewegten Körper schildert, berücksichtigt: So bestand das Problem des Naturzustandes darin, dass dieser der Selbsterhaltung und dem körperlichen Genuss abträglich wäre und sich stattdessen aus den natürlichen Leidenschaften der Menschen  – dem Streben nach Selbsterhaltung, Genuss und Ruhm – ein latentes Überlebensproblem ergäbe. Auch die Lehre von den natürlichen Gesetzen ist nur von dieser körperbasierten Anthropologie her zu verstehen, insofern die natürlichen Gesetze als Klugheitsregeln in doppelter Weise von den Leidenschaften abhängig sind: Erstens wird der instrumentellen Vernunft von der Leidenschaft der Todesfurcht das Ziel vorgegeben (Selbsterhaltung). Zweitens aber werden auch die Regeln, die die instrumentelle Vernunft als adäquate Mittel der Selbsterhaltung identifiziert (Friedensorientierung, Rechtsübertragung, Vertragstreue, etc.), nur kontinuierlich eingehalten, wenn Leidenschaften – die Furcht vor Tod und körperlicher Misshandlung – für deren Einhaltung sorgen. Auch die im Leviathan erstmals formulierte Theorie der Autorisierung ist Ausdruck dieser Körperorientierung: Während nicht nur die rechtstheoretische Deutungsfamilie, sondern auch zahlreiche andere Interpreten die Autorisierungstheorie als Ausdruck einer Konzeption eines rationalen Akteurs lesen und davon ausgehen, dass es sich dabei um einen bedingungslosen Rechtsverzicht handelt, versuchte unsere Interpretation zu zeigen, dass nicht der rationale Akteur mit einem freien Willen, sondern der vom Überlebenswillen gesteuerte Körper das „Subjekt“ der Autorisierungstheorie ist. Der Mensch im Hobbes’schen Universum ist ein Körper, der sich durch seine vitale und animalische Bewegung auszeichnet. Der Autor ist bei­ Hobbes kein rationaler Akteur, der sich zur Sicherung seiner Freiheit bedingungslos einem Schiedsrichter unterwirft, sondern ein leidenschaftsgetriebener Körper, der sich zur Sicherung des (angenehmen) Überlebens einem Diktator unterwirft. Dass diese Unterwerfung – wenngleich der Wortlaut der Autorisierungstheorie auf den ersten Blick darauf schließen lässt – keine bedingungslose Unterwerfung ist, wird im folgenden Kapitel gezeigt.

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B. Die politische Logik des Körpers

2. Der Körper als Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Arguments a) Handlungstheorie: Die Freiheit leidenschaftsgetriebener Körper Wir hatten gesehen, dass Hobbes’ Souveränitätslehre auf dem politischen Volun­ tarismus beruht. Die freiwillige Zustimmung zu einer Herrschaft wird als Bedingung für die Rechtmäßigkeit dieser Herrschaft begriffen. Was ist jedoch in diesem Zusammenhang unter dem „freien Willen“ bzw. der Freiwilligkeit von Handlungen zu verstehen? Inwiefern ist bei leidenschaftsgesteuerten Körpern die Rede von Freiheit überhaupt möglich und sinnvoll? Geht Hobbes nun von freien Akteuren aus, wie dies die Begrifflichkeit der Autorisierungstheorie nahelegt, oder ist doch die im ersten Teil des Leviathan im Kontext einer materialistisch-mechanistischen Ontologie entwickelte Anthropologie, die den Menschen als leidenschaftsbewegten Körper begreift, entscheidend? Hobbes arbeitet mit einer Handlungstheorie, die  – obwohl deterministisch  – dennoch den Begriff der Freiwilligkeit auf eine kuriose Weise aufrecht erhält. Ganz im Einklang mit der der mechanistisch-materialistischen Ontologie folgenden Beschreibung des Menschen als eines leidenschaftsbewegten Körperwesens definiert Hobbes auch im 21. Kapitel seinen Freiheitsbegriff in der Terminologie von Druck und Stoß als eine Freiheit von Körpern: „Freiheit bedeutet genau genommen das Fehlen von Widerstand, wobei ich unter Widerstand äußere Bewegungshindernisse verstehe. Dieser Begriff kann ebensogut auf vernunft- und leblose Dinge wie auf vernünftige Geschöpfe angewandt werden“ (LD 21, 163).

Lebendige, vernunftbegabte Körper unterscheiden sich demnach nicht wesentlich von den anderen Körpern. Lebewesen, die durch Mauern in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind, gleichen in dieser Hinsicht dem Wasser, welches durch Dämme in seiner Ausbreitung gehemmt wird.167 Zwar lässt sich bei belebten, im Gegensatz zu unbelebten Dingen, von einem Willen sprechen. Dieser Jargon der Intentionalität bedeutet aber nicht, dass es eine vom Körper unabhängige Instanz gibt, in der der Ursprung der Bewegung ver­ortet wird. Der Wille ist der Wille eines Körpers, der durch seine Leidenschaften in bestimmte Richtungen bewegt wird.168 Der Begriff der Freiheit kann demzufolge 167

„Denn alles, was in der Weise angebunden oder eingeschlossen ist, daß es sich nur innerhalb eines gewissen Raumes bewegen kann, der durch den Widerstand eines äußeren Körpers bestimmt wird, hat, wie wir sagen, keine Bewegungsfreiheit. Ebenso pflegen wir zu sagen, alle Lebewesen, die von Mauern umgeben oder angekettet sind, und Wasser, das durch Dämme oder Gefäße zusammengehalten wird und sich sonst auf einer größeren Fläche verbreiten würde, hätten nicht die Freiheit, sich so zu bewegen, wie sie sich ohne diese äußeren Hindernisse bewegen würden“ (LD 21, 163). 168 Vgl. Esfelds Darstellung der Hobbes’schen Handlungstheorie: „Der Wille und die durch ihn verursachte Handlung sind Bewegungen, die, wie alle Bewegungen, durch ihnen vorher-

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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auch nicht auf den Willen, sondern nur auf den Körper angewendet werden. Die Freiheit des menschlichen Körpers besteht darin, nicht in seiner Bewegung aufgehalten zu werden. Auch im 21. Kapitel hält Hobbes also an der im ersten Teil des Leviathan entwickelten Anthropologie fest und resümiert, dass der Begriff Freiheit auf nichts anderes als auf Körper angewendet werden könne: „Und nach dieser genauen und allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes ist ein Freier, wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstands tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen. Werden aber die Wörter frei und Freiheit auf andere Dinge als auf Körper angewandt, so werden sie mißbraucht, denn was nicht bewegt werden kann, kann auch nicht gehindert werden“ (LD 21, 163).

In völliger Übereinstimmung mit der deterministischen Handlungstheorie defi­ niert Hobbes auch im 21. Kapitel nicht den Willen, sondern den in seiner Bewegung nicht behinderten Körper als frei. Willensfreiheit bedeutet demnach nicht – so zieht Hobbes die der üblichen Verwendung des Wortes entgegenstehenden Konsequenzen seiner Freiheitsdefinition –, dass der Mensch sich überlegen oder aussuchen könne, was er wolle, also in seinem Wollen frei sei. Vielmehr heißt Willensfreiheit Hobbes zufolge, dass der Körper mit Namen Mensch in der gewollten Bewegung auf kein Bewegungshindernis stoße: „Endlich kann von der gewöhnlichen Verwendung des Wortes Willensfreiheit nicht auf die Freiheit des Willens, des Verlangens oder der Neigung gesprochen werden, sondern auf die Freiheit des Menschen, die darin besteht, daß er bei der Verfolgung dessen, was er will, nach dem er verlangt und wozu er neigt, auf kein Hindernis stößt“ (LD 21, 163).

Wenn der Wille aber nicht frei ist, sondern nur die letzte Neigung oder Abneigung vor einer Handlung darstellt, ist er nur die Richtung, in die sich der Körper ohnehin bewegt.169 Wie wir in Kapitel B. II. 1. a) gesehen haben, spricht Hobbes zwar über eine Deliberation als einen vor einer Handlung ablaufenden Prozess. Diese Deliberation ist ihrerseits aber ein Prozess des Kräftemessens verschiedener Leidenschaften, in dem der Vernunft keine unabhängige Rolle zukommt, sondern der von selbst  – gesteuert durch die Leidenschaften  – abläuft. Frei ist der überlegende Mensch nicht in der Hinsicht, dass er sich – gestützt auf Vernunftgründe – die Richtung seiner Bewegung selbst aussuchen könnte, sondern frei ist der Mensch solange, wie das Kräftemessen der Leidenschaften andauert und sich deshalb eine eindeutige Bewegungsrichtung noch nicht abgezeichnet hat.170 Die gehende Bewegungen determiniert sind. […] Nichtsdestoweniger ist deshalb, weil die Intention mit einer körperlichen Bewegung identisch ist, der Wille durch andere Bewegungen determiniert“ ­(Esfeld 1995, 199). 169 Vgl. Esfeld 1995, 200: „In seiner Handlungstheorie nimmt er jedoch eine Unterscheidung zwischen freien und unfreien Bewegungen vor, die er ebenfalls auf alle Körper bezieht: Frei ist die Bewegung eines Körpers, die gemäß dem Bewegungsanfang in ihm selbst erfolgt.“ 170 „Und Überlegung wird dies deshalb genannt, weil es der Freiheit, es je nach unserer Neigung oder Abneigung zu tun oder zu unterlassen, die wir zuvor hatten, ein Ende setzt. […] Jede Überlegung wird dann als beendet bezeichnet, wenn der Gegenstand der Überlegung entweder verwirklicht oder für unmöglich gehalten wird, da wir bis zu diesem Zeitpunkt im Besitz

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B. Die politische Logik des Körpers

Bewegungsrichtung des Körpers wird also durch den Körper vorgegeben.171 Was aber wollen Körper, wonach verlangen sie und wozu neigen sie? Körper wollen, wie Hobbes argumentiert, ihr eigenes Wohlergehen, sie möchten keine Schmerzen haben und auch nicht getötet werden, sondern alle Mittel zur Verfügung haben, die ihrer körperlichen Bewegung und ihrem Genuss zuträglich sind. Der Körper wird, wie im Folgenden gezeigt werden soll, zum konstitutiven Merkmal für Freiheit und fungiert damit als Kriterium freiwilliger Handlungen. b) Der Schutz des Körpers als Bedingung gültiger Verträge Die Standarddeutung der Autorisierungstheorie geht davon aus, dass es sich bei der Autorisierung um eine bedingungslose Autorisierung handelt. In diesem Zusammenhang hatten wir auch auf den für eine solche Deutung sprechende Grundsatz des volenti non fit inuiria hingewiesen, mit dem Hobbes die Ungebundenheit der Freiheit bleiben, je nach unserer Neigung und Abneigung zu handeln oder nicht zu handeln“ (LD 6, 46). Hüning und Lloyd gehen dagegen beide von einem rationalen Akteur aus, der durch Vernunftgründe seine Handlungen in andere Richtungen lenken kann. Vgl. als Beleg nochmals die folgenden Stellen: Hüning 1998, 154 f.: „Hobbes’ verbindlichkeitstheoretische Position […] setzt auf seiten des Individuums kein anderes Interesse voraus als das Interesse an der rechtsförmigen Sicherung des Rechts auf Selbsterhaltung. […] Es ist die immanente Logik des eigenen freien Handelns, das den einzelnen die Einschränkung ihrer natürlichen Freiheit aufnötigt, so daß der Zwang, der aufgrund der Logik des eigenen freien Handelns der Individuen erfolgt, der Zwang eines Willens, den sie als frei Handelnde notwendig selbst haben müssen [sic!] [ist, E. O.].“ Ähnlich Lloyd 2009, 250 und 260: „Again, the relevant contrast is not between philosophical voluntarism and determinism of the will; it is rather a contrast between being a distinctively human being, whose actions, although strictly determined, are none­theless determined by the exercise of human judgment as well as one’s animal pas­ sions, and being a creature whose doings are driven by instincts or desires alone. […] The only assump­tions Hobbes makes about our essential interests are that we are concerned to conform to the requirements of rationality, and of effective exercise of our agency.“ 171 In der jüngeren Hobbes-Forschung nehmen dagegen die Versuche zu, der Vernunft die Kraft zuzuschreiben, Handlungen zu motivieren bzw. Leidenschaften zu kontrollieren. So erwägt bspw. Blau 2014, die Vernunft als einen Ratgeber der Leidenschaften zu konzipieren und so versucht van Mill 2001, die Deliberation bei Hobbes als einen von den Leidenschaften un­ abhängigen Vorgang zu rekonstruieren. Berechtigte Kritik an solchen Versuchen übt Frost 2004, 259, Hervorhebungen E. O.: „There are a couple of issues that need attention here. First, when van Mill suggests that we ‚deliberate upon the passions,‘ he institutes a distinction between passions (qua desires and movement) and deliberation (an activity that occurs on a different register). Through this distinction, deliberation becomes an intellectual process explained, as van Mill later states, ‚in terms of reason‘ rather than ‚in terms of appetite‘ (p. 149). Conceived in this way, deliberation becomes a means to control or intervene in the course of our passions. But to suggest that deliberation is an intellectual process that in some sense oversees, guides, and controls the passions is to import what Hobbes sees as the fantasy of ‚free will‘ into a discussion of action from which Hobbes had expelled it: for Hobbes, we cannot deliberate upon the passions because deliberation is a process of alternating between different passions as we consider the consequences of different courses of action. To be sure, the consequences of any course of action are foreseen by way of rationality, but deliberation is and can be only a matter of desires, of passions, and of willing conceived as the movement of desire into action.“

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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des Souveräns begründete. Dennoch handelt es sich bei der Autorisierung nicht um eine unbedingte Autorisierung. Obwohl der Souverän nach Hobbes kein Unrecht tun kann, weil er kein Vertragspartner ist, formuliert Hobbes – was in der Hobbes-­ Forschung bislang selten beachtet wurde – Bedingungen für gültige Verträge. Hobbes verwendet das normative Kriterium der Freiwilligkeit, um für die Rechtmäßigkeit eines durch einen freiwilligen Vertrag eingesetzten Souveräns zu argumentieren. Dieses Kriterium wird jedoch selbst inhaltlich bestimmt: Ganz in Übereinstimmung mit der deterministischen Handlungstheorie ist nur diejenige Handlung freiwillig, die vom Körper ausgeht und diesem dient. Tatsächlich ist das entscheidende normative Kriterium also gar nicht die Freiwilligkeit, die es gemäß der deterministischen Psychologie und Handlungstheorie gar nicht geben kann, sondern das Wohlergehen des Körpers. Im 14. Kapitel erläutert Hobbes genauer, worauf der Wille der leidenschaftsgetriebenen menschlichen Körper gerichtet ist und leitet daraus ab, welche Handlungen nicht als „freiwillig“ angesehen werden können: Weil jede willentliche Handlung des Menschen auf ein Gut gerichtet ist und körperliches Wohlergehen ein Gut ist, können Handlungen, die dem Wohlergehen des Körpers nicht dienen, nicht als freiwillige Handlungen angesehen werden. Weil Rechtsübertragungen jedoch nur dann gültig sind, wenn sie freiwillig erfolgen, stellt der Körper bzw. das körperliche Wohlergehen damit eine Gültigkeitsbedingung für den Vertrag dar. Dieses von der doppelten Konnotation des Wortes Freiwilligkeit Gebrauch machende Argument wird von Hobbes in gedrängter Form präsentiert. Um die einzelnen Schritte der Argumentation sichtbarer zu machen, wird das Argument im Folgenden durch Absätze getrennt dargestellt: „Immer wenn jemand sein Recht überträgt oder darauf verzichtet, so tut er dies entweder in der Erwägung, daß im Gegenzug ein Recht auf ihn übertragen werde, oder weil er dadurch ein anderes Gut zu erlangen hofft. Denn es handelt sich um eine willentliche Handlung, und Gegenstand der willentlichen Handlungen jedes Menschen ist ein Gut für ihn selbst. Und deshalb gibt es einige Rechte, die niemand durch Worte oder andere Zeichen aufgegeben oder übertragen haben kann, da sich diese Auslegung verbietet. Erstens kann niemand das Recht aufgeben, denen Widerstand zu leisten, die ihn mit Gewalt angreifen, um ihm das Leben zu nehmen, da nicht angenommen werden kann, er strebe dadurch nach einem Gut für sich selbst. Dasselbe gilt für Verletzungen, Ketten und Gefängnis, einmal deshalb, weil eine solche Weigerung keinen Vorteil nach sich ziehen würde wie etwa die Duldung, daß ein anderer verletzt oder eingesperrt wird, zum andern auch, weil niemand sagen kann, wenn er Leute mit Gewalt gegen sich vorgehen sieht, ob sie seinen Tod beabsichtigen oder nicht. Und letztlich sind Motiv und Zweck, um derentwillen Rechtsverzicht und Rechtsübertragung eingeführt worden sind, nichts anderes als die Sicherheit der Person hinsichtlich i­ hres Lebens und der Mittel, das Leben so erhalten zu können, daß man seiner nicht überdrüssig wird. Und wenn deshalb jemand durch Worte oder andere Zeichen den Zweck scheinbar preisgibt, zu dem solche Zeichen vorgesehen sind, so ist das nicht so aufzufassen, als habe er dies gemeint oder dies sei sein Wille, sondern daß er nicht wußte, wie solche Worte und Handlungen auszulegen sind“ (LD 14, 101 f.).

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B. Die politische Logik des Körpers

Im ersten Absatz führt Hobbes zwei Prämissen ein: Erstens behauptet er, dass willentliche Handlungen immer auf ein Gut für den Handelnden zielen (P 1) und zweitens behauptet er, dass Rechtsübertragungen willentliche Handlungen sind (P 2). Diese beiden Prämissen können ganz im Lichte traditioneller Handlungsverständnisse, die auf der Freiheit rationaler Akteure basieren, gelesen werden. Sie bemühen die normative Kraft der traditionellen Bedeutung von Freiwilligkeit, um Rechtsübertragungen eine normative Gültigkeit bzw. eine normsetzende Funktion zuzuschreiben. Im zweiten und dritten Absatz wird jedoch offenbar, dass ­Hobbes gar nicht von einem freien, vom Körper unabhängigen Willen ausgeht, sondern der Wille von vornherein auf ein körperliches Gut ausgerichtet ist. Im zweiten Absatz wird ein Gut zunächst negativ bestimmt durch den Hinweis auf das, was nicht als Gut verstanden werden kann: Verletzungen, Ketten, Gefängnis, Gewalt und Tod. Die Einschränkung körperlicher Bewegungsfreiheit und die Beendigung seiner natürlichen Bewegung kann nicht als Gut begriffen werden. Im dritten Absatz wird schließlich positiv definiert, was unter einem Gut zu verstehen ist: Leben und Lebensmittel, um ein angenehmes Leben zu sichern. Zusätzlich zu der äußeren Bewegungsfreiheit, die im zweiten Absatz angesprochen wurde, scheint die Rede von den notwendigen Lebensmitteln, die den Verdruss abwehren sollen, damit auf die Lust als innere Bewegung des Körpers abzuzielen.172 Aus den beiden Absätzen ergibt sich die dritte Prämisse, die Leben als eine von Lust begleitete körperliche Bewegung oder allgemein das körperliche Wohlergehen als Gut bestimmt (P 3). Der zweite und der vierte Absatz enthalten jeweils die Konklusion, die aus den vorhergehenden Prämissen gezogen wird: Weil Rechtsübertragungen willentliche Handlungen sind, willentliche Handlungen aber auf ein körperliches Wohlergehen zielen, können Rechtsübertragungen, die zu einer (massiven) Einschränkung der äußeren Bewegungsfreiheit führen (C 1), oder Rechtsübertragungen, die zu einer Minderung des körperlichen Wohlergehens führen (C 2), nicht als frei­ willige Rechtsübertragungen angesehen werden. 172

Im sechsten Kapitel definierte Hobbes im Rahmen seiner materialistisch-mechanistischen Psychologie die Lust als eine innere Bewegung bestimmter Teile des Körpers. Diese innere Bewegung steht jedoch mit der vitalen Bewegung des Körpers insofern in Verbindung, als sie die vitale Bewegung unterstützt und stärkt: „Diese Bewegung, welche Neigung und hinsichtlich ihrer Erscheinung Lust und Vergnügen genannt wird, scheint eine Stärkung und Unterstützung der vitalen Bewegung zu sein“ (LD 6, 41 f.). Als vitale Bewegungen definierte ­Hobbes im gleichen Kapitel „Blutkreislauf, Pulsschlag, Atmung, Verdauung, Ernährung“ (LD 6, 39). Um diese vitale Bewegung des Körpers, d. h. um Leben aufrecht zu erhalten, werden jedoch Lebensmittel benötigt, die lustvoll sind, weil sie die vitale Bewegung unterstützen und stärken. Hobbes spricht in diesem Kontext auch, aber nicht nur, über sinnliche Genüsse und verdeutlicht damit, dass für Leben – im Sinne von Bewegung – auch Mittel, die diese Bewegung aufrechterhalten oder fördern, notwendig sind: „Einige der Vergnügen oder Lustgefühle entstehen aus der Empfindung eines gegenwärtigen Objekts, und man kann sie Sinnesfreuden nennen (da das Wort sinnlich nicht, wie dies Sinnen feindliche Leute tun, abwertend gebraucht werden sollte, solange dies nicht gesetzlich vorgeschrieben wird). Dazu gehört alles Be- und Entladen des Körpers, sowie alles, dessen Anblick, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen Vergnügen bereitet“ (LD 6, 42).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Weil Verträge nichts anderes sind als wechselseitige Rechtsübertragungen,173 stellt der Schutz des Körpers bzw. das körperliche Wohlergehen damit eine Gültigkeitsbedingung für Verträge dar. Hobbes benutzt also die mit dem herkömmlichen Begriff der Freiwilligkeit einhergehenden Bedeutungen eines freien Akteurs und dessen normative Kraft, um für die Rechtmäßigkeit einer Herrschaft zu argumentieren. Dieser Begriff der Freiwilligkeit wird jedoch komplett umdefiniert: Freiwillig sind nicht etwa Handlungen, für die ein vernünftiger Akteur gute Gründe hat, sondern freiwillig sind nur die Handlungen, die körperlichen Impulsen und Leidenschaften entspringen und diesen am besten zuarbeiten, d. h. dem Wohl­ergehen des Körpers dienen. Dass der Körper über das natürliche Recht auf Selbsterhaltung die Bedingungen für gültige Verträge diktiert – die ja nichts anderes als wechselseitige Rechtsübertragungen sind  –, führt Hobbes im gleichen Kapitel nochmals explizit aus. Basierend auf der Prämisse, dass der menschliche Wille auf die Selbsterhaltung gerichtet ist, können Handlungen, die nicht der Selbsterhaltung dienen, nicht als freiwillige Handlungen betrachtet werden. Rechtsübertragungen als freiwillige Handlungen sind also nur denkbar, wenn sie der Selbsterhaltung zuträglich sind: „Ein Vertrag, sich nicht mit Gewalt gegen Gewalt zu verteidigen, ist immer nichtig. Denn wie ich oben schon gezeigt habe, kann niemand sein Recht, sich vor Tod, Verletzung und Gefangenschaft zu bewahren, übertragen oder darauf verzichten. Das Vermeiden dieser Gefahren ist nämlich der einzige Zweck jeden Rechtsverzichts, und deshalb überträgt das Versprechen, einer Gewalt keinen Widerstand zu leisten, in keinem Vertrag ein Recht, noch ist es verpflichtend“ (LD 14, 107, Hervorhebungen E. O.).

Nicht die Freiwilligkeit der Rechtsübertragung ist also der normative Grund für die Gültigkeit einer Rechtsübertragung, sondern umgekehrt können nur solche Handlungen als (freiwillige) Rechtsübertragungen reinterpretiert werden, die dem körperlichen Wohlergehen dienen.174 Die Auffassung, dass die Individuen den Souverän unbedingt und uneingeschränkt autorisieren, kann also bereits an dieser Stelle als eine Auffassung zurückgewiesen werden, die Hobbes’ Rede von den Gültigkeitskriterien von Verträgen ignoriert bzw. nicht sinnvoll integrieren könnte. Die Autorisierung scheint keine unbedingte Autorisierung zu sein, sondern eine, die an bestimmte Bedingungen geknüpft ist.

173 Hobbes definiert unmittelbar im Anschluss an unser voriges Zitat: „Die wechselseitige Übertragung von Recht nennt man Vertrag“ (LD 14, 102). 174 Die Rolle des Körpers als Grenze und Kriterium gültiger Verträge betont Hobbes ebenfalls im 27. Kapitel: „Denn es kann von niemandem angenommen werden, daß er bei der Errichtung der souveränen Gewalt das Recht zur Erhaltung seines eigenen Körpers aufgegeben hätte, zu dessen Sicherheit ja die gesamte Souveränität eingerichtet wurde“ (LD 27, 224).

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B. Die politische Logik des Körpers

c) Die Freiheit der Untertanen und die Grenzen der Gehorsamsverpflichtung Unsere Deutung der Rolle des Körpers als Gültigkeitsbedingung für das kontraktualistische Argument soll im Folgenden durch eine Analyse des 21. Kapitels, in der Hobbes seine Theorie der Freiheit der Untertanen entfaltet, weiter gestützt werden. Diese Theorie arbeitet, wie auch die gesamte Vertragstheorie, mit der Prämisse, dass aus freiwilligen Handlungen Verpflichtungen resultieren können. Ungeachtet des Problems, wie leidenschaftsgetriebene Körper als adäquate Initiatoren oder Adres­saten von Pflichten begriffen werden können, setzt die Theorie der Freiheit der Untertanen die Möglichkeit von Verpflichtungen voraus. Verträge haben dieser Annahme zufolge rechtsschöpfende Kraft und können Ursache von Verpflichtungen sein. In seiner Theorie von der Freiheit der Untertanen erläutert Hobbes, wie diese Gehorsamspflicht für Menschen, die aufgrund ihrer frei­ wil­ligen Zustimmung zu einem Souverän in einem wechselseitigen Vertrag prinzipiell dazu verpflichtet wären, dem Souverän und dessen Gesetzen zu gehorchen, unter bestimmten Bedingungen erlischt. Zu diesem Zweck führt Hobbes zunächst eine terminologische Differenzierung ein: Hobbes unterscheidet im 21.  Kapitel zwischen einer „natürlichen Freiheit“, einer „Freiheit der Untertanen“ und einer „wahren Freiheit der Untertanen“. Während die natürliche Freiheit als eine körperliche Bewegungsfreiheit definiert wurde und darin bestand, in der Verfolgung seines Willens auf keinen Widerstand zu stoßen,175 stellt die Freiheit der Unter­ tanen eine Freiheit unter dem Gesetz dar: „Aber wie die Menschen zur Erlangung von Frieden und Selbsterhaltung einen künstlichen Menschen geschaffen haben, genannt Staat, so haben sie auch künstliche Ketten geschaffen, die man bürgerliche Gesetze nennt. […] Wenn ich nun auf die Freiheit der Untertanen zu sprechen komme, so nur in Bezug auf diese Bande“ (LD 21, 164).

Hobbes schreibt, dass Bewegungsfreiheit unter dem Gesetz in allen Staaten vorhanden wäre, weil kein Staat alle denkbaren menschlichen Handlungen regeln könne.176 Unter der Freiheit eines Untertanen sind daher, wie Hobbes ausdrücklich zusammenfasst, die Dinge zu verstehen, die gesetzlich nicht geregelt

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Hobbes nimmt im 21. Kapitel ebenfalls zum Problem des Determinismus unter dem Aspekt der göttlichen Vorhersehung Stellung und vertritt in diesem Zusammenhang die Auffassung, die natürliche Freiheit wäre die einzige, die man zurecht so nennen würde (LD 21, 164). 176 „Denn es gibt auf der ganzen Welt keinen Staat, der genügend Vorschriften zur Regelung aller menschlichen Handlungen und Äußerungen erlassen hat, da dies unmöglich ist. Daraus folgt notwendig, daß die Menschen in allen vom Gesetz nicht geregelten Gebieten die Freiheit besitzen, das zu tun, was sie auf Grund ihrer eigenen Vernunft für das Vorteilhafteste halten. Denn nehmen wir Freiheit im eigentlichen Sinn als körperliche Freiheit, das heißt Freiheit von Ketten und Gefangenschaft, so wäre es den Menschen völlig widersinnig, so, wie sie es tun, nach der Freiheit zu rufen, der sie sich so offensichtlich erfreuen“ (LD 21, 165).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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sind.177 Menschen, die sich durch einen freiwilligen, wechselseitigen Vertrag zum Gehorsam verpflichtet haben, sind also verpflichtet, sich an die Gesetze des Souve­ räns zu halten. Frei sind sie, so scheint es gemäß der Bestimmung der Freiheit der Untertanen zu sein, nur in den Angelegenheiten, die gesetzlich nicht geregelt sind. Dennoch gibt es bei Hobbes nicht nur eine Freiheit unter dem Gesetz, sondern auch eine Freiheit vom Gesetz. In seiner Erläuterung der Trilogie der Freiheits­ begriffe fortfahrend, bespricht Hobbes nach der natürlichen Freiheit und der Freiheit der Untertanen die wahre Freiheit der Untertanen.178 Offenbar gibt es – trotz der Gehorsamsverpflichtung – Dinge, die verweigert werden können, ohne Unrecht zu tun, d. h. – gemäß der Definition der Ungerechtigkeit als Vertragsbruch – ohne, dass damit der Vertrag, in dem man sich zum unbedingten Gehorsam und zur Anerkennung aller Handlungen als eigener verpflichtet hatte, gebrochen wird. Es gibt Bedingungen rechtmäßiger Herrschaft, die aus dem natürlichen Recht auf Selbsterhaltung resultieren und der Gehorsamsverpflichtung der Untertanen Grenzen setzen. Hobbes nennt als Beispiele für Befehle, die rechtmäßig verweigert werden können, die folgenden: „Wenn deshalb ein Souverän einem wenn auch rechtmäßig verurteilen Menschen befiehlt, sich selbst zu töten, zu verletzen oder zu verstümmeln, Angreifern keinen Widerstand zu leisten oder auf Nahrung, Luft, Arznei oder andere lebensnotwendige Dinge zu verzichten, so hat dieser Mensch doch die Freiheit, den Gehorsam zu verweigern“ (LD 21, 168, Hervorhebungen E. O.).

Warum hat ein Mensch, der durch einen freiwilligen, wechselseitigen Vertrag dazu verpflichtet war, den Gesetzen bedingungslos zu gehorchen und alle Handlungen als eigene anzuerkennen, plötzlich die Freiheit, den Gehorsam zu verweigern? In der Autorisierungstheorie wurde doch von einer bedingungslosen Unterwerfung gesprochen? An dieser Stelle verweist Hobbes explizit auf sein im 14. Kapitel entwickeltes und gerade von uns rekonstruiertes handlungstheoretisches Argument, nachdem nur diejenigen Rechtsübertragungen gültig sind, die man als freiwillige Handlungen interpretieren kann, weil sie auf ein körperlich bestimmtes Gut zielen: „Da erstens die Souveränität durch Einsetzung durch Vertrag eines jeden mit jedem und die Souveränität durch Aneignung durch Verträge des Besiegten mit dem Sieger oder des Kindes mit dem Vater entsteht, so ist klar, daß jeder Untertan Freiheit in allen Dingen besitzt, bei denen eine vertragliche Rechtsübertragung unmöglich ist. Ich habe oben im 14. Kapitel gezeigt, daß Verträge, den eigenen Körper nicht zu verteidigen, nichtig sind“ (LD 21, 168, Hervorhebungen E. O.). 177 „Die Freiheit eines Untertanen ist daher auf die Dinge beschränkt, die der Souverän bei der Regelung ihrer Handlungen freigestellt hat: so zum Beispiel die Freiheit des Kaufs und Verkaufs oder anderer gegenseitiger Verträge, der Wahl der eigenen Wohnung, der eigenen Ernährung, des eigenen Berufs, der Kindererziehung, die sie für geeignet halten, und dergleichen mehr“ (LD 21, 165). 178 „Wenn wir nun zu den Einzelheiten der wahren Freiheit eines Untertanen kommen, das heißt, was die Dinge sind, die wir trotz des Befehls des Souveräns verweigern können, ohne Unrecht zu tun […]“ (LD 21, 168).

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B. Die politische Logik des Körpers

Weil freiwillige Handlungen gemäß Hobbes’ deterministischer Handlungstheorie immer auf ein körperliches Gut zielen, Rechtsübertragungen aber nur als freiwillige eine normative Kraft besitzen, können solche, die dem Körper schaden, nicht als gültige Rechtsübertragungen angesehen werden. Hobbes formuliert in dem Zitat ausdrücklich den Status des Körpers als Gültigkeitskriterium für Verträge: „Verträge, den eigenen Körper nicht zu verteidigen, sind nichtig.“ Die Freiheit der Untertanen besteht dementsprechend nicht nur darin, sich im Rahmen der Gesetze frei zu bewegen, sondern die wahre Freiheit der Untertanen besteht darin, nur solchen Gesetzen gehorchen zu müssen, die der eigenen Selbsterhaltung nicht abträglich sind. Der Körper formuliert also Bedingungen, unter denen Herrschaftsverhältnisse als freiwillig gewählt und damit rechtmäßig begriffen werden können. Die Logik des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung führt im Rahmen der Souveränitätslehre also dazu, dass die Unterwerfungen gerade keine bedingungslosen Unterwerfungen sind. Aber, so könnte – insbesondere von Vertretern der rechtstheoretischen Lesart – eingewandt werden, der Wortlaut der im Leviathan erstmals eingeführten Autorisierungstheorie widerspreche dieser Deutung insofern, als dort explizit von einer bedingungslosen Unterwerfung die Rede sei und auch der Wortlaut des Vertrages eine solche vorbehaltlose Autorisierung aller Handlungen des Souveräns suggeriere. Diesem möglichen, berechtigten Einwand kann man mit Hobbes’ eigenen Worten antworten. Hobbes beschäftigt sich im 21. Kapitel explizit mit der Frage, wie weit die Verpflichtung der Untertanen reiche und macht in seinen Erläuterungen hinreichend deutlich, dass nicht der Wortlaut der Verpflichtungserklärung, sondern der Zweck, den man mit der freiwilligen Handlung der Rechtsübertragung verfolgte, Ursache von Verpflichtung und Freiheit sei. Zur Klärung der Frage, zu welchem Gehorsam Untertanen verpflichtet sind, empfiehlt er, sich nochmals den Unterwerfungs- bzw. Autorisierungsakt anzusehen. Hobbes argumentiert, dass sich sämtliche Pflichten und Freiheiten von dem Autorisierungsakt ableiten lassen müssen, weil man – gemäß dem Grundsatz des politischen Voluntarismus – nur durch eigenes Handeln verpflichtet werden könnte. „Wenn wir nun zu den Einzelheiten der wahren Freiheit eines Untertanen kommen, das heißt, was die Dinge sind, die wir trotz des Befehls des Souveräns verweigern können, ohne Unrecht zu tun, so müssen wir in Betracht ziehen, welche Rechte wir bei der Schaffung eines Staates übertragen, oder, was dasselbe ist, welche Freiheit wir uns vorenthalten, wenn wir ausnahmslos alle Handlungen des Menschen oder der Versammlung, die wir zu unserem Souverän ernennen, als eigene anerkennen. Denn der Akt unserer Unterwerfung enthält sowohl unsere Verpflichtung als auch unsere Freiheit, weshalb sie mit Argumenten begründet werden müssen, die sich von dort ableiten lassen. Man kann nämlich nur durch eigenes Handeln verpflichtet werden, denn alle Menschen sind von Natur aus gleicher­maßen frei“ (LD 21, 168).

Hobbes macht deutlich, dass der Wortlaut der Autorisierungsformel zwar von einer bedingungslosen Unterwerfung spreche, dieser aber keine bedingungslose Verpflichtung bedeuten würde: Selbst wenn eine solche bedingungslose Unterwerfung versprochen worden wäre, könne dieser Wortlaut keine unbedingte Ver-

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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pflichtung zur Folge haben. Hobbes geht sogar soweit, zu sagen, dass durch die Autorisierung die natürliche Freiheit nicht im geringsten eingeschränkt werde, was wiederum zahlreiche Hobbes-Forscher dazu veranlasst hat, hier einen Widerspruch zu vermuten:179 „Ferner ist die Zustimmung eines Untertans zur souveränen Gewalt in den Worten enthalten: ‚Ich autorisiere alle ihre Handlungen oder nehme sie auf mich.‘ Darin liegt nicht die geringste Beschränkung seiner früheren natürlichen Freiheit, denn wenn ich dem Souverän erlaube, mich zu töten, bin ich nicht verpflichtet, mich auf seinen Befehl hin selbst zu töten. Es ist nicht dasselbe ob ich sage: ‚Töte mich oder meinen Genossen, wenn es dir gefällt‘, oder: ‚Ich werde mich oder meinen Genossen töten‘“ (LD 21, 168 f., Hervorhebungen E. O.).

Hobbes geht in seiner Erläuterung aber noch weiter und ergänzt explizit und im Detail, dass nicht der Wortlaut, sondern die Absicht, die man bei einem Vertragsschluss verfolgte, Ursache der Verpflichtung sei: „Niemand ist auf Grund der Worte selbst verpflichtet, sich selbst oder einen anderen Menschen zu töten, und folglich hängt die Verpflichtung, die man bisweilen auf Grund eines souveränen Befehls haben kann, irgendeine gefährliche oder entehrende Aufgabe durchzuführen, nicht von den Worten unserer Unterwerfungserklärung ab, sondern von der damit ausgesprochenen Absicht, die sich aus ihrem Zweck ergibt“ (LD 21, 169, Hervor­ hebungen E. O.).

Aus dieser Bestimmung der Absicht des Vertragsschlusses als Verpflichtungs­ ursache leitet Hobbes nun ab, welche Befehle des Souveräns verweigert werden dürfen, ohne Unrecht zu tun: Alle Befehle des Souveräns, die dem Zweck, den man bei dem Vertragsschluss verfolgte, entgegenstehen, dürfen rechtmäßig verweigert werden, ohne dass man damit ein Unrecht täte. Weil der Zweck des Vertragsschlusses die Selbsterhaltung war, bedeutet das im Umkehrschluss, dass nur solche Gesetze befolgt werden müssen, die der Selbsterhaltung nicht im Wege stehen. Immer dann, wenn die Gehorsamsverweigerung dem Zweck der Selbsterhaltung dient, ist eine solche erlaubt: „Vereitelt deshalb unsere Gehorsamsverweigerung den Zweck, zu dem die Souveränität eingesetzt worden war, dann ist keine Freiheit zur Verweigerung gegeben, andernfalls durchaus“ (LD 21, 169, Hervorhebungen E. O.).

Das Zugriffsrecht des Souveräns auf die natürlichen Körper seiner Untertanen ist also begrenzt: Der Körper stellt eine Grenze dar, die nicht überschritten werden 179 So vertritt beispielsweise Herb die These, dass Hobbes von einer sich durch den Autorisierungsvertrag ergebenden Freiheitseinschränkung ausgeht und deshalb zwei Begriffe von Freiheit verwende, die nicht vereinbar wären: „Aufgrund der Ambivalenz des Freiheitsbegriffs gelingt es Hobbes nicht, die strikte Unterscheidung zwischen einer naturalen und einer künstlich normativen Sphäre menschlichen Handelns konsequent aufrechtzuerhalten. So kommt es, daß er das Moment notwendiger Beschränkung, wie es für den juridischen Freiheitsbegriff grundlegend ist, mit seinem bewegungsgesetzlichen Freiheitsbegriff wieder aufhebt. Die ‚Zustimmung‘ eines Untertanen zur souveränen Gewalt‘ soll demnach ‚nicht die geringste Einschränkung seiner früheren natürlichen Freiheit‘ beinhalten […]. Mit der vertragstheoretischen Sicht des Verhältnisses von Freiheit und Gesetz ist dies nicht mehr zu vereinbaren“ (Herb 1999, 32).

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B. Die politische Logik des Körpers

kann, ohne dass die Möglichkeit verschwindet, das Herrschaftsverhältnis als ein rechtmäßiges, freiwillig eingegangenes zu interpretieren. Hobbes erläutert diese rechtmäßige Befehlsverweigerung am Beispiel des Verteidigungsfalles.180 Ganz in Übereinstimmung damit stehen seine Ausführungen zum Verpflichtungscharakter der bürgerlichen Gesetze: Diese sind nur unter der Bedingung verpflichtend, dass sie der Selbsterhaltung zuträglich sind und den Menschen vor dem Tod schützen. „Die Natur gab jedermann das Recht, sich durch seine eigene Kraft zu schützen und einen verdächtigen Nachbarn durch Zuvorkommen anzugreifen, aber das bürgerliche Gesetz entzieht diese Freiheit in allen Fällen, in denen man den Schutz des Gesetzes unbedenklich ­abwarten kann“ (LD 26, 221, Hervorhebungen E. O.).

Ich habe an anderer Stelle181 bereits dafür argumentiert, dass diese nur bedingte Gehorsamsverpflichtung an sich trotz der oft gegenteiligen Ausführungen in der Sekundärliteratur182 keinen Widerspruch darstellt: Weil – gemäß der Funktion des Körpers als Gültigkeitskriterium freiwilliger Verträge  – der Souverän nur dann als Ergebnis eines freiwillig eingegangenen, wechselseitigen Vertrages begriffen werden kann, wenn und solange er die Macht hat, seine Untertanen vor dem Tod zu schützen, erlischt die Gehorsamsverpflichtung dem Souverän gegenüber, sobald dessen Schutzmacht erlischt. Hobbes verwendet, um diese bedingte Gehorsamspflicht zu illustrieren, das Bild der „Seele“ des Staates, die den Körper nicht mehr bewegen kann: „Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden. Die Souveränität ist die Seele des Staates, von der die Glieder keinen Bewegungsantrieb empfangen können, wenn sie einmal den Körper verlassen hat. Der Zweck des Gehorsams ist Schutz“ (LD 21, 171).

Wenn der Souverän den Zweck, den die Individuen mit dem freiwilligen, wechselseitigen Vertrag verfolgten, nicht erfüllt, verliert er seinen Status als recht­mäßiger Souverän, weil er unter dieser Bedingung nicht mehr als Ergebnis eines freiwilligen Vertrages begriffen werden kann. Den Souverän zu allen Handlungen zu autorisieren und dem Souverän unbedingten Gehorsam zu versprechen ist also widerspruchsfrei damit zu vereinbaren, Befehlen, die ein angeblicher Souverän äußert, die aber 180 „Aus diesem Grund kann jemand, der als Soldat zum Kampf gegen den Feind eingezogen war, trotz des souveränen Rechts, seine Weigerung mit dem Tod zu bestrafen, in vielen Fällen den Befehl verweigern, ohne ungerecht zu handeln […]“ (LD 21, 169). 181 Vgl. Odzuck 2014b. 182 Vgl. Esfeld 1995, 361: „Wenn nun aber der Souverän wissentlich und willentlich einen unschuldigen Bürger hinrichtet, dann liegt der Widerspruch in Hobbes’ Theorie: Nicht nur hat der Souverän das Recht, dieses zu tun, sondern der betroffene Bürger ist auch Urheber dieser Handlung. Er kann sich aber nicht selbst vernichten wollen.“ Vgl. auch Martinich 1995b, 40: „By Hobbes’s own reasoning, one can never know when something may be necessary to preserve one’s life (L.14.4); so giving up anything may frustrate one’s inalienable right to life. This is a genuine problem in Hobbes’s theory.“

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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der Selbsterhaltung abträglich sind, nicht zu gehorchen, weil diese Befehle keine rechtmäßigen Befehle eines rechtmäßigen Souveräns mehr sind, sondern nur Drohungen eines Menschen, der behauptet, rechtmäßige Macht zu besitzen. Die rechtliche Beziehung zwischen Souverän und Untertan ändert sich in dem Moment, in dem der Souverän seiner Schutzfunktion nicht mehr nachkommt. Der Souverän ist dann nicht mehr Souverän – er verliert den Status als rechtmäßiger Herrscher, weil man sich nicht mehr vorstellen kann, dass er das Ergebnis eines freiwillig zum Zwecke der Selbsterhaltung eingegangenen Vertrages ist. Auch der Untertan ist dann nicht mehr Untertan, d. h. aufgrund eines angenommenen Vertrages zum Gehorsam verpflichtet: Es stehen sich nur noch zwei Menschen mit einem jeweils gleich großen Recht auf Selbsterhaltung, aber ohne Verpflichtung, gegenüber.183 Während die Standarddeutung der Autorisierungstheorie also von einer unbedingten Autorisierung ausgeht, die ausnahmslos alle Handlungen als eigene anerkennt und alle Rechte überträgt,184 geht unsere Deutung davon aus, dass es sich bei der Autorisierung um eine bedingte Autorisierung handelt:185 In Übereinstimmung mit der Bestimmung des Autors als nicht notwendigerweise vernünftigem, aber lebendigem Akteur stellt das körperliche Überleben eine entscheidende Grenze möglicher autorisierbarer Handlungen dar. Der menschliche Körper und dessen Schutz ist die Voraussetzung dafür, dass ein Souverän als rechtmäßige, integrierende Instanz eines politischen Körpers interpretiert werden kann. Gerade weil gemäß der deterministischen Handlungstheorie die Handlungen des leidenschaftsgetriebenen Körpers immer auf das ausgerichtet sind, was dieser für ein Gut hält, können Handlungen des Souveräns, die dem körperlichen Überleben abträglich sind, von den lei 183

Einer von wenigen Forschern, der diese von Hobbes behauptete Abhängigkeit der Existenz des Souveräns von dessen Zweckerfüllung ernst nimmt, und Hobbes in diesem Zusammenhang gegen Widerspruchsvorwürfe verteidigt, ist Steinberger, der jedoch irrtümlicherweise vermutet, Hobbes habe damit eine Theorie legitimer Revolution entwickeln wollen: „I propose to show that citizens have both an absolute obligation to obey the sovereign in every respect and without any exception whatsoever and, at the same time, certain inalienable rights of self-­ defense; further, that Hobbes can argue this without any contradiction whatsoever; and finally, that the right to self-defense is very broad indeed, and forms the basis for a full-scale theory of legitimate revolution, or at least its functional equivalent“ (Steinberger 2002, 856). Zu einer Auseinandersetzung mit Hobbes’ möglicher Intention vgl. das Kapitel B. III. dieser Arbeit. 184 Vgl. auch Kersting 1994, 77, der ebenfalls einen Widerspruch vermutet: „Diese Grundrechtsliste scheint dem Autorisierungsvertrag zu widerstreiten: Ist hier das Recht, über den eigenen Körper zu herrschen, unverzichtbar, so ist die Aufgabe des Rechts auf Selbstregierung gerade Inhalt des Autorisierungsvertrags und Voraussetzung für die Hobbessche Konstruktion der Identitätsrepräsentation.“ 185 Hüning scheint ebenfalls die Möglichkeit einer nur bedingten Autorisierung in Erwägung zu ziehen: Während er in seiner 1998 veröffentlichten Dissertation noch bemerkt hatte, es könne „kein Zweifel daran bestehen, daß für Hobbes nur die bedingungslose Ermächtigung, welche eine unbeschränkte Autorität begründet, die notwendige Bedingung für die Schaffung einer souveränen Staatsgewalt ist“ (Hüning 1998, 218), geht er 2005 davon aus, dass „der Gehorsam, zu dem sich die einzelnen im Vertrag verpflichten, keineswegs ein absoluter“ ­(Hüning 2005, 268) ist. Anders als unsere Deutung geht Hüning aber davon aus, dass diese nur bedingte Gehorsamspflicht Hobbes „in ein grundlegendes staatsrechtliches Dilemma“ (ebd., 269) führt.

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B. Die politische Logik des Körpers

denschaftsgetriebenen Körpern nicht als eigene Akte anerkannt werden. Was aber beinhaltet dieser Schutz? Es ist durchaus nicht so, dass nur der Fall der Landesverteidigung, der die Selbsterhaltung durch anrückende feindliche Soldaten gefährdet, die Verpflichtung dem Souverän gegenüber auflösen würde. Hobbes nennt in einer oben bereits zitierten Aufzählung zahlreiche weitere Dinge, die rechtmäßig verweigert werden können, ohne Unrecht zu tun: Befehle, sich selbst zu töten, zu verletzen oder zu verstümmeln, aber auch Befehle, auf lebensnotwendige Dinge wie Nahrung, Luft oder Arznei zu verzichten, können recht­mäßig verweigert werden.186 Der Körper ist also im kontraktualistischen Argument nicht nur motivationaler Ausgangspunkt, sondern auch eine Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Arguments: Wenn die Handlungen des Souveräns sich als schädlich für die Selbsterhaltung herausstellen, kann der Souverän nicht als rechtmäßiger Souverän begriffen werden. Die Freiheit des Untertanen ist also tatsächlich größer, als es auf den ersten Blick scheint: Nicht nur ist der Untertan in allen Bereichen frei, die das Gesetz ungeregelt lässt. Vielmehr besitzt er auch eine „wahre Freiheit des Untertanen“, die darin besteht, nur solchen Befehlen bzw. Gesetzen gehorchen zu müssen, die der Selbsterhaltung zuträglich sind. d) Fazit: Der Körper als Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Arguments In diesem Kapitel wurde dafür argumentiert, dass das kontraktualistische Argument schon deshalb notwendigerweise vom Körper her zu verstehen ist, weil der Körper eine Gültigkeitsbedingung für das kontraktualistische Argument darstellt. Hobbes entwickelt eine deterministische Handlungstheorie, die dazu führt, dass nur solche Verträge, die dem Körper bzw. der Selbsterhaltung nicht schaden, als gültige Verträge anzusehen sind. Während die Autorisierungstheorie die normativen Kriterien von Freiwilligkeit und Wechselseitigkeit bemühte, liefert die deterministische Handlungstheorie von Hobbes eine inhaltliche Bestimmung des Freiwilligkeitskriteriums: Freiwillig sind nur solche Handlungen, die dem Körper bzw. der Selbsterhaltung nicht schaden. Der Körper fungiert also als Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Arguments. Er bestimmt wesentlich über dessen Reichweite mit. Die Theorie der Freiheit der Untertanen zieht die Konsequenzen aus dieser Stellung des Körpers als Gültigkeitsbedingung des Arguments: Sie setzt fest, dass der Untertan nicht nur in allen Dingen frei ist, die das Gesetz ungeregelt lässt (die Freiheit des Untertanen), sondern auch die Freiheit hat, allen Befehlen, die der Selbsterhaltung abträglich sind, den Gehorsam zu verweigern (die wahre Freiheit des Untertanen). Die Autorisierungstheorie trägt diesem Status des Kör 186

„Wenn deshalb ein Souverän einem wenn auch rechtmäßig verurteilten Menschen befiehlt, sich selbst zu töten, zu verletzen oder zu verstümmeln, Angreifern keinen Widerstand zu leisten oder auf Nahrung, Luft, Arznei oder andere lebensnotwendige Dinge zu verzichten, so hat dieser Mensch doch die Freiheit, den Gehorsam zu verweigern“ (LD 21, 168).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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pers als Gültigkeitskriterium Rechnung insofern, als sie eine Theorie bedingter Autorisierung formuliert: Nur unter der Bedingung, dass der Souverän dem körperlichen Überleben des Autors nicht schadet, kann der Souverän als Vertreter des Autors und dessen Handlungen als die eigenen begriffen werden. Das kontraktualistische Argument, welches die Rechtmäßigkeit des Souveräns dadurch sichern soll, dass man zeigt, dass eine Zustimmung der Untertanen angenommen werden kann, funktioniert also nur dann, wenn der Souverän seiner Schutzfunktion nachkommt. Die legitimationstheoretische Beziehung von Schutz und Gehorsam setzt voraus, dass die Schutzfunktion erfüllt sein muss, um die Rechtmäßigkeit auf eine angenommene Zustimmung zu gründen. Immer dann, wenn das körperliche Überleben zur Disposition steht, entfällt die Möglichkeit, den Souverän als Ergebnis eines freiwilligen, wechselseitigen Vertrages zu begreifen und von einer solchen angenommenen Zustimmung Pflichten eines Untertanen abzuleiten. Als Gültigkeitsbedingung für Verträge stellt der Körper damit eine entscheidende Grenze für das kontraktualistische Argument dar. 3. Der Körper als Problem: Die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments a) Die formale Struktur des Arguments Im bisherigen Verlauf der Arbeit wurde gezeigt, wie der körperliche Ausgangspunkt von Hobbes’ politischer Philosophie nicht nur die Wahl des kontraktualistischen Argumentes, sondern auch dessen Gehalt wesentlich bestimmte: Lebendige, mit instrumenteller Vernunft ausgestattete Körper ersinnen sich, um Todesfurcht zu vermeiden und das angenehme Überleben zu garantieren, einen künstlichen, mächtigen Körper. Nach außen hin agiert der künstliche Körper mit Macht, Gewalt und List, um den Tod durch die Hand auswärtiger Feinde abzuwehren. Im Inneren schafft dieser künstliche Körper durch Bewegungsregeln (Recht) und die glaubhafte Androhung von Gewalt bei Nichtbeachtung einen kollisionsfreien Zustand. Die Anthropologie, die den motivationalen Ausgangspunkt liefert, stellt jedoch zugleich eine entscheidende Grenze des Arguments dar: Nur dann lässt sich der Staat als Ergebnis eines freiwillig eingegangenen Vertrages begreifen, wenn er seiner Schutzfunktion nachkommt. Nur derjenige Staat, der der motivationalen Ausgangsbasis Rechnung trägt und der angenehmen Selbsterhaltung zuträglich ist, kann als auf Zustimmung basierender, rechtmäßiger Staat und also als „politischer Körper“ verstanden werden. Gerade am Körper, der als motivationale Basis des Arguments dessen inhaltliche Ausgestaltung wesentlich bestimmt, entzündet sich nun aber ein grundsätzliches, nicht zu lösendes Problem. Während es unserer Auslegung zufolge grundsätzlich möglich erschien, die Autorisierungstheorie und die Lehre von der Freiheit der Untertanen so zu deuten, dass kein Widerspruch zwischen diesen beiden Theorie­ elementen besteht, birgt der Status des Körpers dennoch ein grundsätzliches Pro-

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B. Die politische Logik des Körpers

blem für das kontraktualistische Argument. Um dieses verdeutlichen zu können, ist eine genaue Beschäftigung mit der Struktur des Argumentes notwendig. Waren bisher Teilelemente des Argumentes rekonstruiert worden (der Naturzustand, die Lehre von den natürlichen Gesetzen, die Theorie der Autorisierung) und gezeigt worden, wie der Körper Eingang in diese Teilelemente findet, ist an dieser Stelle der Ort, an dem die Struktur des Arguments nochmals aufgegriffen und vertieft behandelt werden muss. Das kontraktualistische Argument ist ein bestimmter Argumenttypus, der inhaltlich unterschiedlich gefüllt werden kann und in der Tradition der politischen Philosophie von Hobbes, Locke, Rousseau, Kant oder Rawls auch sehr verschieden inhaltlich ausgefüllt wurde. Seiner Struktur nach bleibt das Argument indessen weitgehend identisch. Es ist dreigliedrig und besteht aus den drei Elementen des Naturzustandes, des Vertrages und des nachvertraglichen, staatlichen Zustands. Das Argument funktioniert als ein Gedankenexperiment und behauptet, dass ein Staat dann gerechtfertigt werden kann, wenn vorstellbar ist, dass er das Ergebnis eines gültigen Vertrages ist, dem die Menschen freiwillig zugestimmt hätten. Wie Beobachter häufig festgestellt haben, spielt die Beschreibung des Natur­ zustandes argumentationslogisch eine herausgehobene Rolle.187 Die konkrete Ausgestaltung des Naturzustandes ist aus zwei Gründen rechtfertigungstheoretisch von besonderem Gewicht: Der Naturzustand ist erstens notwendigerweise negativ konzipiert, um damit eine motivationale Basis für das Verlassen desselben zu schaffen. Das Argumentationsziel – der zu rechtfertigende Staat – steht von vornherein fest und verlangt eine bestimmte, negative Darstellung des Naturzustandes.188 Zweitens enthält der Naturzustand die wesentlichen anthropologischen Prämissen: Nur wenn klar ist, was der natürliche Mensch will, kann daraus eine Motivation, den Naturzustand überwinden zu wollen, weil er kontraproduktiv für die Erreichung dieser Ziele ist, abgeleitet werden.189 Die anthropologischen Prämissen sind deswegen zen 187 Kersting, der eine umfassende Studie zur Struktur des kontraktualistischen Arguments vorlegte, beschreibt den Zusammenhang wie folgt: „Aus dieser knappen Skizze des kontraktualistischen Arguments ist ersichtlich, daß die Naturzustandsbeschreibung für die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags von zentraler Bedeutung ist: sie liefert die Darstellung des Problems, für das das vertragliche Einigungsverfahren eine Lösung bieten soll; sie enthält die Bestimmungen, die den Verlauf, die Rahmenbedingungen und damit auch den Inhalt der vertraglichen Einigungsprozedur festlegen. In ihr ist in nuce immer schon das gesamte kontraktualistische Beweisprogramm enthalten“ (Kersting 1994, 50, Hervorhebungen E. O.). Dass das kontraktualistische Argument möglicherweise nicht darauf abzielt, einen philo­ sophischen, an Wahrheitskriterien zu messenden Beweis zu erbringen, wie es Kerstings Formulierungen nahelegen, soll an dieser Stelle bereits festgehalten werden. Für diese These wird jedoch ausführlich in Kapitel B. III. argumentiert. 188 Vgl. Kersting 1994, 50: „Der nachvertragliche Zustand ist identisch mit dem philosophischen Beweisziel […]. Der nachvertragliche Zustand ist das genaue Gegenteil des vorvertraglichen Zustandes, der den Präferenzen, Interessen und Grundbedürfnissen der Menschen widerstreitet und darum von allen abgelehnt wird.“ 189 Vgl. Kersting 1994, 50: „Das kontraktualistische Argument muß aus der Beschaffenheit der Ausgangssituation – und dazu zählen nicht nur die von den Naturzustandsbewohnern vor-

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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tral, weil sie als Bedingungen gültiger Verträge bzw. als Kriterien eines rechtmäßigen Staates auch die anderen beiden Teilelemente des kontraktualistischen Argumentes wesentlich bestimmen: Als Gültigkeitsbedingung für Verträge fließen die anthropologischen Prämissen in das zweite Teilelement des kontraktualistischen Arguments – den Vertrag – ein und geben damit die Bedingungen vor, unter denen das dritte Teilelement – der staatliche Zustand – als ein freiwillig gewählter und damit gerechtfertigter Zustand erscheinen kann.190 Die Darstellung des Naturzustandes ist also deshalb von besonderem rechtfertigungstheoretischem Gewicht, weil sie die wesentlichen Prämissen, die für das rechtfertigungstheoretische Ziel benutzt werden, enthält. In der ersten Grafik wird der logische Zusammenhang der drei Teilelemente des kontraktualistischen Arguments dargestellt: Naturzustand Negativ, auf Argumentationsziel hin konzipiert

Enthält anthropologische Prämissen, die als Gültigkeitsbedingungen in das kontraktualistische Argument einfließen

Vertrag Gültigkeitsbedingung 1

Gültigkeitsbedingung 2

Staatlicher Zustand Argumentationsziel: Rechtfertigung des Staates. Ein Staat ist dann gerechtfertigt, wenn man sich vorstellen kann, dass er das Ergebnis eines freiwillig eingegangenen, gültigen Vertrages darstellt (Gedankenexperiment).

Grafik 1: Das kontraktualistische Argument: argumentlogische Darstellung gefundenen Lebens- und Handlungsbedingungen, dazu zählt nicht zuletzt auch die von der Theorie den Menschen zugeschriebene anthropologische Verfassung, die ihre Konfliktwahrnehmung ebenso bestimmt wie ihre Problemlösungsphantasie und ihre Entscheidungspsychologie – zwingende Gründe für den Abschluß eines bestimmten Vertrages ableiten und somit den Entschluß zu der vorliegenden vertraglichen Einigung als rational ausweisen.“ 190 Kersting unterscheidet neben der Rationalitätsbedingung eine Moralitätsbedingung, die die Gültigkeit des Vertrages beeinflusse: „Die Naturzustandskonzeption des Kontraktualismus muß nicht nur eine rationale Ableitung des Vertrages aus der Beschaffenheit der Situation und der psychologischen Ausstattung ihrer Bewohner gewährleisten, sie muß zusätzlich auch für seine Gültigkeit sorgen und die Situation mit Merkmalen ausstatten, die einen mit den vertragsmoralischen Normen übereinstimmenden Vertragsschluß bewirken, so daß der unter ihren Konditionen verabredete Vertrag nicht nur im wohlverstandenen Interesse von jedermann liegt und klug ist, sondern auch keine sittliche Anzweiflung erlaubt“ (Kersting 1994, 50 f.). Dass diese Unterscheidung zumindest bei Hobbes wenig sinnvoll ist, weil die Bedingungen gültiger Verträge hier ausschließlich Folgerungen aus den anthropologischen Prämissen darstellen und keine davon verschiedene moralische Perspektive eröffnen, wird im Folgenden gezeigt.

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B. Die politische Logik des Körpers

b) Die inhaltliche Füllung des Arguments durch Hobbes: Todesfurcht und Ruhmstreben – Selbsterhaltung und Wechselseitigkeit Wie wird dieses Argument von Hobbes nun inhaltlich gefüllt? Welche Prämissen werden in der Naturzustandsschilderung entwickelt? Erstens zeichnet sich der Mensch durch eine grundlegende Freiheitsliebe aus. Nur weil Menschen als leidenschaftsgetriebene Körper von Natur aus eine möglichst ungehinderte Bewegungsfreiheit haben wollen, ergibt sich überhaupt die Aufgabenstellung der Rechtfertigung von Herrschaft als einer Einschränkung dieses Bewegungsspielraumes. Deutlicher als im Naturzustandskapitel formuliert Hobbes den rechtfertigungstheoretischen Zusammenhang von Freiheitsliebe und freiwillig gewählter Freiheitsbeschränkung im 17. Kapitel, das den Ursachen und der Erzeugung des Staates gewidmet ist: „Die Menschen, die von Natur aus Freiheit und Herrschaft über andere lieben, führten die Selbstbeschränkung, unter der sie, wie wir wissen, in Staaten leben, letztlich allein mit dem Ziel und der Absicht ein, dadurch für ihre Selbsterhaltung zu sorgen und ein zufriedeneres Leben zu führen […]“ (LD 17, 131, Hervorhebungen E. O.).

Diese Aufgabenstellung der Rechtfertigung einer Einschränkung des Bewegungsspielraumes wird nun durch Rekurs auf zwei weitere anthropologische Prämissen gelöst. Erstens strebt der Mensch, wie unsere Naturzustandsanalyse gezeigt hatte, grundsätzlich nach Selbsterhaltung und bisweilen nach Genuss. Auch das obige Zitat enthält diesen rechtfertigungstheoretischen Zusammenhang: Nur unter der Voraussetzung, dass sich eine Freiheitsbeschränkung als selbsterhaltungsdienlich (und ggf. genussförderlich) erweist, lässt sich Herrschaft also rechtfertigen. Im vorigen Kapitel wurde bereits gezeigt, wie aus der anthropologischen Prämisse der Selbsterhaltung ein Gültigkeitskriterium für den Vertrag abgeleitet wurde. Der Körper spielt im kontraktualistischen Argument von Hobbes eine herausgehobene Rolle, weil die anthropologische Prämisse des Strebens nach körperlich verstandener Selbsterhaltung als Gültigkeitskriterium für Verträge in das Argument einfließt. Neben der anthropologischen Prämisse der Selbsterhaltung tritt jedoch eine weitere zentrale Prämisse hinzu: Der natürliche Mensch strebt Hobbes zufolge nicht nur nach Selbsterhaltung, sondern auch nach Ruhm. In unserer Natur­ zustandsanalyse hatten wir dargestellt, wie dieses Ruhmstreben nach Hobbes eine Ursache für gewaltsame Übergriffe darstellen kann. Dieses Ruhmstreben kann nun aber offensichtlich verschiedene Formen annehmen. Hobbes betont, dass nicht nur der Wunsch danach, von anderen Körpern für die eigene Körperstärke geachtet zu werden, den natürlichen Menschen bestimmt,191 sondern dass sich der

191 Vgl. auch Hobbes’ Erläuterung des Stolzes im sechsten Kapitel: „Freude, die von der Vorstellung eigener Macht und Fähigkeit herrührt, ist jenes Hochgefühl des Geistes, das man Stolz nennt“ (LD 6, 44).

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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natürliche Mensch auch dadurch auszeichnet, sich für klüger oder zumindest nicht dümmer als andere Menschen zu halten. Im Kontext der Naturzustandsschilderung im 13. Kapitel hatte Hobbes die intellektuelle Eitelkeit und Dünkelhaftigkeit der Menschen betont: „Denn die Natur der Menschen ist so beschaffen, daß sie, wie sehr sie auch den größeren Witz, die größere Beredsamkeit oder Gelehrsamkeit anderer anerkennen, doch kaum annehmen, es gebe so viele, die so weise sind wie sie, denn sie sehen ihren eigenen Verstand unmittelbar vor Augen und den anderer Menschen über eine Entfernung“ (LD 13, 94).

Diese Ausprägungsform des Ruhmstrebens als intellektuelle Eitelkeit fließt als anthropologische Prämisse ebenfalls in das kontraktualistische Argument ein. Der Dünkel, ebenso verständig wie alle anderen Menschen zu sein und intellek­ tuelle Unterschiede nicht anzuerkennen, führt dazu, dass Menschen Herrschaft oder andere Privilegien, die auf Verstandesunterschiede gegründet werden, nicht anerkennen. In der Erläuterung des achten natürlichen Gesetzes stellt Hobbes den Zusammenhang zwischen der anthropologischen Prämisse der Eitelkeit und dem Wechselseitigkeitskriterium explizit her. In polemischer Auseinandersetzung mit Aristoteles behauptet Hobbes hier, dass die meisten Menschen sich nicht gerne von anderen regieren lassen und insbesondere Herrschaftsansprüche, die mit verschiedenen Verstandesfähigkeiten begründet werden, nicht anerkennen würden. Diese anthropologische Prämisse der intellektuellen Eitelkeit fügt nun dem kontraktualistischen Argument eine weitere Gültigkeitsbedingung hinzu: Weil Menschen sich in intellektueller Hinsicht für gleich halten, kann nicht angenommen werden, dass sie einem Vertrag zustimmen würden, der unterschiedliche Bedingungen für verschiedene Menschen bedeuten würde. Die intellektuelle Eitelkeit (und nicht die tatsächliche intellektuelle Gleichheit)192 ist also der Grund dafür, weshalb die Wechselseitigkeit – die Gleichheit der Bedingungen – zum Gültigkeitskriterium193 für einen Vertrag, der den Naturzustand beendet, wird:

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Dass Hobbes’ Argumente für die natürliche Gleichheit der Menschen einen eher instrumentellen Charakter haben, hat Hoekstra 2013 herausgearbeitet. Zu einer vertieften Auseinandersetzung mit Hobbes’ These der Gleichheit der Menschen und deren Rezeption in der neueren Hobbes-Forschung vgl. das Kapitel B. III. 2. b) dieser Arbeit. 193 Dass es sich bei der Annahme der natürlichen Gleichheit um eine für das kontraktualistische Argument zentrale Voraussetzung handelt, betont Kersting 1994, 68f, der gleichwohl unsere Herleitung aus dem Ruhmstreben nicht teilt, sondern den Hobbes’schen Egalitarismus als einen von einem „menschenrechtlichen Egalitarismus“ verschiedenen „deskriptiven Egalitarismus“ verstehen möchte: „Die Annahme der natürlichen Gleichheit ist auch für die Begründungsfunktion des gesamten kontraktualistischen Arguments von großer Bedeutung. Sie steht für die Erfüllung der fundamentalen Gültigkeitsbedingungen des Vertrages ein. Sie sorgt dafür, daß die Ausgangssituation für alle Vertragsbeteiligten gleich ist und daß alle in gleicher Weise von dem Vertrag profitieren. […] Und das, was der menschenrechtliche Egalitarismus aus Rechtsgründen verlangt, wird durch den deskriptiven Egalitarismus als kausale Folge festgelegt: Es kann nur eine einvernehmliche Konfliktlösung in Gestalt eines Vertrags geben, vor dem sich alle als gleiche versammeln, in dem alle als gleiche behandelt werden und durch den alle in gleicher Weise profitieren.“

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B. Die politische Logik des Körpers

„Als ob die Einteilung in Herr und Knecht nicht durch Übereinstimmung der Menschen sondern aufgrund ihres unterschiedlichen Verstands eingeführt worden wäre! Dies widerspricht nicht nur der Vernunft, sondern der Erfahrung. Denn es sind nur wenige so dumm, daß sie sich nicht lieber selbst regieren als von anderen regieren lassen würden. […] Und wenn deshalb die Natur die Menschen gleich geschaffen hat, so muß diese Gleichheit anerkannt, oder aber, wenn die Natur die Menschen ungleich geschaffen hat, die Menschen sich jedoch für gleich halten und nur zu gleichen Bedingungen in den Friedens­zustand eintreten wollen, diese Gleichheit eingeräumt werden“ (LD 14, 118, Hervorhebungen E. O.).

Diese Wechselseitigkeitsbedingung wird von Hobbes  – im Gegensatz zur Selbsterhaltungsbedingung  – explizit in die Formulierung der Vertragsformel mit aufgenommen. Die berühmte Vertragsformel enthält die Wechselseitigkeits­ bedingung, insofern sie festsetzt, dass Menschen nur unter der Bedingung zu einer Rechtsübertragung bereit sind, dass diese anderen Menschen ebenfalls zu genau der gleichen Rechtsübertragung bereit sind: „Ich autorisiere diese Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, daß du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst“ (LD 17, 134, Hervorhebungen E. O.).

Das zehnte natürliche Gesetz formuliert die vertragstheoretischen Konsequenzen der Wechselseitigkeitsbedingung: Nur ein Vertrag, der gleiche Rechte und Pflichten für alle, die diesem Vertrag zustimmen würden, nach sich zöge, könne als ein solcher begriffen werden, dem die Menschen freiwillig zugestimmt hätten. Die Weigerung, intellektuelle Unterschiede anzuerkennen und daraus rechtliche Differenzen abzuleiten, führt dazu, dass die rechtliche Gleichheit zum Gültigkeitskriterium eines Vertrages wird. Das Wechselseitigkeitskriterium bedeutet, dass nur Verträge, die genau die gleichen Rechte, d. h. Freiheitsspielräume für alle zukünftigen Untertanen zur Folge haben, von den Menschen akzeptiert werden würden: „Beim Eintritt in den Friedenszustand soll niemand verlangen, sich ein Recht vorzubehalten, wenn er nicht damit einverstanden ist, daß es auch allen übrigen Menschen vorbehalten werde“ (LD 15, 118). Unsere schematische, argumentlogische Darstellung kann nun also inhaltlich gefüllt werden, wie die Darstellung in der zweiten Grafik zeigt: Die anthropologische Prämisse der Todesfurcht fließt als Selbsterhaltungsbedingung in das kontraktualistische Argument ein, die anthropologische Prämisse des Ruhmstrebens fließt als Wechselseitigkeitsbedingung in das kontraktualistische Argument ein. Nur ein Staat, dessen Freiheitsbeschränkungen sich als selbsterhaltungsdienlich erweisen und für alle Untertanen gleich sind, kann als ein solcher betrachtet werden, der das Ergebnis eines freiwillig eingegangenen Vertrages ist:

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Naturzustand Anthropologische Prämisse 1: Todesfurcht / Selbsterhaltungsstreben

Anthropologische Prämisse 2: Ruhmstreben / intellektuelle Eitelkeit

Vertrag Gültigkeitsbedingung 1: Selbsterhaltungsdienlichkeit

Gültigkeitsbedingung 2: Wechselseitigkeit

Staatlicher Zustand Argumentationsziel: Ein Staat gilt als gerechtfertigt, wenn er durch seine Freiheitsbeschränkungen selbsterhaltungsdienlich wirkt (Gültigkeitsbedingung 1) und wenn er alle den gleichen Freiheitsbeschränkungen unterwirft (Gültigkeitsbedingung 2).

Grafik 2: Kontraktualistisches Argument: Resultate der anthropologischen Prämissen

c) Die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments Worin besteht nun aber das Problem des Arguments? Man kann es als Schwierigkeit, die Grenzen der Freiheit zu bestimmen, formulieren. Um das Problem zu konturieren, muss man sich die Konsequenzen, die ein Vertrag für die natürliche Freiheit der Menschen bedeutet, verdeutlichen. Die Menschen sind Hobbes zufolge von Natur aus frei, alles zu tun, was ihrer Selbsterhaltung dient.194 Weil jeder selbst bestimmt, was für seine Selbsterhaltung notwendig ist und sich prinzipiell alles irgendwann einmal als selbsterhaltungsdienlich herausstellen kann, ist das natürliche Recht ein Recht auf alles.195 Der staatsbegründende, wechselseitige Vertrag ist ein Autorisierungsvertrag, in dem die späteren Untertanen auf die volle Ausübung des natürlichen Rechts verzichten. Es handelt sich – obwohl das in der Literatur vielfach so dargestellt wird196 – nicht wirklich um einen Rechtsverzicht 194 „Das natürliche Recht, in der Literatur gewöhnlich jus naturale genannt, ist die Freiheit eines jeden, seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht“ (LD 14, 99). 195 „Und weil sich die Menschen […] im Zustand des Kriegs eines jeden gegen jeden befinden, was bedeutet, daß jedermann von seiner eigenen Vernunft angeleitet wird, und weil es nichts gibt, das er nicht möglicherweise zum Schutze seines Lebens gegen seine Feinde verwenden könnte, so folgt daraus, daß in einem solchen Zustand jedermann ein Recht auf alles hat, selbst auf den Körper eines anderen“ (LD 14, 99). 196 Vgl. Kersting 1994, 83: „Die Negation dieses Rechts ist Inhalt des Vertragsversprechens: je­der verpflichtet sich gegenüber jedermann, auf sein Recht auf alles zu verzichten, vorausgesetzt, der jeweilige Partner verzichtet ebenfalls auf seine unbeschränkte natürliche Freiheit.“

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B. Die politische Logik des Körpers

oder eine Rechtsübertragung, bei der Rechte den einen Menschen verlassen und auf einen anderen Menschen übergehen. Weil ohnehin alle Menschen ein natürliches Recht auf alles haben, bedeuten Rechtsübertragung und Rechtsverzicht bei Hobbes lediglich, darauf zu verzichten, einen anderen Menschen daran zu hindern, sein Recht wahrzunehmen. Es meint lediglich, wie Hobbes ausführt, einen Verzicht darauf, ein Freiheitshindernis für andere zu sein: „Auf das Recht auf irgend etwas verzichten heißt sich der Freiheit begeben, einen anderen daran zu hindern, den Nutzen aus seinem Recht hierauf zu ziehen. Denn verzichtet jemand auf sein Recht oder überträgt er es, so gibt er damit niemandem ein Recht, das dieser nicht vorher schon besessen hätte, da es nichts gibt, worauf nicht jedermann von Natur aus ein Recht hätte. Er gibt vielmehr dem anderen nur den Weg frei, damit dieser sein eigenes ursprüngliches Recht ohne eine von ihm verursachte Behinderung ausüben kann, nicht aber ohne Behinderung durch einen anderen. So liegt die Wirkung, die der Wegfall des Rechts eines anderen auf jemanden hat, in einer entsprechenden Verringerung der Hindernisse in der Ausübung seines eigenen ursprünglichen Rechts“ (LD 14, 100, Hervorhebungen E. O.).

Besteht die Konsequenz einer Rechtsübertragung bzw. eines Rechtsverzichtes darin, darauf zu verzichten, ein Freiheitshindernis für jemand anderen zu sein, werden diese Folgen erst dann wirksam, wenn dieser andere von seinem Freiheitsrecht auch tatsächlich Gebrauch macht. Erst wenn dieser andere handelt und sich in einer Weise bewegt, die den eigenen Bewegungsradius überhaupt tangiert, kommt es also zu einem tatsächlichen Freiheitsverlust. Hobbes grenzt Rechtsübertragungen von Rechtsverzichten dadurch ab, dass Erstere einen eindeutigen Nutznießer erfordern und fügt hinzu, dass man solche Rechtsübertragungen üblicherweise mit dem moralischen Jargon der Verpflichtung charakterisiere. Erst dann, wenn dieser andere in einer Weise von seinem natürlichen Recht Gebrauch machen möchte, die die Wahrnehmung des eigenen Rechts tangiert, entsteht eine Verpflichtung bzw. eine Einschränkung der Freiheit des Rechtsüberträgers: „Ein Recht wird niedergelegt, indem man entweder einfach darauf verzichtet oder es auf einen anderen überträgt. Einfacher Verzicht liegt dann vor, wenn man sich nicht darum kümmert, wem der Vorteil daraus zufällt, Übertragung, wenn man beabsichtigt, den Vorteil einer gewissen Person oder Personenmehrheit zukommen zu lassen. Und wenn jemand auf irgendeine Weise sein Recht aufgegeben oder übertragen hat, so sagt man, er sei verpflichtet oder gebunden, diejenigen, zu deren Gunsten er dieses Recht übertragen oder aufgegeben hat, nicht an der Wahrnehmung des daraus entspringenden Vorteils zu hindern und er soll – es sei seine Pflicht – seiner eigenen willentlichen Handlung nicht entgegenhandeln“ (LD 14, 100 f.).

Für den wechselseitigen Vertrag, in dem die Untertanen dem Souverän ihr Recht auf Selbstregierung übertragen, gilt das Gleiche: Erst wenn und nur dort, wo der Souverän als Nutznießer einer wechselseitigen Rechtsübertragung Gesetze erlässt und damit ein bestimmtes Handeln der Untertanen vorschreibt, wird die Freiheit der Untertanen eingeschränkt und es entsteht eine Verpflichtung. Das Problem des Arguments entsteht nun im Zusammenhang mit der Frage, wie weit die Freiheit oder umgekehrt die Verpflichtung des einzelnen Untertanen reicht. Die Theorie der Freiheit der Untertanen formuliert deutlich, dass die Verpflichtung nur soweit reicht, wie die Schutzfunktion des Souveräns reicht. Wenn der Souverän den Tod nicht abwehren

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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kann, endet die Verpflichtung des Untertanen.197 Hobbes nennt verschiedene Fälle, in denen die Verpflichtung des Untertanen erlischt. Dazu zählt die akute Todes­ gefahr bei einer Invasion auswärtiger Feinde, ebenso aber eine Hungersnot, bei der man sich nicht anders als durch Verletzung der Eigentumsregeln schützen kann.198 An dieser Stelle ergibt sich nun jedoch die Frage, wer beurteilt, ob ein solcher Fall vorliegt. Wer beurteilt, was die Schutzfunktion des Souveräns beinhaltet bzw. wann dieser seine Schutzaufgabe unzureichend erfüllt und Todesgefahr droht? Gerade angesichts der Tatsache, dass nicht nur die Abwehr unmittelbarer körperlicher Gewalt, sondern durchaus auch andere Rechte nach Hobbes unübertragbar zu sein scheinen, stellt sich folgendes Problem: Wer beurteilt, welche Rechte zum Kranz unübertragbarer Rechte gehören und, darin impliziert, wie groß der Freiheitsraum der Untertanen ist? Hobbes erklärt zwar deutlich, dass es einige Rechte gibt, die unübertragbar sind, allerdings ist unklar, welche Rechte dies sind. Der Hinweis auf „Dinge, ohne die ein Mensch nicht oder nicht angenehm leben kann“ bleibt denkbar unbestimmt: „Wie es für alle Friedenssuchenden notwendig ist, gewisse natürliche Rechte niederzu­ legen, das heißt nicht mehr die Freiheit zu haben, alles zu tun, was einem gerade einfällt, so ist es für das menschliche Leben notwendig, einige Rechte beizubehalten, wie das Recht, über den eigenen Körper zu herrschen, das Recht auf Luft, Wasser, Körperbewegung, auf Verbindungswege von Ort zu Ort, sowie auf alle Dinge, ohne die ein Mensch nicht oder nicht angenehm leben kann“ (LD 14, 118, Hervorhebungen E. O.).

Auch in einer anderen Aufzählung ist nicht eindeutig, was lebensnotwendige Dinge sind: Wie viel Nahrung, Luft oder Arznei ist etwa notwendig, um das eigene Leben zu sichern? „Wenn deshalb ein Souverän einem wenn auch rechtmäßig verurteilten Menschen befiehlt, sich selbst zu töten, zu verletzen oder zu verstümmeln, Angreifern keinen Widerstand zu leisten oder auf Nahrung, Luft, Arznei oder andere lebensnotwendige Dinge zu verzichten, so hat dieser Mensch doch die Freiheit, den Gehorsam zu verweigern“ (LD 21, 168).

Die dritte Grafik zeigt das Problem: Neben den übertragbaren Rechten gibt es unübertragbare Rechte – wer aber bestimmt, welche dies sind, und was darunter fällt? Wer bestimmt, wie groß die wahre Freiheit des Untertanen ist, die darin besteht, nur solchen Gesetzen gehorchen zu müssen, die selbsterhaltungsdienlich sind? 197 „Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur solange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn jemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden. Die Souveränität ist die Seele des Staates, von der die Glieder keinen Bewegungsantrieb empfangen können, wenn sie einmal den Körper verlassen hat. Der Zweck des Gehorsams ist Schutz“ (LD 21, 171). 198 „Ist jemand ohne Nahrung oder andere lebensnotwendige Dinge und kann er sich nur durch eine gesetzwidrige Tat erhalten, z. B. wenn er in einer großen Hungersnot Nahrungsmittel raubt oder stiehlt, die er weder für Geld noch aus Mildtätigkeit erlangen kann, oder wenn er in Verteidigung seines Lebens das Schwert eines anderen entwendet, so ist er aus den soeben genannten Gründen völlig entschuldigt“ (LD 27, 131).

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B. Die politische Logik des Körpers

Grafik 3: Unübertragbare Rechte – Die wahre Freiheit der Untertanen

An dieser Stelle muss an die Gültigkeitskriterien für Verträge, die aus den anthropologischen Prämissen abgeleitet wurden, erinnert werden. Das kontraktualistische Argument funktioniert als ein Gedankenexperiment, welches einen existierenden Staat dadurch rechtfertigen möchte, dass es versucht zu zeigen, dass der Staat als Ergebnis eines freiwillig eingegangenen Vertrages begriffen werden kann. Die anthropologischen Prämissen der Todesfurcht und der intellektuellen Eitelkeit führten dazu, dass nur Verträge, die sich als selbsterhaltungsdienlich erweisen und gleiche Verpflichtungen, d. h. gleiche Freiheitseinschränkungen generieren, als gültige Verträge betrachtet werden. Um die Rechtmäßigkeit eines bestehenden Staates nachzuweisen, muss also gezeigt werden, dass dieser Staat als mögliches Ergebnis eines – diesen Gültigkeitskriterien genügenden – gedachten Vertrages begriffen werden kann. Um dem Gültigkeitskriterium der Wechselseitigkeit, d. h. der gleichen Freiheitseinschränkung für alle seine Untertanen Rechnung zu tragen, müsste demzufolge der Souverän beurteilen, wie weit die Verpflichtung seiner Untertanen reicht: Nur wenn der Souverän gesetzlich festlegen würde, wie weit die Verpflichtung seiner Untertanen reicht und welche Rechte unübertragbar sind, könnte er gewährleisten, dass die Verpflichtung bzw. der Handlungsspielraum seiner Untertanen gleich groß ist. Damit der Souverän als Ergebnis eines gültigen, freiwillig eingegangenen Vertrages und also als rechtmäßig begriffen werden kann, müsste er durch eine biopolitische Gesetzgebung, die festlegt, was unter dem körperlichen Leben und der körperlich verstandenen Selbsterhaltung zu verstehen ist, dafür sorgen, dass die Rechte und der Freiheitsspielraum seiner Untertanen gleich groß ist. Die vierte Grafik zeigt, wie eine biopolitische Gesetzgebung dafür sorgen müsste, dass die wahre Freiheit der Untertanen gleich groß ist.

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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Grafik 4: Biopolitische Gesetzgebung und Freiheitsspielraum der Untertanen

Eine solche Festlegung durch den Souverän würde jedoch bedeuten, dem Souverän selbst zu erlauben, die Gültigkeitsbedingungen des Vertrages, der seine Rechtmäßigkeit gewährleisten soll, zu manipulieren. Wenn der Souverän festlegt, was zum menschlichen Leben unbedingt notwendig ist und also der Souverän definiert, worin die menschliche Selbsterhaltung besteht, lässt sich der Souverän nicht mehr als Ergebnis eines freiwillig gewählten Vertrages interpretieren, weil er damit ein anderes Gültigkeitskriterium – das Kriterium der Selbsterhaltungsdienlichkeit – selbst manipulieren würde. Wenn Menschen nur unter der Bedingung zu einer Rechtsübertragung bereit sind, dass sich diese Rechtsübertragung als selbsterhaltungsdienlich erweist, kann nicht angenommen werden, dass sie dem Nutznießer der Rechtsübertragung gestatten, selbst zu entscheiden, ob er diese Bedingungen erfüllt. Weil freiheitsliebende Menschen sich nur unter der Bedingung der Sicherung ihrer Selbsterhaltung der freiheitseinschränkenden Wirkung eines Vertrages unterstellen, kann nicht angenommen werden, dass sie sich den Vertragszweck, der als Gültigkeitsbedingung die Reichweite ihrer Verpflichtung bestimmt, aus der Hand nehmen lassen. Das Argument mündet in eine biopolitische Aporie,199 weil es bei genauerer Betrachtung den Zweck, den Staat als einen rechtmäßigen Staat zu rechtfertigen, nicht erfüllen kann: Wenn die Rechtmäßigkeit des Staates an dessen Selbsterhal 199 Ich verwende den Ausdruck „Biopolitik“ hier im Anschluss an Kauffmann und Sigwart mit der Bedeutung eines Politikfeldes, das das menschliche Leben zum Gegenstand hat. Vgl. zu einer Diskussion verschiedener Begriffsverständnisse Kauffmann/Sigwart 2011, 10 f.

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B. Die politische Logik des Körpers

Grafik 5: Die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments

tungsdienlichkeit und an dessen gleichmäßigen Freiheitsraum für die Untertanen (dem Wechselseitigkeitskriterium) gemessen wird, ist der Souverän  – um seine Rechtmäßigkeit zu sichern – zu einer biopolitischen Gesetzgebung gezwungen, die zugleich seine Rechtmäßigkeit untergräbt. Um die gleiche Freiheit der Unter­tanen zu gewährleisten, müsste der Souverän definieren, welche Rechte unübertragbar sind, was Selbsterhaltung beinhaltet bzw. was unter dem Schutz des Lebens zu verstehen ist. Indem er dies täte und damit dem Wechselseitigkeitskriterium Rechnung trüge, würde er aber das Selbsterhaltungskriterium und damit eine weitere Bedingung seiner Rechtmäßigkeit manipulieren. Er würde in die Prämissen desjenigen Arguments eingreifen, das seine Rechtmäßigkeit nachweisen soll und damit die Bedingungen, unter denen er als rechtmäßiger Staat begriffen werden kann, beseitigen. Die fünfte Grafik zeigt diese biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments: Eine biopolitische Gesetzgebung, die festlegt, was unter Leben und Tod zu verstehen ist, ist einerseits erforderlich, um zu gewährleisten, dass die Verpflichtung der Untertanen gleich groß ist und also dem Wechselseitigkeitskriterium als Bedingung gültiger Verträge Rechnung getragen wird. Gleichzeitig verletzt eine solche biopolitische Gesetzgebung aber das (durch die Selbsterhaltung inhaltlich gefüllte) Freiwilligkeitskriterium und damit die Möglichkeit, dass

II. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments

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der Souverän als Ergebnis eines gültigen Vertrages begriffen wird: Wenn man annimmt, dass Menschen nur unter bestimmten Bedingungen – der Selbsterhaltungsdienlichkeit – zum Gehorsam bereit sind, kann man nicht zugleich annehmen, dass sie sich die Bedingungen ihres Gehorsams diktieren lassen. Der Staat, der definiert, was unter Selbsterhaltung zu verstehen ist, kann nicht mehr als Ergebnis eines freiwillig zum Zweck der Selbsterhaltung eingegangenen Vertrags begriffen werden, weil er das Gültigkeitskriterium der Selbsterhaltungsdienlichkeit verletzen würde.

4. Fazit: Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments In diesem Kapitel wurde für die grundlegende These argumentiert, dass das kontraktualistische Argument nur angemessen zu verstehen ist, wenn man die Rolle, die der Körper darin spielt, berücksichtigt. So wurde in einem ersten Teil­ kapitel gezeigt, dass der Körper die Grundlage des kontraktualistischen Arguments darstellt, insofern der aus der materialistisch-mechanistischen Naturphilosophie resultierende Skeptizismus und die nach diesem Muster konzipierte Anthro­pologie des leidenschaftsbewegten Körpers die Ausgangspunkte des kontraktualistischen Arguments darstellen. Sowohl der Naturzustand und dessen Darstellung als Überlebenskampf zwischen leidenschaftsgetriebenen Körpern, als auch die Konzeption der natürlichen Gesetze als Klugheitsregeln zur Sicherung der Selbsterhaltung wie auch die Autorisierungstheorie, die den Autor als lebendigen Körper konzipiert, trugen dieser Anthropologie Rechnung. In einem zweiten Teilkapitel wurde gezeigt, dass der Körper nicht nur die Grundlage, sondern auch eine Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Arguments darstellt: Weil Verpflichtungen nach Hobbes nur aus freiwilligen Handlungen resultieren können, freiwillige Handlungen aber immer auf ein körperlich verstandenes Gut zielen, kann ein Staat, der das körperliche Überleben bedroht, nicht als Ergebnis eines freiwillig eingegangenen Vertrages begriffen werden. Der Körper stellt eine Gültigkeitsbedingung für das kontraktualistische Argument dar, weil nur ein Staat, der dem Schutz des Körpers dient, als Ergebnis eines gültigen, freiwillig eingegangenen Vertrages begriffen werden kann. Dafür, dass dem Argument genau aus diesem Status des Körpers ein funda­ mentales Problem erwächst, wurde im letzten Teilkapitel argumentiert: Das kontraktualistische Argument mündet in eine biopolitische Aporie. Um das Argumentationsziel – die Rechtmäßigkeit des Staates – sichern zu können, wäre der Souverän zu einer biopolitischen Gesetzgebung gezwungen, die seine Recht­ mäßigkeit zugleich untergraben würde. Die aus den anthropologischen Prämissen der Todesfurcht und der Eitelkeit abgeleiteten Gültigkeitskriterien der Selbsterhaltungsdienlichkeit und der Wechselseitigkeit können nicht gleichzeitig erfüllt werden.

