Bundesland und Reichsgau: Demokratie, "Ständestaat" und NS-Herrschaft in der Steiermark 1918 bis 1945 9783205200628, 3205200624

Erstmals wird in diesem Band die Steiermark von 1918 bis 1945 von 31 Autorinnen und Autoren thematisch umfassend porträt

143 50 39MB

German Pages 1256 [689]

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Bundesland und Reichsgau: Demokratie, "Ständestaat" und NS-Herrschaft in der Steiermark 1918 bis 1945
 9783205200628, 3205200624

Citation preview

gESCHICHTE DER STEIERMARK Band 9/I Alfred Ableitinger (Hg.) Bundesland und Reichsgau Demokratie, „Ständestaat“ und NS-Herrschaft in der Steiermark 1918 bis 1945

Geschichte der Steiermark Herausgegeben von der Historischen Landeskommission für Steiermark

Band 9/I

Bundesland und Reichsgau Demokratie, „Ständestaat“ und NS-Herrschaft in der Steiermark 1918 bis 1945

Herausgegeben von Alfred Ableitinger im Auftrag der Historischen Landeskommission für Steiermark Redigiert von Meinhard Brunner

2015 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Die Realisierung dieser Publikation wurde durch Mittel des Landes Steiermark ermöglicht.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar. © 2015 by Böhlau Verlag GesmbH & Co.KG Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, 1010 Wien www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtleitung: Univ.-Prof. i. R. Dr. Alfred Ableitinger Herausgeber: Univ.-Prof. i. R. Dr. Alfred Ableitinger Lektorat: Mag. Dr. Gernot P. Obersteiner MAS Umschlagbild: Mag. Bernhard Bergmann Konzeption & Layout: Crossdesign Werbeagentur GmbH, 8042 Graz Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20062-8

Inhaltsverzeichnis

Teilband I Alfred Ableitinger

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8

Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Das Bundesland Alfred Ableitinger Unentwegt Krise. Politisch-soziale Ressentiments, Konf likte und Kooperationen in der Politik der Steiermark 1918 bis 1933/34 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Dieter Binder

Die politische Kultur in der Steiermark . . . . . . . . . . . . . . 177

Gernot Hasiba † Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Martin Polaschek

Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär. Die Steiermark zwischen 1933 und 1938 . . . . . . . . . . . . . 239

Martin Moll

Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Reinhard Reimann Nachbarschaft wider Willen. Die Beziehungen des Bundeslandes Steiermark zu Jugoslawien 1918 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Heimo Halbrainer Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 . . . . . . . . . . . . . . . 343

Der Reichsgau Heimo Halbrainer NS-Herrschaft in der Steiermark. Herrschaft – Ausgrenzung – Verfolgung – Terror . . . . . . . 355 Helmut Gebhardt

Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945 . . . . . 381

Gerhard Marauschek

Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz als „Stadt der Volkserhebung“ 1938 bis 1945 . . . . . . . . . . 407

Karl Albrecht Kubinzky Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung: Alltag, Stadterweiterung, Stadtplanung . . . . . . . . . . . . . . . 429

6

Inhaltsverzeichnis

Bernhard Reismann

Von der Begeisterung zur Ernüchterung. Die Jahre 1938 bis 1945 in der Steiermark anhand von Augenzeugenberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443

Elke Hammer-Luza

Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . 467

Elisabeth Schöggl-Ernst

Das Ende der persönlichen Freiheit: Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft . . . . . . . . . . . . . . 479

Heimo Halbrainer

Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

Gerald Lamprecht

„… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde von Graz . . 515

Gerald Lamprecht

„Arisierung“ in der Steiermark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537

Karin Leitner

„Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“ Kunstraub während der NS-Zeit in der Steiermark . . . . . 559

Birgit Poier „Wenn das Recht zum Leben endet …!“ NS-Gesundheits- und Sozialpolitik in der Steiermark . . . . 575 Walter Brunner

Bomben auf die Steiermark. Der Luftkrieg 1941/44 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597

Heimo Halbrainer

„Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“. Steirerinnen und Steirer im Exil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611

Gerhard Baumgartner Das Schicksal der Roma-Bevölkerung in den 1939 dem Reichsgau Steiermark einverleibten burgenländischen Gebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633

Die angegliederte Untersteiermark 1941 bis 1945 Irena Mavrič-Žižek & Vincenc Rajšp

Die Besetzung der Untersteiermark . . . . . . . . . . . . . . . . . 653

Teilband II Wirtschaftliche Entwicklung Peter Teibenbacher

Die gewerbliche und industrielle Wirtschaft der Steiermark 1918 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Peter Pantzer

Steirischer Stahl und Österreichs konsularische Präsenz in Tokyo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Günter R. Burkert

Die steirische Landwirtschaft 1918 bis 1945 . . . . . . . . . . . 55

Günter R. Burkert

Der steirische Fremdenverkehr 1918 bis 1945 . . . . . . . . . . 91

Werner Tscherne

Einheit und Vielfalt – Die Steiermark 1918 bis 1945 im Spiegel der Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Inhaltsverzeichnis

7

Kultur, Kunst, Schulwesen und Wissenschaft Helmut Eberhart

„Innere Politik ist zum großen Teil angewandte Volkskunde ...“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

Sandra Abrams

Kunstschaffen 1918 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

Karin Gradwohl-Schlacher Literatur in der Steiermark 1918 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . 205 & Uwe Baur Christian Glanz

Musik in der Steiermark 1918 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . 245

Werner Tscherne

Das Schulwesen in der Steiermark von 1918 bis 1945 . . . . 267

Alois Kernbauer

Wissenschaft – Universität, Hochschulen, Forschungsinstitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Religionsgemeinschaften Maximilian Liebmann

Die Katholische Kirche in turbulenten Zeiten . . . . . . . . . 327

Ernst-Christian Gerhold

Die evangelische Kirche 1918 bis 1945 . . . . . . . . . . . . . . . 377

Christa Eisner

Die Altkatholische Kirche von 1918 bis 1945 . . . . . . . . . . 403

Gerald Lamprecht

Jüdisches Leben in der Steiermark zwischen 1914 und 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Orts- und Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529

Vorwort

Kurz nach Band 1 der Publikationsreihe „Geschichte der Steiermark“ („Urgeschichte und Römerzeit“) können HLK und Verlag Böhlau nun deren Band 9 vorlegen. Mit ihm beginnt eine Lücke geschlossen zu werden, die Band 1 (gewissermaßen endlich) geschaffen hatte, nachdem Band 10 („Vom Bundesland zur europäischen Region“) bereits vor langer Zeit erschienen war. Den Fortgang des gesamten Projektes der „Geschichte der Steiermark“ begleiteten zwischen 2004 und 2015 manche Diskontinuitäten – und somit leider auch bedauerliche Verzögerungen. Für beide gab es teils gute, d. h. nachvollziehbare, teils weniger gute Gründe. Einiges über die Verursachungen dieser Kalamitäten, aber auch über die Konsequenzen, die seitens der HLK aus ihnen gezogen wurden und die 2010/11 in eine weitgehende Neuplanung der „Geschichte der Steiermark“ mündeten, konnte in einer Art Geleitwort zu Band 1 mitgeteilt werden (S. 9–11, „Die neue Geschichte der Steier­m ark“). Der hier vorliegende, seines Umfanges wegen in zwei Teilbände gegliederte Band 9 wurde bereits Ende der 1990er Jahre – wie übrigens auch Band 10 – von Joseph F. Desput konzipiert, damals Direktor der Steiermärkischen Landesbibliothek. Desputs Planung sah beide Male vor, im jeweiligen Beobachtungszeitraum (nahezu) alle Lebensbereiche und Lebensäuße-

rungen der steirischen Bevölkerung darstellen zu lassen – die Wirtschaft anhand ihrer Sektoren, die Gesellschaft und ihren Wandel, Gesetzgebung und öffentliche Verwaltung, Schulwesen und Wissenschaft, Religionsgemeinschaften, die Manifestationen der Hochkultur in bildender Kunst, Literatur und Musikleben, sowie, mit besonderer Betonung, Volkskultur und Volkskunde. Selbstverständlich sollte auch die politische Kultur im Land bis 1938 in den Blick genommen werden. Für die Epoche des „Reichsgau“ Steiermark war Ausdifferenzierung der NS-Herrschaft in mehreren Beiträgen vorgesehen: Der Ausgrenzungs-, Verfolgungsund Terrorpraktiken des Regimes namentlich gegenüber den Juden und den Roma im „Gau“ sowie im Zuge seiner „Gesundheitspolitik“ wurden Widerstand und Opposition gegenübergestellt und auch die Besetzungspraxis in der Untersteiermark zwischen 1941 und 1945 thematisiert usw. Für die Präsentation von dem allem konnte Desput 32 Autorinnen und Autoren gewinnen. Viele von deren Manuskripten lagen bereits vor, als die HLK als Gesamtherausgeber der „Geschichte der Steiermark“ und Desput als Bandherausgeber 2008 übereinkamen, dass Band 9, wie er sich damals abzeichnete, noch einen separaten Beitrag benötige, der die (wenig bekannte) Politik in der Steiermark zwischen 1918 und 1933/34 explizit und einigermaßen

Vorwort

eingehend zum Gegenstand mache – eine, wenn man so will, primär traditionell ereignisgeschichtlich orientierte Abhandlung, aus der allerdings strukturelle Erörterungen nicht ausgeblendet werden sollten. Der Entscheid, einen solchen Beitrag vorzusehen, implizierte selbstverständlich, Verzögerungen in Kauf zu nehmen u. a. aus der Erwägung, dass es, falls Band 9 ohne ihn erscheine (z. B. etwa 2010), unabsehbar bleibe, wann und wo eine Gesamtschau der intendierten Art verfügbar sein werde. Der Autor dieses „Vorwortes“ übernahm es, diesen Text zu verfassen, und er tat dies, ohne sich hinreichend zu vergegenwärtigen, welche Probleme er sich damit auf lud: Vieles, worauf seine Darstellung unbedingt zu sprechen kommen musste, zeigte sich in der Forschungsliteratur als kaum bearbeitet, es bedurfte erst umfangreicher Recherchen. Schwierigkeiten anderer Natur betrafen die arbeitsökonomische Verträglichkeit der neu übernommenen Aufgabe des Autors mit seinen Obliegenheiten als Geschäftsführender Sekretär der HLK („GfS“). Für das, um es in heute modischer Sprache auszudrücken, erforderliche „Multitasking“ erwies sich der Verfasser als nicht besonders begabt. Als Resultat dieser und anderer Verursachungen zog sich die Vollendung von Band 9 immer weiter in die Länge. Die Verantwortung dafür trifft in erster Linie den hier Unterzeichnenden. Weil der Band nun vorliegt, hat aber jedenfalls die angenehme Stunde geschlagen, vielfachen Dank zu sagen. Der Dank der HLK gilt an oberster Stelle selbstverständlich den Autorinnen und Autoren des Bandes. Sie haben sich nicht nur den Mühen gestellt, die es häufig macht, bilanzierende Zusammenschauen zu verfassen. Sie haben zudem unerhört lange Geduld aufgebracht, bevor sie die Früchte ihrer Engagements nun sehen können. Die Daten, die bei mehreren Beiträgen anzeigen, wann das Manuskript abgeschlossen wurde, geben Vorstellungen davon, wie im-