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B. Die politische Logik des Körpers

Gerade wenn man den Körper als fundierende und begrenzende Größe des Arguments berücksichtigt, zeigt sich also eine fundamentale theoretische Schwäche des Arguments: Dieses mündet in eine biopolitische Aporie. Hobbes’ vermeintlicher Versuch, die Notwendigkeit zur Unterwerfung unter einen absoluten Souverän gleich einem geometrischen Beweis aus der Natur des Menschen abzuleiten,200 funktioniert offenbar nicht.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments 1. Das kontraktualistische Argument zwischen Spieltheorie und Rechtstheorie Der Vorteil der körperbasierten Deutung des kontraktualistischen Arguments vermag an dieser Stelle nicht ohne weiteres einzuleuchten. Für das Ernstnehmen der Körperorientierung scheint zwar der Textbefund deutlich zu sprechen. So wurde im bisherigen Verlauf der Arbeit dafür argumentiert, dass die im ersten Teil des Leviathan entwickelte Anthropologie des leidenschaftsbewegten Körperwesens Eingang in alle zentralen Bestandteile des kontraktualistischen Arguments findet und über daraus abgeleitete Gültigkeitsbedingungen für Verträge dessen Reichweite wesentlich bestimmt. Allerdings ergab sich durch das Ernstnehmen der Körperorientierung ein fundamentales Problem für das Argument: Das kontraktualistische Argument mündet in eine biopolitische Aporie. Das, was das Argument anscheinend leisten soll – die Rechtmäßigkeit eines Staates und die Existenz einer Gehorsamsverpflichtung dadurch zu belegen, dass man zeigt, dass der Staat als Ergebnis eines freiwilligen, zum Zwecke der Selbsterhaltung eingegangenen wechselseitigen Vertrages begriffen werden kann – kann bei genauerer Prüfung nicht geleistet werden. Unsere körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments kommt also zu dem Ergebnis, dass Hobbes ein Argument konzipiert hat, das gar nicht funktionieren kann. Obwohl die Interpretation unseres Erachtens durch die Textbelege angemessen gestützt werden kann, ergibt sich das Problem, dass man durch diese Art der Rekonstruktion des Argumentes zeigt, dass dieses erhebliche theoretische Schwächen hat. Der Sinn und Nutzen sowie die Angemessenheit einer solchen Rekonstruktion vermögen intuitiv nicht sofort einzuleuchten. In einer scharfzüngigen Polemik gegen die rechtstheoretische Deutung kritisiert beispielsweise Daniel Eggers ein solches Vorgehen vehement. Ein Argument so zu rekonstruieren, dass es ein 200

Vgl. Hampton 1986, 206, für die Auffassung, dass Hobbes es beabsichtigt habe, eine erfolgreiche, geometrische Ableitung absoluter Souveränität zu geben: „So there is no successful geometric deduction of absolute sovereignty in Leviathan, although Hobbes certainly tried mightily to construct one.“

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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theoretisch schwaches und daher unbrauchbares Argument werde, sei kein angemessenes hermeneutisches Vorgehen, sondern käme einem „interpretatorischen Offenbarungseid“ gleich.201 Eggers geht in seiner Polemik noch weiter und spricht in einer Fußnote einem solchen Vorgehen einen „fast schon grotesken Zug“ zu.202 Wollte man die Eggers’sche Polemik auf unsere eigene Arbeit anwenden, dann müsste man analog dazu behaupten, dass unsere These, nur eine körpertheoretische Lesart rekonstruiere das kontraktualistische Argument richtig, zusammen mit dem Ergebnis, dass eine körpertheoretische Rekonstruktion des Arguments dessen biopolitische Aporie offenbart, ebenfalls für einen grotesken Zug unserer Position spricht. Die Rekonstruktion des kontraktualistischen Arguments als eines Arguments mit bestimmten Problemen steht – so könnte man zur Verteidigung der eigenen Deutung ins Feld führen – zumindest in guter Tradition. Nicht nur die rechtstheoretische Deutung, auf die Eggers’ Polemik abzielt, sondern auch die spieltheoretische Deutung hat ihre spezifischen Probleme mit der Auslegung des kontraktualistischen Arguments: Die beiden großen Deutungsschulen des kontraktualistischen Arguments sind längst nicht so weit voneinander entfernt, wie es die Abgrenzungsbemühungen der rechtstheoretischen gegen die spieltheoretische Deutungsfamilie vermuten lassen. Beide verstehen das Argument als eines, was Hobbes entworfen hat, um die Untertanen von der Rationalität einer bedingungslosen Unterwerfung zu überzeugen. Beide verorten den Leviathan zumindest insoweit historisch, als sie behaupten, Hobbes habe sich mit dem Argument an seine Landsleute gewendet, um diese von der Rationalität des Gehorsams zu überzeugen. So schreibt beispielsweise Lloyd: „Hobbes is engaged in the practical project of showing his countrymen that they have a good and sufficient reason to submit to the authority of their existing government“ (Lloyd 2009, 212). Und auch Hüning führt aus: „Hobbes selbst hat seinem Leviathan die politische Funktion zugewiesen, die königstreuen Gentlemen davon zu überzeugen ‚to obey the established governemnt (EW VII, p. 336), d. h. den status quo der Republik anzuerkennen“ ­(Hüning

201 „Liest man das Hobbes’sche Naturzustandsargument daher als juridisches Argument, dann heißt dies nichts Anderes und nichts Geringeres, als dass man das zentrale Argument der Hobbes’schen Philosophie in eine Form bringt, in dem es ihm an jeglicher theoretischer Fundierung mangelt, eine Tatsache, die Herb und Hüning in einigen ihrer Veröffentlichungen auch ansatzweise eingestehen. Ein solches Eingeständnis kommt aber aus meiner Sicht einem interpretatorischen Offenbarungseid gleich. Der rechtstheoretischen Lesart zu folgen, heißt demnach, die Hobbes’sche Theorie in einer Weise zu rekonstruieren, die die Theorie ihres Wertes beraubt und sie zu einer unfertigen und in sich unhaltbaren Vorform der Kan­ tischen Rechtslehre degradiert, und dies widerspricht aufs Schärfste dem Anspruch, der sich prinzipiell mit der Rekonstruktion einer philosophischen Theorie verbinden sollte“ (Eggers 2008, 164). 202 „Das Eingeständnis, dass man das Hobbes’sche Naturzustandsargument zwar als rechtliches Argument verstehen sollte, dass diesem Argument aber, wenn man es in dieser Weise versteht, sein argumentativer Wert abhanden kommt, verleiht der Position Herbs und Hünings einen fast schon grotesken Zug“ (Eggers 2008, 164, n.88).

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1998, 31).203 Ganz übereinstimmend verortet auch Hampton, eine Vertreterin der spieltheoretischen Deutungsfamilie des kontraktualistischen Arguments, das Argument historisch und geht davon aus, dass dieses dem Zweck dienen solle, die Untertanen von der Notwendigkeit eines absoluten Souveräns zu überzeugen.204 Basierend auf den geteilten Prämissen, dass Hobbes ein gültiges Argument entwerfen wollte, um seine Landsleute von der Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber einer absoluten Souveränität zu überzeugen, kommen beide Deutungsfamilien zu dem Ergebnis, dass Hobbes dieses Argumentationsziel nicht erreicht habe. Während die rechtstheoretische Deutung205 Hobbes unter anderem vorwirft, seine eigene rechtsphilosophische Meisterleistung nicht zu verstehen und sich durch die unnötige Integration eines Rechts auf Selbsterhaltung in Widersprüche zu verwickeln, hält die spieltheoretische Deutung Hobbes vor, sein Argument leiste nicht 203

Die rechtstheoretische Deutung geht jedoch davon aus, dass De Cive im Gegensatz zum Leviathan kontextfreier zu verstehen wäre, weil De Cive sich an ein Gelehrtenpublikum gerichtet habe. De Cive beinhalte die „rechtsphilosophische Pioniertat“ von Hobbes, die im Leviathan zwar auch noch vorhanden sei, dort allerdings zurückgedrängt werde, weil Hobbes mit dem Leviathan stärker ins historische Geschehen habe eingreifen wollen: „Aber diese durch das Hervortreten des politischen Interesses motivierte Schwerpunktverlagerung der Argumentation im Leviathan [das „Anwachsen des religionspolitischen Teils“, E. O.] äußert sich vor allem darin, daß Hobbes sowohl die vernunftrechtliche Fundierung seiner Souveränitätslehre als auch den in diesem Rahmen geführten rein rationalen Beweis für die Notwendigkeit des Staates in dieser Schrift, die allgemein als sein staatsphilosophisches Hauptwerk gilt, nicht mit derselben Präzision entfaltet wie in De Cive“ (Hüning 1998, 31). Ein gewisses Problem an dieser Sichtweise ergibt sich daraus, dass Hüning zwar einerseits davon spricht, dass Hobbes wegen seines primär politischen Interesses im Leviathan das kontraktualistische Argument nicht mehr so präzise entfalten würde (siehe obiges Zitat), zugleich jedoch konstatiert, daß der Leviathan offenkundige argumentative Fortschritte enthalte, die insbesondere die präzisere Fassung des kontraktualistischen Arguments beträfen und rechtstheoretisch relevant wären: „Wenn hier die systematische Gliederung von De Cive zur Grundlage der Interpretation gemacht wird, so bedeutet dies nicht, daß die offenkundigen argumentativen Fortschritte, die der Leviathan gegenüber der vorhergehenden Schrift enthält und die besonders in der präziseren Fassung des kontraktualistischen Arguments zum Vorschein kommen, un­ berücksichtigt bleiben dürfen. Neben diesen auch rechtstheoretisch relevanten Veränderungen gehen die übrigen Modifikationen im Leviathan jedoch zumeist auf die von vielen Interpreten festgestellte stärkere ‚Politisierung‘ zurück, d. h. auf Hobbes’ verstärkte Anknüpfung an das politische Bewußtsein der Zeitgenossen und die damit verbundene Zurückdrängung der spezifisch rechtsphilosophischen Argumentation“ (Hüning 1998, 30). 204 „It would be difficult to find a time in history more tumultuous than the period of the English Revolution and Puritan Protectorate from approximately 1640 to 1660. In the midst of the tumult, many people offered prescriptions for curing the nation’s disorders and achieving its long-lasting health. Hobbes’s argument for the institution of an absolute sovereign in his masterpiece Leviathan is the most famous and celebrated of those prescriptions […]“ (Hampton 1986, 1). 205 Im Gegensatz zur rechtstheoretischen Deutung des kontraktualistischen Arguments prüft die reziprozitätstheoretische Deutung dieses Argument nicht in seiner Gänze. Vermutlich, weil der Fokus der reziprozitätstheoretischen Deutung von vornherein noch mehr auf der angeblich kantischen Moralphilosophie, die das kontraktualistische Argument motiviert, liegt, ist eine strenge argumentationslogische Diskussion des gesamten Argumentes in der Studie von

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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das, was es leisten solle: Eine absolute Verpflichtung bzw. die Notwendigkeit eines absoluten Souveräns ließen sich mit dem Argument nicht begründen. Hüning etwa beendet seine Studie zu Hobbes mit einem Kapitel über die Widersprüche der Hobbesschen Staatsrechtslehre, in der er aus seiner rechtstheoretischen Lesart des Arguments heraus zwei fundamentale Widersprüche des Argumentes aufdeckt: Das Recht auf Selbsterhaltung und die spezifische Form des Unterwerfungsvertrages würden zu unlösbaren Problemen des Arguments führen.206 Auch die spieltheoretische Deutungsfamilie hebt in ihrer Kritik an der theoretischen Schwäche des Arguments die rechtliche Unbeschränktheit des Souveräns und das natürliche Recht auf Selbsterhaltung hervor: Als Lösung für das Sicherheitsproblem des Naturzustandes könne ein Souverän, der tun kann, was er wolle, nicht angesehen werden, schreibt beispielsweise David P. Gauthier, der als Begründer der spieltheoretischen Deutung des kontraktualistischen Arguments gilt.207 Und Lloyd nicht zu finden. Immerhin räumt Lloyd allerdings an einer Stelle eine gewisse „konzeptuelle Inkohärenz“ (Lloyd 2009, 26) hinsichtlich des Reziprozitätstheorems ein und bezieht sich dabei auf die Tatsache, dass der Souverän dem Reziprozitätsgebot nicht ebenso unterliege wie die Untertanen. Sie bemerkt das aber eher am Rande und legt diesem keine vollständige Rekonstruktion und Prüfung des Arguments zu Grunde, sondern nimmt diese ihre eigene Aussage an anderer Stelle auch zurück, wenn sie davon spricht, dass auf dem Souverän ein großer Druck läge, sich gemäß des Reziprozitätsgrundsatzes zu verhalten (Lloyd 2009, 214). Gegen Ende ihres Buches verteidigt Lloyd ihren Verzicht auf eine detaillierte Rekonstruktion und Analyse des kontraktualistischen Argumentes schließlich damit, dass es sich um mehrere Argumente handele, die eng miteinander verbunden wären. Den Beleg für die These, dass es weder möglich noch notwendig ist, untereinander verbundene Argumente zu isolieren und zu analysieren bzw. für die umgekehrte These, dass sich Widerspruchsvorwürfe durch den Hinweis auf eine tatsächliche Vielzahl von Argumenten entkräften lassen, bleibt Lloyd an dieser Stelle jedoch schuldig: „This is part of what accounts for the difficulty of extracting ‚the‘ argument Hobbes gives for political obedience. ‚The‘ argument has appeared to many to be selfcontradictory or elliptical, but this sense is reduced once we see Hobbes as offering a number of different, though intertwined arguments converging on the same conclusion“ (Lloyd 2009, 333, n.65). 206 „Das erste ungelöste Problem der Hobbesschen Staatsrechtslehre betrifft die Unveräußer­ lichkeit des Selbsterhaltungs- und Selbstverteidigungsrechtes und die daraus resultierenden staatsrechtlichen Implikationen. […] Damit reproduziert sich jedoch in den existentiellen Grenzsituationen die Problem- und Konfliktlage des Naturzustandes, insofern sich jede der beiden Konfliktparteien auf ihr Recht berufen kann, ohne daß die andere zur Anerkennung des reklamierten Rechtsanspruchs verpflichtet wäre. […] Der Versuch, Freiheit und Herrschaft zu vereinigen, führt Hobbes zu Konsequenzen, die mit diesen Prämissen [v. a. des Menschen als vernunftrechtlichem Subjekt, E. O.] unverträglich sind. Es wird sich zeigen, daß es die spezifische Fassung ist, die Hobbes dem staatsbegründenden Vertrag als Unterwerfungsvertrag gibt, welche […] die Hobbessche Staatsrechtslehre als ganze mit einer Zweideutigkeit belastet, die es ihm unmöglich macht, den staatlichen Zwang in seiner möglichen Bestimmtheit auf seinen vernunftrechtlichen Begriff zu bringen“ (Hüning 1998, 240 f. und 252). 207 „We may draw a twofold conclusion from our discussion of this third problem. Given Hobbes’s account of man, and his view of how power may be concentrated, he is not really able to offer any alternative to anarchy – not even what his critics consider tyranny. When we examine the internal structure of the mighty Leviathan, we find that on Hobbes’s premises it will not work. The sovereignty necessary for security is not attainable“ (Gauthier 1969, 170).

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auch Jean Hampton, eine weitere Vertreterin der spieltheoretischen Deutung des kontraktualistischen Arguments, argumentiert, dass es sich bei dem Souverän – aufgrund des natürlichen Selbsterhaltungsrechts, das die Untertanen behalten  – gerade um keinen absoluten Entscheider handelt. Obwohl Hobbes „sicherlich eine geometrische Deduktion absoluter Souveränität beabsichtigt habe“, habe er sein Argumentationsziel ganz offensichtlich nicht erreicht.208 Die beiden großen rivalisierenden Deutungsschulen des kontraktualistischen Argumentes kommen in ihrer Rekonstruktion des Argumentes also ebenfalls zu dem Ergebnis, dass das Argument theoretische Schwächen aufweist. Dieser Umstand muss demnach nicht von vornherein gegen unseren Vorschlag einer körpertheoretischen Deutung sprechen – zumindest macht sie unsere Position nicht­ „grotesker“ als andere etablierte Deutungen. Darüber hinaus zeigt die Darstellung der Beurteilung des Arguments durch die zwei Deutungsschulen nochmals, dass diese unterschiedlichen Deutungsschulen dennoch fundamentale Prämissen teilen: Beide gehen davon aus, dass Hobbes ein gültiges Argument konzipieren wollte, und beide stimmen darin überein, dass das Argument die Untertanen von der Notwendigkeit einer absoluten Souve­ ränität überzeugen sollte. Beide Deutungsschulen kommen zu dem Ergebnis, dass der Autor dieses Argumentationsziel nicht erreicht. Beide Deutungsschulen gleichen sich auch darin, dass sie das kontraktualistische Argument als Kerninhalt des Leviathan betrachten und den Staat durch Aneignung als „ärgerlichen theoretischen Rückfall“ als bzw. wenig überzeugendes, korrekturbedürftiges Element interpretieren.209 All diese Prämissen werden auch von Eggers geteilt, der selbst den rechtstheoretischen Rekonstruktionsversuch einer scharfen Polemik unterzieht, ohne jedoch einen eigenen umfassenden Deutungsversuch vorzulegen.210

208 „So, we now see that Hobbes’s social contract argument is invalid: That argument cannot show that people, as he described them, can institute what Hobbes defines as an absolute sovereign. […] Hobbesian people empower  a ruler by obeying his punishment commands, and they do so whenever they decide such obedience is conducive to their best interests. […] So there is no successful geometric deduction of absolute sovereignty in Leviathan, although Hobbes certainly tried mightily to construct one. Although most twentieth-century critics have commonly assumed that Hobbes’s political conclusions can be dismissed because they rest on false premises, they have not appreciated the more important fact, that the conclusions themselves do not follow from those premises“ (Hampton 1986, 206). 209 Vgl. dazu unsere Darstellung im Forschungsüberblick im ersten Teil dieser Arbeit. 210 Eggers arbeitet in seiner beachtlich materialreichen Dissertation vor allem Unterschiede verschiedener Fassungen des kontraktualistischen Arguments in den verschiedenen politiktheoretischen Schriften von Hobbes heraus. Seine eigene Position bleibt jedoch vage, z. B. wenn er konstatiert, dass der Naturzustand von Hobbes sowohl eine anthropologische, als auch eine juridische Analyse enthält, jedoch keine Vermutung entwickelt, warum dies so ist, oder in welcher Relation diese stehen: „Im Hinblick auf die vieldiskutierte Frage nach dem Status des Hobbes’schen Naturzustandes lässt sich festhalten, dass es sich bei Hobbes’ Diskussion des natürlichen Zustandes in allen vier Werken sowohl um eine anthropologische als auch um eine juridische Analyse handelt“ (Eggers 2008, 57).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Eggers Unbehagen an der rechtstheoretischen Deutung kann zwar insofern nachvollzogen werden, als das in der Hermeneutik durchaus zu Recht vielbemühte principle of charity vom Interpreten verlangt, mit Textschwierigkeiten zunächst so umzugehen, dass nach einer Erklärung der Schwierigkeiten gesucht wird, die in etwas anderem besteht, als in der gedankliche Schwäche des zu interpretierenden Autors. Es käme allerdings auf den Versuch an, zu überprüfen, ob die Prä­ missen, auf denen auch Eggers’ Kritik beruht und die er sowohl mit der von ihm angegriffenen rechtstheoretischen als auch mit der spieltheoretischen Deutung des Arguments teilt, selbst Plausibilität beanspruchen können: Ist das kontraktualistische Argument wirklich der Kerninhalt des Leviathan? Ging es Hobbes überhaupt darum, ein logisch gültiges Argument zu entwickeln? Und sind die Adressaten des Arguments tatsächlich die Landsleute seiner Zeit, die er von der Rationalität des Gehorsams überzeugen wollte? Um die Plausibilität derartiger Prämissen, die die Intention des Autors bei der Abfassung einer Schrift zum Gegenstand haben, sachgerecht diskutieren zu können, müsste man die Schrift selbst auf derartige Hinweise überprüfen. Eine explizite Auseinandersetzung mit der Intention211 von Hobbes und seinem Selbstverständnis als Leser und Schreiber212 erfolgt in den – angesichts der in der Hobbes-

211

Eine Ausnahme stellen die Studien von Hoekstra dar, der in einer selbstreflexiven Weise, die sonst in der Hobbes-Forschung eher die Ausnahme darstellt, die eigenen Interpretationsmaximen und hermeneutischen Prämissen offenlegt und dabei insbesondere auf die Notwendigkeit hinweist, die Intention des Autors und den Status seiner Behauptungen und Argumente zu prüfen. Vgl. unter anderem Hoekstra 2013, 110: „The point may be clearer if the principle of interpretation implicit here is brought to the surface: if an author claims x, and also argues that it is a moral, prudential, and divine imperative for everyone to claim x regardless of whether or not it is true, then the status of the author’s initial claim must be soberly reconsidered. This is underlined if there is no reason to doubt the importance of the imperative for the author or his sincerity in propounding it, while there are reasons to doubt the arguments underlying the claim of x. Somewhat more generally: we should question the status or function of the claim that x if its author holds that everyone should claim x regardless of whether or not it is true.“ Vgl. ebenfalls Hoekstra 2006, 25: „The whole is intended as a case study of the need for an interpreter to understand how the interpreted philosopher conceives of the nature and aim of his undertaking.“ 212 Martel untersucht in seiner Studie zwar explizit Hobbes’ Selbstverständnis als Leser und Schreiber, vertritt jedoch die These, dass Hobbes sich selbst als Autor habe negieren wollen und dem Leser anempfohlen habe, seine textuelle Autorität zu missachten. Folgerichtig müsste man als Leser nicht danach fragen, was Hobbes gemeint habe, sondern danach, wie man als Leser die interpretative Macht zurückgewinnen könnte: „This notion of reading and interpretation, as we will see, offers an alternative to the political models that L ­ eviathan is usually read as advocating. Rather than have the author/sovereign tell us what the book means and we the readers/subjects passively accept that meaning, I will argue, Hobbes invites us to subvert his own textual authority and, by extension, the authority of the national sovereign. When we learn not to take the author’s word for the meaning of a text, but instead to engage with the text in all its complexity, we readers take back the interpretive power that Hobbes insists belongs to us all along“ (Martel 2007, 2). Indem Martel die nominalistischen und skeptizistischen Prämissen aus Hobbes’ Naturphilosophie zur Grundlage seiner

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Forschung zahlreich erhobenen Widerspruchsvorwürfe – spärlich stattfindenden Hermeneutik-Diskussionen aber bislang noch kaum. Vielmehr gibt es Tendenzen, sich vom Wortlaut der Intention des Autors wegzubewegen und sich stattdessen auf Gemeinplätze wie die allgemeine Fehleranfälligkeit von Autoren oder auf vage Vermutungen über die politisch-zeitgeschichtliche Intention einzelner Theorieelemente zu stützen, über die der Autor aber so nichts gesagt hat. Obgleich in den letzten Jahren gerade auch im Bereich der politischen Theorie die Schwierigkeiten, vor die sich der Interpret der Hobbes’schen Texte oftmals gestellt sieht, zunehmend explizit zum Thema gemacht wurden,213 waren die Ver­suche, Widersprüche, Paradoxa oder ähnliche theoretische Schwächen aufzuklären, oft eher halbherziger Natur. Entweder ging man davon aus, dass es nun einmal oft vorkäme, dass Philosophen sich widersprächen und deshalb Konsistenz nicht notwendigerweise das höchste Kriterium einer guten Interpretation sei,214 oder man versuchte, die tex­ tuellen Probleme durch den Hinweis auf deren Entstehungs­bedingungen zu erklä„Interpretation“ macht, gerinnt seine „Interpretation“ aber zu einer ausschließlichen politischen Stellungnahme. Wenn es prinzipiell nicht möglich und nicht wünschbar ist, die Position eines Autors zu verstehen, sondern dessen Autorschaft als ungerechter Vorsprung in der Deutungsmacht interpretiert wird, dann bleibt tatsächlich als einzige Konsequenz, die Deutungsmacht an sich zu reißen. Martel macht denn auch am Ende seines Kapitels unmissverständlich deutlich, dass er nicht den Anspruch erhebt, seine „Interpretation“ sei sachlich zutreffender als andere, sondern den Wert seiner „Interpretation“ in dessen möglicher politischer Wirkung sieht – nämlich darin dass sie die Macht des Liberalismus beenden oder schwächen könnte: „The value of reading Hobbes in this way is multifaceted. […] This reading of Hobbes may help to expose the false privileging of liberalism as the unique political system that stands in opposition to all others. […] To reiterate an earlier claim, I am not saying that my reading of Leviathan is right when all others are wrong (although, rhetorically speaking, I have tried to be as persuasive as I can), but rather that this reading, enabled by­ Hobbes’s own instructions, is (also) possible“ (Martel 2007, 246 f.). Auch Martels von Foucault inspirierter „Interpretationsansatz“ entspricht damit – obwohl er gar nicht mehr beabsichtigt, die Bedeutung des Textes herauszufinden – der Tendenz, sich vom Wortlaut des Textes wegzubewegen. 213 Vgl. die Auffassung von Springborg 2009, 676: „Attention has turned from Hobbes the systematic thinker to his inconsistencies, as the essays in the Hobbes symposium published in the recent volume of Political Theory suggest.“ 214 Während die Konsistenz der Interpretation von Martinich durchaus als hermeneutisches Prinzip verteidigt wird, hält es Martinich nicht für notwendig, dem zu interpretierenden Autor den Versuch einer konsistenten Argumentation zu unterstellen. Martinich 2001, 317 folgt hierin teilweise Quentin Skinner, der die Vermutung, ein zu interpretierender Autor habe selbst Konsistenz in seinen Meinungen angestrebt, nicht für ein angemessenes Interpretationsprinzip erachtet: „Second, it is not necessary for the beliefs attributed to the author of the text to be self-consistent (Skinner, 1969 [sic!], pp. 41–2). Many philosophers have contradicted them­ selves. […] It happened to Hobbes perhaps more often than usual among first class philosophers. He believes the false mathematical proposition that a construction could be given that would square the circle. […] Numerous additional contradictions or absurdities in ­Hobbes’s view could be pointed out.“ In die gleiche Richtung weist auch der im einleitenden Forschungsüberblick bereits zitierte Erklärungsversuch von Spragens (1973, 205), der sich Probleme damit erklärt, dass schließlich fast jeder Autor von seiner Ontologie abweiche, wenn er damit begänne, politische Schlussfolgerungen zu formulieren.

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ren.215 Dem Problem, dass man bei Hobbes auf mehr Widersprüche oder theoretische Probleme stoße als bei einem „durchschnittlichen erstklassigen Philosophen“, wollte man schließlich unter anderem durch Vorschläge einer psychologistischen Hermeneutik216 und einer in einem spezifischen Sinn politisch-kontextualistischen Hermeneutik217 zu begegnen. Aus der Vermutung, Hobbes habe aus Stolz, aus Methodenhörigkeit oder aus einem zeitspezifischen historischen Kontext heraus an bestimmten – entweder an sich falschen, unnötigen oder mit anderen Behauptungen unvereinbaren – Theorieelementen festgehalten, wird dann zum Teil ganz offen die hermeneutische Konsequenz gezogen, dass man Hobbes’ eigene Hinweise zum Verständnis seiner Texte getrost vernachlässigen dürfe.218 215

Baumgold vermutet im besonderen Kompositionsprozess, dem Hobbes seine Werke unterworfen habe, einen sinnvollen Erklärungsgrund für bestimmte textuelle Schwierigkeiten. Vgl. Baumgold 2008, 827: „I argue that Hobbes’s composition process undercut his intention to produce a deductive, logical theory of politics and opened the door to inconsistency and muddle in his arguments.“ Dem wurde vehement widersprochen von Springborg 2009, die ihrerseits die These der primär politischen Motivation der politischen Theorie von Hobbes vertrat. In Ihrer Erwiderung auf den Widerspruch weiß sich Baumgold immerhin einig mit Springborg dahingehend, dass die Suche nach Gründen für Paradoxien sinnvoller ist als die Tendenz, den Autor sofort zu korrigieren. Ihre These fasst sie knapp folgendermaßen zusammen: „Hence, while I share Springborg’s skepticism about interpretations that ‚over-correct‘ Hobbes ‚in order to make him the systematic thinker he is reputed to be‘ (p. 676), I continue to think that the sensible alternative is to focus on his process of composition“ (Baumgold 2009, 693). 216 So versucht beispielsweise Martinich, der durchaus einräumt, dass es ganz verschiedene Gründe geben könnte, die zu Widersprüchlichkeiten führen könnten, bestimmte Wider­sprüche in Hobbes’ mathematischen und religiösen Ausführungen mit dem Stolz, der ihn dazu bewegt habe, eine eigene Theorie zu entwickeln, zu erklären: „It is simpler to explain Hobbes’s stubborn defense of both his nonstandard mathematical and religious views by the general principle that, because he was proud, he would stubbornly defend a theory that he proclaimed was original with him, even if it provided evidence to his opponents that he was obtuse or insincere“ (Martinich 2001, 318). 217 Springborg 2008, 684 äußert die unten im Forschungsüberblick der Einleitung ab­ gedruckte These, dass Hobbes Elemente, die er als Klient des Hofes für politisch nützlich halte, mit seiner Naturphilosophie, die er für wahr halte, verbinde und sich dadurch „systemische Paradoxa“ in seiner Philosophie ergäben. Springborg plädiert also im Falle von Hobbes für eine politisch-zeitgeschichtliche Hermeneutik, die theoretische Schwierigkeiten durch konkrete parteipolitische Loyalitäten aufzulösen versucht. Eine in einem ähnlichen Sinn politisch-kontextualistische Hermeneutik fordert auch Skinner, der Hobbes eher als einen Ideenkämpfer denn als einen Philosophen betrachten möchte. Die hermeneutischen Prämissen, die Skinner seiner Hobbes-Lektüre zu Grunde legt, formuliert dieser im Vorwort seines Buchs Hobbes and Republican Liberty: „As will already be evident, I approach Hobbes’s political theory not simply as a general system of ideas but also as a polemical intervention in the ideological conflicts of his time. […] My governing assumption is that even the most abstract works of political theory are never above the battle; they are always part of the battle itself. With this in mind, I try to bring down Hobbes from the philosophical heights, to spell out his allusions, to identify his allies and adversaries, to indicate where he stands on the spectrum of political debate“ (Skinner 2008, xvi). 218 Dass ein Vorgehen, welches den Wortlaut des Textes und die dort festgehaltene Intention des Autors berücksichtigt, beim Leviathan angemessen ist, bestreitet  – sich dabei gegen ­Kersting wendend – ausdrücklich Stiening, der rät, sich stattdessen auf den „objektiven

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Dergleichen Versuche sind hermeneutisch  – darin würde Eggers uns sicherlich zustimmen – wenig befriedigend, insofern sie dem Autor keine philosophischen Gründe dafür unterstellen, dass es zu einem Text mit bestimmten Charakteristika kommt. Natürlich ist es unbestreitbar möglich, dass Philosophen aufgrund von Gedankenlosigkeit oder aufgrund politischer Zielsetzung widersprüchliche Thesen formulieren oder aus intellektueller Eitelkeit an bestimmten, als falsch erkannten Theorieelementen festhalten. Dennoch sollte es Aufgabe des Interpreten sein, zunächst davon auszugehen, dass der zu interpretierende Autor seine Gründe dafür hatte, ein Argument so zu konzipieren, wie er es tat und erst dann, wenn er sorgfältig geprüft hat, dass es keine philosophisch befriedigende Möglichkeit gibt, textuelle Schwierigkeiten zu erklären, auf die nicht primär philosophischen Erklärungsversuche zurückgreifen.219 Des Weiteren scheint der einzige Weg, Vermutungen über eine etwaige politische bzw. zeitbedingte Intention des Autors argumentativ plausibel erhärten oder zurückweisen zu können, über eine Berücksichtigung der dem Wortlaut folgenden, expliziten Intention des Autors zu führen. Basierend auf der Hypothese, dass Hobbes kein gedankenschwacher Autor war, der ein fehlerhaftes Argument entwickelte, von dessen theoretischer Leistungsfähigkeit er dennoch überzeugt war, möchte ich im Folgenden untersuchen, ob es einen Weg gibt, die biopolitische Aporie, die sich aus der von mir vorgeschlagenen körpertheoretischen Deutung des kontraktualistischen Argumentes ergibt, auf eine andere Weise zu erklären als durch Hobbes’ Gedankenlosigkeit, Eitelkeit oder politische Motivation. Ich versuche daher, den „einfachen Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik“ ernst zu nehmen, und gehe von der Hypothese aus, dass die Hinweise, die ein Autor selbst zum Verständnis seiner Schrift gibt, einen guten Schlüssel zum VerGehalt“ des Textes zu konzentrieren und die davon verschiedene, nur subjektive An- und Absicht von Hobbes zu ignorieren: „Zur Erörterung dieser Frage wird es sich als ratsam erweisen, zwischen der subjektiven Ab- bzw. Ansicht des Thomas Hobbes über das Verhältnis jener Systemteile und den Gegenständen der ihnen entsprechenden Wissenschaften einerseits sowie dem in seinen Text ausgeführten objektiven Gehalt desselben andererseits zu unterscheiden. Die expliziten Aussagen Hobbes’ zu diesem Sachverhalt verunmöglichen nämlich jenen einfachen Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik nach dem ‚gilt, daß das Selbstverständnis des Autors den wichtigsten Zugang zu seinem Werk eröffnet‘“ (Stiening 2005, 56). 219 Ein solches Vorgehen verlangt Hoekstra 2004, 71 f. und n.  187, der zunächst deutlich macht, dass die von einem historischen Ansatz bemühte Entwicklungshypothese keine angemessene hermeneutische Prämisse für die Interpretation eines philosophischen Textes darstellt und anschließend das Vorgehen einer philosophischen Interpretation kritisiert, abweichende Thesen eines Textes auf Basis der hermeneutischen Prämisse, dass nur die stärksten Thesen die eigentliche Position des Autors anzeigen, auszulassen. Das hermeneutische Prinzip der „charity of interpretation“ verlange vom Interpreten, der sich vor das Problem widersprüchlicher Thesen gestellt sieht, vielmehr, zu versuchen, das Problem auf eine andere Weise zu lösen. Die Schlussfolgerung, dass die schwächere These oder Position vernachlässigt werden dürfe, könne allenfalls die letzte Möglichkeit einer Interpretation darstellen, die zuvor versucht hat, das Problem auf andere Art zu lösen.

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ständnis der Schrift darstellen.220 Im Folgenden werde ich deshalb versuchen, den Hinweisen, die Hobbes selbst zum Verständnis des Leviathan gibt, nachzugehen und zu prüfen, ob sich auf diese Art eine konsistente Erklärungsmöglichkeit des Problems ergibt, dass Hobbes ein Argument verfasst hat, welches in eine bio­ politische Aporie mündet. 2. Intentionalistische Hobbes-Hermeneutik: Ein Erklärungsversuch der biopolitischen Aporie a) Der Leviathan als Ratgeberschrift für den Souverän? aa) Hobbes über den Adressaten und den Inhalt seiner Schrift Erste Hinweise zum Verständnis seiner Schrift gibt Hobbes selbst bereits in der Einleitung des Leviathan. Nachdem er dort in der ersten Hälfte die auf der Lehre vom Menschen als einem belebten Körper basierende Metapher vom Staat als einem künstlichen Körper entfaltet hat und die Gliederung seines Werkes vorstellt, wendet er sich in der gesamten zweiten Hälfte der Einleitung nur dem ersten Gliederungspunkt – dem Menschen – zu, der Werkstoff und Konstrukteur des größeren künstlichen Menschen ist: „Um die Natur dieses künstlichen Menschen zu beschreiben, möchte ich untersuchen: Erstens: Werkstoff und Konstrukteur; beides ist der Mensch. Zweitens, wie und durch welche Verträge er entsteht, was die Rechte und die gerechte Macht oder Autorität eines Souveräns sind, und was ihn erhält und auflöst. Drittens, was ein christlicher Staat und letztlich, was das Reich der Finsternis ist. Was den ersten Punkt betrifft, so gibt es ein neuerdings häufig mißbrauchtes Sprichwort, nämlich, Weisheit erwerbe man nicht durch Lesen von Büchern sondern von Menschen“ (LD Einleitung, 6).

Der gesamte zweite Teil der Einleitung handelt also von Hobbes’ Lehre vom Menschen. Hobbes entfaltet dort in Auseinandersetzung mit der möglichen Bedeutung dieses „Sprichwortes“ und eines weiteren, ähnlich lautenden Sprichwortes einen hermeneutischen Hinweis, nämlich einen Hinweis darauf, wie diese seine Lehre vom Menschen richtig zu verstehen sei. Der Leser wird von Hobbes auf­ gefordert, in sich selbst zu lesen, dort Leidenschaften zu finden, und dadurch andere Menschen zu verstehen.221 220

Für eine solche intentionalistische Hermeneutik werben bspw. Kersting und Hoekstra: Vgl. Kersting 2002, 67: „Auch im Falle der Hobbesschen Philosophie gilt, daß das Selbstverständnis des Autors den wichtigsten Zugang zu seinem Werk eröffnet.“ Vgl. auch ­Hoekstra 2006, 28: „That Hobbes sees his own philosophical project in these terms must affect our interpretation of it.“ 221 „Aber es gibt noch ein anderes, nicht erst neuerdings aufgekommenes Sprichwort, aus dem sie wirklich lernen könnten, in einander zu lesen, wenn sie sich die Mühe machen wollten, nämlich ‚nosce te ipsum‘, lies in dir selbst‘. […] Es sollte uns vielmehr lehren, daß jedermann, der in sich selbst blickt und darüber nachdenkt, aus seinem Denken, Meinen,

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B. Die politische Logik des Körpers

Zugleich macht Hobbes jedoch deutlich, dass diese „Methode“ der Introspektion zum Verständnis der Menschen bestimmte Grenzen aufweise: Erstens unterscheiden sich die Menschen in denjenigen Dingen, die von ihnen angestrebt werden. Zweitens sei es nicht leicht, in anderen Menschen zu lesen, weil die jeweiligen angestrebten Ziele bzw. allgemeiner die Absichten der Handlungen durch Verstellung der Menschen – insbesondere durch Heucheln, Lügen oder Nachahmung – verborgen sein könnten: „Ich sage die Ähnlichkeit von Leidenschaften, welche in allen Menschen dieselben sind – Verlangen, Furcht, Hoffnung, usw. – nicht die Ähnlichkeit der Objekte der Leidenschaften, also die verlangten, gefürchteten, erhofften, usw., Dinge. Denn diese weichen durch die individuelle Veranlagung und verschiedene Erziehung soweit voneinander ab und können so leicht unserer Erkenntnis entzogen werden, daß die Inschriften des menschlichen Herzens, befleckt und durcheinander wie sie durch Heucheln, Lügen, Nachahmen und Irrlehren sind, nur von demjenigen gelesen werden können, der die Herzen erforscht“ (LD Einleitung, 6, Hervorhebungen E. O.).

Hobbes räumt anschließend ein, dass eine verfeinerte Methode, die nicht nur in einem Vergleich mit den eigenen Absichten, sondern auch in einer Unterscheidung verschiedener möglicher Umstände, d. h. einer möglichst genauen Rekonstruktion des Handlungskontextes bestehen würde, zwar möglicherweise bessere Ergebnisse zeitigen könnte. Allerdings sei auch diese Methode der Menschen­lektüre höchst fehleranfällig, weil sie über einen Vergleich mit den eigenen Absichten erfolge und deshalb, je nachdem, welcher Art diese Absichten wären – durch entweder zu viel Vertrauen oder zu viel Misstrauen in die Absichten anderer Menschen –, irregeleitet werden könnte.222 Selbst wenn diese verfeinerte Methode der Menschenlektüre, d. h. der Ermittlung der Absichten eines Menschen durch einen Vergleich mit den eigenen Absichten und durch Rekonstruktion des Handlungskontextes immerhin bei bekannten Menschen halbwegs funktionieren könnte, sei diese Methode dennoch nutzlos bei einem Menschen, der eine ganze Nation zu regieren habe: „Aber mag jemand in einem anderen auf Grund seiner Handlungen noch so perfekt lesen können, so nützt ihm das nur bei seinen Bekannten, und das sind nur wenige. Wer eine ganze Nation zu regieren hat, muß in sich selbst lesen – nicht in diesen oder jenen einzelnen Menschen, sondern in der menschlichen Gattung“ (LD Einleitung, 7, Hervorhebungen E. O.). Schließen, Hoffen, Fürchten, usw., und deren Gründen lesen und erkennen wird, welches die Gedanken und Leidenschaften aller anderen Menschen bei den gleichen Anlässen sind; dies wegen der Ähnlichkeit von Gedanken und Leidenschaften mit denen eines anderen“ (LD Einleitung, 6). 222 „Und obwohl wir an den Handlungen der Menschen bisweilen deren Absicht entdecken, so heißt das ohne Schlüssel entziffern, wenn wir ihre Absicht nicht mit unserer eigenen vergleichen und alle Umstände unterscheiden, durch die der Fall in einem anderen Licht erscheinen könnte, und wird meistens durch zu viel Vertrauen oder Mißtrauen in die Irre gehen, je nachdem der Leser selbst ein guter oder schlechter Mensch ist“ (LD Einleitung, 6).

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Hobbes betont zugleich, dass diese Art der Menschenlektüre – das „Lesen in der menschlichen Gattung“ schwieriger als das Erlernen jeder Sprache oder Wissenschaft wäre. Er ermutigt den Leser jedoch, dennoch mit der Lektüre des ­Buches zu beginnen, indem er ihm zu verstehen gibt, dass er diese schwierige Aufgabe nicht selbst durchführen müsse, sondern sich dabei auf die Lesefrüchte von H ­ obbes stützen könne: „Obwohl das schwierig ist, schwieriger als das Erlernen jeder Sprache oder Wissenschaft, so wird doch die Mühe, die einem anderen bleibt, wenn ich meine eigenen Lesefrüchte geordnet und klar dargelegt habe, nur in der Überlegung bestehen, ob er in sich nicht auch das gleiche findet. Denn diese Art von Lehre lässt keine andere Beweisführung zu“ (LD Einleitung, 7).

Welchen hermeneutischen Hinweis kann man der Einleitung also entnehmen?223 Sieht man sich an, was Hobbes tut, so widmet er den gesamten zweiten Teil der Einleitung dem Versuch, dem Leser zu erklären, wie seine Lehre vom Menschen verstanden werden kann. Er spricht – ganz im Gegensatz zu der Maschinenmetaphorik des ersten Teils der Einleitung – von menschlichen Leidenschaften und Handlungsabsichten. Er empfiehlt, um Menschen zu verstehen, eine Methode der Introspektion, weist aber gleichzeitig auf deren Fehleranfälligkeit hin. Er macht deutlich, dass sich Menschen in den Dingen, die sie anstreben, unterscheiden. Er betont, dass das Wissen vom Menschen zu denjenigen Kenntnissen gehört, die schwieriger zu erwerben seien, als jede Sprache oder Wissenschaft. Zwar sei der Weg denkbar, die Handlungen der Menschen zu beobachten. Auch dieser Weg sei jedoch sehr fehleranfällig, weil der Rückschluss von den Handlungen auf die Absichten erstens eine Kenntnis möglicher Absichten voraussetze, diese Kenntnis aber zweitens deshalb schwierig zu erlangen sei, weil Menschen sich in den ­Zielen ihrer Handlungen unterscheiden würden und weil Menschen in der Lage wären, Absichten vorzutäuschen, die sie gar nicht haben. Der mögliche Weg, auf dem man selbst Kenntnis über den Menschen erwerben könnte, sei also unsicher und fehleranfällig. 223

Die Einleitung des Leviathan, insbesondere aber die darin enthaltenen Bemerkungen zur Introspektion, war Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen zu Hobbes’ Wissenschaftsverständnis. Für eine Darstellung, die selbst davon ausgeht, dass dieser Rekurs auf Erfahrungswissen innerhalb der Hobbes’schen Methodologie vollkommen konsequent ist, vgl. Ludwig 2008, 59: „Stellt man den Leviathan in den Rahmen von Hobbes’ allgemeiner Wissenschaftskonzeption, dann kann man leicht sehen, daß es bei dem Rekurs auf eine ‚qualifizierte Introspektion‘ (Missner 1977) nicht etwa darum geht, etwas unspezifisch von der Erfahrung zu borgen und damit Staatsphilosophie, Ethik und Naturphilosophie in irgendeiner Weise voneinander zu lösen (so etwa die berühmte These von Strauss 1965, 16), sondern daß es sich dabei vielmehr um einen präzise bestimm- und lokalisierbaren Schritt im Rahmen von Hobbes’ philosophischer Methodologie handelt.“ Ludwig geht auf das Problem, dass dieses Wissen zu den Wissensformen gehört, die am schwierigsten zu erwerben sind, aber dennoch einfach mitgeteilt werden können und auf das weitere Problem, dass Menschen sich in den von ihnen angestrebten Objekten unterscheiden, Hobbes dem Leser aber dennoch die Introspektion empfiehlt, jedoch nicht ein. Zu einer Möglichkeit, diese Probleme aufzulösen vgl. das ­Kapitel B. III. 2. a) dd) sowie B. III. 2. d) dieser Arbeit.

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B. Die politische Logik des Körpers

Kurz vor Ende der Einleitung erwähnt Hobbes dann jedoch einen möglichen Adressaten seiner Lehre  – denjenigen, der eine ganze Nation zu regieren habe. Diesem Souverän suggeriert Hobbes, dass die Kenntnis des Menschen trotz der zuvor geschilderten Schwierigkeiten sehr einfach zu erlangen sei: Dieser solle die von Hobbes geordneten Lesefrüchte mit seinem eigenen Innenleben vergleichen und hätte so die Chance, sehr einfach zu den gleichen Ergebnissen zu gelangen. Es scheint also auf den ersten Blick alles klar zu sein: Hobbes wendet sich mit seinem Leviathan an den Souverän und hat die Absicht, diesem ein sehr schwer zu erlangendes, aber einfach mitzuteilendes Wissen über die Menschen zu verraten.224 Nehmen wir diesen hermeneutischen Hinweis, in dem Hobbes einen Adressaten und gewisse Inhalte seiner Lehre nennt, ernst, so liegt es nahe, den Leviathan als ein Ratgeberbuch für den Souverän zu betrachten, in dem Hobbes diesem etwas über die Leidenschaften von Menschen mitteilt. Jemand, „der eine ganze Nation zu regieren hat“, wird in der Einleitung explizit als jemand genannt, an den sich Hobbes mit seinen „Lesefrüchten“ wendet. Diese Lesefrüchte betreffen vor allem den Werkstoff und Konstrukteur des Staates, also den Menschen und dessen verschiedene Handlungsziele. Die Möglichkeit und eventuell sogar die Notwendigkeit, Souveräne zu beraten, spricht Hobbes im ersten Teil  der Einleitung, in der er die Metapher vom Staat als künstlichem Menschen entfaltet, auch explizit an. Hobbes spricht dort, als er seine Metapher vom Staat als künstlichem, politischem Körper entfaltet, von Ratgebern des Souveräns, „die ihm alle Dinge vortragen, die er unbedingt wissen muss“: „Denn durch Kunst wird jener große Leviathan geschaffen, genannt Gemeinwesen oder Staat, auf lateinisch civitas, der nichts anderes ist als ein künstlicher Mensch, wenn auch von größerer Gestalt und Stärke als der natürliche, zu dessen Schutz und Verteidigung er ­ersonnen wurde. Die Souveränität stellt darin eine künstliche Seele dar, die dem ganzen Körper Leben und Bewegung gibt, die Beamten und anderen Bediensteten der Jurisdiktion und Exekutive künstliche Gelenke, Belohnung und Strafe, die mit dem Sitz der Souveränität verknüpft sind und durch die jedes Gelenk und Glied zur Verrichtung seines Dienstes veranlaßt wird, sind die Nerven, die in dem natürlichen Körper die gleiche Aufgabe erfüllen. Wohlstand und Reichtum aller einzelnen Glieder stellen die Stärke dar, salus ­populi (die Sicherheit des Volkes) seine Aufgabe; die Ratgeber, die ihm alle Dinge vortragen müssen, die er unbedingt wissen muß, sind das Gedächtnis, Billigkeit und Gesetze künstliche Vernunft und künstlicher Wille; Eintracht ist Gesundheit, Aufruhr, Krankheit und Bürgerkrieg Tod.

224 Ein kleines Unbehagen an dieser Deutung bleibt insofern bestehen, als Hobbes – allerdings durch ein Sprichwort – davor warnt, dass es möglich sei, Weisheit durch das Lesen von Büchern zu erwerben, und mitteilt, dass Menschen durch Heuchelei und Lügen Handlungsabsichten vortäuschen können, die sie gar nicht besitzen. Dieses Unbehagen würde es erfordern, die Frage zu stellen, welche Absicht Hobbes mit seiner Beratung des Souveräns verfolgt, ob er diesem seine Absicht freimütig und ungeheuchelt mitteilt, und welchen kognitiven Status das Wissen, das der Souverän den Lesefrüchten entnehmen kann, besitzt. Lassen wir dieses Unbehagen jedoch vorerst beiseite und sehen wir, wie weit uns die Hypothese, Hobbes’ habe ein Ratgeberbuch für den Souverän verfassen wollen, in dem er ihm ein schwierig zu erwerbendes Wissen über den Menschen mitteilen möchte, führt.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Endlich aber gleichen die Verträge und Übereinkommen, durch welche die Teile des poli­ tischen Körpers zuerst geschaffen, zusammengesetzt und vereint wurden, jenem ‚Fiat‘ oder ‚Laßt uns Menschen machen‘, das Gott bei der Schöpfung aussprach“ (LD Einleitung, 5).

Gehen wir also davon aus, dass Hobbes in seiner Einleitung bewusst und vollständig Auskunft über seine Intention gibt, dann wendet er sich mit dem Leviathan an potentielle Souveräne, um diesen ein Wissen über Menschen – besonders über deren Leidenschaften und Handlungsabsichten – mitzuteilen. Wenn das stimmt – und wir werden diese hermeneutische Prämisse im Folgenden unserer Analyse zu Grunde legen – und Hobbes den Leviathan also als eine Ratgeberschrift für potentielle Souveräne verfasst hat,225 liegt es nahe, im Kapitel „Vom Rat“ nachzusehen, was Hobbes dort über Adressaten und Verfasser von Ratschlägen sowie über verschiedene Typen von Ratschlägen schreibt. bb) Die Kunst der öffentlichen Rede als erste Lektion für den Souverän Das Kapitel Vom Rat ist ein hermeneutisches Kapitel par excellence. Hobbes diskutiert in diesem Kapitel den Unterschied zwischen mündlicher und schriftlicher Rede. Diese Diskussion könnte aufschlussreich auch für das Verständnis seiner eigenen Lehre sein, weil sie zahlreiche Hinweise zur Anfertigung und zum Verständnis mündlicher und schriftlicher Reden enthält. Er preist sich dort potentiellen Souveränen als geeigneten, jedoch kurioserweise geheimen Berater an und gibt zugleich Einblicke in die Kunst der sprachlichen Formulierungen, die notwendig sei, um eine Menge zum gewünschten Handeln anzutreiben und die man unschwer als Charakterisierung der eigenen Schrift erkennen kann. Hobbes beginnt das Kapitel mit einem Hinweis auf die schwankende Bedeutung von Wörtern, die dazu führen könnte, Dinge zu verwechseln. Insbesondere die Wörter „Rat“ und „Befehl“ würden – vor allem weil beide eine Befehlsform darstellen würden – oftmals verwechselt.226 Am Beispiel des Imperativs „tu dies!“ erläutert Hobbes, dass – zumindest in der mündlichen Rede – vielen Menschen bewusst wäre, dass diese Wörter unterschiedliche Bedeutung haben könnten, je nachdem, in welchem Kontext sie ausgesprochen werden würden.

225 Während zwar in der Hobbes-Forschung vereinzelt beobachtet wurde, dass Teile des­ Leviathan als Ratschläge an den Souverän betrachtet werden könnten, wurde Hobbes’ ex­ plizit mitgeteilter Intention, potentielle Souveräne beraten zu wollen, in der Forschung, soweit ich sehe, bisher nicht umfassend nachgegangen bzw. nicht der Versuch unternommen, zu prüfen, inwieweit sich der Leviathan als ganzer als Ratgeberschrift verstehen lässt. Dass ein solches Vorgehen zielführend sein könnte, vermutet mit uns jedoch Hoekstra 2006, 58: „Much of Hobbes’s work can be interpreted as counsel […].“ 226 „Wie irreführend es ist, die Natur der Dinge nach dem gewöhnlichen und schwankenden Gebrauch der Wörter zu beurteilen, wird fast nirgends so deutlich wie bei der Verwechslung von Rat und Befehl, die aus der Befehlsform beider Ausdrucksweisen entsteht, und außerdem noch aus vielen anderen Gründen“ (LD 25, 196).

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„Denn die Wörter tu dies! sind nicht nur die eines Befehlenden, sondern auch die eines Beraters und Mahners. Und doch gibt es nur wenige, die nicht sehen, daß es sich dabei um sehr verschiedene Dinge handelt, oder die zwischen ihnen nicht unterscheiden können, wenn sie wahrnehmen, wer redet, an wen die Rede gerichtet ist und aus welchem Anlaß“ (LD 25, 196).

Hobbes sagt, es gäbe wenige Menschen, die nicht sehen würden, dass es sich dabei um verschiedene Dinge handelt, d. h. also er behauptet, dass es viele Menschen gibt, die sehen, dass die Worte „tu dies“ in unterschiedlichen Kontexten eine sehr unterschiedliche Bedeutung haben können. Durch die Beachtung des pragmatischen Kontextes einer Rede, also der Person des Sprechenden, der Adressaten, und des Anlasses der Rede wären demzufolge viele Hörer in der Lage, die möglichen unterschiedlichen Bedeutungen von Wörtern zu erkennen. Weil die mündliche Rede immer schon in einem bestimmten pragmatischen Kontext stehe, in dem der Redende auch als Handelnder begriffen werden kann, der zu anderen Menschen, zu denen er in einer bestimmten Beziehung steht, mit einer bestimmten Absicht bestimmte Dinge sagt, sei es einfach, zu erkennen, ob etwas ein Ratschlag oder ein Befehl sei. Bei der geschriebener Rede wäre die Verwechslungsmöglichkeit allerdings größer – hier würden nicht mehr viele Menschen erkennen, dass es sich um verschiedene Dinge handelt. Weil entweder die Fähigkeit oder der Wille fehle, sich die Umstände der Rede – also den pragmatischen Kontext – näher anzusehen, käme es bei der geschriebener Rede häufig zu Verwechslungen: „Finden sie aber solche Sätze geschrieben und sind sie nicht fähig oder gewillt, sich die Umstände näher anzusehen, so halten sie bisweilen die Vorschläge eines Beraters für die Vorschriften eines Befehlshabers und umgekehrt, so, wie es am besten mit den Schlüssen übereinstimmt, die sie selbst ziehen würden, oder den Handlungen entspricht, die sie billigen“ (LD 25, 196).

Bereits in den ersten Zeilen des 25. Kapitels deutet Hobbes also eine Theorie mündlicher und schriftlicher Texte an, deren Unterschied vor allem in der Sichtbarkeit des pragmatischen Kontextes der Rede bestehe: Während sich die mündliche und schriftliche Rede zwar darin gleichen würden, in verschiedene pragmatische Kontexte eingebettet zu sein, sei diese Einbettung bei schriftlichen Texten nicht so augenscheinlich, weshalb es hier auch zu häufigeren Verwechslungen komme. Wenn ein Autor in seinem geschriebenen Werk beginnt, über die Besonderheiten der schriftlichen Rede zu sprechen, liegt es nahe, diese Hinweise auf das schriftliche Werk des Autors selbst anzuwenden. Der Hinweis auf die Besonderheit schriftlicher Rede  – deren scheinbare Eigenständigkeit und Kontext­ unabhängigkeit, die zu zahlreichen Missverständnissen führen könne – verdient es, auf Hobbes eigenes Werk angewendet zu werden: Wer spricht dort? Zu wem? Und aus welchem Anlass? Doch verschieben wir die Beantwortung dieser Fragen zunächst und sehen wir, was uns Hobbes im weiteren Fortgang des Kapitels mitteilt. Als Hilfestellung zum Verständnis geschriebener Texte schlägt er im Folgenden vor, Worte zu definieren. Um den Begriffen befehlen, beraten und ermahnen ihre eigentliche und

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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bestimmte Bedeutung zurückzugeben, möchte er explizit definieren, um was es sich bei einem Rat bzw. einem Befehl eigentlich handelt.227 Zunächst unterscheidet Hobbes die sprachlichen Handlungen Befehl und Rat durch die Intention des Handelnden. Die Intention des Befehlenden sei es immer – und hier wiederholt er damit eine von ihm bereits im ersten Teil des Leviathan aufgestellte handlungstheoretische Grundprämisse –, ein Gut für sich selbst zu erreichen: „Ein Befehl liegt vor, wenn jemand sagt: Tu dies!, oder Tu dies nicht!, ohne daß ein anderer Grund als der Wille des Redenden ersichtlich ist. Daraus folgt eindeutig, daß der Befehlende damit seinen eigenen Vorteil bezweckt, denn Grund seines Befehls ist allein sein eigener Wille, und der eigentliche Gegenstand des Willens eines jeden Menschen ist ein Gut für sich selbst“ (LD 25, 196).

Ein Rat dagegen zeichne sich dadurch aus, dass er auf den Vorteil des Beratenen abziele.228 Dem aufmerksamen Leser fällt jedoch sofort auf, dass die letzte Schlussfolgerung weder vollständig, noch mit den in der Definition des Befehls aufgestellten Prämissen vereinbar ist: Wenn „der eigentliche Gegenstand des Willens eines jeden Menschen […] ein Gut für sich selbst“ ist, wie Hobbes in der Definition des Befehls schreibt, dann kann zwar vielleicht der Rat über den Fremdnutzen definiert werden, der Beratende dagegen kann dann keiner sein, der „nur das Wohl dessen bezweckt, dem er den Rat erteilt“, sondern dieser muss per definitionem auch „ein Gut für sich selbst“ anstreben – eine Schlussfolgerung, die Hobbes wenig später dann auch selbst zieht.229 Während in den angeblich so präzisen Definitionen der eigene Vorteil des Beraters zunächst also nur verdeckt formuliert wurde, gibt Hobbes im Fortgang seiner Erläuterungen des Rats, in der Definition von Ermahnung und Warnung als einer speziellen Form des Rats, freimütig zu, dass diese auf das Wohl des Beratenden zielen. Zu diesem Zweck würde sich der Beratende sprachlicher Formulierungen bedienen, die keine Wahrheit beanspruchen, sondern die allein der Überzeugung dienen, d. h. die Adressaten zu einem bestimmten Handeln antreiben sollen. Der Mahnende und der Warnende unterwerfe sich „nicht den strengen Anforderungen 227 „Um diese Fehler zu vermeiden und um den Ausdrücken ‚befehlen‘, ‚beraten‘ und ‚ermahnen‘ ihre eigentliche und bestimmte Bedeutung zurückzugeben, definiere ich sie folgender­ maßen: […]“ (LD 25, 196). 228 „Ein Rat liegt vor, wenn jemand sagt: Tu oder tu dies nicht!, und dabei von dem sich daraus ergebenden Vorteil dessen ausgeht, zu dem er das sagt. Daraus geht klar hervor, daß der Beratende, was er auch immer vor sich hat, nur das Wohl dessen bezweckt, dem er den Rat erteilt“ (LD 25, 196). 229 „Aber zu dieser Ähnlichkeit des Staates mit einem natürlichen Menschen kommt ein sehr bedeutender Unterschied, nämlich, daß ein natürlicher Mensch seine Erfahrung von den natürlichen Gegenständen der Empfindung empfängt, die auf ihn leidenschaftslos und ohne Eigeninteresse wirken, während die Berater der Vertretung eines Staates ihre besonderen Ziele und Leidenschaften besitzen können und oftmals besitzen, die ihren Rat immer verdächtig und häufig unaufrichtig machen. Und deshalb können wir als erste Voraussetzung für einen guten Berater aufstellen, daß seine Ziele und Interessen mit den Zielen und Interessen dessen, den er berät, nicht unvereinbar sein dürfen“ (LD 25, 199).

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wahren Denkens“ sondern berücksichtige „die üblichen menschlichen Leidenschaften“ und verwende „Redekünste“ um seine Hörer zum Handeln anzutreiben: „Ermahnung und Warnung ist Rat, verbunden mit den Anzeichen, daß der Erteilende die Befolgung dringend wünscht, oder, um es kürzer zu sagen, ein äußerst dringender Rat. Denn der Mahnende legt nicht die Folgen dessen dar, was er zu tun anrät und unterwirft sich auch nicht den strengen Anforderungen des wahren Denkens, sondern treibt den Beratenen zum Handeln an, wie ein Warnender ihn davon abschreckt. Und deshalb berücksichtigen Mahner und Warner in ihren Reden bei der Darlegung ihrer Gründe die üblichen menschlichen Leidenschaften und Meinungen und verwenden Gleichnisse, Metaphern, Beispiele und andere Rednerkünste, um ihre Hörer davon zu überzeugen, wie nützlich, ehrenhaft oder gerecht die Befolgung ihres Rats sei. Daraus kann zuerst einmal geschlossen werden, daß Ermahnung und Warnung auf das Wohl des Beratenden gerichtet ist […]“ (LD 25, 197).

Die Schrift Leviathan, die sich auf die Metapher des Staates als eines künstlichen Menschen stützt, dem man zum Gehorsam verpflichtet sei, die einen fiktiven Naturzustand entwirft, in dem die Schrecken der Folge des Fehlens einer staatlichen Gewalt drastisch ausgemalt werden, insofern diese Schilderung des Naturzustandes die Todesfurcht, die Unbequemlichkeit und den fehlenden Wohlstand als Begleiterscheinung eines solchen gesetzlosen Zustandes beschwört, erfüllt also all die Kriterien, die Hobbes selbst seiner Definition von Ermahnung und Warnung als eines äußerst dringenden Rates zu Grunde legt.230 Hier werden „die üblichen menschlichen Leidenschaften“ angesprochen und „Gleichnisse, Metaphern, Beispiele und andere Rednerkünste“ verwendet, um die Leser davon zu überzeugen, „wie nützlich, ehrenhaft oder gerecht“231 die Befolgung des Rates sei. Dies scheint aber auf den ersten Blick gerade gegen unsere vorläufige interpretatorische Annahme, dass es sich beim Leviathan um ein Ratgeberbuch für den Souverän handelt, zu sprechen. Wenn Hobbes den Souverän beraten wollte, weshalb sollten wesentliche Teile seiner Schrift dann eher dem entsprechen, was er selbst als Ermahnung und Warnung charakterisiert und deutlich vom Rat abgegrenzt hat? Vielleicht deshalb, weil es sich um einen Ratgeber zum Machterhalt handelt und dafür spezielle rhetorische Techniken, wie beispielsweise Ermahnung und Warnung notwendig sind. Der Souverän benötigt als Herrschaftswissen Einsichten in die Kunst der öffentlichen Rede. Hobbes spricht zunächst zwar neutral davon, dass 230

Dass Hobbes’ kontraktualistisches Argument den Kriterien entspricht, die er selbst benutzt um „Ermahnung und Warnung“ zu definieren, stellt auch Hoekstra 2006, 60 fest. Hoekstra führt diese Beobachtung jedoch nicht näher aus und formuliert diese auch eher tentativ, insofern er die Möglichkeit, dass es sich beim Naturzustand um eine wahre Prämisse handelt, immerhin offen lässt: „Moreover, the state of nature itself is best understood in terms of its role in encouraging obedience, and has at least as much in common with an exhortation as with a true premise.“ 231 Die Reihenfolge der Adjektive ist hierbei durchaus nicht unwichtig. Im weiteren Verlauf bestätigt sich unsere Einschätzung der Zentralität der Stelle zum Verständnis des Leviathan, insofern gezeigt wird, dass die Leidenschaftslehre, die Hobbes im Leviathan entwickelt, mit Hobbes’ Lehre über die Besonderheiten der öffentlichen Rede in einem direkten Zusammenhang steht.

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Ermahnen und Warnen dort nützlich sei, wo man zu einer Menge spreche und verrät an dieser Stelle daher noch nicht den Adressaten seines Ratschlages: „Zweitens, daß Ermahnen und Warnen nur dort nützlich ist, wo jemand zu einer Menge sprechen kann. Denn wird die Rede an einen einzelnen gerichtet, so kann ihn dieser unterbrechen und seine Gründe sorgfältiger prüfen als dies in einer Menge geschehen kann, die aus zu vielen besteht, als daß sie mit einem, der so unterschiedslos zu allen auf einmal spricht, in ein Streit- oder Zwiegespräch kommen könnten“ (LD 25, 198, Hervor­ hebungen E. O.).

Der Eindruck, dass Hobbes mit seinen Hinweisen zur Kommunikation mit Menschenmengen auf den Souverän zielt, entsteht aber, weil Hobbes die Erläuterung der Erfolgsbedingungen von Ermahnung und Warnung explizit als einen Hinweis für denjenigen, der rechtmäßig befehlen darf – und hierbei liegt zunächst die Vermutung nahe, dass es sich um den Souverän handelt – formuliert. Die Unterscheidung zwischen Rat und Ermahnung könnte deshalb bereits als erste Lektion von Hobbes an den Souverän verstanden werden. Hobbes empfiehlt dem Souverän, Befehle in der Form eines Ratschlages zu äußern, weil sie dadurch eine bereitwilligere Aufnahme fänden: „Wo aber jemand rechtmäßig befehlen darf, […] dort sind seine Ermahnungen und Warnungen nicht nur rechtmäßig, sondern auch notwendig und lobenswert. Aber dann sind sie nicht mehr Ratschläge, sondern Befehle. Gelten sie einer sauren Arbeit, so erfordert es bisweilen die Notwendigkeit und immer die Menschlichkeit, daß man sie versüßt, indem man sie aufmunternd und im Ton und der Form eines Rats statt in der barschen Sprache eines Befehls erteilt“ (LD 25, 198).

In dem Moment, in dem Hobbes über die Anwendungsbedingungen von Ermahnung und Warnung spricht, gibt er dem Souverän also bereits als Berater eine erste Lektion in Sachen effektiver und erfolgreicher Regierung. So könne es, schreibt er, wenn man zu einer Menge spreche, sehr zweckdienlich sein, dass manche Befehle in die Form des Ratschlages gekleidet werden, um eine bereitwilligere Aufnahme und Ausführung zu gewährleisten. Es geht dabei – wie Hobbes in seiner Erläuterung von Ermahnung und Warnung offen zugibt – gar nicht um Wahrheit, sondern darum, zum Handeln anzutreiben. Durch einen Appell an die menschlichen Leidenschaften könne eine zu regierende Menge von der Gerechtigkeit, Ehrenhaftigkeit oder Nützlichkeit ihres Gehorsams überzeugt werden. Aber nicht nur dadurch, dass Hobbes de facto bereits dem Souverän einen Rat erteilt hat, wird der Schluss nahegelegt, dass Hobbes sich mit der Schrift Leviathan an einen Souverän wendet und sich diesem als Berater empfiehlt. Auch die unschwer erkennbare Selbstcharakterisierung als guter Berater spricht dafür.232 232 „Drittens. Da sich die Fähigkeit zum Erteilen eines Rats auf Erfahrung und lange Studien gründet und man von niemand erwartet, daß er in allen Dingen, deren Kenntnis zur Regierung eines großen Staates notwendig ist, erfahren ist, kann jemand nur in solchen Gebieten als guter Berater angesehen werden, in denen er nicht nur große Übung besitzt, sondern über die er auch reiflich nachgedacht hat und Untersuchungen angestellt hat. Denn da es Aufgabe

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B. Die politische Logik des Körpers

Hobbes nennt Erfahrung, vor allem aber ein langes, außergewöhnlich intensives Studium sowie Beobachtungen eines Mannes im fortgeschrittenen Alter als notwendige Voraussetzungen eines guten Beraters, die allesamt in einer Person vereinigt werden sollten. Die Eignung eines Beraters ist zudem, wie Hobbes ausführt, abhängig von dessen besonderen Kenntnissen. Gäbe es für die Arbeit auf einem Gebiet feste Regeln, so sei derjenige, der die Regel gelernt oder entdeckt hätte, der beste Berater.233 Dass es für die Kunst, Staaten zu schaffen, solche festen Regeln gibt, davon scheint Hobbes überzeugt zu sein,234 wenn er, wie beispielweise am Ende des 21. Kapitels, ausführt: „Die Kunst, Staaten zu schaffen und zu erhalten, besteht wie die Arithmetik und die Geometrie aus sicheren Regeln und nicht wie Tennisspielen aus bloßer Übung. Bisher besaßen weder arme Leute, denen die Muße dazu fehlt, noch Reiche, die diese Muße gehabt hätten, die Neugier oder die Methode, um diese Regeln ausfindig zu machen“ (LD 20, 162).235

Dass sich Hobbes damit im Leviathan selbst den potentiellen Souveränen als geeigneter Berater anempfiehlt, weil er beansprucht, solche Regeln herausgefunden zu haben, wird durch eine weitere Stelle im 30. Kapitel nahegelegt: „Die Kunst, gut zu bauen, wurde aus Vernunftsprinzipien entwickelt, die tüchtige Menschen erkannten – Menschen, die lange die Natur des Baumaterials und der verschiedenen Wirkungen von Figuren und Proportionen studierten, und zwar viel später als die Menschheit – wenn auch armselig – zu bauen begonnen hatte. Genauso können lange, nachdem die Menschen begonnen hatten, unvollkommene, zum Rückfall in Unordnung neigende Staaten zu errichten, durch eifriges Nachdenken Vernunftsprinzipien ausfindig gemacht werden, um ihre Verfassung dauerhaft zu machen – von äußerer Gewalt einmal abgesehen. Prinzipien dieser Art habe ich in dieser Abhandlung dargelegt“ (LD 30, 256). des Staates ist, nach innen den Frieden des Volkes zu bewahren und es nach außen hin gegen einen Angriff zu verteidigen, so erfordert dies, wie wir sehen, eine große Kenntnis von der Veranlagung der Menschheit, der Rechte der Regierung und des Wesens von Billigkeit und Gesetz, Gerechtigkeit und Ehre, die ohne Studium nicht zu erlangen ist […]. Nicht nur die Gesamtheit dieser Gebiete, sondern auch jedes einzelne erfordert das Alter und die Beobachtungen eines Mannes, dessen Studien über das gewöhnliche Maß hinausgehen“ (LD 25, 200). 233 „Gibt es für die Arbeit auf einem Gebiete feste Regeln, wie die Regeln der Geometrie für den Maschinenbau und die Architektur, so kann alle Erfahrung der Welt dem nicht gleichkommen, der die Regel gelernt oder entdeckt hat. Und gibt es keine solche Regel, so hat derjenige mit der größten Erfahrung auf diesem besonderen Gebiet das beste Urteil und ist der beste Berater“ (LD 25, 200). 234 Dass Hobbes, wenn er über die Fähigkeiten eines guten Beraters spricht, eigentümlich schwankt zwischen der Vorstellung, es sei vor allem Erfahrung notwendig, und der Vorstellung, es sei dazu Kenntnis von Regeln bzw. Gesetzmäßigkeiten notwendig, soll an dieser Stelle nur festgehalten, aber nicht eigens diskutiert werden. 235 Vgl. für Hobbes’ Insistieren auf seine spezielle, wissenschaftliche Form der Beratung auch LD 30, 268: „Guter Rat kommt weder durch Los noch durch Erbfolge zustande, und deshalb besteht kein Grund zu der Annahme, Reiche oder Adlige könnten in staatlichen Angelegenheiten einen guten Rat erteilen, sowenig wie ein Grund zur Annahme besteht, sie könnten dies beim Entwurf einer Festung – es sei denn, wir sind der Ansicht, das Studium der Politik bedürfe nicht so wie das Studium der Geometrie einer Methode, sondern es genüge, Zuschauer zu sein. Dies ist nicht der Fall. Denn die Politik ist die schwierigere Wissenschaft von beiden.“

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Nach der Lektüre des Kapitels über den Rat scheint das Problem der Erklärung der biopolitischen Aporie also relativ einfach gelöst werden zu können: Hobbes hat den Leviathan als Ratgeberbuch für den Souverän konzipiert, der – mit wissenschaftlich exakt hergeleiteten Regeln – seine Macht dauerhaft sichern kann. Zu den Methoden seiner Machtsicherung gehört es auch, dass er Appelle an die Leidenschaften verwendet: Zum Gehorsam ermahnen und vor der Gesetzesübertretung warnen könne man eine Menge am besten durch Appell an deren Leidenschaften. Diese Kunst müsse der Souverän entweder vom Berater lernen oder zumindest die in der Schrift enthaltenen Appelle durch Verbreitung unter das Volk bringen. Hobbes scheint vor allem letzteres im Sinn gehabt zu haben, d. h. mit ein und derselben Schrift das Volk zum gesetzeskonformen Handeln, d. h. zum Gehorsam anzu­ treiben und den Souverän mit Techniken der Machtsicherung zu versorgen, wie die letzten beiden Absätze des 31. Kapitels des Leviathan zeigen. Dieses Kapitel steht insofern an exponierter Stelle, als es den zweiten Teil des Leviathan über den Staat abschließt und Hobbes hier noch einmal explizit die Intention und die Ergebnisse seiner bisherigen Ausführungen zusammenfasst. Er schreibt an dieser Stelle, dass er zwar wüsste, dass sich seine Lehre sehr von der bisherigen Moral der westlichen Welt unterscheide, dass er aber dennoch berechtigten Grund zu der Hoffnung habe, dass seine „Lehrsätze der Morallehre“ akzeptiert und sogar öffentlich gelehrt werden würden. Als Zweck dieser Lehrsätze der Morallehre gibt er an, dass „die Menschen daraus lernen können, wie man regiert und gehorcht“, was zum übergeordneten Zweck der Vermeidung von Bürgerkriegen bzw. der Stabilität von Regierungen führe. Explizit äußert Hobbes hier die Hoffnung, dass sein Buch in die Hände eines Souveräns fallen möge, der die Lehren seiner Schrift verbreiten möge: „Soviel über Einsetzung, Natur und Recht der Souveräne und über die Pflicht der Untertanen, abgeleitet aus den Grundsätzen der natürlichen Vernunft. Und wenn ich nun bedenke, wie sehr sich diese Lehre von der Praxis des größten Teiles der Welt, besonders dieser westlichen Teile, die ihre Moral von Rom und Athen gelernt haben, unterscheidet, und welch tiefe Einsichten in die Moralphilosophie von den Verwaltern der souveränen Gewalt verlangt werden, so bin ich drauf und dran zu glauben, daß meine vorliegende Arbeit so nutzlos ist wie die Politeia Platos. Denn auch er ist der Meinung, die Unordnungen des Staates und die Regierungswechsel durch Bürgerkriege könnten solange nicht abgeschafft werden, bis die Souveräne Philosophen wären. Wenn ich aber wiederum bedenke, daß die Wissenschaft von der natürlichen Gerechtigkeit die einzige Wissenschaft ist, die für die Souveräne und ihre obersten Diener notwendig ist, und daß im Gegensatz zu Plato ihre einzige Belastung mit den mathematischen Wissenschaften darin besteht, daß die Menschen durch gute Gesetze zu deren Studium angeregt werden sollten, und wenn ich weiter bedenke, daß weder Plato, noch ein anderer Philosoph bisher alle Lehrsätze der Morallehre systematisch entwickelt und ausreichend bewiesen oder wahrscheinlich gemacht hat, so daß die Menschen daraus lernen könnten, wie man regiert und gehorcht, dann schöpfe ich wieder einige Hoffnung, es möge früher oder später meine vorliegende Schrift in die Hände eines Souveräns fallen, der sie ohne Hilfe eines interessierten oder mißgünstigen Interpreten selbst überdenken wird – denn sie ist kurz, und wie ich meine, klar –, und der durch Ausübung der vollen Souveränität, indem er die öffentliche Verbreitung dieser Lehre schützt, diese spekulative Wahrheit in praktischen Nutzen verwandelt“ (LD 31, 281).

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B. Die politische Logik des Körpers

Die Lektüre des Kapitels über den Rat scheint – zusammen mit Hobbes’ Erklärung seiner Intention am Ende des 31. Kapitels – deutlich zu beantworten, was der Zweck des Leviathan ist: ein Buch, geschrieben um den Souverän zu beraten und die Menge – durch Appell an deren Leidenschaften und nicht durch wahre oder gültige Argumente  – zum Gehorsam zu bewegen. Die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments scheint also sehr leicht dadurch erklärt werden zu können, dass es sich bei diesem Argument um eines handelt, welches an die Menge adressiert ist und keinen Anspruch auf Wahrheit erhebt, sondern nur eine praktische Wirkung erreichen will – den Gehorsam. Diese Deutung erfährt zusätzliche Plausibilität durch eine entsprechende Ausführung im 30. Kapitel des Leviathan, in dem Hobbes den Souverän daran erinnert, dass das natürliche Gesetz, welches die Einhaltung von Verträgen fordert, die Grundlage des bürgerlichen Gehorsams darstellt und deshalb vom Souverän unbedingt gelehrt werden müsste.236 Der Gesetzesgehorsam der Untertanen sei ja schließlich, so argumentiert Hobbes weiter, in seinem eigenen Interesse, weshalb der Souverän doch tunlichst diese Vernunftprinzipien lehren solle.237 Den möglichen Einwand, dass der Verstand des gemeinen Volkes vielleicht nicht aus­reichen würde, solche Vernunftprinzipien nachzuvollziehen, wischt Hobbes durch seine Auffassung, dass man dem Volk beinahe alles erzählen könne, beiseite. So würde das gemeine Volk ja auch die widersprüchlichen Lehren des Christentums bereitwillig annehmen. Der Verstand des gemeinen Volkes sei wie ein weißes Papier, dem man nahezu alles aufdrucken könnte. „Aber es wird ferner geltend gemacht, daß selbst dann, wenn diese Prinzipien richtig sind, die Fähigkeit des gemeinen Volks doch nicht dazu ausreicht, daß man ihm diese Prinzipien verständlich machen könnte. […] Aber alle Welt weiß, daß die Widerstände gegen diese Art von Lehre nicht so sehr von der Schwierigkeit des Gegenstandes als vielmehr von den Interessen derer herrühren, die lernen sollten. Mächtige Menschen verdauen kaum etwas, das eine Macht zur Zügelung ihrer Begierden errichtet und Gelehrte nichts, was ihre Irrtümer aufdeckt und dadurch ihre Autorität schmälert, während der Verstand des gemeinen Volkes, wenn er nicht durch die Abhängigkeit von Mächtigen befleckt oder mit den Ansichten ihrer Doktoren vollgekritzelt ist, einem reinen Papier gleicht, dazu geeignet, alles aufzunehmen, was ihm von der öffentlichen Gewalt aufgedruckt wird“ (LD 30, 257).

236 „Und es ist umso notwendiger, die Grundlagen dieser Rechte sorgfältig und wahrheitsgetreu lehren zu lassen, da sie durch kein bürgerliches Gesetz oder durch die Furcht vor gesetzmäßiger Bestrafung aufrecht erhalten werden können. Denn ein bürgerliches Gesetz, das Rebellion […] verbietet, beinhaltet keine Verpflichtung im Sinne des bürgerlichen Gesetzes, sondern verpflichtet nur kraft natürlichen Gesetzes, das Treubruch verbietet. Kennen die Menschen diese natürliche Verpflichtung nicht, so können sie auch nicht wissen, welches Recht hinter jedem Gesetz steht, das der Souverän erläßt“ (LD 30, 256). 237 „Und folglich ist es seine Pflicht zu veranlassen, daß das Volk so unterrichtet wird, und nicht nur seine Pflicht, sondern auch sein Vorteil und seine Sicherheit gegen die Gefahr, die ihm selbst als natürliche Person durch eine Rebellion erwachsen kann“ (LD 30, 257).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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cc) Ein mögliches Problem: Die Veröffentlichung des Beratungshandbuchs Unsere bisherige Annahme, nach der Hobbes’ Intention im Verfassen eines Beratungshandbuchs für potentielle Souveräne liegt, in dem er diesen mitteilen wollte, durch welche Techniken ein Souverän seine Macht am Besten schützen könnte, und in dem er eine Überredung des Volkes auch durch gegebenenfalls unwahre, aber zweckdienliche Appelle an die Leidenschaften empfiehlt, wird jedoch vor ein erhebliches Problem gestellt: Hobbes selbst teilt dies öffentlich, d. h. in einer veröffentlichten Schrift mit. Obwohl er an verschiedenen Stellen deutlich macht, dass es für den Souverän nicht nur sinnvoll wäre, verschiedene Berater einzeln, sondern auch, diese geheim zu konsultieren,238 handelt es sich beim Leviathan um ein zur Veröffentlichung bestimmtes Buch. Selbst wenn Hobbes den Verstand des Volkes so einschätzt, dass man diesem gleich einem weißen Papier alles aufdrucken könnte – geht es nicht zu weit, zu sagen, Hobbes empfehle dem Souverän in einer veröffentlichten Schrift, das Volk mit ggf. unwahren Leidenschaftsappellen zum Gehorsam zu bewegen? Gibt es eine Möglichkeit, diese Probleme aufzulösen? Es ist wiederum Hobbes selbst, der dazu Hinweise gibt. Im Kontext der von ihm im 25. Kapitel entwickelten pragmatischen Texttheorie, die schriftliche und mündliche Rede hinsichtlich der verschiedenen Sichtbarkeit ihres pragmatischen Kontextes unterschieden hatte, hatte Hobbes ja explizit darauf hingewiesen, dass viele Menschen bei einer schriftlichen Rede den pragmatischen Kontext – d. h. den Adressaten und die Intention einer Rede – nicht berücksichtigen würden, weil sie dies nicht wollten oder könnten. Er räumt damit ein, dass auch auf der Adressatenseite bestimmte Dinge vorausgesetzt werden müssten, damit eine mündliche oder schriftliche Rede – also auch ein Rat – ihre Wirkung entfalten könne.239 ­Hobbes gibt also einen Hinweis darauf, dass es nicht nur zum Erteilen eines Rates, sondern auch zum Verstehen eines Rates bestimmter Fähigkeiten bedürfe. Wenn­ 238 „Gesetzt, die Zahl der Berater sei gleich, so ist jemand besser beraten, wenn er sie einzeln statt in einer Versammlung anhört, und das aus vielen Gründen. […] Viertens ist bei Beratungen, die geheim gehalten werden müssen – wofür es in öffentlichen Angelegenheiten viele Anlässe gibt –, der Rat vieler gefährlich, besonders in Versammlungen, und deshalb sind große Versammlungen gezwungen, solche Dinge einer kleineren Zahl von Personen, die die meiste Erfahrung besitzen und von deren Treue man am meisten hält, zu überweisen“ (LD 25, 200 f.). 239 Zunächst hat es zwar den Anschein, dass Hobbes dieses Verständnisproblem durch die Einführung von Definitionen lösen möchte: „Um diese Fehler zu vermeiden und um den Aus­ drücken […] ihre eigentliche und bestimmte Bedeutung zurückzugeben, definiere ich folgendermaßen“ (LD 25, 196). Wenn aber das Problem nicht in der schwankenden Bedeutung von Wörtern liegt, sondern in der fehlenden Bereitschaft und Fähigkeit, den pragmatischen Kontext einer Rede zu rekonstruieren – also danach, zu fragen, an wen die Rede gerichtet ist und aus welchem Anlass, dann kann auch durch Definitionen die Unterscheidungsfähigkeit von Ratschlag und Befehl nicht hergestellt werden: „Finden sie aber solche Sätze geschrieben und sind sie nicht fähig oder gewillt, sich die Umstände näher anzusehen, so halten sie bisweilen die Vorschläge eines Beraters für die Vorschriften eines Befehlshabers und umgekehrt […]“ (LD 25, 196).

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B. Die politische Logik des Körpers

Hobbes an späterer Stelle des 25. Kapitels über die Fähigkeiten spricht, die ein Berater zum Erteilen eines Rates benötigt, empfiehlt er dem Leser, im achten Kapitel nachzusehen, was er dort über die „für einen Rat erforderliche Verstandes­ fähigkeit“ gesagt hat: „Die für einen Rat erforderliche Verstandesfähigkeit ist, wie ich oben sagte (8. Kap.), die Urteilskraft. Und die Unterschiede zwischen den Menschen in diesem Punkt kommen von der verschiedenen Ausbildung, die der eine auf diesem Studien- oder Berufszweig, der andere auf jenem genoß“ (LD 25, 200).

Hobbes fordert den Leser also auf, im achten Kapitel nachzuschlagen, was er dort über die Urteilskraft als notwendige Verstandesfähigkeit für einen Rat gesagt hat.240 Wenn man wissen möchte, was auf der Adressatenebene notwendig ist, um überhaupt ein geeigneter Empfänger von Ratschlägen zu sein, empfiehlt es sich also, im achten Kapitel nachzusehen. Folgen wir also Hobbes’ Hinweisen und sehen uns an, was im achten Kapitel über die für einen Rat notwendigen Verstandesfähigkeiten gesagt wird. dd) Eine Lösung des Problems: Die Leidenschaftslehre und deren hermeneutische Konsequenzen Was wird nun im achten Kapitel über die Urteilskraft gesagt? Ist der Hinweis auf das achte Kapitel zielführend? Hobbes spricht im achten Kapitel zunächst über Verstandestugenden und teilt diese auf in natürliche und erworbene Verstandes­ tugenden. Er spricht im Folgenden nur über die natürlichen Verstandestugenden, die jedoch nicht – wie der Name vermuten lassen würde – von Natur gegeben sind, sondern das Produkt von Übung und Erfahrung sind: „Ich verstehe darunter vielmehr jenen Verstand, der allein durch Übung und Erfahrung erworben wird, ohne Anleitung, Bildung und Unterrichtung. Dieser natürliche Verstand besteht grundsätzlich aus zwei Dingen: der Schnelligkeit des Vorstellens (das heißt der raschen Aufeinanderfolge der Gedanken) und der stetigen Ausrichtung auf ein für gut befundenes Ziel“ (LD 8, 52).

Wie in der folgenden Erläuterung deutlich wird, handelt es sich dabei um eine instrumentelle Form der Vernunft, d. h. um eine gewisse Fähigkeit, Mittel zu vorgegebenen Zielen zu identifizieren. Unterschiede zwischen den Menschen ließen sich nun dadurch erklären, dass Menschen unterschiedliche Leidenschaften hätten, sodass von den Menschen entweder verschiedene Ziele oder bestimmte Ziele verschieden stark angestrebt würden und deshalb bestimmte zweckdienliche Mittel von einigen gar nicht als solche erkannt werden oder zumindest von einigen schneller gesehen werden als von anderen: 240 Vgl. die englischen Begriffe, die, weil Hobbes im achten Kapitel ungewöhnliche Wortneudefinitionen benutzt, die das Verständnis erschweren können, relevant werden: „The wit required for Counsel, as I said before (Chap. 8.) is Judgement“ (L 25, (135) 406).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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„Und dieser Unterschied an Schnelligkeit wird durch die unterschiedlichen Leidenschaften der Menschen verursacht, die einmal dieses, einmal jenes lieben oder verabscheuen; deshalb gehen die Gedanken der einen diesen, der anderen jenen Weg, und sie sind an die Dinge, die die durch ihre Vorstellungskraft gehen, unterschiedlich gebunden und be­ achten sie unterschiedlich. Und bei dieser Aufeinanderfolge der menschlichen Gedanken ist an den Dingen, über die nachgedacht wird, nur zu beachten, worin sie einander ähnlich oder unähnlich sind, wofür sie nützen oder wie sie diesem Zweck dienen“ (LD 8, 52).