9

mens diese Geduld gewesen ist. Dass die Verfasserinnen und Verfasser eingeladen wurden, ihnen aber nicht zur Vorgabe gemacht werden durfte, ihre Texte mit Blick auf den jeweiligen Forschungsstand (wiederholt) zu aktualisieren, versteht sich von selbst. Vielfach ist solche Aktualisierung erfolgt, manchmal sogar mehrfach. Dank ist die HLK auch ihrem Mitglied Joseph F. Desput schuldig. Er hat, wie bemerkt, nicht nur die Konzeption dieses Bandes entwickelt und für sie die Verfasserinnen und Verfasser gewonnen. Er hat diese auch bald mehr, bald weniger aktiv begleitet und im Bedarfsfall auch ihre Geduld erbeten. Leider ist Desput selbst Anfang Februar 2015 der Geduldsfaden gerissen. Ein (an sich nahezu nichtiger) Dissens mit dem Autor dieser Zeilen über Formulierungen in einem Werbetext für diesen Band veranlasste Desput, seine Funktion als Herausgeber niederzulegen und die Publikation eines fertiggestellten Beitrages aus seiner Feder zu untersagen sowie zwei vorgesehene Beiträge von ihm nicht zu realisieren. Unglücklicherweise hinderte die von ihm gewählte Art und Weise, seine Entschlüsse zu kommunizieren, ihn selbst wie die HLK daran, diese zu revidieren. So kam es, dass der Unterzeichnende in seiner Eigenschaft als „GfS“ der HLK als Bandherausgeber in die Bresche springen musste – die Textierung auf dem Titelblatt deutet das an. Die Thematik eines der von Desput nicht mehr vollendeten Beiträge war am Ende des von Martin Polaschek verfassten Textes glücklicherweise bereits behandelt worden. Keiner einzelnen Person hat die HLK für die Vollendung dieses Bandes mehr zu danken als Meinhard Brunner, dem vielfach bewährten wissenschaftlichen Mitarbeiter in ihrem Büro. Brunner trug über die Jahre hin die Hauptlast beim Redigieren der Beiträge, die hier versammelt sind. Die gesamte Bildredaktion hat er besorgt und an der abschließenden Einrichtung

10

Vorwort

der Manuskripte für den Druck maßgeblich mitgearbeitet. Nicht genug damit, mussten diese Aufgaben bezüglich des diesen Band eröffnenden Beitrages von Brunner unter sehr starkem Zeitdruck vollbracht werden. Das Lektorat von Band 9 lag in den Händen von Gernot Peter Obersteiner. Er besorgte es mit der bei ihm gewohnten Akribie. Die HLK ist ihm, ihrem Ausschussmitglied, dafür sehr dankbar. Satz und Umbruch wurden von der Grazer Agentur Crossdesign mit der der HLK schon lange bekannten Präzision und Verlässlichkeit hergestellt. Auch ihr hat die HLK sehr zu danken. Schließlich ist die HLK dem Verlagshaus Böhlau über das hinaus sehr zu Dank verpf lichtet, was in der Einbegleitung zu Band 1 angesprochen wurde. Dieser Dank gilt vor allem dem sehr raschen Prozess des Druckens und Bindens von Band 9, sodass dieser noch 2015 erscheinen konnte. Darum hat sich vor allem Dr. Eva Reinhold-Weisz sehr verdient gemacht; mit ihr zu kooperieren, war das pure Vergnügen.

Ein Wort ist noch darüber zu sagen, wie in diesem Band mit deutsch- bzw. slowenischsprachigen geographischen Bezeichnungen umgegangen wird: In jedem einzelnen Beitrag wird beim erstmaligen „Auftreten“ eines Toponyms zuerst die deutsche, dann die slowenische Version verwendet, in der Folge nur noch die deutsche. Im Ortsregister finden sich beide Benennungen und zwar derart, dass bei den slowenischen auf die deutschen verwiesen wird, wo sich dann die Angaben über die Seitenzahlen finden lassen. (Nicht ausgeschlossen ist allerdings, dass früher geläufige deutsche Toponyme inzwischen de facto vergessen sind; in diesen Fällen werden allein die heute im Slowenischen gebräuchlichen Bezeichnungen benützt.) Ob sich das Risiko, das von der HLK 2008 eingegangen wurde, nämlich die Verzögerung der Publikation von Band 9 auf sich zu nehmen, gelohnt hat, wird die Resonanz von Fachwelt und Leserschaft entscheiden. Es darf gehofft werden, dass diese Resonanz im Ganzen sowie bezüglich der großen Mehrheit der im Band angesprochenen Details positiv lauten wird.

Alfred Ableitinger Bandherausgeber

Autorinnen und Autoren

Univ.-Prof. i. R. Dr. Alfred Ableitinger Geb. 1938 Studium der Geschichte und Germanistik Univ.-Prof. für Allgemeine Geschichte der Neuzeit am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, Geschäftsführender Sekretär der Historischen Landeskommission für Steiermark 8010 Graz, Karmeliterplatz 3 [email protected] Sandra Abrams Geb. 1962 Studium der Kunstgeschichte Freischaffende Kuratorin sowie Kunst- und Kulturmanagerin 8010 Graz, Marburger Kai 47 [email protected] Mag. Dr. Gerhard Baumgartner Geb. 1957 Studium der Anglistik, Geschichte und Uralistik Wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes 1010 Wien, Wipplingerstraße 6–8 [email protected] Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. Uwe Baur Geb. 1939 Studium der Germanistik, Sportwissenschaften, Pädagogik und Volkskunde Univ.-Prof. für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz Forschungsstelle Österreichische Literatur im Nationalsozialismus 8010 Graz, Universitätsplatz 3 [email protected]

12

Autorinnen und Autoren

tit. Univ.-Prof. Dr. Dieter Binder Geb. 1953 Studium der Geschichte und Germanistik Univ.-Prof. für Neue Österreichische Geschichte und Österreichische Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz und an der Andrássy-Universität Budapest 8010 Graz, Attemsgasse 8 [email protected] HR Dr. Walter Brunner Geb. 1940 Studium der Geschichte und Anglistik Direktor i. R. des Steiermärkischen Landesarchivs 8103 Eisbach, Hörgas 96 [email protected] Univ.-Prof. Dr. Günther R. Burkert Geb. 1952 Studium der Geschichte und Germanistik Stellvertretender Sektionschef (Bereich Forschung) im Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft 3550 Langenlois, Bahnstraße 63 [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Helmut Eberhart Geb. 1953 Studium der Volkskunde und Ethnologie Studiendekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät sowie Ao. Univ.-Prof. am Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Karl-Franzens-Universität-Graz 8010 Graz, Attemsgasse 25 [email protected] Mag. Christa Eisner Geb. 1960 Studium der Fachtheologie und Religionspädagogik Synodalrätin der Altkatholischen Kirche Österreichs, Wiss. Rat in der Kulturabteilung des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung 8020 Graz, Wiener Straße 31 [email protected]

Autorinnen und Autoren

13

Ao. Univ.-Prof. Dr. Helmut Gebhardt Geb. 1957 Studium der Rechtswissenschaften Ao. Univ.-Prof. für Verwaltungsgeschichte am Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung der Karl-Franzens-Universität Graz 8010 Graz, Universitätsstraße 15 [email protected] Prof. Mag. Ernst-Christian Gerhold Geb. 1942 Studium der Evangelischen Theologie Superintendent i. R. der Evangelischen Kirche A. B. in der Steiermark und Religionsprofessor an diversen Höheren Schulen in der Steiermark 8010 Graz, Schubertstraße 28 [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Christian Glanz Geb. 1960 Studium der Musikwissenschaft und Geschichte Ao. Univ.-Prof. am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien 1010 Wien, Schubertring 14 [email protected] Dr. Karin Gradwohl-Schlacher Geb. 1955 Studium der Germanistik und Kunstgeschichte Forschungsstelle Österreichische Literatur im Nationalsozialismus 8010 Graz, Universitätsplatz 3 [email protected] Mag. Dr. Heimo Halbrainer Geb. 1963 Studium der Geschichte und Germanistik Mitarbeiter am Centrum für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz, Leiter des Vereines CLIO Graz (Verein für Geschichte und Bildungsarbeit) 8010 Graz, Großgrabenweg 8 [email protected]

14

Autorinnen und Autoren

Mag. Dr. Elke Hammer-Luza MAS Geb. 1968 Studium der Geschichte, Germanistik und Volkskunde Bereichsleiterin „Körperschafts- und Privatarchive“ am Steiermärkischen Landesarchiv 8010 Graz, Karmeliterplatz 3 [email protected] Univ.-Prof. DDr. Gernot D. Hasiba † Geb. 1943, verst. 2004 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften Univ.-Prof. am (damaligen) Institut für Vergleichende Europäische Rechtsgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Alois Kernbauer Geb. 1955 Studium der Geschichte und Germanistik Ao. Univ.-Prof. für Österreichische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte sowie Leiter des Universitätsarchivs der Karl-Franzens-Universität Graz 8010 Graz, Universitätsplatz 3 [email protected] Prof. Mag. Dr. Karl Albrecht Kubinzky Geb. 1940 Studium der Geographie und Geschichte Professor am Institut für Soziologie der Karl-Franzens-Universität Graz 8010 Graz, Neutorgasse 42 [email protected] Assoz.-Prof. Mag. Dr. Gerald Lamprecht Geb. 1973 Studium der Geschichte und Physik Leiter des Centrums für Jüdische Studien der Karl-Franzens-Universität Graz 8010 Graz, Attemsgasse 8 [email protected] Mag. Dr. Karin Leitner-Ruhe Geb. 1967 Studium der Kunstgeschichte Chef kuratorin am Universalmuseum Joanneum, Abteilung Alte Galerie 8020 Graz, Eggenberger Allee 90 [email protected]

Autorinnen und Autoren

em. O. Univ.-Prof. Dr. Maximilian Liebmann Geb. 1934 Studium der Theologie und Geschichte em. O. Univ.-Prof. für Kirchengeschichte am Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz 8010 Graz, Heinrichstraße 78 B [email protected] SenR i. R. Dr. Gerhard Marauschek Geb. 1945 Studium der Geschichte und Germanistik Leiter i. R. des Stadtarchivs Graz 8020 Graz, Sechsundzwanziger-Schützen-Gasse 34 Mag. Irena Mavrič-Žižek Geb. 1961 Studium der Geschichte und Geographie Muzej narodne osvoboditve Maribor 2000 Maribor, Ulica heroja Tomšiča 5 Slowenien [email protected] Univ.-Doz. Dr. Martin Moll Geb. 1961 Studium der Geschichte und Germanistik Univ.-Doz. für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz 8010 Graz, Attemsgasse 8 [email protected] em. Univ.-Prof. Dr. Peter Pantzer Geb. 1942 Studium der Neueren Geschichte und Japanologie em. Univ.-Prof. an der Japanologischen Abteilung am Institut für Orient- und Asienwissenschaften der Universität Bonn 1010 Wien, Freyung 6/9 [email protected]

15

16

Autorinnen und Autoren

MMag. Birgit Poier Studium der Geschichte Direktorin des Caritas-Ausbildungszentrums für Sozialberufe 8010 Graz, Wielandgasse 31 [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Martin F. Polaschek Geb. 1965 Studium der Rechtswissenschaften Vizerektor für Studium und Lehre, Studiendirektor sowie Ao. Univ.-Prof. für Österreichische und Europäische Rechtsgeschichte, Rechtliche Zeitgeschichte und Föderalismusforschung am Institut für Österreichische Rechtsgeschichte und Europäische Rechtsentwicklung der Karl-Franzens-Universität Graz 8010 Graz, Universitätsstraße 15/A/3 [email protected] Univ.-Doz. Dr. Vincenc Rajšp Geb. 1952 Studium der Geschichte Direktor des Slowenischen Wissenschaftsinstituts Wien 1010 Wien, Seilerstätte 2 [email protected] Mag. Reinhard Reimann Geb. 1970 Studium der Geschichte und Germanistik Lehrer für Deutsch als Fremdsprache am Vorstudienlehrgang der Grazer Universitäten und Hochschulen 8053 Graz, Brauhausstraße 84c [email protected] Mag. Dr. Bernhard Reismann Geb. 1969 Studium der Geschichte und Volkskunde Leiter des Archivs der Technischen Universität Graz 8010 Graz, Technikerstrasse 4 [email protected]