Menschen werden also durch ihre Leidenschaften auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet und erkennen deshalb bestimmte Dinge als zweckdienlich; andere – die für ihr je persönliches Ziel irrelevant sind – beachten sie dagegen nicht. In dieser Fähigkeit, geeignete, ähnliche Mittel für ein vorgegebenen Ziel zu identifizieren, gebe es durchaus Unterschiede zwischen den Menschen. Aufgrund der verschie­ denen Leidenschaften würden Menschen bestimmte Dinge, die sich darin gleichen, dass sie allesamt Mittel für ein vorgegebenes Ziel wären, schneller erkennen als andere. Weil Leidenschaften wie Wahrnehmungsfilter wirken, „gehen die Gedanken der einen diesen, der anderen jenen Weg“ und deshalb achten Menschen auch auf unterschiedliche Dinge. Auch für die Schnelligkeit der instrumentellen Vernunft sind nach Hobbes die Leidenschaften verantwortlich. So führten gewisse Leidenschaften zu einer langsamen Vorstellungskraft241 und zu Schwierigkeiten, bei dem Versuch, geeignete Mittel zu identifizieren, während andere darin überaus erfolgreich wären. „Deshalb sagt man von denjenigen, die ihre Ähnlichkeiten beachten (falls es sich dabei um solche handelt, die nur selten von anderen beachtet werden), sie hätten einen guten Verstand. Damit ist in diesem Zusammenhang eine gute Vorstellungskraft gemeint“ (LD 8, 52 f.).242

Was bedeutet das in Bezug auf mündliche oder schriftliche Rede? Wenn die Äußerungen von Hobbes über die instrumentelle Vernunft allgemeine Gültigkeit besitzen, ergäbe sich daraus auch, dass Menschen aufgrund ihrer verschiedenen Leidenschaften bei der Lektüre eines Textes bzw. beim Anhören einer Rede auf verschiedene Dinge achten. Ein und der gleiche Text könnte also, so eine mögliche Schlussfolgerung, zu verschiedenen Adressaten verschiedene Dinge sagen, weil 241 „Im Gegensatz dazu macht eine langsame Vorstellungskraft jenen Mangel oder Fehler des Verstandes aus, den man gewöhnlich mit Dummheit, Stumpfsinn und bisweilen mit anderen Namen bezeichnet, die bedeuten, daß die Bewegungen langsam sind oder das Bewegtwerden Schwierigkeiten bereitet“ (LD 8, 52). 242 Diese Fähigkeit zur Mittelbestimmung, d. h. zur Identifikation von Dingen, die sich darin ähnlich sind, dass sie allesamt Mittel für ein von vornherein feststehendes Ziel sind, könne man, so sagt Hobbes, „in diesem Zusammenhang“ als Vorstellungkraft bezeichnen: „Deshalb sagt man von denjenigen, die ihre Ähnlichkeiten beachten […] sie hätten eine guten Verstand. Damit ist in diesem Zusammenhang eine gute Vorstellungskraft gemeint“ (LD, 8, 52 f.). Für die englische Begrifflichkeit vgl. die folgende Textstelle: „Those, that observe their­ similitudes, in case they be such as are but rarely observed by others, are sayd to have a Good Wit; by which, in this occasion, is meant a Good Fancy“ (L 8, (33) 104).

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B. Die politische Logik des Körpers

die Adressaten aufgrund ihrer Leidenschaften jeweils nur auf bestimmte Dinge achten würden.243 Diese mögliche Deutung der Ausführungen von Hobbes über die instrumentelle Vernunft erfährt durch den weiteren Fortgang des Textes zusätzliche Plausibilität. Hobbes kommt im Folgenden auf die Urteilskraft zu sprechen, also genau auf die Fähigkeit, die – wie Hobbes im 25. Kapitel betont hatte – für einen Rat notwendig ist. Durch Hobbes’ Erläuterungen wird deutlich, dass die Unterschiede der Menschen hinsichtlich ihrer Urteilskraft noch größer und tiefgreifender sind als die­ enigen in der (auch als Vorstellungskraft bezeichneten) instrumentellen Vernunft. Während die als Vorstellungskraft bezeichnete instrumentelle Vernunft auf Dinge achten kann, die sich darin ähnlich sind, dass sie allesamt Mittel für ein vorgegebenes Ziel darstellen, gebe es daneben eine Fähigkeit, auf Unterschiede und Unähnlichkeiten zu achten. Hobbes teilt mit, dass es Menschen gebe, die nicht nur von ihrem Zweck an bestimmte Dinge – nämlich die diesem Zweck am dienlichsten Mittel – gebunden wären und nur diese beachten könnten, sondern die die Fähigkeit hätten, auf verschiedene Dinge zu achten und sie danach zu beurteilen, als Mittel für welche Zwecke sie in Frage kommen. Selbst wenn diese Menschen ein feststehendes Ziel hätten, wären sie dadurch nicht von vornherein gedanklich so gebunden, dass sie nur beachten könnten, was ihrem Zweck dient, sondern sie wären insofern freier in ihren Gedanken, als sie Sachen auch danach beurteilen könnten, als Mittel für welchen Zweck sie jeweils dienen könnten. Diese Fähigkeit benötige man vor allem im Gespräch und in geschäftlichen Angelegenheiten: „Aber von denjenigen, die ihre Unterschiede und Unähnlichkeiten beachten, was Trennen, Unterscheiden und Beurteilen der verschiedenen Dinge genannt wird, sagt man im Falle, daß die Unterscheidung nicht leicht fällt, sie besäßen ein gutes Urteil. Und besonders im Gespräch und in geschäftlichen Angelegenheiten, bei denen Orte, Zeiten und Personen zu unterscheiden sind, wird diese Tugend Unterscheidungskraft genannt“ (LD 8, 53).

Hobbes spricht also offensichtlich Menschen verschiedene Verstandesfähig­ keiten zu: Sowohl hinsichtlich der Vorstellungskraft (fancy) – die Hobbes am Anfang des Kapitels als instrumentelle Vernunft charakterisiert – als auch hinsicht 243 Diese Schlussfolgerung steht in sachlicher Nähe zu Strauss’ These von der Doppelgesich­ tigkeit bestimmter Texte aus der Tradition der politischen Philosophie. Vgl. Strauss 1988, 36: „An exoteric book contains then two teachings:  a popular teaching of an edifying character, which is in the foreground; and a philosophical teaching concerning the most important subjects, which is indicated only between the lines.“ Um den Fehler zu vermeiden, herme­ neutische Prinzipien – solche von Leo Strauss oder einem anderen Autor – von außen an einen Text heranzutragen, die für das Verständnis dieses Textes ungeeignet sind, wird jedoch im Folgenden ganz bewusst versucht, die hermeneutischen Prinzipien, die zum Verständnis des Leviathan hilfreich wären, durch eine Auseinandersetzung mit dem zu verstehenden Text selbst zu entwickeln. Es wird dabei von dem „einfachen Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik“, d. h. davon ausgegangen, dass das, was ein Autor selbst über seine Intention sowie über Schriftlichkeit, Sprache und Verstehen sagt, hilfreich sein kann, um die Schrift dieses Autors zu verstehen.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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lich der Urteilskraft (judgment) würden sich die Menschen unterscheiden. Dabei scheint die Verschiedenheit in der Urteilskraft, die von Hobbes auch als Unterscheidungskraft (discretion)244 bezeichnet wird, noch grundlegender zu sein: Der Begriff der Tugend wurde von Hobbes zu Beginn des Kapitels als eine Qualität definiert, die nicht alle Menschen gleichermaßen besäßen.245 Während man die als Vorstellungskraft bezeichnete instrumentelle Vernunft nur dann als eine Tugend bezeichnen könne, wenn sie von der Urteilskraft unterstützt werde, handele es sich bei der Urteilskraft und der Unterscheidungskraft um Dinge, die schon für sich selbst geschätzt würden: „Den vorherigen Begriff, nämlich die Vorstellungskraft, hält man für eine Tugend, wenn sie von der Urteilskraft unterstützt wird. Die zuletzt genannten Begriffe aber, Urteilskraft und Unterscheidungskraft, schätzt man schon für sich allein, ohne Hilfe der Vorstellungskraft“ (LD 8, 53).

Was bedeutet aber nun diese Definition von Urteilskraft? Hobbes gibt mit diesen Definitionen von Tugend und Urteilskraft offen zu, dass nicht alle Menschen dieselbe Urteilskraft besitzen, also nicht alle Menschen geeignete Empfänger von Ratschlägen sind. Entgegen der im 25. Kapitel geäußerten Auffassung, dass Unterschiede in der Urteilskraft aus den verschiedenen Studien- und Berufszweigen resultierten, gibt Hobbes im achten Kapitel zu, dass es natürliche Unterschiede hinsichtlich der Urteilskraft gebe, die auf der Verschiedenheit der Leidenschaften246 beruhen. Wenn die meisten Menschen wegen ihrer instrumentellen Vernunft nur ihrer je besonderen Leidenschaft folgen können und also Urteilskraft nicht be­ sitzen, ist klar, an wen sich Hobbes in seiner Eigenschaft als Berater wendet: An diejenigen wenigen, die Urteilskraft besitzen, d. h. von ihrem angestrebten Ziel nicht so gebunden bzw. gefesselt sind, dass sie nicht auch in der Lage wären, Dinge als probate Mittel für andere Zwecke zu erkennen. Das scheinbare Problem, dass Hobbes dem Souverän im Leviathan empfiehlt, sich mit gegebenenfalls unwahren Leidenschaftsappellen in Form von Ermahnung und Warnung an das Volk zu wenden und also in einer veröffentlichten Schrift dazu auffordert, das Volk durch Leidenschaftsappelle zum Handeln anzu-

244 Dass Hobbes mit der doppelten Bedeutung des Begriffes discretion – der „Unterscheidungskraft“ und der „Verschwiegenheit“, wirkungsvoll spielt, wird im folgenden Kapitel noch deutlicher ausgeführt werden. 245 Das Kapitel beginnt mit einer solchen Definition der Tugend: „Tugend ist allgemein bei allen Gegenständen etwas, das wegen seiner hervorragenden Beschaffenheit geschätzt wird und besteht in einem Vergleich. Denn wenn alles in allen Menschen gleich wäre, so würde nichts gelobt werden“ (LD 8, 52). 246 Auch in der Einleitung hatte Hobbes ja bereits betont, dass Menschen verschiedene Leidenschaften hätten. Dort hatte Hobbes darauf hingewiesen, dass Verlangen, Furcht und Hoffnung zwar Leidenschaften wären, die alle Menschen teilen würden, dass sich durch die Ausrichtung der Leidenschaften auf verschiedene Ziele daraus aber Unterschiede zwischen den Menschen ergeben würden. Die Unterschiede hatte Hobbes in diesem Kontext mit individueller Veranlagung und Erziehung erklärt.

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B. Die politische Logik des Körpers

treiben, kann also dadurch aufgelöst werden, dass Hobbes selbst davon ausgeht, dass ein und derselbe Text zu verschiedenen Adressaten unterschiedlich sprechen kann: Die von Hobbes entwickelte pragmatische Texttheorie und seine Leidenschaftstheorie, die davon ausgeht, dass Leidenschaften wie Wahrnehmungsfilter wirken, lässt es zu, den Leviathan als eine Schrift zu deuten, die beides zugleich ist: eine Ermahnungsschrift an die Menge und eine Beratungsschrift für den Souverän. Es besteht also gar kein Zwang, sich zu entscheiden, welche Funktion der Leviathan denn nun wahrnehmen soll: Weil Menschen aufgrund ihrer verschiedenen Leidenschaften auf verschiedene Dinge in einem Text achten, kann der Text den einen Ermahnung und Warnung sein, und dem anderen Rat. Als Ermahnung und Warnung appelliert er beim Volk an die Leidenschaften und versucht, dieses zum Handeln anzutreiben. Und als Rat gibt der Leviathan dem Souverän Hinweise zum Machterhalt. Bereits die Veröffentlichung des Leviathan, die Hobbes dem Souverän ausdrücklich empfiehlt, stellt damit ein wirksames Mittel zum Machterhalt dar, weil die Schrift eine an verschiedene Leidenschaften appellierende Ermahnung zum Gesetzesgehorsam enthält. Hobbes’ bereits in der Einleitung gegebener Hinweis, dass seine Lehre keine andere „Beweisführung“ zulasse, als einen „Vergleich“ der eigenen Leidenschaften mit den von ihm vorgelegten Lesefrüchten, erfährt durch diese pragmatische Texttheorie also eine bestimmte inhaltliche Ausdeutung: Die von Hobbes’ in der Einleitung angegebene „Beweisführung“ entspricht damit dem, was in der modernen Argumentationstheorie auch als argumentum ad hominem bezeichnet wird. Nach Oswald Schwemmer handelt es sich bei einem argumentum ad hominem um eine Begründungs- bzw. Überredungsart, bei der sich der Argumentierende auf ungeprüfte Aussagen, die der jeweilige Kontrahent für wahr angenommen hat, beruft:247 Wer durch seine Fixierung auf das sinnlich-körperliche Leben zu der Meinung neigt, der Tod stelle das größte, um jeden Preis zu vermeidende Übel dar, wird sich – wenn er die Prämisse, dass ein staatenloser Zustand ein erhöhtes Todesrisiko mit sich bringt, plausibel findet, – leicht von der Schlussfolgerung überzeugen lassen, dass ein starker Staat, der gewaltsame Übergriffe eindämmen kann, eine sinnvolle Einrichtung ist. Ebenso kann er – wenn man ihm die Prämissen, dass fehlende Gesetzestreue den staatlichen Zustand rasch beenden oder dass der Staat Gesetzesübertritte im Zweifelsfall hart bestrafen wird, plausibel machen kann – leicht zu dem Ergebnis kommen, dass es sinnvoll ist, sich an Gesetze zu halten. 247 „Andere als Argumente bezeichnete Begründungs- bzw. Überredungsarten geben die Instanzen an, auf die der Argumentierende sich beruft: a. ad hominem: Argument aus ungeprüften Aussagen, die der jeweilige Kontrahent für wahr angenommen hat; dazu im Gegensatz a. ad rem, in dem alle benutzten Aussagen geprüft werden müssen, in dem also nicht die faktische Meinung des Kontrahenten, sondern allein ‚die Sache‘ zählt“ (Schwemmer 2004, 164).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

171

Wenn nach Hobbes’ eigener Auffassung der Zweck einer mit Metaphern ar­ beitenden und an Leidenschaften appellierenden Lehre nicht in der Mitteilung von Wahrheit, sondern in der Überredung zu einer bestimmten Form des Handelns besteht, liegt die These nahe, dass es sich beim kontraktualistischen Argument, das einen expliziten Appell an die Leidenschaften enthält, um eine solche Ermahnung und Warnung handelt, die eben keine Wahrheit mitteilen, sondern zu einem bestimmten Handeln  – dem Gesetzesgehorsam  – antreiben soll. Das „Argument“ des Gesellschaftsvertrages appelliert dabei, wie Hobbes an mehreren Stellen deutlich macht, in erster Linie an die körperlichen Leidenschaften der Todesfurcht und des sinnlichen Genusses:248 „Die Leidenschaften, die die Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können“ (LD 13, 98).

Aber kann man wirklich annehmen, ein Mensch, der gemeinhin als politischer Philosoph wahrgenommen wird, verfasse Texte, in denen zumindest Elemente vorhanden sind, die keinen Wahrheitsanspruch erheben? Dass Hobbes dies durchaus für möglich hält, macht er nicht nur im 25.  Kapitel deutlich, wenn er über die Nützlichkeit unwahrer Leidenschaftsappelle spricht. Vielmehr bestätigt er auch im achten Kapitel, in dem er über die Verstandestugenden spricht, nochmals ausdrücklich, dass es möglich und – je nach verfolgter Absicht – sinnvoll sein kann, Texte ohne Wahrheitsanspruch zu verfassen. Hobbes fährt im achten Kapitel fort in seiner Erläuterung der Unterscheidungskraft. Während die Urteilskraft darin bestand, von der eigenen Leidenschaft insoweit abstrahieren zu können, dass auch Dinge, die dem eigenen Zweck nicht unmittelbar dienen, als Mittel zur Erfüllung anderer Zwecke wahrgenommen werden können, definiert Hobbes die Unterscheidungskraft als die Fähigkeit zur Unterscheidung von Orten, Zeiten und Personen: „Und besonders im Gespräch und in geschäftlichen Angelegenheiten, bei denen Orte, Zeiten und Personen zu unterscheiden sind, wird diese Tugend Unterscheidungskraft genannt“ (LD 8, 53).

Wie wirkt sich diese „Unterscheidungskraft im Gespräch“ in demjenigen aus, der zu Menschen spricht? Die Unterscheidungskraft versetzt den Menschen, der sie besitzt, in die Lage – je nach dem Zweck, den er mit einem Gespräch verfolgt – zu Menschen unterschiedlich zu sprechen. Hobbes macht dies deutlich dadurch, dass er zunächst verschiedene Textgattungen, die verschiedenen Zwecken dienen, voneinander unterscheidet. Je nach dem Zweck der Rede ergibt sich für die verschiedenen Textgattungen eine bestimmte Mischung von Urteilskraft und Phan­ 248 Vgl. auch das elfte Kapitel: „Das Verlangen nach angenehmem Leben und sinnlichem Vergnügen veranlaßt die Menschen, einer allgemeinen Gewalt zu gehorchen, denn durch dieses Verlangen gibt man den Schutz auf, den man von eigener Anstrengung und Arbeit hätte erhoffen können. Furcht vor Tod und Mißhandlungen bewirkt aus dem gleichen Grund dasselbe“ (LD 11, 76).

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B. Die politische Logik des Körpers

tasie. Ebenso wie in seiner Unterscheidung von Ermahnung bzw. Warnung und Rat macht Hobbes dabei unmissverständlich deutlich, dass nicht alle Textgattun­ gen den gleichen Wahrheitsanspruch besitzen, sondern  – je nachdem, welcher Zweck mit der Rede verfolgt wird, – die Wahrheit eine unterschiedlichen Status in den jeweiligen Texten einnimmt: „Bei Lobreden und Schmähungen überwiegt die Phantasie, da die Absicht nicht auf Wahrheit, sondern auf Ehren und Entehren gerichtet ist. Dies geschieht durch rühmliche oder herabsetzende Vergleiche. […] Bei Ermunterungen oder Verteidigungen ist je nachdem, ob die Wahrheit oder Verstellung der gegenwärtigen Absicht am dienlichsten ist, die Urteilskraft oder die Phantasie am erforderlichsten. Bei Beweisführungen, Ratschlägen und jeder strengen Erforschung der Wahrheit bewerkstelligt die Urteilskraft alles, außer daß der Verstand bisweilen durch geeignete Vergleiche gewissermaßen geöffnet werden muß, und sodann ist die dazu erforderliche Phantasie zulässig“ (LD 8, 54).

Hobbes führt in dieser Unterscheidung verschiedener Textgattungen also nicht nur aus, dass es solche gibt, die mehr oder weniger an der Wahrheit orientiert sind, sondern auch, dass es Anlässe geben kann, bei denen man „sich verstellen“ müsste, d. h. bestimmte eigene Positionen verbergen müsste, wenn dies der gegenwärtigen Absicht am dienlichsten sei. Weil Hobbes also deutlich macht, dass er Textgattungen kennt und für sinnvoll hält, die keinen Wahrheitsanspruch haben, weil er es für nützlich hält, eine Menge durch Leidenschaftsappelle zu einem gewünschten Handeln anzutreiben und weil das kontraktualistische Argument mit seiner drastischen Schilderung des Naturzustandes an die Leidenschaften der Todesfurcht und des Genuss­strebens appelliert, liegt es durchaus nahe, zu behaupten, dass es sich beim kontraktualistischen Argument um einen solchen Leidenschaftsappell handele. Weil Hobbes die These vertritt, dass der Verstand des gemeinen Volkes einem weißen Blatt Papier gleiche, dem man alles erzählen könne und weil er des Weiteren behauptet, dass die verschiedenen Leidenschaften dazu führen, dass Menschen auf unterschiedliche Dinge in einem Text achten, kann auch die Tatsache, dass es sich beim Leviathan um eine veröffentlichte Schrift handelt, kein Problem für unsere bisherige Deutung hervorrufen. Die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments scheint also einfach dadurch erklärt werden zu können, dass es sich beim Leviathan um eine Ratgeberschrift für den Souverän handelt, in der zugleich ein Leidenschaftsappell an die Untertanen enthalten ist, den der Souverän für seinen Machterhalt benutzen kann. Dass dieser Leidenschaftsappell auf eine Weise funktioniert, die man als eine mehr adressaten- als sachorientierte Form der Argumentation näher charakterisieren und als argumentum ad hominem bezeichnen könnte, wird nicht nur durch Hobbes’ Hinweis auf die besondere Art der Beweisführung in der Einleitung nahegelegt. Darüber hinaus bestätigt Hobbes im Rückblick und Schluss ausdrücklich nicht nur die doppelte Zwecksetzung des Leviathan, sondern er beschreibt dort auch explizit ein argumentatives Vorgehen, welches „auf anerkannten Meinungen, seien sie nun wahr oder falsch, und auf den Leidenschaften oder Interessen der Menschen“

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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beruht.249 Wenn die Besonderheit der Menschen im Vergleich zu anderen Körpern darin besteht, dass sie leidenschaftsbewegte Körper sind, müssen die Leidenschaften als Bewegungsursache ernst genommen werden. An zahlreichen Stellen betont Hobbes, dass Menschen nicht durch bloßen äußeren Zwang bzw. Gewalt gelenkt werden können,250 und empfiehlt an solchen Stellen eine Art von Lehre, die – wie ein argumentum ad hominem  – von Dingen ausgeht, die die Gesprächspartner­ bereits für wahr halten.251 Ein weiteres mögliches Problem für unsere Deutung ergibt sich nun aber daraus, dass nicht alle Menschen die selben Leidenschaften besitzen bzw. von ihren Leidenschaften nicht auf die gleichen Dinge ausgerichtet werden und insofern auch nicht alle durch den gleichen Leidenschaftsappell zum gewünschten Handeln angetrieben werden können. Es muss also noch genauer danach gefragt werden, an wen sich das kontraktualistische Argument genau richtet und wer damit zu einem gewünschten Handeln angetrieben werden kann.

249 Dass es Texte gibt, die gleichzeitig unterschiedlichen Zwecken dienen können, macht Hobbes im „Rückblick und Schluß“ des Leviathan deutlich. Dort spricht er zunächst von zwei scheinbar entgegengesetzten Fähigkeiten – derjenigen des stichhaltigen Schließens und der­jenigen der Beredsamkeit. In diesem Zusammenhang wiederholt er ebenfalls die Unter­ schiede dieser zwei Fähigkeiten hinsichtlich ihrer Ausrichtung an der Wahrheit, in dem er deutlich macht, dass die eine auf der Wahrheit, die andere aber auf den Leidenschaften basiere. „Ferner ist bei allen Erwägungen und bei allen Verteidigungen die Fähigkeit des stichhaltigen Schließens notwendig: denn ohne diese sind die Entschlüsse der Menschen vorschnell und ihre Urteile ungerecht. Und doch: wenn keine machtvolle Beredsamkeit hinzutritt, die Aufmerksamkeit und Zustimmung bewirkt, so wird die Wirkung der Vernunft gering sein. Das sind aber entgegengesetzte Fähigkeiten, da die erstgenannte auf den Grundsätzen der Wahrheit beruht, die andere auf bereits anerkannten Meinungen, seien sie nun wahr oder falsch, und auf den Leidenschaften oder Interessen der Menschen, die unterschiedlich und veränderlich sind“ (LD Rückblick und Schluß, 535). Wenige Seiten später räumt Hobbes jedoch ein, dass diese beiden Fähigkeiten – Vernunft und Beredsamkeit – zwar nicht in den Naturwissenschaften, wohl aber in der Moral, also dem Gebiet, in das seine eigene Schrift fällt (vgl. LD 31, 281) sehr gut nebeneinander bestehen könnten: „Ebenso können Vernunft und Beredsamkeit – vielleicht nicht in den Naturwissenschaften, wohl aber in der Moral – sehr gut nebeneinander bestehen“ (LD Rückblick und Schluß, 536). 250 Vgl. auch die Ausführungen im lateinischen Leviathan: „[…] denn ich sehe wohl ein, daß die unter den Menschen herrschende Uneinigkeit […] nicht gewaltsam unterdrückt werden kann“ (LD 47, 534). 251 „Dies wird von unserem Heiland auch mit Fischfang verglichen, das heißt damit, Menschen zum Gehorsam zu bringen, und zwar nicht durch Zwang und Strafe, sondern durch Überzeugen. […] Ferner ist es Aufgabe der Diener Christi, die Menschen zum Glauben und Vertrauen in Christus zu führen. Glauben steht aber weder in Beziehung zu Zwang und Befehl, noch hängt er davon ab, sondern nur von der Gewißheit und Wahrscheinlichkeit vernunftgemäßer Argumente, oder von irgend etwas, woran Menschen bereits glauben“ (LD 42, 379 f., Hervorhebungen E. O.).

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B. Die politische Logik des Körpers

b) Adressaten und Nutznießer des kontraktualistischen Arguments aa) Die Verschiedenheit der Menschen und die Adressaten des kontraktualistischen Arguments Eine erste Antwort darauf, an welche Adressaten sich eine solche Ermahnung und Warnung richtet, gibt Hobbes bereits in seiner Erläuterung der Ermahnung und Warnung, wenn er dort auf die Folgen hinweist, die Menschen dazu bewegen können, auf eine Ermahnung oder Warnung zu hören: „Und deshalb berücksichtigen Mahner und Warner in ihren Reden bei der Darlegung ihrer Gründe die üblichen menschlichen Leidenschaften und Meinungen und verwenden Gleichnisse, Metaphern, Beispiele und andere Rednerkünste, um ihre Hörer davon zu über­zeugen, wie nützlich, ehrenhaft oder gerecht die Befolgung ihres Rats sei“ (LD 25, 197).

Der Nutzen, die Ehrenhaftigkeit und die Gerechtigkeit als Handlungsfolgen sind also diejenigen Dinge, die einen Menschen zum gewünschten Handeln an­ treiben sollen. Der Appell, sich an die Gesetze des Souveräns zu halten, wird bei Hobbes also durchaus verbunden mit einem Appell an die Gerechtigkeit. So formuliert das dritte natürliche Gesetz beispielsweise ausdrücklich, dass es sich um eine Ungerechtigkeit handelt, Verträge zu brechen  – genau so, wie es auch die rechtstheoretische Deutung herausgearbeitet hatte. Mit dem Begriff der Gerechtigkeit und dem Hinweis auf eine bestehende Verpflichtung, sich an abgeschlossene Verträge zu halten, wendet sich Hobbes allerdings wohl nur an die wenigen Edelmütigen, die von sich aus Betrug und den Bruch von Versprechen ablehnen, um ihre Lebensbedürfnisse zu befriedigen: „Das, was den menschlichen Handlungen den Charakter von Gerechtigkeit gibt, ist eine gewisse Vornehmheit oder ein gewisser Edelmut, die man selten antrifft und die einen Menschen darauf verzichten lassen, zu Betrug und Bruch von Versprechen zu greifen, um seine Lebensbedürfnisse zu befriedigen“ (LD 15, 114, Hervorhebungen E. O.).

Appelle an die Gerechtigkeit und an die Ehrenhaftigkeit funktionieren also bei den meisten Menschen nicht, wie Hobbes bereits an dieser Stelle deutlich macht. Diesen „gewissen Edelmut“ träfe man, wie Hobbes schreibt, selten an. Hobbes teilt also, wie an dieser Stelle erneut sichtbar wird, die Menschen nach unterschiedlichen Leidenschaften ein. Es gibt wenige Edelmütige, die Betrug und den Bruch von Versprechen ablehnen würden bzw. umgekehrt durch Appelle an Gerechtigkeit und Edelmut zum Handeln angetrieben werden können. Welches aber sind die Leidenschaften, die die meisten Menschen zum Handeln antreiben können? Oder – entsprechend der Formulierung, dass neben der Ehrenhaftigkeit und Gerechtigkeit der Nutzen eine adäquate Motivationsquelle für die Befolgung eines Rates sei – welche Art von Nutzen erhoffen sich die meisten Menschen? Auch darauf gibt Hobbes eine deutliche Antwort: Es gibt die wenigen edelmütigen Menschen und die vielen anderen, die Reichtum, Kommandogewalt und sinnlichen Vergnügen nachjagen:

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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„Da die Kraft von Worten, wie ich oben schon bemerkt habe, zu schwach ist, um die Menschen zur Erfüllung ihrer Verträge anzuhalten, gibt es in der menschlichen Natur nur zwei denkbare Hilfsmittel zu ihrer Stärkung, und diese sind einmal die Furcht vor den Folgen eines Wortbruches, oder aber das Gefühl des Ruhms oder Stolzes, als jemand dazustehen, der einen Wortbruch nicht nötig hat. Dieser letzte Fall ist ein Edelmut, den man zu selten antrifft, als daß er vorausgesetzt werden könnte, ganz besonders bei Leuten, die Reichtum, Kommandogewalt und sinnlichen Vergnügen nachjagen, und dies ist der größte Teil der Menschheit“ (LD 14, 108, Hervorh. E. O.).

Nun scheint es zwar auf den ersten Blick so, als ob all diese Menschen mit ihren verschiedenen Leidenschaften, die auf Reichtum, Kommandogewalt und sinnliche Vergnügen gerichtet sind, durch den Hinweis auf die fürchterlichen Folgen eines Vertragsbruchs von einem solchen abgehalten werden können, wenn ­Hobbes schreibt: „Die Leidenschaft, auf die man zählen kann, ist die Furcht, die zwei sehr allgemeine Dinge zum Gegenstand hat: einmal die Macht unsichtbarer Geister und sodann die Macht der Menschen, die der Vertragsbruch schädigt“ (LD 14, 108, Hervorhebungen E. O.).

Nach der allgemeinen Feststellung, dass man sich auf die Leidenschaft der Furcht verlassen könne und der Ausdifferenzierung in zwei verschiedene Arten von Furcht präzisiert Hobbes jedoch seine These von der Leistungsfähigkeit der Furcht: Die Furcht vor der Macht anderer Menschen erweist sich zwar meistens als stärker denn die Furcht vor unsichtbaren Geistern. Gerade aufgrund dieser Stärke sei es nützlicher, sich auf die Furcht vor der Macht von Menschen zu verlassen.252 Auch auf diese Leidenschaft, die aufgrund ihrer Stärke die verlässlichste ist, kann man jedoch nicht bei allen Menschen bauen: Hobbes gibt sogleich zu verstehen, dass auch diese Furcht nicht alle Menschen gleichermaßen von einem Vertragsbruch abhalten würde. Er macht deutlich, daß die Furcht vor der Macht anderer Menschen nicht in allen Menschen gleich stark ausgeprägt wäre: Hobbes führt eine Teilung der Menschen ein in solche, die nach Macht streben und im Naturzustand kampfbereit sind und in solche, die das weniger stark tun und eher am Schutz ihres Überlebens interessiert wären: „[…] einmal die Macht unsichtbarer Geister und sodann die Macht der Menschen, die der Vertragsbruch schädigt. Obwohl die erste die größere Macht ist, so ist doch die Furcht vor der zweiten gewöhnlich die größere Furcht. Die Furcht vor der ersten Macht ist die eigene Religion jedes Menschen, die schon vor der bürgerlichen Gesellschaft in der Natur des Menschen angelegt ist. Auf die zweite Macht trifft dies nicht zu, sie hat mindestens nicht genügend Gewicht, um die Menschen an ihre Versprechen zu binden, da im reinen Naturzustand die Ungleichheit der Macht nur an dem Ausgang eines Kampfes festgestellt wird“ (LD 14, 108, Hervorhebungen E. O.).

252

Dass Hobbes diejenigen Menschen, die eher durch die Furcht vor unsichtbaren Geistern bewegt werden, als gravierendes Problem für den Gesetzesgehorsam betrachtet, und auch für diese einen entsprechenden Leidenschaftsappell entwirft, wird im Kapitel B. III. 2. c) aa) näher ausgeführt.

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B. Die politische Logik des Körpers

Durch den Hinweis, dass die Furcht vor anderen Menschen nicht in allen Menschen gleich stark ausgeprägt ist, führt Hobbes also eine nochmalige Trennung der Vielen ein: Offensichtlich kann Furcht vor der Macht anderer Menschen nicht alle Menschen gleichermaßen motivieren. Wer aber kann durch diese Furcht motiviert werden, und wer nicht? Auf diese Frage antwortet Hobbes im elften Kapitel. Dort teilt er „den größten Teil  der Menschheit“, der Reichtum, Kommandogewalt und sinnlichen Vergnügen nachjagt, nochmals auf. Es ergibt sich eine Zweiteilung in Menschen, die nach Macht streben und Menschen, die nach sinnlichen Vergnügen bzw. dem Überleben als Bedingung des Genusses streben. Völlig in Übereinstimmung mit den Ausführungen am Ende des 13. Kapitels, wo Hobbes angekündigt hatte, dass die Lösung des Problems des Naturzustandes in den Leidenschaften liege,253 verkündet Hobbes im elften Kapitel, in dem er „die Eigenschaften der Menschheit, die ihr Zusammenleben in Frieden und Eintracht betreffen“, untersucht, dass es das Genussstreben und die Todesfurcht wären, die die Menschen bereit dazu machen würden, sich einer allgemeinen Gewalt zu unterwerfen.254 Auf der anderen Seite stehen dagegen Menschen, die nach Macht in einer ihrer vielen verschiedenen Ausprägungen streben. Diese Leidenschaft mache die Menschen, so führt Hobbes an dieser Stelle aus, nicht dem Frieden zugewandt, sondern im Gegenteil kampfbereit. Solche Menschen wären nicht bereit, einer allgemeinen Gewalt zu gehorchen, sondern würden notwendigerweise versuchen, sich andere Menschen zu unterwerfen, diese zurückzudrängen oder sogar zu töten: „Wetteifer um Reichtum, Ehre, Befehlsgewalt oder eine andere Macht führt zu Streit, Feindschaft und Krieg, da der Weg des einen Bewerbers zur Erlangung seines Wunsches dazu führt, den anderen zu töten, zu unterwerfen, zu verdrängen oder zurückzuwerfen“ (LD 11, 76, Hervorhebungen E. O.).

Durch ihre Furcht vor dem Tod und den kargen Lebensbedingungen, die der Naturzustand bereithalten würde, sind diejenigen Menschen, die ängstlicher und vor allem am körperlichen Überleben und Genuss interessiert sind, also geeignete Adressaten des kontraktualistischen Arguments. Dieses appelliert durch die drastische Schilderung des zivilisationslosen und gefährlichen Naturzustandes an die Leidenschaften der Todesfurcht und des Genussstrebens. Die Menschen unterscheiden sich also hinsichtlich ihrer Leidenschaften, was dazu führt, dass sich nur Menschen mit bestimmten Leidenschaften vom kontraktualistischen

253 „Die Leidenschaften die die Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können“ (LD 13, 98). 254 „Das Verlangen nach angenehmem Leben und sinnlichen Vergnügen veranlaßt die Menschen, einer allgemeinen Gewalt zu gehorchen, denn durch dieses Verlangen gibt man den Schutz auf, den man von eigener Anstrengung und Arbeit hätte erhoffen können. Furcht vor Tod und Mißhandlungen bewirkt aus dem gleichen Grund dasselbe“ (LD 11, 76, Hervorhebungen E. O.).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Argument und dessen Appellen an die Todesfurcht und das Genussstreben überzeugen lassen werden.255 Was aber ist mit den anderen Menschen, die nach Macht in einer bestimmten Ausprägungsform streben? Wenn der Souverän diese durch das kontraktualistische Argument und die darin enthaltenen Appelle an das Genussstreben und die Todesfurcht nicht überzeugen kann, was könnte diese dann dazu motivieren, den 255 In der Hobbes-Forschung wurde vielfach registriert, dass Hobbes sich wenig Mühe gebe, seine These vom Tod als höchstem Übel ausführlich zu begründen und moniert, dass dies angesichts der Zentralität der Prämisse für das kontraktualistische Argument eine fundamentale „Schwäche der Argumentation“ sei. Vgl. für diese Einschätzung Dix 1993, 79ff: „Die Notwendigkeit der Flucht des Menschen vor dem drohenden gewaltsamen Tod läßt sich aus ­Hobbes’ Theorie der Entstehung der menschlichen Handlung nicht begründen. […] Anzumerken bleibt: Hobbes hat diese Schwäche seiner Argumentation auch selbst gesehen. Denn er formuliert […] nicht die Pflichtenfreiheit in Hinblick auf alle Untertanen, sondern nur in Hinblick auf die, die zur Hinnahme des Todes nicht stark genug sind.“ Dieser Umstand lässt sich mit unserer Deutung, wonach es sich beim kontraktualistischen Argument um ein argumentum ad hominem handelt, welches an Leidenschaften appelliert und mit Prämissen arbeitet, die von den Kontrahenten, d. h. den meisten Menschen als wahr angenommen werden, sehr leicht erklären: Wenn die meisten Menschen immer schon glauben, dass der Tod das größte Übel ist (oder ohne größeren Aufwand veranlasst werden können, das zu glauben), können sie auf dieser Basis durch ein argumentum ad hominem leicht überzeugt werden. Mit Dix hält unsere körpertheoretische Rekonstruktion des kontraktualistischen Arguments die Todesfurcht aber für einen zentralen Bestandteil von Hobbes’ Argument: „Die Furcht vor dem gewalt­samen Tod ist aber nach dem eindeutigen Textbefund in den Werken Hobbes’ ein nicht hinwegzudenkender Bestandteil der Staatsphilosophie Hobbes’. Trotz mangelnder theoretischer Begründung kann sie nicht aus ihrer zentralen Stellung für Hobbes’ System entfernt werden.“ (Dix 1993, 79) Lloyd bestreitet dagegen die zentrale Stellung der Todesfurcht in Hobbes’ Argument. Gerade weil sie wiederholt mit quantitativen Argumenten arbeitet (sie verteidigt ihre transcendental-interests-Deutung mit dem Argument, dass die religiösen Ausführungen mehr als die Hälfte des Textes einnehmen würden), müsste sie den Textbefund, d. h. die zahlreichen Stellen, an denen Hobbes vom Körper und der Todesfurcht spricht, ernst nehmen. Ihre eigene Deutung, dass Hobbes seiner politischen Philosophie keine anthropologische These über die Stärke der Todesfurcht zu Grunde legt, kann Lloyd nur auf Basis der Vermutung aufrecht­erhalten, dass Hobbes, wenn er von natürlichen Leidenschaften spricht, gar nicht darauf abzielt, etwas Wahres über die menschliche Natur zu sagen. Vgl. Lloyd 2009, 62: „But if, despite these difficulties, we attribute to Hobbes the view that people are, by nature, overridingly averse to violent death at the hand of others in their own community, we must offer some explanation of why this particular desires should be acknowledged as natural. My own suggestion, developed in Chapter 5, is that it will make sense to call it natural insofar as we believe that people should not be faulted for acting on it.“ Vgl. ebenso Lloyd 2009, 67: „There is yet a third reason to reject any claim that Hobbes’s attribution to men of an overriding natural desire for self-preservation can serve as the foundation of a political philosophy intended to motivate men as they really are […].“ Die mögliche Vereinbarkeit von rechtstheoretischer und körpertheoretischer Perspektive ergibt sich daraus, dass diese verschiedenen Elemente des kontraktualistischen Arguments auf verschiedene Adressaten bzw. verschiedene Leidenschaften zielen: Die These, dass sich die Menschen nach Hobbes in ihrer Leidenschaftsstruktur unterscheiden, ermöglicht es, die an sich gegensätzlich scheinenenden Theorieelemente zu erklären: Dass sich die meisten Menschen durch den Appell an die Todesfurcht von der Notwendigkeit des Gehorsams überzeugen lassen werden, lässt sich mit der These, dass es wenige Edelmütige gibt, die sich durch rechtslogische Argumente überzeugen lassen, durchaus vereinbaren.

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B. Die politische Logik des Körpers

Souverän zu unterstützen und sich an dessen Gesetze zu halten? Eine Antwort auf diese Frage gibt Hobbes wiederum im dritten und im achten Kapitel, in dem er den Zusammenhang von Leidenschaften und Verstandesfähigkeiten ausbuchstabiert und daraus eine Möglichkeit entwickelt, wie sich Menschen mit bestimmten Leidenschaften an anderen Menschen, bei denen diese Leidenschaften fehlen oder zumindest schwächer ausgeprägt sind, bereichern können. Im dritten Kapitel, in dem Hobbes über die Reihenfolge der Gedanken spricht, unterscheidet er grundsätzlich zwischen dem ungeregelten und dem geregelten Gedankengang. Die im achten Kapitel bemühte Unterscheidung zwischen nur instrumenteller Vernunft, die in der Lage ist, Mittel für ein vorgegebenes Ziel zu erkennen, und einer freieren Vernunft, die in der Lage ist, auch bisher fremde Dinge hinsichtlich ihres möglichen Mittelcharakters für verschiedene Zwecke zu prüfen, taucht auch an dieser Stelle auf. Hobbes bestätigt an dieser Stelle ebenfalls, dass die Unterschiede dieser zwei Verstandesgaben auf die Verschiedenheit von Leidenschaften zurückgehen, ohne allerdings diejenigen Leidenschaften, die die überlegene Verstandesfähigkeit bewirken, hier explizit zu nennen. Es wird nur negativ davon gesprochen, dass diese Art von Neugier nicht von den sinnlichen Trieben hervorgebracht werden könnte: „Der geregelte Gedankengang besteht aus zwei Arten. Die eine liegt vor, wenn wir nach den Ursachen einer eingebildeten Wirkung oder den Mitteln, die sie hervorbringen, suchen, und dies ist Mensch und Tier gemeinsam. Die andere Art liegt vor, wenn wir bei der Einbildung eines beliebigen Dings nach allen möglichen Wirkungen suchen, die damit hervor­ gebracht werden können. Das heißt, wir stellen uns vor, was wir damit tun können, wenn wir es haben. Anzeichen von dieser Denkweise habe ich ausschließlich beim Menschen gefunden. Denn es handelt sich dabei um eine Neugier, die kaum zu der Natur eines Lebe­ wesens gehören kann, das nur sinnliche Triebe wie Hunger, Durst, Geschlechtstrieb und Wut besitzt“ (LD 3, 20 f., Hervorhebungen E. O.).

Folgt der Leser jedoch Hobbes’ entsprechenden Ausführungen im achten Kapitel weiter, so werden dort diejenigen Leidenschaften genannt, die diese Verstandesunterschiede bewirken. Er wiederholt zunächst den allgemeinen Zusammenhang, wonach sich Menschen hinsichtlich ihrer Leidenschaften unterscheiden und wonach es die Leidenschaften sind, die die Verstandesunterschiede bewirken.256 Anschließend kommt er auf diejenigen Leidenschaften zu sprechen, die diese Verstandesunterschiede bewirken: Es sei, so behauptet Hobbes an dieser Stelle, vor allem das verschieden starke Verlangen nach Macht, welches Verstandesunterschiede bewirke. Weil die Gedanken nur Kundschafter und Spione der Wünsche wären, wären es vor allem die Menschen mit einem sehr starken Wunsch nach Macht, die verständiger als andere wären. Wer keine starke Leidenschaft für Macht im Allgemeinen, oder für Reichtum, Wissen oder Ehre, die nur spezielle 256 „Die Gründe für diese Verstandesunterschiede liegen in den Leidenschaften, und die Verschiedenheit der Leidenschaften kommt teils von der verschiedenartigen Körperbeschaffenheit und teils von der verschiedenen Erziehung“ (LD 8, 55 f., Hervorhebungen E. O.).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Ausprägungsformen von Macht wären, habe, könne zwar ein guter Mensch sein, insofern er keinen Anlass für Streit gebe.257 Aber nur starke Leidenschaften nach Macht, Reichtum, Wissen oder Ehre würden dazu führen, dass man verständiger wäre als andere Menschen und daher den Weg zu den von einem selbst gewünschten Dingen schnell fände: „Die Leidenschaften, die am stärksten von allen die Verstandesunterschiede bewirken, sind hauptsächlich das mehr oder weniger starke Verlangen nach Macht, Reichtum, Wissen und Ehre. Sie können alle auf das erste, nämlich auf das Verlangen nach Macht, zurückgeführt werden. Denn Reichtum, Wissen und Ehre sind nur verschiedene Arten von Macht. Und deshalb kann ein Mensch, der keine große Leidenschaft für jedes dieser Dinge empfindet, der, wie man sagt, gleichgültig ist, unmöglich eine große Phantasie oder viel Urteilskraft haben, obwohl er insofern ein guter Mensch sein mag, als er keinen Anlaß zu Streit gibt. Denn die Gedanken sind gleichsam die Kundschafter und Spione der Wünsche, die das Gelände erkunden und den Weg zu den gewünschten Dingen finden sollen – alle Beständigkeit und Schnelligkeit der Bewegung des Geistes rühren daher“ (LD 8, 56, Hervorhebungen E. O.).

Die Menschen werden von Hobbes also eingeteilt in solche, die größere Verstandesgaben haben und solche, die geringere Verstandesgaben haben. Der Unterschied liegt in den jeweils dominierenden Leidenschaften und deren Stärke: Während Menschen, die nur oder ausschließlich sinnliche Triebe hätten oder bei denen diese zumindest dominieren würden, zu bestimmten Verstandesleistungen nicht in der Lage wären, gebe es andere, die eine starke und dominierende Leidenschaft nach Macht in sich trügen und die deshalb mehr zweckdienliche Mittel und diese auch schneller als andere finden würden.258 Die Fähigkeit, sich vorzustellen, was 257 Hobbes hat vermutlich die im sechsten Kapitel gegebene Definition von Gutmütigkeit im Sinn, vgl. dazu weiter unten in diesem Kapitel. 258 Die These von der auf den unterschiedlichen Leidenschaften basierenden verschiedenen Verstandesfähigkeit formuliert Hobbes auch in den Elements of Law, wo er unvergleichlich offen die Dummheit der nur den sinnlichen Begierden folgenden Menschen formuliert: „Die Verschiedenheit der Verstandeskräfte hat daher ihren Ursprung in den verschiedenen Affekten und in den Zielen, zu denen ihr Verlangen sie führt. 3. Es müssen also die Menschen, deren Ziel irgendein sinnliches Vergnügen ist und die sich gewöhnlich mit Bequemlichkeit, Nahrung und den Be- und Entlastungen ihres Leibes befassen, infolgedessen weniger Wert auf die Vorstellungen legen, die solche Ziele nicht vor Augen haben, wie z. B. die Vorstellung von Ehre und Ruhm, die, wie ich vorher gesagt habe, sich auf die Zukunft beziehen: denn die Sinnlichkeit besteht in Sinnesfreude, die nur den augenblicklichen Genuß kennt und von der Neigung absieht, sich um Dinge zu kümmern, die Ehre bringen; sie macht daher die Menschen weniger wißbegierig und ehrgeizig, so daß die Wege zum Wissen oder anderer Macht für sie weniger in Betracht kommen; in welchen beiden aber die ganze Überlegenheit des Erkenntnisvermögens besteht. Dies nennen die Menschen Dummheit, und sie entsteht aus dem Verlangen nach sinnlichem oder leiblichem Genuß. Und man kann wohl annehmen, daß dieser Affekt von der groben Beschaffenheit und Bewegungsträgheit der Lebensgeister in der Gegend des Herzens herrührt“ (ELD I, 10, 2–3, 78 f.). Für die englische Begrifflichkeit vgl. die Textstelle im Original: „The difference therefore of wits hath its original from the different passions, and from the ends to which their appetite leads them. 3. And first, those men whose ends are some sensual delight […] less consider either the way to knowledge or to o­ ther power; in which two consisteth all the excellency of power cognitive. And this is it which men call Dulness […]“ (EL I, 10, 2–3, 49 f.).

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B. Die politische Logik des Körpers

sich mit bestimmten Dingen tun lässt und wie ganz unterschiedliche Dinge verwendet werden können, um die eigene Macht zu vergrößern, besitzen nur diejenigen Menschen, die nicht von ihren sinnlichen Begierden so gebunden sind, dass sie andere Dinge gar nicht wahrnehmen können,259 sondern die eine starke, auf Machterwerb gerichtete Leidenschaft haben.260 259

Hobbes scheint zwar an der genannten Stelle im dritten Kapitel zu behaupten, dass der Mensch sich vom Tier durch diese Verstandesfähigkeit unterscheidet und also alle Menschen diese Fähigkeit zur besonderen, machtgeleiteten, instrumentellen Vernunft besäßen. Nur der Mensch könne danach fragen, was er mit einem bestimmten Ding tun könne und also sich selbst als eine Ursache begreifen, die gewünschte Wirkungen hervorbringen kann: „Der geregelte Gedankengang besteht aus zwei Arten. Die eine liegt vor, wenn wir nach den Ursachen einer eingebildeten Wirkung oder den Mitteln, die sie hervorbringen, suchen, und dies ist Mensch und Tier gemeinsam. Die andere Art liegt vor, wenn wir bei der Einbildung eines beliebigen Dings nach allen möglichen Wirkungen suchen, die damit hervorgebracht werden können. Das heißt, wir stellen uns vor, was wir damit tun können, wenn wir es haben. Anzeichen von dieser Denkweise habe ich ausschließlich beim Menschen gefunden. Denn es handelt sich dabei um eine Neugier, die kaum zu der Natur eines Lebewesens gehören kann, das nur sinnliche Triebe wie Hunger, Durst, Geschlechtstrieb und Wut besitzt“ (LD 3, 20 f., Hervorhebungen E. O.). Durch eine Formulierung im achten Kapitel geht jedoch deutlich hervor, dass Hobbes durchaus annimmt, dass diese Leidenschaft und damit verbundene Verstandesfähigkeit bei den meisten Menschen schwach ausgeprägt sei. Der Grund dafür, warum die Juden einer Irrmeinung über die Entstehung des Wahnsinns unterlägen, sei eine weit verbreitete menschliche Tendenz, nämlich diejenige, aufgrund der Stärke ihrer sinnlichen Leidenschaften nicht dazu in der Lage zu sein, nach natürlichen Ursachen zu suchen: „Wie konnten dann die Juden zu dieser Meinung von Besessenheit kommen? Ich kann mir keinen anderen Grund außer dem vorstellen, der allen Menschen gemeinsam ist, nämlich daß sie es an Neugierde fehlen ließen, nach natürlichen Ursachen zu suchen, und daß sie die Glückseligkeit im Erlangen grober Sinnesfreuden und diesen Dingen ansahen, die am unmittelbarsten dazu führen“ (LD 8, 60). 260 Ich stimme in dieser Hinsicht überein mit Strauss’ These, dass Hobbes’ Lehre vom Menschen als eines kausal denkenden, machtbewussten Lebewesens eine zentrale Grundlage der politischen Philosophie von Hobbes darstellt: „According to Hobbes, the only peculiarity of man’s mind, is the faculty of considering phenomena as causes of possible effects, as distinguished from the faculty of seeking the causes or means that produce ‚an effect imagined‘, the latter faculty being ‚common to man and beast‘: not ‚teleological‘ but ‚causal‘ thinking is peculiar to man. […] On the other hand, Hobbes is able to deduce from his definition of man his characteristic doctrine of man: man alone can consider himself as a cause of possible effects, i. e. man can be aware of his power; he can be concerned with power; he can desire to possess power; he can seek confirmation for his wish to be powerful by having his power recognized by others […]“ (Strauss 1959, 176). Gegen Strauss kommt unsere Interpretation aber zu dem Ergebnis, dass zum Verständnis von Hobbes’ politischer Philosophie die Verschiedenheit des menschlichen Machtstrebens zentral ist, die dazu führt, dass die meisten Menschen, bei denen die sinnlichen Leidenschaften dominieren, hinsichtlich ihrer Verstandeskräfte eher den Tieren gleichen und deshalb von den machtgierigen Menschen leicht ausgenutzt werden können. Vgl. Strauss 1977, 208 n.44: „Der Glaube an die Aussichten für die öffentliche Aufklärung […] fußt auf der Ansicht, daß die natürliche Ungleichheit der Menschen in Bezug auf geistige Gaben unbeträchtlich ist […]. Was Hobbes von der Aufklärung erwartete, scheint in Widerspruch zu seinem Glauben an die Macht der Leidenschaft und besonders des Stolzes und des Ehrgeizes zu stehen. […] wenn die ‚gemeinen Leute‘ […] in angemessener Weise erzogen werden, dann wird der Ehrgeiz und die Habsucht der wenigen machtlos werden.“

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Gegen unsere These von der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften scheint auf den ersten Blick zu sprechen, dass Hobbes das Streben nach Macht als einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit charakterisiert. Zwar würden sich alle Menschen darin gleichen, dass sie nicht nur genießen, sondern auch ihren zukünftigen Genuss sichern wollten. Hobbes berühmte Definition der Glückseligkeit als Fortschreiten von Begierde zu Begierde führt von selbst zur Logik der Machtanreicherung: „Glückseligkeit ist ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen, wobei jedoch das Erlangen des einen Gegenstandes nur der Weg ist, der zum nächsten Gegenstand führt. Der Grund hierfür liegt darin, daß es Gegenstand menschlichen Verlangens ist, nicht nur einmal und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu genießen, sondern sicherzustellen, daß seinem zukünftigen Verlangen nichts im Wege steht. Und deshalb gehen die willentlichen Handlungen und Neigungen aller Menschen nicht nur darauf aus, sich ein zufriedenes Leben zu schaffen, sondern auch darauf, es zu sichern“ (LD 11, 75).

Die Zukunftsorientierung scheint also zunächst – wie Hobbes es an dieser Stelle auch ausführt – zur Folge zu haben, dass alle Menschen zur Sicherung des zufriedenen Lebens zusätzliche Macht anhäufen müssen und wollen.261 Unsere These von der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften scheint also zunächst schlecht aufrechterhalten werden zu können, wenn Hobbes das Streben nach Macht als einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit charakterisiert. Dennoch betont Hobbes auch an dieser Stelle die Differenzen zwischen den menschlichen Leidenschaften und benennt diese als Grund dafür, dass Menschen unterschiedliche Wege suchen, sich ihr angenehmes Leben zu sichern: „Und deshalb gehen die willentlichen Handlungen und Neigungen aller Menschen nicht nur darauf aus, sich ein zufriedenes Leben zu schaffen, sondern auch darauf, es zu sichern. Sie unterscheiden sich nur im Weg: dies kommt teils von der Verschiedenheit der Leidenschaften bei verschiedenen Menschen, teils von ihren unterschiedlichen Kenntnissen oder Meinungen, die jeder einzelne von den Ursachen hat, die die begehrten Wirkungen hervorbringen“ (LD 11, 75, Hervorhebungen E. O.).

Unsere Deutung, dass Hobbes die Menschen nach ihren Leidenschaften in Menschen mit höheren und geringeren Verstandeskräften, gehorsamsbereitere und kampfbereitere Menschen einteilt, erfährt also durch die Textbelege des elften Kapitels zusätzliche Plausibilität. So würden sich die Menschen zwar darin gleichen, ihr zukünftiges zufriedenes Leben sichern zu wollen. In der Wahl des Mittels würden sie sich dagegen – jeweils auch abhängig davon, was jeweils unter einem zu 261 „So halte ich an erster Stelle ein fortwährendes und ratsloses Verlangen nach immer neuer Macht für einen allgemeinen Trieb der gesamten Menschheit, der nur mit dem Tode endet. Und der Grund hierfür liegt nicht immer darin, daß sich ein Mensch einen größeren Genuß erhofft als den bereits erlangten, oder daß er mit einer bescheidenen Macht nicht zufrieden sein kann, sondern darin, daß er die gegenwärtige Macht und die Mittel zu einem angenehmen Leben ohne den Erwerb von zukünftiger Macht nicht sicherstellen kann“ (LD 11, 75).

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friedenen Leben verstanden werde – unterscheiden. Und auch das Naturzustandskapitel hält weitere Plausibilitätsbelege für unsere These von der Verschiedenheit des Machtstrebens bereit, insofern hier ausdrücklich davon gesprochen wird, dass nicht alle Menschen gleichermaßen und gleich stark nach Macht streben.262 Für unseren Zusammenhang, in dem wir basierend auf der Hypothese des Beratungshandbuches versuchen, den Status des kontraktualistischen Arguments zu klären, ist relevant, dass Hobbes diese leidenschaftsbasierten Unterschiede zwischen Menschen mit einer Theorie des Wahnsinns verbindet und in diesem Kontext behauptet, dass diejenigen Menschen, die über stärkere Leidenschaften (und demnach Verstandeskräfte)  verfügen, dies nicht immer offen mitteilen wollen. Nach Hobbes kann die Eigenschaft, stärkere Leidenschaften zu besitzen als andere Menschen dies gewöhnlich tun, als Wahnsinn bezeichnet werden: „Denn wie keine Wünsche haben tot sein bedeutet, so sind schwache Leidenschaften Trägheit, Leidenschaften, die unterschiedslos auf alles gerichtet sind, Leichtsinn und Zerstreutheit, und stärkere und heftigere Leidenschaften für etwas, als man gewöhnlich bei anderen findet, Wahnsinn“ (LD 8, 56).263

Hobbes führt im gleichen Zusammenhang aus, dass Menschen ihre stärkeren Leidenschaften nicht immer öffentlich zeigen wollen, um nicht für wahnsinnig gehalten zu werden. In der Erläuterung des Zusammenhangs zwischen Leidenschaften und Wahnsinn vertritt Hobbes erneut die These, dass sich Menschen in ihren dominierenden Leidenschaften unterscheiden: Je nach ihrer dominierenden Leidenschaft würde der Wein, der die Wirkung der Leidenschaften generell verstärkt, dazu führen, dass diese Leidenschaften deutlicher gesehen würden. ­Hobbes deutet in der Erläuterung seiner Theorie des Wahnsinns jedoch auch an, dass es Men 262

„Auch weil es einige gibt, denen es Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben, könnten andere, die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden, sich durch bloße Verteidigung unmöglich lange halten, wenn sie nicht durch Angriff ihre Macht vermehrten.“ (LD 13, 95) Analog zur Einteilung der Menschen solche, die von ihren unmittelbaren sinnlichen Begierden gefesselt sind und solche, die stärker als andere nach Macht streben, werden die bescheidenen, nach Behaglichkeit strebenden Menschen auch als solche charakterisiert, deren Absicht „grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuß“ (LD 13, 95) ist. Auch an zahlreichen anderen Stellen findet sich also unsere Rekonstruktion der Einteilung der Menschen in solche, für die Glückseligkeit im Erlangen unmittelbarer sinnlicher Genüsse besteht und solche, die ein ausgeprägtes Machtstreben haben und für die Glückseligkeit vor allem in der Wahrnehmung des eigenen Machtzuwachses besteht, wobei sich weitere Unterschiede hinsichtlich der Art der Macht – Reichtum, Wissen oder Ehre – ergeben. 263 Hobbes verwendet an dieser Stelle den Begriff madness: „For as to have no Desire, is to be Dead: so to have weak Passions, is Dulnesse; and to have Passions indifferently for every thing, Giddinesse, and Distraction, and to have stronger, and more vehement Passions for any thing, than is ordinarily seen in others, is that which men call Madnesse“ (L 8, (35) 110). Dieser Begriff scheint uns deshalb relevant zu sein, weil Hobbes in einem ähnlichen Zusammenhang an das semantische Wortfeld von Verrücktheit (madness) bzw. Narrheit ( foolishness) anknüpft. Vgl. dazu den Fortgang dieses sowie des nächsten Kapitels.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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schen mit starken Leidenschaften gebe, die diese vor anderen Menschen verbergen und sich verstellen wollten. Menschen wollen bestimmte, eitle und aus­gefallene Gedanken lieber für sich behalten und verstellen sich, damit ihre Mitmenschen diese nicht bemerken: „Daß Wahnsinn nichts anderes ist als eine zu sehr in Erscheinung tretende Leidenschaft, kann ferner aus den Wirkungen des Weines ersehen werden, welche dieselben sind wie die einer schlechten Organverfassung. Denn die Mannigfaltigkeit des Benehmens von Leuten, die zuviel getrunken haben, ist dieselbe wie die von Wahnsinnigen: die einen toben, die anderen lieben, wieder andere lachen, und das alles in außergewöhnlichem Maße, aber ihren verschiedenen überwiegenden Leidenschaften entsprechend. Denn die Wirkung des Weines beseitigt nur die Verstellung und läßt einen die Unförmigkeit seiner Leidenschaften nicht mehr sehen. Denn ich nehme an, daß die nüchternsten Leute auf einsamen, von jeder geistigen Arbeit unbeschwerten Spaziergängen es nicht gerne wollten, daß die Eitelkeit und Ausgefallenheit ihrer Gedanken zu dieser Zeit öffentlich gesehen werden könnten. Dies ist ein Eingeständnis, daß ungelenkte Leidenschaften zum größten Teil reiner Wahnsinn sind“ (LD 8, 58, Hervorhebungen E. O.).

Welches aber sind Gedanken, die Menschen mit einer ausgeprägten Machtgier vor anderen Menschen geheim halten wollen? Wenden wir uns zur Beantwortung dieser Frage zurück zu Hobbes’ angeblichen Definitionsbemühungen verschiedener Verstandestugenden. Hobbes hatte zu Beginn des Kapitels eine instrumentelle Vernunft eingeführt, die er Vorstellungskraft genannt hatte und die Menschen und Tiere gleichermaßen besäßen, und eine davon verschiedene Urteils- bzw. Unterscheidungskraft, die nur wenige Menschen besäßen. Durch die entsprechende Charakterisierung der Unterscheidungskraft als Fähigkeit, auf verschiedene Dinge zu achten und nicht durch das vorgegebene Ziel so gebunden zu sein, wurde deutlich, dass diese Fähigkeit im Streben nach Macht bzw. dem Macht­bewusstsein begründet liegt. In der Erläuterung dieser Urteils- und Unterscheidungskraft – die von Hobbes auch als discretion bezeichnet wurde, – kommt ­Hobbes nun auch auf geheime Gedanken der Menschen zu sprechen – also genau auf das, was Wahnsinnige, d. h. Menschen mit einer starken Leidenschaft nach Macht, möglicherweise geheim halten wollen: Unmittelbar nach der – durch eine Erläuterung der Unterscheidungskraft motivierten  – Theorie verschiedener Textgattungen, die durch ihren Wahrheitsgehalt unterschieden werden können, fährt Hobbes fort, weiter zu erläutern, wie sich die Unterscheidungskraft (discretion) in mündlicher und schriftlicher Rede auswirken kann. Sie befähige einen Sprecher und Schreiber nicht nur dazu, rhetorische Mittel je nach dem Zweck der Rede gezielt einzusetzen, sondern auch, zu entscheiden, wem er wie offen seine geheimen Gedanken anvertraut – und, wir ergänzen, wann „Verstellung der eigenen Absicht am dienlichsten ist“. Während ein Anatom oder Arzt ganz offen über unreine Dinge sprechen könne, führt Hobbes aus, könne dies bei einem anderen Anstoß erregen oder sogar zu weiteren Konsequenzen führen. Gerade im Gottesdienst, in der Öffentlichkeit oder vor unbekannten Personen sei es dann eine Möglichkeit, geheime Gedanken mitzuteilen dadurch, dass man doppelsinnige Wörter und Wortspiele verwende, die als Torheit ausgelegt werden würden:

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„Die geheimen Gedanken der Menschen befassen sich mit allen Dingen, ob heilig, profan, rein, obszön, schwer oder leicht, ohne Scham oder Schuldgefühl. Im Gespräch kann man dabei nicht weiter gehen als es das Urteil über Zeit, Ort und die Personen zuläßt. Ein Anatom oder Arzt kann seine Beurteilung unreiner Dinge aussprechen oder niederschreiben, da dies nicht geschieht, um zu gefallen, sondern um zu nützen. Schreibt dagegen ein anderer seine ungewöhnlichen oder belustigenden Vorstellungen über dasselbe Thema nieder, so wäre dies genauso, als ließe sich jemand, der eben vorher in den Schmutz gefallen war, in guter Gesellschaft sehen. Der Mangel an Unterscheidungskraft macht hier den Unterschied aus. Ferner mag man zur Zerstreuung und im Bekanntenkreise mit Klängen und doppelsinnigen Bedeutungen von Wörtern spielen und sich häufig Dinge einfallen lassen, die von ungewöhnlicher Phantasie zeugen. Aber im Gottesdienst, in der Öffentlichkeit, vor unbekannten Personen oder vor solchen, denen wir Ehrerbietung schulden, sind keine Wortspiele möglich, die nicht als Torheit ausgelegt werden würden – der Unterschied liegt nur im Mangel an Unterscheidungskraft“ (LD 8, 54, Hervorhebungen E. O.).

Kann man diese Ausführungen von Hobbes auf sein eigenes Werk beziehen? Könnte Hobbes es beabsichtigt haben, bestimmte „unreine Gedanken“, die geheim bleiben mussten, mit Hilfe von doppelsinnigen Bedeutungen von Wörtern mitzuteilen? Könnte die von Hobbes im Kapitel über die Verstandestugenden anhand der Erläuterung der Unterscheidungskraft entfaltete Leidenschaftstheorie, die davon ausgeht, dass Leidenschaften wie Wahrnehmungsfilter wirken, dazu dienen, denjenigen Lesern, die über die entsprechenden Leidenschaften verfügen, Hinweise zu geben, wie er gelesen werden möchte und also „seine geheimen Gedanken“ mitzuteilen? Der weitere Fortgang des Textes legt diese Deutungsmöglichkeit nahe. Auf der Oberfläche fährt Hobbes fort mit der Erläuterung einer weiteren Verstandestugend – der Definition der Klugheit. Der weitere Kontext dieser Definition macht aber deutlich, dass es sich hier um eine praktische Einführung in die Kunst, „mit doppelsinnigen Bedeutungen von Wörtern [zu] spielen“, handelt. Hobbes benutzt die Definition von Klugheit und List dazu, „geheime Gedanken“ mitzuteilen, die in guter Gesellschaft schmutzig klingen würden: Er fordert diejenigen, die durch ihre „ungewöhnlichen Beobachtungen“ dazu fähig sind, auf, sich heimlich an den anderen zu bereichern. Zunächst definiert Hobbes die Klugheit und macht dabei deutlich, dass sich Menschen darin durchaus unterscheiden können: „Überfliegt jemand in einer bestimmten Absicht eine Vielzahl von Dingen und beachtet dabei, inwiefern sie seiner Absicht dienlich sind oder welchem Zweck sie dienlich sein können, so nennt man diesen Verstand Klugheit, wenn seine Beobachtungen nicht leicht oder gewöhnlich sind. Sie hängt viel von Erfahrung und Erinnerung an gleichartige Dinge und ihre vorherigen Folgen ab. Hierin gibt es keinen so großen Unterschied zwischen den Menschen wie in ihrer Phantasie und Urteilskraft, da die Erfahrung gleichaltriger Menschen, was die Menge der Erfahrungen betrifft, ziemlich gleich ist“ (LD 8, 55).

Auch wenn in der Textstelle auf den ersten Blick eine Gleichheit der Menschen hinsichtlich ihrer Klugheit durch den Hinweis auf die Gleichheit der Erfahrungen suggeriert wird, zeigt der zweite Blick, dass Hobbes hier durchaus annimmt, dass sich Menschen in ihrer Klugheit unterscheiden: Hobbes spricht von einem Un­terschied, der vielleicht nur nicht genauso groß wäre wie hinsichtlich der

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Phan­tasie und Urteilskraft (und bestätigt damit die auch dort nicht in aller Deutlichkeit ausgesprochene These von der Verschiedenheit der menschlichen Verstandestugenden), der aber dennoch vorhanden wäre. Der Hinweis darauf, dass die Beobachtungen, die eine kluge Person, die etwas – z. B. einen Text – überfliegt, macht, schwierig und ungewöhnlich sind, zeigt erstens, dass Hobbes hier von einer Verschiedenheit der Menschen ausgeht: Wenn alle Menschen die gleichen Be­obachtungen machen würden, wären die Beobachtungen des Klugen ja nicht „un­gewöhnlich“. Zum Zweiten wird durch diese Charakterisierung der Klugheit als der Fähigkeit zu ungewöhnlichen Beobachtungen die Verbindung zur vorher­ gehenden Textstelle unmittelbar hergestellt: Die geheimen, unreinen Gedanken werden von Hobbes hier auch als „ungewöhnliche Vorstellungen“ bezeichnet.264 Anschließend bespricht Hobbes die List als eine „unsaubere Klugheit“. Auch hier wird durch die Formulierungen – das semantische Wortfeld der Sauberkeit – eine Verbindung zur vorhergehenden Textstelle, in der die Kunst, durch Spielerei mit doppelsinnigen Bedeutungen unreine, geheime Gedanken mitzuteilen, besprochen wurde, unmittelbar hergestellt. Teilt Hobbes in seiner Definition der List also seine geheimen, unreinen Gedanken über die List als „unsaubere Klugheit“ mit? „Tritt zur Klugheit der Gebrauch von unrechtmäßigen oder unehrenhaften Mitteln, auf die Menschen gewöhnlich aus Furcht oder Not kommen, so ergibt sich diese unsaubere Klugheit, die man List nennt. Sie ist ein Zeichen von Kleinmütigkeit. Denn Großmut bedeutet die Verachtung unrechtmäßiger oder entehrender Hilfsmittel. Und was die Lateiner ver­ sutia nennen (übersetzt Verschlagenheit), nämlich das Aufschieben einer augenblicklichen Gefahr oder Unannehmlichkeit dadurch, daß man sich in eine größere begibt, wie wenn man jemand beraubt, um einen anderen bezahlen zu können, ist nur eine besonders kurzsichtige List. Man nennt sie versutia nach versura, was Aufnehmen von Geld zu Wucherzinsen für eine fällige Zinszahlung bedeutet“ (LD 8, 55).

Zunächst spricht nichts dafür, dass Hobbes hier geheime Gedanken mitteilt. Er scheint sich sogar offen und unzweideutig gegen die List zu wenden, indem er diese moralisierend als „unrechtmäßig“ oder „entehrend“ kennzeichnet. Ein näherer Blick zeigt aber, dass die List von Hobbes vielleicht gar nicht unter den moralischen Gesichtspunkten von Gerechtigkeit oder Ehre beurteilt wird, sondern hinsichtlich ihrer Zweckdienlichkeit. Das Ende des Zitates legt nahe, dass nicht jede 264 Im englischen Original wird an den entsprechenden Textstellen von „nicht gewöhnlichen“ Beobachtungen („if his observations be such as are not easie, or usuall“, L 8, (34) 108, Hervorhebungen E. O.) und „extravaganten“ Vorstellungen gesprochen („The secret thoughts of a man run over all things, holy, prophane, clean, obscene, grave and light, without shame, or blame; which verball discourse cannot do, farther than the Judgement shall approve of the Time, Place and Persons. An Anatomist, or a Physician ma speak, or write his judgement of unclean things; […] but for another man to write his extravagant, and pleasant fancies of the same, is as if a man, from being tumbled into the dirt, should come and present himselfe before good company“ L, 8, (34) 52, Hervorhebungen E. O.) gesprochen. Dass eine semantische Nähe zwischen „unusual“ und „extravagant“ besteht, meint aber offensichtlich auch Euchner, der beides mit „ungewöhnlich“ übersetzt hat.

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Art von List abgelehnt wird, sondern nur die kurzsichtige List, die nicht wirklich langfristig zu dem gewünschten Zweck führt. Empfiehlt Hobbes also vielleicht sogar die List, zumindest, wenn es sich nicht um eine kurzsichtige handelt? Hobbes, der im entsprechenden Abschnitt  – auch durch die Verwendung der Begriffe von Großmütigkeit und Kleinmütigkeit  – die List scheinbar moralisch abwertet, fängt sofort nach den Ausführungen über die List an, über den erworbenen Verstand zu sprechen. Dieser völlig abrupte Themenwechsel wird aber begleitet von einem Hinweis an den Leser, sich nochmals das fünfte und sechste Kapitel anzusehen: „Was den erworbenen Verstand betrifft – ich meine den durch Lehre und Unterricht erworbenen –, so ist er nichts anderes als Vernunft, die auf den richtigen Gebrauch der Sprache gründet und die Wissenschaft hervorbringt. Aber von Vernunft und Wissenschaft habe ich bereits im fünften und sechsten Kapitel gesprochen“ (LD 8, 55).

Der Leser, durch die nicht ganz eindeutige Bestimmung der Klugheit und den nicht ganz gewöhnlichen Gebrauch der Begriffe Großmut und Kleinmütigkeit ohnehin etwas verwirrt, blättert also zurück zum sechsten Kapitel und stellt fest, dass Hobbes dort ebenfalls über Großmut und Kleinmütigkeit spricht. Im sechsten Kapitel spricht Hobbes über die Entstehung von Leidenschaften und über verschiedene Ausdrücke, mit denen Leidenschaften bezeichnet werden. In diesem Kontext definiert Hobbes auch Großmut und Kleinmütigkeit – allerdings auf eine völlig andere Art und Weise, als er dies im achten Kapitel getan hatte: Während im achten Kapitel Großmut in der „Verachtung unrechtmäßiger oder entehrender Hilfsmittel“ (LD 8, 55, Hervorhebungen E. O.) bestanden hatte, wird die Großmut im sechsten Kapitel als „Verachtung kleiner Hilfsmittel und Hindernisse“ (LD 6, 43, Hervorhebungen E. O.) bezeichnet. Die List als Kleinmütigkeit wird also dort nicht deshalb abgelehnt, weil sie unrechtmäßig oder entehrend wäre, sondern sie wird nur dann abgelehnt, wenn sie dem verfolgten Zweck nicht ausreichend zuarbeiten würde, also nur ein kleines Hilfsmittel wäre. Ganz in Übereinstimmung damit definiert das sechste Kapitel die Kleinmütigkeit als „Verlangen nach Dingen, die unserem Zweck nur wenig dienen, und Furcht vor Dingen, die ihn nur wenig behindern“ (LD 6, 43). Durch die Kombination der verschiedenen Wortbedeutungen wird also ein Ergebnis nahegelegt, das der moralischen Verurteilung der List als unrechtmäßig oder entehrend im achten Kapitel diametral entgegensteht: Während dort die List als etwas charakterisiert wurde, was von den Großmütigen deshalb abgelehnt werden müsse, weil es unrechtmäßig und entehrend sei, legen die Definitionen des sechsten Kapitels nahe, dass der Großmütige nur solche Listen ablehnen sollte, die wenig zweckdienlich wären. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass die Großmut dessen, der sich einer List bedient, entsprechend des Nutzens der List zunimmt: Je größer der Nutzen einer List wäre, desto größer wäre die Großmut dessen, der sich der List bedient: „Verlangen nach Dingen, die unserem Zweck nur wenig dienen, und Furcht vor Dingen, die ihn nur wenig behindern, ist Kleinmütigkeit. Verachtung kleiner Hilfsmittel und Hindernisse ist Großmut“ (LD 6, 43).

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Die Definition der Großmut und der Kleinmütigkeit ist dabei eingebettet in die Definitionen von Gutmütigkeit und Habsucht. Auch diese Einbettung legt es nahe, dass eine listige Bereicherung derjenigen, die ihre Habsucht ausleben wollen und sich zu diesem Zweck an den Gutmütigen bereichern, durchaus als Großmut verstanden werden kann: Verschlagenheit und (heimliche aber immens große) Übervorteilung, so ergibt sich durch eine Kombination der Textstellen, sind das Privileg und gute Recht derjenigen, die nicht durch fehlende Verstandesgaben oder Gutmütigkeit daran gehindert werden. Das Verlangen nach Reichtum, so schreibt­ Hobbes, wäre nur dann zu tadeln, wenn er mit den falschen Mitteln angestrebt wird. Die Falschheit dieser Mittel ergibt sich aber nun gerade nicht aus moralischen Erwägungen, sondern aus der instrumentellen, von moralischen Skrupeln bereinigten Vernunft, die es versteht, möglichst zweckdienliche Mittel der Be­ reicherung anzuwenden: „Der Wunsch, einem anderen möge Gutes widerfahren, ist Güte, Wohlwollen, Nächstenliebe. Gilt er den Menschen im allgemeinen, Gutmütigkeit. Verlangen nach Reichtum ist Habsucht. Dieser Name wird immer in tadelnder Bedeutung verwendet, da es den Menschen, die nach Reichtum streben, mißfällt, wenn ein anderer dazu gelangt; dabei ist dieses Verlangen an sich je nach den Mitteln, mit welchen dieser Reichtum angestrebt wird, zu tadeln oder zu erlauben. […] Verlangen nach Dingen, die unserem Zweck nur wenig dienen, und Furcht vor Dingen, die ihn nur wenig behindern, ist Kleinmütigkeit. Verachtung ­k leiner Hilfsmittel und Hindernisse ist Großmut“ (LD 6, 43).

Wenn der Leser Hobbes’ Hinweisen im achten Kapitel auf das sechste Kapitel folgt, findet er dort also eine andere Definition der Begriffe Großmut und Kleinmütigkeit. Aus der verschiedenen Bedeutung der Begriffe Kleinmütigkeit und Großmütigkeit, mit der Hobbes ein Wortspiel veranstaltet,265 könnte man nun 265

Die These, dass Hobbes, der doch selbst über den wissenschaftlichen Wert von Definitionen spricht, mit der Vielfalt von Bedeutungsnuancen spielt und diese geschickt einsetzt, scheint, wenn man die in der Forschung weit verbreitete These teilt, nach der Hobbes sich nach einer humanistischen Phase eine am exakten Vorbild der Naturwissenschaften konzipierte Politikwissenschaft entwickelte, wenig plausibel. Die Frage ist aber, ob die These, dass Hobbes sich von seiner humanistischen Phase abgewendet habe und anschließend eine völlig andersartige Politikwissenschaft, die mit den Grundsätzen der humanistischen Periode nichts mehr gemein hätte, entwickelt habe, tatsächlich Plausibilität beanspruchen kann. So argumentiert Hoekstra völlig überzeugend dafür, dass aus der Tatsache, dass Hobbes über das ­humanistische politische Denken in seinen späteren politiktheoretischen Schriften nicht mehr explizit spreche, kein ausreichender Beleg dafür sei, dass Hobbes dieses Gedankengut nicht als für sein Vorgehen zentral erachtet habe: „For the latter role [als Sekretär für die Cavendish-­Familie, E. O.], it seems that he ordered a number of books for the Hardwick library entitled Il Segretario (or the like). These provide a rich repository of the reception of humanist political thought, often in a Tacitist vein. The seventeenth-century secretary was supposed to be ‚a master of discretion and an expert in silence and secrecy.‘ […] To state the second point first: it may be that Hobbes does not reject such views, but puts them into practice. That is, to the extent that such traces disappear, this may be precisely because ­Hobbes had fully accepted the underlying position. For, as Hobbes may well have noticed while reading the many works on dissimulation and mysteries of the state, it is paradoxical to declare, along with a thesis that you want your audience to accept and adopt, that you may be espousing the thesis

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schlussfolgern, dass Hobbes die List gar nicht unter moralischer, sondern nur unter instrumenteller Perspektive beurteilt. Die weitergehende These, dass H ­ obbes an dieser Stelle durch die Kunst des Spiels mit doppelsinnigen Bedeutungen die heimliche Empfehlung ausspricht, sich an anderen  – möglichst stark  – zu be­ reichern und zum Beispiel für eine fällige Zinszahlung Geld zu Wucherzinsen aufzunehmen, wird durch den weiteren Kontext, der die Habsucht nur dann verurteilt, wenn sie mit Mitteln agiert, die wenig zweckdienlich sind, nahe gelegt.266 Von der Rationalität des Gesetzesgehorsams und damit des Einhaltens ihrer Gehorsamsverpflichtung dem Souverän gegenüber können – neben den wenigen Edelmütigen,267 die Gesetze auch ohne Leidenschaftsappelle an die Todesfurcht even while recognizing its falsity. “ (Hoekstra 2006, 43 und 48) Gegen die These einer völligen Abkehr von den humanistischen Wurzeln vertritt neuerdings auch S ­ kinner 1996, 426 f. die These, dass Hobbes im Leviathan sich diesen humanistischen Wurzeln  – insbesondere der Rhetorik im England der Renaissance  – wieder zugewandt habe. Die Vermutung, dass­ Skinners Entwicklungshypothese unzutreffend ist, kann an dieser Stelle nicht näher plausibilisiert werden, weil sie eine umfassende Analyse auch der früheren Schriften von Hobbes erfordern würde. 266 Unsere Deutung kann zusätzlich plausibilisiert werden durch Hobbes’ Hinweise im zehnten Kapitel, denen zufolge machtgierige Menschen bestimmte Handlungen nicht nach der Gerechtigkeit, sondern nach der Zweckdienlichkeit beurteilen und dabei – entsprechend der Charakterisierung großer, nützlicher Listen – diejenigen Handlungen als bessere ansehen, die am zweckdienlichsten sind. In diesem Kontext wird auch unsere Deutung bestätigt, nach der machtgierige Menschen nicht bereit sind, sich zu unterwerfen. Außerdem wird auch hier die semantische Verbindung zur List durch die Kennzeichnung der großen Taten als „­ unreine ­Taten“ hergestellt: „Herrschaft und Sieg sind ehrenhaft, da durch Macht erworben, und Knechtschaft aus Not oder Furcht ist unehrenhaft. […] Reichtum ist ehrenhaft, denn er ist Macht. […] Begierde nach großem Reichtum und Streben nach großem Reichtum sind ehrenhaft, denn sie sind Zeichen dafür, daß man die Macht besitzt, sie zu erlangen. Begierde und Streben nach kleinen Gewinnen und Vorteilen sind unehrenhaft. Es spielt auch für die Ehre keine Rolle, ob eine Handlung gerecht oder ungerecht ist, wenn sie nur groß und schwierig und folglich ein Zeichen von Macht ist. Deshalb waren die Heiden des Altertums nicht der Ansicht, daß sie ihre Götter entehrten, als sie sie in ihren Dichtungen raubend, stehlend und andere große, aber ungerechte und unreine Taten vollbringend auftreten ließen, sondern sie meinten, sie dadurch ganz besonders zu ehren“ (LD 10, 70 f., Hervorhebungen E. O.). 267 Die Tatsache, dass Hobbes List und Übervorteilung auf der Textoberfläche scheinbar moralisch abwertet kann dementsprechend einfach damit erklärt werden, dass er sich mit diesen moralischen Appellen an die wenigen edelmütigen Menschen richtet, die für solche Appelle zugänglich sind. Weil ein argumentum ad hominem nur an diejenigen Leidenschaften appellieren kann, die ein Mensch besitzt und daher von Prämissen ausgehen muss, die dieser als wahr erachtet, liegt es nahe, anzunehmen, Hobbes habe – entsprechend der natürlichen Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften  – verschiedene argumenta ad hominem konzipiert. Die Vermutung, dass Hobbes’ verschiedene Argumente für verschiedene Adressaten formuliert haben könnte, teilt mit uns auch Lloyd, die jedoch nicht davon ausgeht, dass Hobbes, wenn er über die Todesfurcht als diejenige Leidenschaft spricht, die bei den meisten Menschen am stärksten ist, über die Natur des Menschen spricht. Vgl. Lloyd 2009, 333, n.65: „This is part of what accounts for the difficulty of extracting ‚the‘ argument Hobbes gives for political obedience. ‚The‘ argument has appeared to many to be self-contradictory or ellip­ tical, but this sense is reduced once we see Hobbes as offering a number of different, though intertwined arguments converging on the same conclusion.“

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einhalten würden – also diejenigen Menschen überzeugt werden, die eher den Tieren ähneln, weil sie sich angesichts der dominierenden Leidenschaft der Todesfurcht mit der Versorgung ihrer Grundbedürfnisse und sinnlichen Genüssen zufrieden geben und keine darüber hinausgehenden Bereicherungswünsche haben. Den Machtgierigen und Verständigeren wird nahgelegt, ihre geheimen Ge­ danken für sich zu behalten und sich an anderen, gutmütigeren und argloseren Menschen gütlich zu halten. Aber wie könnte das geschehen? An welche Formen der Übervorteilung denkt Hobbes hier genau? Hobbes’ im achten Kapitel gegebener Hinweis auf das sechste Kapitel gibt möglicherweise auch dafür eine Verständnishilfe. Im sechsten Kapitel, in dem Hobbes über Leidenschaften gesprochen und in diesem Kontext auch seine deterministische Handlungstheorie entwickelt hatte, macht Hobbes zweierlei deutlich: Erstens zieht er die vertragstheoretisch entscheidende Konsequenz aus seiner deterministischen Handlungstheorie, der gemäß auch Handlungen aus Furcht oder Abneigung als freiwillige Handlungen zu betrachten sind.268 Der für die Vertragstheorie relevante Begriff der willentlichen Handlung wird also einerseits dahingehend näher bestimmt, dass auch Handlungen aus Furcht oder Not als freiwillige Handlungen betrachtet werden können. Man könnte hier an Menschen denken, die in Not – z. B. um den Hungertod oder eine Krankheit abzuwenden – dazu gezwungen sind, Geld gegen Wucherzinsen aufzunehmen.269 Zweitens gibt Hobbes am Ende des sechsten Kapitels einen weiteren für die Vertragstheorie zentralen Hinweis. In der Besprechung der sprachlichen Formen, mit denen Leidenschaften ausgedrückt werden können, teilt er dem Leser offen mit, dass mit Sprachformen betrogen werden kann. Er weist am Ende des sechsten Kapitels ausdrücklich auf die Möglichkeit hin, dass durch Sprache bestimmte Handlungsabsichten – z. B. auch bei Verträgen, die nach Hobbes Willenserklärungen sind – vorgetäuscht werden können,270 die gar nicht vorhanden sind: „Die sprachlichen Formen, durch die wir Leidenschaften ausdrücken, sind teils dieselben wie diejenigen, durch die wir unsere Gedanken ausdrücken, und teils von ihnen verschieden. Zunächst können allgemein alle Leidenschaften anzeigend ausgedrückt werden, wie: Ich liebe, ich fürchte, ich freue mich, ich überlege, ich will, ich befehle. […] Diese Sprachformen, sage ich, sind Ausdrücke oder willentliche Bezeichnungen unserer Leidenschaften. Untrügliche Zeichen sind sie aber nicht, da sie willkürlich gebraucht werden können, ob nun diejenigen, welche sie gebrauchen, solche Leidenschaften besitzen oder nicht“ (LD 6, 47 f.). 268

„Daraus ergibt sich klar, daß nicht nur Handlungen, die Habgier, Ehrgeiz, Lust oder anderen Neigungen zu dem in Frage stehenden Ding entspringen, willentliche Handlungen sind, sondern auch diejenigen, welche aus Abneigung oder Furcht vor den Folgen einer Unter­ lassung entstehen“ (LD 6, 47). 269 Dass Hobbes noch ganz andere, ungleich drastischere Fälle im Blick hat, wird unten in Kapitel B. III. 2. b) bb) diskutiert. 270 Auch in der Einleitung hatte Hobbes ja bereits auf das Problem hingewiesen, dass es – aufgrund von Heuchelei, Lüge und Nachahmung – schwierig sei, die tatsächlichen Absichten von Menschen zu erkennen.

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B. Die politische Logik des Körpers

Was bedeutet Hobbes’ Hinweis, dass mit Sprachformen, wie zum Beispiel vorgeblichen Willenserklärungen, betrogen werden kann? Verweist dieser Hinweis gar auf eine Möglichkeit des Souveräns, die machtgierigen Menschen zu einem zivilen und loyalen Verhalten zu bewegen? Möglicherweise kann Hobbes’ in der Forschungsliteratur vieldiskutierte Erwiderung auf den Narren hier eine Antwort geben. Hobbes, der im achten Kapitel davor warnt, Wortspiele zu verwenden, die nicht als Torheit (folly) ausgelegt werden würden und der damit positiv einen Hinweis auf eine Möglichkeit gibt, geheime Gedanken mitzuteilen, setzt sich im 15. Kapitel mit eben solchen Torheiten auseinander: Im 15. Kapitel diskutiert Hobbes die These eines Narren (fool), der behauptet, Gerechtigkeit und eine Pflicht, sich an abgeschlossene Verträge zu halten, gebe es nicht. bb) Die Position des Narren: Die Nützlichkeit der Vertragslehre und die Narrheit des offenen Vertragsbruchs Hobbes’ Erwiderung auf den Narren steht im 15.  Kapitel, welches nach der Entfaltung der ersten beiden natürlichen Gesetze im 14. Kapitel – der Pflicht zur Friedensbereitschaft und zum Rechtsverzicht – nun das dritte natürliche Gesetz, das die Einhaltung von Verträgen verlangt sowie zahlreiche weitere natürliche­ Gesetze enthält. Nach unserer Interpretation handelte es sich bei den natürlichen Gesetzen ohnehin nur um Klugheitsregeln – allenfalls unter der Bedingung, dass sich die natürlichen Gesetze als selbsterhaltungsdienlich erwiesen, könnte von einer Verpflichtung, diese Gesetze einzuhalten, überhaupt die Rede sein. Innerhalb dieses Kontextes argumentiert Hobbes nun also auch für die Pflicht, sich an eines dieser Gesetze – nämlich die Einhaltung von Verträgen – zu halten. Sehen wir uns nun die Argumente selbst an, mit denen Hobbes diese Pflicht zu begründen versucht.271 Hobbes verfolgt in seiner angeblichen Intention, das dritte natürliche Gesetz zu begründen, drei verschiedene Strategien, von denen die letzte den Versuch darstellt, die Position eines Narren, der behauptet, Verträge müssten nicht eingehalten werden, zu widerlegen. 271

Wie bei Lloyd 2009, 303 wird hier die These vertreten, dass zur Beurteilung von ­Hobbes’ Erwiderung auf den Narren der argumentative Kontext überaus relevant ist. Gegen Lloyd werden wir allerdings im Folgenden versuchen zu zeigen, dass Hobbes’ Erwiderung auf den­ Narren von Hobbes durchaus als Argument für das dritte natürliche Gesetz präsentiert wird, dass es allerdings – mit einer entscheidenden Ausnahme – ebenso wenig wie die beiden vorhergehenden „Argumente“ dazu taugt. Vgl. Lloyd 2009, 303 (Hervorhebungen ebd.): „It is also important to notice the context in which Hobbes’s discussion of the Foole is offered. Hobbes, by showing that the transference of right demanded by the second Law of Nature (which was previously proved to be a rule of reason) would be ‚vain‘ (ineffectual) without the third Law of Nature, has already proved that the third law of Nature requiring the keeping of covenants is a rule of reason. This point bears emphasis, because many commentators have failed to notice that Hobbes’s discussion of the Foole is not intended to constitute a proof of the Third Law of Nature, but is rather intended only to answer an objection to the possibility of any such proof.“

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Der erste „Begründungsversuch“ ist eine Tautologie,272 die versucht, die Gerechtigkeit des Einhaltens von Verträgen durch Ableitung aus seinem Gegenteil zu nachzuweisen: „Aus dem Gesetz der Natur, das uns verpflichtet, auf einen anderen solche Rechte zu übertragen, deren Beibehaltung den Frieden der Menschheit verhindert, folgt ein drittes, nämlich: Abgeschlossene Verträge sind zu halten. Ohne dieses Gesetz sind Verträge unwirksam und nur leere Worte, und wenn das Recht aller auf alles bleibt, befinden wir uns immer noch im Kriegszustand. Und in diesem natürlichen Gesetz liegen Quelle und Ursprung der Gerechtigkeit. Denn wo kein Vertrag vorausging, wurde auch kein Recht übertragen, und jedermann hat ein Recht auf alles; folglich kann keine Handlung ungerecht sein. Wurde aber ein Vertrag abgeschlossen, so ist es ungerecht, ihn zu brechen, und die Definition der Ungerechtigkeit lautet nicht anders als ‚die Nichterfüllung eines Vertrages‘. Und alles, was nicht ungerecht ist, ist gerecht“ (LD 15, 110, Hervorhebungen E. O.).