Autorinnen und Autoren

Mag. Dr. Elisabeth Schöggl-Ernst MAS Geb. 1963 Studium der Geschichte und Germanistik Bereichsleiterin „Staatliche Archive“ am Steiermärkischen Landesarchiv 8010 Graz, Karmeliterplatz 3 [email protected] Ao. Univ.-Prof. Dr. Peter Teibenbacher Geb. 1954 Studium der Geschichte und Kunstgeschichte Ao. Univ.-Prof. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz 8010 Graz, Universitätsstraße 15/E/2 [email protected] OStR Prof. i. R. Dr. Werner Tscherne Geb. 1927 Studium der Geschichte und Geographie Prof. für Geschichte, Geographie und Englisch am Oberstufenrealgymnasium Deutschlandsberg und Prof. an der Pädagogischen Akademie des Bundes in Graz 8020 Graz, Strauchergasse 26

17

Das Bundesland

Foto Vorderseite: Verkündung der Proklamation der Republik Deutschösterreich vom Balkon des Schauspielhauses in Graz, 12. November 1918 StLA

Alfred Ableitinger

Unentwegt Krise. Politisch-soziale Ressentiments, Konf likte und Kooperationen in der Politik der Steiermark 1918 bis 1933/34 Vorbemerkungen Was der Titel dieses Beitrages anspricht, hat bisher in der Historiographie zur Steiermark noch keine zusammenfassende und zugleich ­einigermaßen ausführliche Darstellung gefunden. Gerhard Pferschy, zu einer solchen am meisten berufen, konnte 1983 nur eine einschlägige Skizze vorlegen; der Rahmen, in dem sie publiziert wurde, definierte ihre Knappheit.1 Stefan Karner legte 2000 „Die Steiermark im 20. Jahrhundert“ vor. Das Buch behandelte einen viel längeren Zeitraum als der hier folgende Text, es stellte zudem „Wirtschaft“, „Gesellschaft“ und „Kultur“ ungefähr gleichgewichtig neben die „Politik“.2 Selbstverständlich gibt es zahllose Beiträge zu einzelnen politischen Ereignissen des in Rede stehenden Zeitraumes und ebenso viele, die über politisches Geschehen auf lokaler und regionaler Ebene informieren. Auch fehlt es nicht an schriftlichen Porträts von Personen, die in jenen Jahren im und für das Land Politik gemacht haben,3 bzw. an einigen Abhandlungen zu Elementen bzw. Segmenten seiner damaligen politischen Strukturen.4 Das meiste, das alle diese Arbeiten bekannt gemacht haben, ist in den hier folgenden Text eingegangen (das eine oder andere freilich wohl auch übersehen worden). Nicht möglich war es jedoch, sich auf wissenschaftliche Literatur zu größeren Teilgebieten zu stützen: Es gibt keine Studie, die die eine oder andere politische Partei im Land in

ihrer Gesamtheit, keine, die das Gef lecht der politischen Prozesse, ihrer Träger und Strukturen explizit zum Thema gemacht hätte.5 Was mit diesen Befunden beklagt wird, sind Defizite an einschlägiger landeshistorischer Forschung. Dass in der/den Geschichtswissenschaft(en) Befassung mit Politischem nicht nur hierzulande immer noch bzw. seit dem „cultural turn“ wieder für „out“ gilt, wird eine der Ursachen dafür sein. Mangel an Quellen müsste hingegen keine sein. Zwar trifft zu, dass Nachlässe der während der 1920er und 1930er Jahre in der Steiermark wichtigsten politischen Akteure nicht existieren bzw. nicht verfügbar sind. Aber das muss nicht entmutigen.6 Denn das Landesarchiv birgt große Bestände an Behördenakten und die als Quelle oft unterschätzte Korrespondenz der Landeshauptleute. Vor allem aber enthält seine mittlerweile umfangreiche „Zeitgeschichtliche Sammlung“ zahllose aufschlussreiche Dokumente und anderes mehr. Dazu kommen seinerzeit publiziertes Schrifttum (offizielle und inoffizielle Berichte, statistische Materialien, Protokolle parlamentarischer Organe usw.) und die zeitgenössischen Grazer sowie regionalen Printmedien: sie sind häufig aussagekräftiger, als vermutet wird. Die nachfolgende Darstellung kann selbstverständlich trotz ihrer relativen Ausführlichkeit nicht erfüllen, was wünschenswert ist.7 Sie konnte die Masse der erwähnten Quellen bei

22

Ableitinger / Unentwegt Krise

weitem nicht nützen. Sie kann steirische Politik im Beobachtungszeitraum nicht „f lächendeckend“ präsentieren: Kommunalpolitik kommt nur am Rande zur Sprache, Politik in den Bezirksvertretungen, bis 1938 eine steirische Spezialität, gar nicht.8 Auch die Intensität, mit der Geschehnisse und Strukturen ausgeleuchtet werden, bleibt unterschiedlich. Die Gewichtungen im Text leiten sich vor allem von der (keineswegs originellen) Einschätzung des Autors ab, dass „Krise“ die steirische Politik überall und jederzeit determinierte: Die Allgegenwärtigkeit von „Krise“ resultierte primär daraus, dass das ökonomische Desaster, welches der Weltkrieg in Mitteleuropa produziert und hinterlassen hatte, während der folgenden 15 Jahre niemals kompensiert werden konnte. Wo, wann und von wem immer versucht wurde, mit politischen Instrumenten den Alltag der Menschen zu erleichtern bzw. Gesellschaft zu gestalten, mangelte es an materiellfinanziellen Ressourcen, die Interessen- und Verteilungskonf likte ähnlich hätten eindämmen können, wie das vor 1914 im Großen und Ganzen gelungen war. Jederzeit dominierte Knappheit, stets blieb, was gerade noch ermöglicht werden konnte, hinter Erwartungen zurück – auch wenn diese nie hochgespannt waren. Dieser allemal wirksame Hintergrund bestärkte die politisch-ideologischen und sozialen Ressentiments, die die diversen Gruppen der Landsleute ohnehin gegeneinander hegten, er machte ihnen noch plausibler, dass die jeweils „Eigenen“ fortwährend zugunsten der „Anderen“ benachteiligt würden und die professionelle Politik tat wenig dazu, solchen Eindrücken entgegenzusteuern. Im Parteienwettbewerb der jungen Massendemokratie erforderte schon die Binnenkommunikation der Parteiführungen mit ihrer jeweiligen Anhängerschaft immer auch, deren Stereotypien einigermaßen zu pf le-

gen. – Politische Krise im Land wurde ferner bald mehr, bald weniger von der Wahrnehmung des österreichischen bzw. internationalen Umfeldes bestimmt. (Wir denken an „AnschlussVerbot“ und Grenzziehungen im Frieden von Saint-Germain, an politische Bedingungen als Äquivalenten für internationale Kredithilfen, an die fast stets aggressive Rhetorik in den Debatten des Parlaments in Wien usw.) Nur selten hingegen kamen von außen Signale, die zu Optimismus Anlass gaben. – Schließlich registrierte das Publikum beinahe Tag für Tag, dass in der „postkaiserlichen“ Zeit politische Auseinandersetzungen und Gewaltakte scheinbar zwingend zusammengehörten – alles zusammen Symptome für die Festigung der Einschätzung, dass man in krisenhaften Verhältnissen existiere und ihnen nicht entgehen könne. Trotz der Evidenz dieser Befunde ist nicht zu übersehen, dass innerhalb der „politischen Klasse“ erstaunlich viel kooperiert wurde. Das geschah oft geradezu verschämt und fast immer unter asymmetrischen Machtverhältnissen – die jeweils „Starken“ veranlassten die „Schwachen“ zur Kooperation. Vor allem gelegentlich akuter schwerer Zusammenstöße funktionierte deeskalierendes, kooperatives „Management“ lange Zeit erstaunlich gut (z. B. im Februar 1919 beim „schwarzen Samstag“ und im Juni 1020 beim „Kirschenrummel“, beides in Graz, im November 1922 in Judenburg und Knittelfeld, im Oktober 1926 im Landtag, Mitte Juli 1927 unmittelbar nach dem Brand des Justizpalastes, beim und nach dem „Pfrimer-Putsch“ 1931). Selbst das Ineinandergreifen von Weltwirtschaftskrise und Aufstieg des Nationalsozialismus (inklusive dessen „kulturrevolutionären“ Dimensionen) setzte die seit 1918/19 geübte Praxis der steirischen Politik nicht vollends außer Kraft, zwischen Konf likt und Kooperation einigermaßen Balance zu halten.

Ableitinger / Unentwegt Krise

23

Der Krieg an seiner „Inneren Front“ und der Einsturz der öffentlichen Ordnung – eine Einleitung Militärisch fand der erste Weltkrieg nicht in der Steiermark statt, die Fronten, an denen Österreich-Ungarn kämpfte, lagen weit oder ein gutes Stück entfernt. Das Land litt weniger unter dem Krieg als etwa Galizien, die Bukowina oder Tirol. Aber von dem, was an der „Inneren Front“ als Folge von Kriegsführung in Gang kam und sich immer mehr beschleunigte, war auch die Steiermark massiv betroffen. Man kann das, natürlich grob vereinfachend, auf einen Nenner bringen: Es handelte sich, vom Krieg ausgelöst, um eine Vielfalt von untereinander verzahnten Vorgängen, von Ereignisketten, die unumkehrbar und mit steigendem Tempo auf den Einsturz der hergebrachten politischen Ordnung, auf das Ende des „alten Österreich“ zuliefen. Der wirtschaftliche Zusammenbruch, die definitive Auf lösung des sowohl multinationalen wie monarchisch-obrigkeitsstaatlichen politischen Systems und die endgültige militärische Niederlage fanden im Herbst 1918 nicht zufällig fast gleichzeitig statt.9 In der Folge wird in dieser Einleitung in sechs Schritten versucht, Ursachen, Phasen und Erscheinungsformen dieses Einsturzes zusammenzufassen: Mangelwirtschaft, staatliche Interventionen und soziale Verwerfungen (I), die russische Oktoberrevolution 1917 und ihre ambivalenten Wirkungen auf Österreich-Ungarn (II), Alternativ- und Ratlosigkeit von Monarch und Staatsapparat (III), Orientierungsdefizite deutschösterreichischer Politik inklusive der Sozialdemokratie (IV), Symptome von Auf lösung anhand steirischer Beispiele (V), wirtschaftlicher, politischer und militärischer Kollaps (VI). (I) Neben dem Faktum, dass der Krieg weder an den Fronten siegreich entschieden noch

rechtzeitig diplomatisch im Weg eines „Verständigungsfriedens“ beendet werden konnte, lag dieser Dynamik zugrunde, dass das Kriegführen per se, je länger es fortdauerte, eine Notlage generierte, deren Intensität bisher außerhalb aller Vorstellungen gelegen war. Diese Notlage hatte vielerlei Ursachen, manifestierte sich aber im „Hinterland“ in einem allgegenwärtigen Mangel an allem und jedem, was die Bevölkerung für die Bewältigung ihres Lebens unmittelbar benötigte. Nahrungsmittel begannen bereits im Herbst 1914 knapp zu werden, weil Bauern und Landarbeiter überproportional zur Truppe kommandiert waren; in den folgenden Jahren änderte sich daran nichts, die Produktionsfähigkeit des Agrarsektors wurde vielmehr dadurch weiter gesenkt, dass Pferde, das wichtigste Zugvieh auf dem Land, zu Zehntausenden an die Kriegsschauplätze abgegeben werden mussten, um dort Nachschubgüter zu transportieren oder Kanonen zu ziehen. So blieb die Agrarproduktion, auf dem Gebiet der nachmaligen Republik schon vor 1914 nicht entfernt in der Lage, den Bedarf zu decken, im Krieg selbst hinter sehr zurückgeschraubten Bedürfnissen weit zurück. Es brauchte große Zufuhren aus Ungarn, Böhmen und Mähren, selbst für die Steiermark trotz ihrer damaligen Grenzen. Natürlich wuchsen in diesen Regionen die Widerstände gegen „Ausfuhren“ nach Wien und Graz sowie in die Industriezone der Obersteiermark usw. Ungarn als eigener Staat innerhalb des Reiches stoppte seine Lieferungen nach Österreich bereits früh fast gänzlich. Was für Lebensmittel galt, galt in den Städten und Industrieorten fast ebenso dramatisch für das Fehlen von Kohle. Dass sie, obwohl in „Altösterreich“ reichlich vorhanden, nicht zu den Verbrauchern kam, lag wieder am Arbeits-