Als Ungerechtigkeit wird das Brechen von Verträgen definiert (aber nicht begründet), sodass das sich ergebende Argument lautet: „Es ist ungerecht, Verträge zu brechen. Alles was nicht ungerecht ist, ist gerecht. Also ist es gerecht, sich an Verträge zu halten.“ Die scheinbar messerscharfe Schlussfolgerung steht und fällt aber natürlich mit der Akzeptanz der Prämissen – und den Bruch von Verträgen als ungerecht zu bezeichnen ist eine Prämisse, die genauso zu begründen wäre, wie das daraus scheinbar resultierende Ergebnis, dass das Einhalten von Verträgen gerecht wäre. Es handelt sich also genaugenommen um kein Argument, sondern um eine Tautologie und damit um etwas, was Hobbes an anderer Stelle auch als petitio principii bezeichnet.273 Basierend auf unserer bisherigen Deutung, d. h. auf der Prämisse, dass natürliche Gesetze Vernunftregeln sind, die befehlen, die zur Selbsterhaltung geeigneten Mittel anzuwenden, kann es eine unbedingte Pflicht, abgeschlossene Verträge einzuhalten, auch gar nicht geben – nämlich dann nicht, wenn sich dies als der Selbsterhaltung hinderlich erweist. Die Argumentation wird sogleich von Hobbes ergänzt um das Kriterium der Gültigkeit von Verträgen: Verträge, die auf Vertrauen basieren, seien nur gültig, wenn man sicher sein könne, dass die andere Partei sie auch erfüllen werde. Weil es jedoch für Menschen viele Gründe gebe, sich nicht an abgeschlossene Verträge zu halten, könnte eine solche Sicherheit nur vorhanden sein, wenn es eine Macht gebe, die Menschen dazu zwingen könnte, ihre Verträge einzuhalten. Es sei also, so präzisiert Hobbes das dritte natürliche Gesetz, nicht die Befolgung jedes Ver 272 Vgl. die Erläuterung von Lorenz 1996, 213: „Traditionell wird ‚T.‘ als Bezeichnung für pleonastische Redewendungen […] aber auch für Zirkeldefinitionen oder zirkelhafte Beweise verwendet, bei denen der zu definierende Ausdruck, das Definiendum, im definierenden Ausdruck, dem Definiens, bereits vorkommt, bzw. wenn unter den Prämissen eines zum Beweis herangezogenen Schlusses die zu erschließende Konklusion bereits enthalten ist oder stillschweigend auf sie als zusätzliche Prämisse zurückgegriffen wird.“ 273 „Von einer Petitio principii spricht man, wenn man statt der Definition, d. h. des Ausgangspunktes des Beweises die zu beweisende Konklusion, nur anders formuliert, hinsetzt. Wer also statt der Ursache des erforschten Dings das Ding selber bzw. die Wirkung hinsetzt, begeht beim Beweisen einen Zirkel; […]“ (DCorD VI, 18, 96).

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trages gerecht, sondern nur die Befolgung jedes gültigen Vertrages. Hobbes versucht also – so die zweite Strategie – für die dergestalt veränderte These, dass nur gültige Verträge eingehalten werden müssen, zu argumentieren.274 Aber ist eine solche Sicherheit, dass sich Menschen an ihre Verträge halten werden, überhaupt prinzipiell möglich? Es gibt Stellen, die dies nahezulegen scheinen. Hobbes betont, dass es eine Macht, die die Menschen durch die Angst vor einer Bestrafung zur Erfüllung ihrer Verträge zwingen könnte vor Errichtung eines Staates auf jeden Fall nicht geben könne. Und kurz darauf fasst er das Argument folgendermaßen zusammen: „Aber die Gültigkeit von Verträgen beginnt erst mit der Errichtung einer bürgerlichen Gewalt, die dazu ausreicht, die Menschen zu ihrer Einhaltung zu zwingen, und mit diesem Zeitpunkt beginnt auch das Eigentum“ (LD 15, 111).

Streng genommen behauptet Hobbes also nicht selbst, dass es jemals eine solche Macht geben könnte, sondern nur, dass eine Einhaltung nicht sinnvoll sein könne, bevor es eine solche Macht gebe. Aber kann es jemals eine solche Macht geben? Kann irgendeine Macht so etwas leisten? Ist es tatsächlich denkbar, dass es einen Staat gibt, der dafür garantieren kann, dass sich alle Menschen immer an die Gesetze und an ihre abgeschlossenen Verträge halten? Kann es einen Staat geben, in dem „eine solche Furcht nicht länger vernünftig“275 ist, wie Hobbes an verschiedenen Stellen zu behaupten scheint? Hobbes zweifelt offenbar daran, dass ein mit Gewaltmitteln ausgestatteter Staat so etwas leisten kann. Er scheint – trotz der gegenteilig klingenden Lippenbekennt­ 274 „Weil aber auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Verträge ungültig sind, wenn, wie im letzten Kapitel ausgeführt, eine der beiden Parteien die Nichterfüllung befürchtet, so kann es tatsächlich […] keine Ungerechtigkeit geben, bis die Ursachen dieser Furcht beseitigt sind. […] Bevor man deshalb von ‚gerecht‘ und ‚ungerecht‘ reden kann, muß es eine Zwangsgewalt geben, um die Menschen gleichermaßen durch die Angst vor ihrer Bestrafung zur Erfüllung ihrer Verträge zu zwingen, die gewichtiger ist als der Vorteil, den sie sich vom Bruch ihres Vertrages erhoffen […]. Eine solche Macht gibt es aber vor Errichtung eines Staates nicht. […] deshalb ist nichts ungerecht, wo es keinen Staat gibt. So liegt also das Wesen der Gerechtigkeit im Einhalten gültiger Verträge“ (LD 15, 110). 275 Hobbes scheint an einer Stelle zwar zu behaupten, dass ein Staat so etwas leisten könne, wenn er dort davon spricht, dass in einem bürgerlichen Staat die Furcht vor Vertragsbruch nicht länger vernünftig sei. Tatsächlich behauptet Hobbes aber auch hier nur, dass eine solche Gewalt im Naturzustand unmöglich angenommen werden könne, jedoch nicht, dass sie in einem bürgerlichen Staat tatsächlich existiert. Er legt den Menschen nahe, darauf zu vertrauen, dass eine solche Macht existieren könnte und fordert sie auf, sich auf das zu verlassen, was Hobbes ihnen sagt, nämlich dass im Staat eine solche Furcht nicht länger vernünftig sei – obwohl er ein Kapitel zuvor auf die Möglichkeit des Vertragsbruchs im staatlichen Zustand explizit hingewiesen hatte: „Im reinen Naturzustand, wo alle Menschen gleich sind und über die Berechtigung ihrer eigenen Befürchtungen richten, kann eine solche Zwangsgewalt unmöglich angenommen werden. […] In einem bürgerlichen Staat aber, wo eine Gewalt zu dem Zweck errichtet wurde, diejenigen zu zwingen, die andernfalls ihre Treuepflicht verletzen würden, ist eine solche Furcht nicht länger vernünftig, und deshalb ist derjenige, welcher auf Grund des Vertrags vorzuleisten hat, dazu verpflichtet“ (LD 14, 105).

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nisse – durchaus davon auszugehen, dass eine solche Furcht vor Nichterfüllung auch im staatlichen Zustand vernünftig sein kann. Zwei Kapitel vorher, im Naturzustandskapitel, argumentiert Hobbes ja gerade mit der Vernünftigkeit des Misstrauens auch im staatlichen Zustand und gibt damit zu, dass auch im staatlichen Zustand, in dem Gesetz und Strafe eine gewisse Furcht vor den Konsequenzen der Nichtbefolgung von Verträgen (bzw. der Verletzung der Eigentumsregeln) bieten, trotz allem das Misstrauen in die Mitmenschen, d. h. die Furcht vor dem Vertragsbruch, vernünftig ist.276 Die lateinische Version des Leviathan formuliert noch deutlicher, dass Misstrauen, d. h. begründete Furcht vor dem Vertragsbruch, vernünftig ist, weil es immer Gelegenheiten geben wird, Verträge unerkannt und deshalb ungeahndet zu brechen.277 Mit dem im 13. Kapitel gegebenen Hinweis, dass auch im bürgerlichen Staat gegenseitiges Misstrauen und also die Furcht vor einer Nichterfüllung von Verträgen vernünftig ist, konterkariert Hobbes demnach sein vordergründig gegenteilig lautendes Argument, welches er im 14. Kapitel entfaltet.278 Das Argument, dass eine solche Furcht in einem bürgerlichen Staat nicht länger vernünftig wäre, weil eine Zwangsgewalt die Einhaltung der Verträge verbürgen könnte, wird durch Hobbes bereitwilliges Einräumen der Gefahr von – mindestens heimlichen – Vertragsbrüchen und also seinem Eingeständnis, dass es zumindest bürgerliche Staaten gibt, die diese Sicherheit nicht garantieren können, zumindest geschwächt, wenn nicht ganz ungültig gemacht.279 276

„Manchem, der sich diese Dinge nicht gründlich überlegt hat, mag es seltsam vorkommen, daß die Natur die Menschen so sehr entzweien und zu gegenseitigem Angriff und gegenseitiger Vernichtung treiben sollte, und vielleicht wünscht er deshalb, da er dieser Schlußfolgerung aus den Leidenschaften nicht traut, dies durch die Erfahrung bestätigt zu haben. Er möge deshalb bedenken, daß er sich bei Antritt einer Reise bewaffnet und darauf bedacht ist, in guter Begleitung zu reisen, daß er beim Schlafengehen seine Türen und sogar in seinem Haus seine Kästen verschließt – und dies in Kenntnis dessen, daß es Gesetze und bewaffnete Beamte gibt, um alles Unrecht zu verfolgen, das ihm angetan wird. Welche Meinung hat er also von seinen Mit-Untertanen, wenn er bewaffnet reist, welche von seinen Mitbürgern, wenn er seine Türen verschließt, und welche von seinen Kindern und Bediensteten, wenn er seine Kästen verschließt?“ (LD 13, 96 f., Hervorhebungen E. O.) 277 „Doch wozu noch mehr Beweise für verständige Menschen in einer Sache, wovon auch die Hunde ein Gefühl zu haben scheinen; wer kommt, den bellen sie an, bei Tage jeden Unbekannten, des Nachts aber jedweden“ (LD 13, 97). 278 „In einem bürgerlichen Staat aber, wo eine Gewalt zu dem Zweck errichtet wurde, die­ jenigen zu zwingen, die andernfalls ihre Treuepflicht verletzen würden, ist eine solche Furcht nicht länger vernünftig, und deshalb ist derjenige, welcher auf Grund des Vertrags vorzuleisten hat, dazu verpflichtet“ (LD 14, 105, Hervorhebungen E. O.). 279 Eine Möglichkeit, Hobbes’ Argument an dieser Stelle zu retten, würde darin bestehen, dass man annimmt, dass das Beispiel eines staatlichen Zustandes, in dem die Furcht vor Vertragsbrüchen rational ist, sich auf einen unvollkommenen Staat bezieht, der nicht den­ Hobbes’schen Konstruktionsregeln folgt, d. h. zum Beispiel nicht solche umfassenden Zugriffsrechte auf die Körper der Bürger und damit auch keine solche gewaltige Macht hat. Diese Möglichkeit zerstört Hobbes jedoch, wie im Folgenden gezeigt wird, dadurch selbst, dass er seine These von einer Pflicht, sich an gültige Verträge zu halten, dahingehend modifiziert, dass es auch eine Pflicht gebe, sich an ungültige Verträge zu halten: Das, was er zunächst als Gültigkeitskriterium für einen Vertrag, der Verpflichtungswirkung entfalten kann, vorausgesetzt

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Nimmt man zusätzlich noch den Fall hinzu, den Hobbes im 14. Kapitel weiterhin schildert, wird die ganze Absurdität der Rede von gültigen, verpflichtenden Verträgen offenbar. Hobbes schildert hier den Fall eines Menschen, der einem Räuber Lösegeld verspricht, um dafür im Gegenzug von ihm verschont zu werden und beharrt darauf, dass – auch bei einem solchen, durch Gewaltandrohung zustande gekommenen Erpressungsvertrag – eine Pflicht bestehe, dem Räuber sein Lösegeld zu geben. „Und selbst wenn ich in einem Staat gezwungen werde, mich von einem Räuber durch Versprechen von Lösegeld loszukaufen, so bin ich zur Zahlung verpflichtet, wenn mich nicht das bürgerliche Gesetz von dieser Schuld befreit“ (LD 14, 107, Hervorhebungen E. O.).

Hobbes gibt mit diesem Beispiel also unumwunden zu, dass es Staaten gibt, in denen die Macht des Souveräns nicht ausreicht, die Menschen zu unbedingtem Gesetzesgehorsam zu zwingen, und in denen man deshalb berechtigte Furcht haben müsste, dass man von anderen ausgeraubt oder sogar getötet werde. Selbst wenn also gemäß Hobbes’ eigenen Voraussetzungen die Bedingung für gültige Verträge gar nicht erfüllt ist, weil  – aufgrund des stattgefundenen Raubes  – ganz offensichtlich keine Macht existiert, die stark genug ist, solche Übergriffe zu verhindern, und deshalb per definitionem gar keine gültigen Verträge existieren könnten, würde eine Verpflichtung – die ja wohlgemerkt einen gültigen Vertrag voraussetzen würde – bestehen, dem Räuber Geld zu geben, sofern man das vertraglich vereinbart bzw. versprochen hätte. Auch Hobbes’ zweite Strategie, für eine bestehende Pflicht, Verträge einzuhalten, zu argumentieren, ist also wenig überzeugend, insofern Hobbes selbst einräumt, dass die Bedingungen für gültige Verträge – die Sicherheitsgarantie – zumindest nicht in allen bürgerlichen Staaten erfüllt werden könnte und schließlich seine These, dass die Gerechtigkeit im Einhalten gültiger Verträge bestünde, dadurch selbst konterkariert, dass er davon spricht, dass auch ungültige Verträge Verpflichtungen generieren könnten. Die dritte Strategie, die scheinbar das Ziel hat, das dritte Gesetz der Natur, das die Einhaltung von Verträgen fordert, zu begründen, ist in der Literatur als H ­ obbes’ Erwiderung auf den Narren bekannt.280 Genau genommen wird hier aber gar nicht hatte – die Sicherheitsgarantie – wird von ihm in einem anderen Zusammenhang selbst verworfen, wenn er nämlich von einer Pflicht, sich an Verträge zu halten, spricht, auch wenn diese Sicherheitsgarantie und also das Kriterium für gültige Verträge gar nicht vorhanden ist. 280 Vgl. den Titel des Aufsatzes von Zaitchik 1982: „Hobbes’s reply to the fool. The problem of consent and obligation“. Hoekstra beurteilt die Stelle als eine derjenigen, die in der­ Hobbes-Forschung des 20. Jahrhunderts am meisten diskutiert wurden und weist zugleich auf die weit verbreitete Einschätzung der Schwäche von Hobbes’ Widerlegungsversuch hin: „A focal point of twentieth-century commentary on Hobbes has been the few paragraphs in chapter 15 of Leviathan where Hobbes presents the objections of someone he calls the ‚Foole‘ and then sets out to meet these objections. […] The primary reason that this short section has drawn so much ink, I suppose, is that this answer seems unrealistic and simply wrong, and critics have hurried to worry the chink in Hobbes’s argumentative armor“ (Hoekstra 1997, 620).

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positiv versucht, die Pflicht zur Einhaltung von Verträgen zu begründen, sondern nur gegen die Position eines Narren, der beispielsweise behauptet, Gerechtigkeit gebe es gar nicht und es könnte rational sein, Verträge zu brechen, argumentiert. Die eigenartige Schwäche dieses Widerlegungsversuches wurde in der HobbesForschung vielfach registriert und intensiv diskutiert.281 Hobbes legt dem Narren Sätze in den Mund, die – gemessen am bisherigen Gehalt des Leviathan – durchaus nicht besonders neuartig klingen. Das fundamentale Recht auf Selbsterhaltung und die daraus abgeleitete Pflicht zur Selbsterhaltung wurde von Hobbes ja im 14. Kapitel über die ersten beiden natürlichen Gesetze bereits eingeführt. Auch eine Hierarchie der natürlichen Gesetze, die allesamt unter dem obersten Grundsatz der Selbsterhaltung stehen, hatte Hobbes in der Erläuterung der natürlichen Gesetze bereits deutlich ausgeführt. Dass die ersten zwei Argumente dafür, sich an gültige Verträge zu halten, denkbar schwach ausfallen, wurde bereits gezeigt. Was in dieser Form aber neu ist, ist eine offene Empfehlung, sich – wenn dies einem Vorteile bringen würde – nicht an Verträge zu halten. Hobbes, der im achten Kapitel über die Möglichkeit gesprochen hatte, geheime, unreine Dinge durch Wortspiele mitzuteilen und gleichzeitig davor gewarnt hatte, in der Öffentlichkeit und im Gottesdienst Wortspiele zu verwenden, die nicht als Torheit (folly) ausgelegt werden würden, legt also einem Narren (fool) Worte in den Mund, die – wenn sie öffentlich und im eigenen Namen von Hobbes behauptet werden würden – närrisch erscheinen, weil sie das Scheitern seiner Vertragstheorie bedeuten würden. Was ist es nun, was Hobbes seinen Narren behaupten lässt, und welches sind die Gegenargumente, mit denen Hobbes – zumindest vordergründig – versucht, diese Position zu widerlegen? Hobbes beginnt, unmittelbar nach seinem zweiten erfolglosen Versuch für das dritte natürliche Gesetz zu argumentieren, mit der Charakterisierung der Position des Narren: „Narren sagen sich insgeheim, so etwas wie Gerechtigkeit gebe es nicht, und bisweilen sagen sie dies auch offen. Dabei führen sie allen Ernstes an, da jedermann für seine eigene Erhaltung und Befriedigung selbst zu sorgen habe, könne es keinen Grund geben, weshalb nicht jedermann das tun könne, was seiner Ansicht nach dazu führe, und deshalb sei auch das Abschließen oder Nichtabschließen, Halten oder Nichthalten von Verträgen nicht ­wider die Vernunft, wenn es einem Vorteile einbringe. Sie leugnen dabei nicht, daß es Verträge gibt, und daß sie bisweilen gebrochen, bisweilen gehalten werden und daß ihr Bruch Ungerechtigkeit und ihre Beachtung Gerechtigkeit genannt werden kann, aber sie fragen sich, ob Ungerechtigkeit, die die Furcht vor Gott beseitigt – denn dieselben Narren sagen sich insgeheim, es gebe keinen Gott – sich nicht bisweilen mit jener Vernunft vereinigen lasse, die jedem Menschen das eigene Wohl befiehlt, insbesondere wenn sie zu einem Vorteil führt, der uns in die Lage versetzt, nicht nur Tadel und Schmähungen, sondern auch die Macht anderer Menschen zu mißachten. Das Reich Gottes wird durch Gewalt erlangt – was aber, wenn es durch unrechtmäßige Gewalt erlangt werden könnte? Wäre es wider die Ver 281

Insbesondere die spieltheoretische Deutungsschule des kontraktualistischen Arguments hebt die Schwäche von Hobbes’ Erwiderungsversuch hervor. Vgl. bspw. Gauthier 1969, 87: „Hobbes’s reply to ‚the fool‘ is not very convincing.“ Für weitere Belege vgl. Hoekstra 1997, 645, n.33.

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nunft, es so zu erlangen, wenn es unmöglich ist, von ihm geschädigt zu werden? Und ist es nicht wider die Vernunft, so ist es nicht wider die Gerechtigkeit – oder aber die Gerechtigkeit kann nicht als Gut anerkannt werden“ (LD 15, 111, Hervorhebungen E. O.).

Der Narr zieht also die radikale Konsequenz aus der Priorität der Pflicht zur Selbsterhaltung, die die bisherigen Ausführungen von Hobbes zwar als notwendige Schlussfolgerung schon nahelegten, aber nicht in dieser Offenheit formulierten: Wenn das oberste Gebot die Pflicht zur Selbsterhaltung ist und alle anderen naturgesetzlichen Pflichten nur davon abgeleitet sind, dann kann es keine unbedingte Pflicht geben, sich an Verträge zu halten. Im Gegenteil könnte es durchaus Fälle geben, in denen Ungerechtigkeiten, d. h. Vertragsbrüche, zur Vorteilsmaximierung führen würden: Wenn man mit Sicherheit wüsste, dass man selbst nicht geschädigt würde und deshalb weder Tadel und Schmähungen, noch die Macht anderer Menschen (die durch den Vertragsbruch geschädigt würden) zu fürchten bräuchte, dann wäre es zur Maximierung des eigenen Wohls durchaus angebracht, Verträge zu brechen. Der Narr steigert diese Argumentation sogar noch, indem er auf das Problem der bisherigen Gerechtigkeitsdefinition hinweist: Wenn man die Prämisse, dass Gerechtigkeit etwas sei, das dem eigenen Wohlergehen diene, aufrechterhalten wolle, dann müsste man entweder den Vertragsbruch (wenn er sich als förderlich für das eigene Wohlergehen erwiese) als gerecht bezeichnen – und sich dadurch in einen Widerspruch zur vorausgesetzten Gerechtigkeitsdefinition verwickeln, oder man müsste zugeben, dass Gerechtigkeit, d. h. das Einhalten von Verträgen, eben kein Gut in diesem Sinne zur Folge habe. Hobbes charakterisiert dieses Räsonnement des Narren auch als eine „erfolgreiche Verschlagenheit“282 und greift damit eine ähnliche Terminologie auf wie diejenige, die er in seiner Besprechung von List und Klugheit im achten und sechsten Kapitel verwendet hatte. Aufgrund der pejorativen Bedeutung des Wortes „Verschlagenheit“ (wickedness) scheint die Verwendung dieses Wortes auf den ersten Blick zwar eine Ablehnung der Argumentation des Narren zu bedeuten. Wie unsere Analyse des achten und sechsten Kapitels aber gezeigt hatte, ist es jedoch genau das Kriterium des Erfolges bzw. der Zweckdienlichkeit, das Hobbes als Adjektiv vor die Verschlagenheit setzt, welches von Hobbes zur Beurteilung der List (craft) verwendet wird: Im achten Kapitel hatte er zwar auf den ersten Blick die List als „unrechtmäßig“ moralisch verurteilt, tatsächlich aber nur die kurzsichtige, nicht erfolgreiche List – eben wegen ihres Misserfolgs – verurteilt. Als klein­mütig hatte sich dort derjenige herausgestellt, der nach wenig zweckdienlichen Dingen strebe – woraus sich im Umkehrschluss ergab, dass nur diejenige List großmütig, d. h. anzustreben sei, die zweckdienlich und erfolgreich sei.283 Wenn Hobbes die 282 „Auf Grund solcher Erwägungen hat erfolgreiche Verschlagenheit den Namen ‚Tugend‘ erhalten […]“ (LD 15, 111, Hervorhebungen E. O.). Vgl. für die englische Begrifflichkeit: „From such reasoning as this, Succesfull wickednesse hath obtained the name of Vertue […]“ (L 15, (72) 222, Hervorhebungen E. O.). 283 „Desire of things that conduce but a little to our ends; And fear of things, that are but of little hindrance, Pusillanimity.“ (L 6, (26) 86).

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erfolgreiche List an anderer Stelle empfiehlt, kann durch die Charakterisierung des bisherigen Räsonnements des Narren als „erfolgreiche Verschlagenheit“ also noch nicht geschlossen werden, dass Hobbes diese Überlegungen des Narren moralisch verurteilt. Hobbes geht im Folgenden dazu über, bestimmte Beispiele einer solchen „erfolgreichen Verschlagenheit“ zu nennen, die allesamt die Rebellion rechtfertigen. Er räumt ein, dass solche Erwägungen leicht die Schlussfolgerung nahelegen könnten, dass die Tötung eines Souveräns rechtmäßig sein könnte, rekonstruiert eine mögliche Argumentation für diese These und spricht sich nun offen gegen „diese bestechende Argumentation“ aus – diese sei falsch: „Aufgrund solcher Erwägungen hat erfolgreiche Verschlagenheit den Namen ‚Tugend‘ erhalten, und einige, die in allen anderen Dingen die Verletzung von Treu und Glauben verbieten, haben sie doch zugelassen, wenn es geschieht, um ein Königreich zu erlangen. […] Solche Beispiele können einen leicht zu dem Schluß verleiten, daß, wenn der recht­mäßige Erbe eines Königreichs den gegenwärtigen Herrscher tötet, selbst wenn es sein Vater ist, du dies als Ungerechtigkeit oder mit einem beliebigen anderen Namen bezeichnen könntest, daß dies aber der Vernunft niemals zuwiderlaufen kann, da alle willentlichen Handlungen der Menschen ihren eigenen Vorteil zum Ziel haben und jene Handlungen die vernünftigsten sind, die am meisten zu ihren Zielen beitragen. Diese bestechende Argumentation ist trotzdem falsch“ (LD 15, 111 f., Hervorhebungen E. O.).

Während Hobbes zunächst die aus verschiedenen Annahmen und Schlussfolgerungen bestehende Position des Narren wiedergab und sie als „erfolgreiche Verschlagenheit“ bloß charakterisierte, versieht er nun also eine bestimmte, mögliche Schlussfolgerung – diejenige, dass es vernünftig sein könne, den gegenwärtigen Herrscher zu töten – explizit mit dem Urteil, dies sei eine falsche Argumentation. Nachdem Hobbes also diese spezielle, auf die Schlussfolgerung des Herrschermordes gerichtete Argumentation des Narren als falsch beurteilt hat, versucht er, eine Begründung für sein Urteil zu geben. Hobbes beginnt – nach seiner ersten, moralisch klingenden Verurteilung284 („erfolgreiche Verschlagenheit“) und nach seiner zweiten, argumentlogischen Kritik („falsche Argumentation“) im Folgenden mit dem Versuch, die Position des Narren zu widerlegen. Zu diesem Zweck präzisiert er jedoch zunächst erneut das zu untersuchende Problem. Er widmet sich 284 Hampton beobachtete, dass Hobbes an zahlreichen Stellen eine „moralisch“ bzw. „deontologisch“ klingende Sprache benutzt, und vertritt dabei – ähnlich unserer Deutung – die These, dass dieser moralischen Sprache keine deontologische Moraltheorie bei Hobbes entspreche. Vgl. Hampton 1986, 57: „And I shall note that Hobbes slips into deontological sounding language at certain critical and problematic points in his argument. So although I have argued against Taylor’s and Warrender’s interpretation of Hobbes’s ethical views in this chapter, I do not think they are wrong to have heard deontological strains in Leviathan […]. They are wrong, however, to think that the language in these passages represents a conscious or even unconscious attempt to mount a full-blown deontological moral theory in Leviathan“ (Hampton 1986, 57). Rhodes 1992, 94, argumentiert hingegen, dass Hobbes’ Verwendung der moralischen Begriffe seiner zu Grunde liegenden Moraltheorie, in der Vernünftigkeit nicht auf Klugheit reduziert werden könnte, entspringe.

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B. Die politische Logik des Körpers

dabei aber nicht mehr der möglichen Schlussfolgerung des Königsmordes, sondern stellt die allgemeine Frage, ob das Brechen von Verträgen vorteilhaft sein könnte. Während sich seine argumentlogische Kritik auf die Schlussfolgerung bezog, dass es vernünftig sein könnte, den gegenwärtigen Herrscher zu töten, bemüht er sich nun, nachzuweisen, dass die Einhaltung von Verträgen zwischen Untertanen innerhalb eines staatlichen Zustands vernünftig ist. Er reformuliert die Fragestellung also derart, dass er danach fragt, ob es – wenn der Vertragspartner seinen geschuldeten Teil  bereits erfüllt hat oder wenn er dazu gezwungen werden könne285  – der Vernunft widerspreche, sich seinerseits an den Vertrag zu halten: „In Frage stehen nämlich nicht die gegenseitigen Versprechen, bei denen keine Seite die Sicherheit hat, daß erfüllt wird, wie dann, wenn keine bürgerliche Gewalt über den versprechenden Parteien errichtet ist, denn solche Versprechen sind keine Verträge. Wo aber entweder eine Partei schon erfüllt hat oder wo eine Macht existiert, die sie zur Erfüllung zwingt, da erhebt sich die Frage, ob die Erfüllung der Vernunft, das heißt dem Vorteil der anderen Partei, widerspricht oder nicht. Und ich sage, sie widerspricht der Vernunft nicht. Um dies behaupten zu können, müssen wir folgende Überlegung anstellen“ (LD 15, 112, Hervorhebungen E. O.).

Diese Reformulierung der Fragestellung enthält bereits zwei für die Interpretation wichtige und wesentliche Elemente. Erstens identifiziert Hobbes hier Vernunft deutlich mit Vorteil: Er fragt danach, welche Vorteile eine Person von ihrer Vertragstreue davontragen könnte, wenn die andere Partei bereits erfüllt hat oder zur Erfüllung gezwungen werden kann.286 Zweitens setzt diese Fragestellung bereits voraus, dass Vertragsbrüche möglich sind und also die souveräne Gewalt die Einhaltung der Verträge nicht erzwingen kann – die Prämisse, dass der Vertragspartner zur Erfüllung gezwungen werden kann, die der Fragestellung zu Grunde liegt, verliert also durch die Fragestellung selbst, die Erwägung der Vorteilhaftigkeit und also der Möglichkeit eines Vertragsbruches, – zumindest an Plausibilität. Die Argumentation mit der Hobbes die dergestalt präzisierte Position des Narren zu widerlegen versucht, zerfällt in zwei Abschnitte. Tatsächlich enthält der zweigeteilte Abschnitt jedoch Prämissen, die auf eine spezifische Weise von Hobbes 285

Das oben diskutierte Problem, dass Hobbes selbst einräumt, dass es Staaten gibt, die eine solche Sicherheit nicht garantieren können und seine These von der Verpflichtungskraft eines Lösegeldvertrages, bei dem der Staat die Sicherheitsgarantie des Eigentumsschutzes offensichtlich nicht bieten konnte, stellt auch für diesen angeblichen Versuch von Hobbes, nachzuweisen, dass es rational sei, sich an abgeschlossene Verträge zu halten, den zu beachtenden Hintergrund dar. 286 Die moraltheoretischen Interpretationen des Arguments, die angestrengt versuchen, Hobbes gegen den Vorwurf, Vernunft mit Klugheit gleichzusetzen, zu verteidigen, versuchen diesen Umstand damit zu erklären, dass Hobbes sich, um den Narren zu überzeugen, dessen Sprache bedienen müsse. Vgl. Lloyd 2009, 296. Ebenso Rhodes 1992, 97: „Since the Fool is therefore to be recognized as one of the many who do not think with Reason, though some fools might erroneously credit themselves with the ability, it would be pointless for Hobbes to offer him a response in terms of Reason. Therefore, in what follows, Hobbes presents him with a prudential argument for keeping covenants.“

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ergänzt und präzisiert und daher genau isoliert und analysiert werden müssen. Weiterhin lässt Hobbes diesem gegen die These von der Vernünftigkeit eines Vertragsbruches zwischen Untertanen gerichteten, zweigeteilten Abschnitt zwei weitere Argumente folgen, die gegen die Vernünftigkeit der Rebellion argumentieren und schließt seine Argumentationskette mit einem knappen Argument gegen die Vernünftigkeit des Vertragsbruchs zwischen Untertanen ab. Wir werden zunächst versuchen, Hobbes’ Argumentation gegen den Vertragsbruch zwischen Untertanen zu rekonstruieren. Die textuelle Grundlage sieht folgendermaßen aus: Der erste Textabschnitt enthält eine zentrale Prämisse, die durch den überaus relevanten Einschub einer Zusatzbedingung präzisiert wird. Die erste Prämisse des Argumentes lautet, dass lebensgefährliche Handlungen, bei denen man, so die Zusatzbedingung, das Risiko der Lebensgefahr nicht einschränken könne, unvernünftig und unklug sind (P 1). Diese Prämisse wird ergänzt durch eine zweite Prämisse, die eine weitere Zusatzbedingung enthält: Auch dann, wenn lebensgefährliche Handlungen durch unvorhersehbare Zufälle ausnahmsweise keine lebensgefährdenden Konsequenzen nach sich ziehen, sind lebensgefährliche Handlungen unvernünftig (P 2): „Erstens: Gesetzt, ein Mensch begehe eine Handlung, die sein Leben gefährdet, ohne daß er Hilfe vorhersehen oder auf etwas bauen kann. Mag nun auch ein Zufall, den er nicht erwarten konnte, diese Handlung zu seinem Vorteil wenden, so wird sie doch durch solche Zwischenfälle weder vernünftig noch klug“ (LD 15, 112, Hervorhebungen E. O.).

Der zweite Textabschnitt enthält zwei zentrale Prämissen. Die erste Prämisse des zweiten Textabschnittes lautet, dass der Kriegszustand lebensgefährlich ist (P 3). Die zweite Prämisse des zweiten Textabschnitts lautet, dass sich Vertragsbrüchige – weil sie in keine Gesellschaft aufgenommen werden – im Kriegszustand befinden (P 4). Zusammengenommen ergibt sich als Konklusion aus den Prämissen 1, 3 und 4, dass Vertragsbrüche – weil dies Handlungen sind, die den Naturzustand herstellen – lebensgefährliche und also unvernünftige Handlungen sind (C 1): „Zweitens: Im Kriegszustand, wo jedermann aufgrund des Fehlens einer allgemeinen, sie alle in Schranken haltenden Gewalt jedermanns Feind ist, kann niemand darauf hoffen, durch eigene Stärke oder eigenen Verstand ohne Hilfe von Verbündeten sich vor Vernichtung zu bewahren. Hierbei erwarten alle dieselbe Verteidigung durch das Bündnis und folglich kann einer, der es für vernünftig erklärt, seine Helfer zu täuschen, vernünftigerweise auf keine anderen Mittel zu seiner Sicherheit zurückgreifen als auf die, welche ihm seine Einzelmacht bietet. Deshalb kann jemand, der seinen Vertrag bricht und folglich seine Meinung zu erkennen gibt, er könne dies vernünftigerweise tun, in keine Gesellschaft auf­genommen werden, die sich zur Erhaltung des Friedens zusammenschließt […]“ (LD 15, 112).

Soweit wäre das Argument vollständig: Vertragsbrüche stellen den Naturzustand her und sind deshalb lebensgefährliche und folglich unvernünftige Handlungen. Hobbes hatte aber bereits die erste Prämisse durch die Einführung der Zusatzbedingung so definiert, dass lebensgefährliche Handlungen nur dann unvernünftig

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B. Die politische Logik des Körpers

wären, wenn man das Risiko der Lebensgefahr nicht gering halten könnte. Das Argument überzeugt also noch nicht vollständig, weil die Möglichkeit, das Risiko der Lebensgefahr gering zu halten, noch nicht behandelt wurde. Mit dieser Möglichkeit beschäftigt sich Hobbes nun im zweiten Textabschnitt. Dort erfährt eine weitere Prämisse eine spezifische Präzisierung bzw. Erläuterung, die die gewonnene Konklusion (C 1) wieder in Frage stellt. So präzisiert Hobbes die dritte Prämisse (P 3) dahingehend, dass er einräumt, dass es durchaus möglich sei, dass Vertragsbrüche keinen Naturzustand – und also auch keine lebensgefährlichen Konsequenzen – zur Folge hätten. Es sei ja immerhin denkbar, dass Vertragsbrecher in eine Gesellschaft aufgenommen bzw. in dieser geduldet werden würden – nämlich dann, wenn die übrigen Gesellschaftsmitglieder nicht wüssten oder nicht bemerkten, dass der Vertragsbrüchige ihnen schaden würde. Die Zusatzprämisse, dass einige Menschen nicht wüssten, was für ihre Selbst­ erhaltung gut wäre (P 4), benutzt Hobbes also, um zu zeigen, dass die Schluss­ folgerung, ein Vertragsbruch ziehe notwendigerweise den Naturzustand nach sich, unvollständig ist: Wenn Handlungen nur dann unvernünftig sind, wenn sie lebensgefährliche Konsequenzen haben, und der Vertragsbruch nicht notwendigerweise den Naturzustand und also eine lebensgefährliche Konsequenz zur Folge hat, kann mit dem auf diese Art rekonstruierten Argument nicht gezeigt werden, dass Vertragsbrüche immer unvernünftig sind. Auch diese Möglichkeit, dass Vertragsbrüche keine lebensgefährlichen Konsequenzen hätten, wird von Hobbes jedoch mit einer weiteren Prämisse präzisiert. Zur Prämisse, dass das Leben von Vertragsbrüchigen in der Gesellschaft aufgrund der Irrtümer von Menschen, die nicht wissen, was für ihre Selbsterhaltung gut ist, möglich sei (P 4), fügt Hobbes die weitere Prämisse, dass der Vertragsbrüchige solche Irrtümer nicht vernünftigerweise vorhersehen oder einkalkulieren konnte, hinzu (P 5). Weil gemäß der zweiten Prämisse (P 2) lebensgefährliche Handlungen auch dann unvernünftig sind, wenn sie keine lebensgefährlichen Konsequenzen haben, diese fehlenden Konsequenzen aber nicht vorhergesehen werden konnten, ergibt sich als Konklusion aus den Prämissen 1, 2, 3, 4 und 5, dass der Vertragsbrüchige auch dann unvernünftig handelt, wenn sein Vertragsbruch unvorhersehbarerweise keine lebensgefährlichen Konsequenzen hat (C 2). Trotz der prinzipiellen Möglichkeit, dass der Vertragsbruch keine lebensgefährlichen Konsequenzen haben könnte, handelt der Vertragsbrecher also unvernünftig, weil er sich auf den schlecht kalkulierbaren Zufall des Irrtums anderer Menschen nicht verlassen kann: „Deshalb kann jemand, der seinen Vertrag bricht und folglich seine Meinung zu erkennen gibt, er könne dies vernünftigerweise tun, in keine Gesellschaft aufgenommen werden, die sich zur Erhaltung des Friedens zusammenschließt – außer auf Grund des Irrtums derer, die ihn aufnehmen. Und ist er aufgenommen, so kann er sich nicht halten, ohne daß sie die Gefährlichkeit ihres Irrtums bemerken. Niemand kann vernünftigerweise damit rechnen, daß ihm solche Irrtümer seine Sicherheit gewährleisten, und deshalb geht er zugrunde, wenn er aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder hinausgeworfen wird. Und lebt er in Gesell-

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schaft, so nur auf Grund der Irrtümer anderer Menschen, die er weder vorhersehen noch einkalkulieren konnte, dem Vernunftgebot der Erhaltung seiner selbst zuwider, deshalb nämlich, weil alle Menschen, die nicht zu seiner Vernichtung beitragen, ihn nur zu [sic!] schonen, weil sie nicht wissen, was für sie selbst gut ist“ (LD 15, 113, Hervorhebungen E. O.).

Worin besteht also unserer Deutung nach die Narrheit des Narren? Die Narren erkennen nicht, dass ihr Handeln lebensgefährliche Konsequenzen hat und also kein Handeln ist, das Vorteile bringt. Das Argument weist jedoch  – auch durch die Einführung der Zusatzbedingungen – immer noch nicht nach, dass Vertragsbrüche notwendigerweise lebensgefährliche Konsequenzen haben. Es weist lediglich nach, dass Vertragsbrüche, wenn sie lebensgefährliche Konsequenzen haben – oder wenn man vernünftigerweise davon ausgehen muss, dass sie lebensgefährliche Konsequenzen haben – unvernünftig sind. Im Gegenteil macht Hobbes durch die Präzisierungen seiner Prämissen sogar dezidiert darauf aufmerksam, dass durchaus Fälle denkbar sind, in denen Vertragsbrüche keine lebensgefährlichen Konsequenzen haben. Das Problem an den geschilderten Vertragsbrüchen ist jedoch, dass das Ausbleiben der lebensgefährlichen Konsequenzen auf den Irrtümern anderer Menschen, die nicht vorhersehbar oder kalkulierbar sind, beruht. Was aber wäre mit Vertragsbrüchen, von denen man wüsste, oder – in Hobbes’ Terminologie, vorhersehen oder einkalkulieren könnte, dass sie keine lebensgefährlichen Konsequenzen hätten? Wie die erste Prämisse (P 1) zeigt, hält es ­Hobbes durchaus für möglich, Handlungen zu begehen, die prinzipiell lebensgefährlich sein könnten, bei denen man dieses Risiko aber denkbar gering halten kann, weil man „Hilfe vorhersehen oder auf etwas bauen kann“. Solche Handlungen wären nach Hobbes’ Definition keine unvernünftigen oder unklugen Handlungen. Durch die spezifische Formulierung der ersten Prämisse und den expliziten Hinweis auf die Notwendigkeit, ein solches Risiko sicher kalkulieren zu können, macht Hobbes also dezidiert darauf aufmerksam, dass es durchaus vernünftig sein könnte, lebensgefährliche Handlungen zu begehen, wenn man es zugleich verstehen könnte, das Risiko der Lebensgefahr sicher zu kalkulieren und gering zu halten. Sind nun Vertragsbrüche denkbar, bei denen man ein vergleichbar geringes, sicher kalkulierbares Risiko eingehen würde? Die Annahme, dass man die Irrtümer der Menschen, die einen Vertragsbrecher aufnehmen, nicht vorhersehen kann, beruht auf der Prämisse, dass der Vertragsbrecher sich als solcher zu erkennen gibt. Hobbes charakterisiert den Vertragsbrecher explizit als jemanden, der sich lautstark als ein solcher zu erkennen gibt oder – wie Hoekstra es formulierte – der Narr von Hobbes ist ein „explicit foole“.287 Es ist auffällig, dass Hobbes durch 287 Vgl. Hoekstra 1997, 623, Hervorhebungen E. O.: „It may readily be doubted that it is always foolish to deceive those who help one or might help one, but Hobbes is certainly right if what he means is that it is foolish for one who needs help to announce that he thinks it reasonable to deceive one’s helpers. Hobbes’s target here may not be, as is assumed in the usual interpretation, a Silent Foole, but an Explicit Foole.“

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B. Die politische Logik des Körpers

seine Formulierungen überaus deutlich macht, dass der Vertragsbrecher offen über seine Absichten spricht:288 „Narren sagen sich insgeheim, so etwas wie Gerechtigkeit gebe es nicht, und bisweilen ­sagen sie dies auch offen. […] Hierbei erwarten alle dieselbe Verteidigung durch das Bündnis und folglich kann einer, der es für vernünftig erklärt, seine Helfer zu täuschen, vernünftigerweise auf keine anderen Mittel zu seiner Sicherheit zurückgreifen als auf die, welche ihm seine Einzelmacht bietet. Deshalb kann jemand, der seinen Vertrag bricht und folglich seine Meinung zu erkennen gibt, er könne dies vernünftigerweise tun, in keine Gesellschaft aufgenommen werden, die sich zur Erhaltung des Friedens zusammenschließt – außer auf Grund des Irrtums derer, die ihn aufnehmen. Und ist er aufgenommen, so kann er sich nicht halten, ohne daß sie die Gefährlichkeit ihres Irrtums bemerken. Niemand kann vernünftigerweise damit rechnen, daß ihm solche Irrtümer seine Sicherheit gewährleisten, und deshalb geht er zugrunde, wenn er aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder hinaus­ geworfen wird“ (LD 15, 111 f., Hervorhebungen E. O.).

Der Vertragsbrecher ist jemand, der offen erklärt, seine Mitmenschen täuschen zu wollen289 und der seine Meinung zu erkennen gibt, dass er Verträge brechen will. Die Narrheit des Narren besteht demnach nicht unbedingt darin, dass der Narr nicht erkennt, dass Vertragsbrüche notwendigerweise lebensgefährliche Konsequenzen haben – denn solche notwendigen Konsequenzen hatte das Argument gar nicht nachgewiesen. Die Narrheit des Narren besteht vielmehr darin, nicht zu erkennen, dass offene, explizite Vertragsbrüche bzw. die Kommunikation oder offene Darstellung von Täuschungsabsichten notwendigerweise lebens­ gefährliche Konsequenzen haben  – oder dass solche Konsequenzen zumindest vernünftigerweise angenommen werden müssten. Weil Hobbes in seiner Erwiderung auf den Narren freimütig einräumt, dass es durchaus Handlungen geben kann, die  – obwohl prinzipiell lebensgefährlich  – dennoch vernünftig sind, nämlich solche, bei denen man dieses Risiko gering halten kann, weil man „Hilfe vorhersehen oder auf etwas bauen kann“ (P 1) scheint 288

Diese Beobachtung teile ich mit Hoekstra, der – unter Berücksichtigung zahlreicher weiterer Textbelege, die die Sensitivität von Hobbes für den Unterschied zwischen privater und öffentlicher Kommunikation belegen – in Bezug auf unsere zitierte Textstelle Folgendes feststellte: „Hobbes, who was so sensitive to the crucial difference between thinking something and publicly proclaiming it, is not likely to have been careless or haphazard when specifying that the Foole says with his tongue and alleges and declares his doctrine“ (Hoekstra 1997, 625, Hervorhebungen E. O.). Lloyd 2009, 311, erklärt sich Hobbes’ wiederholtes Insistieren auf die Explizitheit des Narren damit, dass der Narr seine Handlungen im Nachhinein explizit zu rechtfertigen versucht. Diese Deutung kann aber dem Räsonnement des Narren, der, wie der Wortlaut zeigt, unter anderem das Schließen von Verträgen erwägt und sich also vor einer möglichen Handlung befindet und deren mögliche Vorteile erwägt, nicht gerecht werden. 289 Hoekstra beobachtet zutreffenderweise, dass nicht nur der Bruch von Verträgen, sondern auch das Vortäuschen von Verträgen eine Handlung ist, die vom Narren erwogen wird: „Note, though, that the Foole’s words are open to the richer interpretation that it will also be reasonable to make a covenant solely for the benefit that the making of it will confer, even without the initial intention of keeping the covenant“ (Hoekstra 1997, 621). Hoekstra führt diese Deutungsmöglichkeit in seinem Aufsatz allerdings nicht näher aus – für unsere Deutung kann Hoekstras Einschätzung aber, wie im Folgenden gezeigt werden soll, unterstützend herangezogen werden.

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es uns durchaus plausibel, anzunehmen, Hobbes habe den Narren vor der Dummheit eines offenen Vertragsbruches warnen wollen und die Maske des Narren bzw. des Zwiegesprächs mit dem Narren dazu benutzt, die „unreine Wahrheit“ mit­ zuteilen, dass heimliche und unerkannte Vertragsbrüche durchaus vorteilhaft sein können. Immerhin hatte Hobbes im achten Kapitel ja selbst auf die Möglichkeit hingewiesen, „unreine Wahrheiten“ mitzuteilen – jedoch hinzugefügt, dass es in der Öffentlichkeit gefährlich sei, solche Wahrheiten mitzuteilen, wenn sie nicht als Torheit (folly) ausgelegt werden würden. Unsere Deutung, wonach Hobbes den Macht­gierigen und Verständigeren empfiehlt, sich unbemerkt an ihren Mitmenschen zu bereichern, weil diese heimlichen Vertragsbrüche bzw. die Vortäuschung bestimmter Absichten herrlich kalkulierbar wären, kann durch diese Analyse des Argumentes des Narren (und durch die in vielen Punkten parallelen Beobachtungen von Hoekstra) also zusätzlich plausibilisiert werden.290 Ein möglicher Einwand ergibt sich jedoch daraus, dass Hobbes die Argumentation bzw. das Räsonnement des Narren explizit als „falsch“ bezeichnet hatte und dass Hobbes seine Erwiderung auf den Narren an dieser Stelle noch nicht beendet, sondern zwei weitere Argumente nachschiebt: Während das erste zweigeteilte Argument sich dem Vertragsbruch zwischen Untertanen innerhalb eines Staates widmet, folgen diesem Argument gegen den Vertragsbruch zwischen Untertanen zwei weitere Argumente, die sich explizit auf den Bruch des Gesellschaftsvertrags durch Rebellion oder Tötung des amtierenden Souveräns beziehen. Unsere Vermutung, 290

Unsere Deutung teilt Hoekstras Auffassung, wonach die Narrheit des Narren in dessen Explizitheit und in dessen Schlussfolgerung der Vernünftigkeit der Rebellion besteht. Gegen Hoekstra sind wir allerdings der Meinung, dass Hobbes durchaus nicht annimmt, dass die Fälle lohnenswerter Übervorteilungen selten wären, sondern dass Hobbes die permanente Möglichkeit der Übervorteilung als Argument benutzt, mit dem der potentielle Souverän machtgierige Menschen zur Loyalität und Zivilität überreden kann: „The Foole seems to think of profitable injustice as a relatively common possibility and regards certain actions (such as attempting to seize a kingdom) as always reasonable. Hobbes regards profitable injustice as a rarity and the unjust actions favored by the Foole – especially rebellion – as the most unreasonable of all; he also considers the Foole’s pronouncement of his doctrine to be the height of witlessness“ (Hoekstra 1997, 639). Wir teilen daher auch nicht die Auffassung Hoekstras, wonach Hobbes primäre Intention der Frieden sei „He is certainly right to see that the public es­pousal of the reasonableness of contract breaking and illegal behavior poses a grave threat to the precious peace he so assiduously seeks“ (Hoekstra 1997, 628). Zu Recht übt Lloyd 2009, 312 f. Kritik an Hoekstra insofern, als die Deutung von Hobbes’ Erwiderung als einer Kritik am expliziten Narren unter der Annahme des Friedensziels nicht ganz nachvollziehbar sei: „Third, were Hobbes concerned only with explicit Fooles, it would, as others of Hoekstra’s critics have noted, be difficult to account for the interest of Hobbes’s reply. If all Hobbes can show that it is foolish to commit injustice in a way that will get you caught and punished, what may seem the most interesting part of the Foole’s challenge remains unmet.“ Hoekstra selbst scheint andere Intentionen von Hobbes zumindest in Erwägung zu ziehen, am Ende seines Aufsatzes aber wieder zu verwerfen: „It may be that one reason why such things are not to be mentioned is that Hobbes is not eager to emphasize that he shares certain premises with the silent Foole, for to write in defense of the silent Foole is to be an explicit Foole. […] From his first writings to his last, Hobbes has  a consuming preoccupation with those who publicly incite disobe­ dience. If these can be controlled, civil war may be avoided […]“ (Hoekstra 1997, 638 und 640).

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B. Die politische Logik des Körpers

worin die Narrheit des Narren besteht – nämlich im offenen Vertragsbruch bzw. der Explikation der Täuschungsabsicht – ist folglich eventuell noch nicht vollständig. Nimmt man Hobbes beim Wort, so bezieht er sein Urteil über die Falschheit der Argumentation des Narren explizit auf einen besonderen Fall – nämlich den Fall, dass der gegenwärtige Herrscher getötet wird. Hobbes’ Urteil der Falschheit der Argumentation des Narren bezieht sich also auf eine ganz bestimmte Schlussfolgerung, nicht aber auf die Prämisse der primären Handlungsmotivation des Menschen: „Solche Beispiele können einen leicht zu dem Schluß verleiten, daß, wenn der rechtmäßige Erbe eines Königreichs den gegenwärtigen Herrscher tötet, selbst wenn es sein Vater ist, du dies als Ungerechtigkeit oder mit einem beliebigen anderen Namen bezeichnen könntest, daß dies aber der Vernunft niemals zuwiderlaufen kann, da alle willentlichen Handlungen der Menschen ihren eigenen Vorteil zum Ziel haben und jene Handlungen die vernünftigsten sind, die am meisten zu ihren Zielen beitragen. Diese bestechende Argumentation ist trotzdem falsch“ (LD 15, 111 f.).

Unsere Deutung dieser Textstelle, dass Hobbes nur diese spezielle Schlussfolgerung der Vernünftigkeit des Herrschermordes, nicht aber alle dabei zum Einsatz kommenden Prämissen oder deren argumentative Verknüpfung als falsch bezeichnen möchte, kann gestützt werden durch den Umstand, dass Hobbes die beiden Prämissen, wonach „alle willentlichen Handlungen der Menschen ihren eigenen Vorteil (benefit) zum Ziel haben und jene Handlungen am vernünftigsten sind, die am meisten zu ihren Zielen beitragen“, in seiner Erwiderung auf den Narren selbst benutzt. Er erklärt in seiner Präzisierung der Fragestellung, untersuchen zu wollen, ob „die Erfüllung der Vernunft, das heißt dem Vorteil (benefit) […] widerspricht oder nicht“ und erklärt im ersten Textabschnitt, dass lebensgefährliche Handlungen, die sich durch Zufall „zu seinem Vorteil (benefit) wenden“ würden, dadurch weder vernünftig noch klug würden. Die zweite Narrheit des Narren würde unserer Deutung zufolge also darin bestehen, zu denken, dass es sich als vorteilhaft erweist, gegen den amtierenden Souverän zu rebellieren und diesen zu töten. Für diese Deutung spricht neben der Tatsache, dass Hobbes sein Urteil über die Falschheit der Argumentation des Narren explizit auf dessen Schlussfolgerung der Rechtmäßigkeit des Herrschermordes, nicht aber auf dessen Prämissen bezieht, auch der Umstand, dass Hobbes gegen diese mögliche Schlussfolgerung zwei weitere Argumente präsentiert, die  – im Vergleich zu dem ersten – durchaus stärker sind.291 Während das erste Argument, das mit der Lebensgefährlichkeit offener Vertragsbrüche argumentierte, sehr einfach dadurch außer Kraft gesetzt werden konnte, dass man auf das Fehlen vergleichbarer Konsequenzen bei heimlichen Vertragsbrüchen hinwies, sind die beiden Argumente, die Hobbes im Anschluss gegen die Vernünftigkeit der Rebellion bzw. des Herrschermordes liefert, durchaus anspruchsvoller. 291 Soweit ich sehe, wurde in der Literatur zu Hobbes’ Erwiderung auf den Narren nicht genügend in Erwägung gezogen, dass sich Hobbes’ Beurteilung der Argumentation des Narren als falsch nur auf dessen Schlussfolgerung des Herrschermordes bezog.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Bei dem ersten Argument gegen Rebellion verwendet Hobbes ebenfalls wieder die auch vom Narren geteilte Prämisse, wonach diejenigen Handlungen am vernünftigsten sind, die am meisten zur Zielerreichung beitragen. Basierend auf der im ersten Abschnitt formulierten Prämisse (P 1), nach der lebensgefährliche Handlungen, bei denen man die lebensgefährlichen Konsequenzen begründeterweise annehmen müsste (P 2), unvernünftig und unklug sind, versucht Hobbes zu zeigen, dass Rebellion eine unvernünftige weil vermutlich lebensgefährliche Handlung sei (C), weil man vernünftigerweise erwarten müsse (P 2) dass sowohl der Erwerb (P 3), als auch die dauerhafte Ausübung einer so erworbenen Herrschaft (P 4) mit lebensgefährlichen Konsequenzen verbunden sei: „Und was das andere Beispiel, das Erwerben der Souveränität durch Rebellion betrifft, so ist klar, daß es der Vernunft widerspricht, dies zu versuchen, weil selbst dann, wenn der ­Erfolg eintritt, dies doch vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sondern eher das Gegenteil, und weil durch diese Art des Erwerbens andere darauf gebracht werden, sich die Souveränität auf dieselbe Art zu verschaffen“ (LD 15, 113).

Weil die Lebensgefährlichkeit der Rebellion und die mögliche Vorbildwirkung durchaus eine gewisse Plausibilität besitzt, ist Hobbes erstes Argument gegen die Rebellion als vergleichsweise erfolgreiches Argument einzustufen. Hobbes scheint nach diesem Argument seine Widerlegung des Narren auch zunächst abschließen zu wollen, weil er unmittelbar im Anschluss daran schlussfolgert, dass es sinnvoll sei, sich an Verträge zu halten: „Gerechtigkeit, das heißt das Einhalten von Verträgen, ist deshalb eine Regel der Vernunft, die uns verbietet, alles zu tun, was unserem Leben schadet und folglich ein natürliches Gesetz“ (LD 15, 113). Diese Zusammenfassung ist nun nicht deshalb relevant, weil sie etwa die erfolgreiche Argumentation von Hobbes gegen die Position des Narren abschließen würde – dass das Argument für das Einhalten privater Verträge zwischen Untertanen durchaus schwach ausgefallen war, wurde bereits gezeigt. Vielmehr ist sie relevant, weil sie unsere Deutung der natürlichen Gesetze ein weiteres Mal plausibilisiert: Bei den natürlichen Gesetzen handelt es sich um Klugheitsregeln, die der eigenen Selbsterhaltung dienen – nur weil und nur wenn sich eine Handlung als selbsterhaltungsdienlich erweist, kann eine sich auf eine solche Handlung beziehende Handlungsvorschrift als ein natürliches Gesetz betrachtet werden. Unsere Deutung der natürlichen Gesetze als leidenschaftsabhängige Klugheitsregeln, die These der Priorität des natürlichen Rechts auf Selbsterhaltung und die davon abgeleiteten, nur bedingten Pflichten erfährt durch diese Formulierung von Hobbes nochmals Unterstützung.292 292 Diese Zusammenfassung von Hobbes widerspricht auch der Deutung von Lloyd: Vordergründig versucht Hobbes durchaus, für die Zweckdienlichkeit des Einhaltens von Verträgen zu argumentieren, wie nicht nur der Wortlaut der Zusammenfassung, sondern auch seine Präzisierung der zu untersuchenden Fragestellung zweifelsfrei belegen. Dass man am Erfolg dieses Unternehmens zweifeln kann, weil das Argument, mit dem Hobbes die Rationalität des Einhaltens von Verträgen zwischen Untertanen zu begründen versucht, denkbar schwach ausfällt, ändert nichts daran, dass man diese erklärte Intention zunächst einmal ernst nehmen

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B. Die politische Logik des Körpers

Auch das weitere Argument gegen Rebellion nimmt explizit Bezug auf diese Deutung der natürlichen Gesetze: Hobbes erwägt dort die Möglichkeit, das natürliche Gesetz als eines zu verstehen, welches zur Erlangung jenseitiger Freuden diene, verwirft diese Möglichkeit aber deswegen, weil es – im Gegensatz zum Erfahrungswissen lebendiger Menschen – kein Wissen über den Zustand des Menschen nach dem Tod gebe. Auch in diesem Argument werden die natürlichen Gesetze aber ausdrücklich als Klugheitsregeln, die das befehlen, was der menschlichen Selbsterhaltung dient, begriffen: „Es gibt Leute, die weiter gehen und das natürliche Gesetz nicht als diejenigen Regeln, welche zur Erhaltung des menschlichen Lebens auf Erden dienen, ansehen wollen, sondern als diejenigen, welche zur Erlangung der ewigen Glückseligkeit nach dem Tode führen. Sie meinen, der Bruch eines Vertrags könne dazu beitragen und sei folglich gerecht und vernünftig. Das sind die Leute, die es als verdienstvolles Werk ansehen, die souveräne Gewalt, die mit ihrer eigenen Zustimmung über ihnen errichtet worden war, zu töten, abzusetzen oder gegen sie zu rebellieren. Aber da es kein natürliches Wissen vom Zustand des Menschen nach dem Tode gibt, noch viel weniger von der Belohnung, die dann einem Treubruch zuteil wird, sondern nur ein Glaube, der sich auf die Behauptungen anderer Menschen stützt, sie wüßten es auf übernatürliche Weise, oder ihnen seien Leute bekannt, die Leute kannten, die andere kannten, die es auf übernatürliche Weise wußten, so kann ein Treubruch nicht als Vorschrift der Vernunft oder Natur bezeichnet werden“ (LD 15, 113).

Auch dieses Argument besitzt – zumindest im Vergleich mit dem Argument gegen den Vertragsbruch zwischen Untertanen – durchaus eine gewisse Plausibilität.293 Unsere bisherige Rekonstruktion von Hobbes’ Widerlegungsversuch des Narren ergab, dass Hobbes die Darstellung der Position des Narren mit der möglichen Schlussfolgerung des Herrschermordes abschließt und nur diese als falsch beurteilt, sich in seinem Widerlegungsversuch jedoch zunächst nicht mit dieser falschen Schlussfolgerung, sondern mit dem Vertragsbruch zwischen Unter­ tanen beschäftigt. Während das Argument, das Hobbes gegen den Vertragsbruch zwischen Untertanen liefert, denkbar schwach ausfällt, weil es genaugenommen

muss. Dagegen jedoch Lloyd 2009, 303: „So it would be a mistake to imagine that ­Hobbes’s reply to the Foole is meant to establish covenant keeping as a rule of reason und thus a Law of Nature.“ 293 Hobbes setzt sich in seiner Widerlegung des Narren an keiner Stelle mit der These – die der Narr übrigens heimlich vertritt – dass es keinen Gott gebe, auseinander, sondern weist vielmehr auf das Problem hin, welches dem Souverän durch die Religiosität seiner Untertanen erwachsen kann: Aus Gründen religiöser Überzeugung könnten Menschen – zumal, wenn sie von Klerikern dazu überredet würden – zu der Auffassung gelangen, es sei ihre Pflicht als Gläubige zu rebellieren. Lloyds’ These, dass Hobbes dieses Problem der Rebellion Gläubiger fundamental ernst nimmt, ist auf jeden Fall berechtigt, zumal Hobbes an zahlreichen Stellen auf diese Gefahren hinweist. Anders als Lloyd kommt unsere Deutung aber zu dem Schluss, dass Hobbes’ Erziehungsprogramm darauf zielt, durch ein neues Selbstverständnis des Menschen als Körperwesen den Einfluss und die Überzeugungskraft religiöser Positionen zurückzudrängen. Vgl. zur Argumentation für diese These das Kapitel B. III. 2. c) aa)  dieser Arbeit.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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nur diejenigen Vertragsbrüche als unvernünftig ausweist, die als offene Vertrags­ brüche vermutlich lebensgefährliche Konsequenzen haben, besitzen seine beiden danach formulierten Argumente, mit denen er die Unvernünftigkeit der Rebellion und des Herrschermordes zu begründen sucht, durchaus eine gewisse Plausibilität. Die Tatsache, dass Hobbes ein schwaches Argument gegen die Übervorteilung und den Vertragsbruch unter Bürgern, jedoch vergleichbar stärkere Argumente gegen Rebellion und Herrschermord liefert, scheint uns  – ebenso wie seine ex­ pliziten Hinweise darauf, dass nur Vertragsbrüche, deren mögliche Konsequenzen man nicht sorgfältig kalkulieren könnte, unvernünftig wären – dafür zu sprechen, dass Hobbes den listigen und machtgierigen Menschen durchaus empfiehlt, sich an anderen Menschen zu bereichern, während er die zugleich dringend davor warnt, Rebellion oder Herrschermord zu begehen. Was unserer bisherigen Deutung von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren zusätzliche Plausibilität verleihen kann, ist der Umstand, dass Hobbes seine Argumentationskette abschließt mit einem letzten schwachen Argument gegen den Vertragsbruch zwischen Untertanen. Hobbes erwägt die Möglichkeit, dass die Pflicht, sich an abgeschlossene Verträge zu halten, nur für Verträge mit solchen Menschen gelten könnte, von denen man wüsste, dass diese sich an Verträge halten würden. Er argumentiert vordergründig gegen eine solche Position: Basierend auf der Prämisse, dass abgeschlossene Verträge verpflichten, argumentiert Hobbes gegen die Möglichkeit einer nur selektiven Verpflichtung: Weil sich Menschen ja selbst aussuchen würden, mit wem sie Verträge eingehen würden und die Verpflichtung nur auf ihrer freiwilligen Zustimmung resultiere, sei es nicht denkbar, solche selektiven Verpflichtungen anzunehmen. „Andere, die das Halten von Treu und Glauben als ein natürliches Gesetz anerkennen, machen trotzdem bei bestimmten Personen Ausnahmen, wie bei Ketzern und solchen Leuten, die gewöhnlich anderen gegenüber ihre Verträge nicht einhalten. Das ist ebenfalls wider die Vernunft. Denn wenn ein Fehler eines Menschen ausreicht, uns von einem abgeschlossenen Vertrag zu entbinden, so hätte dieser Fehler vernünftigerweise auch genügen müssen, den Abschluß zu verhindern“ (LD 15, 113 f.).

Während dieses Argument auf den ersten Blick gegen unsere Deutung (wonach Hobbes den machtgierigen Menschen in der Maske des Narren nahelegt, sich unerkannt an anderen zu bereichern) zu sprechen scheint, zeigt eine genauere Betrachtung, dass es unsere Deutung durchaus stützen kann: Hobbes suggeriert in diesem Argument zwar zunächst eine unbedingte Pflicht zur Vertragstreue. Eine solche Prämisse widerspricht jedoch erstens der klugheitstheoretischen Deutung der ­natürlichen Gesetze, die Hobbes wenige Zeilen zuvor explizit wiederholt hatte: Sofern man überhaupt von Pflichten sprechen kann, dann nur als Handlungsregeln, die der eigenen Selbsterhaltung förderlich sind. Und sie widerspricht zweitens den Voraussetzungen, die Hobbes seiner eigenen Erwiderung auf den Narren zu Grunde gelegt hatte: Dort wurde die Reziprozität, d. h. die Gewissheit, dass der andere sie erfüllen würde, explizit als Rationalitätsbedingung für das Einhalten von Verträgen eingeführt. Außerdem gibt Hobbes in diesem Argument unumwun-

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B. Die politische Logik des Körpers

den zu, dass es Menschen gibt, die sich gewöhnlich nicht an ihre Verträge halten. Mit dem Argument zeigt Hobbes also, dass die Rationalitätsbedingungen, die vorliegen müssten, um das Einhalten von Verträgen vernünftig zu machen, gar nicht erfüllt sind. Mit dem letzten Argument der Argumentationskette, das vordergründig für eine bestehende Pflicht, sich an abgeschlossene Verträge zwischen Untertanen zu halten, argumentiert, zeigt Hobbes also, dass das Einhalten von Verträgen nicht immer dem eigenen Vorteil dienen kann und daher nicht das Halten von Verträgen, sondern vielmehr das Brechen von Verträgen – wenn man es versteht die lebensgefährlichen Konsequenzen abzuwenden – vernünftig sein kann. Fassen wir unsere Deutung von Hobbes’ Erwiderung auf die Argumentation des Narren nochmals zusammen: Unserer Deutung zufolge besteht die Narrheit des Narren – darin folgen wir Hoekstra – auf der einen Seite darin, ein expliziter Narr zu sein, d. h. die lebensgefährlichen Konsequenzen eines offenen Vertragsbruchs zwischen Untertanen nicht einzukalkulieren. Zweitens besteht die Narrheit des Narren darin, nicht zu erkennen, dass Rebellion und Herrschermord auf lange Sicht immer lebensgefährlich und daher unvernünftig sind. Im Gegensatz zu Hoekstra gehen wir jedoch nicht davon aus, dass Hobbes dem Narren mitteilen möchte, dass Vertragsbrüche fast immer unvorteilhaft sind.294 Die Bestimmung der Narrheit des Narren als lautstarke Kommunikation seiner Absicht zum Vertragsbruch lässt vielmehr die Möglichkeit zu, dass es zahlreiche stumme bzw. unerkannte Möglichkeiten des Vertragsbruchs bzw. der Übervorteilung gibt. Durch seine Erwiderung auf den Narren kann Hobbes den machtgierigen Menschen – also denjenigen mit den größeren Verstandeskräften – mitteilen, dass es durchaus Fälle gibt, in denen sich ein heimlicher Vertragsbruch oder das Missachten einer Reziprozitätsorientierung zwischen Untertanen auszahlen würde und die gleichen machtgierigen Menschen zugleich dringend davor warnen, sich am Souverän zu vergreifen. Der Umstand, dass Hobbes ziemlich schwache Argumente gegen den Vertragsbruch zwischen Untertanen geliefert hat, vermag unsere These, dass es sich dabei um eine regelrechte Aufforderung zur Übervorteilung handelt, vielleicht noch nicht plausibel genug erscheinen lassen. Auch wenn Hobbes’ eigene Ausführungen im achten Kapitel, in denen er erklärt, unreine Wahrheiten ließen sich geschützt unter der Maske der Narrheit mitteilen, und in diesem Kapitel ebenfalls die List unter rein instrumenteller Perspektive beurteilt, bereits durchaus für unsere Deutung sprechen, lässt sich dieselbe auch durch den weiteren Fortgang des Textes noch zusätzlich plausibilisieren:

294 „The Foole seems to think of profitable injustice as a relatively common possibility and regards certain actions (such as attempting to seize a kingdom) as always reasonable. Hobbes regards profitable injustice as a rarity and the unjust actions favored by the Foole – especially rebellion – as the most unreasonable of all; he also considers the Foole’s pronouncement of his doctrine to be the height of witlessness“ (Hoekstra 1997, 639).

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Hobbes’ Erwiderung auf den Narren stellt den angeblichen Versuch dar, das dritte natürliche Gesetz zu begründen. Bevor Hobbes im 15. Kapitel mit der Erläuterung der weiteren natürlichen Gesetze beginnt, widmet er sich der Erörterung der Frage, was Gerechtigkeit bedeutet. Auch diese Erörterung steht, weil sie inhaltlich Bezug nimmt auf eine an exponierter Stelle stehende und mehrfach wiederholte Behauptung des Narren295 und formal zur Argumentation für das dritte natürliche Gesetz gehört, in einem systematischen Zusammenhang mit Hobbes’ Erwiderung auf den Narren.296 Hobbes unterscheidet unmittelbar im Anschluss an seine Argumentationskette der Narren-Erwiderung im Fortgang des 15. Kapitels zwischen einer Gerechtigkeit der Sitten und einer Gerechtigkeit der Handlungen. Er betont an dieser Stelle, an der er zunächst die Gerechtigkeit der Sitten beschreibt, nochmals, dass das ­Einhalten von Verträgen aus dem Empfinden einer moralischen Pflicht heraus sehr unwahrscheinlich wäre – zumindest könne ein solcher Edelmut, der einen davon abhielte, zu Betrügerei und Vertragsbruch zu greifen, sehr selten angetroffen werden: „Das, was den menschlichen Handlungen den Charakter von Gerechtigkeit gibt, ist eine ­gewisse Vornehmheit oder ein gewisser Edelmut, die man selten antrifft und die einen Menschen darauf verzichten lassen, zu Betrug und Bruch von Versprechen zu greifen, um seine Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Diese Gerechtigkeit der Sitten meint man, wenn man Gerechtigkeit eine Tugend und Ungerechtigkeit ein Laster nennt“ (LD 15, 114).

Wenn aber die Handlungen von Menschen Gegenstand von Gerechtigkeits­ erwägungen werden, sei die vertragliche Perspektive die einzige, die Grundlage für die Beurteilung der Handlungen darstelle. Hobbes führt an einem Beispiel aus, wie die Vertragsperspektive der Gerechtigkeit, die Verpflichtungen nur aus Verträgen hervorgehen sieht, zu einer Möglichkeit führt, sich an anderen Menschen zu bereichern, ohne dass dies als ungerecht eingestuft werden könnte: Wenn Gerechtigkeit im Einhalten von Verträgen besteht, können Handlungen anderen Menschen gegenüber, mit denen man in keinem vertraglichen Verhältnis steht, niemals als ungerecht bezeichnet werden. Was bedeutet das aber beispielsweise für auf gegenseitigem Vertrauen basierende Übereinkünfte? Diese stellen, wie Hobbes verdeutlicht, aus eben diesem Grund eine geeignete Möglichkeit dar, sich an anderen Menschen, die gutmütiger, weniger mächtig oder ängstlicher sind, zu bereichern: „Die Ungerechtigkeit der Handlung aber, das heißt Unrecht, setzt eine bestimmte Person voraus, nämlich diese, mit der der Vertrag geschlossen worden war, weshalb oftmals das 295

„Narren sagen sich insgeheim, so etwas wie Gerechtigkeit gebe es nicht, und bisweilen sagen sie dies auch offen. […] Sie leugnen dabei nicht, daß es Verträge gibt, und daß sie bisweilen gebrochen, bisweilen gehalten werden und daß ihr Bruch Ungerechtigkeit und ihr Bruch Gerechtigkeit genannt werden kann […]“ (LD 15, 111). 296 Die Behandlung von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren erstreckt sich dagegen, soweit ich sehe, in der Literatur meist nur bis auf das oben zuletzt genannte Argument. So setzen sich mit der Erörterung der Gerechtigkeit in ihrer Behandlung von Hobbes’ Erwiderung auf den Narren nicht oder nicht detailliert auseinander, bspw. Rhodes 1992, Zaitchik 1982, Lloyd 2009, 302–317.

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Unrecht dem einen widerfährt, während der andere den Schaden erleidet. Wenn z. B. der Herr seinem Diener befiehlt, einem Fremden Geld zu geben, und dies geschieht nicht, so wurde das Unrecht dem Herrn zugefügt, mit welchem der Diener zuvor vertraglich Gehorsam vereinbart hatte, aber der Schaden trifft den Fremden, gegen den er keine Verpflichtung hatte und dem er deshalb auch kein Unrecht zufügen konnte. Und so können sich auch im Staate Privatpersonen ihre Schulden gegenseitig erlassen […]“ (LD 15, 114 f.).

Sofern es also keinen Vertrag über die Rückerstattung der Schulden gibt, könne es per definitionem gar nicht als Unrecht bezeichnet werden, seine Schulden nicht zurückzubezahlen. Dass Hobbes diese Art der Bereicherung an anderen Menschen durchaus für einen möglichen Weg hält, wird auch an einer Stelle sichtbar, an der er betont, dass es ja eine freie Entscheidung sei, ob man seine Schulden zurückzahlen wolle. Hobbes bedient sich an dieser Stelle eines Beispiels, welches an ein anderes denken lässt, das in die philosophische Ideengeschichte als „Brett des Karneades“ eingegangen ist. Während Karneades das Beispiel zweier Schiffbrüchiger benutzte, die sich um eine Schiffsplanke streiten, um gegen die Vorstellung einer natürlichen Gerechtigkeit zu argumentieren und das Recht des Stärkeren zu illustrieren,297 verwendet Hobbes die nautische Metapher um die Dummheit der Ängstlichen zu illustrieren. Im Rahmen des Beweisziels, dass Handlungen, die aus Furcht erfolgen, freiwillige Handlungen sind, führt Hobbes das Beispiel eines Menschen an, der freiwillig sein Hab und Gut über Bord wirft und verbindet dies mit der für ihn analogen Situation, freiwillig seine Schulden zurückzubezahlen: „Furcht und Freiheit sind vereinbar. Wenn z. B. jemand aus Furcht, das Schiff könne sinken, seine Ladung ins Meer wirft, so tut er dies dennoch mit vollem Willen und kann es auch unterlassen, wenn er will – deshalb ist dies die Handlung eines Freien. Ebenso gibt es Leute, die ihre Schulden nur aus Furcht vor dem Gefängnis bezahlen. Dennoch ist dies die Handlung eines freien Menschen, da ihn niemand daran hinderte, das Geschuldete vorzuenthalten. Und gewöhnlich besaßen bei allen Handlungen, die in einem Staate aus Furcht vor dem Gesetz vorgenommen wurden, die Handelnden die Freiheit, sie zu unterlassen“ (LD 21, 163 f.). 297 Hüning 1998, 13–30, setzt sich explizit mit der Frage auseinander, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Karneades und Hobbes bestehen und verweist in diesem Zusammenhang auf die entsprechenden Quellentexte (Cicero, Lactanz), die die Lehre von Karneades, von dem selbst keine Schriften erhalten sind, darstellen. Hüning räumt dabei ein, dass auffallende Parallelen zwischen Karneades und Hobbes existieren, unter anderem was die Ablehnung des Naturrechts, die Eigennützigkeit der Menschen und die Notwendigkeit der Strafandrohung für den Gesetzesgehorsam angeht, beharrt jedoch darauf, dass Hobbes nichtsdestotrotz die philosophische Begründung von Recht für möglich erachtet hätte: „Hobbes lehrt (hierin in Übereinstimmung mit Karneades), daß der objektive Grund der Möglichkeit und Notwendigkeit des Rechtszwangs nicht in dem gefunden werden kann, was die Menschen aufgrund ihrer anthropologischen Verfaßtheit von Natur aus wollen. Aber unter dieser Voraussetzung stellt sich erneut die Frage, wo denn, wenn nicht in der Natur, die Gründe einer möglichen zwangsweisen Einschränkung der Freiheit zu finden sind? Hobbes’ revolutionäre Antwort, die im folgenden en détail untersucht werden soll, lautet: Der Grund des Rechts (im objek­tiven Sinne, d. h. als Einschränkung der Freiheit) liegt nicht darin, daß Rechtsgesetze zur Realisierung bestimmter tugendhafter Zwecke der Menschen notwendig sind, sondern das Recht gründet in der Freiheit der Menschen, d. h. in ihrer Fähigkeit, ihr Tun und Lassen im Rahmen möglicher Selbsterhaltung nach Regeln der Vernunft auszurichten“ (Hüning 1998, 29).

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Für unseren Zusammenhang relevant ist, dass sich dieses neue, vertragstheoretische Verständnis von Gerechtigkeit aus Hobbes’ Grundentscheidung ergibt, den Menschen primär als einen leidenschaftsbewegten Körper zu verstehen. Weil Freiheit von Hobbes als eine Freiheit von Körpern verstanden wird,298 die in ihrem Verlangen auf kein Hindernis stoßen, können Handlungen aus Furcht als freie Handlungen begriffen werden. Durch die Verschiedenheit der menschlichen Verlangen und die darauf basierende Verschiedenheit der Verstandeskräfte ergeben sich dadurch erhebliche Möglichkeiten der individuellen Bereicherung derjenigen Körper, die über stärkere Leidenschaften verfügen: Mit Menschen, die aus Dummheit, Gutmütigkeit oder Furchtsamkeit in Verträge einwilligen, die für sie selbst weniger Vorteile bringen als für den Vertragspartner, Geschäfte zu machen, ist dann lukrativ und gleichwohl rechtmäßig. Hobbes nennt in diesem Zusammenhang nicht nur die Möglichkeit der Übervorteilung durch das „Ausleihen“ von Geld, ohne dies zurückzuerstatten (ganz zu schweigen von dem bereits erwähnten Fall des „Lösegeldvertrags“). Vielmehr erörtert er ganz allgemein und in Bezug auf viele mögliche Fälle, inwiefern das Vertragsmodell die Chance bietet, sich an Menschen, die andere Neigungen haben, d. h. beispielsweise furchtsamer, gutmütiger oder dümmer sind, zu bereichern. In der Diskussion des Gerechtigkeitsbegriffs markiert Hobbes nicht nur in aller Deutlichkeit die Unterschiede dieses neuen vertragstheoretischen Gerechtigkeitsverständnisses zur klassischen, etwa aristotelischen­ Gerechtigkeitstheorie:299

298 Vgl. wiederum die Belegstelle aus dem 21. Kapitel des Leviathan: „Und nach dieser genauen und allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes ist ein Freier, wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstands tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen. Werden aber die Wörter frei und Freiheit auf andere Dinge als auf Körper angewandt, so werden sie mißbraucht, denn was nicht bewegt werden kann, kann auch nicht gehindert werden. […] Endlich kann von der gewöhnlichen Verwendung des Wortes Willensfreiheit nicht auf die Freiheit des Willens, des Verlangens oder der Neigung geschlossen werden, sondern auf die Freiheit des Menschen, die darin besteht, daß er bei der Verfolgung dessen, was er will, nach dem er verlangt und wozu er neigt, auf kein Hindernis stößt“ (LD 21, 163, Hervorhebungen E. O.). 299 Hobbes hat die Gerechtigkeitstheorie des Aristoteles, die dieser im fünften Buch der Nikomachischen Ethik formuliert, im Auge. Aristoteles unterscheidet dort zwischen der geometrischen und der arithmetischen Proportionalität und verlangt, dass der vertragliche Verkehr unter Bürgern der arithmetischen Proportionalität folgen sollte, das heißt die getauschten Gegenstände einem Maß der Gleichheit entsprechen sollten: „Das Gerechte im Verkehr ist zwar auch ein Gleiches und das Ungerechte ein Ungleiches, doch nicht nach jener genannten, sondern nach der arithmetischen Proportionalität“ (EN V, 7, 1131b32 f.). „Darum muß auch alles, wovon es Tausch gibt, vergleichbar sein. Dazu ist das Geld bestimmt und ist sozusagen eine Mitte. Denn es mißt alles, also auch das Übermaß und den Mangel und auch, wie viele Schuhe einem Haus oder Nahrungsmittel äquivalent sind. Wie also der Baumeister zum Schuster, in demselben Maße verhalten sich die Schuhe zum Haus oder zum Nahrungsmittel; wäre das nicht möglich, so gäbe es weder Tausch noch Gemeinschaft“ (EN V, 8, 1133a19 ff.).

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„Die Gerechtigkeit von Handlungen wird in der Literatur gewöhnlich in ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit eingeteilt, wobei die erste angeblich auf einem arithmetischen, die zweite auf einem geometrischen Verhältnis beruht. Die ausgleichende Gerechtigkeit liegt nach dieser Ansicht in der Wertgleichheit der Gegenstände, über die der Vertrag abgeschlossen wurde, und die austeilende in der Verteilung gleicher Vorteile unter Menschen von gleichem Verdienst“ (LD 15, 115).

Vielmehr macht er im gleichen Moment auch auf die Vorteile seiner neuen vertragstheoretischen Gerechtigkeitstheorie aufmerksam. Die auf dem Begriff körperlicher Freiheit basierende Vertragstheorie der Gerechtigkeit ist gerade deshalb vorteilhaft für die individuelle Bereicherung, weil sie von der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften und deshalb der menschlichen Willen ausgeht, zugleich aber behauptet, dass diese willentliche Zustimmung Ursache der normativen Kraft von Verträgen ist: Weil Menschen unterschiedliche Dinge wollen und über die Sachwerte der getauschten Gegenstände oft nicht Bescheid wissen, sei es vorteilhaft, mit den Menschen Verträge zu machen, die einem den gewünschten Gegenstand am günstigsten geben: „Als wäre es ungerecht, teurer zu verkaufen als einzukaufen, oder jemandem mehr [oder weniger, E. O.] zu geben, als er verdient! Der Wert aller Gegenstände eines Vertrags bemißt sich nach dem Verlangen der Vertragspartner, und deshalb ist der gerechte Wert der, den sie zu zahlen bereit sind. […] Genau genommen ist die ausgleichende Gerechtigkeit die Gerechtigkeit eines Vertragsschließenden, das heißt die Erfüllung eines Vertrags durch Kauf und Verkauf, Mieten und Vermieten, Verleihen und Leihen, Wechseln, Tauschen und andere vertragliche Handlungen“ (LD 15, 115).

Diese auf dem Prinzip der Zustimmung und der verschiedenen menschlichen Leidenschaften fußende, vertragstheoretische Vorstellung der Gerechtigkeit wirft nun aber ein ganz bestimmtes Licht auf die gerade von der reziprozitätstheoretischen Deutung so stark gemachte Wechselseitigkeitsbedingung der Vertragstheorie.300 Wenn Hobbes unumwunden zugibt, dass ungleiche Wertgegenstände einen Vertrag nicht ungerecht machen, und der gerechte Wert jeweils derjenige ist, den die Vertragspartner zu zahlen bereit sind – unabhängig davon, ob dieser Wert eine sachliche Entsprechung auf der Seite des anderen Vertragspartners findet –, bedeutet das, dass die von Hobbes ins Feld geführte Reziprozitätsbedingung nicht das fundierende normative Prinzip sein kann, als das vor allem Lloyd es verstehen möchte. Während das Kriterium der Wechselseitigkeit von Hobbes zunächst als Rationalitätsbedingung301 der Rechtsübertragung eingeführt wurde, zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass nicht die Wechselseitigkeit der Rechtsübertragung, sondern vor 300 Vgl. Lloyd 2009, 273: „Do not that to another, which thou thinkest unreasonable to be done by another to thyself’. This summary formulation of the Laws of Nature is familiar to us as the reciprocity theorem.“ 301 „Immer wenn jemand sein Recht überträgt oder darauf verzichtet, so tut er dies entweder in der Erwägung, daß im Gegenzug ein Recht auf ihn übertragen werde, oder weil er dadurch ein anderes Gut zu erlangen hofft“ (LD 14, 101).

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allem die Vortäuschung einer wechselseitigen Rechtsübertragung am rationalsten ist. Schärfer formuliert kann die Idee eines solchen Vertrages benutzt werden, um sich – unter Vortäuschung einer wechselseitigen Rechtsübertragung bzw. einer Gleichheit der getauschten Gegenstände – an anderen zu bereichern. Ebenso wie nur der Narr, der lautstark und offen zugegeben hat, Verträge brechen zu wollen, gegen seinen Vorteil handelt – der stumme Narr, der heimlich Verträge bricht, dies dagegen durchaus zu seinem eigenen Vorteil tun kann –, ist auch die Gleichheitsorientierung vielleicht eine, die nur der Nützlichkeit halber als Lippen­bekenntnis aufrechterhalten werden sollte, tatsächlich aber keinerlei Verbindlichkeit besitzt. Am vorteilhaftesten erweist es sich, mit Sprachformen zu betrügen und Absichtserklärungen zur Vertragstreue und Gleichheitsorientierung vor sich herzutragen, um mit dem dadurch bewirkten Vertrauen Menschen noch geschickter übervorteilen zu können.302 Hobbes’ Hinweis, dass mit Sprachformen betrogen werden kann und seine rein instrumentelle Beurteilung der List sprechen ebenso für diese Deutung wie das explizite Räsonnement des Narren, das nicht nur den Bruch von abgeschlossenen Verträgen, sondern auch die Vortäuschung vertraglicher Absichten als selbsterhaltungsdienlich erwägt.303 Gegen die reziprozitätstheoretische Deutung ist unsere Interpretation also der Auffassung, dass die Gleichheitsorientierung für Hobbes kein verbindliches normatives Prinzip darstellt, sondern nur als zweckdienliches Instrument empfohlen 302

Dass Hobbes dem Menschen empfiehlt, sich zu verstellen und die Absichten, Verträge halten zu wollen bzw. andere Menschen gleich zu behandeln, notfalls vortäuschen sollen, vermutet mit uns auch Samantha Frost. Anders als unsere Deutung, die zu dem Ergebnis kommt, dass Hobbes dies nicht allen Menschen, sondern nur einigen wenigen Machtgierigen empfiehlt, meint Frost jedoch, dass Hobbes dies allen Menschen empfiehlt und vermutet dahinter den Imperativ einer Friedensethik, räumt aber ein, dass ein solcher Zugang zur Ethik eher unüblich wäre: „Hobbes’s focus on the intelligibility of the political environment that individuals constitute through their contrived public appearances provides an unusual account of ethics. […] Ethical subjects conspicuously act as if they desire their own preservation above all and, consequently, as if they are disposed to peace. Such a contrived or even feigned selfpresentation has the effect of constituting an environment in which peace is apparently possible. […] The central concern of his theory of ethics is the possibility of our living in peace in a world where our manifold disagreements frequently result in war and violence […]“(Frost 2001, 42, 46 und 48). 303 Der Narr behauptet zwar, dass es Gerechtigkeit nicht gebe, dass es aber dennoch sinnvoll sein könne, Verträge abzuschließen und deren Einhaltung Gerechtigkeit zu nennen. Die Ausführungen des Narren lassen sich durchaus so lesen, dass es selbsterhaltungsdienlich sein kann, Verträge abzuschließen und die Absicht, diese einhalten zu wollen, vorzutäuschen, wie Hoekstra 1997, 621 zu recht bemerkte: „Narren sagen sich insgeheim, so etwas wie Gerechtigkeit gebe es nicht, und bisweilen sagen sie dies auch offen. Dabei führen sie allen Ernstes an, da jedermann für seine Erhaltung und Befriedigung selbst zu sorgen habe, könne es keinen Grund geben, weshalb nicht jedermann das tun könne, was seiner Ansicht nach dazu führe, und deshalb sei auch das Abschließen oder Nichtabschließen, Halten oder Nichthalten von Verträgen nicht wider die Vernunft, wenn es einem Vorteile einbringe. Sie leugnen dabei nicht, daß es Verträge gibt, und daß sie bisweilen gebrochen, bisweilen gehalten werden und daß ihr Bruch Ungerechtigkeit und ihre Beachtung Gerechtigkeit genannt werden kann […].“

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B. Die politische Logik des Körpers

wird: Hobbes empfiehlt den machtgierigen Menschen, eine Gleichheitsorientierung vorzutäuschen, um sich dadurch ungestörter an anderen bereichern zu können. Die diversen natürlichen Gesetze, die eine Reziprozitätsorientierung nahelegen, formulieren demnach keine Auffassung einer natürlichen Gleichheit der Menschen,304 sondern nur eine Pflicht, eine solche zur Schau zu stellen. Eine Analyse der entsprechenden natürlichen Gesetze kann zur weiteren Plausibilisierung unserer Deutung herangezogen werden. Das fünfte natürliche Gesetz formuliert beispielsweise eine Pflicht, sich zu bemühen, sich den anderen Menschen anzupassen: „Jedermann hat sich zu bemühen, sich den übrigen Menschen anzupassen“ (LD 15, 116). In der Besprechung des fünften natürlichen Gesetzes gibt Hobbes unverblümt zu, dass die Eignung der Menschen zur Gesellschaft verschieden ist. Genau wie im ersten Teil  des­ Leviathan, wo Hobbes im elften Kapitel, welches die verschiedenen, friedensförderlichen bzw. friedensabträglichen Eigenschaften der Menschen behandelt hatte, zwischen den mehr und den weniger machtgierigen Menschen unterschieden hatte, beharrt Hobbes auch hier darauf, dass es Menschen gebe, die hartnäckigere Leidenschaften als andere hätten. Diese Menschen glichen Steinen, die sich schlecht in ein Bauwerk einfügen ließen: „Zum Verständnis dieses Gesetzes müssen wir bedenken, daß die Eignung der Menschen zur Gesellschaft von Natur aus verschieden ist, was von der Verschiedenheit ihrer Neigungen herrührt. Sie gleichen darin dem, was man an Steinen sehen kann, die zur Errichtung eines Bauwerks zusammengetragen wurden. Denn wie ein Stein, der wegen seiner Kanten und unregelmäßigen Form von den anderen mehr Platz verlangt, als er selbst einnimmt und wegen seiner Härte nicht leicht behauen werden kann, das Bauen behindert und deshalb von den Maurern als unnütz und lästig weggeworfen wird, so muß auch ein Mensch, der wegen seiner natürlichen Kanten solche Dinge beibehalten will, die für ihn selbst überflüssig und für andere notwendig sind und wegen der Hartnäckigkeit seiner Leidenschaften keines Besseren belehrt werden kann, als Störenfried aus der Gesellschaft ausgeschlossen oder hinausgeworfen werden“ (LD 14, 116, Hervorhebungen E. O.).

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Das Gleichheitstheorem von Hobbes stößt in den letzten Jahren in der Hobbes-­Forschung auf zunehmendes Interesse. Basierend auf der Einschätzung, dass Hobbes ein Ponier des Gleichheitsgedankens war, scheint eine Auseinandersetzung mit ihm heute vielversprechend zu sein. Vgl. etwa Sreedhar 2013b, 171: „One of Hobbes’s most fundamental starting points is that people are, by nature, equals. This was a radical position at the time, since the prevailing views of human nature posited various kinds of natural inequality […].“ Hoekstra dagegen vertritt in seiner Mutmaßung über die Gründe dieses verstärkten Interesses die These, dass Hobbes’ Formulierung des Gleichheitsaspekts weniger radikal war, als viele Forscher meinen: „While many of Hobbes’s tenets are unattractive to a modern audience, a signal exception is his renowned doctrine that ‚all men are equal.‘ […] When we are taught that in taking this position Hobbes broke with the traditional doctrine of natural inequality accepted by his predecessors and contemporaries, he begins to look like a founding father of values we hold dear. This impression of Hobbes as pioneer of a modern commitment to equality often begins from ignorance of how commonplace the claim of natural human equality was by Hobbes’s day“ (Hoekstra 2013, 76). Vgl. ebenfalls Curran 2012.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Auf den ersten Blick klingt Hobbes’ Vergleich mit den Steinen hier zwar so, als ob Hobbes den Menschen nahelegen wollte, sich „behauen“ zu lassen um dadurch geeigneteres Baumaterial werden zu können. Bei genauerem Hinsehen wiederholt Hobbes jedoch auch hier seine deterministische Handlungstheorie: Menschen sind demzufolge durch ihre Leidenschaften auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet – die Neigungen der Menschen sind verschieden, wie Hobbes schreibt. Dies ist nach Hobbes ein kausaler Zusammenhang, der einer Naturnotwendigkeit gleicht, und insofern kann eine Bereitschaft, sich behauen zu lassen, nur dann vorhanden sein, wenn diese durch eine noch stärkere Leidenschaft – etwa die Todesfurcht – erzeugt wird.305 Wenn es keine solche zivilisierende Leidenschaft gibt – und Hobbes’ Hinweis auf die Verschiedenheit der Menschen legt eine solche Möglichkeit durchaus nahe – kann diese Bereitschaft, sich behauen zu lassen, auch nicht erzeugt werden. Aber immerhin weiß der Mensch dann, dass es durchaus zweckdienlich sein kann, eine solche Bereitschaft, d. h. eine grundlegende Gleichheitsorientierung, vorzutäuschen. Der Vorteil bei den Menschen ist zudem der, dass diese – im Gegensatz zu den Steinen – ihre Ecken und Kanten, wenn sie wollen, durchaus so verbergen können, dass sie mit bloßem Auge nicht sofort zu erkennen sind. Hobbes’ Hinweis auf seine deterministische Handlungstheorie sowie auf die Verschiedenheit der Menschen sprechen also dafür, die im fünften natürlichen Gesetz formulierte Pflicht, sich zu bemühen, sich den übrigen Menschen anzupassen, als eine bloße Klugheitsregel zu interpretieren: Wo bestimmte Ziele mit natürlicher Notwendigkeit angestrebt werden, können – ohne eine stärkere Naturkraft – keine anderen Ziele angestrebt werden. Nur Menschen, die sich um Gleichheit bemühen wollen, weil sie durch ihre Leidenschaften bereits darauf ausgerichtet sind, z. B. weil sie zu den wenigen Edelmütigen zählen oder weil sie ihnen als geeignetes Mittel, um Todesfurcht zu vermeiden, erscheint, können dies auch tun. Bei den anderen Menschen wäre alle Mühe vergeblich. Auch in der Erläuterung des achten natürlichen Gesetzes verlangt Hobbes zwar auf der Oberfläche eine Gleichheitsorientierung und scheint diese auf den ersten Blick naturrechtlich begründen zu wollen. Auf den zweiten Blick räumt ­Hobbes jedoch ein, dass Menschen möglicherweise durchaus von Natur aus verschieden sind – genau wie er es in seiner Erläuterung des fünften natürlichen Gesetzes ja auch selbst behauptet hatte – und schlussfolgert im neunten natürlichen Gesetz, dass es lediglich eine praktische Notwendigkeit darstelle, eine solche Gleichheit zu behaupten. Hobbes beginnt in seiner Erläuterung des achten natürlichen Gesetzes306 mit der These, dass im Naturzustand alle Menschen gleich wären und dieser deshalb für die Frage, wer der bessere Mann sei, keinen Raum lasse: 305 „Denn da man bei jedem Menschen nicht nur mit Recht, sondern auch mit Naturnotwendigkeit voraussetzt, daß er mit aller Kraft das zu seiner Selbsterhaltung Notwendige zu erlangen sucht, so ist derjenige, welcher sich wegen überflüssiger Dinge dem widersetzt, an dem Krieg schuld, der daraufhin folgen muß […]“ (LD 14, 116 f., Hervorhebungen E. O.). 306 „Und weil alle Zeichen von Haß und Verachtung Kampf hervorrufen, und zwar so sehr, daß die meisten Menschen lieber ihr Leben aufs Spiel setzen, als sich nicht zu rächen, können

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B. Die politische Logik des Körpers

„Für die Frage, wer der bessere Mann sei, ist im reinen Naturzustand, in dem, wie oben gezeigt, alle Menschen gleich sind, kein Raum. Die gegenwärtig bestehende Ungleichheit wurde durch die bürgerlichen Gesetze eingeführt“ (LD 15, 117).

Tatsächlich hatte Hobbes aber im Naturzustandskapitel niemals behauptet, dass alle Menschen hinsichtlich Körperkraft oder Verstandesgaben gleich wären. Am Ende des 14. Kapitels hatte Hobbes vielmehr darauf hingewiesen, dass es im Naturzustand durchaus eine Möglichkeit gebe, die Frage danach, wer der bessere Mensch sei307 bzw. die Ungleichheit der Macht festzustellen – nämlich den Kampf.308 Und wenngleich sich einige Formulierungen im 13., dem Natur­zustandskapitel, durchaus so anhörten, als würde Hobbes dort von einer Gleichheit der Menschen sprechen,309 so hatte er dort lediglich behauptet, dass aus den bestehenden Unterschieden keine rechtlichen Unterschiede abgeleitet werden könnten: wir, achtens, diese Vorschrift als natürliches Gesetz aufstellen: Niemand soll durch Tat, Wort, Miene oder Gebärde gegen einen anderen Haß oder Verachtung zum Ausdruck bringen. Der Bruch dieses Gesetzes wird Beleidigung genannt“ (LD 15, 117). 307 Von den besten Menschen spricht Hobbes im sechsten Kapitel. Dort charakterisiert er diese als diejenigen, die anderen Übles zufügen würden und dabei kein Mitleid verspüren würden: „Deshalb empfinden die besten Menschen wegen eines Mißgeschicks, das durch eigene Übeltaten verursacht wird, das geringste Bedauern, und bei einem solchen Miß­geschick lehnen diejenigen, die glauben, ihnen könnte dies am wenigsten widerfahren, jedes Mitleid ab“ (LD 6, 45). 308 Vgl. auch: „Auf die zweite Macht trifft dies nicht zu, sie hat mindestens nicht genügend Gewicht, um die Menschen an ihre Versprechen zu binden, da im reinen Naturzustand die Ungleichheit der Macht nur an dem Ausgang eines Kampfes festgestellt wird.“ (LD 14, 108, Hervorhebungen E. O.) Vgl. in diesem Kontext auch nochmals die lateinische Version von Hobbes Beurteilung der Duelle im zehnten Kapitel, weil sie einen deutlichen Zusammenhang zwischen Bestheit bzw. Tugend und Kampfbereitschaft enthält: „Die Bereitwilligkeit zum Kampf ist immer ein Zeichen von Tapferkeit, welche in dem natürlichen Zustande der Menschen, wo nicht die einzige, so doch die größte Tugend ist; Weigerung zum Kampf hingegen wird durch Gesetze, nicht aber durch die Natur zur Tugend, und die Natur hat mehr Kraft als alle Gesetze“ (LD 10, 71, Hervorhebungen E. O.). 309 Aktuell befasste sich Curran mit Hobbes’ Position zur Gleichheit und vertrat dabei die Deutung, dass Hobbes selbst an die Gleichheit von Menschen geglaubt habe. Insbesondere in Bezug auf die zitierte Stelle aus dem 13. Kapitel räumt Curran jedoch Probleme in Hobbes’ Argumentation ein: „I said above that Hobbes seems to avoid the problem of empirical counterexamples to shared characteristics but in the end, his argument for equality from difference founders on the same problem. If he is really arguing that despite some slight or apparent differences we are really the same or close enough to the same in our mental and physical attributes then he has the same problem“ (Curran 2012, 182). Nichtsdestotrotz kommt Curran zu dem Ergebnis, dass Hobbes’ persönliche Einstellung zur Gleichheit aus seinem Versuch, für diese zu argumentieren, ersehen werden könnte. So habe Hobbes zwar schwache oder wenig überzeugende Argumente für die natürliche Gleichheit der Menschen entwickelt, der Versuch sei aber ein ausreichendes Indiz für seine Einstellung: „His arguments for natural or actual equality may in the end fail but it is not for want of trying. He is in good company and the failure does not undermine the goal which seems to me sincerely held, to show that despite all appearances to the contrary we are all equal in some important sense. There is strong evidence that Hobbes holds genuine beliefs about the value of equality and the value of equal treatment­ beyond the instrumental arguments. His arguments may not be thoroughly convincing but he sets himself against all so-called natural hierarchies […]“ (Curran 2012, 187).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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„Die Natur hat die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, daß trotz der Tatsache, daß bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder Geist als der andere besitzt, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als daß der eine auf Grund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebensogut für sich verlangen dürfte“ (LD 13, 94, Hervorhebungen E. O.).

Der Grund dafür, dass eine solche Ableitung von Rechtsunterschieden aus unterschiedlicher Körperkraft oder Geisteskraft nicht möglich sei, wäre das Problem der fehlenden Zustimmung: Menschen würden einer solchen Rechtsableitung nicht zustimmen, weil sie dafür erstens erkennen und zugeben müssten, dass diese anderen Menschen ihnen überlegen wären und sich zweitens einverstanden erklären müssten, aus dieser Überlegenheit rechtliche Konsequenzen abzuleiten. Insbesondere die Unterschiede in den geistigen Fähigkeiten würden Menschen nicht anerkennen, wie Hobbes dort weiter ausführt. Die Ruhmsucht äußert sich bei den Menschen auch als intellektuelle Eitelkeit.310 Eben dieses Problem der Gründung eines Herrschaftsanspruchs auf die unterschiedlichen Verstandesfähigkeiten greift Hobbes nun seiner Erläuterung des achten natürlichen Gesetzes, die zur Formulierung des neunten natürlichen Gesetzes führt, auf. Dort setzt er sich mit der aristotelischen Lehre der Sklaverei auseinander und weist erneut auf das Problem hin, dass Verstandesunterschiede und darauf basierende Herrschaftsansprüche von den Menschen niemals anerkannt werden würden.311 Hobbes behauptet nun in seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles nicht, dass dieser unrecht damit hatte, dass Menschen ungleich wären in ihren Verstandeskräften. Wie wir gesehen hatten, hatte Hobbes ja vielmehr die Lehre von einer auf verschiedenen Leidenschaften beruhenden unterschiedlichen Verstandesfähigkeit im ersten Teil des Leviathan selbst entwickelt. Vielmehr behauptet er, dass eine solche Gleichheit eingeräumt werden müsse, weil sich die Menschen in dieser Hinsicht für gleich halten würden und nur unter solchen Bedingungen in den Friedenszustand eintreten würden: „Und wenn deshalb die Natur die Menschen gleich geschaffen hat, so muß diese Gleichheit anerkannt, oder aber, wenn die Natur die Menschen ungleich geschaffen hat, die Menschen 310 „Denn die Natur der Menschen ist so beschaffen, daß sie, wie sehr sie auch den größeren Witz, die größere Beredsamkeit oder Gelehrsamkeit anderer anerkennen, doch kaum annehmen, es gebe viele, die so weise sind wie sie, denn sie sehen ihren eigenen Verstand unmittelbar vor Augen und den anderer Menschen über eine Entfernung“ (LD 13, 94, Hervorhebungen E. O.). 311 „Ich weiß, daß Aristoteles im ersten Buch seiner Politik zu einer Grundlage seiner Lehre macht, einige Menschen seien von Natur aus zum Befehlen geeigneter, womit er die klügere Sorte meint, nämlich die, zu der er sich auf Grund seiner Philosophie selbst zählte, und andere zum Dienen, womit er Leute meint, die starke Körper besaßen, aber keine Philosophen waren wie er. Als ob die Einteilung in Herr und Knecht nicht durch Übereinstimmung der Menschen, sondern aufgrund ihres unterschiedlichen Verstands eingeführt worden wäre! Dies widerspricht nicht nur der Vernunft, sondern auch der Erfahrung. Denn es sind nur wenige so dumm, daß sie sich nicht lieber selbst regieren als von anderen regieren lassen­ würden“ (LD 15, 117 f., Hervorhebungen E. O.).

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B. Die politische Logik des Körpers

sich jedoch für gleich halten und nur zu gleichen Bedingungen in den Friedenszustand eintreten wollen, diese Gleichheit eingeräumt werden. Deshalb stelle ich dieses neunte Gesetz der Natur auf: Jedermann soll den anderen für Seinesgleichen von Natur aus ansehen. Der Bruch dieser Vorschrift ist Hochmut“ (LD 15, 118, Hervorhebungen ebd.).

Hobbes, der sich an dieser Stelle bedeckt hält mit einer These zu den natürlichen Verstandesunterschieden zwischen Menschen, die Möglichkeit der Verschiedenheit aber immerhin andeutet, verlangt von den Menschen dennoch, andere für „Seinesgleichen von Natur aus“ anzusehen. Selbst wenn es so sein sollte – was Hobbes ja in der Erläuterung des fünften natürlichen Gesetzes ausdrücklich in eigenem Namen behauptete – dass die Natur die Menschen ungleich geschaffen habe, müsse eine natürliche Gleichheit – also in diesem Fall etwas Unwahres – behauptet werden. Hobbes betont also explizit, dass die Anerkennung der anderen Menschen als Gleiche nicht als Behauptung angesehen werden müsse, die Wahrheit beanspruchen kann, sondern dass eine solche Behauptung vielmehr einen bestimmten, praktischen Zweck erfülle. Sich als geistig überlegen zu präsentieren und daraus Privilegien abzuleiten, wäre demnach vermutlich weniger erfolgreich, als eine grundsätzliche Gleichheit einzuräumen. Weil andere Menschen also nicht dazu bereit wären, Verträge mit Menschen abzuschließen, die für sich von vornherein aufgrund geistiger Überlegenheit größere Rechte beanspruchen, solle man diese Gleichheit einräumen. Nicht etwa weil Menschen von Natur aus gleich sind, sondern weil Menschen von Natur aus so sind, dass sie Herrschaftsansprüche, die auf geistiger Überlegenheit beruhen, nicht anerkennen würden, muss diese Gleichheit – zumindest als Lippenbekenntnis – anerkannt werden. Was ergibt sich daraus nun für den konkreten Fall eines staatlichen Zustandes, den man sich als durch einen freiwilligen, wechselseitigen Vertrag hervorgegangen erklärt? Das bedeutet, dass man in diesem staatlichen Zustand als Bürger nicht öffentlich verlangen sollte, dass einem aufgrund seiner besonderen Geisteskräfte besondere Rechte zustehen. Ebenso wie der Narr nur dann irrational handelt, wenn er öffentlich und lautstark verkündet, nicht an Gerechtigkeit zu glauben und seine Verträge nicht halten zu wollen, handelt auch nur derjenige irrational, der öffentlich und lautstark Sonderrechte verlangt, die ihm wegen seiner überlegenen Geisteskräfte zustehen würden. Hobbes leitet aus dem neunten Gesetz der Natur das zehnte Gesetz der Natur ab, welches die Anerkennung der rechtlichen Gleichheit als Mittel, den Frieden zu ermöglichen, befiehlt: „Von diesem Gesetz hängt ein anderes ab: Beim Eintritt in den Friedenszustand soll niemand verlangen, sich ein Recht vorzubehalten, wenn er nicht damit einverstanden ist, daß es auch allen übrigen Menschen vorbehalten werden sollte. […] Wenn die Menschen in diesem Falle beim Friedensschluß ein Recht für sich verlangen, das sie anderen nicht zugestanden wissen wollen, so handeln sie dem vorhergehenden Gesetz zuwider, das die Anerkennung der natürlichen Gleichheit befiehlt und somit auch dem natürlichen Gesetz. Diejenigen, die dieses Gesetz beachten, nennt man bescheiden, und die es übertreten, anmaßend. Die Griechen bezeichnen die Verletzung dieses Gesetzes als πλεονεξία, das heißt als Verlangen nach mehr, als einem zusteht“ (LD 15, 118).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Die These, dass Hobbes’ Argumente für die Gleichheit auf eine bestimmte Weise instrumenteller Natur sind, wird inzwischen von der Hobbes-Forschung weitgehend geteilt. Unklarheit besteht dagegen darüber, was Hobbes selbst über die natürliche Gleichheit dachte bzw. welchem Zweck solche instrumentellen Argumente dienen.312 Hoekstra, der sich aktuell am gründlichsten mit der Analyse von Hobbes’ Argumenten zur Gleichheit beschäftigte und zur Einschätzung kam, dass diese Argumente rein instrumentell sind, beantwortete sich die Frage, welchem Zweck diese Vortäuschung einer Gleichheitsorientierung bei Hobbes diene, mit Hobbes’ grundlegender Friedensorientierung.313 Auf den ersten Blick scheint das zehnte natürliche Gesetz tatsächlich für eine solche Deutung zu sprechen. Die Charakterisierung derjenigen, die ein solches Gesetz übertreten, als unbescheiden bzw. anmaßend ruft jedoch in Erinnerung, dass Hobbes auch das Bereicherungsstreben rein instrumentell beurteilt hatte: Dass Hobbes die Habsucht gar nicht moralisch beurteilt, sondern nur unter instrumenteller Perspektive – also bezüglich der Stärke des Bereicherungsstrebens und dessen Erfolg314 –, spricht für unsere Deutung, dass es sich bei der Gleichheitsorientierung weder um ein an sich normativ verbindliches Prinzip handelt, noch diese nur ein Mittel für den Frieden315 darstellt, sondern dass 312 Vgl. Hoekstra 2013. Hoekstras Deutung folgt ausdrücklich beispielsweise Sreedhar 2013b, 173: „Kinch Hoekstra has argued convincingly that acknowledging one another as equals is not an addendum to Hobbes’s notion of natural equality, it is the notion itself.“ Aber auch Curran, die selbst ja für die These argumentiert, dass Hobbes an die natürliche Gleichheit der Menschen glaube, gesteht den instrumentellen Charakter der Argumente zu: „It is often argued that Hobbes’s arguments for natural and political equality are used instrumentally. This paper does not argue against the instrumental arguments […]. The paper argues, first, that there is an ideological disagreement between Hobbes and leading royalists on equality. Second, that Hobbes believes in natural equality as well as using the arguments for equality instrumentally“ (Curran 2012, 166). 313 „There is, of course, material that may be marshaled to support the standard position that Hobbes believed that people are by nature equal, and that they should therefore acknowledge that equality. […] We have, however, found reasons to question Hobbes’s belief in natural equality, and to wonder why then he nonetheless attributes such equality to people. I propose that the pieces fit together better in the other direction. Hobbes holds that it is a natural law requirement, necessary for peace and society, that people should acknowledge one another as naturally equal. He therefore acknowledge people as naturally equal in his writings. The imperative grounds the indicative“ (Hoekstra 2013, 112, Hervorhebungen E. O.). 314 Vgl. an dieser Stelle nochmals Hobbes’ Ausführungen über die Habsucht im sechsten Kapitel: „Verlangen nach Reichtum ist Habsucht. Dieser Name wird immer in tadelnder Bedeutung verwendet, da es den Menschen, die nach Reichtum streben, mißfällt, wenn ein anderer dazu gelangt; dabei ist dieses Verlangen an sich je nach den Mitteln, mit welchen dieser Reichtum angestrebt wird, zu tadeln oder zu erlauben. […] Verlangen nach Dingen, die un­serem Zweck nur wenig dienen, und Furcht vor Dingen, die ihn nur wenig behindern, ist Kleinmütigkeit. Verachtung kleiner Hilfsmittel und Hindernisse ist Großmut“ (LD 6, 43). 315 Während Hoekstra davon ausgeht, dass Hobbes’ kontraktualistisches Argument und seine Argumente für die Gleichheit im Dienste Friedens stehen (vgl. Hoekstra 2013, 112), kommt unsere Deutung der natürlichen Gesetze zu dem Ergebnis, dass auch der Frieden bei Hobbes nur ein Mittel zum Zweck ist. Das grundlegende Prinzip bei Hobbes ist die Selbsterhaltung – und dafür kann es durchaus sinnvoll sein, darauf zu verzichten, den Willen zum Kampf laut-

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B. Die politische Logik des Körpers

vielmehr die öffentliche Vortäuschung einer Gleichheitsorientierung ein probates Mittel der individuellen Selbsterhaltung und persönlichen Bereicherung darstellt. Die öffentliche Anerkennung der anderen als Gleichberechtigte ist also ein Mittel, sich erfolgreich an anderen zu bereichern, sich dadurch ein angenehmes Leben zu sichern und deshalb ein Gebot des natürlichen Gesetzes. Weil die meisten Menschen sich für gleich (d. h. für mindestens ebenso klug oder zumindest nicht dümmer als andere Menschen) halten und deshalb davon überzeugt sind, dass nur Herrschaftsverhältnisse, die dieser Gleichheit Rechnung tragen, gerecht sein können, lohnt es sich, diese Gleichheitsorientierung und den damit verbundenen Reziprozitätsgedanken lautstark als einen zu propagieren, der für einen selbst Verbindlichkeit besitzt – oder zumindest diesen Schein nicht durch offensichtliche Verletzungen des Gleichheitsprinzips oder durch die Ankündigung der Absicht des Vertragsbruchs zu zerstören. Nach unserer Deutung teilt Hobbes also in der Maske des Narren den rein instrumentellen Charakter des kontraktualistischen Argumentes mit. Die Adressaten des kontraktualistischen Argumentes und der natürlichen Gesetze sind diejenigen Menschen, die durch ihren schwach ausgeprägten Machtwunsch geringere Verstandeskräfte haben und sich deshalb von den Leidenschaftsappellen davon überzeugen lassen, sich an die Gesetze des Souveräns und an ihre Verträge bzw. gegebenen Versprechen zu halten. Die Nutznießer dieses Arguments sind neben dem Souverän die machtgierigen Untertanen. Diesen machtgierigen Untertanen legt Hobbes jedoch nahe, den Schein der Gleichberechtigung zu wahren, weil Übervorteilungen im Gewande der Rechtmäßigkeit und der Gleichheits­orientierung eine effektive Möglichkeit darstellen, sich ungehindert und ungestört an anderen­ Menschen zu bereichern. Das, was heutzutage als Hobbes’ „rechtstheoretische Pioniertat“ gilt, ist nach unserer Deutung also gar kein Versuch der Begründung von Recht, sondern nur ein  – auf dem Naturrecht des Stärkeren und Listigeren­ basierendes – zweckdienliches Mittel, dem Souverän Zustimmung und den mächtigen Bürgern Bereicherungsmöglichkeiten zu schaffen. stark zu äußern. Die Tatsache, dass der Frieden von Hobbes als eine Zeit charakterisiert wird, in dem der Wille zum Kampf nicht bekannt ist – nicht aber als eine Zeit, in der kein Wille zum Kampf vorhanden ist –, scheint uns gegen die These von der grundsätzlichen Friedensorientierung der Hobbes’schen Philosophie zu sprechen: Wenn Friede die Zeit ist, in der der Wille zum Kampf nicht verschwindet, sondern nur nicht mehr offen ausgesprochen wird, bedeutet das, dass der Frieden nur eine Fassade darstellt, unter der weiter gekämpft wird. Vgl. für diese Argumentation das Kapitel C. II. dieser Arbeit sowie folgende Zitate von Hobbes zum Verhältnis von Frieden, Selbsterhaltung und Kampf: „Dies sind die natürlichen Gesetze, die den Frieden als Mittel zur Selbsterhaltung der in einer Menge lebenden Menschen befehlen und die ausschließlich die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft betreffen“ (LD 15, 120). „Denn Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist. […] so besteht das Wesen des Krieges nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden“ (LD 13, 96).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Hobbes, der vor allem in den letzten 20 Jahren eine steile Karriere als Theoretiker der Reziprozität und des Rechtsstaates machte,316 geht davon aus, dass sich Menschen hinsichtlich ihrer Begierden und Vernunft unterscheiden. In auffal­ lender Nähe zu einer antiken Formulierung eines Naturrechts des Stärkeren, wonach Gesetze als eine Erfindung der Schwachen verachtet und deshalb getrost insgeheim verletzt werden könnten, öffentlich aber, um sich Nachteile zu ersparen, hochgehalten werden sollten,317 legt Hobbes den gierigeren und mächtigeren Menschen nahe, den stabilen Rahmen eines Rechtsstaates als effektive Möglichkeit einer ungestörten Bereicherung zu begreifen. Hobbes wendet sich mit ein und derselben Schrift also sowohl an diejenigen Menschen, die durch ihre Gut­ mütigkeit oder durch Furcht vor Strafe bereit sind, zu gehorchen, als auch an diejenigen Menschen, die durch ihre starken, auf Reichtum, Ehre oder Befehlsgewalt gerichteten Leidenschaften nicht zum uneingeschränkten Gehorsam bereit sind. Diese Logik der Leidenschaften kann also – je nachdem, welche Leidenschaften in einem Menschen die dominierenden sind – für die Zwecke eines an seiner Machterhaltung interessierten Souveräns benutzt werden: Während diejenigen mit den schwachen, nicht auf Macht gerichteten Leidenschaften geringe Verstandes­ gaben aufweisen und sich daher vom kontraktualistischen Argument und dem Reziprozitätsgebot überzeugen lassen werden, lassen sich die macht- und geld­ gierigen Untertanen durch die Aussicht auf die Zweckdienlichkeit einer zumindest geheuchelten Gleichheits- und Gesetzesorientierung zu einer gewissen Zivilität 316 Trotz der differenzierten Beurteilung erwägt auch Hoekstra vorsichtig Hobbes’ mögliche Vorbildfunktion für gegenwärtige liberal-demokratische Politik: „A politics of sincere equal respect based on a shared belief that all others are of equal worth may be beyond us, ­whether now or simply as human beings, and to invoke such an ideal in the public realm may only sound the gong of hollow moralism. Although this must here remain a mere suggestion, it may be that the practical need to treat others as equals is a firmer foundation for a more at­tainable politics. Such  a politics would emphasize the communicative and symbolic, but would not be merely gestural. This can be seen by considering Hobbes’s own version of such a politics, which is more substantial and directive than it may initially appear to be. Strikingly, he argues that acknowledgement for equality requires not only that we communicate that we regard each others as equals, but also that we accord them equal benefits“ (Hoesktra 2013, 111). Dass auch diese egalitären bzw. sogar wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen nur eine Fassade sind, hinter dem sich das Machtstreben des Souveräns und der machtgierigen Untertanen geschickt verbergen kann, und insofern vielleicht nicht das beste Vorbild für eine qualitative Verbesserung gegenwärtiger liberal-demokratischer Praxis darstellt, dafür wird im abschließenden Kapitel C. dieser Arbeit argumentiert. 317 Vgl. Antiphon, DK B44, 1–2: „(1) Gerechtigkeit besteht darin, die gesetzlichen Vorschriften des Staates, in dem man Bürger ist, nicht zu übertreten. Es wird also ein Mensch für sich am meisten Nutzen bei der Anwendung der Gerechtigkeit haben, wenn er vor Zeugen die Gesetze hoch hält, allein und ohne Zeugen dagegen die Gebote der Natur; denn die der Gesetze sind willkürlich, die der Natur dagegen notwendig; und die der Gesetze sind vereinbart, nicht gewachsen, die der Natur dagegen gewachsen, nicht vereinbart. (2) Wer also die gesetzlichen Vorschriften übertritt, ist, wenn es ihren Vereinbarern verborgen bleibt, von Schande und Strafe verschont; bleibt es ihnen nicht verborgen, so nicht.“

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B. Die politische Logik des Körpers

und zur Unterstützung des Souveräns bewegen.318 Lloyds These, dass die natürlichen Gesetze ausschließlich von der Reziprozitätsregel her interpretiert werden müssten, weil Hobbes zugebe, dass diese die Quintessenz der natürlichen Gesetze beinhalte,319 kann mit Hobbes’ eigener Formulierung entgegen gehalten werden, dass es sich dabei nicht um die Quintessenz der natürlichen Gesetze, sondern nur um eine „goldene Regel für Dumme“ handelt. Hobbes betont explizit, dass dies eine Maxime für diejenigen wäre, die mit der komplizierteren Version der natürlichen Gesetze als Klugheitsregeln überfordert wären und die über einen eher bescheidenen Verstand verfügen würden: „Dies sind die natürlichen Gesetze, die den Frieden als Mittel zur Selbsterhaltung der in einer Menge lebenden Menschen befehlen und die ausschließlich die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft betreffen. […] Zwar hat es den Anschein, diese Ableitung der natürlichen Gesetze sei zu kompliziert, um bei allen Menschen Beachtung zu finden, die zum größten Teil mit dem Erwerb des täglichen Brots zu sehr beschäftigt und, was die übrigen betrifft, zu gleichgültig sind, um sie zu verstehen. Doch um keinem Menschen eine Ausrede zu ermöglichen, wurden diese Gesetze zu einer auch dem bescheidensten Verstande leicht einsehbaren Maxime zusammengefaßt, welche lautet: Füge einem anderen nicht zu, was du nicht willst, daß man dir zufüge“ (LD 15, 120).

cc) Der Staat durch Aneignung als Beleg für die instrumentelle Funktion der Vertragsidee Für diese Deutung des kontraktualistischen Argumentes als eines probaten Mittels der individuellen Bereicherung weniger Machtgieriger spricht jedenfalls auch, dass Hobbes’ kontraktualistisches Argument auf zwei Arten von Staaten Anwendung findet: Auf den Staat durch Einsetzung und den Staat durch Aneig-

318 Hoekstras Vermutung, dass Hobbes sich mit seinen Argumenten für die Gleichheit an verschiedene Adressaten wende, kommt unserer Deutung sehr nahe. Hoekstra erklärt sich Hobbes’ Schwanken zwischen der Gleichheit und der Ungleichheit allerdings mit den verschiedenen historischen Adressaten politischer Radikaler und Adliger zu Hobbes’ Zeit, und nicht, wie unsere Deutung, mit den  – prinzipiell zeitunabhängigen  – verschiedenen Leidenschaften von Menschen: „Against political radicals aggravated by those who have or claim positions of privilege, Hobbes wishes to show that natural equality, like natural liberty, is less an ideal to follow than a perilous stat of affairs to avoid. Against the nobility, or others who believe in their natural superiority, Hobbes argues for a limited natural equality to undercut the idea that elites have any right to their position other than one that is bestowed by the sovereign. Moreover, he depicts the state of nature to convince them that such superiority as they may have will be better recognized and rewarded within commonwealth: natural superiority can hardly reach full flower in the natural condition“ (Hoekstra 2013, 110). 319 „If one need know only the reciprocity theorem in order to count as knowing the Laws of Nature, while Hobbes never asserts this of any other of the discrete Laws of Nature, then we may reasonably conclude that Hobbes is willing for this summary formulation to have priority over any other“ (Lloyd 2009, 276).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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nung.320 Hobbes spricht nicht nur über einen Staat, der als Ergebnis eines wechselseitigen Vertrages zwischen Freien und Gleichen zustande gekommen ist, sondern auch über einen natürlichen Staat, der durch gewaltsame Eroberung bzw. Tötungsandrohung oder zumindest Tötungsmacht zustande kommt. Er bemerkt an zahlreichen Stellen ausdrücklich, dass die Souveränität, die er auch als höchste Gewalt bezeichnet, auf zwei verschiedene Weisen erlangt werden kann: Im ersten Fall wird durch körperliche Gewalt Todesfurcht erzeugt und dadurch ein Zwang ausgeübt, sich zu unterwerfen. Im zweiten Fall kommen Menschen aus Furcht vor­ einander überein, sich einem Menschen zu unterwerfen: „Diese höchste Gewalt wird auf zwei Wegen erlangt: Der eine besteht in der natürlichen Kraft, wenn z. B. jemand seine Kinder dazu bringt, sich zusammen mit ihren Kindern seiner Regierung zu unterwerfen, da er sie vernichten kann, wenn sie es ablehnen, oder wenn jemand seine Feinde seinem Willen dadurch unterwirft, daß er ihnen unter dieser Bedingung das Leben schenkt. Der andere ist gegeben, wenn Menschen miteinander über­ einkommen, sich willentlich einem Menschen oder einer Versammlung von Menschen zu unterwerfen, im Vertrauen darauf, von ihnen gegen alle anderen geschützt zu werden. Der letzte Fall kann ‚politischer Staat‘ oder ‚Staat durch Einsetzung‘ genannt werden, und der erste ‚Staat durch Aneignung‘“ (LD 17, 135).

Zunächst scheint es, als wären diese beiden Arten der Staatsentstehung radikal verschieden, insofern Gewalt, d. h. natürliche Kraft und die Fähigkeit, zu töten, der Ursprung des ersten und Zustimmung die Ursache des zweiten Herrschaftsverhältnisses sind. Hobbes parallelisiert diese verschiedenen Arten der Staatsentstehung aber ausdrücklich und stellt diese legitimationstheoretisch auf die gleiche Ebene: Er macht deutlich, dass beide Herrschaftsverhältnisse als rechtmäßig begriffen werden könnten, weil beide auf der Zustimmung der Untertanen beruhen. Obwohl beide Unterwerfungen in der Todesfurcht ihren Ursprung hätten, könnten dennoch beide als freiwillige Unterwerfungen und als gültige Verträge interpretiert werden: 320 Dass Hobbes neben dem Staat durch Einsetzung auch über den Staat durch Aneignung spricht, wird in der neueren Hobbes-Forschung sowohl von Vertretern der spieltheoretischen als auch von Vertretern der rechtstheoretischen Deutung vielfach vernachlässigt. Baumgold 2013, 2, forderte jüngst beispielsweise, dem Theorieelement mehr Aufmerksamkeit zu widmen, um dadurch Hobbes’ Vertragstheorie besser verstehen zu können, und bestätigt damit unsere Einschätzung von der Vernachlässigung des Theorieelements: „But the estimation would be revised if we paid more attention to Hobbes’s account of ‚sovereignty by acquisition‘, the ‚realistic‘ corollary to the hypothetical tale of ‚sovereignty by institution.‘“ Und auch Hoekstra 2004, 46 bestätigt diese Einschätzung, wenn er, basierend auf der Prämisse einer solchen Vernachlässigung, gegen die These argumentiert, dass die Review and Conclusion des Leviathan eine radikale inhaltliche Neuerung bedeute: „The temptation to read the Review as newly or especially endorsing the rights of and duties to conquerors, and the mutual relation between protection and obedience, arises in part from the neglect of Hobbes’s account of sovereignty by acquisition in favour of his account of sovereignty by institution.“ Für den Nachweis, dass sowohl die rechtstheoretische als auch die spieltheoretische Deutung des­ kontraktualistischen Arguments den Staat durch Aneignung vernachlässigen bzw. Probleme mit der Erklärung dieses Theorieelements haben, vgl. den Forschungsüberblick zu Beginn dieser Arbeit.

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B. Die politische Logik des Körpers

„Und diese Art der Herrschaft oder Souveränität unterscheidet sich von der Souveränität durch Einsetzung nur darin, daß die Menschen, die ihren Souverän wählen, dies aus Furcht voreinander tun und nicht aus Furcht vor demjenigen, den sie einsetzen. Hier unterwerfen sie sich aber dem, vor dem sie Angst haben. In beiden Fällen handeln sie aus Furcht, was sich solche Leute merken sollten, die alle Verträge, die aus Furcht vor Tod oder Gewalttätigkeit abgeschlossen werden, für ungültig halten“ (LD 20, 155, Hervorhebungen E. O.).

Der Gedanke, dass ein freiwillig gewähltes Vertragsverhältnis vorliegt, wird von Hobbes also ausdrücklich auch auf den durch gewaltsame Erpressung entstandenen Staat durch Aneignung bezogen. Hobbes führt als Beispiele für den Staat durch Aneignung die Herrschaft der Eltern über das Kind und die Herrschaft des Herrn über den Sklaven an und macht beide Male unmissverständlich deutlich, dass er diese Herrschaftsverhältnisse als auf Zustimmung basierend deutet: „Herrschaft wird auf zwei Wegen erworben: durch Zeugung und durch Eroberung. Das Recht der Herrschaft durch Zeugung ist das, welches die Eltern über ihre Kinder haben und wird elterlich genannt. Dieses Recht wird nicht so sehr von der Zeugung abgeleitet, als besitze ein Elternteil deshalb die Herrschaft über sein Kind, weil er es gezeugt hat, sondern es beruht auf Zustimmung des Kindes, die entweder ausdrücklich oder durch andere, ausreichende Erklärungen erfolgte. […] Herrschaft durch Eroberung oder Sieg im Krieg wird von einigen Autoren als despotisch bezeichnet […]. Und diese Herrschaft erwirbt sich der Sieger dann, wenn der Besiegte, um der bevorstehenden Tötung zu entgehen, entweder durch ausdrückliche Worte oder andere ausreichende Willenszeichen vertraglich übereinkommt, daß solange ihm Leben und körperliche Freiheit zugestanden werden, der Sieger nach Belieben daraus Nutzen ziehen darf“ (LD 20, 156 f.).

Das Nebeneinander des Staates durch Einsetzung und des Staates durch Aneignung, wie auch das Nebeneinander einer de facto existierenden Gewalt und der Zustimmung als möglichen Ursachen für rechtmäßige Herrschaftsverhältnisse hat in der Hobbes-Forschung für erhebliche Deutungsprobleme gesorgt.321 Hoekstra unterschied zwei idealtypische Varianten, mit denen die bisherige Hobbes-­Forschung – sofern sie sich dieses Problems überhaupt explizit widmete  – versuchte, dieser Schwierigkeit zu begegnen. Während Historiker verschiedene Theorieelemente eher dadurch zu erklären versuchten, dass Hobbes seine Meinung entsprechend der zeithistorischen Umstände geändert und angepasst habe,322 tendierten Philosophen dazu, sich für die ihrer Meinung nach stärkste Ansicht zu entscheiden und die 321 Vgl. für diese Einschätzung Hoekstra 2004, 33 f.: „It is broadly agreed that one of ­Hobbes’s greatest accomplishments is his theory of the foundations of political obligation and sovereign authority. There is deep disagreement, however, about the nature of that theory. ­Hobbes asserts that the king has sovereign authority even while a usurper holds sway, and some scholars characterize him as a royalist. As he maintains that the possession of power gives rise to authority and obligation, others have argued that he is a de facto theorist. He claims that obligation and authority depend on the agreement of the ruled, so many hold instead that ­Hobbes is a consent theorist. These three theories appear to be inconsistent.“ 322 Hoekstra 2004, 71, nennt als Beispiele für eine solche historische Herangehensweise an das Problem die Arbeiten von Richard Tuck und Quentin Skinner: „Historians are inclined instead to offer a developmental account, according to which Hobbes changed his mind over time as circumstances changed. According to Tuck, for example, Hobbes was a royalist until

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anderen, damit nicht zusammenstimmenden Äußerungen als unglückliche Äußerungen außen vor zu lassen.323 In der philosophischen bzw. politiktheoretischen Literatur dominiert – insbesondere im angelsächsischen Sprachraum – die Auffassung, dass Hobbes ein Zustimmungs-Theoretiker sei.324 Hoekstra beklagt jedoch zurecht, dass diese Interpretationsrichtung die auf Gewalt und Macht gründenden Herrschaftsansprüche, die bei Hobbes ebenfalls zu finden sind, nicht erklären kann.325 Nicht nur das Theorieelement des Staates durch Aneignung insgesamt, sondern auch die im Theorieelement des Staates durch Einsetzung zu findenden, gewaltsamen Elemente326 werden in dieser Interpretationsrichtig vielfach ausgeblendet. Unsere Deutung kann dagegen plausibel machen, wie beide Elemente neben­ ein­ander bestehen können, ohne dass sich das Problem ergibt, Hobbes Gedankenschwäche vorzuwerfen, weil er zwei unvereinbare Behauptungen zugleich für wahr zu halten scheint. Das Theorieelement des Staates durch Aneignung zeigt, wie Hobbes die Vertragsidee benutzt, um den gewaltsamen Ursprung von Herrschaftsverhältnissen zu verschleiern bzw. nachträglich zu rationalisieren und kann daher auch Licht auf die Kombination von Gewalt und Zustimmung im Staat durch Einsetzung werfen. Wenngleich Hobbes’ Vorstellung eines natürlichen late in Leviathan, at which point he abandoned royalism for de facto theory; whereas Skinner (in his more recent work of the subject) thinks Hobbes revises his view from something more like de facto theory to a clear statement of consent theory in Leviathan.“ 323 „Philosophers, presumably in the name of charity of interpretation, ascribe to Hobbes the view that they take to be the strongest, and regard the others as more or less unfortunate ut­terances. Thus, they tend to focus on Hobbes the consent theorist, setting aside Hobbes’s apparent royalist and de facto claims“ (Hoekstra 2004, 71). 324 Vgl. als aktuellen Beleg für die These der Zustimmungsorientierung der philosophischen Hobbes-Forschung beispielsweise Sreedhar 2013b, 175: „Hobbes’s normative account of human equality has one crucial further implication for his broader political theory; it allows him to deny the naturalness of any particular form or structure of rule, that is, any relation of dominance or submission. He argues that authority relations are always grounded in contract and consent, and this precludes the existence of any putative ‚natural‘ authority relations that might confuse or overrule subsequent contracts. People are born free and equal, and are thus subject to authority only when they have given it their consent.“ 325 „If by utterance ‚U‘ someone may as plausibly have meant X as Y, and if X and Y are inconsistent and X is a stronger theoretical view, then (other things being equal, and there being no other candidate interpretations) X should be attributed as the meaning of ‚U‘. This is what charity of interpretation requires. If, however, someone expresses distinct views, then it should be a move of last resort, (all else being equal) to set aside a weaker view as in some way not really that person’s view on the sole basis of his support for what is perceived as a stronger view inconsistent with it“ (Hoekstra 2004, 71, n187). 326 Wer Hobbes als Zustimmungstheoretiker interpretiert, muss nicht nur das Problem der un­terstellten Zustimmung lösen (dazu weiter unten), sondern auch erklären können, weshalb im durch Einsetzung entstandenen Staat eine stärkere Mehrheit das Recht hat, andersdenkende Menschen rechtmäßig zu vernichten: „Drittens: Da die Mehrzahl übereinstimmend einen Souverän ernannte, hat derjenige, welcher dagegen stimmte, nunmehr mit den übrigen überein­zustimmen, das heißt, sich mit der Anerkennung aller zukünftigen Handlungen des Souveräns zufriedenzugeben, oder aber er wird rechtmäßig von den anderen vernichtet“ (LD 18, 138).

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Rechts an den Körper gebunden ist, der alles in seiner Macht stehende rechtmäßig tun kann und insoweit ein Recht des Stärkeren ist, erweist es sich für die Ausübung dieses Rechts als überaus effektiv, den gewaltsamen Ursprung von Herrschaftsverhältnissen zu verschleiern und um eine Idee wechselseitiger Verpflichtung zu­ ergänzen, um die Folgebereitschaft der hinsichtlich Körperkraft oder Verstandeskraft Unterlegenen zu erhöhen. Das Theorieelement des Staates durch Aneignung zeigt, wie Hobbes die Idee des Vertrages benutzt, um Gewaltverhältnisse im Nachhinein zu rationalisieren: Weder hat sich das Kind vor der Geburt überlegt und auf Basis dessen reflektiert dafür entschieden, sich unter die Herrschaft seiner Mutter zu stellen, noch hat sich der durch Gewalt unterworfene Sklave freiwillig dazu entschieden, sich seinem zukünftigen Herrn zu unterwerfen. Wenn Hobbes nichtsdestotrotz davon spricht, dass es die Zustimmung sei, die das Herrschaftsverhältnis erst zu einem recht­mäßigen Herrschaftsverhältnis mache, bezieht er sich also nicht auf eine freiwillige Entscheidung, die dem Herrschaftsverhältnis vorgeordnet war und die Ur­sache für das Eingehen eines Vertragsverhältnisses war. Vielmehr macht er deutlich, dass es sinnvoll sein kann, ein bestimmtes, auf Gewalt beruhendes Herrschaftsverhältnis im Nachhinein so zu interpretieren, als sei es ein freiwillig gewähltes und auf diese Weise Gründe dafür zu liefern, dass die durch Gewalt de facto bereits unterworfenen Menschen bereitwilliger gehorchen. So erklärt Hobbes zwar durchaus auf der einen Seite, dass das Recht der elterlichen Herrschaft auf der Zustimmung des Kindes beruhe: „Das Recht der Herrschaft durch Zeugung ist das, welches die Eltern über ihre Kinder haben und wird elterlich genannt. Dieses Recht wird nicht so sehr von der Zeugung abgeleitet, als besitze ein Elternteil deshalb die Herrschaft über sein Kind, weil er es gezeugt hat, sondern es beruht auf Zustimmung des Kindes, die entweder ausdrücklich oder durch andere, ausreichende Erklärungen erfolgte“ (LD 20, 156).

Auf der anderen Seite gibt Hobbes jedoch unumwunden zu, dass der eigentliche Ursprung der rechtmäßigen Herrschaft ein Gewaltverhältnis ist. Weil die Mutter das Kind vernichten kann, wenn sie dies will, steht ihr das Herrschaftsrecht über das Kind zu. Die Rechtmäßigkeit des Herrschaftsverhältnisses resultiert also nicht aus der Zustimmung, wie das erste Zitat dies vermuten ließ. Die Rechtmäßigkeit ist vielmehr die Konsequenz der körperlichen Überlegenheit, einer de facto existierenden Macht und Stärke. Die Zustimmung ist also nicht tatsächlich erfolgt, sondern wird Menschen, die unter solchen Gewaltverhältnissen leben, nahegelegt. Man nimmt an, schreibt Hobbes, dass jeder der Macht, die ihn erhalten kann, Gehorsam verspricht.327 Die Reinterpretation des Gewaltverhältnisses als Vertrags 327 Dass Hobbes die Zustimmung voraussetzt und insofern seine Zustimmungstheorie eine Theorie sehr spezieller Art ist, arbeitet Hoekstra heraus, der den Zusammenhang folgendermaßen darstellt: „In an ordinary case of de facto rule, we can justifiably presume consent, and so the rule is de jure. This explains how Hobbes appears to be a consent theorist and a de facto theorist of authority. If tacit and attributed consent count as consent, then he may be considered a thoroughgoing consent theorist. If they do not, then he is, after all, a de facto

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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verhältnis dient also dazu, das Gewaltverhältnis zu rationalisieren und den Beherrschten Gründe dafür zu liefern, dass der Gehorsam zweckrational ist. Die Art der Rationalisierung entspricht dabei vollkommen der Struktur eines argumentum ad hominem, die wir bei unserer Untersuchung des Staates durch Einsetzung bereits kennen gelernt hatten: Die Prämisse, dass der Tod das größte Übel ist, wird vorausgesetzt. Unter der Prämisse, dass das Überleben das primäre Ziel ist, ist die Unterwerfung unter Mächtige, von denen man annimmt, dass diese Schutz bereitstellen können (und wollen!), rational: „Da sich ferner das Kind zuerst in der Gewalt der Mutter befindet, so daß sie es entweder aufziehen oder aussetzen kann, so verdankt das Kind der Mutter sein Leben, wenn sie es aufzieht, und ist ihr deshalb vor allen anderen zum Gehorsam verpflichtet, und folglich steht ihr das Herrschaftsrecht darüber zu. […] Denn es muß dem gehorchen, der es erhält; denn da die Erhaltung des Lebens der Zweck ist, weshalb jemand zum Untertan eines anderen wird, nimmt man von jedermann an, daß er dem ewigen Gehorsam verspricht, in dessen Macht es steht, ihn zu erhalten oder zu vernichten“ (LD 20, 157, Hervorhebungen E. O.).

Der Grund für die auf den ersten Blick fortschrittlich klingende naturrechtliche Gleichstellung der Mutter ist deren Tötungsmacht: Weil die Macht der Mutter, das (ungeborene wie auch das geborene) Kind zu vernichten – man denke an Formen der Abtreibung oder des Verweigerns der Ernährung328 – mindestens ebenso groß ist wie die vergleichbare Tötungsmacht des Vaters und die Mutter aufgrund ihrer speziellen körperlichen Verbindung zum Kind das Kind zuerst in ihrer Gewalt hat, t­heorist of authority of  a particular kind“ (Hoekstra 2004, 69). Ebenso wie Hoekstra sind wir der Meinung, dass Hobbes’ Schwanken zwischen den unvereinbar scheinenden Theorie­ elementen von Gewalt und Zustimmung Resultat von Hobbes’ Anthropologie ist: „These are conclusions from Hobbes’s anthropology, his theory of human nature. […] It is because of what he previously concludes about the ‚nature, need and designes of men‘, that he argues that the fact of sovereign power requires them to act in certain ways“ (Hoekstra 2004, 67 und 72). Gegen Hoekstra sind wir allerdings der Auffassung, dass Hobbes weder (um in Hoekstras Worten zu sprechen) Kompatibilist, noch am Frieden als oberstem Ziel orientiert ist: „Hobbes is rather  a kind of ‚compatibilist‘ between natural sovereignty and sovereignty by consent. Rulers do arise naturally, but nonetheless must be consented to; and their power itself can generally be a sufficient sign of consent. So ‚choice‘ of the naturally predominant is tantamount to artificial predominance, which is tantamount to sovereignty and its attendant authority and obligation. […] Hobbes’s basic commitment to peace and security precludes a fixed allegiance to any person, family, party or form of government“ (Hoekstra 2004, 72, n.188 und 73). Hobbes’ Auffassung der natürlichen Verschiedenheit des Menschen aufgrund von dessen Körperstärke und Verstandesstärke führt nach unserer Deutung vielmehr dazu, dass die Idee einer rechtmäßigen, auf Zustimmung basierenden Herrschaft als überaus zweckmäßiges Instrument der individuellen Machtvergrößerung betrachtet wird. 328 Die aus der Ernährungsmöglichkeit resultierende Tötungsmacht kommt im englischen Original deutlicher zum Ausdruck als in der Übersetzung, in der das englische „nourish“ geschlechtsneutral mit „aufziehen“ wiedergegeben wird: „Again, seeing the Infant is first in the power of the Mother, so as she may either nourish, or expose it; if she nourish it, it oweth its life to the Mother; and is therefore obliged to obey her, rather than any other; and by consequence the Dominion over it is hers“ (L 20, (103) 310).

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B. Die politische Logik des Körpers

steht ihr – und nicht dem Vater – das Herrschaftsrecht über das Kind zu. H ­ obbes’ auf den ersten Blick fortschrittlich klingende Behandlung der Frau bzw. Mutter wurde in den letzten Jahren in der Hobbes-Forschung gern aufgegriffen und hinsichtlich ihrer möglichen Impulsfunktion zur Reform liberaler Demokratien behandelt. Sreedhar vertritt etwa auf der Basis dieser Textstelle vom Herrschaftsrecht der Mutter über das Kind die These, dass Hobbes’ nicht nur die patriarchalischen Vorstellungen seiner Zeitgenossen weit hinter sich gelassen habe, sondern auch ganz generell natürliche Hierarchien abgelehnt habe.329 Auch Lloyd bescheinigt Hobbes auf der Basis solcher Textstellen, wichtige feministische Vorarbeit für die politische Gleichberechtigung der Frauen geleistet zu haben: „But Hobbes, properly understood, has  a sturdy and sound  a philosophical basis as did Rawls to establish the political equality of women. It’s time that Hobbes should receive the credit for the important feminist work he did“ (Lloyd 2012, 60).

Während Hobbes’ Rede vom Herrschaftsrecht der Mutter durchaus modern klingen mag, kann daraus jedoch nicht abgeleitet werden, dass Hobbes alle natürlichen Hierarchien abgelehnt habe. Zutreffender wäre es, davon zu sprechen, dass Hobbes das Recht der Väter durch das – in dieser Hinsicht durchaus geschlechtsneutrale – Recht des Stärkeren und Mächtigeren abgelöst hat. Ob das „wichtige feministische Arbeit“ oder eine bedenkliche Entwicklung hin zu einem gewaltbereiten Politikverständnis darstellt, kann an dieser Stelle offen bleiben. Weil Macht – auch körperliche Macht – jedoch nach Hobbes etwas wesentlich Relationales ist und er durchaus einräumt, dass sich Männer und Frauen in ihrer Körperstärke oder Kampfbereitschaft häufig unterscheiden,330 verwundert es nicht, dass Hobbes unmittelbar im Anschluss ausführt, dass, wenn sich die Mutter ihrerseits in der Gewalt des Vaters befinde, auch das Kind dem Vater Untertan sei.331 Auch die Tatsache, dass Hobbes, wenn er über die Familie als „kleine Monarchie“ spricht, stets den Vater als Souverän nennt, wird dadurch erklärbar.332 Lloyds These, dass Hobbes, wenn er seine eigenen Prinzipien ernst genommen hätte, 329 „Hobbes thus explicitly rejects the patriarchalism that dominated seventeenth-century political theory along with all other versions of natural hierarchies, thereby repudiating at least one essentialist view about the nature of women, namely, the view that women are essentially intellectually and physically inferior to men […]“ (Sreedhar 2013b, 174, Hervorhebungen E. O.). 330 Vgl. Hobbes’ Charakterisierung der natürlichen Ängstlichkeit, in der er zwar eingesteht, dass es auch Männer mit „weibischem Mut“ geben kann, allein durch diese Charakterisierung aber deutlich macht, dass er eine ungleiche Verteilung der Kampfbereitschaft zwischen den Geschlechtern vermutet: „Auch der natürlichen Ängstlichkeit müssen Zugeständnisse gemacht werden, und zwar nicht nur bei Frauen, von denen diese gefährliche Pflichterfüllung nicht erwartet werden kann, sondern auch bei Männern von weibischem Mut.“ (LD 21, 169) 331 Vgl. LD 20, 157. 332 Vgl. LD 20, 159: „Daraus ergibt sich, daß eine große Familie, wenn sie nicht Teil eines Staates ist, hinsichtlich der Souveränitätsrechte selbst eine kleine Monarchie ist, ob nun die Familie aus einem Mann und seinen Kindern, einem Mann und seinen Knechten oder einem Mann, seinen Kindern und seinen Knechten zusammen besteht: in ihr ist der Vater oder Herr der Souverän.“

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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eigentlich eine Geschichte über kampfbereite Amazonen hätte verfassen müssen (Lloyd 2012, 58),333 trägt diesem  – prinzipiell geschlechtsneutralen  – Recht des Stärkeren und Kampfbereiteren Rechnung und zeigt, welcher Art der Feminismus ist, der mit Hobbes verfolgt werden kann.334 Dass durch die Idee des Vertrages Gewaltverhältnisse im Nachhinein rationalisiert werden, wird noch deutlicher in Hobbes’ zweitem Beispiel für einen Staat durch Aneignung, in der Hobbes die Idee formuliert, dass ein Erpressungsvertrag, der aus Todesfurcht abgeschlossen und vom Unterlegenen nur eingegangen wurde, um der bevorstehenden Tötung zu entgehen, Verpflichtungen generieren könnte. Ähnlich wie der bereits im vorhergehenden Kapitel besprochene und von Hobbes als gültig beschriebene Lösegeldvertrag wird die Sklaverei hier als rechtmäßig interpretiert, weil sie auf der Zustimmung des Erpressten, der ja immerhin zwischen Tod und Sklaverei wählen konnte, beruhe: „Und diese Herrschaft erwirbt sich der Sieger dann, wenn der Besiegte, um der bevorstehenden Tötung zu entgehen, entweder durch ausdrückliche Worte oder andere aus­ reichende Willenszeichen vertraglich übereinkommt, daß solange ihm Leben und körperliche Freiheit zugestanden werden, der Sieger nach Belieben daraus Nutzen ziehen darf“ (LD 20, 157, Hervorhebungen E. O.).

Hobbes führt eigens eine begriffliche Differenzierung ein, um die Freiwilligkeit der Sklaverei extra zu betonen. Menschen, die sich freiwillig unterworfen hätten oder einer gewaltsamen Unterwerfung im Nachhinein aus guten Gründen zustimmten, wären genaugenommen gar keine Sklaven, sondern lediglich Knechte.335 333 Vgl. Lloyd 2012, 58: „As we’ve seen, nothing in Hobbes’s theory necessitates the subjec­ tion of women. And while we can tell one story about how slight gender-based differentials in strength could have snowballed into systemic institutional disempowerment of women, other stories are compatible with Hobbes’s conceptual framework. The Amazons, who form a separate society of women, reserving all positions of political and military command and titles of honor for themselves, constitute one such alternate story. […] A mixed-gender but matriarchal society would, in fact, be the more natural story for Hobbes to have told. Women who bear and nourish children have dominion over them, and those children are both under a natural duty of gratitude and an obligation of obedience to them in perpetuity. This is a striking relation of natural domination that would put all men under the obligation of obedience to their caretaking mothers.“ Das Problem bei Lloyds’ These von Hobbes als einem prinzipiellen Förderer des Matriarchats besteht aber darin, dass Lloyd Hobbes fälschlicherweise unterstellt, die Macht der Mutter wäre eine dauerhafte (Lloyd 2012, 59), während sie doch gleichzeitig einräumt, dass Macht für Hobbes eine Funktion der Zeit und etwas wesentlich Relationales sei und sich infolgedessen mit der Zeit, z. B. durch die Verschiebung von Machtressourcen zwischen Menschen, notwendig verändern müsse (Lloyd 2012, 53). 334 Auch Sreedhar knüpft in ähnlicher Weise an Hobbes’ kämpferischen Feminismus an und sieht in diesem ein mögliches Vorbild für die Reform gegenwärtiger Gesellschaften: „[…] not to mention his distinct lack of alarm at portrayals of strong, commanding female sexuality (as evidenced in his discussion of the Amazons). […] Nonetheless, even the reformer can draw inspiration from the rational, liberated form of sexuality Hobbes (or Hobbes reconstructed) seems to offer“ (Sreedhar 2012, 276f). 335 Für die englischen Begriffe („servant“ bzw. „slave“) vgl. die folgende Textstelle des englischen Textes: „And after such Covenant made, the Vanquished is a Servant, and not before:

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B. Die politische Logik des Körpers

Es sei überaus sinnvoll, so Hobbes’ Argumentation, wenn sich Sklaven selbst als freiwillige Knechte begreifen und das Herrschaftsverhältnis, das ihnen aufgezwungen wurde und unter dem sie de facto stehen, als ein rechtmäßiges, freiwillig gewähltes Herrschaftsverhältnis begreifen. „Erst nach Abschluß eines solchen Vertrags ist der Besiegte Knecht, nicht vorher, denn unter dem Wort Knecht – ob es von servire, dienen, oder von servare, bewahren, abgeleitet wird, überlasse ich dem Disput der Grammatiker – ist nicht ein Gefangener zu verstehen, der im Gefängnis oder in Fesseln gehalten wird, bis der Eigentümer, der ihn gefangennahm oder von dem kaufte, der ihn gefangengenommen hatte, sich überlegt, was er mit anfangen soll […]. Deshalb verleiht nicht der Sieg das Herrschaftsrecht über den Besiegten, sondern dessen eigener Vertrag. Er ist auch nicht verpflichtet, weil er besiegt, das heißt, geschlagen, gefangengenommen oder in die Flucht geschlagen wurde, sondern weil er damit einverstanden ist und sich dem Sieger unterwirft“ (LD 20, 158).

Der Staat durch Einsetzung und der Staat durch Aneignung gleichen sich also darin, dass die Idee des Vertrages benutzt wird, um nachträglich Gewaltverhältnisse zu rationalisieren. Das kontraktualistische Argument, welches die Recht­ mäßigkeit von Herrschaftsverhältnissen durch eine angenommene Zustimmung begründet, wird von Hobbes ausdrücklich auf beide Staaten angewandt – mit dem einzigen Unterschied, dass es sich beim Staat durch Einsetzung um einen angenommenen wechselseitigen Vertrag handelt. Es ist nicht etwa so, dass der durch einen Gesellschaftsvertrag entstandene Staat normativ in irgendeiner Form ausgezeichnet wäre. Hobbes betont vielmehr mehrfach, dass beide Male die Souveränität den gleichen Ursprung und den gleichen Rechtsumfang hat.336 Sowohl die Theorie des Staates durch Einsetzung, als auch die Theorie des Staates durch Aneignung arbeitet also mit der Vorstellung, dass existierende Gewaltverhältnisse, die dem körperlichen Überleben nicht abträglich sind, rechtmäßig sind, weil man aus diesem Grund die Zustimmung der dieser Gewalt Unterworfenen annehmen kann. Diese systematische Beziehung wird von Hobbes im 21. Kapitel nochmals ausdrücklich hergestellt, wenn er das körperliche Überleben als Kriterium gültiger Verträge sowohl auf den wechselseitigen Gesellschaftsvertrag, als auch auf den einseitigen Unterwerfungsvertrag anwendet: „Da erstens die Souveränität durch Einsetzung durch Vertrag eines jeden mit jedem und die Souveränität durch Aneignung durch Verträge des Besiegten mit dem Sieger oder des Kinds mit dem Vater entsteht, so ist klar, daß jeder Untertan Freiheit in allen Dingen besitzt, bei denen eine vertragliche Rechtsübertragung unmöglich ist. Ich habe oben im 14. Kapitel gezeigt, daß Verträge, den eigenen Körper nicht zu verteidigen, nichtig sind“ (LD 21, 168, Hervorhebungen E. O.).

for by the word Servant […] is not meant a Captive, which is kept in prison, or bonds, till the owner of him that took him, or bought him of one that did, shall consider what to do with him: (for such men, (commonly called Slaves,) have no obligation at all […]“ (L 20, (104) 312). 336 „Aber die Rechte und Folgen der Souveränität sind in beiden Fällen die gleichen. […] Die Gründe hierfür sind dieselben wie diejenigen, welche im vorhergehenden Kapitel für die gleichen Rechte und Folgen der Souveränität durch Einsetzung angeführt wurden“ (LD 20, 156).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Diese Rede von den körperlichen Gültigkeitskriterien für Verträge kann jedoch spätestens an dieser Stelle als Verschleierung des gewalttätigen Ursprungs von Herrschaftsverhältnissen und als geschickte Technik der effektiven Machtausübung entlarvt werden: Nur wenn Menschen der Auffassung sind, eine Unterwerfung vergrößere ihren Nutzen in Form des Überlebens und der sinnlichen Genüsse, werden sie ihrem Herrscher bereitwillig gehorchen. Die Gültigkeitskriterien der „Verträge“, die jeweils in der Todesdrohung oder zumindest der Tötungsmacht ihren Ursprung haben, benennen also die Voraussetzungen für Herrscher, ihre Macht ohne Widerstände ausüben zu können und bereitwilligen Gehorsam zu erreichen, ohne diesen mühsam und kostenintensiv erzwingen zu müssen. Dabei werden in Hobbes’ Ausführungen über den Staat durch Aneignung mehrere Kriterien genannt, die ein Herrscher erfüllen muss, um eine bereitwillige Aufnahme seiner Befehle zu finden: Er sollte den körperlich verstandenen Tod durch verschiedene Maßnahmen abwehren und ein größtmögliches Maß an Bewegungsfreiheit zulassen. In der Erörterung des elterlichen Herrschaftsrechts entfaltet Hobbes vor allem den Zusammenhang zwischen der Evaluation einer Herrschaft und der (elterlichen) Ernährungs- und Schutzfunktion: Weil die Erhaltung des Lebens der Zweck sei, weshalb sich Menschen unterwerfen würden, müsse die erkennbare Macht und Bereitschaft vorliegen, diese Ernährungs- und Schutzfunktion auszuüben, um dauerhaft die Zustimmung der Beherrschten zu bekommen. Hobbes macht diesen legitimationstheoretischen Zusammenhang deutlich, wenn er davon spricht, dass das Herrschaftsrecht der Mutter auf Fremde über­gehen kann, sobald diese die Ernährungs- und Schutzfunktion übernehmen.337 In der Erörterung des despotischen Herrschaftsrechts buchstabiert Hobbes die Nützlichkeit der Gewährung körperlicher Freiheit aus: Wenn man als Herr seinen Sklaven körperliche Freiheit einräumt, wiegt man sie damit in einer gewissen Sicherheit, kann damit leichter die Illusion aufrecht erhalten, dass es sich um ein Vertrauensverhältnis und eine freiwillige Unterwerfung handelt und wird sich damit das Zutrauen und die Loyalität der Sklaven leicht erkaufen können: „Denn solche Menschen [im Gefängnis oder Fesseln gehalten, E. O.] – gewöhnlich Sklaven genannt – sind ohne jede Verpflichtung, sondern können rechtmäßig ihre Fesseln und ihr Gefängnis aufbrechen und ihre Herren töten oder in Gefangenschaft führen. Wurde jedoch jemandem nach seiner Gefangennahme körperliche Freiheit zugestanden und versprach er, weder zu fliehen noch seinem Herrn Gewalt anzutun, so genießt er dessen Vertrauen“ (LD 20, 158, Hervorhebungen E. O.).

337 „Setzt sie [die Mutter, E. O.] es aber aus, und ein anderer findet es und zieht es auf, so steht die Herrschaft dem zu, der es aufzieht. Denn es muß dem gehorchen, der es erhält; denn da die Erhaltung des Lebens der Zweck ist, weshalb jemand zum Untertan eines anderen wird, nimmt man von jedermann an, daß er dem ewigen Gehorsam verspricht, in dessen Macht es steht, ihn zu erhalten oder zu vernichten“ (LD 20, 157). Auf Basis dieser Textstelle kann auch Lloyds eben angeführte These vom ewigen Herrschaftsrecht der Mutter zurück­ gewiesen werden.

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B. Die politische Logik des Körpers

Mit dem Hinweis auf die Verpflichtung des Sklaven, die aus seinem abgegebe­ nen Wort sowie daraus resultiere, dass er ein Vertrauensverhältnis mit seinem Herrn eingegangen sei, entwirft Hobbes also ein moralisches Argument: Das Vorliegen eines Vertrauensverhältnisses, wofür die Gewährung körperlicher Freiheit ja ein ausreichender Beweis sei, begründe eine Verpflichtung des Sklaven zum Gehorsam.338 Dass diese Sicherheit, in der sich der Sklave auf Grund des Zugeständnisses der körperlichen Freiheit wiegt, völlig unbegründet ist, weil der Herr natürlich trotzdem rechtmäßig (!) seine ganze Macht auch gegen den Sklaven verwenden kann, teilt Hobbes in unverblümter Offenheit mit.339 Der Sieger entscheidet nach eigenem Ermessen, wie lange er sich an den vom Verlierer für gültig und verbindlich erachteten „Schutz-Gehorsams-Vertrag“ hält. De facto bedeutet das, wie Hobbes deutlich schreibt, dass sich der Verlierer nur dem Gutdünken des Siegers ausliefert: „Ergibt sich der Feind, so ist der Sieger nur dann verpflichtet, ihn wegen seiner bedingungslosen Unterwerfung zu schonen, wenn er ihm das Leben versprochen hat; dies verpflichtet den Sieger nicht länger, als er es nach eigenem Ermessen für richtig hält. […] Und wenn die Menschen, wie man jetzt sagt, um Pardon bitten […] so wollen sie der augenblicklichen Wut des Siegers durch Unterwerfung entkommen und ihr Leben mit einem Lösegeld oder Dienstleistungen erkaufen. Und deshalb bedeutet Pardon nicht, daß einem das Leben geschenkt wird, sondern um ein Sich-Ausliefern an das Gutdünken des Siegers“ (LD 20, 158) 338 Die Tatsache, dass es immerhin einige wenige Edelmütige gibt, die sich durch Appelle an ihr Pflichtbewusstsein zum Handeln bewegen lassen, könnte für den Entwurf eines solchen moralischen Argumentes eine Erklärung darstellen. 339 Dagegen versucht aktuell Baumgold, das Theorieelement des Staates durch Aneignung als Beweis dafür zu lesen, dass es sich bei Hobbes um einen Zustimmungstheoretiker handelt, für den überdies das Vertrauen eine zentrale Rolle spiele. Gegen Hoekstra argumentiert Baumgold für die These, dass nicht stillschweigende Zustimmung, sondern Vertrauen der Schlüssel sei, um zu erklären, wie Hobbes zugleich ein Zustimmungstheoretiker und ein de facto-Theoretiker sein könne: „The general thrust of Hoekstra’s interpretation is, I believe, correct: Hobbes is both a consent theorist and a de facto theorist of authority. However, my purpose here is to show that the key concept connecting these dimensions of the theory is trust and not, as Hoekstra thinks, tacit consent. The Hobbesian covenant institutionalizes a trust relationship in which both sides have a consensually defined part to play – government’s part is to supply protection and subjects’, to be obedient“ (Baumgold 2013, 2). In Übereinstimmung mit den jüngeren Tendenzen, Hobbes als Theoretiker der Reziprozität zu lesen, meint auch Baumgold, im Verhältnis zwischen Knecht und Herr eine reziproke Beziehung zu entdecken. Sie beobachtet dabei völlig zutreffend, dass Hobbes sich Mühe gibt, das Augenmerk weg von der Entstehung des Herrschaftsverhältnisses hin zu dessen Bewertung zu lenken, übersieht dabei jedoch, dass es im Ermessen des Herrn liegt, wie lange dieser sich an den vom Knecht für gültig erachteten Schutz-Gehorsamsvertrag halten möchte: „The reciprocity of the contractual relationship resides, more fundamentally, in the obverse, negative dimension. The key question is not ‚Do servants have a genuine choice in accepting the relationship?‘ but, ­rather, ‚Whose action may vitiate the relationship?‘ The answer is that neither party may end it unilaterally: masters are not supposed to assault servants (i. e., treat them as slaves) and servants are not supposed to assault or flee masters (i. e. act as slaves are permitted to do). In effect,­ Hobbes’s thinking shifts the moral locus of the argument away from the creation moment to the continuing trust relationship between independent actors“ (Baumgold 2013, 7).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Dass die Rede von einem Vertrag, bei der einer der Beteiligten frei entscheiden kann, wie lange er sich an die aus dem Vertrag resultierenden „Pflichten“ gebunden fühlt, nichts mehr mit der rechtsschöpfenden oder Verpflichtungen generierenden Bedeutung eines auf Vertrauen beruhenden Vertrages zu tun hat, wird durch diese Erläuterungen mehr als deutlich. Die Rede von einem Vertrag und die gleichzeitige Gewährung körperlicher Freiheit stellt aber möglicherweise dennoch ein effizientes Instrument dar, sich bereitwilligen Gehorsam zu sichern. Die Illusion der auf freiwilliger Zustimmung beruhenden Verpflichtung eignet sich gut, um die Folgebereitschaft und den Arbeitseifer der Sklaven zu fördern. Sklaven, die von ihrem Herrn beschützt werden und „Auslauf bekommen“ und sich deshalb frei fühlen, werden – womöglich sogar aus einem Pflichtbewusstsein heraus – umso treuere Diener sein.340 Obwohl Hobbes deutlich macht, dass es sich um einen „Vertrag“ handelt, bei dem man sich dem Gutdünken des Siegers ausliefert, wird diese Ungebundenheit des Vertragspartners – wenn das Theorieelement überhaupt Berücksichtigung findet – in der Hobbes-Forschung vielfach ausgeblendet. Analog dazu gibt es Tendenzen, die Autorisierungstheorie, die Hobbes im Leviathan erstmals explizit formuliert, in ihrer systematischen Bedeutung zu negieren. Gerade die Prämisse der Autorisierungstheorie, dass die späteren Untertanen im Vorfeld alle Handlungen ihres zukünftigen Souveräns autorisiert hätten und dieser deshalb per definitionem ungebunden sei, bereitet Erklärungsnöte und wird deshalb vielfach ausgeblendet.341 Dabei kann das Nebeneinander von unbeschränkter Gewalt und Zustimmung problemlos dadurch erklärt werden, dass Hobbes’ auf Zustimmung basierendes Argument für die Rationalität einer bedingungslosen Unterwerfung als ein solches betrachtet wird, das an Menschen adressiert ist, die sich durch derartige Appelle an moralische Pflichten oder an die Todesfurcht überzeugen lassen. 340 „Und nur dann befindet sich sein Leben in Sicherheit und sind seine Dienstleistungen geschuldet, wenn ihm der Sieger körperliche Freiheit einräumt. Denn Sklaven, die in Gefängnissen oder Fesseln arbeiten, tun dies nicht, weil sie dazu verpflichtet sind, sondern um den Grausamkeiten ihrer Aufseher zu entgehen“ (LD 20, 158, Hervorhebungen E. O.). 341 Baumgold beispielsweise versucht das Problem zu lösen, indem sie die These vertritt, dass es sich bei der Autorisierungstheorie nicht um die wirkliche Ansicht von Hobbes, der vielmehr ein Vertrauenstheoretiker sei, handele: „The upshot is to suggest that Hobbesian absolutism comes in two strengths. The protection/obedience covenant underwrites reciprocal responsibilities, subject’s liberties, and even a form of governmental accountability, whereas the authorization covenant creates formally unlimited absolutism. While the latter is the usual view of Hobbism, authorization is nonetheless  a novelty of Leviathan. The trust covenant had been laid out from the beginnings of the theory in the Elements of Law and therefore has better claim to be seen as Hobbes’s real view“ (Baumgold 2013, 13). Ähnlich hatte Lloyd 2009, 214, behauptet, dass die Souveräne aufgrund des Reziprozitätstheorems unter einem starken Druck stünden, unparteiische Gesetze zu erlassen: „Furthermore, because reason requires that one conform her behavior to the standards she would accept as reasonable were she on the receiving end of such behavior, sovereigns themselves will be subject to strict equity constraints on the kind of laws they may justifiably make, and those they must not omit to make. This constraint creates a strong pressure on legislation toward substantive equity.“

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B. Die politische Logik des Körpers

In einem anderen Sinne als Baumgold dies meinte, kann der Staat durch Aneignung also durchaus hilfreich sein, um den Staat durch Einsetzung zu verstehen:342 Das Theorieelement des Staates durch Aneignung, welches die Verschiedenheit der Körperkraft und die Verschiedenheit der Leidenschaften deutlich vor Augen führt, zeigt, wie körperlich und geistig überlegene Menschen sich dauerhaft der Folgebereitschaft der Schwächeren versichern können, indem sie diese in einer Illusion der Sicherheit und der Vertragstreue wiegen. Das kontraktualistische Argument funktioniert bei denjenigen Menschen, die durch ihre Leidenschaften von vornherein auf bestimmte Ziele ausgerichtet sind  – die Leidenschaften bestimmen also die Reichweite des Gehorsams. Ebenso wie der Sklave derjenige ist, der sich – aufgrund seiner Todesangst – im Kampf unterwirft, werden auch körperlich schwache Menschen (Frauen und Kinder, Alte oder Kranke) oder von Natur aus ängstliche Menschen sich bereitwillig unterwerfen bzw. den Gesetzen des Souveräns gehorchen.343 Weil es immerhin einige wenige Menschen gibt, die „edelmütig sind“ und sich deswegen von moralischen Argumenten überzeugen lassen werden, bedient sich Hobbes sowohl in seiner Beschreibung des Verhältnisses von Herr und Knecht, als auch in der Beschreibung des Verhältnisses von Souverän und Untertan des­ Jargons der Verpflichtung.344 Er macht jedoch gleichzeitig deutlich, dass man seine Freiheit durch Worte oder Verträge überhaupt nicht einschränke. Eine Zustimmung zu einem Vertrag verpflichte einen Menschen zu nichts, sie sei keine Einschränkung seiner natürlichen Freiheit: „Ferner ist die Zustimmung eines Untertans zur souveränen Gewalt in den Worten ent­ halten: ‚Ich autorisiere alle ihre Handlungen oder nehme sie auf mich.‘ Darin liegt nicht die geringste Beschränkung seiner früheren natürlichen Freiheit […]“ (LD 21, 168, Hervorhebungen E. O.).

Hobbes kennt genaugenommen keine andere „Verpflichtung“ als diejenige, sich selbst in seinem durch die Leidenschaften diktierten Streben zu erhalten. Nicht die Zustimmung verpflichtet, sondern allein die von den Leidenschaften diktierten Zwecke „verpflichten“:

342 „Beyond the obvious point that  a covenant creates an ongoing relationship, the nuanced account of trust provided by the acquisition model aids understanding the other covenant story, sovereignty by institution“ (Baumgold 2013, 8). 343 Die natürliche Verschiedenheit menschlicher Leidenschaften, insbesondere in Hinblick auf die Todesfurcht, räumt Hobbes in der Diskussion des Problems der Landesverteidigung explizit ein: „Auch der natürlichen Ängstlichkeit müssen Zugeständnisse gemacht werden, und zwar nicht nur bei Frauen, bei denen diese gefährliche Pflichterfüllung nicht erwartet werden kann, sondern auch bei Männern von weibischem Mut“ (LD 21, 169). 344 Dass Hobbes’ Strategie darauf hinausläuft, eine veränderte Moral zu propagieren, vermutet auch Hoekstra: „Hobbes attempts to invert the expected values of his readers, maintaining that submission to the artifice of Leviathan is not only prudentially but also morally superior to retaining or regaining their natural liberty“ (Hoekstra 2007, 122).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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„Niemand ist aufgrund der Worte selbst verpflichtet, sich selbst oder einen anderen Menschen zu töten, und folglich hängt die Verpflichtung, die man bisweilen auf Grund eines souveränen Befehls haben kann, irgendeine gefährliche oder entehrende Aufgabe durchzuführen, nicht von den Worten unserer Unterwerfungserklärung ab, sondern von der damit ausgesprochenen Absicht, die sich aus ihrem Zweck ergibt. Vereitelt deshalb unsere Gehorsamsverweigerung den Zweck, zu dem die Souveränität eingesetzt worden war, dann ist keine Freiheit zur Verweigerung gegeben, andernfalls durchaus“ (LD 21, 169, Hervorhebungen E. O.).

Dies bedeutet aber, dass der Mensch nur zu dem „verpflichtet“ ist, wozu ihn seine Leidenschaften ohnehin zwingen. Die Untertanen haben die Freiheit, alles zu tun, was ihren Zwecken dient. Hobbes’ Erläuterungen über die Freiheit im 21.  Kapitel bestätigen unsere bisherige Deutung des kontraktualistischen Arguments als eines Argumentes ad hominem, weil sie zeigen, dass andere Verpflichtungen, als diejenige, sich selbst als leidenschaftsgetriebener Körper zu erhalten, nicht existieren. Die Begrifflichkeit, mit der Hobbes über die Freiheit spricht, ist dabei entscheidend, weil sie zeigt, dass es außer den Pflichten, seinen Leidenschaften zu folgen und sich um eine ungestörte Auslebung dieser Leidenschaften zu kümmern keine anderen gibt. So beginnt Hobbes das Kapitel mit Erläuterungen über die natürliche Freiheit, die eine Freiheit des Körpers sei und zugleich die einzige, die man zurecht so nenne.345 Er fährt fort, über die Freiheit der Untertanen zu sprechen, die eine Freiheit unter dem Gesetz des Souveräns sei,346 und scheint damit eine generelle Pflicht, sich aufgrund des Gesellschaftsvertrags an die Gesetze des Souveräns zu halten, behaupten zu wollen. Nach dieser Freiheit der Untertanen widmet sich Hobbes jedoch abschließend der „wahren Freiheit eines Untertanen“, die diejenigen Dinge betrifft, „die wir trotz des Befehls des Souveräns verweigern können, ohne Unrecht zu tun“ (LD 21, 168). Hobbes nimmt in diesem Kapitel die Frage, ob und ggf. welche Art von Verpflichtungen der angenommene Autorisierungsvertrag generiert, nochmals auf347 und beantwortet sie dahingehend, dass der Ver-

345 „Und nach dieser genauen und allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes ist ein Freier, wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstands tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen. Werden aber die Wörter frei und Freiheit auf andere Dinge als auf den Körper angewandt, so werden sie mißbraucht […]. […] Und für den vorliegenden Zusammenhang genügen diese Bemerkungen über die natürliche Freiheit, die einzige, die man zurecht so nennt“ (LD 21, 163 f.). 346 „Aber wie die Menschen zur Erlangung von Frieden und Selbsterhaltung einen künstlichen Menschen geschaffen haben, genannt Staat, so haben sie auch künstliche Ketten geschaffen, die man bürgerliche Gesetze nennt. […] Wenn ich nun auf die Freiheit der Unter­tanen zu sprechen komme, so nur in Bezug auf diese Bande.“ (LD 21, 164 f.). 347 Eine stark gekürzte Darstellung mag hilfreich sein, um sich das grundlegende Argument für die These, dass die Verfolgung der natürlichen Leidenschaften die einzige „Verpflichtung“ darstellt, zu verdeutlichen: „Denn der Akt unserer Unterwerfung enthält sowohl unsere Verpflichtung als auch unsere Freiheit, weshalb sie mit Argumenten begründet werden müssen, die sich von dort ableiten lassen. […] Und da diese Argumente entweder den ausdrück-

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B. Die politische Logik des Körpers

tragsabschluss bzw. Worte, die eine Rechtsübertragung signalisieren, keine Verpflichtungen generieren. Die wahre Freiheit des Untertanen besteht – ebenso wie die natürliche Freiheit – darin, alles zu tun, was den eigenen Zwecken dient. Eine generelle „Verpflichtung“, sich an Absichtserklärungen oder Verträge zu halten, besteht demnach nicht – im Gegenteil ist jeder Mensch frei, sich dann nicht an Absichtserklärungen oder Verträge zu halten, wenn er damit seinen eigenen Zwecken zuarbeiten kann.348 Freiheit ist bei Hobbes körperliche Freiheit, die darin besteht, Dinge, die man aufgrund seiner Stärke und seines Verstands tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen. Weil die Körperstärke und der durch die Leidenschaften gelenkte Wille der Menschen verschieden ist, ergeben sich aber relevante Unterschiede in der körperlichen Freiheit bzw. in dem natürlichen Recht des Körpers: Während die meisten Menschen von den sinnlichen Begierden beherrscht und deshalb aus Furcht vor körperlicher Strafe oder dem Naturzustand gesetzeskonform handeln werden, gebietet die Machtgier anderen Menschen Vertragstreue, insbesondere was Verträge zwischen Untertanen betrifft, nur vorzutäuschen und sich – weil Worte ohnehin zu nichts verpflichten – an anderen listig und erfolgreich zu bereichern. Menschen, die aufgrund ihrer sinnlichen Leidenschaften in erster Linie am Überleben und an der sicheren Befriedigung ihrer körperlichen Genüsse interessiert sind, werden sich bereitwillig Diktatoren unterwerfen,349 solange diese Diktatoren nicht durch den Entzug der Bewegungsfreiheit oder die Vernachlässigung ihrer Schutzaufgabe ihre fehlende Vertrauenswürdigkeit deutlich zeigen. Der Staat durch Aneignung kann also tatsächlich Licht auf den Staat durch Einsetzung werfen: Die Untertanen des Souveräns gleichen den freiwilligen Knechten, die sich als auf den Körper und die sinnlichen Leidenschaften

lichen Worten […] oder der Absicht dessen, der sich seiner Gewalt unterwirft, zu entnehmen sind […], müssen Verpflichtung und Freiheit des Untertans entweder aus diesen oder anderen gleichbedeutenden Worten abgeleitet werden, oder aber aus dem Zweck der Einsetzung der Souveränität […]. […] in den Worten […] liegt nicht die geringste Beschränkung seiner früheren natürlichen Freiheit […]. […] folglich hängt die Verpflichtung […] nicht von den Worten unserer Unterwerfungserklärung ab, sondern von der damit ausgesprochenen Absicht, die sich aus ihrem Zweck ergibt“ (LD 21, 168 f.). 348 Heimliche Vertragsbrüche in Form von unerkanntem Diebstahl, Übervorteilungen die auf dem Unwissen des Vertragspartners basieren oder die vorgetäuschte Absicht, Geld zurückzahlen zu wollen, können sich beispielsweise als zweckdienliche Mittel erweisen, sich ohne negative Konsequenzen an anderen Menschen zu bereichern. 349 Menschen, die vor allem am körperlichen Überleben interessiert sind und eine große Furcht vor dem Tod haben, gleichen nach Hobbes’ Auffassung wohl Kindern, die aufgrund ihrer Schwäche eine diktatorische Herrschaft verdienen: „Und wie ein Kind einen Vormund oder Beschützer zur Erhaltung seiner Person und Autorität braucht, so benötigt in großen Staaten die souveräne Versammlung in allen großen Gefahren und Zwangslagen custodes­ libertatis, das heißt Diktatoren oder Beschützer ihrer Autorität, die nichts anderes als Monarchen auf Zeit sind, denen sie auf eine gewisse Zeit die gesamte Ausübung ihrer Gewalt übertragen“ (LD 19, 149).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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konzentrierte Menschen – in Erwartung der Überlebensdienlichkeit – bereitwillig selbst zu Sklaven machen.350 Während der Staat durch Einsetzung jedoch die Fiktion benutzt, dass alle Menschen körperlich gleich sind (Tötungsgefahr) und das Gleiche wollen (Überleben), buchstabiert der Staat durch Aneignung deutlich aus, dass Menschen hinsichtlich ihrer Körperkraft und ihrer Leidenschaften unterschiedlich sind: Die schwächeren oder ängstlicheren Menschen werden sich aus Todesfurcht unterwerfen, die stärkeren und machtgierigeren können – insbesondere, wenn sie der Illusion, es würde sich um ein freiwillig gewähltes Knechtschaftsverhältnis durch Gewährung von Freiheiten, Ernährung und Schutz ausreichend zuarbeiten – diese gehorsams­ bereiten Menschen dann frei für ihre Zwecke benutzen. Die Idee des Vertrags, die Gleichheit, Fairness und Verpflichtung suggeriert, verbirgt also nur die körperliche Ungleichheit und die auf den verschiedenen Leidenschaften der Menschen basierende intellektuelle Ungleichheit. Sie kann von den stärkeren und mächtigeren Menschen benutzt werden, um sich die schwächeren und ängstlicheren Menschen gefügig und dienstbereit zu machen und damit dem Naturrecht des stärkeren und listigeren Körpers gezielt zur Durchsetzung verhelfen. Die Idee des Vertrags soll dieses Naturrecht des stärkeren und listigeren Körpers also nur verdecken, nicht aber ersetzen. Diese Deutung kann durch einen Hinweis gestützt werden, den Hobbes dem Souverän im „Rückblick und Schluß“ gibt. Dort warnt Hobbes den Souverän explizit davor, die Art des Herrschafts­ erwerbs zu thematisieren und die gewaltsame Usurpation bzw. den Krieg, der Ursprung fast aller existierenden Staaten ist, rechtfertigen zu wollen. Mit einem solchen Versuch erreiche man eher das Gegenteil, weil man damit zu Aufständen motiviere. Der gewaltsame Ursprung von Herrschaftsverhältnissen solle also vom Souverän bewusst verschleiert bzw. ausgeblendet werden, um dadurch seine Macht nicht zu gefährden: 350

Diese Parallelität von Sklave und Untertan behauptet Hobbes in De Cive ausdrücklich, wenn er ausführt, er wüsste nicht, weshalb sich die Sklaven über zu wenig Freiheit beschweren sollten, weil diese ja über alles, was zur Erhaltung des Lebens und der Gesundheit not­wendig sei, verfügten. Allenfalls Ehre oder weitere überflüssige Dinge hätte der Bürger dem Sklaven voraus. Genau genommen sei das Verhältnis des Sklaven zu seinem Herrn das gleiche wie das eines Bürgers zu seinem Staat: „Ich wüßte also nicht, in welchem Punkte sich der Sklave beklagen könnte, daß ihm die Freiheit fehle; er müßte es denn für ein Elend halten, daß er­ gehindert ist, sich selbst zu verletzen, und daß er das Leben, das er durch den Krieg oder ein unglückliches Geschick oder gar durch seine Trägheit verwirkt hatte, samt allem zur Ernährung Nötigen und allem zum Leben und der Gesundheit Erforderlichen unter der Bedingung zurückempfangen habe, daß er sich leiten lasse. […] In jedem Staate und jeder Familie aber, wo sich Sklaven befinden, haben die freien Bürger und die Familiensöhne vor den Sklaven den Vorzug voraus, daß sie die ehrenvolleren Ämter im Staat oder in der Familie innehaben und an überflüssigen Dingen mehr besitzen. Und der Unterschied zwischen einem freien Bürger und einem Sklaven liegt darin, daß der Freie nur dem Staate, der Sklave aber auch einem Mitbürger dient“ (DCD XI, 9, 171).