24

Ableitinger / Unentwegt Krise

kräftemangel, an ihrer bevorzugten Lieferung an die Industriebetriebe, an den Engpässen bei den Eisenbahnen – auch die wurden in erster Linie für den Nachschub an die Fronten eingesetzt. Also hatte die Zivilbevölkerung das Heizen weitgehend zu drosseln; es wurde zum Luxus. Auch an anderen Bedarfsgütern fehlte es überall. Freilich waren die meisten von ihnen leichter zu entbehren als Brot, Milch, Fleisch oder Heizmaterial; Tabakwaren gingen den Rauchern allerdings sehr ab. Selbstverständlich reagierte der Staat auf die umfassenden Verknappungen. Das Notverordnungsrecht („§ 14“) erlaubte ihm umfassende Interventionen – auch die Auf hebung der Versammlungsfreiheit und die Etablierung einer weitreichenden Pressezensur bereits am 25. Juli 1914. Die Masse der Bevölkerung interessierte diese „Kriegsdiktatur“ ( J. Redlich) lange Zeit so wenig wie die Tatsache, dass das Wiener Parlament zwischen März 1914 und Mai 1917 niemals zusammengerufen wurde. Für sie standen ihre Alltagssorgen im Zentrum. Dass die Regierungen die Verteilung von Lebensmitteln rationierten und den Landwirten Ablieferungspf lichten zu festgesetzten Preisen auferlegten, wurde, außer von den Agrariern, anfangs weithin gutgeheißen. Aber für die faktische Ernährungslage waren diese und zahlreiche zusätzliche Maßnahmen nicht viel mehr als Tropfen auf heiße Steine. Auch in Industriebetrieben und Bergwerken griff der Staat, um die Produktionsleistungen trotz kriegsbedingt verknappter Belegschaften nicht nur zu halten, sondern für den Bedarf der Armeen signifikant zu steigern, ähnlich rigoros durch wie im Agrarsektor. Bereits 1914 wurden der bislang freie Wechsel des Arbeitsplatzes von einem Betrieb in einen anderen an Bewilligung geknüpft und Streiks, ohnehin erst seit relativ kurzer Zeit in der Regel zulässig, generell verboten. Die Löhne der Arbeiter wurden zwar angehoben („indiziert“), für das Mehr an Bank-

noten gab es aber immer weniger zu kaufen. („Festbesoldeten“, d. h. Angestellten und öffentlich Bediensteten, wurden Gehaltsverbesserungen sogar erst viel später gewährt.) Wahrscheinlich ärgerte die Arbeiterschaft am meisten die „Militarisierung“ der Betriebe: Schon 1914 wurden Militärs in die Fabriken und Bergwerke entsandt, um dort auf Arbeitsdisziplin zu achten und mehr oder weniger sogar die Arbeitsabläufe zu steuern. Sie bestimmten auch die „Tonart“; in den Betrieben kehrte Kommandosprache ein. Wer nicht parierte, dem drohte die Abstellung zur Truppe.10 Die Erfolge aller dieser Maßnahmen waren nicht gering, dennoch nicht hinreichend. Für wachsenden Unmut der Arbeiterschaft sorgten sie allemal. Es konnte nicht ausbleiben, dass die Stimmungslage der Bevölkerung absank. Dieser Prozess wurde massiv dadurch verstärkt, dass die allgegenwärtigen Versorgungslücken sozial ganz unterschiedlich wirkten. Während in Wien, Graz und anderen Städten vor den Abgabestellen für Lebensmittel täglich „einfache Leute“ in Schlangen standen und sehr oft Frauen, Kinder und Alte nach stundenlangem Warten mit leeren Händen heimkehrten, konnten Wohlhabende die Preise bezahlen, die auf „Schwarzmärkten“ für Fleisch, Erdäpfel etc. gefordert wurden. Auch verfügten sie, wenn sie aufs Land zum Hamstern fuhren („Rucksackverkehr“) über Gegenstände die sie tauschen konnten, z. B. Zucker, Petroleum für Lampen, Wäsche. Die Masse der Stadtbevölkerung reagierte darauf mit Erbitterung, Neid und Wut. Die Existenz von „Schleichhandel“ bewies ihr, dass die Landwirte Produkte horteten, die sie abzuliefern hatten, das Horten provozierte den Verdacht, dass örtliche bzw. regionale Behörden und Gendarmen es zuließen, um mit den Bauern ihrerseits Geschäfte zu machen. Den Bauern selbst, so ließ sich schließen, ging es zulasten der Städter viel besser, als sie behaupteten. Neid und Wut richteten sich besonders auch gegen die

Ableitinger / Unentwegt Krise

Lager für zwangsweise evakuierte österreichische Flüchtlinge vom nördlichen bzw. östlichen Kriegsschauplatz, meist Polen und Ruthenen, sowie gegen die Lager für ausländische Kriegsgefangene. Man wollte deren Insassen, obwohl sie gleichzeitig als Arbeitskräfte in der regionalen Landwirtschaft und im Straßenbau usw. äußerst nützlich waren, die ohnedies ganz unzureichende Versorgung durch die Behörden nicht gönnen. In der Steiermark betraf das besonders die Lager in Wagna bzw. in Feldbach und Knittelfeld.11 In einem Satz: Traditionelle Muster wechselseitiger Distanz bzw. Ablehnung zwischen Nationalitäten und gesellschaftlichen Gruppen, Schichten und Klassen erfuhren enorme Steigerung, soziale Konf likte von bisher unbekannter Brisanz bereiteten sich vor. Gleichzeitig stimmten in nahezu allen Gruppen immer mehr Leute darin überein, dass der Staat und seine Bürokraten trotz aller ergriffener Maßregeln nicht nur versagten, sondern sich beim Management der Mangelwirtschaft um „sozial gerechte“ Verteilung in Wahrheit gar nicht mehr kümmerten. Das politische System und seine administrativen Apparate büßten merklich an Vertrauen ein, ab 1917 bahnte sich ihre Legitimationskrise erkennbar an. Die Lage der Habsburgermonarchie wurde der des Zarenreiches ähnlich – nationalitätenpolitisch, ökonomisch-sozial und politisch strukturell. (II) Im Zarenreich mündete das umfassende Systemversagen, gepaart mit schweren militärischen Niederlagen, ab Februar 1917 in eine Flutwelle von Revolutionen. Die erste Woge der im engeren Sinne politischen Revolution schwemmte den absolut regierenden Zaren mitsamt Familie und Hof hinweg, an die Stelle von monarchischer Autokratie trat kurzzeitig (wieder) das Modell des konstitutionell-parlamentarischen Staates, liberale, dann auch sozialistische Politiker aus der früheren Duma bildeten provisorische Regierungen (Lwow, dann Kerens-

25

ki). Gleichzeitig erfassten nationale Revolutionen Finnen, Balten und Ukrainer: Sie und die transkaukasischen Völker separierten sich vom Imperium und fingen an, sich unabhängige Staaten zu schaffen. Aber nirgendwo bildeten sich stabile neue politische Ordnungen aus, im eigentlichen „russischen Russland“ schon darum nicht, weil die ersten postrevolutionären Regierungen weder den genannten Nationalitäten ihren Willen ließen noch den Krieg gegen die „Mittelmächte“ beendeten. Bereits das alles ließ vor allem die Donaumonarchie nicht unberührt. Aber eine neue, wahrhafte dramatische Qualität bedeutete für sie, dass die „Bolschewiki“ (ab 1918 nannten sie sich „Kommunisten“) mit dem Putsch vom 7. November (nach damaligem russischen Kalender „Oktoberrevolution“) die Regierung an sich rissen. Denn diese waren entschlossen, sowohl den Krieg sofort zu beenden, wie Nationalitäten von Finnland im Norden bis Aserbeidschan im Süden (einstweilen) in die Unabhängigkeit zu entlassen – beides allerdings nicht als Selbstzweck, sondern als Voraussetzung für die Umsetzung ihrer Programmatik, eine „klassenlose“ sozialistische Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsordnung zu etablieren, einstweilen mittels „Diktatur des Proletariats“ in Gestalt der Herrschaft von „Räten“ (Sowjets). Ihre Friedensoffensive kleidete Lenins Regierung („Rat der Volkskommissare“) in die, allgemeine Geltung beanspruchende Parole „Frieden ohne Annexionen und ohne Kontributionen“. Selbstverständlich wussten die Sowjets, dass diese unter den in den kriegsführenden Staaten herrschenden Machtverhältnissen keine Aussicht auf Akzeptanz hatte. Demgemäß propagierten sie sie primär in der Absicht, ihre eigene Revolution quasi zu exportieren bzw. wenigstens die Regierungen in Berlin und Wien mittels Massendemonstrationen, Streiks und idealerweise bewaffneter Aufstandsaktionen innenpolitisch unter Druck zu setzen und

26

Ableitinger / Unentwegt Krise

auf diese Weise die Friedensbedingungen für sich selbst zu verbessern und damit „zu Hause“ ihre Machtstellung zu konsolidieren. (Diese war zunächst ganz und gar prekär und provozierte ab 1918 jahrelang Bürgerkriege.) Diese Strategie ging zumindest kurzfristig nicht auf; die Staatsführungen in Berlin und Wien ließen sich von ihr nicht beeinf lussen. Die Sowjetregierung musste vielmehr in dem noch im November 1917 geschlossenen Waffenstillstand mit den Mittelmächten drückende Auf lagen hinnehmen, noch drastischere in dem im März 1918 folgenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk. Das tat allerdings der Faszination, die vom „russischen Weg“ ausging, keinen Abbruch. Die Parole vom Frieden „ohne Annexionen“ behielt ihr Potential, kriegsmüde Massen anzusprechen; ihre Einfachheit und Schlüssigkeit beeindruckte angesichts der vermeintlich unnötigen bzw. bloß im Interesse der jeweils herrschenden Klassen betriebenen Fortdauer des Krieges nur umso mehr. Sie lag nun vollends auf der Linie der alten Wendung „Krieg den Palästen, Frieden den Hütten“. Für eine vorerst unbekannte, aber mutmaßlich wachsende Zahl von Menschen wurde zudem plausibel, dass der Friede nur noch mittels revolutionär-sozialistischer Umwälzungen erreicht werden könne, durch Sturz der Dynastien, voran der Hohenzollern und der Habsburger, durch komplette Entmachtung ihrer militärischen und zivilen Apparate sowie ihrer Profiteure und Anhängerschaft (und bei Bedarf durch Liquidierung von deren Personal). Dass die Bolschewiki um des Friedens willen in Brest-Litowsk unerhörte Opfer auf sich genommen hatten, machte sie nicht nur noch sympathischer, es machte Revolutionen nach ihrem Muster scheinbar noch zwingender. Kampf um den Frieden und Kampf um Sozialismus bedingten einander in dieser Sicht. Stärker als auf die Mächte der Entente wirkte die Sprengkraft des sowjetischen Modells auf Deutschland und Österreich-Ungarn. In beiden