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B. Die politische Logik des Körpers

„Alle Souveräne wollen den Krieg rechtfertigen, durch den ihre Macht zuerst erlangt worden war und von dem ihrer Meinung nach ihr Recht abhängt […]. Während sie unnötiger­ weise meinen, sich selbst zu rechtfertigen, rechtfertigen sie hiermit alle erfolgreichen Aufstände, die der Ehrgeiz zu allen Zeiten gegen sie und ihre Nachfolger anzetteln wird. Deshalb stelle ich fest, daß es einer der wirkungsvollsten Todeskeime für den Staat ist, wenn die Eroberer nicht nur verlangen, daß sich ihnen die Menschen nicht nur hinsichtlich ihrer zukünftigen Handlungen unterwerfen, sondern daß sie auch alle vergangenen Handlungen der Eroberer billigen. Dabei gibt es doch kaum einen Staat auf der Welt, dessen Anfänge mit gutem Gewissen zu rechtfertigen sind“ (LD Rückblick und Schluß, 538 f.).

Die Beurteilung der Sklaverei als rechtmäßig und der Versuch, Gewaltverhältnisse nachträglich durch Hinweis auf deren Freiwilligkeit zu rationalisieren, fügt sich nahtlos ein in unsere gewonnene Deutung des kontraktualistischen Argumentes als eines argumentum ad hominem: Das Argument appelliert an die Leiden­ schaften der Todesfurcht und des Genussstrebens und überzeugt Menschen davon, dass ihr Gehorsam diesen Leidenschaften zuarbeiten wird. Es ist – wenngleich die Genealogie des Naturzustandes zunächst einen gegenteiligen Eindruck erweckt – ein Argument, das sich an Menschen richtet, die sich bereits unter einer Herrschaft befinden und von listigen und starken Körpern benutzt werden kann, diese zum bereitwilligeren Gehorsam zu überreden. Ebenso wie Hobbes dem ­Souverän empfiehlt, Befehle in die Form eines Ratschlages zu kleiden, um damit eine willige Aufnahme sicherzustellen, kann das kontraktualistische Argument als ein solcher in die Form eines Ratschlags gekleideter Befehl verstanden werden. Die Effektivität der Gewaltandrohung kann dadurch erheblich gesteigert werden, dass man eine Theorie erfindet, die die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Gewalt begründet: Wenn Sklaven der Meinung sind, dass ihnen ihr Herr kein Unrecht tut, sondern sich gut um sie kümmert, sie beschützt und ernährt und sie das Herrschaftsverhältnis nicht als gezwungene Sklavenarbeit, sondern als freiwillige, selbstgewählte Knechtschaft interpretieren, werden sie ihm eher gehorchen als durch die schiere Androhung von Gewalt. Ebenso werden Untertanen, die mit ihrem Souverän höchst zufrieden sind, weil er sie leben lässt und für ihre Bewegungsfreiheit und ihr körperliches Wohlergehen sorgt, viel weniger zur Rebellion neigen. Um dem Naturrecht des Stärkeren und Listigeren zur effektiven Durchsetzung zu verhelfen, empfiehlt sich eine Theorie, die Macht und Gewaltverhältnisse rationalisieren kann. Wenn das primäre Ziel im körperlichen Überleben besteht, ist es sehr einfach, zu zeigen, dass nur diejenigen Herrschaftsverhältnisse diesem Ziel förderlich sind, die über ausreichend Macht und Körperstärke verfügen, um Gewalt von fremder Seite abzuwehren. Die Idee eines Vertrages wird also sowohl im Falle des Staates durch Aneignung wie auch im Falle des Staates durch Einsetzung dazu benutzt, den gewalttätigen Ursprung von Herrschaft zu verschleiern bzw. diese Gewalt dadurch zu rationalisieren, dass sich die Herrschaft als förderlich für das wichtigste Ziel, das Überleben – eine Prämisse, die als wahr vorausgesetzt wird – erweist. Unsere Deutung, dass das kontraktualistische Argument ein Leidenschaftsappell ist und in erster Linie eine praktische Wirkung entfalten soll, erfährt durch das Theorieelement des Staates durch Aneignung also zusätzliche

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Plausibilität. Wie wir im weiteren Fortgang der Arbeit sehen werden, greift Hobbes diesen legitimationstheoretischen Zusammenhang von Schutz und Gehorsam, der über die Idee des Vertrages eine gewisse Wechselseitigkeit suggeriert, im 30. Kapitel, in dem er über die Aufgabe der souveränen Vertretung spricht, erneut auf.

c) Der Leviathan als Wohlfahrtsstaat und Rechtsstaat? Die offene und die verborgene Logik des Körpers Unsere Deutung, dass es sich beim kontraktualistischen Argument um ein argumentum ad hominem handelt, das die doppelte Funktion hat, durch Leidenschaftsappelle Menschen zu einem gewünschten, nämlich gesetzeskonformem Handeln anzutreiben und individuelle Bereicherung und Übervorteilung mit dem schützenden Mantel des Rechts zu umgeben, soll im Folgenden durch eine Analyse des 30. Kapitels, in dem Hobbes von der Aufgabe der souveränen Vertretung spricht, zusätzlich plausibilisiert werden. In diesem Kapitel formuliert Hobbes explizit verschiedene Politikempfehlungen, die allesamt eher Techniken des Machterhalts denn Initiativen zur Förderung des Wohls des Volkes darstellen. Im Folgenden werden also Hobbes „bildungspolitische“, „wohlfahrtsstaatliche, „rechtsstaatliche“ und „außenpolitische“ Politikempfehlungen vorgestellt und hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer Intention analysiert. Ziel ist es dabei einerseits, zu zeigen, dass die Politikempfehlungen des 30. Kapitels unsere Hypothese vom Leviathan als Beratungshandbuch zu stützen scheinen. Andererseits sollen in der Analyse auch die anthropologischen Prämissen, die den jeweiligen Politikempfehlungen zu Grunde liegen, herausgearbeitet werden, um damit zu verdeutlichen, in welcher Hinsicht Hobbes’ Projekt als ein „körperbasierter Liberalismus“ verstanden werden kann.

aa) Die öffentliche Lehre vom Körper als Fundament der Volkserziehung Das 30. Kapitel erweckt von Beginn an den Eindruck, Hobbes habe mit dem Leviathan ein Beratungshandbuch für den Souverän verfassen wollen. Es ist überschrieben mit „Von der Aufgabe der souveränen Vertretung“ und formuliert deutlich den Anspruch, wissenschaftlich hergeleitete Techniken des Machterhalts präsentieren zu wollen. Hobbes schreibt, er habe in seiner Schrift Prinzipien niedergelegt, mit denen der Souverän seine Macht dauerhaft festigen könne, wenn er wolle: „Die Kunst, gut zu bauen, wurde aus Vernunftsprinzipien entwickelt, die tüchtige Menschen erkannten – Menschen, die lange die Natur des Baumaterials und der verschiedenen Wirkungen von Figuren und Proportionen studierten, und zwar viel später, als die Menschheit – wenn auch armselig – zu bauen begonnen hatte. Genauso können lange, nachdem die Menschen begonnen hatten, unvollkommene, zum Rückfall in Unordnung neigende Staaten zu errichten, durch eifriges Nachdenken Vernunftsprinzipien ausfindig gemacht werden, um ihre Verfassung dauerhaft zu machen – von äußerer Gewalt einmal abgesehen. Prinzipien dieser Art habe ich in dieser Abhandlung dargelegt“ (LD 30, 256).

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B. Die politische Logik des Körpers

Wichtig für den Machterhalt des Souveräns wäre es, von seinem uneingeschränkten Recht nicht nur tatsächlich Gebrauch zu machen, sondern auch, dem Volk eine Begründung für dieses umfassende Recht zu liefern.351 Auf eine mögliche Erwiderung, dass das Volk solche Prinzipien, die zu solch einem umfassenden Recht des Souveräns führen würden, niemals hinnehmen würde,352 antwortet Hobbes mit seiner uns bereits bekannten These von der Verschiedenheit der Menschen aufgrund ihrer unterschiedlichen Leidenschaften. Im Gegensatz zu den Reichen und Mächtigen sowie den Gelehrten könne man dem gemeinen Volk nahezu alles erzählen: „Aber es wird ferner geltend gemacht, daß selbst dann, wenn diese Prinzipien richtig sind, die Fähigkeit des gemeinen Volks doch nicht dazu ausreicht, daß man ihm diese Prinzipien verständlich machen könnte. Ich wäre froh, wenn die reichen und mächtigen Untertanen eines Königreichs oder diejenigen, die man zu den Gelehrten rechnet, dazu nicht weniger fähig wären als das Volk. Aber alle Welt weiß, daß die Widerstände gegen diese Art von Lehre nicht so sehr von der Schwierigkeit des Gegenstandes als vielmehr von den Interessen derer herrühren, die lernen sollten. Mächtige Menschen verdauen kaum etwas, das eine Macht zur Zügelung ihrer Begierden errichtet, und Gelehrte nichts, was ihre Irrtümer aufdeckt und dadurch ihre Autorität schmälert, während der Verstand des gemeinen Volkes, wenn er nicht durch die Abhängigkeit von Mächtigen befleckt oder mit den Ansichten ihrer Doktoren vollgekritzelt ist, einem reinen Papier gleicht, dazu geeignet, alles aufzunehmen, was ihm von der öffentlichen Gewalt aufgedruckt wird“ (LD 30, 257).

Hobbes nennt als Beispiel für den unvernünftigen Unsinn, den man dem Volk erzählen könnte, die Mysterien der christlichen Religion. Diese sei vor allem deshalb unvernünftig, weil sie den Menschen Glauben machen wollte, ein und derselbe Körper könne zu ein und derselben Zeit an verschiedenen Orten sein.353 Im Gegensatz zu dem unvernünftigen Unsinn, den die Lehrer des Christentums dem Volk haben erklären wollen, sei die Lehre der „natürlichen und grundlegenden Souveränitätsrechte“ einfach vermittelbar, weil deren Inhalt „mit der Vernunft so sehr übereinstimmt, daß es jeder vorurteilslose Mensch schon lernt, wenn er es nur hört“ (LD 30, 257). Sie sei, so fügt Hobbes hinzu, nicht nur einfach zu vermitteln, sondern auch 351

„Und da sich der Staat auflöst, wenn die oben im achtzehnten Kapitel genauer charakterisierten, wesentlichen Rechte des Souveräns entfallen […] so ist es Aufgabe des Souveräns, diese Rechte in ihrer Gesamtheit zu erhalten […]. […] Zweitens läuft es seiner Pflicht zuwider, das Volk über die Ursachen und Gründe dieser wesentlichen Rechte in Unkenntnis zu lassen oder eine falsche Unterrichtung zu dulden, da auf Grund dessen die Menschen leicht zu verführen und dazu zu bringen sind, ihm Widerstand zu leisten, wenn Anwendung und Ausübung dieser Rechte im Interesse des Staates notwendig sind“ (LD 30, 255 f., Hervorhebungen E. O.). 352 Mit einem ähnlichen Einwand beschäftigt sich Hobbes im 20. Kapitel: „Der gewichtigste Einwand ist der aus der Erfahrung, das heißt die Frage, wo und wann eine solche Gewalt von den Untertanen anerkannt worden sei“ (LD 20, 162). 353 „Es werden doch ganze Völker dazu gebracht, die großen Mysterien der christlichen Religion hinzunehmen, die über der Vernunft stehen, und Millionen Menschen Glauben gemacht, derselbe Körper könne zu ein und derselben Zeit an unzähligen Orten sein, was der Vernunft widerspricht: Sollte man dann nicht dazu in der Lage sein, durch gesetzlich geschützte Lehre die Anerkennung dessen zu bewirken, was mit der Vernunft so sehr übereinstimmt, daß es jeder vorurteilslose Mensch schon lernt, wenn er es nur hört?“ (LD 30, 257)

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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im Eigeninteresse des Souveräns unbedingt notwendig zu vermitteln: Der an seiner Machterhaltung interessierte Souverän sollte, das legt Hobbes diesem mehrfach nahe, unbedingt darauf achten, dass das Volk in dieser seiner Pflicht unterrichtet werde, weil ihm sonst Widerstand und Rebellion drohen würden.354 Das Erziehungsprogramm, welches Hobbes dem Souverän nahelegt, wird von Hobbes offen als eine Form religiöser Indoktrination beschrieben. Bei den inhaltlichen Lehrsätzen des Erziehungsprogramms empfiehlt Hobbes dem Souverän, sich an den zehn Geboten zu orientieren. So enthielten insbesondere die erste Tafel der Gebote passable Aufforderungen, die Autorität des Souveräns anzuerkennen und diesem öffentlich Folgebereitschaft zu versprechen.355 Allgemein könne man den Kerninhalt der zwei Tafeln dahingehend zusammenfassen, dass die erste das Gebot, Gott zu lieben und die zweite das Gebot, den Nächsten zu lieben, formuliere.356 Aber nicht nur dem Inhalt nach könne man sich bei dem Volkserziehungsprogramm zur Festigung der Autorität des Souveräns an den zehn Geboten orientieren. Auch der Form nach sei die religiöse Indoktrination ein geeignetes Vorbild: Wie auch in anderen Religionen sei ein permanentes Predigen notwendig, um dem Volk seine Pflichten beizubringen. Hobbes empfiehlt dem Souverän, nach dem Vorbild des jüdischen Sabbat, Zeiträume festzulegen, in denen das Volk Vorträge über seine Pflichten anhören könne.357 354 „Deshalb ziehe ich daraus den Schluß, daß, solange der Souverän seine volle Macht besitzt, die Unterrichtung des Volkes über die wesentlichen, das heißt die natürlichen und grundlegenden Souveränitätsrechte, keine Schwierigkeiten bereitet außer denen, die sich aus seinen eigenen Fehlern oder den Fehlern derer, die er mit der Verwaltung des Staates betraut hat, ergeben. Und folglich ist es seine Pflicht, zu veranlassen, und nicht nur seine Pflicht, sondern auch sein Vorteil und seine Sicherheit gegen die Gefahr, die ihm selbst als natürliche Person durch eine Rebellion erwachsen kann“ (LD 30, 257, Hervorhebungen E. O.). Vgl. ebenfalls LD 30, 256: „Kennen die Menschen diese natürliche Verpflichtung nicht, so können sie auch nicht wissen, welches Recht hinter jedem Gesetz steht, das der Souverän erläßt. Und was die Bestrafung betrifft, so halten sie diese für einen feindlichen Akt, und sie werden sich bemühen, ihm mit feindlichen Akten zu begegnen, wenn sie sich für stark genug halten.“ 355 „Drittens. Daraus ergibt sich, daß dem Volk gelehrt werden sollte, welch großer Fehler es ist, von der souveränen Vertretung […] schlecht zu reden, gegen ihre Gewalt Einwände zu machen und sie zu bestreiten, oder auf andere Art ihren Namen unehrerbietig zu gebrauchen – Dinge, die bewirken können, daß der Souverän von seinem Volk mißachet wird und daß dessen Gehorsam – in dem die Sicherheit des Staates besteht, nachläßt. […] So beinhaltet also die gesamte erste Tafel der Gebote die Summe von Gottes absoluter Macht, nicht nur in seiner Eigenschaft als Gott, sondern auch als besonderer König der Juden kraft Vertrags. Und deshalb mag sie auch diejenigen erleuchten, denen die souveräne Gewalt durch Übereinstimmung der Menschen übertragen wurde, damit sie sehen, in welcher Lehre sie ihre Untertanen zu unterrichten haben“ (LD 30, 258 f.). 356 „Dies ist der Inhalt des zehnten Gebots und die Summe der zweiten Tafel, die auf dieses eine Gebot der Nächstenliebe, liebe deinen Nächsten wie dich selbst, zurückgeführt werden kann, so, wie auch die Summe der ersten Tafel auf die Liebe zu Gott, den die Juden damals wieder zum König erhielten, zurückgeführt werden kann“ (LD 30, 260). 357 „Viertens. Diese Lehren können dem Volk weder beigebracht werden, noch kann es sie nach der Belehrung behalten, und nach einer Generation erinnert es sich nicht einmal daran,

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B. Die politische Logik des Körpers

Während Hobbes dem Souverän zwar rät, sich in inhaltlicher (die zehn Gebote) und methodischer Form an Religionen als Vorbilder für die wirksame Indoktrination des Volkes zu orientieren, rät er dem Souverän zugleich, den tatsächlichen Einfluss des Klerus auf das Volk zu minimieren. Für die Volkserziehung müsse man darauf achten, die Ausbildung der Lehrer zu optimieren. Da das Volk seine Pflicht nicht durch eigenes Nachdenken fände, sondern von Lehrern erhalte, müsse man alles daransetzen, die Universitäten – die für diese Lehrerbildung zuständig sind – zu reformieren: „Menschen, die durch Notwendigkeit oder Habsucht an ihr Gewerbe und an ihre Arbeit gefesselt werden, und auf der anderen Seite Menschen, die ihren sinnlichen Vergnügungen nachgehen, weil sie reich oder träge sind (diese beiden Arten von Menschen machen den größten Teil der Menschheit aus), werden vom gründlichen Nachdenken – eine notwendige Voraussetzung für das Erlernen der Wahrheit nicht nur in Dingen der natürlichen Gerechtigkeit, sondern auch in allen anderen Wissenschaften – abgelenkt. Deshalb erfahren sie die Begriffe ihrer Pflicht hauptsächlich von den Geistlichen auf der Kanzel und teilweise auch von ihren Nachbarn oder guten Bekannten, die die Fähigkeit besitzen, gewandt und einleuchtend zu reden, und somit weiser und gelehrter in Dingen des Gesetzes und des Gewissens als sie selbst zu sein scheinen. Und die Geistlichen und anderen Leute, die ihre Gelehrtheit zur Schau tragen, haben ihre Kenntnisse von den Universitäten, den Juristenschulen oder den Büchern, die von hervorragenden Leuten dieser Schulen und Universitäten veröffentlicht wurden. Deshalb ist es offenkundig, daß die Unterrichtung des Volks gänzlich von der richtigen Belehrung an den Universitäten abhängt“ (LD 30, 261).

Wie aber sind die Universitäten zu reformieren? Hobbes deutet in diesem Kontext bereits an, dass die Dominanz der Religion an den Universitäten ein Problem sei. So hätten „bis gegen Ende der Zeit Heinrichs des Achten hauptsächlich die Universitäten die Macht des Papstes gegen die Macht des Staates verteidigt […]“ (ebd.) und es wäre „kein Wunder, wenn sie noch einen Geruch von der feinen Flüssigkeit an sich haben, mit der sie früher gegen die staatliche Autorität gesalbt worden waren“ (LD 30, 262). Hobbes greift die Notwendigkeit einer Reform der Universitäten im 46. Kapitel erneut auf. Dort beklagt er sich insbesondere über die Vorherrschaft der Religion, die die Philosophie in eine Rolle der Dienstmagd abdränge.358 wer Inhaber der souveränen Gewalt ist, wenn nicht gewisse Zeiten von der gewöhnlichen Arbeitszeit abgesetzt werden, in denen es die zu seiner Unterrichtung bestimmten Lehrer hören kann. Deshalb ist es notwendig, daß Zeiten für Versammlungen festgesetzt werden, in denen das Volk nach gebeten und Lobpreisungen Gottes, des Souveräns aller Souveräne, Vorträge über seine Pflichten anhören kann, die jeden betreffenden, allgemeinen positiven Gesetze vorgelesen und ausgelegt erhält und über die Autorität, die sie zu Gesetzen macht, belehrt wird. Zu diesem Zweck hatten die Juden an jedem siebten Tag einen Sabbath“ (LD 30, 259). 358 „Das, was man heute eine Universität nennt, ist eine Zusammenfassung und eine Eingliederung vieler öffentlicher Schulen unter einer Herrschaftsgewalt in ein und dieselbe Stadt oder Kathedralstadt. In ihr wurden die hauptsächlichen Schulen für die drei Fakultäten eingerichtet, das heißt für die Fakultät der römischen Religion, des römischen Rechts und der Kunst der Medizin. Und dem Studium der Philosophie räumt sie keine andere Rolle ein als die einer Dienstmagd der römischen Religion“ (LD 46, 511).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Das Problem an der Vorherrschaft der Religion sei, so gibt Hobbes dem Souverän auch an dieser Stelle unmissverständlich zu verstehen, deren politische Konsequenz: Wenn die Religion lehre, dass der Mensch außer seinem Körper auch eine Seele habe, mache ihn dies beeinflussbar. Wenn Menschen an geistige Dinge, an ein Jenseits und ein Weiterleben ihrer Seele nach dem Tod des Körpers glauben würden, mache sie dies in geringerem Grade lenkbar. Solche Menschen wären weniger zum Gehorsam bereit und weniger abhängig von der souveränen Gewalt. Im Interesse gesetzestreuer Untertanen sollte der Souverän den Einfluss störender scholastischer Lehren an den Universitäten zurückdrängen, um die Abhängigkeit und die Gehorsamsbereitschaft der Menschen herzustellen: „Aber wozu, mag mancher sagen, stehen solche Spitzfindigkeiten in einem Werk dieser Art, in dem ich nichts anderes im Auge habe als das, was für die Lehre von der Regierung und vom Gehorsam notwendig ist? Dies geschieht zu dem Zweck, damit sich die Menschen nicht länger von denjenigen mißbrauchen lassen mögen, die sie durch diese Lehre von den getrennten Essenzen, die auf der Afterphilosophie des Aristoteles fußt, mit leeren Namen von dem Gehorsam gegen die Gesetze ihres Landes abschrecken wollen, so wie die Menschen Vögel vom Getreide mit einem leeren Wams, einem Hut und einem Krückstock abschrecken. Denn dies ist die Grundlage ihrer Behauptung, die Seele, das heißt das Leben, eines Menschen, der tot und begraben ist, könne von seinem Körper getrennt wandeln und sei nachts zwischen den Gräbern zu sehen. […] – und eine Menge anderer Dinge, die dazu dienen, die Abhängigkeit der Untertanen von der souveränen Gewalt ihres Landes zu schwächen“ (LD 46, 514).

Gegen eine solche abstruse Vorstellung getrennter Essenzen bzw. einer unkörperlichen Seele müsse man eine Lehre setzen, wonach alles, was wirklich sei, körperlich sei und es außer dem Körper nichts gebe. Das Fundament der Ersatzreligion, die Hobbes dem Souverän zu begründen empfiehlt und die in einer gottgleichen Verehrung des Souveräns gipfeln soll, ist also eine Lehre über den­ Körper: „Die Welt (ich meine nicht nur die Erde, nach der ihre Liebhaber weltliche Menschen genannt werden, sondern das Universum, das heißt die gesamte Masse aller bestehenden Dinge) ist körperlich, das heißt ein Körper, und besitzt die Dimensionen der Größe, nämlich Länge, Breite und Tiefe. Auch ist jeder Teil eines Körpers gleichermaßen Körper und besitzt dieselben Dimensionen, und folglich ist jeder Teil des Universums Körper, und was nicht Körper ist, ist kein Teil des Universums. Und da das Universum alles ist, ist das, was kein Teil von ihm ist, Nichts, und folglich nirgends“ (LD 46, 512).

Hobbes empfiehlt dem Souverän eine Reform der Universitäten, um dadurch die Vorherrschaft der christlichen Religion bzw. der scholastischen Rezeption der aristotelischen Lehre von den Essenzen zurückzudrängen. Ganz offen teilt­ Hobbes dem Souverän den Grund dieser Notwendigkeit mit: Wenn Menschen an einen Korporealismus glauben und sich daher auch selbst wesentlich als Körperwesen begreifen würden, könnte man diese viel leichter als dienstfertige Unter­ tanen gebrauchen. Wenn die Abhängigkeit der Untertanen vom Souverän durch eine falsche Lehre geschwächt wird, kann die richtige Lehre dazu beitragen, dass

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B. Die politische Logik des Körpers

die Abhängigkeit des Volkes vom Souverän größer wird.359 In der Kritik der aristotelisch-scholastischen Lehre der getrennten Essenzen wiederholt Hobbes gebetsmühlenartig die Auffassung vom Menschen als lebendigem Körper – angeblich, um an diesem Beispiel die Absurdität der aristotelisch-scholastischen Lehre zu demonstrieren: „Wenn z. B. jemand sagt: ‚Ein Mensch ist ein Körper‘, so will er damit ausdrücken, daß der Name Körper notwendig aus dem Namen Mensch folgt, da sie nur zwei verschiedene Namen desselben Dinges Mensch sind. […] Wenn wir z. B. sagen: ‚Ein Mensch ist ein lebendiger Körper‘, so meinen wir nicht, daß der Mensch und der lebendige Körper zwei verschiedene Dinge seien und das ist oder seiend ein drittes, sondern daß der Mensch und der lebendige Körper ein und dasselbe Ding seien, da die Folgerung: ‚Ist er ein Mensch, so ist er ein lebendiger Körper‘, eine richtige Folgerung ist, die durch das Wort ist angedeutet wird“ (LD 46, 514).

Inwiefern kann diese Lehre vom Menschen als einem lebendigen Körper aber nun dazu beitragen, die Abhängigkeit der Untertanen zu fördern und dem Souverän Zustimmung und Gehorsam zu verschaffen? Hobbes scheint davon auszu­ gehen, dass sich die natürlichen Leidenschaften der Menschen, die auf Erhaltung des eigenen Körpers und auf sinnliche Genüsse ausgerichtet sind, besser entfalten können, wenn der schädliche Einfluss der Religion zurückgedrängt wird. Er wiederholt im 30. Kapitel an mehreren Stellen seine auch an anderen Stellen aufgestellte Lehre von der Gliederung der Menschheit, wonach die meisten Menschen – ähnlich wie die Tiere – primär an ihrem eigenen Überleben und an der Sicherung sinnlicher Genüsse orientiert wären.360 Wenn nun die Leidenschaften der meisten Menschen ohnehin auf ihren Körper und sinnliche Genüsse gerichtet sind, 359

Ob Hobbes selbst Atheist war oder nicht, muss für den vorliegenden Zusammenhang nicht geklärt werden. Hobbes selbst betont, dass er geistige Dinge, die Ausdehnung haben, durchaus zu den Körpern zählt – diese also, wie z. B. Gott, durchaus existieren können. Hobbes’ dem Wortlaut nach erklärte Körper-Vorstellung ist also mit dem Christentum durchaus auf den ersten Blick vereinbar – zumindest gibt sich Hobbes Mühe, dies zu suggerieren. Immerhin ist ihm aber bewusst, dass die Common-Sense-Vorstellung von Körperlichkeit, die Körper über den Tastsinn versteht und an unsichtbare Körper nicht glaubt, seiner Definition von Körperlichkeit, die mit dem Christentum vereinbar ist, entgegen steht: „Daraus folgt nicht, daß Geister nichts sind, denn sie haben Dimensionen und sind deshalb wirklich Körper, wenngleich dieser Name in der Umgangssprache nur solchen Körpern gegeben wird, die sichtbar oder fühlbar sind, das heißt die einen gewissen Grad von Undurchsichtigkeit haben. Was aber Geister betrifft, so nennen sie diese Leute unkörperlich. Dies ist ein besonders ehrenhafter Name und mag deshalb mit besonderer Frömmigkeit Gott selbst zugeschrieben werden, bei dem wir nicht darauf sehen, welches Attribut am besten seine Natur, die unverständlich ist, ausdrückt, sondern was am besten unseren Wunsch zeigt, daß wir ihn ehren wollen“ (LD 46, 513). Vgl. auch: „Aber im Sinne des einfachen Volkes wird nicht das ganze Universum Körper genannt, sondern nur diejenigen Teile, die, wie sie durch den Tastsinn erkennen können, ihrer Kraft Widerstand leisten, oder, wie sie durch den Gesichtssinn erkennen, den Durchblick verwehren“ (LD 34, 300 f.). 360 „Unter den Dingen, die sich im Eigentum eines Menschen befinden, schätzt er sein eigenes Leben und seine Glieder am höchsten, und zur nächsten Stufe gehört bei den meisten Menschen alles, was die Gattenliebe betrifft, und danach kommt das Vermögen und die lebensnotwendigen Güter“ (LD 30, 260).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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kann die Zurückdrängung einer sinnenfeindlichen Lehre wie dies die Religion für­ Hobbes zu sein scheint, dazu dienen, dass Appelle an diese Leidenschaften, die bei den Tieren und den meisten Menschen ohnehin am stärksten ausgeprägt sind, noch wirksamer sind.361 Auf welche Art und Weise kann die sinnenfeindliche Lehre aber zurückgedrängt werden? Hobbes verfolgt dabei offensichtlich verschiedene Strategien: Bereits im sechsten Kapitel hatte Hobbes dem Souverän empfohlen, das Wort „sinnlich“ nicht abwertend zu gebrauchen: „Einige der Vergnügen oder Lustgefühle entstehen aus der Empfindung eines gegenwärtigen Objekts, und man kann sie Sinnesfreuden nennen (da das Wort sinnlich nicht, wie dies den Sinnen feindliche Leute tun, abwertend gebraucht werden sollte, solange dies nicht gesetzlich vorgeschrieben wird). Dazu gehört alles Be- und Entladen des Körpers, sowie alles, dessen Anblick, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen Vergnügen bereitet“ (LD 6, 42).

Eine Art Begriffspolitik scheint daher eine Strategie der Zurückdrängung einer sinnenfeindlichen Lehre sein. Diese Begriffspolitik empfiehlt Hobbes dem Souverän nicht nur als geeignete Maßnahme, sondern er führt sie auch selbst durch. Der dritte und vierte Teil des Leviathan können zu einem guten Teil als Maßnahme einer solchen Begriffspolitik verstanden werden. Mit der Autorität der Bibel möchte Hobbes dort die eigentliche Bedeutung der Wörter „Körper“ und „Geist“ definieren. Solange es Menschen gibt, die noch unter dem Einfluss der sinnenfeindlichen Lehre stehen und die die Autorität der Schrift anerkennen, ist es eine effektive Strategie, ein neues Selbstbewusstsein durch Berufung auf ebendiese Autorität zu installieren. Für Menschen, die die Autorität der Bibel anerkennen und die daher alles, was in der Bibel steht, für wahr halten, wird ein Argument, das nachweist, dass sich eine bestimmte Körpervorstellung in der Bibel findet, sehr überzeugend sein. Auch wenn an dieser Stelle keine umfassende Beurteilung der Teile III und IV des Leviathan intendiert ist, so liegt die Deutung nahe, dass Hobbes auch hier verschiedene rhetorische Strategien benutzt, um ein neues Selbstverständnis zu etablieren. So weist Hobbes zu Beginn des 34. Kapitels explizit darauf hin, dass er die Autorität der Bibel benutzen wird, um Begriffe zu definieren, bzw. um Prämissen, mit denen weiter geschlussfolgert wird, einzuführen: „Da Voraussetzung alles wahren Schließens die gleichbleibende Bedeutung der Wörter ist, was in der nachstehend vertretenen Theorie weder vom Willen des Verfassers abhängt, noch, wie im gewöhnlichen Gespräch, vom allgemeinen Sprachgebrauch, sondern von der Bedeutung, die die Wörter in der heiligen Schrift haben, ist es notwendig, bevor ich fortfahre, auf Grund der Bibel jene Wörter zu definieren, die durch ihre Unbestimmtheit die Schlüsse, die ich aus ihnen ziehen werde, unklar oder anfechtbar erscheinen lassen könnten“ (LD 34, 300, Hervorhebungen E. O.). 361

Vgl. auch LD 2, 17: „Wäre diese abergläubische Furcht vor Geistern verschwunden und damit Weissagungen aus Träumen, falsche Prophezeihungen [sic!] und viele andere Dinge, die davon abhängen und mit denen schlaue und ehrgeizige Leute das einfache Volk mißbrauchen, so wären diese Menschen viel eher zum bürgerlichen Gehorsam geeignet, als sie es jetzt sind.“

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B. Die politische Logik des Körpers

Wie diese Begriffspolitik die Autorität der heiligen Schrift bzw. heiliger Menschen dazu benutzt, ein neues, körperliches Selbstverständnis zu etablieren, kann durch eine Stelle im 45. Kapitel gesehen werden, in dem Hobbes seine Lehre von der Körperlichkeit des Universums durch die Stimmen von Christus und Paulus absegnen lässt: „Mancher wird vielleicht sagen: Wenn diese Lehre nicht wahr ist – warum widersprach ihr unser Heiland nicht und lehrte das Gegenteil? Ja, warum gebrauchte er sogar bei verschiedenen Anlässen Redewendungen, die dies zu bestätigen scheinen? Darauf gebe ich zur Antwort, daß erstens Christus dort, wo er sagt: ‚Ein Geist hat nicht Fleisch und Bein‘ (Luk. 24, 39), wenngleich er zeigt, daß es Geister gibt, dennoch nicht bestreitet, daß sie Körper sind. Und wo der hl. Paulus sagt: ‚Wir werden als geistlicher Leib auferstehen‘ (I. Kor. 15, 44), bestätigt er zwar die Existenz von Geistern, aber nur soweit es körperliche Geister sind. Dies ist nicht schwer zu verstehen. Denn Luft und viele andere Dinge sind Körper, wenn auch nicht Fleisch und Bein oder ein anderer materieller Körper, der mit dem Auge erkannt werden kann“ (LD 45, 489).

Der Schluss, dass Hobbes sich strategisch geschickt der Autorität der Bibel bedient, um ein neues körperliches Selbstverständnis, welches aufgrund der Stärke der auf den Körper und das körperliche Überleben gerichtete Leidenschaften der meisten Menschen ohnehin ein naheliegendes ist, zu installieren, und damit die Voraussetzung für die Überzeugungskraft des körperbasierten kontraktualistischen Arguments zu schaffen, liegt damit nahe. Immerhin weist Hobbes in der Einleitung jedenfalls vorsorglich darauf hin, dass er „gewisse Stellen der heiligen Schrift […] zu einem anderen Zweck zitiert […] [habe, E. O.], als dies gewöhnlich von anderen getan wird“ (LD Einleitung, 3). Eine weitere Strategie der Zurückdrängung einer sinnenfeindlichen Lehre und der Etablierung eines körperlichen Selbstverständnisses ist diejenige der öffentlichen Verhöhnung. Durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher menschlicher Selbstverständnisse macht Hobbes deutlich, dass er gegen das vergeistigte Selbstverständnis der Kleriker362 ein auf dem Korporealismus basierendes menschliches Selbstverständnis363 etablieren und damit erreichen möchte, dass die Menschen „von klaren Gedanken über ihre weltlichen Begierden beherrscht werden“. In diesem Kontext wird der Strategie der Verhöhnung eine weitere hinzugefügt: ­Hobbes benutzt die Kategorie der Verrücktheit, um Positionen, für die das körperliche Überleben nicht das primäre Ziel darstellt, zu diffamieren:364 362 „Die Kleriker sind geistliche Menschen und vergeistigte Kirchenväter.“ (LD 47, 532) Das 47. Kapitel des Leviathan endet mit einer detailliert ausgeschmückten Verhöhnung des Klerus durch eine Parallelisierung von Papsttum und Gespensterreich. 363 „Die Welt (ich meine nicht nur die Erde, nach der ihre Liebhaber weltliche Menschen genannt werden, sondern das Universum, das heißt die gesamte Masse aller bestehenden Dinge) ist körperlich, das heißt ein Körper, und besitzt die Dimensionen der Größe, nämlich Länge, Breite und Tiefe“ (LD 46, 512). 364 Vgl. auch LD 8, 57: „Denn diese Leute greifen mit Geschrei jene Menschen an, von denen sie zuvor ihr ganzes Leben lang geschützt und vor Unrecht bewahrt worden waren und bringen sie um. Und ist dies bei einer Menge Wahnsinn, so ist es dies auch bei einer einzelnen Person.“

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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„Denn unter Geistern verstehen diese Leute immer Dinge, die, obwohl unkörperlich, dennoch von einem Ort zum andern bewegt werden können. so kann also diese Art von Widersinn zu Recht zu den vielen Arten von Wahnsinn gerechnet werden, und die Zeiten, in denen diese Leute von klaren Gedanken über ihre weltlichen Begierden beherrscht werden und es unterlassen, in dieser Art zu disputieren oder zu schreiben, sind nur lichte Momente“ (LD 8, 62, Hervorhebungen E. O.).

Eine weitere heidnische Lehre, die an den Universitäten unbedingt zurück­ gedrängt werden müsse, ist die von Aristoteles und „einigen anderen alten Philosophen“ gelehrte Freiheitsvorstellung. Auch hier verrät Hobbes dem Souverän den Grund dafür explizit: Was beispielsweise Aristoteles in seiner Politik gesagt hätte, sei mit der Regierungsgewalt unvereinbar.365 Die aristotelische Staatsphilosophie habe gelehrt, dass ein Volk nur in einer Demokratie frei sei366 und dass in einem wohlgeordneten Staat nicht Menschen, sondern Gesetze herrschen sollten.367 Die gefährlichen Konsequenzen dieser Lehre für den Souverän lägen auf der Hand: Dies würde Menschen zur Rebellion gegen ihre Herrscher führen.368 Insbesondere die falsche Freiheitsvorstellung dieser heidnischen Staatsphilosophen sei, so erklärt Hobbes dem Souverän an anderer Stelle, fatal und müsse deshalb unbedingt zurückgedrängt werden.369 „Aber die Menschen lassen sich von dem bestechenden Wort ‚Freiheit‘ leicht täuschen, und da ihnen die Urteilskraft zur Unterscheidung fehlt, halten sie fälschlich das für ihr ur­ eigenes Erbe und Geburtsrecht, was allein das Recht der Öffentlichkeit ist. Und wird dieser Irrtum noch durch die Autorität von Leuten, die wegen ihrer Schriften über diesen Gegenstand berühmt sind, bestärkt, so ist es kein Wunder, wenn daraus Aufruhr und Staats­ umwälzungen entstehen“ (LD 21, 167, Hervorhebungen E. O.).

365

„Um zum Schluß zu kommen: Es gibt nichts, das so absurd wäre, als daß es nicht einige der alten Philosophen behauptet hätten, wie Cicero sagt (der selbst einer von ihnen war). Und ich glaube, daß in der Naturphilosophie kaum etwas gesagt worden ist, das so absurd wäre wie das, was nunmehr aristotelische Metaphysik genannt wird, oder etwas, das mit der Regierungsgewalt unverträglicher wäre als vieles von dem, was Aristoteles in seiner Politik gesagt hat, oder etwas, das weniger Kenntnisse verriete als ein großer Teil seiner Ethik“ (LD 46, 510 f.). 366 „Aus der aristotelischen Staatsphilosophie haben sie gelernt, alle Staatsformen außer der Demokratie (die damals in Athen bestand) Tyrannis zu nennen. Sie nannten alle Könige Tyrannen, und die aristokratische Herrschaft der Dreißig, die von den Spartanern, die Athen unterworfen hatten, errichtet wurde, die dreißig Tyrannen. Ebenso hatten sie gelernt, den Zustand des Volks unter der Demokratie Freiheit zu nennen“ (LD 46, 520). 367 „Und deshalb ist ein anderer Irrtum der aristotelischen Politik, daß in einem wohlgeordneten Staat nicht Menschen, sondern Gesetze herrschen sollten“ (LD 46, 521). 368 „Und dies gehört zu den verderblichen Irrtümern, denn sie verleiten die Menschen dazu, sooft sie ihre Herrscher nicht leiden können, jenen anzuhängen, die diese Tyrannen nennen, und es für rechtmäßig zu halten, einen Krieg gegen sie anzufangen“ (LD 46, 521). 369 Hobbes zitiert Aristoteles sogar direkt, um dem Souverän die falsche Freiheitsvorstellung im Wortlaut mitzuteilen: „Und da man den Athenern lehrte, um den Wunsch nach einer Änderung der Regierungsform nicht aufkommen zu lassen, sie seien frei und alle, die unter einer Monarchie lebten, Sklaven, schrieb Aristoteles in seiner Politik (6.Buch, 2.Kap.), in einer Demokratie müsse Freiheit vorausgesetzt werden, denn allgemein werde die Ansicht vertreten, daß unter einer anderen Regierung niemand frei sein könne“ (LD 21, 167).

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B. Die politische Logik des Körpers

Es sei unbedingt notwendig, so gibt Hobbes dem Souverän unmissverständlich zu verstehen, dass der Mensch sich als Körper und seine Freiheit als eine körperliche Freiheit verstehe. Hobbes formuliert die neue, mit der souveränen Gewalt kompatible Freiheitsvorstellung im 21. Kapitel: „Und nach dieser genauen und allgemein anerkannten Bedeutung des Wortes ist ein Freier, wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstands tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen. Werden aber die Wörter frei und Freiheit auf andere Dinge als auf Körper angewandt, so werden sie mißbraucht, denn was nicht bewegt werden kann, kann auch nicht gehindert werden“ (LD 21, 163).

Auch hier werden ähnliche Strategien sichtbar, mit denen die Prämisse vom Menschen als leidenschaftsbewegtem Körperwesen durchgesetzt werden soll: Das eben angeführte Zitat enthält eine begriffspolitische Maßnahme, wie ja auch­ Hobbes’ Vorschlag über die angemessene Verwendung des Begriffs der „Sinnlichkeit“ und sein Versuch, die Begriffe Körper und Geist mit der Autorität der Bibel zu definieren, eine solche war. Auch die Verhöhnung von Menschen, die Lehren vertreten, die diesem Ziel abträglich sind, ist hier deutlich wiederzuerkennen.370 Hobbes signalisiert dem Souverän seine Zuversichtlichkeit dahingehend, dass das Volk diese seine neue Lehre von der Körperlichkeit des Menschen und die darauf basierende neue, körperliche Freiheitsvorstellung bereitwillig aufnehmen werde, weil sie mit den dominierenden Leidenschaften des Menschen übereinstimme. Sobald das weiße Papier des Volkes von dem Unsinn bereinigt wurde, mit dem es die Doktoren vollgeschrieben hätten, stünde der Annahme dieser Lehre nichts entgegen.371 Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, der Umstand, dass Hobbes dem Souverän eine Unterrichtung des Volkes empfehle, spreche gegen die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments. Wenn für­ Hobbes der Körper so zentral wäre, würde er doch eher über Gewalt als über Erziehung sprechen. Sharon Lloyd formuliert diesen möglichen Einwand so: 370 Vgl. für Hobbes’ berühmte Polemik gegen Aristoteles nochmals die Stelle aus dem 46. Kapitel: „Um zum Schluß zu kommen: Es gibt nichts, das so absurd wäre, als daß es nicht einige der alten Philosophen behauptet hätten, wie Cicero sagt (der selbst einer von ihnen war). Und ich glaube, daß in der Naturphilosophie kaum etwas gesagt worden ist, das so absurd wäre wie das, was nunmehr aristotelische Metaphysik genannt wird, oder etwas, das mit der Regierungsgewalt unverträglicher wäre als vieles von dem, was Aristoteles in seiner Politik gesagt hat, oder etwas, das weniger Kenntnisse verriete als ein großer Teil seiner Ethik“ (LD 46, 510 f.). 371 Vgl. LD 30, 257. In dieser Hinsicht teile ich die Einschätzung von Strauss, der die Aufklärung als eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren der Hobbes’schen Lehre ansieht. Vgl. Strauss 1977, 205 f.: „Die Furcht vor unsichtbaren Gewalten ist schwächer als die Furcht vor dem gewaltsamen Tod, solange die Menschen an unsichtbare Mächte glauben, d. h. solange sie unter dem Zauber der Täuschung über den wahren Charakter der Wirklichkeit stehen; sobald die Menschen aufgeklärt sind, bekommt die Furcht vor dem gewaltsamen Tod endlich die ihr gebührende Stellung.“ Anders als Strauss gehe ich allerdings davon aus, dass Hobbes die Existenz stärkerer Leidenschaften (Machtstreben) als der Todesfurcht anerkennt und insofern die moralische Aufwertung der Todesfurcht nicht das letzte Wort von ­Hobbes darstellt.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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„Traditional interpretations assume that all socially disruptive behaviors and attitudes are to be handled in the same way: Threaten to punish them. Because, on traditional interpretations, Hobbesean men are egoistic, atheistic animals that put their individual survival above all else, every problematic behavior can be eradicated by credibly threatening those who would exhibit it with death. If you make them think you’ll kill them, you can make them do anything. […] Hobbes offers an entirely different solution, in which his own writings are intended to play a part: Educate people in the truth“ (Lloyd 2009, 332).

Und tatsächlich ist es durchaus berechtigt, zu fragen, wie die Empfehlung zum Unterricht mit der Deutung zusammenstimmt, nach der das kontraktualistische Argument auf den Körper gegründet ist und primär an die Todesfurcht als stärkste Leidenschaft appelliert. Diesem berechtigten Einwand lässt sich jedoch begegnen, wenn man sich nochmals vergegenwärtigt, welche Art des Unterrichts ­Hobbes für das Volk empfiehlt: Es handelt sich hierbei um eine doktrinäre Schulung, die bis in ihre Metaphorik hinein ihre systematische Verbindung zu einer Anthropologie verrät, die den Menschen als einen leidenschaftsbewegten Körper begreift. So stellt Hobbes die Frage, auf welche Weise Meinungen, die auf schwachen Prinzipien beruhten, im Volk Wurzeln hätten schlagen können372 und beantwortet diese Frage damit, dass Menschen ihre Meinungen dadurch gewonnen hätten, dass diese ihnen durch stetiges Predigen von der Kanzel herab vermittelt worden wären: Weil das Volk sowieso nicht selbst nachdenken würde, müsste man ihm seine Pflichten eben predigen.373 Er verwendet hierfür – in völliger Übereinstimmung mit der nach dem Vorbild der mechanistisch-materialistischen Naturphilosophie konzipierten Wahrnehmungstheorie und Psychologie – die Metapher des Druckens:374 Es ist denkbar, dass falsche Lehren sich ausbreiten, wenn diese dem Volk aufgedrückt werden.375 372

„Was die Mittel und Wege zur Belehrung des Volkes betrifft, so müssen wir untersuchen, aus welche Weise so viele dem Frieden der Menschheit zuwiderlaufende Meinungen, obwohl sie auf schwachen und falschen Prinzipien beruhen, in ihm Wurzel gefaßt haben“ (LD 30, 260 f.). 373 LD 30, 261, Hervorhebungen E. O.: „Menschen, die durch Notwendigkeit oder Habsucht an ihr Gewerbe und ihre Arbeit gefesselt werden, und auf der anderen Seite Menschen, die ihren sinnlichen Vergnügungen nachgehen, weil sie reich oder träge sind (diese beiden Arten von Menschen machen den größten Teil der Menschheit aus), werden vom gründlichen Nachdenken […] abgelenkt. Deshalb erfahren sie die Begriffe ihrer Pflicht hauptsächlich von den Geistlichen auf der Kanzel und teilweise auch von ihren Nachbarn oder guten Bekannten, die die Fähigkeit besitzen, gewandt und einleuchtend zu reden […].“ 374 Die Metapher des Druckens impliziert sowohl die Passivität des bedruckten Objekts wie auch die primär physische Aktion, die bei der Volkserziehung gefragt ist: Durch Bewegung von Materie (Stempel) wird einem Objekt (weißes Papier) Materie hinzugefügt und dadurch dessen Materialbeschaffenheit verändert. 2010, 620, weist zurecht auch auf die Komponente der Uniformität bzw. Konformität hin, die die Metapher ebenfalls transportiert: „Such an education does not seek to cultivate the student’s individual capacities, for judgment or for anything else. Imprinting is not the cultivation of personality, but rather conformity to true civil doctrine, designed and systematically imposed from without by the sovereign power upon the ‚clean paper‘ of men’s minds.“ 375 „Mächtige Menschen verdauen kaum etwas, das eine Macht zur Zügelung ihrer Begierden errichtet, und Gelehrte nichts, was ihre Irrtümer aufdeckt und dadurch ihre Autorität schmälert, während der Verstand des gemeinen Volkes, wenn er nicht durch die Abhängigkeit

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B. Die politische Logik des Körpers

Ganz in Übereinstimmung mit der im zweiten Kapitel dargestellten Theorie der Entstehung von Einbildungen durch äußeren Druck ist es möglich, Einbildungen durch Druck zu erzeugen. Dabei ist darauf zu achten, dass dieser Druck entweder stärker als andere Drücke ist, oder durch die kontinuierliche Druckausübung die Konstanz von Einbildungen erzeugt wird. „Aber weil unter den vielen Stößen, die unsere Augen, Ohren und andere Organe durch äußere Körper empfangen, nur die stärkeren fühlbar sind, werden wir von der Wirkung der Sterne nicht berührt, da das Sonnenlicht stärker ist. Und wird ein Objekt von unseren Augen entfernt, so wird, da gegenwärtigere Objekte nachfolgen und auf uns einwirken, die Einbildung des vergangenen wie die Stimme des Menschen im Tageslärme verdunkelt und geschwächt, obwohl der Eindruck bleibt, den es auf uns gemacht hat. Daraus folgt, daß die Einbildung umso schwächer ist, je mehr Zeit seit dem Sehen oder Empfinden eines Objekts verflossen ist“ (LD 2, 14).

Die Orientierung an religiösen Praktiken der Unterrichtung, die sich durch ihre Häufigkeit bzw. ihre Durchdringung des Alltags auszeichnen und die Hobbes dem Souverän an zahlreichen Stellen empfiehlt, wird von ihm explizit auch damit begründet, dass nur die kontinuierliche Unterweisung dafür sorgen könnte, dass neue Meinungen dauerhaft im Volk eingewurzelt werden könnten.376 Eine zweite Metapher, die Hobbes verwendet, um die Art des Erziehungsprogramms zu kennzeichnen, ist diejenige des Besprengens. Diese Metapher enthält mehr noch als die Metapher des Druckens das Moment der steten Repetition: „Denn da die Universitäten die Quellen der politischen und moralischen Lehre sind, aus denen die Priester und die oberen Stände solches Wasser schöpfen, das sie gerade darin finden und womit sie das Volk (sowohl von der Kanzel als auch in ihren Gesprächen) zu besprengen pflegen, so sollte sicherlich große Sorgfalt darauf verwandt werden, es von dem Gift der heidnischen Politiker und von der Beschwörung durch betrügerische Geister rein zu halten“ (LD Rückblick und Schluß, 543).

Bei der Form der Erziehung handelt es sich also um eine Erziehung, die ihre systematische Nähe zu einer nach dem Vorbild einer korporealistisch-mechanis­ischen Naturphilosophie konzipierten Anthropologie verrät: Durch physischen Druck von Körpern auf andere Körper entstehen Eindrücke, die – wenn sie ständig wiederholt von Mächtigen befleckt oder mit den Ansichten ihrer Doktoren vollgekritzelt ist, einem reinen Papier gleicht, dazu geeignet, alles aufzunehmen, was ihm von der öffentlichen Gewalt aufgedruckt wird“ (LD 30, 257, Hervorhebungen E. O.). 376 „Viertens. Diese Lehren können dem Volk weder beigebracht werden, noch kann es sie nach der Belehrung behalten, und nach einer Generation erinnert es sich nicht einmal daran, wer Inhaber der souveränen Gewalt ist, wenn nicht gewisse Zeiten von der gewöhnlichen Arbeitszeit abgesetzt werden, in denen es die zu seiner Unterrichtung bestimmten Lehrer hören kann. Deshalb ist es notwendig, daß Zeiten für Versammlungen festgesetzt werden, in denen das Volk nach Gebeten und Lobpreisungen Gottes, des Souveräns aller Souveräne, Vorträge über seine Pflichten anhören kann, die jeden betreffenden, allgemeinen positiven Gesetze vorgelesen und ausgelegt erhält und über die Autorität, die sie zu Gesetzen macht, belehrt wird. Zu diesem Zweck hatten die Juden an jedem siebten Tag einen Sabbath“ (LD 30, 259).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

251

werden und stark genug sind – dazu führen, dass sich die gedrückten bzw. bedruckten Körper in eine bestimmte Richtung bewegen: Über die Erzeugung ge­eigneter Eindrücke können Meinungen erzeugt werden, die die menschlichen Körper in die gewünschte Richtung lenken können.377 Nun könnte man aber wiederum genau hier ansetzen und behaupten, die Möglichkeit, Meinungen zu formen, spreche dagegen, dass Hobbes den Menschen wesentlich als einen Körper konzipiere: Wenn es Meinungen wären, die das menschlichen Handeln lenken, würde die Metapher des Druckens möglicherweise noch nicht belegen, dass der Mensch nur ein leidenschaftsbewegter Körper sei. Im Gegenteil könnte man doch meinen, dass Hobbes den Menschen als jemanden konzipiert, der seine Meinungen durch vernünftige Argumente ändern kann. Auch diese Möglichkeit, Meinungen zu erzeugen, besteht jedoch – und das schließt die vorige Erwägung aus, – nur innerhalb den engen Grenzen, die ein leidenschaftsbewegter Körper dieser Möglichkeit setzt: Hobbes betont, dass die erste Voraussetzung für die Erziehbarkeit darin bestehe, dass die Empfänger des Erziehungsprogramms keine mächtigen Leidenschaften besitzen, die dem entgegenstehen: „Mächtige Menschen verdauen kaum etwas, das eine Macht zur Zügelung ihrer Begierden errichtet, und Gelehrte nichts, was ihre Irrtümer aufdeckt und dadurch ihre Autorität schmälert, während der Verstand des gemeinen Volkes, wenn er nicht durch die Abhängigkeit von Mächtigen befleckt oder mit den Ansichten ihrer Doktoren vollgekritzelt ist, einem reinen Papier gleicht, dazu geeignet, alles aufzunehmen, was ihm von der öffent­ lichen Gewalt aufgedruckt wird“ (LD 30, 257, Hervorhebungen E. O.).

Alles, was die Erziehung nach Hobbes also leisten kann, ist, den Einfluss schwächerer Leidenschaften zurückzudrängen um dadurch den Leidenschaften, die de facto bei den meisten Menschen am stärksten sind, den Weg frei zu machen. So besteht die Möglichkeit, dass sich die Menschen, bei denen die sinnlichen Leidenschaften ohnehin am stärksten sind und die daher über geringere Verstandesgaben verfügen, durch diverse rhetorische Strategien davon überzeugen lassen, dass die Sinnenfeindlichkeit der Religion oder der Freiheitsanspruch der alten Philosophen eine lächerliche Lehre darstellen. Hobbes rhetorische Versuche, die sinnlichen Leidenschaften zu nobilitieren und eine neue Moral zu etablieren, können in genau diesem Zusammenhang gesehen werden. Die öffentliche Lehre vom Körper und der körperlichen Freiheit schafft damit die Grundvoraussetzung dafür, dass diejenigen Menschen, die durch ihre sinnlichen Leidenschaften auf das Überleben und den sinnlichen Genuss ausgerichtet sind, zu geeigneten Adressaten des kontraktualistischen Arguments werden: Wenn keine falsche Freiheitsvorstellung oder keine sinnenfeindliche Moral auf das weiße Papier des Volkes aufgedruckt worden ist, kann ihm sehr leicht nahe­ gelegt werden, dass der einzige Weg, den gewaltsamen Tod abzuwehren und ein 377 Vgl. LD 18, 140: „Denn die Handlungen der Menschen entspringen ihren Meinungen, und eine gute Lenkung der menschlichen Handlungen, die Frieden und Eintracht unter ihnen bewirken soll, besteht in einer guten Lenkung ihrer Meinungen.“

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B. Die politische Logik des Körpers

genussvolles Leben zu schaffen, in der absoluten Unterwerfung und dem gesetzestreuen Handeln liegt.378 In Übereinstimmung mit unserer bereits herausgearbeiteten These von der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften, die zu einer Verschiedenheit der Verstandeskräfte führt, macht Hobbes deutlich, dass diese Art der Volksunterrichtung nicht für Menschen geeignet sei, die extrem stark nach Macht streben. Diese wichtige Einschränkung,379 die Hobbes an dieser Stelle vornimmt, plausibilisiert nicht nur unsere bisherige Deutung von der Möglichkeit, dass sich machtgierige Menschen an weniger machtgierigen bereichern. Vielmehr ist sie ebenfalls ein weiteres Indiz für unsere Beurteilung des kontraktualistischen Arguments als eines ad-hominem-Argumentes, welches an bereits bestehende Leidenschaften appelliert bzw. auf bereits anerkannten Meinungen aufbaut: Nur wenn Menschen bestimmte Leidenschaften haben, sind sie überhaupt für eine bestimmte Form des Unterrichts empfänglich. Ebenso wie das körperbasierte kontraktualistische Argument nur an die vielen Menschen gerichtet ist, in denen die sinnlichen Leidenschaften am stärksten ausgeprägt sind, kann auch Hobbes’ angestrebter Volksunterricht nur bei denjenigen erfolgreich sein, bei denen diese Leidenschaften stärker als alle anderen sind und die daher über geringere Verstan 378

Für diese Deutung kann unterstützend auch der letzte Absatz des 47. Kapitels des lateinischen Leviathan herangezogen werden, in dem Hobbes eine fünfzeilige Zusammenfassung des kontraktualistischen Arguments präsentiert und die Ausführlichkeit seiner Lehre damit verteidigt, dass seine Leser eben keine unbeschriebenen Tafeln seien: „Hätte ich nur auf Leser rechnen können, die gleich einer noch unbeschriebenen und reinen Tafel, und folglich von allen Vorurteilen frei wären, so würde ich mich kürzer gefaßt haben. Für solche würde folgendes Wenige hinreichend gewesen sein: Alle Menschen haben auf alles ein Recht, daher morden und reiben sie sich selbst einander auf, sobald sie kein Gesetz unter sich haben. Gesetze ohne Strafe, und Strafe ohne höchste bürgerliche Macht bleiben völlig ohne alle Wirkung. Wird diese Macht einer einzigen Person nicht zugleich mit den Waffen und aller übrigen zu ihrer Ausübung erforderlichen Mittel übertragen, so ist sie nur dem Namen nach da, und kann zur Erhaltung des Friedens und zur Beschützung der Bürger gar nichts tun; und folglich sind alle und jede Bürger verpflichtet, ihres eigenen, nicht aber des Vorteiles ihres Oberherrn wegen zur Erhaltung und Beschützung des Staates nach allen ihren Kräften beizutragen – und zwar nach dem Gutbefinden dessen, dem sie die höchste Gewalt übergeben hatten. Dies ist der kurze Inhalt des ersten und zweiten Teiles in diesem Werke. […] Weil aber meine Landsleute leider von Lehren anderer Art schon längstens eingenommen waren, so mußte ich allerdings weitläufiger werden, und in der Sprache meines Vaterlandes so gut als möglich meine Gedanken vortragen“ (LD 47, 533 f.). 379 Soweit ich sehe, wurde bisher in der Literatur zu Hobbes’ Erziehungsprogramm die Möglichkeit, dass sich dieses Erziehungsprogramm nur an bestimmte, aufgrund ihrer Leidenschaften dafür empfängliche Menschen richtet, nicht ausreichend in Erwägung gezogen. So betont zwar beispielsweise Bejan im Anschluss an Hoekstra, dass Hobbes durchaus ein an verschiedene Adressaten angepasstes Erziehungssystem empfehle, erwägt aber nicht die Möglichkeit, dass es hierbei vor allem um Unterschiede in den Leidenschaften geht: „Yet he [Hobbes, E. O.] was careful throughout his writings to distinguish between the different forms of teaching appropriate to different sections of the population. These differences extended sometimes even to the content of the lessons to be learned (Hoekstra 2006, 59)“ (Bejan 2010, 617).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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deskräfte verfügen. Dass seine Lehre nur bei denjenigen erfolgreich sein wird, die bereits durch ihre Leidenschaften darauf ausgerichtet sind, bestimmte Annahmen plausibel zu finden, macht Hobbes nicht nur im „Rückblick und Schluß“ deutlich.380 Auch an den Stellen, an denen Hobbes über die Möglichkeit der Überredung spricht und die von Lloyd und anderen Interpreten gerne als Beleg dafür herangezogen werden, dass Hobbes’ Erziehungsprogramm nicht ideologisch oder zwanghaft sei,381 zeigt Hobbes, dass die Überredung ihren Ausgangspunkt in dem finden muss, woran Menschen bereits glauben.382 Die Vernunft ist zu schwach, um die Meinungen der Menschen zu ändern.383 Einzig der Appell an die stärksten existierenden Leidenschaften durch eine machtvolle Beredsamkeit kann dazu führen, dass Irrmeinungen „ausgejätet“ werden: „Und doch: wenn keine machtvolle Beredsamkeit hinzutritt, die Aufmerksamkeit und Zustimmung bewirkt, so wird die Wirkung der Vernunft gering sein. Das sind aber entgegengesetzte Fähigkeiten, da die erstgenannte auf den Grundsätzen der Wahrheit beruht, die andere auf bereits anerkannten Meinungen, seien sie nun wahr oder falsch, und auf den Leidenschaften und Interessen der Menschen, die unterschiedlich und veränderlich sind“ (LD Rückblick und Schluß, 535, Hervorhebungen E. O.).

Obwohl Lloyd durchaus darin zugestimmt werden kann, dass Hobbes’ Erziehungsprogramm auch deswegen als liberal zu betrachten sei, weil es voraussetzt, dass es Meinungen nicht gewaltsam ändern könne und sich deshalb auch damit be 380

„Und deshalb bin ich überzeugt, daß jemand, der dies nur in der Absicht liest, sich zu informieren, dadurch auch informiert sein wird. Aber was jene betrifft, die sich durch Schriften, öffentliche Vorträge oder Handlungen von Gewicht bereits darauf festgelegt haben, gegenteilige Ansichten zu vertreten, so werden sie nicht so leicht zufrieden sein“ (LD Rückblick und Schluß, 542). 381 Vgl. Lloyd 2009, 350 und 354 f. 382 „Dies wird von unserem Heiland auch mit Fischfang verglichen, das heißt damit, Menschen zum Gehorsam zu bringen, und zwar nicht durch Zwang und Strafe, sondern durch Überzeugen. […] Ferner ist es Aufgabe der Diener Christi, die Menschen zum Glauben und Vertrauen in Christus zu führen. Glauben steht aber weder in Beziehung zu Zwang und Befehl, noch hängt er davon ab, sondern nur von der Gewißheit und Wahrscheinlichkeit vernunftgemäßer Argumente, oder von irgend etwas, woran Menschen bereits glauben“ (LD 42, 379 f., Hervorhebungen E. O.). 383 „Denn es liegt nicht in unserer Macht, Empfindung, Erinnerung, Verstand, Vernunft und Meinung zu ändern, sondern diese sind immer und notwendig so beschaffen, wie sie uns von den Dingen, die wir sehen, hören oder erwägen, eingegeben werden und werden deshalb nicht von unserem Willen bewirkt, sondern unser Wille von ihnen. Wir unterwerfen unseren Verstand und unsere Vernunft dann, wenn wir auf Widerspruch verzichten […]“ (LD 32, 286). Auch in Hobbes’ Ausführungen über Wunder wird deutlich, dass Hobbes’ vorgeschlagenes Erziehungsprogramm die durch die Leidenschaften gesteckten Grenzen ernst nimmt und  – abgesehen von dem Versuch, die handlungsmotivierende Kraft der Todesfurcht frei­ zulegen  – allein auf das äußerliche Verhalten abzielt: „Da die Gedanken frei sind, hat ein Privat­mann immer die Freiheit, die Taten, die für Wunder ausgegeben worden sind, in seinem Herzen zu glauben oder nicht zu glauben […]. Gilt es aber diesen Glauben zu bekennen, so muß sich die private Vernunft der öffentlichen unterwerfen, das heißt dem Statthalter Gottes“ (LD 37, 340).

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B. Die politische Logik des Körpers

gnüge, Menschen zu bestimmten Handlungen zu veranlassen,384 fragt Lloyd nicht in ausreichendem Maße nach der körperbasierten Wurzel dieses Liberalismus: Lloyd, die sich große Mühe gibt, Hobbes’ Erziehungsprogramm zu verteidigen und es als eines zu verstehen, welches liberal ist, weil es auf Argumenten basiert,385 zieht denn auch zu wenig in Betracht, auf welchen Prämissen dieses Argument basiert386 und wie Hobbes die Prämissen einführt, auf denen sein Argument beruht: Wenn das kontraktualistische Argument nur dann funktioniert, wenn man die Prämissen der Priorität der Selbsterhaltung (bzw. des Todes als höchsten Übels und der sinnlichen Lust als höchster Lust) akzeptiert hat, und Hobbes selbst weiß und zugibt, dass nicht alle Menschen diese Prämissen teilen, dann kann sein Erziehungsprogramm eben nicht pauschal als eine „Erziehung in evidenten Wahrheiten, die mit allgemeinen menschlichen Interessen übereinstimmen“ bezeichnet werden. Nach unserer Deutung sind nicht nur die Prämissen (Todesfurcht bzw. Selbstverständnis als primär sinnliches Wesen) Ausdruck der Körperorientierung; auch die Methode, die den Prämissen zur Geltung verhelfen will (Rhetorik)387 und deren Grenzen (Leidenschaftsstruktur der Leser bzw. Hörer) ist Ausdruck einer Anthropologie, die den Menschen als leidenschaftsbewegten Körper denkt. Das Erziehungsprogramm, das Hobbes im Leviathan entwirft, kann damit – wenn man es als liberal bezeichnen 384 Vgl. Lloyd 2009, 351: „The state’s power over teaching, then, cannot by its nature be coercive. This, combined with Hobbes’s express distinction between conformity in belief and obedience in action, implies that if our worry is that subjects are more coerced by the sovereign’s teachings than they would be by those of their parents, or parish, or any lesser association, it is simply misplaced.“ 385 Vgl. Lloyd 2009, 354 f.: „In light of all these considerations, I am inclined to believe that Hobbes’s educational system will be unobjectionable to the extent that it really is the least invasive effective method of averting a very great evil, and to believe that it is not properly criticized as objectionably ideological, or as a coercive program of mind control – at least not under its formal description as a system of education in evident truths consonant with basic human interests by means of reasoned argument exposing their true grounds“ (Lloyd 2009, 354 f., Hervorhebungen E. O.). 386 Lloyd möchte auf der einen Seite Hobbes’ Erziehungssystem nur rein formal beurteilen (2009, 338), teilt aber andererseits die von Hobbes propagierten inhaltlichen Prämissen, dass es sich bei Frieden, Sicherheit, Prosperität und Frömmigkeit um fundamentale menschliche Interessen handelt (2009, 344) und beurteilt das Erziehungssystem deshalb durchaus inhaltlich. Vgl. auch Lloyd 2009, 355: „Considering only these formal descriptions of the educational system and its background psychological and social assumptions, this system does not run afoul of liberal constraints. To observe this is not to show that Hobbes espouses a liberal educational system, because, as I initially remarked, that judgment may depend on the content of the system’s substantive assumptions and not just its formal features.“ 387 In dieser Hinsicht ganz ähnlich vermutet McClure, dass Hobbes eine rhetorische Strategie verfolge, die darauf ziele, die Prämisse der Priorität der Selbsterhaltung durch mecha­ nische Wiederholung als selbst-evident zu präsentieren: „The egoistic and quasi-scientific system Hobbes presents is itself the most important part of Hobbes’ rhetorical educative strategy. The system seems to break down when compared to reality at points and especially when it comes to soldiers and war, but, Hobbes seems to have surmised that the more readers argued about the mechanics of the system, the more obvious the premises would become. The primacy of the fear of death would not be the subject of debate, it would be an assumption“ (McClure 2014, 123).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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möchte – nur als Ausdruck eines körperbasierten Liberalismus begriffen werden, insofern es eine Erziehung ist, die den Menschen als leidenschaftsbewegtes Lebewesen anspricht, in dessen Körperlichkeit aber zugleich ihre Grenze findet: Stehen mächtige Leidenschaften der Annahme einer Lehre entgegen, ist die Vernunft machtlos. Umgekehrt können Meinungsänderungen nur dadurch hergestellt werden, dass sich die Vernunft mit Leidenschaften, die stärker sind, verbündet. Die Tatsache, dass Hobbes die Notwendigkeit der Volkserziehung diskutiert, scheint uns also kein Gegenargument gegen unsere körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments zu sein: Im Gegensatz zu einer verbreiteten Tendenz der Hobbes-Forschung, bereits die Tatsache, dass Hobbes Argumente benutzt, als ausreichendes Indiz dafür anzusehen, dass es sich dabei um eine vernunftbasierte, an die Vernunft gerichtete Lehre handelt, scheint unsere Analyse des Inhalts und der Form der von Hobbes’ vorgeschlagenen Erziehung die These, dass es sich beim kontraktualistischen Argument um ein argumentum ad ­hominem bzw. einen Leidenschaftsappell handelt, weiter zu unterstützen: Die Schlussfolgerung, dass eine absolute Unterwerfung unter den Souverän notwendig ist, kann nur dann als notwendige Schlussfolgerung erscheinen, wenn man die Prämissen, dass der Tod das höchste Übel ist und eine absolute Unterwerfung das beste Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, bereits akzeptiert hat. Eher als eine „education in truth“ scheint uns die von Hobbes vorgeschlagene Volkserziehung daher eine Propaganda388 für Körperwesen zu sein: Der Souverän solle sich an der Praxis erfolgreicher Religionsstifter orientieren, um den Gehor 388 Dass Hobbes mit seinen Zensurvorschriften einem modernen Propagandaminister alle Ehre gemacht hätte, behauptete auch Eric Voegelin, ohne jedoch auf den Inhalt (Selbstverständnis als Körperwesen) und die systematischen Grenzen (Meinungen können nur mit Hilfe vorhandener Leidenschaften geändert werden) dieser Art von Propaganda näher einzugehen: „Das Commonwealth ist nicht nur als Kosmos politischer Macht geschlossen, sondern auch geistig, denn der Souverän, sei er Monarch oder eine Versammlung, hat das Recht, zu be­urteilen, welche Meinungen und Lehren geeignet sind, die Einheit des Commonwealth zu wahren und zu fördern; er hat zu entscheiden, welche Menschen und inwiefern sie in Versammlungen sprechen dürfen, und er hat die Vorzensur über Druckwerke auszuüben. Die Begründung könnte von einem modernen Propagandaminister geschrieben sein: die Handlungen der Menschen werden durch ihre Meinungen bestimmt, und wer die Meinungen richtig lenkt, der lenkt die Handlungen zu Frieden und Eintracht; zwar müssen die Lehren wahr sein, aber ein Konflikt könne nicht entstehen, denn Lehren, die den Frieden der Gemeinschaft stören, sind nicht wahr“ (Voegelin 1993, 45). Auch Hannah Arendt will Hobbes’ Erziehungs­ programm nicht als eine „education in truth“ verstehen, sondern liest Hobbes so, als habe er – um einen praktischen Zweck zu erreichen, wissentlich Unwahrheiten verbreitet oder so etwas zumindest in Kauf genommen: „Folgt daraus nicht, dass das Gemeinwesen im Interesse der Philosophie handelt, wenn es eine Wahrheit unterdrückt, die den Frieden untergräbt? So muß der Wahrheitssucher im eigensten Interesse, im Interesse des Friedens, der für sein leibliches und s­ eelisches Wohl unerläßlich ist, sich auch dazu entschließen können, wissentlich ‚falsche Philosophie‘ zu verbreiten. […] Die Absurdität, die Suche nach der Wahrheit von Bedingungen abhängig zu machen, die nur durch die Verbreitung von Unwahrheit garantiert werden können, ist Hobbes offenbar niemals aufgefallen“ (Arendt 1972, 46, n.3).

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B. Die politische Logik des Körpers

sam seiner Untertanen zu fördern: Das Volk soll auf die Souveränität als Ersatzreligion hin umerzogen werden. Damit das funktioniert, müsse jedoch zunächst der störende Einfluss bestimmter religiöser und heidnischer Lehren beseitigt werden: Erst wenn die Menschen nicht mehr an eine Seele glauben, ihre Angst vor dem Jenseits verschwindet, und sie sich primär als leidenschaftsgetriebene Körperwesen und ihre Freiheit als eine körperliche Freiheit verstehen, werden sie dem Souverän bereitwillig Gehorsam leisten und die Leidenschaftsappelle können ihre volle Wirkung entfalten  – zumindest bei denjenigen Menschen, bei denen das starke Machtstreben der Aufnahme dieser Lehre nicht entgegen steht.389 bb) Die verborgene Logik der Macht unter der Fassade des Rechtsstaates und des Wohlfahrtsstaates Wenn durch die Beseitigung störender religiöser und heidnischer Lehren der starke, handlungsauslösende Einfluss der körperbasierten Leidenschaften voll zum Zuge kommt und nicht mehr durch die unbegründete Angst vor dem Jenseits oder ein falsches Freiheitsbild geschwächt wird, wird eine Politik, die den Menschen als leidenschaftsbewegten Körper begreift und diesen Leidenschaften zu­ arbeitet, zur Machtsicherung des Souveräns beitragen. Hobbes zieht im 30. Kapitel die Konsequenzen aus dem neuen Selbstverständnis des Menschen als leidenschaftsbewegtem Körper und zeigt dem Souverän, welche Strategien der Macht­ sicherung von einem solchen Selbstverständnis abgeleitet werden können. Während das auf den Schriften der Alten basierende Freiheitsstreben der Menschen dadurch begrenzt werden kann, dass man ihnen ein neues Selbstverständnis als Körperwesen gibt und sie daher eine Beherrschung durch andere nicht mehr als negativ empfinden,390 sollte der Souverän Hobbes zufolge peinlichst darauf 389

Unsere Deutung stimmt daher nicht mit Sreedhars Auslegung überein, wonach in Hobbes’ Erziehungsprogramm die Öffentlichkeit nicht irregeführt wird bzw. dieser keine Informationen vorenthalten werden. Dass nur diejenigen Menschen Adressaten des Erziehungsprogramms sind, bei denen keine starken Leidenschaften der Aufnahme dieser Lehre entgegenstehen und es daher durchaus natürliche Unterschiede zwischen Menschen gibt, wird dem Volk eben gerade nicht in aller Deutlichkeit mitgeteilt. Vgl. Sreedhar 2013a, 166: „It is the duty of the ruler to ensure that the people are so instructed, so there is no possible justification in Hobbes’s account for Plato’s ‚noble lie‘ or any other ideology that is predicated on misleading the public or keeping information from them. Arguably, these claims reveal Hobbes’s faith in ‚commoners,‘ his anti-elitism, and his explicit rejection of perfectionism and notions of ‚natural‘ hierarchy or political elect.“ 390 Vgl. für diesen Zusammenhang das 21. Kapitel des Leviathan: „[…] denn da die Erhaltung des Lebens der Zweck ist, weshalb jemand zum Untertan eines anderen wird, nimmt man von jedermann an, daß er dem ewigen Gehorsam verspricht, in dessen Macht es steht, ihn zu erhalten oder zu vernichten“ (LD 21, 157). Vgl. auch nochmals Hobbes’ rhetorische Strategie aus De Cive, den Bürger und den Sklaven auf eine Ebene zu stellen dadurch, dass eventuelle bürgerliche Privilegien abgewertet werden: „Ich wüßte also nicht, in welchem Punkte sich der Sklave beklagen könnte, daß ihm die Freiheit fehle; er müßte es denn für ein Elend halten, daß

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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achten, dem neuen körperlichen Freiheitsverständnis wo immer möglich Rechnung zu tragen. Der auf ungehinderte Körperbewegung und Genuss gerichteten Leidenschaft kann der Souverän durch die Einrichtung eines in bestimmter Hinsicht liberalen Staates, mit möglichst wenigen Gesetzen als Bewegungshinderung, dienen. Ähnlich wie beim Staat durch Aneignung die Gewährung körperlicher Freiheit als sinnvolles Mittel präsentiert wurde, sich die Arbeitsbereitschaft und Loyalität des Sklaven zu sichern, kann auch der Souverän diese Leidenschaft geschickt für sich nutzen. Hobbes empfiehlt dem Souverän, dem Volk möglichst viel Bewegungsfreiheit zu lassen und ihm eine Gleichbehandlung dadurch zu­ suggerieren, dass es den gleichen Gesetzen unterworfen wäre. Hobbes nennt als eine Aufgabe des Souveräns, gute Gesetze, und d. h. vor allem nur notwendige Gesetze, zu geben. Basierend auf der Prämisse, dass Menschen als bewegte Körper sich in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit so wenig wie möglich einschränken wollen, muss der Souverän, wenn er sich das Wohlwollen seiner Untertanen sichern und sich als volkstümlicher Souverän erweisen will, so wenige Gesetze wie möglich geben. Hobbes empfiehlt dem Souverän eine liberale Staatskonzeption, die den Bürgern Freiheit in allen vom Gesetz nicht geregelten Bereichen zugesteht und die die äußere Bewegungsfreiheit von Bürgern möglichst wenig einschränkt. Wenn die Menschen die körperliche Freiheit lieben, das heißt in der Auslebung ihrer sinnlichen Begierden bzw. ihrer von den Leidenschaften diktierten Körperbewegung auf kein Hindernis stoßen wollen, empfiehlt es sich, diese körperliche Freiheit weitgehend zuzugestehen: „Ein gutes Gesetz muß zum Wohl des Volkes nötig und zudem eindeutig sein. Denn Gesetze, die nur autorisierte Regeln sind, werden nicht dazu verwendet, um das Volk von allen willentlichen Handlungen fernzuhalten, sondern um es zu lenken und so in Bewegung zu halten, daß sie sich durch ihre heftigen Begierden, Voreiligkeiten und Unbesonnen­ heiten nicht selbst verletzen, so, wie Hecken nicht gepflanzt werden, um die Reisenden an­zuhalten, sondern um sie auf dem Weg zu halten. Und deshalb ist ein Gesetz, das nicht nötig ist, nicht gut, da es nicht den wahren Zweck eines Gesetzes erfüllt“ (LD 30, 264).

Aber nicht nur eine größtmögliche Bewegungsfreiheit der Untertanen liegt nach Hobbes im Machterhaltungsinteresse des Souveräns. Hobbes gibt dem Souverän weiterhin den Tipp, dass es in seinem wohlverstandenen Eigeninteresse liegen würde, eine Gleichbehandlung vorzutäuschen. Er bedient sich eines moralischen Jargons, indem er von dem natürlichen Gesetz der Billigkeit, dem die Souveräne genau wie alle anderen Menschen unterworfen wären, spricht. Zunächst hört es er gehindert ist, sich selbst zu verletzen, und daß er das Leben, das er durch den Krieg oder ein unglückliches Geschick oder gar durch seine Trägheit verwirkt hatte, samt allem zur Ernährung Nötigen und allem zum Leben und der Gesundheit Erforderlichen unter der Bedingung zurückempfangen habe, daß er sich leiten lasse. […] In jedem Staate und jeder Familie aber, wo sich Sklaven befinden, haben die freien Bürger und die Familiensöhne vor den Sklaven den Vorzug voraus, daß sie die ehrenvollern Ämter im Staat oder in der Familie innehaben und an überflüssigen Dingen mehr besitzen. Und der Unterschied zwischen einem freien Bürger und einem Sklaven liegt darin, daß der Freie nur dem Staate, der Sklave aber auch einem Mit­bürger dient“ (DCD IX, 9, 171).

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sich wirklich so an, als wollte Hobbes den Souverän ermahnen, für eine rechtliche Gleichbehandlung zu sorgen:391 „Die Sicherheit des Volkes verlangt ferner von demjenigen oder denjenigen, die die souveräne Gewalt innehaben, daß alle Schichten des Volkes gleichermaßen gerecht behandelt werden, das heißt, daß sowohl die Reichen und Mächtigen als auch die Armen und Unbekannten ihr Recht bekommen, wenn ihnen Unrecht getan wurde, so daß die Großen keine größere Aussicht auf Straflosigkeit haben, wenn sie Gewalt, Entehrung oder ein anderes Unrecht gegen die niedere Schicht verüben, als ein Angehöriger dieser Schicht, der dieselbe Tat gegen einen Angehörigen der Oberschicht verübt. Denn darin besteht die Billigkeit, der ein Souverän ebenso unterworfen ist wie einer der Geringsten aus seinem Volk, da sie eine Vorschrift des natürlichen Gesetzes ist“ (LD 30, 262).

Dass Hobbes jedoch keine moralischen Gründe hat, dem Souverän dies zu empfehlen, wird durch den sofortigen Hinweis auf die Konsequenzen einer solchen Parteinahme unmittelbar deutlich. Eine solche Parteinahme ist nicht etwa aus moralischen Gründen zu verurteilen, sondern sie könne sich zum Verderben des Staates auswirken und sei deshalb vom Souverän unbedingt zu vermeiden – oder aber heimlich und unerkannt zu vollziehen: „Die Folgen der Parteinahme für die Großen nehmen diesen Verlauf: Straflosigkeit bewirkt Übermut, Übermut Haß und Haß das Bestreben, alle unterdrückende und kränkende Größe niederzureißen, und wäre es zum Verderben des Staates“ (LD 30, 263).

Die lateinische Version des Leviathan formuliert den instrumentellen Charakter der Rechtsstaatlichkeit noch deutlicher, in dem sie darauf hinweist, dass das Volk als Ansammlung von Körpern eine Macht und Gefahr ist, die der Souverän nicht unterschätzen sollte. Gerade weil sich das Volk, wenn es sich ungerecht behandelt fühlt, zusammenrotten kann und als geballte Ansammlung von Körpern eine starke physische Macht darstellt, sollte zumindest der Schein der Gleich­behand­ lung unbedingt gewahrt werden: „Einen Bürger von schlechter Aufführung kann zwar der, welcher die Macht dazu hat, mit Recht Vorwürfe machen; aber jemandem seinen niedrigen Stand vorwerfen, ist nicht bloß ungerecht, sondern auch dem Staate höchst gefährlich. Fordern die Großen ihres Standes und ihrer Macht wegen besondere Achtung, warum sollte sie dem Volk versagt werden, welches vermöge seiner Anzahl um vieles mächtiger ist? Wie nachteilig aber einem Staate die Geringschätzung der ärmeren Bürger werden könne, sieht man aus der Empörung der Geusen in den Niederlanden“ (LD 30, 262, Hervorhebungen E. O.).

Dass sich die rechtsstaatliche Fassade dennoch gut dazu eignet, auch die machtgierigeren Menschen zufriedenzustellen und die Menschen – wenngleich die Rechts 391 Sreedhar unterstellt Hobbes in Bezug auf diese Passage einen „legal egalitarianism“ mit „broader consequences“ und erwägt die Vorteilhaftigkeit dieses Prinzips für liberale Demokratien des 21. Jahrhunderts: „In other words, equal protection for subjects is guaranteed not merely in relation to the law […], but also in relation to their treatment of one another […]. Depending on how we understand oppression, this could rule out anything from slavery to­ exploitation of immigrant workers. Applied today, this principle would also have significant implications from a gendered perspective […]“ (Sreedhar 2013a, 165 f.).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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staatlichkeit eine Gleichbehandlung suggeriert  – ungleich zu behandeln, macht Hobbes im Fortgang deutlich. Hobbes zeigt am Beispiel der Steuergesetzgebung, wie man die Reichen und Mächtigen durch eine Steuergesetzgebung bevorzugen könne, von der man dennoch behaupten könne, sie sei gleichheits­orientiert und gerecht. Weil die Leidenschaft, die bei den meisten Menschen am stärksten ist, die Todesfurcht ist – und Menschen mit einer solchen Leidenschaft sich nicht vorstellen können, dass es andere Menschen mit mächtigeren Leidenschaften gibt – funktionieren Appelle an die Leidenschaft der Todesfurcht besonders gut. Wenn alle Menschen den Tod als höchstes Übel abwehren wollen und der Souverän diese Aufgabe für alle gleichermaßen übernimmt, liegt – zumindest in der Augen derjenigen, bei denen die sinnlichen Leidenschaften dominieren – eine Gleichbehandlung vor. Hobbes verrät dem Souverän, dass er Steuern einfach als Lohn für die Verteidigungsarbeit des Souveräns definieren solle und mit diesem Argument einer höheren Besteuerung der Reichen entgegen wirken könnte – ein ideales Mittel, um zugleich die Gleichheits- und Reziprozitätsorientierung glaubhaft vor sich her zu tragen und sich der Loyalität und Unterstützung der Reichen und Mächtigen zu versichern: „Zur Gleichheit der Gerechtigkeit gehört auch die gleichmäßige Besteuerung. Ihre Gleichheit hängt nicht von der Gleichheit des Reichtums ab, sondern von der Gleichheit der Schuld, die jedermann gegen den Staat für seine Verteidigung hat. Es ist für einen Menschen nicht genug, zur Fristung seines Lebens hart zu arbeiten, sondern er muß auch, wenn nötig, für die Sicherung seines Arbeitsergebnisses kämpfen. […] Denn die Lasten, die von der souveränen Gewalt dem Volke auferlegt werden, sind nichts anderes als der Sold, der dem geschuldet wird, der das öffentliche Schwert in den Händen hält, um die Privatleute zu verteidigen, während sie ihre verschiedenen Gewerbe und Berufe ausüben“ (LD 30, 263).

Wenn nun Steuern als der Lohn für die Verteidigungsarbeit bzw. für die Aufgabe der Todesabwehr begriffen werden, erfordere es doch das Gebot der Gleichheit, dass alle Untertanen für diese Aufgabe gleich viel Geld bezahlen – so argumentiert Hobbes. „Da also der jedermann hieraus erwachsende Nutzen der Genuß des Lebens ist, das Armen wie Reichen gleichermaßen lieb ist, so ist die Schuld, die ein armer Mann gegen den Verteidiger seines Lebens hat, die gleiche wie die eines reichen Mannes für die Verteidigung seines Lebens, außer, daß die Reichen Arme beschäftigen und nicht nur für ihre eigene Person, sondern auch für viele steuerpflichtig sein können. Zieht man dies in Betracht, so liegt die Steuerpflichtigkeit eher in der gleichen Besteuerung des Verbrauchs als in der Besteuerung der Vermögen der Verbraucher“ (LD 30, 263).

Er rechtfertigt seine These von der im Namen der Gleichheit erforderliche Verbrauchsgütersteuer durch den absurden Vergleich eines sparsamen, fleißigen Reichen und eines faulen, verschwenderischen Armen: Es wäre doch nachvollziehbar ungerecht, wenn der fleißige, sparsame Reiche mehr Steuern bezahlen müsste als der faule, verschwenderische Arme, weil beide doch gleich vom Staat geschützt werden würden. Im Sinne des kontraktualistischen Argumentes, das dem Staat – entsprechend der Körperlichkeit als Gültigkeitskriterium des Vertrages – die primäre Aufgabe der Todesabwehr zuweist, ist diese Argumentation auch völlig folgerichtig:

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B. Die politische Logik des Körpers

„Denn welcher Grund könnte dafür sprechen, daß einer, der viel arbeitet und wenig verbraucht, da er die Früchte seiner Arbeit spart, mehr belastet werden sollte als einer, der wegen seines müßigen Lebenswandels wenig verdient und seine ganzen Einnahmen ausgibt? Schließlich wird der eine vom Staat nicht mehr geschützt als der andere. Werden aber die Steuern auf die Güter des menschlichen Gebrauchs gelegt, so bezahlt jedermann gleichermaßen für das, was er verzehrt, und der Staat wird auch nicht durch den verschwenderischen Luxus von Privatleuten betrogen“ (LD 30, 263).