Reichen litt die Bevölkerung mehr unter der Fortdauer des Krieges als in Westeuropa. In beiden existierten außerdem größere sozial­ demokratische Parteien bzw. Lager als dort, zudem, ihrer Programmatik und weithin auch dem Selbstverständnis ihrer Mitglieder und Anhänger zufolge, revolutionär-proletarische. Aussicht auf Beendigung des Krieges und, damit verschränkt, auf tatsächlichen Durchbruch in eine sozialistische Zukunft fielen somit in Deutschland und Österreich-Ungarn vermutlich auf besonders günstigen Boden. – Für die Habsburgermonarchie kam existenzgefährdend die bolschewistisch-kommunistische Nationalitätenpolitik hinzu – und die indirekte, teilweise zustimmende Antwort auf sie im „14-Punkte-Plan“ US-Präsident Woodrow Wilsons vom Jänner 1918. Vor allem ihre slawischen Völker wurden durch die Botschaften sowohl aus Petrograd/Moskau wie aus Washington ermutigt, wenigstens entschiedener „nationale Autonomie“ für sich zu fordern, vielfach, vor allem unter ihren Emigranten in Westeuropa und den USA, darüber hinaus aber volle staatliche Unabhängigkeit. War diese zweite Konzeption mit dem Bestand des Donaureiches überhaupt schlechthin unverträglich, so beinhaltete auch die erste das Potential für dramatische innenpolitische Konf likte. Denn nationale Autonomie herzustellen, war in Österreich-Ungarn bereits seit langem diskutiert, manchmal auch vorsichtig zu realisieren versucht worden, jedoch in ihren ehrgeizigeren Fassungen nie durchsetzbar gewesen. Die Deutschen Österreichs und die Magyaren Ungarns hatten sich ihr fast ausnahmslos widersetzt, nicht selten indem sie Allianzen miteinander bildeten, manchmal auch mit Hilfe der reichsdeutschen diplomatischen Vertretungen in Wien und Budapest. (Von Berlin war dann signalisiert worden, das Bündnis mit Habsburg, der „Zweibund“, stehe auf dem Spiel.12) Auch die Aktualisierung von bloßer nationalen Autonomie

Ableitinger / Unentwegt Krise

bedeutete somit 1917/18 allemal Destabilisierung der Habsburgermonarchie. Die Turbulenzen im vormaligen Imperium der Zaren und namentlich Brest-Litowsk hatten allerdings für beide Mittelmächte, speziell aber für Österreich-Ungarn auch eine „positive“ Seite. Vor allem entlastete sie der Friedensschluss definitiv davon, in Osteuropa weiter kämpfen zu müssen, er befreite sie vom ZweiFronten-Krieg. Brest Litowsk ließ außerdem reichliche Zufuhr von Getreide („Brotfrieden“) und Kohle erwarten. (Diese Hoffnungen erfüllten sich während der folgenden Monate nicht, obwohl deutsche und habsburgische Truppen weite Gebiete im Osten besetzt hielten.)13 Beide Faktoren, Waffenruhe und Aussicht auf Zufuhren, zusammen steigerten gleichzeitig die Zuversicht, den Krieg, wenn man in West und Süd nur „durchhielt“, siegreich oder wenigstens durch einen Verständigungsfrieden erträglich beenden zu können. Umso vehementer fiel in breiten Kreisen Deutschlands und der Donaumonarchie die Ablehnung jener aus, die verdächtig waren, mit Sowjetrusslands fortgesetzter Friedenspropaganda zu sympathisieren, den eigenen Kampfwillen zu unterhöhlen und sich überdies sogar die politisch-soziale Revolution der Bolschewisten zum Vorbild zu nehmen. Wer für Frieden „ohne Annexionen“ usw. eintrat, entwertete aus dieser Sicht die patriotisch-nationalen Opfer, die im Krieg bereits vollbracht worden waren, delegitimierte die Kriegsziele des eigenen Staates – nicht selten für „heilig“ erklärte Kriegsziele –, denunzierte sie als bloß imperialistisch-kapitalistische, untergrub den bereits 1914 ausgerufenen innenpolitischen „Burgfrieden“, zog sich somit den erbitterten Hass der Staats- und Kaisertreuen zu. Ohnehin standen „Linke“ aller Schattierungen bereits lange im Geruch, pazifistische Defätisten zu sein. Wer unter ihnen als prononcierter „Roter“ außerdem die radikalen sozialökonomischen Umstürze in Russland mit Beifall bedach-

27

te – trotz der abscheulichen Gräuel, mit denen dort die „Diktatur des Proletariats“ praktiziert wurde; nicht selten wurden sie als „asiatisch“ qualifiziert – verfiel geradezu der Verfemung. Hier deuteten sich bereits Konf liktlinien an, die nach 1918 an Intensität noch zunahmen. Dass namentlich die Führungselite der Sozialdemokratie, aber auch ein guter Teil der linksliberalen Opinionleader als „verjudet“ galten, kam dazu; der endemische Antisemitismus fand sich einmal mehr bestätigt. (III) Gegen Sommer 1918 zeigte sich, dass der Kriegsverlauf in Frankreich den relativen Optimismus des Winters nicht rechtfertigte. Die strategische Offensive der deutschen Armeen, die nach Überzeugung der obersten Heeresleitung (Hindenburg, Ludendorff ) in Frankreich den Krieg militärisch entscheiden sollte, kam ins Stocken; bald gerieten auch deren defensive Kapazitäten an ihre Grenzen. Im Juni scheiterte eine große Angriffsoperation des k. u. k. Heeres in Oberitalien, sie kostete die letzten Reserven an Ausrüstung und Kampfkraft der Truppen. Die Lage wurde für Deutschland wie für Österreich bedrohlich, erst recht für deren Partner Bulgarien an der „SalonikiFront“. Im September schied es aus dem Krieg aus. Auf der Balkanhalbinsel war die Donaumonarchie seitdem den Alliierten gegenüber wehrlos. Mit dieser Verdüsterung der militärischen Lage wurden die schwierigsten innenpolitischen Probleme Österreich-Ungarns wirklich brandaktuell. In Cisleithanien hatte die im Mai 1917 erfolgte Wiedereinberufung des Parlaments keine Entlastung bewirkt, im Gegenteil. Die Sitzungen der Abgeordneten waren dominiert von Beschwerden über Behördenversagen und Behördenwillkür. Die nationalen Konf likte eskalierten noch weiter. Zu ihrer Entschärfung hatten Kaiser Karl und sein Regierungschef Hussarek schon einige Zeit über einem Manifest

28

Ableitinger / Unentwegt Krise

gebrütet, um endlich nationale Autonomie in Österreich quasi in letzter Stunde doch noch zu realisieren. (Analoges für Ungarn in Aussicht zu nehmen, wurde gar nicht erst gewagt.) Es visierte, selbstverständlich unter dem Dach der Gesamtmonarchie, „Nationalstaaten“ an, denen ein größeres Maß an Selbstregierung zugedacht wurde. Neben anderem kennzeichnete das Vorhaben aber, dass es die weit überwiegend von Deutschösterreichern bewohnten westlichen und nördlichen Teile Böhmens dem autonomen „deutschen“ Sub-Staat zuordnete – in vieler Hinsicht konsequent, aber gleichzeitig eine perfekte Provokation der Tschechen, die eine derartige Teilung des Kronlandes bereits seit Jahrzehnten mit aller Konsequenz bekämpft hatten. Die Maßnahme trieb sie geradezu in die Arme derer, die die Zukunft ihres Volkes nur mehr in einem vollkommen unabhängigen Staat sahen und die unter dem Eindruck der bolschewistischen Nationalitätenpolitik sowie mit zunehmender Kriegsdauer für diese Zielsetzung ohnehin immer mehr Anhang fanden. Aber gegen den Willen der Deutschen der Monarchie und Deutschlands ging 1918 nichts mehr. Denn Kaiser Karl hatte sich im Zuge eines Canossaganges Wilhelm II. sowie Hindenburg und Ludendorff vollends unterwerfen müssen: Im April 1918 war ruchbar geworden, dass Karl ein Jahr zuvor, ohne Rücksprache mit Berlin, Frankreich für einen (Separat-)Frieden hatte gewinnen wollen („Sixtus-Affäre“, „Parmaverschwörung“).14 Letztlich mussten der Kaiser und seine Minister ratlos zusehen, dass es nationalitätenpolitisch in Wahrheit keinen Ausweg mehr gab; was sie noch hofften, erwies sich rasch als illusionär. Ebensolcher „Realitätsverlust“ bzw. analoge Ratlosigkeit beherrschte inzwischen auch die Militär- und Außenpolitik des Reiches – noch im Juli phantasierte der Generalstabschef von der „völligen Angliederung“ Serbiens und Montenegros an die Monarchie – sowie die

sonstige Innenpolitik von Monarch und Regierungspersonal. Seit der bzw. die „Brotfrieden“, wie bemerkt, nicht entfernt gebracht hatten, was von ihm bzw. ihnen erwartet worden war, vermochten sie der weiteren Verschlechterung der Versorgungs- und Sicherheitslage nichts mehr entgegenzusetzen. Mittlerweile standen die politisch-sozialen Verhältnisse auf Sturm, revolutionäre Explosionen konnten jeden Tag stattfinden. Seit einer großen Streikwelle im Jänner 1918 ereigneten sich Arbeitsniederlegungen im lokalen oder kleinregionalen Rahmen spontan oder organisiert de facto jede Woche. Oft wurden sie von Ausschreitungen und Plünderungen begleitet. Die staatlichen Sicherheitsbehörden vermochten Ruhe und Ordnung kaum mehr wiederherzustellen, immer häufiger wurde Militärassistenz erforderlich. Da und dort entstanden halbuniformierte Sicherheitsorgane, die sich die Arbeiterschaft selbst schuf. Die damit konfrontierten Bezirkshauptleute wussten nicht mehr, wie sie sich zu ihnen stellen sollten; bald wurde ihnen deren strikte Auf lösung aufgetragen, bald tolerierten sie sie als unter den gegebenen Verhältnissen zweifelsfrei nützlich. Im Juni beschrieb der vormalige Außenminister Ottokar Czernin die „österreichischen Wirren“ als „Anarchie“. Es gab, abgesehen von der Fixierung auf den „deutschen Kurs“, keinerlei alternative Vorstellung mehr für die Restrukturierung der inneren Politik, ja über derlei wurde gar nicht nachgedacht; z. B. zog bis Mitte Oktober niemand, der maßgeblich war, in Betracht, Repräsentanten der Sozialdemokratie und/oder der Christlichsozialen, also Vertreter der Massenparteien, zur Mitwirkung in der Regierung heranzuziehen, um wenigstens in einem Teil des Reiches Stabilisierung zu erzielen.15 (IV) Ob diese beiden Parteien willig gewesen wären, Regierungsfunktionen auf sich zu nehmen, stand freilich dahin. Die Christlichso-

Ableitinger / Unentwegt Krise

zialen hatten bereits seit ihrer schweren Wahlniederlage von 1911 weitgehend aufgehört, in der Politik des Staates aktive Rollen zu spielen; sie konzentrierten sich auf die Landespolitik von Niederösterreich (inklusive Wiens) und die Kommunalpolitik der Reichshauptstadt. Nach Karl Luegers Tod (1910) gab es unter ihnen keine unbestrittene Leitfigur mehr, den selbst hatte allerdings ebenfalls nur die Stadtpolitik Wiens wirklich interessiert. (Ignaz Seipel begann erst während des Krieges, sich um Politik praktisch zu kümmern.) In den Kriegsjahren zerfiel die Partei weitgehend. Dass das Abgeordnetenhaus bis 1917 nicht tagte, hatte u. a. zur Konsequenz, dass die christlich-soziale Fraktion sich nahezu nie zusammenfand – bis dahin das zentrale Forum innerparteilicher Kommunikation. Später, als im Reichsrat die nationalen Konf likte wieder mit aller Vehemenz ausgetragen wurden, hielten sich die Christlichsozialen weitgehend im Schatten der deutschnationalen bzw. – radikalen Gruppen, sie wollten sich als deutsche Österreicher keine Blößen geben. Im Übrigen hielten sie es mit ihrer traditionellen „Kaisertreue“, also mit politischer Abstinenz vor allem in den zentralen Fragen von Außenund Militärpolitik. So kamen aus ihren Reihen bis zuletzt auch keine Initiativen, das politische System strukturell zu reformieren – und der Kaiser rief sie nicht. Nicht abstinent verhielten sich die bürgerlichen Deutschnationalen diverser Schattierungen. Dass sie mit dem Grazer Abgeordneten Viktor von Hochenburger jahrelang den Justizminister stellten, bedeutete nicht, dass sie für die Parlamentarisierung der Regierungen eintraten, von der Kaiser Karl nichts wissen wollte. Sie bedurften der förmlichen Regierungsbeteiligung gar nicht, um den „deutschen Kurs“ durchzusetzen, mehr und mehr trieben sie Monarch und Ministerien vor sich her – etwa mit den Forderungen nach nationaler Teilung Böhmens, nach Ausscheidung Galiziens aus dem

29

Wiener Parlament zwecks Sicherung einer deutschen Mehrheit in diesem oder, zwecks Gewährleistung ungehinderten „deutschen“ Zugangs zur Adria, speziell zu Triest, mit ihrem strikten Veto gegen irgendeine Variante von nationaler Autonomie für die Slowenen. In Summe liefen diese und andere Begehren darauf hinaus, substantielle Kompromisse mit slawischen Nationalitäten unmöglich zu machen. Rebus sic stantibus kam umso mehr auf die Positionierung der Sozialdemokratie an – während der Endphase des Donaureiches, aber anschließend ebenso jenseits von Kaiser und Staat. Auch die SDAP befand sich seit längerem in einer schwierigen Situation. Ihr ursprüngliches Selbstbewusstsein, der politische Arm einer Bewegung zu sein, die nicht bloß programmatisch „internationalistisch“ dachte, sondern, indem sie deutsche, tschechische, polnische und andere „Proletarier“ des Habsburgerreiches in sich vereinigte, tatsächlich eine internationale Organisation bildete, hatte um 1910 einen schweren Schlag erlitten: einige ihrer nationalen Sektionen, voran die tschechische, hatten sich verselbständigt. Lager und Partei hatten trotz intensiver Bemühungen, ihr entgegenzusteuern, z. B. mittels Konzepten personaler Autonomie, der Desintegrationskraft des einheimischen Nationalitätenkonf liktes nicht standhalten können. Seitdem war die Partei de facto zu einer deutschösterreichischen mutiert, weniger ideologisch als emotional. Viele ihrer Anhänger, aber auch viele aus ihren Führungsetagen waren von den Nationalisten unter ihren vormaligen Genossen bitter enttäuscht und wandten sich noch mehr als zuvor der reichsdeutschen Sozialdemokratie zu. – Auch die Julikrise 1914 und der Kriegsausbruch trafen Partei und Lager schwer. Die ältere Erwartung, die „Proletarier aller Länder“ würden den großen Krieg verhindern können, z. B. durch untereinander akkordierte große Streiks, hatten sie bereits zuvor aufgeben müssen. Die Arbeiter-

30

Ableitinger / Unentwegt Krise

schaft selbst und die Parteiführung mussten den Weg in den Krieg rat- und tatenlos hinnehmen. Manche aus der Parteielite kompensierten diese Erfahrung eigener Handlungsunfähigkeit mit dem Argument, Österreich-Ungarn müsse sich v. a. gegen den autoritären Polizei- und Militärstaat des Zaren wehren, andere hielten aus nationalen Gründen unbedingte Solidarität mit dem Deutschen Reich für zwingend.16 Seitdem betrieb der Parteivorsitzende Victor Adler weiter eine vorsichtige Politik des Mittelwegs: trotz des wachsenden Unmutes in seiner Anhängerschaft vermied er es, Militär und Behörden durch auffällige Gesten von Opposition zu reizen; es galt, das „rote“ Organisationsgefüge über den Krieg hinweg so gut wie möglich intakt zu halten. Selbst als sein Sohn Friedrich, um ein Zeichen des Widerstandes zu setzen, im Oktober 1916 den Ministerpräsidenten Grafen Stürgkh ermordet hatte, änderte Victor Adler diesen Kurs nicht. (Der junge Adler wurde dafür zum Tode verurteilt, Kaiser Karl begnadigte ihn zu lebenslanger Haft.) Erst der Zusammenbruch des Zarenreiches und vollends die bolschewistische Revolution und Brest-Litowsk dynamisierten die Widersprüchlichkeiten zwischen der oppositionellen und halbrevolutionären Tradition der SDAP, der wachsenden Erbitterung in der Arbeiterschaft und der Zurückhaltung des Parteichefs. Innerhalb der (erweiterten) Parteiführung formierte sich eine Gruppe der „Linken“ mit Otto Bauer, selbst aus russischer Gefangenschaft gerade heimgekehrt, an der Spitze. Aber auch sie artikulierte nur in schärferen Worten, was sie alles ablehnte, Handlungsalternativen wusste sie nicht. So blieb es bei Victor Adlers Weg, während sich mit Fortgang der Entwicklung in Sowjetrussland in der Arbeiterschaft selbst ein „Linksradikalismus“ bemerkbar machte, der sogar „die Linke“ vor sich herzutreiben begann. Es wurde immer ungewisser, ob und inwieweit die SDAP „die Massen“ noch zu steuern imstande war. Vor

allem die zahllosen Heimkehrer aus Russland stellten ein Gefahrenpotential dar. Niemand wusste, wie viele von ihnen sich die bolschewistisch-kommunistische Art von „Diktatur des Proletariats“ zu Eigen gemacht hatten und sie propagierten. Die Behörden bemühten sich, besonders die „Roten“ unter ihnen zu registrieren und zu beobachten.17 Unter diesen Umständen konnte seitens des mittlerweile nur noch dahintaumelnden Staates, falls denn seine obersten Repräsentanten es gewollt hätten, von der Sozialdemokratie keine Unterstützung mehr erwartet werden. Die Partei selbst war mit einer Zerreißprobe konfrontiert. Viele in ihrer Anhängerschaft versprachen sich 1918 von entschlossen revolutionärem Vorgehen nach russischen Muster, endlich große Teile der sozialdemokratischen Programmatik in Realität überführen zu können, andere verabscheuten, wie angedeutet, die russischen Methoden und fürchteten, deren Anwendung werde Bürgerkrieg auslösen und mit ihm perfektes Chaos provozieren.18 Sorge vor Bürgerkrieg war in der Tat noch im Herbst 1918 keine Chimäre. Denn dem Verlangen, dem Krieg schnell ein Ende zu machen und das hergebrachte politisch-soziale System durch ein „sozialistisches“ abzulösen, standen, wie erwähnt, gegenteilige Parolen gegenüber, nämlich „durchzuhalten“, weil immer noch ein erträglicher Frieden erreichbar schien, und die gewohnte Sozialordnung zu konservieren. Und diese Parolen fanden 1918 nicht weniger breite Zustimmung als die prononciert linksradikalen. Zuspruch und Schubkraft bezogen sie vor allem aus dem spezifischen Interesse der bürgerlichen und bäuerlichen Schichten am Fortbestand des ökonomisch-sozialen Status quo und natürlich außerdem aus dem Entsetzen über die Vorgänge in Russland und der dort nun vermeintlich sich ausbreitenden „roten Judenherrschaft“. Auch die traditionelle Kaisertreue war noch nicht gänzlich erlahmt, noch weniger die jüngere

Ableitinger / Unentwegt Krise

Aufruf zum Deutschen Volkstag in Frohnleiten am 27. Oktober 1918

31

StLA

32

Ableitinger / Unentwegt Krise

„Nibelungentreue“ zum verbündeten Deutschen Reich. In den massenhaft besuchten „Deutschen Volkstagen“ brachen sich diese und ähnliche Emotionen und Motive Bahn, z. B. das, bis zur letzten Stunde die „Heimat schützen“ zu wollen. Nicht zuletzt in der Steiermark fanden zwischen März und Ende Oktober 1918 in Graz, einigen Bezirksstädten (z. B. Weiz, Bruck an der Mur, Judenburg) aber auch in kleinen Gemeinden wie Ligist oder Semriach rund 25 solcher „Volkstage“ statt. Auf ihnen agitierten zwar auch (wenig bekannte) Politiker, z. B. Georg Gimpl (CSP), der Pfarrer von Wettmannstätten, oder Eduard Gargitter (DN), der Vizebürgermeister von Graz, aber noch viel mehr Stadtpfarrer und Bürger „aus dem Volk“, oft auch lokal prominente Akademiker, wie Viktor Geramb, Hans Kloepfer oder Walter Pfrimer. Dabei wurden bis zum 27. Oktober immer gleiche, inzwischen illusionäre, aber stets aggressive Resolutionen beschlossen.19 Jede Art von Zusammenstößen mit „Proletariern“ war möglich; denn die hielten, wenngleich zeitversetzt, Gegenversammlungen ab. (V) Kurz, 1918 konnte wirklich alles geschehen. Vier steirische Beispiele bezeugen den Grad der damaligen Auf lösung sowohl der staatlich-behördlichen wie auch der sozialen Ordnung bzw. der Verhaltensnormen (als Basis dieser Ordnung). Sie bezeugen auch die Monstrosität umgehender Befürchtungen: Im April berichtete der Gendarmeriehauptmann Arnold Lichem aus dem untersteirischen Cilli/Celje, raubende Banden zögen durch den Bezirk, die Menschen hätten aufgehört, zwischen Mein und Dein zu unterscheiden, die Gendarmerie wäre mangels Personal nicht mehr fähig, die öffentliche Ordnung halbwegs aufrecht zu halten. (Gestohlen und geraubt wurde natürlich nicht nur dort, sondern im gesamten Land und mit viel Phantasie hinsichtlich „lohnender“ Objekte; weder Post- und Bahnpakete waren sicher

noch Vieh auf Almen, von Wild zu schweigen.) – Im Juni fragte die Grazer Statthalterei die Bezirkshauptmänner, was sie davon hielten, die Arbeiterschaft durch Exekutivkräfte beizeiten entwaffnen zu lassen, weil diese, falls demnächst Bürgerkrieg ausbreche, dem wehrlosen Bürgertum absolut überlegen sein würde. Die meisten Antworten lauteten allerdings negativ, selbst in Städten und Industrieorten hätten zahlreiche Hausdurchsuchungen bei Arbeitern kaum Waffen zutage gefördert. – Im August wurde aus Semriach gemeldet, der dortige Distriktsarzt wäre angewiesen worden, Kinder und Alte zu vergiften. Zwar ließ sich nicht einmal verifizieren, dass das Gerücht überhaupt umging, aber die Falschmeldung signalisierte doch, was einige mittlerweile für möglich hielten. – Schließlich, als der Staat zusammengebrochen war, hieß es aus Edelschrott auf der Pack, dort hätten sich ein paar dutzend junge Männer zu Räuberbanden zusammengerottet und rechtfertigten ihre Aktionen damit, dass es grundsätzlich in einer Republik keine Gesetze mehr gäbe.20 (VI) Es muss hier genügen, nur ganz wenige Unruheakte zu nennen, die 1918 als Vorboten den im Herbst kommenden finalen Einsturz des alten Regimes signalisierten. Es begann im Jänner im Raum Wiener Neustadt mit der schon erwähnten Welle illegaler Streiks, die sich gedämpfter auch auf die Steiermark ausdehnte. Die Regierung wagte nicht mehr, mit Gewalt gegen die Streikenden vorzugehen. Doch gelang es noch, mit einigen Zugeständnissen die Streikbewegung zu beenden. Die SDAP-Führung war von der Ausdehnung der Streiks überrascht worden, sie sah, dass ihr Teile der eigenen Anhängerschaft entglitten. Deshalb richtete sie ein System von „Ordnern“ ein, um unkontrollierte Aktionen in Zukunft hintanzuhalten; bei den Aufmärschen des 1. Mai bewährte es sich erstmals. Aber mehr konnte die Partei vorläufig kaum mehr tun, als Versammlungen abzuhal-