Die machtstrategisch durchaus sinnvolle Gratifikation der Reichen und Mächtigen lässt sich im Deckmantel des Rechtsstaates effektiv verwirklichen.392 Diese Deutung erfährt zusätzliche Plausibilität durch Hobbes’ Erläuterung der Billigkeit im 15. Kapitel. Hobbes weist in diesem Zusammenhang zwar darauf hin, dass parteiische Urteile dem natürlichen Gesetz widersprächen,393 weil sie zu Krieg führen würden: „Ferner ist dies eine Vorschrift des natürlichen Gesetzes: Wenn jemand damit betraut wird, zwischen zwei Parteien zu richten, so hat er sie gleich zu behandeln. Denn ohne diese Vorschrift können die Streitigkeiten unter den Menschen nur durch Krieg entschieden werden. Wer ein parteiisches Urteil fällt, trägt deshalb seinen Teil dazu bei, die Menschen davon abzuschrecken, Richter und Schiedsrichter anzurufen, und ist folglich, im Widerspruch zu dem grundlegenden natürlichen Gesetz, die Ursache von Krieg. Die Beachtung des Gesetzes von der gleichmäßigen Verteilung dessen, was jedermann vernünftigerweise zusteht, wird Billigkeit und, wie ich oben ausführte, austeilende Gerechtigkeit genannt, und seine Verletzung Begünstigung, auf griechisch προσωποληψία“ (LD 15, 118 f.). 392 In den letzten Jahren wurden die egalitären Tendenzen von Hobbes’ Politikempfehlungen oft aufgegriffen und vorsichtig zustimmend rezipiert. So deutet etwa Sreedhar die Steuer­ gesetzgebung von Hobbes als – zumindest in gewisser Weise – egalitär. Auch wenn Hobbes’ Ziel, für gleiche Sicherheit der Untertanen zu sorgen, ziemlich naiv gewesen wäre, weil doch feststünde, dass sich die Reichen und Mächtigen immer auch größeren Schutz kaufen könnten, zeige Hobbes ein Bewusstsein für diese Ungleichheiten und versuche auch, diesen ent­ gegen zu wirken: „Hobbes’s approach to taxation is unique and (in some respects) egalitarian. […] And it is unlikely that equal protection in this sense, as the basis for Hobbesian taxation, has ever been realized in human society. The rich just are safer than the poor […]. Not only do they enjoy more protection form the police, but they also have access better defense in court. […] In any case, Hobbes shows an awareness of just these kinds of inequities, and he explicitly builds in safeguards against them“ (Sreedhar 2013a, 166 f.). Sreedhar ergänzt ihre vorsichtige Zustimmung jedoch dahingehend, dass Hobbes zwar richtige Politikempfehlungen gegeben habe, letztlich aber wohl aus den falschen Motiven. Die instrumentelle Funktion dieser Politiken in Hinblick auf die übergeordneten Ziele des Friedens und der Stabilität seien unverkennbar: „While many of these policies seem attractive, there are a number of concerns a reader might have about his account of the duties of sovereigns from the perspective of a present day liberal reader. […] Arguably, therefore, he promotes equality and social welfare for the ‚wrong‘ reasons, seeing them only as instrumentally valuable for the maintenance of peace and stability, and not at all as intrinsically valuable“ (Sreedhar 2013a, 169). 393 Finkelstein deutet Hobbes’ Erläuterungen der Billigkeit dagegen als mögliches Argument für die Zurückweisung der These, dass Hobbes eine Anthropologie interessenmaximierender Egoisten vertreten habe: „And this supplies us with yet one more reason to reject the conception of human beings as straightforward, maximizing egoists. For if equity is a law of nature, it is characteristic that men can display it in the state of nature“ (Finkelstein 2013, 176).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Er verweist hier aber auf eine frühere Stelle im gleichen Kapitel, in der er deutlich machte, dass es kein sachliches Kriterium für eine gleiche, gerechte Behandlung gebe, sondern es vor allem notwendig sei, dass die Menschen glauben würden, es würde sich um eine solche handeln. An dieser Stelle fordert er nicht, dass der Schiedsrichter fair urteilt, sondern dass der Schiedsrichter so urteilt, dass die Menschen nach wie vor das Vertrauen in dessen Fairness behalten: „Und die austeilende Gerechtigkeit ist die Gerechtigkeit eines Schiedsrichters, das heißt der Akt des Definierens, was gerecht ist. Wird ihm von den Menschen, die ihn als Schiedsrichter einsetzen, vertraut und erfüllt er hierbei das in sie gesetzte Vertrauen, so sagt man, er teile jedem das Seine zu. Und dies ist in der Tat gerechte Verteilung, die, wenn auch ungenau, austeilende Gerechtigkeit genannt werden kann, aber genauer Billigkeit genannt wird. Diese Billigkeit ist ebenfalls ein natürliches Gesetz, wie an geeigneter Stelle gezeigt werden soll“ (LD 15, 115 f., Hervorhebungen E. O.).

Unsere Deutung, nach der ein Schiedsrichter nicht dazu aufgefordert wird, unparteiisch zu richten, sondern sich den Anschein eines unparteiischen Richters zu geben und alles dafür zu tun, einen solchen Anschein aufrecht zu erhalten, erfährt zusätzliche Plausibilität durch den Kontext von Hobbes’ Erläuterung dieses natürlichen Gesetzes, in dem er auch davon gesprochen hatte, dass Übervorteilungen in Verträgen keineswegs ungerecht wären: Wenn es Menschen geben würde, die freiwillig mehr für eine Sache bezahlen würden, als diese wert sei, sei das doch nur gerecht.394 In Ermangelung eines sachlichen Kriteriums rückt der eigene Wille zu einer gerechtigkeitsverbürgenden Instanz auf: Wenn ein Mensch einem Vertrag, in dem er übervorteilt wird, zustimmt, ist dieser Vertrag – aufgrund der Zustimmung – dennoch gerecht. Ähnlich ist der Schiedsrichter nicht dann gerecht, wenn er für eine sachlich gleichmäßige Distribution sorgt, sondern dann, wenn die Menschen diesem Schiedsrichter und dessen Verteilung zustimmen,395 weil sie ihn für einen unparteiischen Richter und seine Entscheidung für eine gleichmäßige Distribution erachten. Die Anweisungen, die Hobbes dem Souverän im Zusammenhang mit dem natürlichen Gesetz der Billigkeit gibt, können in Beziehung gesetzt werden zu den religionstheoretischen Ausführungen des ersten Teils des Leviathan. Insgesamt empfiehlt Hobbes – wie nicht nur die Formulierungen im 30. Kapitel durch Bezugnahme auf den Dekalog verdeutlichen – dem Souverän also, sich zur Siche-

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„Als wäre es ungerecht, teurer zu verkaufen als einzukaufen, oder jemandem mehr zu geben, als er verdient. Der Wert aller Gegenstände eines Vertrags bemißt sich nach dem Verlangen der Vertragspartner, und deshalb ist der gerechte Wert der, den sie zu zahlen bereit sind“ (LD 15, 115). 395 Auf den fundamentalen Unterschied zu traditionellen Gerechtigkeitsverständnissen weist Olsthoorn 2013, 31, hin: „The pure procedural account of equity Hobbes advocates is fundamentally different from the scholastic/Aristotelian notion of distributive justice. Without  a criterion stipulating what a just distribution looks like, Hobbes leaves it to the sovereign to­ determine what is due to whom.“

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B. Die politische Logik des Körpers

rung seiner Macht an erfolgreichen Religionsstiftern zu orientieren.396 Hobbes gibt im zwölften Kapitel hilfreiche Hinweise für einen Menschen, dessen Macht im Glauben einer Menge an dessen Aufrichtigkeit und Menschenliebe besteht.397 In diesem Zusammenhang weist er ebenfalls darauf hin, dass es nachteilig wäre, wenn die Menschen bemerken würden, dass man eigene Zwecke verfolgt. Zumindest nach außen hin sollte man daher eine grundlegende Gleichheitsorientierung zur Schau stellen, um nicht seine Glaubwürdigkeit bzw. das Vertrauen der Menschen in die schiedsrichterliche Fairness zu untergraben: „Um den Ruf der Aufrichtigkeit kommt man dadurch, daß man solche Dinge tut oder sagt, die dafür sprechen, daß man selbst nicht an das glaubt, was man von anderen zu glauben verlangt. […] Um den Ruf der Menschenliebe kommt man dann, wenn bemerkt wird, daß man eigennützige Zwecke verfolgt, wie wenn der von anderen geforderte Glaube dazu führt oder zu führen scheint, daß man sich allein oder zum überwiegenden Teil Herrschaft, Reichtum oder sicheres Vergnügen verschafft“ (LD 12, 90 f., Hervorhebungen E. O.).

Das Vertrauen der Untertanen sollte ein Souverän nicht durch offene Übervorteilung missbrauchen, weil sich das nachteilig auf seinen Machterhalt auswirken könnte. Umgekehrt kann Beredsamkeit und Schmeichelei jedoch dazu benutzt werden, Vertrauen aufzubauen: Ein Souverän, der die Reziprozitätsorientierung zumindest als Lippenbekenntnis vor sich herträgt, hat – wenn er zugleich Macht hat oder zu haben scheint – gute Chancen, dass die Menschen diesem vertrauen und sich ihm unterwerfen: „Beredsamkeit, verbunden mit Schmeichelei, bringt die Menschen dazu, denen zu vertrauen, die diese Eigenschaften besitzen, da das erste Weisheit, das zweite Güte zu sein scheint. Du brauchst nur noch militärischen Ruhm hinzuzufügen, und die Leute werden dazu gebracht, denen, die diese Eigenschaften besitzen, anzuhängen und sich ihnen zu unterwerfen. Während die ersten beiden Eigenschaften ihnen Sicherheit gegen die Gefahr gaben, die von diesem Menschen selbst drohen, gibt ihnen die letzte Sicherheit gegen die Gefahren von außen“ (LD 11, 78).

Die Reziprozitätsorientierung muss also zumindest nach außen hin aufrechterhalten werden, wenn der Souverän sich nicht selbst schaden will. Dass sich der Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit und der Reziprozitätsorientierung als probates Mittel erweist, andere für sich arbeiten zu lassen und sich – nicht nur durch eine geeignete Steuergesetzgebung  – an deren Arbeitskraft gütlich zu halten, macht Hobbes unmittelbar im Anschluss deutlich. Er legt dort dem Souverän nahe, durch geeignete Gesetzgebung eine quasi wohlfahrtsstaatliche Politik zu betrei-

396 „Denn jede ausgebildete Religion beruht in erster Linie auf dem Glauben einer Menge an eine Person, die sie nicht nur für einen um ihre Glückseligkeit besorgten Weisen, sondern auch für einen Heiligen hält, dem Gott selbst seinen Willen auf übernatürliche Weise zu o­ ffenbaren geruht“ (LD 12, 90). 397 „Im Ruf von Macht stehen ist Macht, weil dies die Anhängerschaft von Schutzbedürftigen nach sich zieht. In dem Ruf stehen, von seinem Land geliebt zu werden, Volkstümlichkeit genannt, ist aus demselben Grunde Macht“ (LD 10, 66).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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ben. Die Logik des Machtkalküls und die legitimationstheoretische Verschränkung von Todesabwehr (bzw. Sicherung des leiblichen Genusses) und Legitimitätsglaube zwingt den Souverän auch zu einer wohlfahrtsstaatlichen Politik. Nicht nur der Tod durch äußere Feinde, sondern auch der Tod durch die Hand anderer Bürger bzw. durch fehlende Lebensmittel muss vom Souverän bekämpft werden, wenn er der Körperlichkeit als Gültigkeitskriterium des kontraktualistischen Argumentes Rechnung tragen möchte: Um sich Zustimmung zu sichern, muss der Souverän der Leidenschaft der Todesfurcht ausreichend zuarbeiten. Volkstümlich zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang auch, Armenfürsorge zu be­treiben und durch eine geschickte Arbeitsmarkt- und Handelspolitik sicherzustellen, dass die Menschen sich selbst mit den für sie notwendigen Lebensmitteln versorgen können. Auch wenn Hobbes nicht präzise definiert, worin der Schutz des Lebens besteht, legen verschiedene Textstellen dennoch nahe, dass er annimmt, dass der Souverän diese Aufgabe nicht bloß durch physische und militärische Aufrüstung erfüllt. Auch wenn die Ansammlung von physischer Macht und Waffen eine notwendige Voraussetzung der effektiven Verteidigung der Untertanen durch äußere oder gegenseitige Angriffe darstellt, kann durch diese Aufrüstung der Schutz nicht hinreichend hergestellt werden. Gerade weil das natürliche Recht auf Selbsterhaltung es den Untertanen erlaubt, immer dann, wenn ihre Selbsterhaltung gefährdet ist, die Gesetze zu verletzen und beispielsweise Eigentumsregeln zu miss­achten, muss der Souverän, um seine Untertanen effektiv schützen zu können, dafür sorgen, dass die Untertanen keinen Grund haben, sich gegenseitig anzugreifen. Im 27.  Kapitel, in dem Hobbes die Voraussetzungen, unter denen die bürgerlichen Gesetze einzuhalten sind, bespricht, und damit die naturrechtlichen Bedingungen gültiger Verträge erneut aufgreift, nennt er den Fall einer Hungersnot, in dem die bürgerlichen Gesetze rechtmäßig übertreten werden dürfen.398 Um gewalttätige Übergriffe zum Zwecke des Überlebens zu vermeiden, muss der Souverän also im Zweifelsfall durch eine Armenfürsorge die Sicherheit der übrigen Bevölkerung gewährleisten. Hobbes nennt im 30. Kapitel, in dem er über die Aufgaben der souveränen Vertretung spricht, explizit die Armenfürsorge als eine der Aufgaben des Souveräns: „Und da viele Menschen durch unvermeidbare Zufälle unfähig werden, sich selbst durch eigene Arbeit zu ernähren, sollten sie nicht der Wohltätigkeit von Privatpersonen überlassen, sondern auf Grund staatlicher Gesetzgebung wenigstens mit dem Lebensnotwendigsten versorgt werden. Denn ist es von jedermann hartherzig, wenn er sich um den Schwachen nicht kümmert, so ist es dies auch vom Souverän des Staates, wenn er sie der zufälligen und so unsicheren Wohltätigkeit überlässt“ (LD 30, 264, Hervorhebungen E. O.). 398 „Ist jemand ohne Nahrung oder andere lebensnotwendige Dinge und kann er sich nur durch eine gesetzwidrige Tat erhalten, z. B. wenn er in einer großen Hungersnot Nahrungsmittel raubt oder stiehlt, die er weder für Geld noch aus Mildtätigkeit erlangen kann, oder wenn er in Verteidigung seines Lebens das Schwert eines anderen entwendet, so ist er aus den soeben genannten Gründen völlig entschuldigt“ (LD 27, 231).

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B. Die politische Logik des Körpers

Der lateinische Leviathan stellt den Zusammenhang mit der naturrechtlichen Erlaubnis des Diebstahls explizit her und bestätigt damit unsere Deutung der Textstelle innerhalb des Zusammenhangs der körperlichen Unversehrtheit als Gültigkeitskriterium für Verträge: „Nach dem Naturrecht ist es im dringendsten Notfall erlaubt, fremdes Eigentum heimlich oder öffentlich zu nehmen; folglich müssen diese, wenn sie anders den Bürgern nicht zur Last fallen sollen, vom Staate ernährt, nicht aber der etwaigen Wohltätigkeit einzelner Bürger überlassen werden“ (LD 30, 264).

Die Tatsache, dass durch Mundraub das Eigentum oder die Person anderer Untertanen beschädigt werden können, ist eine mögliche Erklärung, weshalb sich der Souverän um die Armenfürsorge und – präventiv – um eine geschickte Arbeitsmarkt und Handelspolitik bemühen muss.399 Um sich den Anschein eines den Zweck der Selbsterhaltung erfüllenden und daher rechtmäßigen Souveräns zu geben, der die Körper seiner Untertanen gut beschützt, muss der Souverän alles­ versuchen, um äußere Gewalt abzuwehren. Eine weitere Erklärungsmöglichkeit besteht nun aber darin, dass der Souverän nicht nur den Tod durch Übergriffe wegen Mundraub, sondern auch den Hungertod abwehren muss. Wenn die Rechtmäßigkeit durch die fehlende Schutzfunktion erlischt, muss der Souverän auch dem Hungertod bzw. dem Tod durch die fehlenden Mittel, die zum Leben notwendig sind, aktiv dadurch vorbeugen, dass er wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen ergreift.400 Hobbes machte in der Erläuterung der Körperlichkeit als Gültigkeitsbedingung für Verträge deutlich, dass auch der Verzicht auf Nahrung, Luft, Arznei oder andere Dinge, die zum Leben notwendig sind, nicht Gegenstand eines rechtmäßigen Befehls sein können.401 Als Aufgabe des Souveräns, für die Sicherheit des Volkes zu sorgen, nennt Hobbes explizit auch die Gewährleistung der Möglichkeit eines angenehmen Lebens. Durch gute Gesetze sollte der Souverän im eigenen Interesse sicherstellen, dass seine Unter 399 So beispielsweise auch Frischmann 2006, 560: „Ein weiteres wichtiges Argument für diese staatliche soziale Unterstützung besteht darin, daß Armut und Unterversorgung zu sozialen Unruhen führen könnten, die den sozialen Frieden gefährden.“ 400 Diese sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlichen Tendenzen des Hobbes’schen Kontraktualismus wurden sowohl in der Hobbes-Forschung, als auch in der Forschung zum Wohlfahrtsstaat weitgehend vernachlässigt. Für einen Nachweis des Forschungsdesiderats in der Literatur zum Sozialstaat vgl. Frischmann 2006, 557: „Es gehört zu den gängigen theoriehistorischen Klischees, das Entstehen von Theorien des Sozialstaates erst im 19.  Jahrhundert anzusiedeln.“ Für die Tendenz, Hobbes’ wohlfahrtstaatliche Politikempfehlungen zu vernachlässigen, vgl. bspw. Seamans’ Hinweis auf die einseitige Hobbes-Rezeption durch MacPherson: „The usually perceptive C. B. Macpherson, for example, contends that Hobbes’s definition of the­ sovereign’s job in the Leviathan contains ‚no thought. … of a Welfare State. It is thoroughly individualist‘“ (Seaman 1990, 106). 401 „Wenn deshalb ein Souverän einem wenn auch rechtmäßig verurteilten Menschen befiehlt, sich selbst zu töten, zu verletzen oder zu verstümmeln, Angreifern keinen Widerstand zu leisten oder auf Nahrung, Luft, Arznei oder andere lebensnotwendige Dinge zu verzichten, so hat dieser Mensch doch die Freiheit, den Gehorsam zu verweigern“ (LD 21, 168).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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tanen sich mit den Dingen, die für das Überleben und das angenehme Leben notwendig sind, selbst versorgen können: „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes. […] Mit Sicherheit ist hier aber nicht die bloße Erhaltung des Lebens gemeint, sondern auch alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens, die sich jedermann durch rechtmäßige Arbeit ohne Gefahr oder Schaden für den Staat erwirbt. Damit ist nicht gemeint, daß man hierbei in der Sorge um die einzelnen weitergehen sollte, als daß man sie vor Unrecht schützt, wenn sie Klage erheben, sondern dies sollte durch eine allgemeine Vorsorge in Form von öffentlicher Unterrichtung durch Lehre und Beispiel und durch Erlaß und Durchführung guter Gesetze geschehen, nach denen die einzelnen ihre eigenen Angelegenheiten einrichten können“ (LD 30, 255, Hervorhebungen E. O.).

Nicht nur um gewalttätigen Mundraub von vornherein zu unterbinden, muss der Grund dafür – die fehlende Fähigkeit, sich mit den notwendigen Lebensmitteln zu versorgen – beseitigt werden. Vielmehr sollte der Souverän auch versuchen, seine Zustimmung dadurch zu sichern, dass er eine den sinnlichen Begierden zuarbeitende Sozial-, Arbeitsmarkt-, Technologie- und Wirtschaftspolitik betreibt.402 Eine Anhebung des allgemeinen Wohlstandsniveaus durch Technisierung und eine allgemeine Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung ist  – wenn sie der Macht des Souveräns zuarbeitet – durchaus geboten. Hobbes zieht aus der legitimationstheoretischen Verschränkung von Schutz und Gehorsam, von Körpersicherung und Legitimitätsglauben bzw. – vertragstheoretisch gesprochen – aus dem Körper als Gültigkeitsbedingung des kontraktualistischen Argumentes die Konsequenz, dass durch Arbeitsmarktpolitik und Siedlungspolitik das allgemeine Wohlstandsniveau angehoben werden müsse. Zwar müsste der Staat kein allgemeiner Sozialstaat werden – die Armenfürsorge rät Hobbes dem Souverän explizit, nur auf die harten Fälle derjenigen, die unfähig sind, sich selbst zu versorgen, zu begrenzen. Dennoch liegt es im wohlverstandenen Eigeninteresse des Souveräns, die wirtschaftliche Entwicklung voranzutreiben und die Bedingungen seiner Rechtmäßigkeit durch geschickte Arbeitsmarkt- und Siedlungspolitik zu sichern: 402

Wenn Hobbes’ wohlfahrtstaatliche Politikempfehlungen doch einmal berücksichtigt wurden, wurden diese in einen scharfen Gegensatz zum Ideengut des Kapitalismus gebracht. So betont bspw. Ryan, dass es sich bei Hobbes’ Staat um keinen laissez-faire-Staat handeln würde, sondern dieser nah an dem sei, was man heute als Wohlfahrtsstaat bezeichnen würde. Auf jeden Fall sei die Darstellung von MacPherson, die Hobbes als Vordenker der Marktwirtschaft bzw. des Kapitalismus lese, völlig unplausibel: „Hobbes was not a ‚capitalist‘ thinker, nor a theorist of commercial society, and in many ways he was hostile to the life of money-making and had a thoroughly uncapitalist preference for leisure over labor. Nonetheless, he advised the sovereign to concentrate on defining property-rights, cheapening legal transactions by such devices as establishing registered titles to land […] and encouraging prosperity by ­leaving his subjects to look after their own well-being. This was not a pure laissez-faire regime. Hobbes’s proposal was much nearer what we would call a welfare state, with provision for the sick, the elderly, the infirm, and the unemployed. […] [T]he portrait of Hobbes as the great proto-­theorist of market society in C. B.MacPherson, The Political Theory of Possessive Individualism, is wonderfully imaginative but wholly implausible“ (Ryan 1996, 235 und n.64).

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B. Die politische Logik des Körpers

„Aber bei den körperlich Kräftigen liegt der Fall anders: sie sind zur Arbeit zu zwingen. Und um die Entschuldigung, sie könnten keine Arbeit finden, unmöglich zu machen, sollten Gesetze bestehen, die alle Gewerbezweige wie Schiffahrt, Ackerbau, Fischerei und alle Arten von Manufakturen fördern, die Arbeit benötigen. Wächst die Menge armer aber kräftiger Leute immer noch, so müssen sie in unterbesiedelte Länder verpflanzt werden. Dort dürfen sie aber nicht die Menschen, die dort wohnen, ausrotten, sondern müssen sie zwingen, enger zusammenzuwohnen und nicht weite Teile des Landes zu durchstreifen, um zu sammeln, was sie finden, sondern sich jedes Fleckchens mit Geschick und Arbeit anzunehmen, damit es ihnen in der entsprechenden Jahreszeit Nahrung gibt“ (LD 30, 264).

Aber auch diese karitativ klingende, wohlfahrtsstaatliche Konsequenz der Körperorientierung muss als Resultat der Machtlogik verstanden werden. Sie ist, wenngleich der Jargon der Moral – die Rede von der Hartherzigkeit – Gegensätzliches suggeriert, in keiner Weise von einem grundsätzlichen Interesse am Wohlergehen anderer Menschen, hier: der Untertanen, getragen, sondern Ausdruck einer extremen Philosophie der Macht. Der Souverän als machtbewusster Körper vergrößert seine Macht und seinen Ruhm durch die Prosperität des politischen Körpers. Die Untertanen müssen als Arbeitssklaven das Ziel des Machterhalts und der Machtexpansion durch wirtschaftliche Entwicklung verwirklichen. Die Logik der Aufrüstung und der stetigen Verbesserung der Lebensbedingungen wird zunächst zu einer Bevölkerungszunahme führen403 und dadurch die physische Macht des Souveräns steigern. Wenn die Bevölkerungszunahme jedoch auch von allen anderen Souveränen angestrebt und es schwer sein wird, alle Lebensbedürfnisse angemessen zu befriedigen, empfiehlt Hobbes dem Souverän als letztes Mittel den Krieg, der für jedermann Sieg oder Tod bereit halte: „Und ist die ganze Welt mit Bewohnern überfüllt, so bleibt als letztes Mittel der Krieg, der für jedermann Sieg oder Tod bereit hat“ (LD 30, 264).

Im Rahmen der Argumentation von Hobbes zum Wohlfahrtsstaat, in der Hobbes dem Souverän die Benutzung von Arbeitssklaven zur Förderung des allgemeinen Wohlstandsniveaus empfiehlt, wird auch die These der gerechten, gleichmäßigen Besteuerung in ein bestimmtes Licht gerückt: Um dem verschwenderischen 403

Eine aktive Bevölkerungspolitik im Sinne einer staatlichen Fortpflanzungspolitik empfiehlt Hobbes dem Souverän in den Elements of Law: „Was die Volksmenge betrifft, so ist es die Pflicht derjenigen, welche die herrschende Gewalt haben, das Volk zu vermehren […]. Und da dies durch Verordnungen über Geschlechtsverbindungen geschieht, so sind die Herrscher durch das Naturgesetz verpflichtet, solche Verordnungen zu erlassen, als darauf ab­ zielen, das Menschengeschlecht zu vermehren“ (ELD II, 9, 3, 201). Ungleich vorsichtiger, aber der Sache nach verwandt, taucht eine Verteidigung des ehelichen Verkehrs im 46. Kapitel des Leviathan innerhalb einer Diskussion der Priesterehe auf. Auch an dieser Stelle beeilt sich Hobbes, den moralischen Makel, der körperlichen Dingen anhaftet, zu beseitigen, und darauf aufbauend den ehelichen Verkehr (nicht nur) von Priestern zu verteidigen: „Es ist auch eine sinnlose und falsche Philosophie, wenn man sagt, der eheliche Verkehr widerspreche der Keuschheit oder Enthaltsamkeit, und folglich aus ihm eine moralische Verfehlung macht, wie es die tun, die Keuschheit und Enthaltsamkeit als Grund dafür angeben, weshalb dem Klerus die Ehe verwehrt wird“ (LD 46, 519).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

267

Luxus der Arbeitssklaven vorzubeugen, wird die gleichmäßige Besteuerung der Verbrauchsgüter empfohlen. Hobbes zeigt dem Souverän also, wie dieser die Fassade des Rechtsstaates geschickt ausnützen kann, um sich der Hilfsbereitschaft und Unterstützung der Mächtigen und Reichen zu versichern und zugleich die Armen und Machtlosen für sich arbeiten zu lassen.404 Von Gleichheit und Reziprozität zu sprechen, kann sehr nützlich sein, wenn nicht bemerkt wird, dass man dies nur tut, um sich im Deckmantel der Gleichheitsorientierung an den Armen und Arglosen zu bereichern. Die wohlfahrtsstaatliche Gesetzgebung folgt dem doppelten Ziel, die Menschen mit den primär sinnlichen Leidenschaften folgebereit zu machen, während eine entsprechende Steuerpolitik und die Freiheit privatwirtschaftlicher Verträge von den Machtgierigen benutzt werden kann, um den Großteil des Volkes, der von seinen sinnlichen Begierden eingenommen ist und daher über geringere Verstandeskräfte verfügt, für sich arbeiten zu lassen. Unter dem Deckmantel des Rechtsstaates und des Wohlfahrtsstaates wirkt eine Logik der Macht, die eine Reziprozitäts- und Gleichheitsorientierung vor sich herträgt, um dem Naturrecht des Stärkeren und Listigeren zur effektiven Durchsetzung zu verhelfen. Dass diese Logik der Macht nie zugunsten von Billigkeitserwägungen aufgegeben wurde, zeigt sich nicht nur an der Empfehlung an den Souverän, seine Untertanen zu Arbeitssklaven zu machen. Wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll, wird vielmehr auch in der Außenpolitik deutlich, dass die Orientierung an den kriegerischen Tugenden von Gewalt und List nie aufgegeben wurde. cc) Die offene Logik der Macht in der Außenpolitik Die Leidenschaft der Todesfurcht bewegt die von ihren sinnlichen Leidenschaften dominierten Menschen dazu, das in der Außenpolitik deutlich sichtbare Machtstreben des Souveräns bereitwillig zu akzeptieren. Die von Hobbes angeführte Relation von Schutz und Gehorsam, von Körpersicherung und Legitimitätsglaube führt dazu, dass Souveräne ihre kriegerische Haltung405 und ihr Machtstreben mit der Unterstützung ihrer Untertanen ausleben können und dafür sogar in den Ruf der Rechtmäßigkeit kommen. Hobbes teilt dem Souverän mit, wie ein auf den Körper und die Sicherung des Körpers gegründeter Legitimitätsglaube ein sicheres Mittel darstellt, die Zustimmung des Volkes zum expansiven Macht­ streben zu bewirken. 404 In eine ähnliche Richtung weist Hobbes’ Erklärung, dass derjenige des Reichtums am würdigsten sei, der die Eigenschaften habe, die man bräuchte, um diesen am besten auszunutzen: „Und derjenige ist des Reichtums am würdigsten, der die Eigenschaften besitzt, die man am meisten braucht, um ihn gut auszunützen“ (LD 10, 74). 405 „[…] Könige und souveräne Machthaber […] richten ihre Waffen gegeneinander und lassen sich nicht aus den Augen – das heißt, sie haben ihre Festungen, Garnisonen und Geschütze an den Grenzen ihrer Reiche und ihre ständigen Spione bei ihren Nachbarn. Das ist eine kriegerische Haltung“ (LD 13, 98).

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B. Die politische Logik des Körpers

Gewalt und List, die im Naturzustand von Hobbes als Kriegstugenden gepriesen werden,406 wurden von den machtgierigen Körpern nie zugunsten einer grundlegenden Friedensorientierung aufgegeben. Die aggressive Außenpolitik ist eine notwendige Folge dieses nie aufgegebenen Machtstrebens, welche nach innen hin nicht aufgegeben, sondern nur durch eine wohlfahrtsstaatliche Orientierung und den Deckmantel des Rechts verschleiert wird. Der auf die Sicherung der Körper gestützte Legitimitätsglaube führt zu einer Legitimation der steten Vergrößerung der Macht durch aggressive, expansionistische Politik: „Und wie damals kleine Familien, so vergrößern jetzt Städte und Königreiche, die nichts anderes als größere Familien sind, aus Gründen der eigenen Sicherheit ihren Herrschaftsbereich bei jeder angeblichen Gefahr und aus Furcht vor einem angriff oder der Unterstützung, die den Angreifern zuteil werden könnte, und bemühen sich nach Kräften, ihre Nachbarn mit offener Gewalt und Hinterlist zu unterwerfen oder zu schwächen  – mit Recht, da es keine andere Sicherheitsgarantie gibt“ (LD 17, 132, Hervorhebungen E. O.).

Die stete Machtvergrößerung des Souveräns wird als notwendige Voraussetzung der Verteidigungsaufgabe angesehen und daher nicht nur als gutes Recht, sondern sogar als wichtigste Aufgabe angesehen.407 Als ersten grundlegenden Fehler bei der Errichtung von Staaten nennt Hobbes daher konsequenterweise den Verzicht auf das notwendige Maß an Macht: „Deshalb zähle ich zu den Gebrechen eines Staates an erster Stelle die Folgen einer un­ vollkommenen Errichtung, die den Krankheiten natürlicher Körper gleichen, die aus mangelhafter Zeugung entstehen. Dazu gehört, daß ein Mensch, der ein Königreich an sich bringen möchte, mit einer geringeren Macht als zum Frieden und zur Verteidigung des Staates notwendig, zufrieden ist“ (LD 29, 245).

Es ist eine Logik des Wettrüstens,408 die durch die Körperorientierung erreicht wird. Selbst wenn Hobbes an einer Stelle die unersättliche Vergrößerungssucht eines Herrschers als eine Art Krankheit bezeichnet,409 macht er an anderer Stelle klar, dass es kein natürliches Maß der Macht oder keine natürliche Grenze der 406

Vgl. Hobbes’ Lob von Gewalt und List im 13. Kapitel: „Gewalt und Betrug sind im Krieg die beiden Kardinaltugenden“ (LD 13, 98, Hervorhebungen E. O.). 407 „Die Aufgabe des Souveräns, ob Monarch oder Versammlung, ergibt sich aus dem Zweck, zu dem er mit der souveränen Gewalt betraut wurde, nämlich der Sorge für die Sicherheit des Volkes“ (LD 30, 255). 408 Der Versuch, Hobbes als geeigneten Ideengeber im Zeitalter der Nuklearmächte zu bemühen, scheint vor diesem Hintergrund unverständlich, weil nach unserer Deutung die Hobbes’sche Logik eher eine mögliche Ursache des Problems, nicht aber eine erfolgsver­ sprechende Lösung desselben darzustellen scheint. Lloyd, die in diesem Kontext ein fragwürdiges quantitatives Maß für die Wichtigkeit des Hobbes’schen Werkes ansetzt, weist darauf hin, dass Kavka Hobbes in diesem Kontext ideengebend verwenden wollte. Vgl. Lloyd 2009, xii, n 5: „One measure of Hobbes’s philosophical importance is how often his work is used to address the most pressing concerns of the time during which his interpreter is writing. For instance, during the Cold War, Gregory Kavka saw in Hobbes’s theory useful direction for­ designing a deterrence strategy that might avoid nuclear annihilation.“ 409 Vgl. LD 29, 254.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Außenpolitik gebe, sondern dass sich das zur Sicherheit Erforderliche stets aus dem Vergleich mit dem gefürchteten Feind (und möglichen Koalitionären) ergebe: „Die Menge, die zu einer verläßlichen Sicherheit ausreicht, ergibt sich nicht aus einer bestimmten Zahl, sondern aus einem Vergleich mit dem gefürchteten Feind, und sie reicht dann aus, wenn die Überzahl des Feindes nicht so offensichtlich und so ausschlaggebend ist, daß von vornherein der Ausgang des Krieges feststeht und ihn deshalb zu einem Versuch ermuntert“ (LD 17, 132).

Gerade weil die Untertanen den Souverän nur als einen rechtmäßigen anerkennen werden, wenn er in der Lage ist, sie vor auswärtigen Feinden effektiv zu beschützen, kann der Souverän seine Machtgier nicht nur ungehindert ausleben, sondern er muss dies sogar, wenn er sich die Gehorsamsbereitschaft seiner Untertanen erhalten will. Die durch die Abwehr falscher religiöser und heidnischer Lehren voll zum Zuge kommende Leidenschaft der Todesfurcht und der darauf basierende Legitimitätsglaube führt dazu, dass die Untertanen sogar die offene Anwendung von Gewalt und List zum Zwecke der Machtvergrößerung nach außen hin uneingeschränkt unterstützen. An mehreren Stellen benutzt Hobbes das Bild des politischen Körpers, der durch die Souveränität nur bewegt werden kann, wenn diese ihrer Schutzfunktion nachkommt: „Letztlich: Wenn in einem auswärtigen oder inneren Krieg die Feinde den Endsieg erringen, so daß ein weiterer Schutz der staatstreuen Untertanen nicht mehr möglich ist, da die Kräfte des Staates das Feld nicht länger beherrschen, dann ist der Staat aufgelöst und jedermann frei, sich in der Weise zu schützen, die ihm sein eigener Verstand anrät. Denn der Souverän ist die öffentliche Seele, die dem Staat Leben und Bewegung verleiht; wird sie ausgehaucht, so werden die Glieder von ihr nicht mehr gelenkt als der Leichnam eines Menschen von einer entwichenen – wenn auch unsterblichen – Seele“ (LD 29, 254).

Während der politische Körper und die Identität des Willens des Souveräns und Untertanen tatsächlich nur ein Bild ist, das dazu dient, an die schwache und selten verbreitete Leidenschaft des Edelmutes zu appellieren, wirkt die Logik des machtgierigen Körpers in diesem Bild gleichwohl fort: Der Wille des Souveräns ist nicht etwa – wie das Bild des politischen Körpers suggerieren soll – der vereinigte oder identische Wille aller Untertanen, sondern der Wille des politischen Körpers ist der Trieb des Souveräns: „In einem Staat ist dieser Maßstab aber falsch: nicht der Trieb von Privatleuten, sondern das Gesetz, das Willen und Trieb des Staates darstellt, ist der Maßstab“ (LD 46, 519). Nur dort, wo der Trieb des Souveräns – dessen Machtgier – und der Trieb der Untertanen  – Todesabwehr  – zusammen fallen, kann die Fiktion eines gemeinsamen Körpers aufrecht erhalten werden. Dass der Wille der Untertanen und des Souveräns durchaus voneinander abweichen können und sich die Gewalt und List des Souveräns auch gegen seine Untertanen richten kann, macht Hobbes nicht nur deutlich, als er von der List Solons, einen Krieg anzufangen, berichtet.410 Sondern 410 „Es gibt nur eine einzige Handlung, die zu unterlassen das Volk von Athen sich verpflichet hatte, nämlich, daß niemand bei Todesstrafe die Wiederaufnahme des Kriegs um die

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B. Die politische Logik des Körpers

auch der Ratschlag der offenen Gewaltanwendung gegen das Volk in dem Fall, in dem dieses von der Kriegsgefahr und der notwendigen Aufrüstung nicht ebenso überzeugt sein sollte wie der Souverän, spricht dafür, dass die kriegerische Haltung nach Innen hin nicht grundlegend aufgegeben wurde sondern sich die Logik der extremen Machtorientierung im Zweifelsfall auch gegen die Untertanen richtet.411 Aber nicht nur die Ausdehnung der Staatsmacht durch präventive Ver­teidi­ gungssteuern und die Ausnutzung der arglosen, verstandesschwachen Arbeitssklaven unter dem Deckmantel des Rechts- und Wohlfahrtsstaates zeigt, wie sich die Logik der Machtorientierung gegen die Untertanen wendet. Hobbes empfiehlt dem Souverän nicht nur, seine Untertanen zur Arbeit und zum engen Zusammenleben zu zwingen.412 Dass die Machtgier des Souveräns im Konfliktfall das entscheidende Kriterium darstellt, zeigt sich an Hobbes’ Ratschlag an den Souverän, seine Untertanen im Extremfall in einem Vernichtungskrieg zu opfern: „Und ist die ganze Welt von Bewohnern überfüllt, so bleibt als letztes Mittel der Krieg, der für jedermann Sieg oder Tod bereit hat“ (LD 30, 264). Die Orientierung an Frieden, Gleichheit und Reziprozität, die das kontraktualistische Argument voraussetzt und die dem Souverän empfohlen wird, ist als nützliches Lippenbekenntnis anzusehen, welches dem Souverän in seinem Streben nach Machtvergrößerung und Machterhalt hilfreich sein kann. Um das kontraktualistische Argument von Hobbes und die von diesem Argument implizierten Voraussetzungen gleicher Freiheit und gleicher Rechte angemessen zu Inseln von Salamis betreiben dürfe. Und hätte in diesem Fall nicht Solon den Anschein erweckt, daß er wahnsinnig sei und später diesen Krieg dem um ihn gescharten Volk mit den Gebärden und dem Benehmen eines Wahnsinnigen in Versen vorgeschlagen, so hätten sie einen ständig bereiten Feind sogar vor den Toren ihrer Stadt gehabt. Alle Staaten, deren Gewalt beschränkt ist, und sei es auch noch so wenig, haben notwendig Mängel und sind zu diesen Listen gezwungen“ (LD 29, 246). Die Stelle kann als Beleg für unsere These dienen, dass der Souverän – in dem Fall, indem der Wille des Volkes und der Wille des Souveräns nicht übereinstimmen – mindestens List anwenden wird. Dass der Souverän auch Gewalt anwenden wird, teilt Hobbes offen mit, wenn er die Möglichkeit eines Vernichtungskrieges als Mittel für den Souverän, seine Gewalt wieder herzustellen, anspricht. 411 Hobbes empfiehlt dem Souverän deshalb von vornherein, seine Macht auszudehnen, um nicht in die für seinen Machterhalt möglicherweise nachteilige Lage zu kommen, seine Unter­ tanen gewaltsam enteignen zu müssen: „Bemerkt die souveräne Gewalt, die die Notwendigkeit und die Gefahren für den Staat vorhersieht, daß der Zufluß von Geld in die öffentliche Kassen durch die Hartnäckigkeit des Volkes verstopft ist, so zieht sie sich solange wie möglich zusammen  – statt sich auszudehnen, um diesen Gefahren in ihren Anfängen zu wehren und um ihnen vorzubeugen –, und wenn es nicht mehr länger geht, so streitet sie mit dem Volk mit Hilfe juristischer Winkelzüge um kleine Summen. Reichen diese nicht aus, so ist sie zuletzt gezwungen, den Weg zur sofortigen Versorgung mit Gewalt zu öffnen, oder sie geht zugrunde. Kommt der Staat öfters in diese extreme Lage, so zwingt er das Volk letztlich zu der ihm angemessenen Mäßigung, oder aber der Staat muß zugrunde gehen“ (LD 29, 252 f.). 412 „Aber bei den körperlich Kräftigen liegt der Fall anders: sie sind zur Arbeit zu zwingen. […] Dort dürfen sie aber nicht die Menschen, die sie antreffen, ausrotten, sondern sie müssen sie zwingen, enger zusammenzuwohnen und […] sich jedes Fleckchens mit Geschick und Arbeit anzunehmen […]“ (LD 30, 264).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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beurteilen, ist die Beschäftigung mit der Motivation für die Anwendung dieses Arguments notwendig. Motiviert von einer Logik der Macht und Gewalt, kann die Fiktion eines Vertrages die Gewalt nicht eindämmen, sondern dient nur dazu, diese zu verdecken. Der körperbasierte Liberalismus von Hobbes gründet auf der anthropologischen Prämisse eines leidenschaftsbewegten Körperwesens. Während diese Prämisse im Rahmen der angestrebten Volkserziehung offen kommuniziert und geradezu propagiert wird, wird die Prämisse der natürlichen Ungleichheit der Menschen hinsichtlich ihrer Leidenschaften und Verstandeskräfte weniger offen ausgesprochen. Die Tatsache, dass es Menschen gibt, deren Machtwunsch so stark ist, dass diese Tod und Verletzungen nicht fürchten, und die sich deshalb durch das auf der Todesfurcht und den sinnlichen Genüssen basierende kontraktualistische Argument nicht überzeugen lassen werden, wird von Hobbes zwar am Rande erwähnt. Durch Äußerungen, die die natürliche Gleichheit der Menschen behaupten, geht diese Information aber unter: Die auf der Basis natürlicher Gleichheit erhobenen Reziprozitätsgebote verdunkeln den Blick dafür, dass Hobbes die Menschen hinsichtlich ihres Machtstrebens und ihrer darauf basierenden Verstandeskraft durchaus für ungleich hielt. Für den Souverän als machtgierigen Menschen wäre es – das gibt Hobbes diesem deutlich zu verstehen – zweckmäßig, eine am Körper orientierte Politik zu betreiben: Nicht nur die Empfehlung, der körperlichen Bewegungsfreiheit möglichst geringe Grenzen zu setzen, sondern auch die Empfehlung, eine Gleich­behandlung zu suggerieren und eine auf die körperlichen Bedürfnisse ausgerichtete wohlfahrtsstaatliche Politik zu betreiben, trägt dieser grundlegenden Orientierung Rechnung. Der Körper und das sinnliche Begehren rückt in die Stellung einer fundamentalen politischen Norm auf, an dem die Politik ausgerichtet wird: Die wohlfahrtsstaatlichen und die außenpolitischen Empfehlungen von Hobbes sind keine zufällige Begleiterscheinung des Hobbes’schen Liberalismus, sondern die logische Konsequenz einer am Körper und den sinnlichen Leidenschaften orientierten Politik: Aus den auf den Körper ausgerichteten Prämissen des kontraktualistischen Arguments – der Vermeidung des Todes und der Sicherung des angenehmen Lebens – ergibt sich die Aufgabenstellung für den Souverän: Menschen, die ihre Ziele primär von den sinnlichen Leidenschaften gesetzt bekommen, werden einem Souverän nur dann ihre Zustimmung nicht entziehen, wenn dieser eine körperbasierte Politik betreibt. Wenngleich das Naturrecht des Stärkeren und Listigen gilt, zeigt Hobbes dem Souverän also auf, wie man von diesem Naturrecht effektiv Gebrauch machen kann: Aus den Prämissen, dass der Mensch zwar freiheitsliebend, aber meist doch stärker an der Sicherung seines körperlichen Wohlergehens interessiert sind, ergibt sich die Aufgabenstellung, eine liberale Politik zu konzipieren, die die Last der Herrschaft durch wenige Gesetze möglichst wenig drückend macht, die den Untertanen durch eine auf den Körper ausgerichtete Politik jedoch die Vorteile einer solchen Art von Herrschaft deutlich vor Augen führt. Weshalb aber sollte Hobbes das tun? Welchen Grund könnte Hobbes

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B. Die politische Logik des Körpers

gehabt haben, potentielle Souveräne beraten zu wollen? Wenn Hobbes über tiefere Einsichten in die menschliche Leidenschaftsstruktur verfügt als potentielle Souveräne, weshalb sollte er dieses Wissen dann bereitwillig mit Souveränen teilen? Wir werden uns im nächsten Kapitel mit diesen Fragen beschäftigen und dort die Hypothese des Beraterhandbuchs nochmals aufgreifen und diskutieren. d) Das Interesse des Beraters: Die Ergänzung der intentionalistischen Hermeneutik um den pragmatischen und kontradiktorischen Aspekt Im dritten Teil dieser Arbeit [B. III.] wurde der Interpretation die Hypothese zu Grunde gelegt, dass es sich beim Leviathan um eine Ratgeberschrift für den Souverän handelt. Entgegen bestehender Tendenzen der Hobbes-Forschung, Hobbes’ explizite Mitteilungen über seine Intention zu ignorieren,413 wurden in dieser Arbeit Hobbes’ eigene Erklärungen über seine Intention Ernst genommen: So schrieb Hobbes in der Einleitung davon, dass er im Leviathan beabsichtige, ein Wissen anzubieten, welches für denjenigen, der eine ganze Nation zu regieren habe, notwendig sei, so formulierte er im 25. Kapitel Hinweise für die geschickte machtstrategische Kommunikation mit Menschenmengen desjenigen, der rechtmäßig befehlen dürfe, legte im 30. Kapitel konkrete rechtstaatliche, sozialstaatliche und erziehungspolitische Maßnahmen für potentielle Souveräne vor und formulierte in Kapitel 31 explizit die Hoffnung, dass seine Schrift in die Hände eines Souveräns fallen möge, der diese beherzigen und verbreiten solle. Diese praktische Zielsetzung des Leviathan wurde, zusammen mit Hobbes’ Hinweisen, dass nicht alle Schriftstücke auf die Wahrheit zielen bzw. sich einige Textgattungen unwahrer Elemente bedienen können, um einen praktischen Zweck zu erreichen, als mögliche Erklärung dafür herangezogen, die spezifische Schwäche des kontraktualistischen Arguments – dessen biopolitische Aporie – zu erklären. Wenn es sich beim Leviathan um ein Werk handelt, aus dem potentielle Souveräne die von Hobbes herausgefundenen Techniken des Machterhalts und der dauerhaften Stabilisierung von Macht lernen können und das zugleich durch wirksame Gehorsamsappelle an die Untertanen die Macht des Souveräns sichert, ist die interpretatorische Vermutung, der Leviathan müsste als philosophisches Buch auf die Wahrheit zielen bzw. nur gültige Argumente enthalten, möglicherweise eine falsche hermeneutische Voraussetzung. Ein Schriftstück, welches in erster Linie eine praktische 413 Vgl. nochmals Stiening 2005, 56: „Zur Erörterung dieser Frage [nach der Relation von Anthropologie und Politik, E. O.] wird es sich als ratsam erweisen, zwischen der subjektiven Ab- bzw. Ansicht des Thomas Hobbes über das Verhältnis jener Systemteile und den Gegenständen der ihnen entsprechenden Wissenschaften einerseits sowie dem in seinem Text aus­ geführten objektiven Gehalt andererseits zu unterscheiden. Die expliziten Aussagen Hobbes’ zu diesem Sachverhalt verunmöglichen nämlich jenen einfachen Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik, nach dem ‚gilt, daß das Selbstverständnis des Autors den wichtigsten Zugang zu seinem Werk eröffnet‘.“

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Zielsetzung verfolgt, sollte möglicherweise nicht an theoretischen bzw. logischen Kriterien wie Konsistenz o.ä. gemessen werden.414 Dennoch bleibt ein gewisses Unbehagen auch an dieser Deutung bestehen. Es scheint auch Dinge zu geben, die gegen unsere interpretatorische Hypothese vom Beraterhandbuch sprechen: Hobbes warnt an zahlreichen Stellen des Leviathan explizit davor, Wissen aus Büchern entnehmen zu wollen.415 Eine solche Skepsis gegenüber dem Buch als adäquatem Erkenntnismittel scheint die These, Hobbes habe ein Beratungshandbuch veröffentlichen wollen, zumindest vor das Problem zu stellen, dass Hobbes ein Mittel angefertigt hat, dem er selbst den möglichen Mittelcharakter zumindest teilweise abgesprochen hat. Außerdem weiß Hobbes um das in der politischen Ideengeschichte vieldiskutierte Problem, geeignete Berater auszuwählen und als solche zu erkennen: Wer die fachliche bzw. wissenschaftliche Expertise eines Ratgebers beurteilen wollte, müsste selbst zumindest ein gutes Stück in die entsprechende Kunst oder Wissenschaft vorgedrungen sein.416 Hobbes, der selbst an einigen Stellen auf die wissen 414

Vgl. Hoekstra 2006, 59: „Propositions that contradict one another when interpreted truth claims need not contradict one another if understood properly as ‚the actions of those who pay homage.‘ Similarly, if Hobbes sees his words as actions intended to bring about peace, then we should interpret them in terms of that goal.“ 415 Vgl. LD 4, 28 sowie LD 5, 38: „Daher handeln diejenigen, welche sich auf Bücher verlassen, wie Leute, die viele kleine Summen zu einer größeren zusammenzählen, ohne darauf zu achten, ob die kleinen Summen richtig zusammengezählt wurden oder nicht. […] Hieraus entstehen alle falschen und sinnlosen Lehrsätze, die solche Menschen, die ihre Kenntnisse der Autorität von Büchern und nicht eigenem Nachdenken entnehmen, ebensosehr unter die Unwissenden sinken lassen, wie diejenigen darüberstehen, die mit der wahren Wissenschaft vertraut sind.“ „Aber wer nur der Autorität von Büchern vertraut und den Blinden blindlings folgt, gleicht dem, der im Vertrauen auf die falschen Regeln eines Fechtmeisters sich in seinem Dünkel an einen Feind heranwagt, der ihn dann entweder tötet oder entehrt. […] Aber es ist in allen Handlungen, bei denen man nicht nach einer unfehlbaren Wissenschaft vorgehen kann, ein Zeichen von Narrheit, die man allgemein verächtlich Buchstabengelehrtheit nennt, wenn man sein eigenes natürliches Urteil aufgibt und sich von den allgemeinen Sätzen anleiten lässt, die man in Büchern gelesen hat und die vielen Ausnahmen unterliegen.“ 416 Hobbes schwankt in seiner Erörterung stillschweigend zwischen der Voraussetzung, es handele sich bei der Politik um eine auf Erfahrung basierende Kunst und zwischen der Voraussetzung, es handele sich dabei um eine auf Methode basierende Wissenschaft. Gleichwohl behält die Grundannahme, wer eine Kunst beurteilen wolle, müsse in sie vorgedrungen sein, auch für die Wissenschaft ihre Gültigkeit: „Aber zu erfahren, wer die größten Kenntnisse in den öffentlichen Angelegenheiten hat, ist noch schwieriger, und diejenigen, die solche Leute kennen, benötigen sie größtenteils am wenigsten. Denn wissen, wer die Regeln einer Kunst beherrscht, heißt bei fast jeder Kunst, einen guten Teil davon zu kennen, da nur der die Richtigkeit der Regeln eines anderen sicher beurteilen kann, der zuvor gelernt hat, sie zu verstehen. Aber die besten Anzeichen dafür, daß jemand eine große Kunst beherrscht, sind lange Übung und ständig gute Ergebnisse. Guter Rat kommt weder durch Los noch durch Erbfolge zustande, und deshalb besteht kein Grund zu der Annahme, Reiche oder Adlige könnten in staatlichen Angelegenheiten einen guten Rat erteilen, sowenig wie ein Grund zur Annahme besteht, sie könnten dies beim Entwurf einer Festung – es sei denn, wir sind der Ansicht, das Studium der Politik bedürfe nicht so wie das Studium der Geometrie einer Methode, sondern es genüge, Zuschauer zu sein. Dies ist nicht der Fall. Denn die Politik ist die schwierigere Wissenschaft von beiden“ (LD 30, 267 f.).

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B. Die politische Logik des Körpers

schaftliche Grundlage seiner „Vernunftprinzipien“ pocht,417 macht deutlich, dass man Menschen, die von Wissenschaft keine Ahnung haben, nahezu alles über die Wissenschaft erzählen könne.418 Dass Souveräne keine Ahnung von Wissenschaft im Allgemeinen bzw. zumindest jedoch von Geometrie im Besonderen haben, setzt er voraus und gründet genau auf diese Tatsache den möglichen praktischen Erfolg419 seines Buches.420 417 Vgl. LD 30, 256: „Die Kunst, gut zu bauen, wurde aus Vernunftprinzipien entwickelt […]. […] Prinzipien dieser Art habe ich in dieser Abhandlung dargelegt.“ Vgl. auch LD 20, 162: „Die Kunst, Staaten zu schaffen und zu erhalten, besteht wie die Arithmetik und die Geometrie aus sicheren Regeln und nicht wie Tennisspielen aus lauter Übung. Bisher besaßen weder arme Leute, denen die Muße dafür fehlt, noch Reiche, die diese Muße gehabt hätten, die Neugier oder die Methode, um diese Regeln ausfindig zu machen.“ 418 Vgl. LD 5, 37 „Denn von Wissenschaft oder sicheren Regeln für ihr Handeln sind sie soweit entfernt, daß sie gar nicht wissen, was dies ist. Geometrie hielten sie für Hexerei, und in den anderen Wissenschaften verhalten sich diejenigen, welche nicht in die Anfangsgründe eingeweiht wurden und einige Fortschritte gemacht haben, wie Kinder, die keine Ahnung von Zeugung haben und denen von den Frauen eingeredet wird, ihre Brüder und Schwestern seien nicht geboren, sondern im Garten gefunden worden.“ Hobbes definiert Wissenschaft an zahlreichen Stellen als Kenntnis von oder Suche nach Ursachen, macht zugleich jedoch deutlich, dass die meisten Menschen nicht einmal einen Begriff von Verursachung haben und dass man diesen Menschen nahezu alles über Wissenschaft respektive verschiedene Ursachen erzählen könnte: Vgl. LD 11, 80: „Unkenntnis natürlicher Ursachen macht einen Menschen leichtgläubig, so daß er häufig Unmöglichkeiten glaubt. Denn diese Menschen wissen nichts, was dagegen spricht, sondern nur, daß es wahr sein könnte, da sie unfähig sind, die Unmöglichkeit zu entdecken.“ Vgl. LD 12, 84: „Sodann haben die Menschen, die den Begriff Verursachen nicht kennen – das heißt beinahe alle – keinen Anhaltspunkt, nach dem sie erraten können, auf welche Weise diese unsichtbar handelnden Wesen ihre Wirkungen hervorbrachten […].“ Vgl. auch Hobbes’ Hinweise in De Corpore auf eine besondere „Kunst der Geometer“, die „natürliche Geschicklichkeit“ und „Sachkenntnis“ erfordert und daher „an dieser Stelle [nicht] erörtert werden [kann]“ (DCorD VI, 19, 97), sowie sein Eingeständnis in der Widmung von De Corpore, einiges nur für geometrisch Versierte geschrieben zu haben: „Sollte Ihnen manches Argument zu unvollständig vorkommen, als daß es alle befriedigen könnte, so liegt das daran, daß ich, wie ich frei gestehe, nicht alles für alle sondern einiges nur für geometrisch Versierte geschrieben habe“ (DCorD Widmung, 7). 419 „Wenn ich aber wiederum bedenke, daß die Wissenschaft von der natürlichen Gerechtigkeit die einzige Wissenschaft ist, die für Souveräne und ihre obersten Diener notwendig ist, und daß im Gegensatz zu Plato ihre einzige Belastung mit den mathematischen Wissenschaften darin besteht, daß die Menschen durch gute Gesetze zu deren Studium angeregt werden sollen […] dann schöpfe ich wieder einige Hoffnung, es möge früher oder später meine vorliegende Schrift in die Hände eines Souveräns fallen, der […] diese spekulative Wahrheit in praktischen Nutzen verwandelt.“ (LD 31, 281) Dass Souveräne nach Hobbes keine Ahnung von Geometrie haben, könnte ein Grund dafür sein, weshalb Hobbes seine besondere Expertise als Berater explizit als eine nach dem Vorbild der Geometrie konzipierte, wissenschaftliche Politikberatung beschreibt: „Guter Rat kommt weder durch Los noch durch Erbfolge zustande, und deshalb besteht kein Grund zu der Annahme, Reiche oder Adlige könnten in staatlichen Angelegenheiten einen guten Rat erteilen, sowenig wie ein Grund zur Annahme besteht, sie könnten dies beim Entwurf einer Festung – es sei denn, wir sind der Ansicht, das Studium der Politik bedürfe nicht so wie das Studium der Geometrie einer Methode, sondern es genüge, Zuschauer zu sein. Dies ist nicht der Fall. Denn die Politik ist die schwierigere Wissenschaft von beiden.“ (LD 30, 268) 420 Während Hobbes an zahlreichen Stellen davor warnt, sich auf die Autorität von Büchern bzw. den Rat eines anderen Menschen zu verlassen (vgl. oben), formuliert er an anderen Stellen

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Die These, dass es sich beim Leviathan um ein Handbuch für potentielle Souveräne handelt, scheint also dadurch vor ein Problem gestellt zu werden, dass Hobbes erkenntnistheoretische Probleme und Voraussetzungen, die in der ideengeschichtlichen Tradition im Zusammenhang mit der Leistungsfähigkeit von Schriften als Wissensübermittler im Allgemeinen und der Auswahl geeigneter Berater von Fürsten im Besonderen gesehen wurden, kennt und auch selbst als solche benennt: Erstens kann man Wissen möglicherweise nicht aus Büchern entnehmen, zweitens kann man nur wissen, wer ein guter Berater bzw. welches Buch nützlich für die Regierungstechnik wäre, wenn man bereits selbst tiefe Einblicke in diese Kunst bzw. Wissenschaft erworben hätte. Hobbes benennt dieses Problem der fachlichen Expertise explizit und gibt in der Diskussion des Problems, worauf sich denn sein Expertenstatus als Universitätsreformer gründe, einen hermeneutischen Hinweis, der für unseren Versuch der intentionalistischen Hobbes-Interpretation entscheidend sein könnte: Er wirft im 30. Kapitel, in dem er dem Souverän eine Universitätsreform als notwendige Grundlage der Volkserziehung und damit der Machtsicherung empfiehlt, die beiden Fragen auf, an welchem Maßstab man den qualitativen Zustand der Universitäten messen solle und weshalb ausgerechnet er ein geeigneter Universitätsreformer421 wäre: „Deshalb ist es offenkundig, daß die Unterrichtung des Volks gänzlich von der richtigen Belehrung der Jugend an den Universitäten abhängt. Sind aber nicht, mag mancher sagen, die englischen Universitäten schon gelehrt genug, um dies zu leisten? Oder willst ausgerechnet du die Universitäten belehren? Schwierige Fragen“ (LD 30, 261).

In diesem Kontext gibt Hobbes nun einen ersten Hinweis darauf, dass der Interpret einer Schrift nicht nur auf den expliziten Wortlaut, sondern auch auf das – durch Handlungen erkennbare – Ziel des Verfassers achten sollte: „Aber was die letzte Frage betrifft, so schickt es sich nicht, noch ist es nötig, daß ich ja oder nein sage, da jeder, der mein Tun sieht, leicht bemerken kann, was ich denke“ (LD 30, 262, Hervorhebungen E. O.).422

geradezu die Aufforderung, sich beraten zu lassen: „Das Fehlen von Wissenschaft, das heißt die Unkenntnis von Ursachen, macht dazu geneigt, oder besser, zwingt dazu, sich auf den Rat und die Autorität anderer zu verlassen. Denn jeder, für den die Wahrheit wichtig ist, muß sich, wenn er sich nicht auf seine eigene Meinung verläßt, auf die eines anderen stützen, den er für klüger als sich selbst hält und bei dem kein Grund ersichtlich ist, weshalb dieser ihn täuschen sollte“ (LD 11, 78). 421 Dass Hobbes mit dem Leviathan ein solches universitätsreformierendes, wissenschaftspolitisches Anliegen verfolgt, behauptet er zumindest am Ende des ersten Kapitels explizit: „Ich sage dies nicht, um den Nutzen der Universitäten zu bestreiten. Da ich aber nachher über ihre Aufgabe in einem Staate sprechen werde, muß ich bei allen Gelegenheiten zeigen, was an ihnen zu verbessern ist. Hierzu gehört auch, daß ihre Sprache häufig unverständlich ist“ (LD 1, 12). 422 Auf die Zentralität dieser Stelle macht Hoekstra 2006, 45 aufmerksam: „Thus, Hobbes himself says that there are times when what he thinks will have to be inferred from what he aims to do, rather than from a direct interpretation of what he says.“

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B. Die politische Logik des Körpers

Hobbes, der durch das, was er tut – erziehungspolitische Empfehlungen aussprechen – keinen Zweifel daran lässt, dass er sich für einen geeigneten Reformer hält, teilt an dieser Stelle also explizit mit, dass er über seine Intention nicht immer offen spreche, diese aber durch eine Analyse seines Tuns herausgefunden werden könne. Er hält also grundsätzlich am Prinzip einer intentionalistischen Hermeneutik fest, bestreitet aber, dass der Wortlaut immer den besten Schlüssel zur Ermittlung der tatsächlichen Intention eines Verfassers darstellt bzw. sagt über sich selbst, dass seine Zielsetzung durch Beobachtung seiner Handlungen rekonstruiert werden müsse. Auch an einer anderen Stelle im Leviathan wiederholt Hobbes diesen Zusammenhang, d. h. er hält am Grundprinzip einer intentionalistischen Hermeneutik fest, bestreitet aber, dass der Wortlaut einer Schrift den besten Weg zur Ermittlung des Zwecks des Verfassers darstellen würde. An dieser Stelle formuliert Hobbes sogar eine Hierarchiethese, die den Zweck einer Schrift für deren Verständnis als entscheidender als deren Wortlaut ansieht.423 Wenn Hobbes also am Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik einerseits festhält, andererseits aber den Leser selbst darauf aufmerksam macht, dass er seine Intention nicht immer explizit mitteile, sondern diese über eine Analyse seines Tuns gefunden werden müsse, dann lässt sich die Annahme, dass Hobbes’ explizite Erklärung, den Souverän beraten zu wollen, die ganze Wahrheit darstellt, mit guten Gründen bezweifeln. Hobbes empfiehlt dem Leser also, weniger darauf zu achten, was er über seine Intention im Wortlaut mitteile, sondern eher darauf zu achten, was er täte und darüber seine Intention zu rekonstruieren. Die Skepsis an unserer interpretatorischen Hypothese des Beratungshand­buches wächst noch mehr, wenn man das Buch an Hobbes’ eigenen Unterscheidungen von „Rat“ und „Ermahnung und Warnung“ misst und sich ansieht, was ­Hobbes in seiner vermeintlichen Beratungsschrift tatsächlich tut: Die Ratschläge von Hobbes an den Souverän entsprechen insgesamt eher den – gegebenenfalls unwahren – 423 Wenngleich das folgende hermeneutische Prinzip von Hobbes im Kontext der Verteidigung seiner Bibelexegese aufgestellt wird, formuliert Hobbes dieses Prinzip doch so übergreifend – jede Schrift müsste so ausgelegt werden –, dass die Vermutung naheliegt, das Prinzip müsste bzw. dürfte auch auf seine eigene Schrift angewendet werden: „Denn nicht die bloßen Worte, sondern das Ziel des Verfassers wirft das wahre Licht, in dem jede Schrift auszulegen ist, und jene, die sich auf einzelne Stellen versteifen, ohne den Hauptzweck in Betracht zu ziehen, können aus ihnen nichts klar ableiten, sondern werfen Schriftatome wie Staub vor die Augen der Menschen und machen dadurch eher alles dunkler als es ist – ein üblicher Kunstgriff derer, die nicht die Wahrheit sondern ihren eigenen Vorteil suchen.“ (LD 43, 459) Auch Hoekstra weist darauf hin, dass Hobbes seine Schrift auffallend häufig mit der Bibel parallelisiert und vermutet, dass diese Parallelisierungen als hermeneutische Hinweise zu verstehen sind. Vgl. Hoekstra 2006, 32, n31: „In this [im 46. Kapitel des Leviathan findet sich eine ähnliche Stelle, auf die sich Hoekstra hier bezieht, E. O.] striking statement of the scope of Leviathan, Hobbes sets up (and not for the first or the last time) a parallel between his own work and scripture, which he also understands as having been written to prepare people’s minds to become obedient subjects. Those who assume that everything in scripture must be true mis­ interpret it by not understanding its purpose […].“

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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Ermahnungen und Warnungen: Es sind primär Leidenschaftsappelle an einen Menschen, für den die Macht und der Machterhalt das primäre Ziel darstellen. Hobbes packt den Souverän bei seiner Furcht vor dem Machtverlust und verzichtet auch beim Souverän nicht auf „metaphorische[n] Redewendungen, die zur Erregung der Leidenschaften führen“, wie man es bei Ratschlägen tun müsste (LD 25, 199).424 Aber nicht nur die Tatsache, dass Hobbes’ Ratschläge an den Souverän vielfach eher dem entsprechen, was er als  – ggf. unwahren Leidenschaftsappell425 der Ermahnung und Warnung charakterisiert hat – könnte die interpretatorische Hypo­these, dass es sich beim Leviathan primär oder ausschließlich um ein Beratungshandbuch handelt, fragwürdig erscheinen lassen. Auch Hobbes’ handlungstheoretische Grundprämisse, nach der jede Handlung auf einen persönlichen Vorteil für den Handelnden ziele,426 verdient in diesem Zusammenhang Beachtung. Hobbes wiederholt diese handlungstheoretische Grundprämisse im Kapitel über den Rat ausdrücklich, wendet diese auch auf Beratungshandlungen an und schlussfolgert daraus, dass der Rat der Berater häufig unaufrichtig sei und man deshalb – das sei die erste Voraussetzung für einen guten Berater – auf die Vereinbarkeit der Ziele des Beraters und des Beratenen unbedingt achten müsse:

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Mehrfach wählt Hobbes als Bild für den drohenden Machtverlust des Souveräns das Bild des Todes: „Die Souveränität ist die Seele des Staates, von der die Glieder keinen Bewegungsantrieb empfangen können, wenn sie einmal den Körper verlassen hat. […] Denn obwohl die Souveränität nach der Absicht ihrer Schöpfer unsterblich sein sollte, so ist sie doch ihrer eigenen Natur nach nicht nur einem gewaltsamen Tod durch einen auswärtigen Tod ausgesetzt, sondern trägt auch wegen der Unwissenheit und der Leidenschaften der Menschen von ihrer Errichtung an viele Keime einer natürlichen Sterblichkeit in sich, und zwar durch innere Zwietracht“ (LD 21, 171). Vgl. zu diesem Bild auch das Ende des 29. Kapitels. Dass Hobbes den Souverän bei seiner Furcht vor dem drohenden Machtverlust packt, wird auch deutlich zu Beginn des 29. Kapitels, in dem er Staaten, die ohne seine Konstruktionsregeln aufgestellt wären, als marode, einsturzgefährdete Hütten beschreibt: „Denn werden die Menschen schließlich des regellosen gegenseitigen Hauens und Stechens müde und wünschen von ganzem Herzen, sich zu einem festen und dauernden Gebäude zusammenzufügen, so können sie ohne die Hilfe eines sehr tüchtigen Architekten nur zu einem baufälligen Gebäude zusammengefügt werden, das kaum ihre eigenen Lebzeit überdauert und mit Sicherheit über den Köpfen ihrer Nachkommen zusammenstürzt, da ihnen die Kunst abgeht, zur Regelung ihrer Handlungen geeignete Gesetze zu erlassen, sowie die Bescheidenheit und Geduld, die rauhen und hinderlichen Stellen ihrer augenblicklichen Gestalt glätten zu lassen“ (LD 29, 245). 425 Hobbes schürt regelrecht die Furcht des Souveräns vor Rebellion, vgl. bspw. LD 30, 257: „Und folglich ist es seine Pflicht zu veranlassen, daß das Volk so unterrichtet wird, und nicht nur seine Pflicht, sondern auch sein Vorteil und seine Sicherheit gegen die Gefahr, die ihm selbst als natürliche Person durch eine Rebellion erwachsen kann.“ 426 Vgl. die Formulierung im 14. Kapitel des Leviathan: „Immer wenn jemand sein Recht überträgt oder darauf verzichtet, so tut er dies entweder in der Erwägung, daß im Gegenzug ein Recht auf ihn übertragen werde, oder weil er dadurch ein anderes Gut zu erlangen hofft. Denn es handelt sich um eine willentliche Handlung, und Gegenstand der willentlichen Handlungen jedes Menschen ist ein Gut für ihn selbst.“ (LD 14, 101)

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B. Die politische Logik des Körpers

„Aber zu dieser Ähnlichkeit des Staates mit einem natürlichen Menschen kommt ein sehr bedeutender Unterschied, nämlich, daß ein natürlicher Mensch seine Erfahrung von den natürlichen Gegenständen der Empfindung empfängt, während die Berater der Vertretung eines Staates ihre besonderen Ziele und Leidenschaften besitzen können und oftmals besitzen, die ihren Rat immer verdächtig und häufig unaufrichtig machen. Und deshalb können wir als erste Voraussetzung für einen guten Berater aufstellen, daß seine Ziele und Interessen mit den Zielen und Interessen dessen, den er berät, nicht unvereinbar sein ­dürfen“ (LD 25, 199).

Wenn das Buch nun aber nicht oder zumindest nicht primär eine Ratgeberschrift für den Souverän darstellt, welchen Zweck verfolgt sie dann? Hoekstra, der in einem interpretatorisch selbst-reflexiven Aufsatz zu Hobbes 2006 einerseits den „einfachen Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik“, d. h. die These vertrat, dass man einen Autor nur von dessen Intention her verstehen könnte, machte andererseits darauf aufmerksam, dass die Autoren der Philosophiegeschichte mög­ licherweise durchaus unterschiedliche Zielsetzungen verfolgten. Er möchte seinen Aufsatz zu Hobbes als Fallstudie zu diesem interpretatorischen Problem verstanden wissen,427 identifiziert als zentrale Zielsetzung von Hobbes das praktische Interesse des Friedens bzw. der Friedenssicherung und argumentiert dafür, dass diese praktische Zielsetzung die Interpretation der Schriften beeinflussen müsse. In seiner Deutung stützt er sich auf zahlreiche Stellen nicht nur der politiktheoretischen, sondern auch zahlreicher weiterer Schriften sowie der Kor­respondenz, an denen Hobbes über seine Absicht explizit spricht.428 Ein erstes Problem an dieser Rekonstruktion der Intention von Hobbes ist jedoch, dass Hobbes durchaus verschiedene Zwecke angibt, wenn er über seine Intention spricht. Wie Hoekstra durch eine Analyse zahlreicher Stellen, an denen Hobbes über seine Intention spricht, herausarbeitet, nennt Hobbes neben dem Frieden auch den Nutzen im Allgemeinen sowie die menschliche Wohlfahrt.429 Die Frage ist, in welcher Reihenfolge diese Ziele stehen, was sie im einzelnen bedeuten können, und ob diese Ziele nicht in einen Konflikt zueinander treten können. Des Weiteren ergibt sich das Problem, dass bei einem Autor, der selbst be­ ansprucht, unwahre Äußerungen zu benutzen, um einem praktischen Zweck zu dienen, unklar ist, welche Äußerungen einen Wahrheitsanspruch erheben und welche nicht. Wie kann man, wenn Hobbes selbst mitteilt, dass er über seine Inten 427 Hoekstra 2006, 25: „By focusing on one such case, that of Thomas Hobbes, I hope both to shed light on the nature of his philosophical enterprise and to raise doubt about the common working assumption that attributing our own conception of philosophy to our predecessors is an adequate starting point for interpreting the history of philosophy.“ 428 Vgl. Hoekstra 2006, 57: „As Hobbes thinks that the ultimate aim of philosophical pronouncements is to produce human commodity, and that the paramount benefit is peace and security, it may be better to evaluate them as what we might call ‚peace claims,‘ that is, as pronouncements designed to engineer obedience and produce peace.“ 429 Vgl. neben dem letzten Zitat ebenfalls die verschiedenen Überschriften Hoekstras, der von „A Philosophy of Benefit“ (2006, 27) ebenso spricht wie von „Hobbes’s eirenic project“ (2006, 32).

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tion nicht offen spricht bzw. diese über eine Analyse seiner Handlung rekonstruiert werden muss, annehmen, dass Äußerungen über seine eigene Intention einen Wahrheitsanspruch erheben bzw. die ganze Wahrheit darstellen?430 Zudem hatte Hobbes ja in seiner handlungstheoretischen Grundprämisse explizit formuliert, dass jede Handlung immer auf einen persönlichen Vorteil für den Handelnden abziele. Nun ist es durchaus denkbar, dass es zu einem Konfliktfall kommen kann, in dem der Frieden dem persönlichen Interesse abträglich ist – Hobbes selbst hatte ja im ersten natürlichen Gesetz nur eine bedingte, unter dem Vorbehalt des Grundsatzes der Selbsterhaltung stehende Friedenspflicht formuliert, die tatsächlich auch keine Pflicht darstellte, die kämpferische Gesinnung abzulegen, sondern nur, eine solche nicht mehr offen zu zeigen. Während­ Hobbes sich zwar an einigen Stellen durchaus unschuldig interesselos gibt,431 verdient seine handlungstheoretische Grundprämisse auch auf ihn selbst angewendet zu werden. Wenn aber nicht der Frieden das tatsächliche und oberste oder zumindest nicht das einzige Ziel von Hobbes darstellt, wie dies explizite Äußerungen zu seiner Intention zu belegen scheinen, welches könnte dann sein Ziel sein? Kann eine Analyse seines Handelns Hinweise auf Hobbes’ Intention liefern? Die Frage nach Hobbes’ Intention bei der Abfassung des Leviathan kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden, unter anderem, weil sie eine Rekonstruktion des philosophischen Selbstverständnisses auf der Grundlage des Gesamtwerks, inklusive des Briefwechsels und weiterer autobiografischer und zeitgenössischer Dokumente, erfordern würde. Aus dem Kontext des Leviathan können indessen erste Bausteine gesammelt werden, die bei einer solchen umfassenden Rekonstruktion mit berücksichtigt werden könnten und die immerhin eine Grundlage für unsere Vermutung darstellen können, dass Hobbes mit der Ver­ öffentlichung seiner Schriften nicht ausschließlich auf den Frieden zielte. Hobbes beginnt und beendet sein Buch mit dem Hinweis auf eine notwendige Universitätsreform. Dabei wird diese an den meisten Stellen damit begründet, dass eine solche Reform den Gehorsam der Untertanen fördern könne, insofern die „neue Moral“ über die in den Universitäten ausgebildeten Multiplikatoren dem 430

Hoekstra ist sich des interpretatorischen Problems, das eine solche praktische Ziel­setzung des Schriftstellers für den Interpreten bedeutet, völlig bewusst und benennt dieses ausdrücklich: „Some such alethic baseline is necessary: for the foregoing argument to get going, some claims (those about philosophy’s practical orientation, etc.) are interpreted as truth claims, and not only as useful“ (Hoekstra 2006, 61). 431 Vgl. LD Einleitung, 3, Hervorhebungen E. O.: „Außerdem spreche ich nicht von den Menschen, sondern abstrakt von dem Sitz der Gewalt (ähnlich jenen einfachen und un­ parteiischen Wesen auf dem römischen Kapitol, die mit ihrem Lärm seine Insassen nicht deshalb schützten, weil es gerade sie, sondern weil sie dort waren.“ Vgl. ebenfalls die zur Schau gestellte Unschuldsmiene im Rückblick und Schluß, 544, Hervorhebungen E. O.: „Und somit bin ich am Ende meiner Abhandlung über die bürgerliche und kirchliche Regierung, die von den Wirren der Gegenwart veranlaßt wurde, angelangt, ohne Parteilichkeit, ohne Schmeichelei und ohne eine andere Absicht zu verfolgen als die, den Menschen die gegenseitigen Beziehungen zwischen Schutz und Gehorsam vor Augen zu halten […].“

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B. Die politische Logik des Körpers

Volk „aufgedruckt“ werden könnte. Die Vorherrschaft der Kirche an der Universität bzw. der scholastischen Philosophie wird ebenfalls größtenteils unter dem Aspekt des Nutzens für den Souverän diskutiert. Dennoch gibt es einige Stellen, die nahelegen, dass Hobbes hier nicht nur im vorauseilenden Gehorsam Strukturreformen vorschlägt, die einem potentiellen Souverän zu Gute kommen würden, sondern dass er – ganz in Übereinstimmung mit seiner handlungstheoretischen Prämisse – ein persönliches Interesse verfolgt, das eng mit der ihn als Philosophen bestimmenden Leidenschaft und Lust432 verbunden ist: Die Philosophie ist, so sehr sie sich auch dem Souverän anzubiedern scheint, dennoch prinzipiell autoritätskritisch. Vielleicht störte Hobbes ebenso so sehr wie die Tatsache, dass die Vorherrschaft der Religion die Universitäten dominierte und deshalb die Untertanen weniger gehorsamsbereit waren, die Tatsache, dass es überhaupt autoritäre Lehrmeinungen gab: „Und dem Studium der Philosophie räumt sie keine andere Stelle ein als die einer Dienstmagd der römischen Religion. Und da dort die Autorität des Aristoteles allein vorherrscht, ist dieses Studium nicht eigentlich Philosophie (deren Natur nicht von Autoren abhängt), sondern Aristotelik“ (LD 46, 511).

Die Universitätsreform wird daher möglicherweise nicht nur von dem Wunsch motiviert, die Gehorsamsbereitschaft der Untertanen zu erhöhen und nützlich für den Souverän zu sein,433 sondern auch von dem sich aus dem „Klasseninteresse“ 432

Vgl. LD 6, 43 f.: „Das Verlangen, das Warum und Wie zu wissen, ist Neugier, die bei kei­ nem anderen Lebewesen als dem Menschen vorkommt. So unterscheidet sich der Mensch also nicht nur durch seine Vernunft, sondern auch durch diese einmalige Leidenschaft von anderen Tieren, bei denen die Vorherrschaft des Nahrungstriebs und anderer sinnlicher Begierden das Bemühen, Gründe kennenzulernen, nicht aufkommen lassen. Es handelt sich dabei um eine geistige Lust, die durch die andauernde Freude an der beständigen und unermüdlichen Erzeugung von wissen das kurze Feuer jeder fleischlichen Lust weit übertrifft. […] Freude über die Wahrnehmung einer Neuheit ist Verwunderung. Sie ist dem Menschen eigen, denn sie erregt das Verlangen, die Ursache kennenzulernen.“ Wenngleich sich diese Äußerungen auf den Menschen im Allgemeinen zu beziehen scheinen, legen andere Stellen nahe, dass die Stärke dieser Leidenschaften und leidenschaftsabhängigen Fähigkeiten bei den Menschen durchaus unterschiedlich ausgeprägt sind und Menschen daher auch nach unterschiedlichen Dingen streben: Vgl. LD 8, 60: „Ich kann mir keinen anderen Grund außer dem vorstellen, der allen Menschen gemeinsam ist, nämlich daß sie es an Neugierde fehlen ließen, nach natürlichen Ursachen zu suchen, und daß sie die Glückseligkeit im Erlangen grober Sinnesfreuden und diesen Dingen­ sahen, die am unmittelbarsten dazu führen.“ Vgl. als Beleg für die These der Unterschiedlichkeit ebenfalls das zwölfte Kapitel des Leviathan: „Erstens ist es eine Eigenart der Natur des Menschen, den Ursachen der Ereignisse, die er sieht, nach­zugehen, der eine mehr, der andere weniger. […] Sodann haben die Menschen, die den Begriff Verursachen nicht kennen – das heißt beinahe alle – keinen Anhaltspunkt, nach dem sie erraten können, auf welche Weise diese unsichtbar handelnden Wesen ihre Wirkungen hervorbrachten […]“ (LD 12, 82 u. 84). 433 Während Hobbes die frühere Philosophie als unnütz charakterisierte, betont er an zahl­ reichen Stellen, besonders im Rückblick des Leviathan, den Anspruch, eine nützliche Lehre verfasst zu haben: „Aber was war der Nutzen dieser Schulen? Welche Wissenschaft gibt es heute, die auf Grund ihrer Vorlesungen und Streitgespräche entwickelt worden wäre?“ (LD 46, 510). Vgl. auch: „Deshalb glaube ich, daß sie [meine Abhandlung, E. O.] mit Nutzen gedruckt und mit noch mehr Nutzen an den Universitäten gelehrt werden kann, falls auch diejenigen so denken, denen das Urteil darüber zusteht“ (LD Rückblick und Schluß, 543).

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des Philosophen ergebenden Wunsch, eine gewisse Freiheit der Philosophie zu sichern.434 So räumt Hobbes beispielsweise zwar ein, dass der Souverän in einem nach den Hobbes’schen Konstruktionsregeln geschaffenen Staat zumindest prinzipiell durchaus an der Universität Vorlesungen halten dürfte. Er fügt jedoch die Einschränkung der fachlichen Expertise hinzu und liefert dem Souverän zudem ein pragmatisches Argument – eine solche Lehrtätigkeit sei, weil zeitaufwändig, vermutlich nicht im eigenem Interesse des Souveräns.435 Ebenso bemüht sich ­Hobbes auf der einen Seite sehr deutlich darum, den Philosophen als prinzipiell loyalen und gehorsamen Untertanen zu präsentieren, wenn er an verschiedenen Stellen schreibt, die Philosophie bedürfe der Muße und sei daher geneigt, sich einer sie schützenden Macht gehorsam zu unterwerfen.436 Dass diese Beteuerung, ein ge 434

Diese Möglichkeit scheint zwar zunächst kontraintuitiv zu sein, wenn man bedenkt, dass Hobbes die Vorherrschaft der Religion anscheinend nur auflösen möchte, um diese durch die Vorherrschaft des Staates zu ersetzen. Dennoch besteht der Vorteil der zweiten Vorherrschaft möglicherweise erstens darin, dass sie sich im Machterhaltungsinteresse bereitwillig von der Wissenschaft beraten lässt und sich ansonsten um die Wissenschaft wenig kümmert: So räumt Hobbes dem Souverän zwar de facto das Recht ein, zu bestimmen, „welche Meinungen und Lehren dem Frieden abträglich sind […] oder alle für diese Dinge zuständigen Richter zu bestellen (LD 18, 139 f.), macht jedoch zugleich vollkommen klar, dass nur ein Philosoph, der beispielsweise „diese Lehre von den getrennten Essenzen, die auf der Afterphilosophie des Aristoteles fußt“ (LD 46, 514) kennt und beurteilen kann, ein kundiger Richter über derartige Lehren ist und rät dem Souverän auch davon ab, selbst Vorlesungen zu halten (vgl. die Belege in der nächsten Fußnote). Zweitens kann der Befehl, bestimmte Meinungen zu propagieren, die Menschen nicht davon abhalten, selbst anders zu denken. In seiner Diskussion der Wunder betont Hobbes die Unabhängigkeit der Vernunft und die Möglichkeit, trotz souveräner Vorgaben anders zu denken: „Da die Gedanken frei sind, hat ein Privatmann immer die Freiheit, die Taten, die für Wunder ausgegeben worden sind, in seinem Herzen zu glauben oder nicht zu glauben, je nachdem er erkennt, welcher Vorteil aus dem Glauben der Leute denen erwachsen kann, die das Wunder behaupten und sich dafür einsetzen, und er mag sich daraufhin überlegen, ob sie Wunder oder Lügen sind. Gilt es aber diesen Glauben zu bekennen, so muß sich die private Vernunft der öffentlichen unterwerfen, das heißt dem Statthalter Gottes“ (LD 37, 340). Weil Hobbes es für möglich hält, Texte so zu konzipieren, dass verschiedene Adres­saten dem Verschiedenes entnehmen können, können solche geheimen Gedanken durch Techniken der vorsichtigen Mitteilung möglicherweise sogar publiziert werden. Die angestrebte Freiheit wäre aber allenfalls eine Freiheit im begrenzten Raum der Universität bzw. unter Gelehrten – in der Öffentlichkeit hätte sich die Philosophie dagegen systemkonform zu verhalten, d. h. nützlich zu machen. 435 Hobbes formuliert genau genommen zwei Argumente gegen eine Lehrtätigkeit des Souveräns: Zum einen eine wissenschaftstheoretische Einschränkung – nur wenn der Souverän Kenntnisse auf dem Gebiet der Wissenschaften besäße – und zum zweiten eine regierungspraktische Einschränkung – dies sei doch sicherlich seinen Regierungsgeschäften abträglich. „Es ist nicht zweifelhaft, daß jeder König, falls er Kenntnisse auf em Gebiet der Wissenschaften besitzt, mit demselben aus seinem Amte fließenden Recht, mit dem er andere ermächtigt, an den Universitäten Vorlesungen zu halten, selbst wissenschaftliche Vorlesungen halten könnte. Da die Besorgung der gesamten Staatsgeschäfte seine ganze Zeit beansprucht, so wäre es für ihn nicht zweckmäßig, wenn er sich persönlich dieser besonderen Aufgabe widmen wollte“ (LD 42, 414). 436 Vgl. LD 11, 76: „Das Verlangen nach Wissen und friedlichen Künsten macht die Menschen dazu geneigt, einer allgemeinen Gewalt zu gehorchen, denn ein solcher Wunsch enthält das Verlangen nach Muße und folglich nach Schutz durch eine andere Macht als die eigene.“

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B. Die politische Logik des Körpers

horsamer Untertan zu sein, verdächtig ist, kann aus einer Analyse dessen geschlossen werden, was Hobbes selbst tut bzw. wie er sein eigenes Tun beschreibt: Hobbes selbst macht deutlich, dass er sich ungehorsam bzw. anmaßend verhält, insofern er sich durch sein Tun (Bibelexegese, Vorschlag einer Universitätsreform) die Stellung eines Lehrers anmaßt, die ihm nur der Souverän zuweisen hätte können.437 Während die These von der praktischen Intention des Leviathan und damit die Erklärungsmöglichkeit für die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments nach unseren bisherigen Überlegungen zwar durchaus aufrecht erhalten werden kann, muss die interpretatorische Hypothese, wonach Hobbes mit dem Leviathan ausschließlich ein Beratungshandbuch für den Souverän habe verfassen wollen, nach diesen Einschränkungen zumindest dahingehend ergänzt werden, dass Hobbes möglicherweise selbst andere Interessen als der Souverän hat und dessen Beratung zumindest nicht uneigennützig durchführt. Gemäß Hobbes’ eigenen handlungstheoretischen Prämissen verfolgt auch der Berater bzw. der beratende Philosoph immer ein persönliches Gut. Wenn Hobbes sich beklagt, dass die Wissenschaften, obgleich sie die Mutter aller nützlichen Erfindungen sind, wenig Anerkennung bekommen und geringe Macht haben, liegt die Vermutung nahe, dass Hobbes durch den Schulterschluss mit der Macht und das Versprechen, nützliche Kenntnisse zu produzieren, der Philosophie eine ruhm- und machtvolle Stellung sichern will.438 Die Tatsache, dass auch die nach Macht, Ehre und geistiger Lust strebenden Philosophen von einem stabilen und prosperierenden Staat profitieren, und der Wunsch, sich durch eine Neubegründung der Politischen Wissenschaft Weltruhm zu verschaffen,439 könnte Hobbes’ Bereitwilligkeit, dem Souverän Machttechniken zu verraten, die zugleich Wohlstand und Frieden fördern, ebenso erklären wie die Hoffnung, der Philosophie durch ihre Ausrichtung auf politische Nützlichkeit eine gewisse Freiheit zu erkaufen. 437 „In dem Teil, der von einem christlichen Staat handelt, befinden sich einige neue Lehren, deren unerlaubte Verbreitung möglicherweise in einem Staate, in dem das Gegenteil bereits beschlossene Sache wäre, für einen Untertanen eine Verfehlung darstellte, da dies eine Anmaßung der Stellung eines Lehrers darstellte“ (LD Rückblick und Schluß, 542). Auch in der Widmung des Leviathan findet sich ein ähnliches Lippenbekenntnis, das Hobbes durch sein Tun in einen performativen Widerspruch überführt: Hobbes bezeichnet sich dort als „bescheiden“ und „gehorsam“, macht aber gleichzeitig darauf aufmerksam, dass er – durchaus unbescheiden – „alles was er sagt für wahr hält“ und sich ohne Wissen und Erlaubnis – also durchaus ungehorsam – selbst den Rang eines Dieners verliehen habe (vgl. LD Widmung, 3 f.). 438 Vgl. LD 10, 67: „Die Wissenschaften sind eine geringe Macht, da sie nicht auffallen und deshalb nicht von jedermann anerkannt werden. […] Künste von öffentlichem Nutzen wie Festungsbau und Herstellen von Kriegsmaschinen und anderen Kriegswerkzeugen sind Macht, da sie zur Verteidigung und zum sieg beitragen. Und obwohl ihre wahre Mutter die Wissenschaft, nämlich die Mathematik, ist, so werden sie doch, da sie durch die Hand des Konstrukteurs ans Licht gebracht werden, für ein Kind seines Geistes gehalten – wobei die Hebamme wie beim einfachen Volk für die Mutter gilt.“ 439 Vgl. LD Rückblick und Schluß, 543: „Wollen wir das Alter des Schriftstellers verehren, so bin ich nicht sicher, ob im allgemeinen diejenigen, denen man diese Ehre zuteil werden läßt, zur Zeit ihres Schreibens älter waren als ich.“

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Die Intention, mit der Hobbes den Leviathan als eine zur Veröffentlichung bestimmte Schrift verfasst hat, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden. Die von uns identifizierten Textstellen legen aber zumindest nahe, dem Autor nicht das alleinige Ziel, den Souverän uneigennützig beraten zu wollen, zu unterstellen. Aufgrund der analysierten Textstellen scheint es uns plausibel zu sein, dem Autor eine eigennützige440 Intention als Philosoph zu unterstellen. Infrage kommende Ziele, die Hobbes’ handlungstheoretischer Grundprämisse und seiner Identifikation von Philosophie als Streben nach Macht entsprechen würden, wären beispielsweise das Ziel, sich selbst durch die Entwicklung einer politischen Ordnung mit Stabilitätsgarantie gebührenden Nachruhm zu verschaffen sowie die – überindividuellen – Ziele, der ihm nachfolgenden Philosophie im Gemeinwesen eine mächtige Stellung zu verschaffen und die universitäre Philosophie – durch den vorauseilenden Gehorsam einer sozial nützlichen Orientierung – von Ein­mischungen durch staatliche und religiöse Hand freizuhalten. Unabhängig davon, welche und wie viele praktische Intentionen Hobbes mit der Abfassung seines Leviathan verfolgte, sprechen die bisherigen Textbelege auf jeden Fall dafür, dass der Abfassung des Leviathan praktische Zielsetzungen zu Grunde lagen. Die interpretatorische Konsequenz bleibt also  – selbst wenn die Hypothese vom Beraterhandbuch korrigiert bzw. ergänzt werden muss  – erhalten: Wenn ­Hobbes mit dem Leviathan eine oder mehrere praktische Zielsetzungen verfolgt, liegt es nahe, die Schrift nicht primär an logischen Kriterien wie Konsistenz oder Kohärenz zu messen. Eine umfassende intentionalistische HobbesHermeneutik sollte sich zwar, wenn Hobbes dies dem Interpreten schon nahe legt, vom expliziten Wortlaut der Intention durchaus entfernen können, dabei jedoch – wie Hobbes dies ebenfalls verlangt – stärker als bisher geschehen die pragmatischen Kontexte der Rede, d. h. Hobbes’ Tun analysieren. Eine Vernachlässigung des expliziten Wortlauts kann nur dann sinnvoll sein, wenn es explizite Hinweise des Autors gibt, dass dies in einem bestimmten Fall zielführend sein könnte. Weil Hobbes jedoch selbst den Leser ausdrücklich dazu auffordert, seine Intention nicht dem Wortlaut zu entnehmen, sondern durch eine Rekonstruktion seines Tuns zu erschließen, liegt es nahe, Hobbes’ Schreiben als Handeln zu begreifen und diese

440 Eigennützig meint dabei nicht, dass nicht auch andere Personen davon betroffen sein können. Hobbes selbst zieht an mehreren Stellen durchaus in Erwägung, dass Menschen gewisse soziale Neigungen haben, selbst wenn er diese letztendlich an den persönlichen Nutzen zurückbindet. Vgl. etwa LD 14, 107: „Ein Vertrag, sich selbst anzuklagen, ohne der Vergebung sicher zu sein, ist gleichfalls ungültig. […] Dasselbe gilt für die Anklage von Personen, deren Verurteilung jemand ins Elend stürzen würde, wie z. B. des Vaters, der Ehefrau oder eines Wohltäters.“ Vgl. ebenfalls LD 30, 260: „Unter den Dingen, die sich im Eigentum eines Menschen befinden, schätzt er sein eigenes Leben und seine Glieder am höchsten, und zur nächsten Stufe gehört bei den meisten Menschen alles, was die Gattenliebe betrifft, und danach kommt das Vermögen und die lebensnotwendigen Güter.“ In diesem Sinne könnte man daher durchaus auch ein Klasseninteresse des Philosophen vermuten.

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B. Die politische Logik des Körpers

pragmatische Dimension stärker als bisher geschehen in den Fokus des interpretatorischen Interesses zu rücken.441 Bedeutet eine solche praktische Zielsetzung für den Interpreten aber, auf die Wahrheitsfrage ganz zu verzichten bzw. alle Propositionen, die in einem Text mit praktischer Zielsetzung enthalten sind, als Instrumente ohne Wahrheitsanspruch zu begreifen? Oder führt umgekehrt manchmal vielleicht gerade der Weg über die Widersprüche zu einer erfolgsversprechenden Rekonstruktion des Handlungskontextes und damit der Intention, der notwendigerweise wahre Annahmen über handelnde Akteure und deren Bewegungsursachen zu Grunde liegen? Sowenig in dieser Arbeit auf eine allgemeine Weise „hermeneutische Prinzipien“ formuliert werden können, die für die Interpretation jeder Stelle des Leviathan bzw. anderer Werke von Hobbes Gültigkeit beanspruchen können, so kann an dieser Stelle zumindest festgehalten werden, dass Hobbes ein überaus widerspruchssensitiver Philosoph war, für den zwischen der Suche nach Wahrheit und eventuellen Widersprüchen offenbar sogar ein gewisser Zusammenhang bestand: Hobbes macht im Rückblick des Leviathan deutlich, dass er selbst seine im Leviathan niedergelegte Lehre nicht als widerspruchsfrei ansieht. Während er zwar einerseits behauptet, dass die Prinzipien seiner Lehre „richtig und zutreffend“, die Schlussweise „hiebund stichfest“ und die Lehre insgesamt „wahr“ sei,442 fügt er auf der anderen Seite hinzu, dass er wüsste, dass seine Lehre viele Widersprüche enthielte,443 stellt sich in eine Reihe mit den alten Schriftstellern, die sich selbst widersprochen hätten,444 441 Stienings Vorschlag, die explizite Intention des Autors zu vernachlässigen, könnte daher in einem anderen als von Stiening gemeinten Sinn tatsächlich zielführend für die ­Hobbes-­ Auslegung sein. Während Stiening aber die explizite Intention von Hobbes durch den Rückgriff auf einen – auf der Basis welcher hermeneutischen Vorannahmen auch immer zu rekonstruierenden – „objektiven Gehalt“ des Textes vernachlässigen will, folgt unser Vorschlag Hobbes’ eigenen, expliziten Anweisungen, nicht so sehr auf die explizite, sondern eher auf die implizite Intention zu achten und neben der Rede das Tun des Autors zu analysieren. 442 „Und was die ganze Lehre betrifft, so kann ich bis jetzt nur sehen, daß ihre Prinzipien richtig und zutreffend und die Schlußweise hieb- und stichfest sind. […] Aber wenn ich in dieser Zeit, in der die Menschen nicht nur nach Frieden, sondern auch nach Wahrheit rufen, eine solche Lehre, die ich für wahr halte und die offensichtlich zu Frieden und Loyalität führt, solchen Menschen vorlege, die noch am Nachdenken sind, so heißt dies nichts anderes, als neuen Wein anbieten, der in neue Fässer geleert werden soll, damit beide zusammen erhalten werden können“ (LD Rückblick und Schluß, 541 f., Hervorhebungen E. O.). 443 „Denn in solchen Fällen handeln die Menschen von Natur aus so, daß sie in der Lektüre fortschreiten, daß aber gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit nachläßt, weil sie nach Einwänden gegen das zuvor Gelesene suchen. In einer Zeit, in der sich die Interessen der Menschen gewandelt haben, muß es zwangsläufig sehr viele solcher Leute geben (da in dieser Lehre vieles, das der Errichtung einer neuen Regierung dient, notwendigerweise dem widersprechen muß, was zur Auflösung der alten führte)“ (LD Rückblick und Schluß, 542, Hervorhebungen E. O.). 444 „Es gibt kaum einen alten Schriftsteller, der nicht bisweilen sowohl sich selbst als auch anderen widerspricht, was ihr Zeugnis ungenügend macht. […] Obwohl ich die Männer des Altertums verehre, die entweder in klarer Weise die Wahrheit geschrieben haben oder die uns besser instand setzen, sie selbst herauszufinden, so glaube ich doch, daß dies mit dem Alter nichts zu tun hat. Denn wollen wir das Zeitalter verehren, so ist das gegenwärtige das älteste.

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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und teilt dem Leser mit, dass nur derjenige, der „an Wahrheit interessiert“ sei, solche Widersprüche auch finden werde.445 Immerhin hält es Hobbes  – zumindest wenn man seinen Worten in dieser Hinsicht trauen kann – durchaus für möglich, Schriften zu verfassen, die nicht nur Irrtümer enthalten, sondern auch Raum für die Wahrheit lassen.446 Dass es sich bei der von uns so benannten handlungstheoretischen Grundprämisse, bei der Identifikation auch von Philosophie mit dem Streben nach Macht und bei der Prämisse der Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften und besonders des menschlichen Machtstrebens um Thesen handelt, auf die Hobbes selbst einen Wahrheitsanspruch erhebt, versuchte unsere Analyse plausibel zu machen. Fassen wir das Ergebnis dieses Kapitels nochmals zusammen: Unsere von dem „einfachen Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik“ ausgehende Untersuchung, die versuchte, ein logisches Problem dadurch zu klären, dass nach der Intention des Autors gefragt wurde, legte also die Hypothese zu Grunde, dass­ Hobbes ein Beratungshandbuch für den Souverän habe schreiben wollen. Wenngleich diese Hypothese sich – insofern sie eine prinzipiell praktische Zielsetzung Wollen wir das Alter des Schriftstellers verehren, so bin ich nicht sicher, ob im Allgemeinen diejenigen, denen man diese Ehre zuteil werden läßt, zur Zeit ihres Schreibens älter waren als ich, der ich gerade schreibe“ (LD Rückblick und Schluß, 542 f., Hervorhebungen E. O.). 445 Hobbes gibt dem Leser in jedem Fall zu verstehen, dass seine Schrift – je nach der Zielsetzung des die Schrift Lesenden – unterschiedliche Zwecke erfüllen könnte. Bei einem Informationsziel könnte die Schrift diesem Zweck dienen, bei einem anderen Ziel  – und der weitere Fortgang des Textes legt nahe, dass es sich um die Wahrheitssuche handeln könnte – könnte die Schrift dem Informationsziel nicht mehr gerecht werden. Wer auf Widersprüche achte, werde die Schrift nicht als eine solche betrachten, die „neutrale“ Informationen enthielte: „Und deshalb bin ich überzeugt, daß jemand, der dies nur in der Absicht liest, sich zu informieren, dadurch auch informiert sein wird. Aber was jene betrifft, die sich durch Schriften, öffentliche Vorträge und Handlungen von Gewicht bereits darauf festgelegt haben, gegenteilige Ansichten zu vertreten, so werden sie nicht so leicht zufrieden sein. Denn in solchen Fällen handeln die Menschen von Natur aus so, daß sie in der Lektüre fortschreiten, daß aber gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit nachläßt, weil sie nach Einwänden gegen das zuvor Gelesene suchen.“ (LD Rückblick und Schluß, 542) Die Deutungsmöglichkeit, dass die alten Schriftsteller, von denen Hobbes sagt, dass diese sich selbst widersprochen hätten, vielleicht gerade deshalb geeignet waren, eine Anleitung zur Wahrheitssuche zu geben, wird durch den weiteren Fortgang des Textes zumindest möglich gemacht. Vgl. zu Hobbes’ Selbstcharakterisierung als alter Schriftsteller, sowie zu seiner Einschätzung, dass die Alten sich nicht nur selbst widersprochen haben sondern – möglicherweise gerade deshalb – auch geeignete Lehrer der Wahrheitssuche waren die vorherige Fußnote. 446 „Und doch: wenn keine machtvolle Beredsamkeit hinzutritt, die Aufmerksamkeit und Zustimmung bewirkt, so wird die Wirkung der Vernunft gering sein. Das sind aber ent­ gegengesetzte Fähigkeiten, da die erstgenannte auf den Grundsätzen der Wahrheit beruht, die andere auf bereits anerkannten Meinungen, seien sie nun wahr oder falsch, und auf den Leidenschaften oder Interessen der Menschen, die unterschiedlich und veränderlich sind. […] Ebenso können Vernunft und Beredsamkeit  – vielleicht nicht in den Naturwissenschaften, wohl aber in der Moral – sehr gut nebeneinander bestehen. Denn überall, wo man den Irrtum verehrt und bevorzugt, ist noch viel mehr Raum für die Verehrung und Bevorzugung der Wahrheit, falls man sie besitzt, um sie verehren zu können“ (LD Rückblick und Schluß, 535 f.).

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B. Die politische Logik des Körpers

des Leviathan vermutete – als produktiv erwies, weil die praktische Zielsetzung eine Erklärungsmöglichkeit für gewisse logische Probleme bot, musste diese Hypothese dennoch korrigiert werden. Wenn man Hobbes’ hermeneutische Hinweise, seine handlungstheoretischen und anthropologischen Prämissen auf sein eigenes Werk anwendet, muss ebenfalls nach dem persönlichen Gut gefragt werden, das dem Philosophen mit der Handlung der Anfertigung und Veröffent­ lichung einer Schrift erwächst. Gegen Ende dieses Kapitels wurden erste Bausteine gesammelt, die für die größere Aufgabe einer solchen Rekonstruktion der persönlichen Zielsetzung von Hobbes herangezogen werden könnten. Für die Analyse des Leviathan – und möglicherweise auch weiterer Schriften von Hobbes – scheint der „einfache Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik“ daher zumindest ergänzt werden müssen: Hobbes hält zwar am Grundsatz intentionalistischer Hermeneutik fest, betont aber zugleich, dass die Intention oft nicht durch den expliziten Wortlaut, sondern nur durch den zu rekonstruierenden pragmatischen Kontext ermittelt werden könnte. Weil Hobbes den Leser nicht nur dazu auffordert, den Handlungskontext zu berücksichtigen, sondern auch dazu, nach Widersprüchen zu suchen, könnte eine hermeneutische Strategie auch in der Rekonstruktion performativer Widersprüche bestehen, d. h. seinen Ausgangspunkt bei der Frage beginnen, weshalb ein Autor sich in seinem Schreiben nicht an das hält, was er in diesem Schreiben zu tun behauptet447 oder weshalb seine Schrift nicht so aussieht, wie sie der Autor schildert.448 Obwohl also die Hypothese vom Beraterhandbuch als Erklärungsmöglichkeit für die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments korrigiert­ werden musste, scheint uns die These, dass Hobbes mit der Anfertigung des Leviathan eine praktische Zielsetzung verfolgte, nach wie vor plausibel zu sein und daher auch eine geeignete Erklärungsmöglichkeit für die von uns im zweiten Teil der Arbeit [B. II. 3.] identifizierte logische Schwäche des kontraktualistischen Arguments.

447 Hobbes, der sich an zentralen Stellen seines Leviathan auf Begriffsprägungen stützt, die alte Philosophen vorgenommen haben (vgl. der Rekurs auf Cicero in der Autorisierungstheorie oder die Hinweise auf griechische Begriffe in der Erörterung der natürlichen Gesetze), behauptet, dass er so etwas nicht getan habe: „Daß ich es unterlassen habe, zum Schmuck alte Dichter, Redner und Philosophen zu zitieren, im Gegensatz zu dem seit einiger Zeit auf­gekommenen Brauch, ob zu Recht oder zu Unrecht, beruht auf meinem Urteil das sich auf viele Gründe stützt. […] Fünftens geschieht es oftmals in betrügerischer Absicht, daß Menschen ihre unlauteren Lehren mit den Federn des Witzes anderer Leute schmücken“ (LD Rückblick und Schluß, 542). 448 Hobbes bezeichnet sein über fünfhundert Seiten dickes Buch als „kurz und klar“ (LD 31, 281) und beansprucht damit für seine Schrift diejenigen Eigenschaften, die für einen Rat charakteristisch sind (LD 25, 199).

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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3. Fazit: Das kontraktualistische Argument als argumentum ad hominem Im Eingang dieses Kapitels [B. III. 1.] wurde die Frage gestellt, ob die körper­ theoretische Deutung des kontraktualistischen Argumentes, die uns durch den Textbefund gestützt zu werden schien, Plausibilität besitzt, wenn eine solche Lesart dazu führt, dass das Argument aporetisch  – in einer von uns sogenannten biopolitischen Aporie – endet. In diesem Kontext wurde jedoch bereits darauf hingewiesen, dass das Problem, das Argument als ein Argument mit gewissen theoretischen Schwächen zu rekonstruieren, durchaus kein Einzelfallproblem für die körpertheoretische Deutung darstellt. Im Gegenteil haben die beiden großen bestehenden Deutungsfamilien des kontraktualistischen Arguments – die rechtstheoretische und die spieltheoretische – jeweils ähnliche Probleme mit ihrem Gegenstand: Beide Deutungsfamilien gehen davon aus, dass Hobbes ein theoretisch überzeugendes Argument habe entwerfen wollen, welches die Untertanen von der Rationalität des Rechtsverzichts bzw. des Gesetzesgehorsams überzeugen soll. Beide Deutungsfamilien müssen aber einräumen, dass Hobbes dieses Argumentationsziel nicht erreicht oder dass das Argument theoretische Schwächen aufweist: Während die rechtstheoretische Deutung eher die Widersprüchlichkeit des Rechts auf Selbsterhaltung betont und die reziprozitätstheoretische Deutung die Inkonsistenz beklagt, dass der Souverän selbst dem Reziprozitätsgebot nicht unterläge, behauptet die spieltheoretische Deutung, dass Hobbes’ absoluter Souverän keine Lösung für das Freiheitsproblem des Naturzustandes darstelle. Beide Auslegungslinien gleichen sich auch darin, dass sie Hobbes’ Erwiderung auf den Narren als nicht ausreichend ansehen, um nachzuweisen, dass es rational ist, sich an ab­geschlossene Verträge zu halten.449 Einig sind sie sich auch darin, dass Hobbes mit dem Staat durch Aneignung ein inkonsequentes Theorieelement einführt, welches seinem Bemühen, ein theoretisch überzeugendes Argument für die Notwendigkeit des Rechtsverzichtes zu liefern, abträglich sei.450 Während die spieltheoretische und die rechts- bzw. reziprozitätstheoretische Deutung des kontraktualistischen Argumentes vor der Verlegenheit stehen, das theoretische Scheitern des kontraktualistischen Argumentes, die Schwäche von 449 Wie im ersten Teil [B. I.] gezeigt wurde, analysiert Hüning Hobbes’ Erwiderung auf den Narren nicht im Detail, obwohl er seine Schrift als ganzes als Versuch begreift, Hobbes’ Antwort auf den Narren zu rekonstruieren. Lloyd dagegen nimmt die Einschätzung der HobbesForschung, dass Hobbes’ Argumente an dieser Stelle schwach sind, auf und behauptet gegen den Wortlaut des Textes, Hobbes versuche an dieser Stelle gar nicht, den Narren zu wider­ legen, weil er dieses Argumentationsziel bereits erreicht habe. 450 Lloyd schenkt diesem Element im Gegensatz zur deutschen rechtstheoretischen und zur spieltheoretischen Deutungsfamilie keine Beachtung und entspricht damit völlig derjenigen Tendenz, die Hoekstra als Ignoranz gegenüber unpassenden Theorieelementen beschreibt: „The model of sovereignty by institution, central to philosophical readings of Hobbes’s political theory, turns out to play a subordinate role in the crucial eirenic project of justifying s­ overeignty by acquisition, which is often overlooked in those readings“ (Hoekstra 2006, 60).

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B. Die politische Logik des Körpers

Hobbes’ Erwiderung auf den Narren und das Theorieelement des Staates durch Aneignung konsistent erklären zu können, besitzt die von uns vorgeschlagene Deutung des kontraktualistischen Arguments als eines argumentum ad hominem den Vorteil, diese Deutungsprobleme erklären zu können: Wenn es sich beim Leviathan um eine Schrift handelt, die eine wesentlich praktische Zielsetzung verfolgt, sind primär theoretische Beurteilungskriterien kein ausreichender Beurteilungsmaßstab für das Buch und dessen Teilelemente. Die logische Schwäche von Argumenten und die Verwendung scheinbar widersprüchlicher Theorieelemente können dadurch erklärt werden, dass diese Argumente bzw. Theorieelemente einer praktischen Intention dienen. Der dritte Teil dieser Arbeit [B. III.] zielte darauf ab die These plausibel zu machen, dass es sich beim Leviathan um ein solches Buch mit einer wesentlich praktischen Zielsetzung handelt: Zunächst wurde die explizite Intention von Hobbes berücksichtigt und die interpretatorische Hypothese, dass der Leviathan ein Werk mit der praktischen Zielsetzung, potentielle Souveräne zu beraten darstellt, der Analyse zu Grunde gelegt. Es wurde gezeigt, dass Hobbes Strategien und Erfolgsbedingungen öffentlicher Kommunikation diskutiert und an dieser Stelle auch den zielgerichteten Einsatz von Leidenschaftsappellen ohne Wahrheitsanspruch als Mittel, menschliche Handlungen zu lenken, in Erwägung zieht. Unter der Voraussetzung der Hypothese vom Beratungshandbuch konnte die biopolitische Aporie des kontraktualistischen Arguments vorerst damit erklärt werden, dass das Argument ein primär ein auf eine praktische Zielsetzung – Gehorsam der Untertanen zum Zwecke des Machterhalts des Souveräns – gerichteter Appell an die Leidenschaft der Todesfurcht und des sinnlichen Vergnügens ist. Wenn es sich beim kontraktualistischen Argument um einen solchen, vom Souverän für Zwecke des Machterhalts einsetzbaren Leidenschaftsappell handelt, der aufgrund der Dominanz und Stärke dieser Leidenschaften erfolgsversprechend ist, wäre dessen theoretische Inkonsistenz in Form einer Aporie tatsächlich nebensächlich. Der Inhalt und der Status des kontraktualistischen Arguments hängen dabei eng zusammen: Wenn nach Hobbes die sinnlichen Begierden bei den meisten Menschen am stärksten sind und die Todesfurcht bei diesen Menschen die stärkste Leidenschaft ist, dann ist es – wenn man ein praktisches Ziel verfolgt – nur konsequent, ein Argument zu konzipieren, welches den Körper zum Inhalt hat. Es wäre also ein Argument, das zwar – gemessen an theoretischen Kriterien – schwach ist, aber dennoch einer bestimmten Logik – einer Logik des Körpers – folgt: Wenn praktische Wirkungen erreicht werden sollen, d. h. Menschen, die als leidenschaftsgetriebene Körper vorgestellt werden, zu einem bestimmten Handeln angetrieben werden sollen, empfiehlt es sich, an diejenigen Leidenschaften zu appellieren, die bei den meisten Menschen am stärksten sind und deshalb am ehesten dazu geeignet, die Körper zu bewegen. Weil – wie eine Rekonstruktion der ­Hobbes’schen Rezeptionstheorie zeigte – Hobbes der Auffassung ist, dass Menschen je nach ihrer dominierenden Leidenschaft auf verschiedene Sachen in einem Text achten und nur die machtgierigen Menschen in der Lage sind, Dinge wahrzu-

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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nehmen, die andere übersehen, stellt es für unsere Deutung auch kein Problem dar, dass Hobbes diese Techniken des Machterwerbs in einem veröffentlichten Werk kommuniziert. Ein und derselbe Text kann sich, wenn Leidenschaften wie Wahrnehmungsfilter wirken und der machtgierige Souverän daher zu anderen Beobachtungen in der Lage ist als Menschen ohne eine vergleichbar starke Leidenschaft, an verschiedene Menschen richten und diesen verschiedene Dinge mitteilen: Die Menschen, die vor allem unmittelbare sinnliche Begierden haben und sich vor dem Tod fürchten, kann die Vorstellung eines gesetzlosen Naturzustandes und die Furcht, von anderen Menschen getötet zu werden, dazu motivieren, dem Souverän zu gehorchen und sich an Verträge zu halten. Den Menschen, die stärkere Begierden nach Macht, Ehre oder Reichtum haben, gibt Hobbes zu verstehen, dass und wie sie die Fassade des Rechtsstaates und der privaten Verträge benützen können, um sich an weniger machtgierigen, dümmeren oder gutmütigeren Menschen zu bereichern. Es sei im langfristigen Eigeninteresse der Machtvergrößerung durchaus rational, zumindest den Schein eines vertragstreuen und gleichheitsorientierten Menschen zu wahren. Die Tatsache, dass Hobbes sich nach außen hin Mühe gibt, zu versuchen, den Narren, der behauptet, es gebe keine Gerechtigkeit, zu widerlegen, ist kein ausreichender Beweis für Hobbes’ Reziprozitätsorientierung. Im Gegenteil scheint es plausibel, anzunehmen, dass Hobbes die Maske des Narren bzw. der Erwiderung auf den Narren benutzt, um den listigen, nach Macht strebenden Menschen die unsaubere Nachricht mitzuteilen, dass es keineswegs ungerecht sei, Verträge zu brechen, sondern heimliche Übervorteilung und heimlicher Vertragsbruch – sofern er sich nicht gegen den Souverän wendet – durchaus vorteilhaft sein kann. Die wenig überzeugenden Argumente, die Hobbes präsentiert, um den Narren und dessen Position, dass Gerechtigkeit nicht existiert und Verträge nicht eingehalten werden müssen, zu widerlegen, kann unsere Deutung also einfach dadurch erklären, dass diese Argumente ohnehin nur diejenigen überzeugen sollen und können, die durch ihre primär sinnlichen Leidenschaften intellektuell schwächer und dadurch empfänglich für diese Gehorsamsappelle sind. Die Lehre vom Staat durch Aneignung lässt sich problemlos in unsere Interpretation einfügen, insofern sie bestätigt, welche Rolle die Rede vom Vertrag erfüllt: Sie dient dazu, Gewaltverhältnisse im Nachhinein zu rationalisieren und durch den Glauben an deren Rechtmäßigkeit deren Stabilität zu sichern. Obwohl Hobbes als einziges Recht der Natur das Recht des listigeren und stärkeren Körpers gelten lässt, ist die Wahrung des Scheins, dass es sich bei gewaltbasierten Herrschaftsverhältnissen um freiwillig gewählte, auf Zustimmung basierende Rechtsverhältnisse handelt, überaus nützlich, weil dadurch die Loyalität und Dienstbereitschaft der Sklaven resp. Untertanen erheblich gesteigert werden kann. Schließlich wurden die Politikempfehlungen des 30. Kapitels hinsichtlich ihrer machtstrategischen Intention und ihrer anthropologischen Prämissen analysiert: So empfiehlt Hobbes eine Erziehungspolitik, die die Lehre vom Menschen als leidenschaftsbewegtem Körper zum Inhalt hat und sich damit gegen falsche heid­nische Freiheitsverständnisse oder religiöse Jenseitsvorstellungen richtet. Diese Verdrän-

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B. Die politische Logik des Körpers

gung falscher Lehren kann ebenso wie Hobbes’ begriffspolitische Vorschläge zum Umgang mit den Worten „sinnlich“ und „verrückt“ als Maßnahme gesehen werden, die zentrale Prämisse des kontraktualistischen Arguments, wonach der Tod das größte Übel ist, annehmbar erscheinen zu lassen. Bei den meisten Menschen, die durch ihre sinnlichen Leidenschaften ohnehin empfänglich für diese Prämisse sind, kann dadurch der Grundstein für die Überzeugungskraft des an eben diese Leidenschaften appellierenden Argumentes gelegt werden. Die konkreten Politikempfehlungen, die Hobbes im 30. Kapitel gibt, erlauben es, Hobbes als Begründer eines spezifisch körperbasierten Liberalismus zu begreifen: So kann der Staat, der sich aus den Ratschlägen des Hobbes ergibt, zwar durchaus insofern als ein liberaler Staat betrachtet werden, als der Untertan in allen vom Gesetz nicht geregelten Bereichen Freiheit besitzt und der Souverän auch so wenig Gesetze wie möglich geben soll. Es ist allerdings ein Liberalismus, der körperbasiert ist, insofern er Freiheit wesentlich vom Körper her denkt und sich auf die Kraft der Leidenschaften verlässt: Weil bei den meisten Menschen die Todesfurcht die stärkste Leidenschaft ist, wird es mit Hilfe dieser Leidenschaft einfach sein, überzogene Freiheitsvorstellungen oder absurde Jenseitsvorstellungen aus den Köpfen der Menschen „auszujäten“. Weil die meisten Menschen am Überleben und am sinnlichen Genuss orientiert sind, wird der Souverän am meisten Zustimmung finden, der durch Machtanhäufung glaubhaft den Tod abwehren kann und durch Gesetzgebung und wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen nicht nur den Tod abwehrt, sondern auch die Möglichkeit bereitstellt, dass die Menschen selbst ihren sinnlichen Lüsten nachgehen können: Hobbes’ liberale und wohlfahrtsstaatliche Politikempfehlungen sind eine notwendige Konsequenz einer körper­orientierten Politik. In einem zweiten Sinn folgt das Argument damit einer Logik des Körpers: Wenn die stärkste Leidenschaft für die meisten Menschen die Motivation für die Zustimmung zu einer Herrschaft darstellt, muss der an seiner Machterhaltung interessierte Souverän diese Motivation ernst nehmen und eine körperbasierte Politik betreiben, um sich der dauerhaften Zustimmung der Untertanen zu sichern. Hobbes’ Rede vom Körper als Gültigkeitskriterium des Vertrages hat genau den Sinn, den logischen Zusammenhang zwischen motivationalem Ausgangspunkt und konkreten Politikempfehlungen als daraus abgeleiteten machtstrategischen Konsequenzen zu verdeutlichen. Während Hobbes die Lehre vom Menschen als leidenschaftsbewegten Körper offen kommuniziert bzw. propagiert, ist er durchaus zurückhaltender damit, die Unterschiedlichkeit der Menschen hinsichtlich ihres Machtstrebens und ihrer intellektuellen Leistungsfähigkeit zu betonen. Beim Rechtsstaat, den Hobbes dem Souverän ebenfalls empfiehlt, handelt es sich daher nur um eine Fassade, unter der die Logik leidenschaftsbewegter und machtgieriger Körper brodelt. Die Fassade des Rechtsstaates wird aufrecht erhalten, weil sie Stabilität für den Souverän und Bereicherungsmöglichkeiten für die Mächtigen und Listigen bereit hält: Während ängstliche, arglose oder gutmütige Menschen den Gesetzen des Souve-

III. Der Status des kontraktualistischen Arguments

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räns gehorchen und sich an ihre im privatwirtschaftlichen Bereich geschlossenen Verträge halten, nutzen mächtige und listige Körper die Arbeitskraft, Ängstlichkeit und Unbedarftheit der sicherheitsorientierten Körper aus. Der Souverän kann die ängstlichen und arglosen Menschen sogar dazu benutzen, seine zukünftige Zustimmung zu vergrößern, indem er sie als Arbeitssklaven einsetzt, um das Projekt der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung voranzutreiben: Mittelbar kann der Souverän sich dadurch Zustimmung sichern, weil ein solch technologisch aufgerüsteter Staat erstens seine außenpolitische Macht vergrößern und dadurch die Aufgabe der Sicherung des Körpers vor äußeren Gefahren besser wahrnehmen kann und zweitens durch die Anhebung des Wohlstandsniveaus den sinnlichen Begierden zugearbeitet wird, die ihrerseits eine Grundlage für die Zustimmung zur Herrschaft des Souveräns darstellen. Dass das kontraktualistische Argument damit nur ein perfides Mittel ist, sich die Zustimmung der Untertanen zu sichern und die Logik des Naturrechts des stärkeren und listigeren Körpers nie aufgegeben wurde, zeigt ein Blick auf die Außenpolitik: Der Souverän kann die Gründung seiner Rechtmäßigkeit auf die Sicherung des Körpers sogar dazu benutzen, sich der Zustimmung des Volkes zu einer extrem expansionistischen und machtgeleiteten Außenpolitik zu versichern. Das Bild des politischen Körpers dient dabei dazu, die Einheitlichkeit des Willens des Souveräns und des Volkes vorzutäuschen: Während der Souverän primär an seinem Machterhalt und der Vergrößerung seiner Macht interessiert ist, glaubt das Volk, dass der Souverän das Volk – seinen politischen Körper – schützen wolle. In einem dritten Sinn folgt das Argument also einer politischen Logik des Körpers: Wenn Hobbes davon ausgeht, dass Krieg und List natürliche Tugenden sind, mit denen sich stärkere Körper durchsetzen können und das natürliche Recht des Menschen soweit reicht, wie seine körperlichen und (damit zusammenhängenden) intellektuellen Kräfte­ reichen, dann ist es nicht verwunderlich, wenn diese Logik des (stärkeren) Körpers auch Eingang in den vermeintlich zivilisierten gesellschaftlichen Zustand findet. Das kontraktualistische Argument folgt also in mehrfacher Weise einer politischen Logik des Körpers: Erstens ist das Argument auf die sinnlichen Leidenschaften gegründet, weil dies bei den meisten Menschen die stärksten Leidenschaften sind und daher die besten Erfolgsaussichten bieten, Menschenkörper zu bewegen. Zweitens führt diese Logik des Körpers zu konkreten, auf den Körper gerichteten Politikempfehlungen, die den machtstrategischen Zusammenhang zwischen motivationalem Ausgangspunkt der Zustimmung zur Herrschaft und der notwendigen inhaltlichen Ausrichtung der Herrschaft, um sich diese Zustimmung dauerhaft zu sichern, ausbuchstabiert. Drittens folgt das Argument einer ­Logik des stärkeren Körpers: Die körperlichen und intellektuellen Unterschiede, die im gesellschaftlichen Zustand verschwiegen werden sollen, wirken sich als Recht des stärkeren Körpers gleichwohl auch im gesellschaftlichen Zustand aus. Auch in einer vierten Hinsicht kann das Argument als Ergebnis einer Körperorientierung verstanden werden: Wenn das Universum körperlich ist und der Mensch in diesem mechanistisch-materialistischen Universum nichts erkennen kann, dann folgt als

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B. Die politische Logik des Körpers

politische Logik aus dem Korporealismus bzw. Skeptizismus auch ein Dezisionis­ mus bzw. die politische Konsequenz, dass es eines souveränen Entscheiders bedarf, um Recht zu setzen. Die politische Logik des Körpers führt dazu, dass die (nahezu) absolute Unterwerfung, also das, was von einigen Autoren als „freiheitstheoretische Paradoxie“ vorgestellt wird, unter praktischen Gesichtspunkten durchaus einer bestimmten Logik folgt: Wenn die meisten Menschen Freiheit als körperliche Freiheit verstehen und die Todesfurcht als stärkste Leidenschaft besitzen, kommt Hobbes’ Überzeugung, dass die meisten Menschen sich zum Zwecke des Überlebens blind Diktatoren – custodes libertatis – ausliefern würden, durchaus eine gewisse Folgerichtigkeit zu. Das kontraktualistische Argument kann also als ein Argument verstanden werden, welches in mehrfacher Weise einer Logik des Körpers folgt: Als argumentum ad hominem geht das kontraktualistische Argument von denjenigen Meinungen aus, die der Gesprächspartner bereits als wahr voraussetzt, ohne dass diese Meinungen selbst Gegenstand einer weiteren Überprüfung sind. Hobbes’ Aufforderung an den Leser, die im Leviathan dargelegte Lehre über den Menschen mit den eigenen Leidenschaften zu vergleichen, weil diese Lehre keine andere Beweisführung zuließe, lässt sich daher auch als Eingeständnis lesen, dass das kontraktualistische Argument nur diejenigen Menschen überzeugen wird, die die Prämisse der Todesfurcht als größtes Übel teilen. Der Hinweis in der Einleitung, dass ein solches Wissen vom Menschen bzw. von menschlichen Leidenschaften notwendig wäre, um eine ganze Nation zu regieren, ist aber möglicherweise gar nicht als Hinweis darauf zu werten, dass Hobbes mit dem Leviathan ein Beratungshandbuch vorlegen wollte: Zwar sind einige Schlussfolgerungen aus den anthropologischen Prämissen durchaus aus der Perspektive des Souveräns formuliert: Wenn dieser seine Macht sichern will, sollte er nicht nur das Überleben seiner Unter­tanen sichern, sondern darüber hinaus auch eine liberale Politik mit rechtsstaatlicher Fassade und wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen betreiben. Dennoch weisen ebendiese anthropologischen Prämissen auch auf eine mögliche andere Intention hin: Wenn das Machtstreben verschiedene Facetten annehmen kann und auch das Streben nach Wissen nur ein Ausdruck dieses Machtstrebens ist, dann hat derjenige, der den Mechanismus der Leidenschaften entschlüsselt hat und diesen effektiv einsetzen kann, vielleicht die größte Macht. Die praktische Zielsetzung liegt dann möglicherweise eher darin, dass ein Philosoph eine nützliche Philosophie formuliert, um dadurch seinen eigenen Ruhm in der Nachwelt zu sichern und durch den Schulterschluss mit der Macht deren Ansehen und Einfluss in der Öffentlichkeit zu stärken. Auch der Philosoph wäre dann nicht mehr als ein leidenschaftsgetriebener Körper, der sich seine Bewegungsrichtung von der ihn bestimmenden Leidenschaft – dem Streben nach Wissen, das für Hobbes nichts anderes als ein Streben nach Macht ist – vorgeben lässt.

C. Fazit: Hobbes’ körperbasierter Liberalismus: Einsichten für das 21. Jahrhundert Inwiefern kann eine solche Arbeit über Thomas Hobbes, einen lange verstorbenen Philosophen, aus der Perspektive einer modernen Politikwissenschaft relevant sein? Gerade dann, wenn man die Grundprämisse von Hobbes, dass Wissenschaft eine primär praktische Zielsetzung verfolgt, teilt1 – und es gibt gute Gründe, diese Prämisse in ihrer Einseitigkeit zu verwerfen – könnte man fragen: Ist es nicht eine rein theorieverliebte Spielerei, ein Argument angemessen rekonstruieren zu wollen und kann das Ergebnis seiner theoretischen Schwäche – der biopolitischen Aporie – über den theoretischen Erkenntnisgewinn hinaus irgendeinen Mehrwert haben? Was für eine praktische Bedeutung könnte es für uns heute haben, wenn wir den Leviathan als ein Buch verstehen, welches einer praktischen Zielsetzung verpflichtet ist und davon ausgehen, dass Hobbes Menschen mit stärkeren Leidenschaften empfiehlt, das Argument zu verwenden, um andere Menschen für sich auszunutzen? Kann eine Arbeit, die zeigt, dass der Begriff des Körpers für die politische Philosophie von Thomas Hobbes, wie diese im Leviathan formuliert wird, fundamental ist und diese nicht ohne jenen verstanden werden kann, irgendeine praktische Bedeutung haben? Kann Hobbes tatsächlich – wie in der Ein­ leitung behauptet wurde – einen Beitrag dazu leisten, aktuelle Probleme liberaler Demokratien zu erkennen oder gar zu lösen? Ich möchte im Folgenden abschließend dafür argumentieren, dass Hobbes uns einerseits tatsächlich dabei helfen kann, drängende Probleme der liberalen Demokratie zu identifizieren, dass er uns darüber hinaus andererseits aber auch Impulse für die konstruktive Lösung dieser Probleme liefern kann. In einem ersten Schritt argumentiere ich dafür, dass die theoretische Schwäche des körperbasierten Kontraktualismus zu einem praktischen Problem für die liberale Demokratie werden kann, weil sie zu einer Delegitimierung der liberalen Demokratie führt, die für deren zukünftige Entwicklung nichts Gutes verheißt. In einem zweiten Schritt argumentiere ich dafür, dass Hobbes’ körperbasierter Liberalismus eine mögliche Erklärung für die Gewaltbereitschaft liberaler Demokratien liefert und uns insofern dabei hilft, ein weiteres Problem liberaler Demokratien besser zu

1 Vgl. LD 5, 37: „Die Vernunft ist der Schritt, die Mehrung der Wissenschaft der Weg und die Wohlfahrt der Menschheit das Ziel.“ Vgl. ebenfalls LD 8, 56: „Die Leidenschaften, die am stärksten von allen die Verstandesunterschiede bewirken, sind hauptsächlich das mehr oder weniger starke Verlangen nach Reichtum, Wissen und Ehre. Sie alle können auf das erste, nämlich auf das Verlangen von Macht zurückgeführt werden. Denn Reichtum, Wissen und Ehre sind nur verschiedene Arten von Macht.“

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C. Fazit: Hobbes’ körperbasierter Liberalismus

verstehen. In einem dritten Schritt möchte ich zeigen, dass Hobbes’ Beitrag kein rein negativer bleiben muss, sondern man von Hobbes auch lernen könnte, mit­ Hobbes über die gegenwärtigen Probleme eines körperbasierten Liberalismus hinauszugehen.

I. Das demokratiepolitische Problem der biopolitischen Aporie Von welcher Relevanz kann die theoretische Schwäche des körperbasierten Kontraktualismus für die heutige liberale Demokratie sein? Inwiefern kann sich etwas Nichtkörperliches – ein Argument – und dessen logische Schwäche praktisch auswirken? Argumente haben auch dann praktische Relevanz, wenn sie Handlungen motivieren oder zur Rechtfertigung von Handlungen verwendet werden. Ein Argument kann beispielsweise dann zu einem praktischen Problem werden, wenn seine theoretische Schwäche – die biopolitische Aporie – dazu führt, dass die liberale Demokratie die Zustimmung und Unterstützung ihrer Bürger verliert. Im Folgenden soll für die These argumentiert werden, dass der biopolitischen Aporie des kontraktualistischen Arguments genau aus diesem Grund eine praktische – nämlich eine demokratiepolitische – Bedeutung zukommt. Versteht man eine Demokratie nicht nur als ein Institutionensystem, sondern auch als eine Staatsform, die für ihr Funktionieren auf eine politische Kultur angewiesen ist – beispielsweise darauf, dass die Bürger eine gewisse Vorstellung von Freiheit und Gleichheit teilen – dann ist es, um die Qualität und Entwicklungsoptionen liberaler Demokratien beurteilen zu können, notwendig, sich mit dieser politisch-kulturellen Grundlage zu beschäftigen. Geht man darüber hinaus davon aus, dass politische Kulturen nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern geschichtlich wachsen und auf Ideen basieren, die oftmals bereits vor Jahrhunderten entwickelt wurden, dann erfordert eine solche Qualitätsanalyse ideen­ geschichtliche Betrachtungen.2 Die Auffassung, dass Thomas Hobbes einen starken Einfluss auf die Herausbildung der westlichen Verfassungsstaaten hatte und, wenn nicht als Vertreter, dann zumindest als Vorbereiter des Liberalismus angesehen werden kann, stellt, wie im eingehenden Forschungsüberblick dargestellt wurde, heute eine breit geteilte Auffassung dar. Der angelsächsische Kontraktualismus mit seiner spezifischen legitimationstheoretischen Kombination von vorstaatlichen, körperbezogenen Rechten und der individuellen Zustimmung zu einem Staat, dessen Legitimität an der Abwehr des Todes und der Sicherung dieser Rechte gemessen wird, hatte, vor allem über das Werk John Lockes, eminenten 2

Die These, dass eine solche Beschäftigung mit den ideengeschichtlichen Grundlagen liberaler Demokratien einen Beitrag leisten kann, interne Gefährdungen liberaler Demokratien zu identifizieren, entwickelte Kauffmann bereits 2008 in seinem Aufsatz Vom Exodus zur Kolonisierung der Natur. Biopolitik als Delegitimierung der liberalen Demokratie.

I. Das demokratiepolitische Problem der biopolitischen Aporie

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Einfluss auf Menschenrechtserklärungen und die Ausbildung der westlichen Verfassungsstaaten. Auch im 21. Jahrhundert noch stecken Momente des angelsächsischen Kontraktualismus den argumentativen Rahmen ab, innerhalb dessen Streitigkeiten über Rechte und Pflichten der Bürger und des Staates diskutiert werden.3 Im Umgang des Staates mit Leben und Tod seiner Bürger zeigt sich indessen das Problem eines solchen körperbasierten Liberalismus. Auch wenn liberale Staaten offizielle Todesdefinitionen vermeiden und zu Hilfskonstruktionen greifen, die die Definition des Todes scheinbar der naturwissenschaftlichen Medizin überlassen,4 setzen Staaten de facto in ihrem Handeln immer schon ein bestimmtes Verständnis von Leben und Tod voraus: Egal, ob ein Staat über Sterbehilfe berät und damit voraussetzt, dass der Tod u. U. ein Gut sein kann, ob er eine Regelung erlässt, ab welchem körperlichen Zustand nicht mehr lebensverlängernde Maßnahmen um jeden Preis durchgeführt werden, oder ob er ein Gesetz erlässt, welches Sterbehilfe verbietet: Jedes Mal setzt der in einem solchen Sinn handelnde Staat de facto ein bestimmtes Verständnis von Leben und Tod voraus. Das argumentlogische Problem einer solchen staatlichen Lebens- bzw. Todesdefinition besteht nun darin, dass sie mit den Prämissen des kontraktualistischen Arguments nicht zu vereinbaren ist und das Argument damit außer Kraft setzt. In unserer körpertheoretischen Deutung des kontraktualistischen Arguments hatten wir gezeigt, dass die vorausgesetzte Motivation dafür, dass Menschen dem staatsbegründenden Vertrag zustimmen, diejenige ist, ein Übel (den gewaltsamen Tod) abzuwenden bzw. sich ein Gut (das angenehme Leben) zu sichern. Weil nur ihre je private Auffassung vom Tod bzw. von einem angenehmen Leben sie zum Vertragsschluss motiviert, kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie einem Vertrag zustimmen würden, in dem sie den durch den Vertrag entstehenden Staat ermächtigen, zu bestimmen, ob und wieweit dieser seiner Schutzfunktion nachkommt. Mit einer Gesetzgebung, die Sterbehilfe verbietet (oder ähnlichen bio­ politischen Initiativen) setzt der Staat aber de facto ein bestimmtes Verständnis von Leben voraus: Auch ein Leben unter Schmerzen, welches von den Betroffenen als qualvoll und entwürdigend betrachtet wird, wird hier möglicherweise als Leben verstanden. Denkbar ist auch der umgekehrte (unwahrscheinliche, aber das argumentlogische Problem zeigende) Fall, dass Staaten alle über 60-Jährigen aus

3 In meinem Aufsatz Die Selbstgefährdung der liberalen Demokratie in der Biopolitik. Plädoyer für eine zweifache Ergänzung demokratietheoretischer Krisendiagnosen (Odzuck 2014a) illustriere ich die These von der demokratiepolitischen Bedeutung der biopolitischen Aporie an einem aktuellen Beispiel. Ich analysiere dort die Argumente, die zur Rechtfertigung staatlichen Handelns bzw. bürgerlicher Rechte herangezogen werden und versuche durch diese Analyse die Kontinuität des angelsächsischen Kontraktualismus in der politischen Kultur liberaler Staaten nachzuweisen. Auf derartige Nachweise wird an dieser Stelle verzichtet. 4 Mit dieser Zuweisung der Definitionsmacht an die Medizin beschäftigt sich Lachenmeier aus kritischer Perspektive in seiner Studie Der Tod im liberalen Staat. Die Definitionsmacht des Rechts über den Todeszeitpunkt (Lachenmeier 2008).

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C. Fazit: Hobbes’ körperbasierter Liberalismus

Kostengründen für tot erklären. Es handelt sich also bei einer de facto vorausgesetzten Todesdefinition um einen Eingriff in die Prämissen desjenigen Argumentes, mit dem der Staat seine Legitimität sichern will. Durch diesen Eingriff wird das Argument als Legitimationsgrundlage ungültig. Durch den Verlust dieser Legitimationsgrundlage, die als normatives Selbstverständnis die öffentliche Rechtfertigung von Normen bestimmt, ist die liberale Demokratie in ihrem Bestand und ihrer Qualität gefährdet: Ein Staat, der seine Legitimität darauf gründet, dass er sich als mögliches Ergebnis eines freiwillig eingegangenen Vertrages präsentiert, verliert diese Legitimität, wenn man sich nicht mehr vorstellen kann, dass Menschen einem solchen Vertrag freiwillig zustimmen würden. Aber auch die andere von liberalen Demokratien gewählte Option, mit einer rechtlichen Anerkennung von Patientenverfügungen bzw. mit der Erlaubnis von gewünschter Sterbehilfe dem körperlichen Selbstbestimmungsrecht der Bürger Rechnung zu tragen, macht das körperbasierte kontraktualistische Argument ungültig: Eine einheitliche Vorstellung vom Leben ist, wenn das Wechselseitigkeitskriterium normative Verbindlichkeit beansprucht, die Voraussetzung für einen gültigen Vertrag. Gibt ein Staat die Todesdefinition in die private Hand, greift er damit ebenfalls in die Prämissen desjenigen Arguments ein, auf dem seine Legitimität beruht: Wenn die Gehorsamspflicht der Bürger nur soweit reicht, wie der Staat seine Schutzfunktion erfüllt, aber jeder Bürger selbst entscheidet, was unter einem angemessenen Schutz zu verstehen ist, dann können gleiche Rechte und Verpflichtungen für alle Bürger vom Staat nicht garantiert werden. Auch mit dieser Variante entzieht sich die liberale Demokratie also ein zentrales Legitimationsmuster und gefährdet sich damit selbst. Ein liberaler Staat, der einem körperbasierten Liberalismus folgt und sich primär durch die Todesabwehr legitimieren möchte, steht in der Biopolitik, d. h. in dem Politikfeld, in dem er das Leben und Sterben der Menschen regelt, vor einem Dilemma: Er ist, um seine Rechtmäßigkeit zu sichern, zu einem Handeln gezwungen, das seine Rechtmäßigkeit zugleich in Frage stellt. Die biopolitische Aporie des körperbasierten Kontraktualismus führt damit notwendigerweise zu einer Delegitimierung der liberalen Demokratie in der Biopolitik: Weil die liberale Demokratie in der Biopolitik – egal, wie sie handelt – die Voraussetzungen dafür beseitigt, dass sie als Ergebnis eines freiwilligen, wechselseitigen, zum Zwecke der Todesabwehr geschlossenen Vertrages begriffen werden kann, und der angelsächsische Kontraktualismus eine ihrer wesentlichsten Legitimationsgrundlagen ist, gefährdet sie sich in der Biopolitik notwendigerweise selbst. Die Relevanz der theoretischen Schwäche des kontraktualistischen Argumentes besteht also darin, dass sie das brüchige Fundament eines wichtigen Legitimationsmusters liberaler Demokratien offenbart und damit auf ein mögliches Problem der zukünftigen Entwicklung derselben hinweist. An einem solchen brüchigen Fundament festzuhalten, würde bedeuten, in Kauf zu nehmen, dass die Zustimmung zur liberalen Demokratie schwindet, weil der Glaube an ihre Rechtmäßigkeit abnimmt. Während Thomas Hobbes in der bioethischen Diskussion bisher kaum eine Rolle

II. Das Problem des machtphilosophischen Fundaments

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spielte,5 scheint eine Beschäftigung mit Hobbes aus einer demokratietheoretischen, die legitimatorischen Grundlagen liberaler Demokratien in den Blick nehmenden Perspektive dennoch lohnenswert zu sein. Gerade im 21. Jahrhundert, in dem der immense technologische Fortschritt den Menschen zwingt, die Frage nach der Richtung, die diese Entwicklung nehmen soll, neu zu stellen, kann H ­ obbes daher ein relevanter Gesprächspartner sein, insofern bestimmte legitimatorische Grundlagen der liberalen Demokratie und deren Schwäche in seiner politischen Philosophie deutlich hervortreten.

II. Das Problem des machtphilosophischen Fundaments Einen Beitrag dazu, bestimmte Probleme besser zu verstehen, kann Hobbes ebenfalls leisten dadurch, dass man von ihm lernen kann, dass die Gewaltbereitschaft des körperbasierten Liberalismus vielleicht nicht (nur) ein Überrest theologischer Tiefenstrukturen ist, sondern auch mit der scheinbar so säkularen politischen Logik des Körpers gut harmoniert. Für die Zielsetzung einer vernünftigen, rechtliche Freiheit und Gleichheit verbürgenden, friedlichen Ordnung ist das Fundament eines körperbasierten Liberalismus möglicherweise keine ausreichende Grundlage. Wie Haltern zurecht bemerkte, ist das 20. Jahrhundert nicht nur dasjenige mit der größten Verrechtlichung gewesen, sondern auch dasjenige, das unfassbare zwischenstaatliche Gewalt kannte.6 Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert zweier Weltkriege und das Jahrhundert der Nuklearwaffen. Wir können hinzufügen, dass die Rechtsstaaten des 21. Jahrhunderts nicht nur nach außen, sondern auch nach innen hin zunehmend gewaltbereit sind. Die Foltergefängnisse in Abu Ghraib sind dabei nicht immer so weit entfernt von der kontinentalen Wahrnehmung des Politischen, wie es Haltern durch seine These der anders gearteten politischen Theologie der USA suggeriert.7 Auch im Inneren des deutschen Rechtsstaates wurde die Rechtmäßigkeit der Folter (bzw. der Androhung von Folter) im Nachgang der Entführung um Jakob von Metzler 2002 erstaunlich offen in Betracht gezogen. Die Erwägung, Gewalt gegen die eigenen unschuldigen Bürger zu gebrauchen und die 5

Vgl. Eggers 2011, 285: „Die oben angedeutete Sichtweise, Hobbes verfüge über keine Ethik, die diesen Namen verdiene, ist in der jüngeren Vergangenheit mehr und mehr der Bereitschaft gewichen, auch die Hobbes’sche Moralphilosophie als ethische Theorie anzuerkennen. Auch unter denen, die dieser Auffassung zustimmen, gibt es aber wenige, die ­Hobbes’ Schriften für den geeigneten Ort halten würden, um Antworten auf moderne bioethische Frage­stellungen zu finden, und dies mit gutem Grund.“ 6 „Das 20. Jahrhundert war sowohl das Jahrhundert der umfassenden Verrechtlichung als auch das Jahrhundert unvorstellbarer zwischenstaatlicher Gewalt“ (Haltern 2007, 7). 7 „Die Protestantisierung der deutschen Imagination des Politischen verstellt Zugang und Verständnis für katholische Imaginationen, die Wunder und Opfer im Mittelpunkt sehen und mit der geistesgeschichtlichen Genealogie von Souveränität in unvermittelten Kontakt treten. Daher ist der Blick etwa auf die Vereinigten Staaten manchmal befremdlich. Deren Anders­ artigkeit politischer Imagination erscheint uns manchmal bewundernswert, manchmal erschreckend und abstoßend, aber nicht selten fremd.“ (Haltern 2007, 88 f.).

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C. Fazit: Hobbes’ körperbasierter Liberalismus

Bereitschaft, eine Anzahl von Bürgern zur Abwehr des Todes anderer Bürger zu opfern, zeigte sich ebenfalls im Zusammenhang mit dem später als verfassungswidrig eingestuften Luftsicherheitsgesetz. Wenn man berücksichtigt, dass liberale Staaten – entsprechend dem körperbasierten Liberalismus – einen guten Teil ihrer Legitimität aus der staatlichen Aufgabe der Todesabwehr beziehen, wird eine solche Gewalt­bereitschaft liberaler Demokratien durchaus zu einem Teil erklärbar: Wenn man annimmt, dass Recht aufgrund der Schwäche der Vernunft allein durch Gewalt und Dezision entsteht und die Todesabwehr zum höchsten Staatsziel wird, wird deutlich, weswegen der Einsatz aller Mittel erwogen wird, um dieses Ziel zu erreichen. Ohne diese Beispiele an dieser Stelle vertiefen zu wollen, kann zumindest gefragt werden, ob die Gewaltbereitschaft liberaler Demokratien ihre Ursache vielleicht auch in einem Denken haben könnte, welches den Menschen ausschließlich als leidenschaftsgetriebenen Körper ansieht und der Vernunft nicht zutraut, Recht zu erkennen. Wohlgemerkt geht es hier nicht darum, selbst dafür zu argumentieren, dass eine an Gewalt orientierte und fundamentale Ungleichheiten in Kauf nehmende Politik schlecht ist (oder eine an Frieden, Verständigung und Gleichheit orientierte Politik gut), sondern darum, die mögliche Verbindung zwischen dem körperbasierten Liberalismus und einer solchen Orientierung an Gewalt und Ungleichheit zu erwägen. Eine solche Überlegung scheint uns deswegen nützlich zu sein, weil der körperbasierte Liberalismus von Hobbes nicht als ein solcher gesehen wird, sondern – vor allem durch eine stetig an Boden gewinnende Deutungsfamilie in den USA – als eine Philosophie des Friedens, der Gleichheit und des Umweltschutzes gepriesen und deswegen als geeignete und wünschenswerte moralische Grundlage der liberalen Demokratie angesehen wird. Samantha Frost, die – im Gegensatz zum Mainstream der Hobbes-Forschung – der Körperlichkeit in Hobbes’ politischer Philosophie eine herausgehobene Stellung einräumt, kommt etwa zu dem Ergebnis, dass seine politische Philosophie im Dienste des Friedens stehe und sich darüber hinaus perfekt zur Begründung ökologischer Ziele verwenden lasse.8 Kinch Hoekstra hält ebenfalls den Frieden 8

„As this discussion begins to demonstrate, contrary to the popular association of his name with the brutality and inevitability of war, Hobbes is something of a peacenik. In his view, peace must be a prominent characteristic of our interactions and a defining feature of the polity. […] Indeed, we might see his use of bodily metaphors and similes throughout his political theory as his effort to convey the quality and significance of our interdependence even as we understand that politics is the product of convention. If we conceive of his arguments as a political ecology, then not only does Hobbes require that we strive for peace in all our interactions. He also demands that we consider carefully the kinds of futures that we make possible – and that we foreclose – if we persist in the myopic fantasy of autonomy and self-sovereignty“ (Frost 2008, 171 f.). Frost stellt eine Lesart von Hobbes vor, die sowohl die Zentralität der Körperlichkeit, als auch die herausgearbeiteten Täuschungsabsichten unserer Deutung bestätigt, allerdings zu völlig anderen Schlussfolgerungen kommt: „Hobbes contends that our presentation of ourselves as disposed to peace – even if faked – is ethical if it contributes to the project of constituting an environment in which peace appears to be possible. His judgment that such

II. Das Problem des machtphilosophischen Fundaments

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für das primäre philosophische Ziel von Hobbes9 und beurteilt seine Theorie der Gleichheit bzw. der Reziprozität als mögliche Orientierung für die liberale Demokratie.10 Auch Claire Finkelstein hält das Gebot der Unparteilichkeit nicht etwa für eine Klugheitsregel, sondern für ein natürliches Gesetz und eine Pflicht des Menschen.11 Etwas ausgewogener im Urteil ist Susanne Sreedhar, die bemerkt,­ Hobbes habe zwar eine attraktive Politik der Gleichheit und der Wohlfahrtsstaatlichkeit entwickelt, dies jedoch vielleicht aus den falschen Gründen; sie geht in ihrer Einschätzung jedoch ebenfalls davon aus, dass für Hobbes Frieden das oberste Ziel darstelle.12 Sharon Lloyd schließlich behauptet, die Aktualisierungserwägungen der bisher zitierten Hobbes-Forscher offensiv steigernd, dass Hobbes nicht nur das drängendste Problem der heutigen Zeit erkannt habe, sondern auch die erfolgversprechendste Strategie zu dessen Lösung.13 Lloyd scheint dabei nicht nur Hobbes zu dissimulation is ethical, even if it is informed by self-interest, calls into question the common presumption that ethical behavior is defined solely by its attentiveness to others […]“ (Frost 2001, 49). Nach Frost solle jeder eine Friedensorientierung vortäuschen – wenn er dies nicht täte, würde er aus der Gemeinschaft verständlicherweise ausgeschlossen: „Nevertheless,­ Hobbes is no theorist of universalism. In his theory, there is exclusion, but the lack of political recognition afforded to ‚unintelligible‘ subjects is a consequence not of what they are but of their refusal to ethical posture“ (Frost 2001, 50). 9 Vgl. Hoekstra 2006, 57: „As Hobbes thinks that the ultimate aim of philosophical pronouncements is to produce human commodity, and that the paramount benefit is peace and security, it may be better to evaluate them as what we might call ‚peace claims‘, that is, as pronouncements designed to engineer obedience and produce peace.“ 10 Vgl. Hoekstra 2013, 77 und 110 f.: „I maintain that close scrutiny of Hobbes’s argumentative strategies reveals a view of equality that is worth considering today. […] Although this must here remain a mere suggestion, it may be that the practical need to treat others as equals is a firmer foundation for a more attainable politics. Such a politics would emphasize the communicative and symbolic, but would not be merely gestural. This can be seen by considering Hobbes’s own version of such a politics, which is more substantial and directive than it may initially appear to be.“ 11 Vgl. Finkelstein 2013, 176 f.: „And this supplies us with yet one more reason to reject the conception of human beings as straight-forward, maximizing egoists. For if equity is a law of nature, it is characteristic that men can display in the state of nature. It is not an ‚artificial‘ but a ‚natural‘ virtue, and hence one that human beings are duty-bound to develop in foro interno.“ 12 Vgl. Sreedhar 2013a, 169: „Furthermore, even Hobbes’s most ‚attractive‘ policies regarding ‚public charity‘ and the provision of basic necessities, as well as his justification for equal treatment under the law, are based not on equal dignity or worth of persons but on a pragmatic desire to avert crime, violence or vengeance. […] Arguably, therefore, he promotes equality and social welfare for the ‚wrong‘ reasons, seeing them only as instrumentally valuable for the maintenance of peace and stability, and not at all as intrinsically valuable.“ 13 „This is perhaps the most pressing problem of our world. Many of the religious conflicts, and ethnic conflicts, and pride and blood feuds we confront every day seem to have the ‚force resistant‘ character of transcendent interests. So we need  a theory that addresses disorder fueled by transcendent interests, and Hobbes was the first to have made significant progress toward designing such a theory. The real Hobbes brought an astounding intellect to bear on one of the most pressing problems of human life, and suggested what, to my knowledge, is the most promising strategy for solving it“ (Lloyd 2009, 407).

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C. Fazit: Hobbes’ körperbasierter Liberalismus

unterstellen, dass er den Frieden der Freiheit vorziehe, sondern mit dieser Position auch selbst zu sympathisieren.14 Sie vertritt auf der einen Seite die These, es lasse sich mit Hobbes ein Verfassungsstaat machen, und beharrt darauf, dass es „konzeptuellen Raum“ gebe, aus Hobbes’ System eine sichereres System zu formen.15 Auf der anderen Seite gesteht sie jedoch in überwältigender Offenheit zu, dass es eines letzten Entscheiders, einer von allen gemeinsam anerkannten Autorität bedürfe, um Kampf zu vermeiden. Eine von allen anerkannte Autorität, ein Schiedsrichter mit absoluter, rechtssetzender Kompetenz, sei die einzige mögliche Lösung für das Naturzustandsproblem.16 Die Kampfbereitschaft dieser angeblich so friedensförderlichen Philosophie räumt Lloyd nicht nur dadurch ein, dass sie die Naturzustandsbeschreibung – der notwendige Kampf ohne die Existenz eines letzten Entscheiders – von Hobbes akzeptiert. Sondern sie räumt in einem anderen Kontext, in dem sie die Notwendigkeit eines letztinstanzlichen Schiedsrichters ebenso betont, durchaus ein, dass Fälle denkbar sind, in dem Bürger mit dem Urteil ihres Schiedsrichters nicht einverstanden sein werden. Auch hier stellten Gewalt und Kampf die einzige Handlungsmöglichkeit dar.17 Obwohl Lloyd also diese notwendig gewalt­ tätige Konsequenz eines solchen vernunftreduzierten Liberalismus18 anerkennt, beharrt sie darauf, dass der – aus der Reziprozitätsorientierung angeblich folgende 14 „That Hobbes’s theory selected as the appropriate mechanism  a sovereign authority e­ xplains why it is so terrifying. Deference to authority is dangerous. No one wants to subject herself to the power of others. Machiavelli says we care much less for exercising power over others than we do for escaping their exercise of power over us. For almost all of us that is true, and so Hobbes’s solution cannot be anything but terrifying. But civil war is also dangerous.“ (Lloyd 2009, 407). 15 „And there is plenty of conceptual room in Hobbes to design  a system of sovereign government that contains constitutional constraints and the balancing of power to check arbitrariness and corruption. There is room to design a safer system“ (Lloyd 2009, 407 f.). 16 „The central feature of Hobbes’s insight that gives it promise as a solution is its insistence on our developing out of our existing ideals and interests a principled attachment to settled mechanisms for adjudication of our disputes. […] The only requirement of Hobbesian sovereignty is that we be able to resolve every question. It must be a system sufficiently nimble to provide a complete resolution mechanism for every dispute. The buck must stop somewhere. And we must share a principled commitment to accept that public authority. Failing that, we’ll have no choice but to ‚appeal to heaven‘ by fighting it out“ (Lloyd 2009, 407 f.). 17 „To avoid an interminable regress, all parties must agree to let the buck stop somewhere. That somewhere, Hobbes termed a sovereign. And when they really cannot live with the decisions of that authoritative judge, they will defy the requirements of reason and wage war to reshuffle the deck, as Hobbes recognizes“ (Lloyd 2009, 289, Hervorhebungen E. O.). 18 Wenngleich Lloyd an anderen Stellen durchaus vorsichtig dabei ist, Hobbes als Libe­ ralen zu charakterisieren, kennzeichnet sie ihn an einer zentralen Stelle durchaus offen als liberal und meint damit die Bereitschaft, auf Urteile mit Wahrheitsanspruch zu verzichten: „His views turn out to be, perhaps surprisingly, liberal, if liberals are those who take seriously the claims of their opponents and seek to resolve disputes in a way that can be justified to all willing reciprocally to take seriously the claim of their opponents. In just this way Hobbes’s Law of Nature (the reciprocity theorem) requires men to submit mutually to authoritative arbitration with all willing others. According to Hobbes, disagreeing with others, but affording them the consideration we claim due to ourselves as the reciprocity theorem requires, we must submit to fair arbitration“ (Lloyd 2009, 288 f.).

II. Das Problem des machtphilosophischen Fundaments

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Urteilsverzicht und die Unterwerfung unter einen neuen Schiedsrichter die einzige Möglichkeit darstellt, Frieden zu stiften.19 Durch Erziehung könnte man Menschen, die – wie Hobbes nach Lloyd meint, einen starken Wunsch nach der Rechtfertigung ihrer Handlungen haben – eine solche notwendige Konsequenz nahelegen. Der Optimismus, mit dem Lloyd das vermeintliche Erziehungsprogramm von Hobbes liberalen Staaten anempfiehlt, zeigt sich im Untertitel ihres ersten ­Hobbes-­ Buches The power of mind over matter: Durch Argumente und Vernunftgründe würden Menschen, die den Wunsch nach der Rechtfertigung ihrer Handlungen hätten, die Notwendigkeit eines unparteilichen Schiedsrichters einsehen. Nach unserer Rekonstruktion liegt Hobbes’ kontraktualistischem Argument aber gerade eine gegenteilige Annahme zu Grunde: Weil die Vernunft zu schwach ist und der Wunsch, als jemand edelmütiges zu gelten, selten verbreitet und in der Regel nicht kräftig genug ist, muss, um Menschen zum Handeln anzutreiben, auf die Kraft der Leidenschaften gesetzt werden. Weil die Vernunft nicht in der Lage ist, Natur und damit Recht und Unrecht zu erkennen, gilt das Naturrecht des stärkeren und listigeren Körpers. Wenn unsere Rekonstruktion des körperbasierten Liberalismus von Thomas Hobbes richtig und das kontraktualistische Argument ein Leidenschaftsappell ist, der ängstliche Menschen zum Gehorsam bewegen soll und es mächtigen Menschen erlaubt, sich ungestört an diesen ängstlicheren zu bereichern, dann bedeutet das jedoch, dass ein bestimmtes Ziel – eine Ausrichtung auf Frieden, Reziprozität und Gleichheit – mit Hobbes nicht gut erreicht werden kann. Wenn Hobbes’ Thesen über die Verschiedenheit menschlicher Leidenschaften und die Stärke von Leidenschaftsappellen zutreffen, wäre eine Orientierung an Hobbes’ Moralphilosophie bzw. an seinem Programm politischer Bildung, wie Lloyd dies vorschlägt, für diese Ziele möglicherweise sogar kontraproduktiv, weil sie dann nur die Gewaltbereitschaft und Übervorteilungslust weniger Macht­ gieriger unterstützen und fördern würde. Die körpertheoretische Deutung des kontraktualistischen Arguments könnte gerade deswegen relevant sein, weil es derzeit Tendenzen gibt, Hobbes’ praktischen Einfluss auf die liberale Demokratie noch zu verstärken und seinen Kontraktualismus als gleichheitsorientierte und friedensfördernde Theorie politischer Bildung liberaler Demokratien zu propagieren. Der Nachweis, dass der Hobbes’sche Kontraktualismus zumindest nicht die gleichheits- und friedensorientierte Philosophie ist, für die er vielfach gehalten wird, sondern seinen Ursprung in einer gewaltbereiten Machtphilosophie hat, könnte der demokratischen Selbstverständigung also – zusätzlich zu dem Nachweis der theoretischen Schwäche – eine breitere Grundlage für die Beurteilung der Frage, ob am körperbasierten Liberalismus festgehalten werden soll, liefern. 19

„But they won’t be able to settle a new peace, unless and until they and their adversaries are willing once again to be guided by reason in its demand to submit to authoritative ad­ judication of contested questions. This is the way in which reason dictates reciprocity and reciprocity lays the foundation for peace“ (Lloyd 2009, 289).

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C. Fazit: Hobbes’ körperbasierter Liberalismus

III. Worte und Taten, oder: die Zukunft des Liberalismus Es ist an der Zeit, den Ausgangspunkt unserer Arbeit – die seltsam gegenläufige Tendenz einer Körperfixierung der Sozialwissenschaften und einer weitgehend körperlosen Hobbes-Forschung – wieder aufzunehmen. Unsere Untersuchung ergab, dass der Körper zwar nicht in der gegenwärtigen Hobbes-Forschung, wohl aber im kontraktualistischen Argument von Thomas Hobbes eine zentrale Stellung einnimmt. Hobbes’ Liberalismus, der von der Hobbes-Forschung zunehmend bereitwillig eingeräumt wird, ist angemessen nur als körperbasierter Liberalismus zu verstehen. Es ist ein Liberalismus, der auf der anthropologischen Prämisse eines leidenschaftsbewegten Körperwesens fußt und – als Konsequenz dieses körperlichen Ausgangspunktes  – durchaus zu liberalen Politikempfehlungen führt: So beschränken sich die Gesetze auf die Regelung der äußeren Handlungen der Menschen und versuchen, den als körperliche Freiheit verstandenen äußeren Bewegungsspielraum möglichst wenig einzugrenzen. Ein solcher körperbasierter Liberalismus ist jedoch, wie gezeigt wurde, theoretisch schwach und moralisch zumindest fragwürdig – als Grundlage, Frieden und eine mehr als nur oberflächliche Orientierung an Fairness und Reziprozität herzustellen und durchzusetzen, eignet er sich jedenfalls nicht. Hobbes kann uns also durchaus darin behilflich sein, bestimmte Probleme, die moderne liberale Demokratien im 21. Jahrhundert haben, als solche zu identifizieren. Aber könnte Hobbes’ Beitrag zu Problemen liberaler Demokratien des 21. Jahrhunderts neben seinem problemsensibilisierenden Beitrag auch ein Beitrag konstruktiver Art sein? Wenn das Problem gerade in einem körperbasierten Liberalismus20 liegt, der auf einem theoretisch unbrauchbaren und moralisch fragwürdigen Argument beruht – und es bleibt freien Bürgern liberaler Demokratien natürlich unbenommen, darin ein Problem zu sehen oder nicht – dann hält Hobbes vielleicht trotz seines vernunftreduzierten und gewaltbereiten körperbasierten Liberalismus dennoch eine Lösung für ein drängendes Problem der Gegenwart bereit: Im Unterschied zu der reziprozitätstheoretischen Deutung, die den Verzicht auf ein eigenes Urteil und die Unterwerfung unter das Urteil eines Schiedsrichters als angemessene liberale Einstellung feiert, war Hobbes selbst zu einem solchen Urteilsverzicht nicht bereit. Trotz einer angeblich materialistisch-mechanistischen Ontologie und eines von ihm propagierten Nominalismus und Konstruktivismus, die er seiner politischen Philosophie voranstellte, ging Hobbes davon aus, dass es allgemeine Dinge in der Natur gibt, die der Mensch prinzipiell erkennen kann. Obwohl sich also das kontraktualistische Argument durchaus so rekonstruieren lässt, dass keine Deutungsprobleme auftreten, weil es als praktisches Instru 20 Der gegenwärtig dominierende Liberalismus ist also vielleicht gerade kein körperloser, wie ihm vielfach vorgeworfen wird, sondern im Gegenteil ein solcher, in dem Freiheit primär über den Körper definiert wird. Der zum Teil gerade auf der Prämisse des angeblich körperlosen Liberalismus eingeforderte body-turn ist daher eventuell nicht die dringlichste Aufgabe der politischen Theorie.

III. Worte und Taten, oder: die Zukunft des Liberalismus

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ment zum Machterhalt an die Leidenschaften appelliert, gibt es dennoch einen fundamentalen Widerspruch, der Hobbes’ politischer Philosophie zu Grunde liegt: Wenngleich seine materialistisch-mechanistische Naturphilosophie einen Skeptizismus und ein konstruktivistisches bzw. nominalistisches Wissenschaftsverständnis nach sich zieht,21 geht Hobbes nichtsdestotrotz davon aus, dass der Mensch zur Erkenntnis natürlicher Dinge prinzipiell in der Lage ist. Obwohl er auf der einen Seite sagt, es gebe nichts Allgemeines außer den Namen und man könne nur erkennen, was man selbst gemacht habe, geht Hobbes auf der anderen Seite davon aus, dass es etwas Allgemeines – eine Natur des Menschen – gebe, und man diese Natur des Menschen – obwohl man sie nicht gemacht habe – erkennen könne. Hobbes preist dem Leser in der Einleitung seine Leidenschaftslehre als schwierig zu erwerbendes Wissen über die Gattung des Menschen an.22 Bestimmte anthropologische Prämissen – wie die handlungstheoretische Grundprämisse oder die These der natürlichen Verschiedenheit der Menschen hinsichtlich ihres Machtstrebens – setzt Hobbes als erkennbar voraus. Mit diesem Eingeständnis einer prinzipiellen Erkennbarkeit der Natur – oder zumindest eines Teils davon – hat Hobbes jedoch die Türe zu einer vernünftigen Verständigung darüber, was rechtens ist, wieder geöffnet. Wenn es aufgrund der Erkennbarkeit der Natur möglich ist, dass Wahrheit sich nicht nur auf die richtige Anordnung von Namen, sondern auf die Natur der Dinge bezieht und Konflikte deshalb zumindest prinzipiell durch die menschliche Vernunft gelöst oder zumindest moderiert werden könnten, verliert die Gewalt ihre zentrale politische Autorität als Schiedsrichter und Rechtssetzer. Die notwendige politische Konsequenz aus der wissenschaftstheoretischen Grundposition der Unerkennbarkeit der Natur und des darauf basierenden Nominalismus, die Hobbes bereits im fünften, wissenschaftstheoretischen Kapitel seines Leviathan explizit zog,23 ist dann keine notwendige Konsequenz mehr: Wenn Vernunft zumindest prinzipiell dazu in der Lage ist, etwas in der Natur zu erkennen, muss Recht nicht durch Gewalt und Dezision gesetzt werden. 21 Eine Denkmöglichkeit, auch diesen Widerspruch aufzulösen, wäre  – wenn man die Prämisse, dass Hobbes in seinen Schriften immer auch eine praktische Zielsetzung verfolgt, teilt – die Annahme, dass auch die materialistisch-korporealistische Naturphilosophie und das Verständnis von Wissenschaft, wie Hobbes es in seinen Schriften präsentiert, nur einem praktischen Zweck dient. Um eine solche Annahme plausibilisieren oder verwerfen zu können, wäre jedoch eine umfangreiche Analyse von Hobbes’ wissenschaftstheoretischen­ Schriften notwendig. 22 „Wer eine ganze Nation zu regieren hat, muß in sich selbst lesen – nicht in diesen oder jenen einzelnen Menschen, sondern in der menschlichen Gattung. Obwohl das schwierig ist, schwieriger als das Erlernen jeder Sprache oder Wissenschaft, so wird doch die Mühe, die einem andern bleibt, wenn ich meine eigenen Lesefrüchte geordnet und klar dargelegt habe, nur in der Überlegung bestehen, ob er in sich nicht auch das gleiche findet. Denn diese Art von Lehre lässt keine andere Beweisführung zu“ (LD Einleitung, 7, Hervorhebungen E. O.). 23 „Und deshalb müssen die Parteien bei einem Streit über eine Rechnung durch eigene Übereinkunft die Vernunft eines Schiedsrichters oder Richters, zu dessen Urteil sie beide stehen wollen, als rechte Vernunft einführen, da es keine von der Natur eingesetzte rechte Vernunft gibt“ (LD 5, 33).

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C. Fazit: Hobbes’ körperbasierter Liberalismus

Weil Hobbes trotz seiner praktischen Intention als Philosoph immer noch den Anspruch erhebt, etwas Wahres über die Natur des Menschen erkannt zu haben, widerspricht er damit zwar den Voraussetzungen seiner eigenen Naturphilosophie, eröffnet aber gerade durch diesen Widerspruch die Möglichkeit, die notwendigerweise auf Gewalt und Dezision gründende Politik eines Skeptizismus zu vermeiden. Wenn die Vernunft natürliche Dinge erkennen kann, besteht immerhin die Möglichkeit, dass leidenschaftsgetriebene Körper sich nicht der Dezision einer unwiderstehlichen Gewalt unterwerfen müssen, sondern selbst versuchen können, über Recht und Unrecht nachzudenken. Die Taten von Hobbes – der Entwurf rhetorischer Strategien, die zwar auf ein praktisches Ziel ausgerichtet sind, aber wahre Annahmen über die menschliche Natur voraussetzen – widersprechen damit den Worten, in denen Hobbes die Unerkennbarkeit der Natur und die Wahrheit als eine bloße Anordnung von Namen darstellt. Auf eine andere Art und Weise, als Lloyd dies versteht, könnte Hobbes also möglicherweise tatsächlich Ressourcen bereitstellen, um unser Denken zu ver­feinern: Seine Einsicht, dass bestimmte Leidenschaften den menschlichen Körper effektiver und verlässlicher lenken können als andere, ist dabei durchaus keine neue Erkenntnis. Was die Zentralität der Leidenschaften als bewegender Kräfte angeht, so teilen beispielsweise die von Hobbes lautstark bekämpften (aber zugleich ausgiebig zitierten) „Alten“ die Auffassung von deren Stärke als handlungsmotivierender Kräfte und sind in dieser Hinsicht durchaus – mit einem modernen Wort gesprochen – „realistisch“.24 Diese Alten kennen jedoch neben den Leidenschaften, die den Menschen wie Drähte ziehen, noch einen dünnen, schwachen Faden der Vernunft, der zwar viel schwächer ziehen kann, dem der Mensch aber dennoch – zumindest prinzipiell – versuchen könnte, zu folgen: „Denn einem einzigen dieser Züge, so besagt unsere Rede, müsse ein jeder stets folgen und ihn auf keinen Fall loslassen und so gegen die anderen Sehnen anstreben; das sei aber die goldene und heilige Leitung der vernünftigen Überlegung, die man das gemeinsame Gesetz des Staates nenne; die andern Züge dagegen seien starr und von Eisen, dieser aber biegsam, da er aus Gold sei, während die andern den verschiedensten Arten glichen. Jeder müsse also der schönsten Leitung, der des Gesetzes, allezeit zur Hilfe kommen; denn da die vernünftige Überlegung zwar schön, aber sanft sei und keinen Zwang ausübe, so bedürfe ihre Leitung der Helfer, damit in uns die goldene Art die andern Arten besiege“ (Leg. 644 e-645 a).

In dem Moment, in dem Hobbes prinzipiell von einer Erkennbarkeit der Natur ausgeht, schafft er eine Möglichkeit dafür, dass der dünne Faden nicht auf Dezision beruhen muss. Der Wahrheitsanspruch, den Hobbes in seinen Taten voraussetzt, bietet also einen Ansatzpunkt dafür, dass der Ursprung von Gesetzen et 24 Für das moderne Vorurteil, dass Platon Rationalität und Emotionalität strikt trennen würde und daher der Realität nicht gerecht werde vgl. Jörke 2012, 40: „Meine These ist daher, dass Theorien der deliberativen Demokratie hinsichtlich der Entgegensetzung von Rationa­ lität und Emotionalität Thukydides und Platon folgen. Doch damit werden sie der Realität politischer und auch deliberativer Prozesse nicht nur nicht gerecht, es kommt auch zu einer normativ fragwürdigen Vernachlässigung rhetorischer Machtungleichgewichte.“

III. Worte und Taten, oder: die Zukunft des Liberalismus

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was anderes sein kann als Dezision oder Gewalt. Auch der politischen Logik des Körpers liegt daher letztlich eine Logik zu Grunde, die von der Erkennbarkeit der Natur oder zumindest einzelner Teile davon ausgeht. Mit Hobbes ließe sich also – über Hobbes hinausgehend – eine Politik denken, die den Menschen nicht ausschließlich als leidenschaftsbewegten Körper begreift, sondern auch als Lebewesen, das nach der Natur der Dinge fragen kann und die deshalb der Vernunft – trotz ihrer vergleichsweise schwachen handlungsmotivierenden Kraft – auch eine tragende Rolle bei dem Versuch, Recht und Unrecht zu unterscheiden, zuweisen könnte. Damit eröffnet Hobbes aber auch eine Möglichkeit, Freiheit nicht nur als eine Bewegungsfreiheit leidenschaftsgetriebener Körper zu verstehen, sondern als eine Freiheit von Menschen, die zwar aufgrund ihrer verschiedenen Bewegungsrichtungen durchaus in Konflikt geraten können, aber die aufgrund ihrer Vernunft und der prinzipiellen Erkennbarkeit der Natur eine Möglichkeit haben, diese Konflikte anders zu lösen, als durch Gewalt oder Dezision. Mit Hobbes wäre also ein Liberalismus denkbar, der nicht nur die durchaus positive äußere Freiheit schützt, sondern der den Menschen auch davor bewahrt, dass ihnen Wahrheiten und Handlungsregeln durch die Dezision einer öffentlichen Vernunft vorgeschrieben werden müssen. Der performative Widerspruch, den der einen Skeptizismus und Nominalismus predigende aber nach Wahrheit fragende politische Philosoph begeht, stellt eine zwar kleine, aber durchaus ausreichende Chance dafür dar, dass Hobbes’ politische Philosophie auch im 21. Jahrhundert zu einer anspruchsvollen gesellschaftlichen Selbstverständigung beitragen kann. Weil Hobbes – entgegen zahlreicher Vertreter eines body turn und zunehmender dezisionistischer Tendenzen der modernen Demokratietheorie – die Frage nach der menschlichen Natur für möglich und notwendig hält, stellt seine politische Philosophie durchaus auch konstruktiv Ressourcen bereit, um unser Denken zu verbessern. Seine Überzeugung, dass die Vernunft zur Erkenntnis natürlicher Dinge prinzipiell in der Lage ist, könnte dabei nicht der schlechteste Ausgangspunkt dafür sein, zu versuchen, auf die Probleme eines körperbasierten Liberalismus eine angemessene Antwort zu finden.

Literaturverzeichnis I. Schriften von Thomas Hobbes Hobbes, Thomas (1888): The Elements of Law: Natural and Politic. The first complete and correct edition. With a preface and critical notes by Ferdinand Tönnies, Oxford: Thornton. – (1966): Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von Iring Fetscher. Übersetzt von Walter Euchner. Frankfurt am Main: Suhrkamp. – (1976): Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen. Mit einer Einführung von Ferdinand Tönnies. Mit einem Vorwort zum Neudruck von Arthur Kaufmann. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. – (1983): De Cive. The English Version. A Critical Edition by Howard Warrender. Oxford: Clarendon. – (1983): De Cive. The Latin Version. A Critical Edition by Howard Warrender. Oxford:­ Clarendon. – (1994): Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlik. Hamburg: Meiner. – (1997): Elemente der Philosophie. Erste Abteilung. Der Körper. Übersetzt, mit einer Ein­ leitung und mit kritischen Annotationen versehen und herausgegeben von Karl Schuhmann. Hamburg: Meiner. – (2012): Leviathan. Edited by Noel Malcolm. Volume 2: The English and Latin Texts (i).­ Oxford: Clarendon. – (2012): Leviathan. Edited by Noel Malcolm. Volume 3: The English and Latin Texts (ii). Oxford: Clarendon.

II. Schriften anderer klassischer Autoren Aristoteles (2006): Die Nikomachische Ethik. Aus dem Griechischen und mit einer Einführung versehen von Olof Gigon. 7. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Diels, Hermann/Kranz, Wolfgang (1974) (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker. Drei Bände. Zürich: Weidmann (unveränderter Nach­druck der sechsten Auflage). Platon (1977): Gesetze. Buch I–VI. Bearbeitet von Klaus Schöpsdau. Griechischer Text von Éduard des Places. Deutsche Übersetzung von Klaus Schöpsdau. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

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Personenregister Agamben, Giorgio  19 Antiphon 221 Arendt, Hannah  255 Aristoteles  19, 135, 211, 217, 247, 248, 280

Gebauer, Annekatrin  63, 112 Geismann, Georg  24, 41, 45, 46, 47, 48, 62, 74, 96 Gugutzer, Robert  14

Baumgold, Deborah  68, 151, 223, 232, 233, 234 Bejan, Teresa M.  252 Bielefeldt, Heiner  24 Blau, Adrian  120 Brantl, Dirk  36

Habermas, Jürgen  25, 27 Haltern, Ulrich  15, 17, 18, 19, 297 Hampton, Jean  23, 67, 69, 144, 146, 148, 197 Heidenreich, Felix  15 Herb, Karlfriedrich  24, 41, 44, 45, 46, 47, 48, 96, 127 Hirschauer, Stefan  14 Hoekstra, Kinch  20, 34, 44, 64, 65, 95, 135, 149, 152, 153, 157, 160, 187, 194, 195, 201, 202, 203, 208, 213, 214, 219, 221, 222, 224, 225, 226, 227, 232, 234, 252, 273, 275, 276, 278, 279, 287, 298, 299 Höffe, Otfried  25, 62, 110 Hüning, Dieter  24, 41, 44, 45, 46, 47, 48, 50, 51, 52, 54, 55, 56, 57, 61, 62, 64, 65, 66, 72, 74, 96, 107, 108, 115, 120, 129, 145, 146, 147, 210, 287

Campagna, Norbert  63 Cavell, Stanley  14 Chwaszcza, Christine  75, 85, 86, 87 Cicero  210, 247, 248, 286 Cohen, Jean  14 Conolly, William  14 Coole, Diana  14 Curran, Eleanor  20, 27, 214, 216, 219 Dix, Bruno  177 Ebbinghaus, Julius  24, 41, 73 Eggers, Daniel  22, 23, 41, 44, 46, 144, 145, 148, 149, 297 Epikur 73 Esfeld, Michael  118, 119, 128 Euchner, Walter  85, 185 Evrigenis, Ioannis D.  34 Ewin, Robert E.  42 Fichte, Johann Gottlieb  62 Finkelstein, Claire  260, 299 Foucault, Michel  19, 150 Frischmann, Bärbel  264 Frost, Samantha  14, 20, 34, 115, 120, 213, 298, 299 Gaus, Gerald  42 Gauthier, David P.  23, 64, 69, 147

Jaume, Lucien  25, 26 Jörke, Dirk  304 Kant, Immanuel  25, 26, 27, 41, 42, 43, 47, 48, 51, 52, 55, 62, 63, 64, 132 Karneades 210 Kauffmann, Clemens  28, 141, 294 Kavka, Gregory S.  23, 67, 268 Keller, Rainer  14 Kersting, Wolfgang  25, 57, 63, 108, 109, 110, 114, 129, 132, 133, 135, 137, 151, 153 Koschorke, Albrecht  15, 16 Lachenmeier, Pascal  295 Lactanz 210 Lemetti, Juhana  110

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Personenregister

Lloyd, Sharon Anne  20, 21, 23, 26, 42, 43, 48, 49, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 66, 67, 68, 69, 70, 72, 75, 92, 107, 108, 115, 120, 145, 147, 177, 188, 190, 198, 202, 203, 206, 209, 212, 222, 228, 229, 231, 233, 248, 253, 254, 268, 287, 299, 300, 301 Locke, John  132, 294 Lorenz, Kuno  191 Ludwig, Bernd  20, 21, 31, 155 MacPherson, C. B.  264, 265 Manow, Philipp  15, 16, 19 Martel, James R.  149, 150 Martinich, Aloysius P.  44, 57, 110, 150, 151 McNeilly, Frederick  20 Meuser, Michael  14 Münkler, Herfried  26 Nida-Rümelin, Julian  23, 68, 74 Nyquist, Mary  23 Odzuck, Eva  57, 128, 295 Olsthoorn, Johan  98, 261 Ottmann, Henning  31, 58, 110 Pettit, Philipp  27 Platon  19, 274, 304 Rawls, John  21, 23, 132 Rhodes, Rosamond  44, 69, 197, 198, 209 Rorty, Richard  13 Rousseau, Jean-Jacques  132

Ryan, Alan  265 Schröder, Peter  25 Schwarte, Ludger  14 Schwemmer, Oswald  170 Seaman, John W.  264 Siep, Ludwig  63 Sigwart, Hans-Jörg  141 Skinner, Quentin  34, 150, 151, 188, 224 Spragens, Thomas A. Jr.  32, 75, 76, 150 Springborg, Patricia  32, 34, 150, 151 Sreedhar, Susanne  20, 27, 43, 214, 219, 228, 229, 256, 258, 260, 299 Steinberger, Peter J.  129 Stiening, Gideon  30, 33, 47, 75, 78, 151, 272, 284 Strauss, Leo  41, 73, 78, 97, 99, 168, 180, 248 Suntrup, Jan Christoph  16 Tambornino, John  14 Thukydides 304 Tönnies, Ferdinand  24 Tuck, Richard  224 van Mill, David  27, 67, 108, 120 Voegelin, Eric  255 von Metzler, Jakob  297 Waas, Lothar  26, 63 Watkins, J. W. N.  31 Wulf, Christoph  14 Zaitchik, Alan  64, 194, 209