Ableitinger / Unentwegt Krise

ten, die dem Verdruss der Massen wenigstens Ventile boten. In der Nacht vom 12. zum 13. Mai meuterten in Judenburg slowenische Soldaten der Garnison gegen ihre Verlegung an die Front. Ihre Aktion wandte sich primär aus nationalen Gründen gegen den habsburgischen Staat, für den sie nicht mehr kämpfen und sterben wollten. Sie wünschten sich inzwischen an dessen Stelle einen unabhängigen südslawischen Nationalstaat. Ebenso charakteristisch für die damalige Stimmung war, dass zahlreiche zivile Bewohner Judenburgs die Meuterei spontan dazu nutzten, die Geschäfte der Stadt zu plündern und zu zerstören. Gegen 500 wurden anschließend Anzeigen erstattet.21 Da tobte sich eine soziale Revolte gegen Obrigkeit und gesellschaftliche Ordnung aus. Noch im Mai folgten kleinere Meutereien in Murau und Radkersburg. Von da an riss die Serie sozialdemokratischer Versammlungen nicht mehr ab; immer war neben dem Hunger sofortiger Frieden ihr Hauptthema, dazu die Auseinandersetzung mit den Volkstagen.22 Von dem in Bruck an der Mur sagte Michael Schacherl von der steirischen SDAP, es handle sich bei ihm um reinen „Schwindel“ im Dienst der großen Kapitalisten, die an der Verlängerung des Krieges weiter profitieren wollten;23 (natürlich irrte er, die Teilnehmer an Volkstagen waren keineswegs bloße Marionetten). Beim Volkstag in Judenburg am 21. Juli versammelten sich Delegierte aus lokalen „Deutschen Volksräten“ des ganzen obersten Murtales; da existierte also bereits eine Art überlokaler Organisation. Walter Pfrimer benützte die Gelegenheit, sich erstmals öffentlich bemerkbar zu machen.24 Es sah danach aus, dass sich ganz links und ganz rechts radikale Oppositionen gegen die Regierung formierten, beide mitunter gewaltbereit. Nach dem Scheitern der „Piave-Offensive“, deren Verluste an Menschen und Material so

33

enorm waren, dass Truppeneinheiten begannen sich aufzulösen, und der Kapitulation Bulgariens im September, ging alles ganz schnell. Mitte Oktober sah man in Graz den wirtschaftlichen Kollaps unmittelbar bevorstehen – noch vor dem politischen und militärischen. Am 15. Oktober z. B. erfuhr man, dass 60 Waggon Kartoffel aus Mähren nicht mehr einlangen würden: die dortigen Tschechen weigerten sich, noch irgendwelche Lebensmittel außer Landes zu liefern. Damit würde der „völlige Zusammenbruch der staatlichen Lebensmittelversorgung unabwendbar“, hieß es.25 Der Statthalter, herkömmlich Wiens starker Arm im Land, wusste nicht mehr, was er hätte verteilen können. Tags darauf, am 16. Oktober, erließ der Kaiser das „Völkermanifest“. Generell in gewundener Sprache abgefasst, wurde es nur in einem Punkt konkret: Es sah „Nationalversammlungen“ der österreichischen Völker vor (darunter eine „deutschösterreichische“).26 Diese sollten in ihrem jeweiligen Bereich autonom sein, miteinander aber einen Bundesstaat aushandeln. Autonomie brauchten diese Völker damals allerdings nicht mehr eingeräumt zu bekommen, sie nahmen sie sich und steigerten sie zur vollen Unabhängigkeit; von einem gemeinsamen Bundesstaat wollten sie nichts mehr wissen. Faktisch war die Donaumonarchie bereits zerfallen. Für eine gemeinsame kaiserliche Regierung, wie sie das Manifest voraussetzte, blieb kein Platz mehr. Tatsächlich räumten die zwei letzten Regierungen Kaiser Karls innerhalb von nur drei Wochen geräuschlos das Feld. Schließlich brach Ende Oktober auch die k. u. k. Armee zusammen – und auseinander. Am 3. November schloss ihr Oberkommando mit Italien noch Waffenstillstand. Dann löste es sich auf und überließ die Truppen sich selbst. Jetzt war vom Kaiserstaat nichts mehr übrig.27

34

Ableitinger / Unentwegt Krise

Eindämmen der Katastrophe in Land und Staat Die Steiermark: Soziales und politisches Chaos? Revolution? Am 27. Oktober fand in Leibnitz der letzte „Volkstag“ statt, ca. 6.000 waren gekommen. Von „Durchhalten“ war keine Rede mehr. Erstmals ließ man den Slowenen ihr „Selbstbestimmungsrecht“, beanspruchte aber dasselbe für die „Deutschösterreicher“. Im Zentrum stand das Ernährungsproblem, die Sorge des Alltages. „Unbedingt und sofort“ müssten die Kriegsf lüchtlinge aus dem Lager Wagna abtransportiert werden, wurde gefordert, und dabei dürften sie keine Lebensmittel aus dem Land schaffen. Der Bezirkshauptmann von Leibnitz stimmte zu, denn er fand, man wäre bereits mitten in einer Revolution und es bräuchte alle Umsicht, um zu verhindern, dass die Revolution eine blutige werde. Dem Abtransport von Lebensmitteln würden sich die Leute gewaltsam widersetzen, sie verlangten Absperrung des Bezirkes.28 Das war der Befund eine Woche vor dem Waffenstillstand. Nach diesem verschärfte sich die Lage im Hinterland nochmals dramatisch. Jetzt strömten die Soldaten von der ItalienFront oft ungeordnet heim, nach Böhmen, in den Wiener Raum usw., die meisten über Kärnten und die Steiermark. Sofern überhaupt organisiert, erfolgten die Transporte per Bahn. Die Bahnhöfe wurden zu kritischen Orten: Schon vorher hieß es einmal, auf dem „Südbahnhof “ in Graz würden „die geraubten Schweine in rohem Zustande verzehrt“, es gäbe dort auch „Hungerrevolten“.29 Bis 6. November waren angeblich bereits 100.000 Mann über Graz „gereist“, allein am nächsten Tag folgten 20.000, am 8. November wieder 54.000 (in 26 Zügen).30 Andere Berichte besagten, die Züge führten beträchtliche Mengen Lebensmittel mit sich, „die von Plünderungen an der Front und in den Etappen herrührten“; sie würden den Trans-

porten in Graz „abgenommen und der Versorgung der Stadt zugeführt“.31 Es ging nicht zimperlich zu: „Die Ausschreitungen auf den Grazer Bahnhöfen“ stiegen von Tag zu Tag, „Menschen wurden erschossen und erschlagen“, schrieb die „Tagespost“ und ergänzte, auch auf den obersteirischen Bahnhöfen wäre die Lage „grauenhaft“.32 Selbst in der abgeschiedenen Oststeiermark war es mitunter ähnlich: In Gleisdorf wurden ein Steirer sowie nach Ungarn fahrende Soldaten Opfer eines bewaffneten Trupps unter Führung eines Oberstleutnants!33 Am 3. November wurde für das ganze Land ein Alkoholverkaufsverbot verhängt.34 Die Schulen waren bereits Ende Oktober geschlossen worden. Viele Indizien wiesen also auf vollkommenes Chaos hin, und die Berichterstattung der Medien trug dazu bei, dass sich teilweise Panik ausbreitete. Trotzdem: Es gab noch Strukturen und Institutionen, die mit der erwähnten „Umsicht“ handelten, die dies und jenes anordneten, z. B. die Bezirksbehörden und Gemeindeverwaltungen. Jene in Graz rief zu Geldspenden auf, um „Schutzmaßnahmen unverzüglich“ bezahlen zu können, und veranlasste den „Verein der Hausbesitzer“, seine Mitglieder – und über diese deren Mieter – anzuf lehen, sofort dem „Bürgerkorps“ beizutreten. „Es werden Tausende von Männern notwendig sein, um der Stadt wirksamen Schutz zu bieten“.35 Zwei Tage später waren angeblich „bereits eine genügende Anzahl von Gliederungen und Körperschaften […] aufgestellt“; in „Stadt und Land“ bestehe „kein Anlass zu besonderer Beunruhigung mehr“.36 Das war zwar übertrieben, aber um den 10. November wurden die Dinge tatsächlich etwas besser. Mitte November existierten Umrisse eines zwischen Wien, Graz sowie manchen Gemeinden des Landes akkordierten, neuen Sicherheitsapparates.

Ableitinger / Unentwegt Krise

35

Die Voraussetzungen daGrazer Hotel Erzherzog Jofür und für anderes planmähann trafen sich ca. 40 Herßiges Agieren mit Blick auf ren: Wirtschafts- und Kondie ganze Steiermark waren sumentenvertreter, Repräschon Ende Oktober gesentanten aller relevanten schaffen worden – mit der Parteien, auch KommunalEtablierung des „Wohlfahrtspolitiker einiger Städte (z. B. ausschusses“. Der verdankte aus Graz, Judenburg, Leoben seine Existenz einer geradezu und Marburg/Maribor). Man erstaunlichen Aktion. wählte einen „WohlfahrtsAus der Information vom ausschuss“ aus 24 und dessen 15. Oktober, dass aus MähExekutivkomitee aus zwölf ren keine Erdäpfel mehr geMännern.37 Noch in der Nacht wurde die „Beseitiliefert werden würden, hatViktor Wutte. gung des Statthalters“ geforten Grazer sozialdemokratiLithografie von Leopold Gedö dert. Zudem wurde ein sche Kommunalpolitiker geÖNB/Wien „Aufruf “ beschlossen, der folgert, dass der ZusammenDienstag, den 22. Oktober, bruch der staatlichen Lebensmittelversorgung nunmehr „unabwendbar“ in allen Zeitungen stand. In ihm hieß es, es wäre und ihre Partei jetzt unmittelbar handeln gelte „die eigenen Hilfsquellen für das Land“ müsse. Von den „bürgerlichen“ Parteien im zu nutzen; „wir wollen nicht hilf los zugrunde Land erwarteten sie vorerst nichts. Aber sie gehen“. Nicht nur der Name des Ausschusses hatten seit den Jänner-Streiks zum Verband der klang nach Revolution, man redete von „Beheimischen Industriellen quasi sozialpartner- seitigung“ der legalen Landesverwaltung, von wirtschaftlicher Separation. schaftlichen Kontakt. Am 17. Doch wurde weniger heiß Oktober traf man sich und Arnold Eisler gegessen. Erst nach Zustimkam überein, dass nur „selbÖNB/Wien mung der Regierung in ständiges Vorgehen der SteiWien erfolgte am 26. Oktoermark“ überhaupt noch ber die Amtsübergabe des helfen könne, d. h. direkter Statthalters an zwei „WirtTausch heimischer Industrieschaftskommissare“, Viktor produkte gegen Lebensmittel Wutte von der Industrie und von außerhalb des Landes. Rechtsanwalt Arnold Eisler Dazu bzw. zu deren Verteivon der SDAP (auffällig war, lung wäre „sofortige Überdass kein Christlichsozialer nahme der Landesverwalbestellt wurde!)38 Ihre Zutung“ nötig; gemeint war, ständigkeiten waren nicht die Unterordnung der Grazer exakt definiert. Doch der Statthalterei unter die Re„Arbeiterwille“, die SDAPgierung in Wien zu beenden. Zeitung für Steiermark und Sonntag, den 20. Oktober, Kärnten, schrieb richtig: „Im wurde dieses Vorgehen in Zweifel sind sie kompetent.“39 größerem Kreis gebilligt. Im

36

Ableitinger / Unentwegt Krise

Vor allem kümmerten sie sich um Lebensmittel und andere Versorgungsgüter. Wer bildete die „Gliederungen und Körperschaften“? Das traditionsreiche Grazer „Bürgerkorps“ war sicher nicht die wirksamste unter ihnen. Mehr Bedeutung kam dem „Arbeiterhilfskorps“ zu. Diese, 1914 mit Billigung der Behörden zwecks Sanitätshilfe und Kinderbetreuung eingerichtete Vereinigung von Freiwilligen hatte einen guten Namen, agierte aber inzwischen politischer: Vor allem stellte sie (bewaffnete?) Wachen auf den großen Bahnhöfen.40 Andere „Gliederungen“ waren die Studentenkompanien in Graz und Leoben mit angeblich 500 jungen Leuten, die meisten im Krieg kampferfahren.41 Wieder andere waren Bauern-, Dorfund sonstige „Wehren“. Bald wurde für sie die Bezeichnung „Heimwehren“ geläufig. Viele von ihnen wurden durch die jeweiligen Gemeinden errichtet, andere entstanden spontan. Allenthalben waren auch ihre Männer kampferprobt und, wie die anderen, irgendwie bewaffnet; Gewehre und Munition waren leicht zu beschaffen, dazu kamen die traditionellen Jagdwaffen. Anfangs zeigten diese Heimwehren keine parteipolitische Ausrichtung. Dem Ausschuss der am 4. November in Gösting bei Graz geschaffenen Heimwehr gehörten je zwei Sozialdemokraten und „Bürgerliche“ an.42 Politischer Neustart in Wien: Die „Provisorische Nationalversammlung“ Der Wohlfahrtsausschuss sah nach steirischer Separation aus, er war aber nur für kurzfristige Notmaßnahmen gedacht. Allerdings, dass er sich die wichtigsten Verwaltungsbehörden im Land unterordnete – übrigens ohne auf deren Widerstand zu treffen –, blieb langfristig bedeutsam. Sonst aber erfolgte der politische Neustart in Wien. Als Konsequenz des „Völkermanifests“ konstituierte sich bereits am 21. Oktober 1918 die

„deutschösterreichische“ Nationalversammlung. Sie setzte sich aus den 1911 in den damals „deutschen“ Wahlkreisen gewählten Mandataren des Abgeordnetenhauses zusammen, d. h. aus Männern (!), denen, wenn auch lange vor dem Krieg, immerhin einmal auf Basis allgemeinen und gleichen Wahlrechts das Vertrauen der „deutschen“ Bevölkerung Altösterreichs ausgesprochen worden war. Insofern hatte die Versammlung, die sich selbst von Anfang an als bloß „provisorische“ verstand, ein gewisses Maß von demokratischer Legitimation, das Optimum, das im Herbst 1918 sofort verfügbar war.43 Dass diese Versammlung den Rahmen für den Neustart abgeben sollte, war damals dennoch nicht selbstverständlich. Denn dieser Neustart setzte voraus, dass die Sozialdemokratie nach der ohne ihr aktives Zutun erfolgten Implosion der „alten“ Ordnung darauf verzichtete, die „Herrschaft der Arbeiterklasse“ zu etablieren. Wiederholte Äußerungen von Angehörigen ihrer Eliten zufolge war sie nämlich überzeugt, im Herbst 1918 über hinreichende Machtmittel zu verfügen, um sogar eine „Diktatur des Proletariats“ nach sowjetischem Modell zu errichten – eine Staatsmacht, die sie daran hätte hindern können, existierte nicht mehr. Doch sie entschied sich, im Rahmen eines Parlaments für ein pluralistisches Politiksystem.44 Darüber hinaus anerkannte selbst die 1918 in der Partei erstarkte „Linke“ die Zweckmäßigkeit, gemeinsam mit den Parteien der bourgeoisen „Klassenfeinde“, mit Christlich­ sozialen und den diversen deutschfreiheitlichen bzw. -nationalen Gruppen provisorische Regierungen zu bilden, möglicherweise, nach vorheriger Abhaltung von Wahlen, wenigstens auf Zeit auch nicht bloß provisorische. Die Rechtfertigung solcher Kooperationsbereitschaft lautete für die gemäß Programm und Selbstverständnis „revolutionäre“ Partei des Proletariats dahin, dass unter den Deutschösterreichern ein

Ableitinger / Unentwegt Krise

„Gleichgewicht der Klassenkräfte“ bestehe, welches bei Gefahr sonstigen Bürgerkrieges, verbiete, dass eine Klasse die andere beherrsche. Allerdings erlaubte dieses „Gleichgewicht“ der Sozialdemokratie nach Auffassung ihrer „Linken“ durchaus, in Nationalversammlung und Regierung entschieden offensiv aufzutreten, Machtansprüche zu artikulieren und überhaupt ihrem Willen auch außerparlamentarisch mittels Streiks, mittels „der Straße“ in Massendemonstrationen usw. Nachdruck zu verschaffen. Bei ihrem ersten Zusammentritt fasste diese Provisorische Nationalversammlung einstimmig drei Beschlüsse: Erstens erklärte sie, dass das „deutsche Volk in Österreich“ seine „staatliche Ordnung selbst […] bestimmen“ und einen „selbständigen österreichischen Staat […] bilden“ werde. Damit schob sie den Kaiser politisch glatt zur Seite, entzog sie ihm de facto bereits jede Kompetenz. (Nur dass der neue Staat eine Republik sein werde, wurde noch nicht entschieden.) Ein zweiter Beschluss besagte, dass „Deutschösterreich“ das gesamte geschlossen deutsch besiedelte Gebiet der Monarchie als sein Territorium beanspruchte, u. a. Nord-, West- und Teile Südböhmens, Teile des südlichen Tirol, Teile der Untersteiermark. (Das erwies sich später weithin als illusorisch.) Drittens setzte die Provisorische Nationalversammlung einen, aus Vertretern aller Parteien gebildeten „Vollzugsausschuss“ ein, faktisch die Keimzelle einer Regierung für das entstehende „Deutschösterreich“.45 Obwohl die SDAP nur fünf von 23 Mitgliedern dieses Ausschusses stellte, nahm sie in ihm sofort das Heft in die Hand. Das galt zuerst vor allem für Karl Renner. Zusammen mit Experten, darunter Hans Kelsen, arbeitete er binnen Tagen Grundzüge einer ersten Verfassung für Deutschösterreich aus. Ob sie zu guten Teilen mit den Ländern bereits zu akkordieren war oder mit dem Geschehen dort (und dessen sub-

37

stantiellen Resultaten) Konf likte auslösen würde bzw. diese Geschehnisse auf der Ebene der Nationalversammlung schwere Irritationen, stand dahin.46 Wien und die Länder: Landesversammlungen, ­Beitrittserklärungen Freilich wusste man in Wien, dass man die historischen Länder nicht würde ignorieren können, und in diesen, dass sie ohne das Dach eines gemeinsamen Staates nicht auskommen konnten. Deshalb traten schon am 22. Oktober in Wien Repräsentanten der „deutschen“ Donauund Alpenländer zusammen, die den weiteren Bestand der autonomen Landesverwaltungsinstitutionen, d. h. der Landtage und „Landesausschüsse“, für „unabdingbar“ erklärten. Diese Repräsentanten waren allerdings Funktionäre des ancien régime, d. h. vordemokratischer Landesinstitutionen, und hatten als solche demnächst vermutlich kaum mehr etwas zu sagen. Aber weil sie fanden, dass namentlich „die Arbeiterschaft ihre Vertretung in den Landesausschüssen“ sehr rasch erhalten sollte, signalisierten sie Sinn für die schleunigste Demokratisierung der Landesorgane. Ihr Votum war somit mehr als bloß eine letzte Wortmeldung der „alten Zeit“, und der von ihnen gleichzeitig bekundeten Bereitschaft, „beim Neuauf bau des neuen Staatswesens mitzuwirken“, kam demnach echtes Gewicht zu. In Frage stand freilich, wer mehr Gewicht in die Waagschale würde legen können, falls sich die Vorstellungen demokratisierter Länder hier und der Nationalversammlung dort über die Binnenstruktur Deutschösterreichs nicht ohne weiteres deckten. Eine Andeutung von Differenzen enthielt bereits der Beschluss des Vollzugsausschuss der Provisorischen Nationalversammlung vom 25. Oktober, wonach, weil „die Länder in der gegenwärtigen Staatskrise einer provisorischen Vertretung“ bedürften, in ihnen „bis zur end-

38

Ableitinger / Unentwegt Krise

gültigen Festsetzung der deutschösterreichischen Verwaltungsorganisation […] provisorische Landesversammlungen und Landesausschüsse berufen“ würden, die „politischen Parteien jedes Landes“ nur „vereinbaren“ sollten, wie diese zusammenzusetzen wären und, wo bisher „nicht alle Parteien im Landesausschuss vertreten“ waren, entsprechende „Berufungen“ in diesen zu erfolgen hätten.47 Am 29. Oktober forderte der Vollzugsausschuss dann die Länder auf, solche „provisorische Landesversammlungen“ zu bilden, die neben Grundzügen provisorischer Landesverfassungen ausdrücklich Beitrittserklärungen zum deutschösterreichischen Staat beschließen sollten. Dagegen gab es jedenfalls in Graz keinen Protest. (Die Auffassung, mittels ihrer Beitritt-Beschlüsse hätten die Länder „Deutschösterreich“ erst geschaffen, ist demnach allenfalls eine Halb-Wahrheit.) Ob mit dieser Aufforderung gleichzeitig Vorgaben aus Wien über die Zusammensetzung der Landesversammlungen mitgeliefert wurden und überdies die Zusammenlegung der bisher „autonomen“ Landesverwaltung, d. h. der von den „alten“ Landesausschüssen besorgten, mit der „staatlichen“ angeregt oder gar verlangt wurde, ist ungewiss.48 In der Steiermark kamen die Parteien jedenfalls überein, angeblich am 31. Oktober, dass die Landesversammlung aus 60 Mitgliedern bestehen sollte – je 20 aus den drei politischen Lagern. Bald zeigte sich, dass das ein steirisches Spezifikum war, das sonst nirgendwo praktiziert wurde – in der Sache eine bemerkenswerte Aufwertung der Sozialdemokratie.49 Weiter vereinbarte man in Graz, dass sich unter diesen 60 Mitgliedern sämtliche 22 in der „deutschen“ Steiermark 1911 gewählten Reichsratsabgeordneten befinden sollten – zehn Christlichsoziale, acht Deutschnationale und vier Sozialdemokraten, d. h. alles Personen, die nun auch in der Provisorischen Nationalversammlung saßen; deren damit bewirkte Doppelmitgliedschaft versprach ein Maximum an

Koordination zwischen Staats- und Länderebene.50 Die verbleibenden 38 Mandate in der Landesversammlung (60 minus 22) sollten die steirischen Parteileitungen besetzen – mithin 16 die SDAP, zwölf die deutschnationalen Gruppen, zehn die Christlichsozialen. Das alles wurde in Wien genehmigt.51 Unter den so Nominierten befand sich erstmals eine Frau, die Lehrerin Martha Tausk (SDAP).52 Auch sonst gelangten auf diesem Weg zahlreiche „Newcomer“ in die steirische Politik.53 (Darüber ist später zu berichten.) 6. November 1918: Konstituierung der ­L andesversammlung in Graz – Vorläufige ­L andesverfassung – Wahl von „Landesregierung“ und „Landesausschuss“ Am 6. November 1918 trat diese „provisorische Landesversammlung“ erstmals zusammen. Ausdrücklich in Befolgung des Auftrages des […] Vollzugsausschusses vom 29. Oktober 1918 – mithin nicht allzu eigenständig! – beschloss sie aufgrund eines Drei-Parteien-Antrages in einem Akt als Basis ihrer eigenen Konstituierung die des Landes selbst und eine „Provisorische Landesverfassung“. Die wichtigsten Elemente dieses Beschlusses besagten: 1. Das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet des ehemaligen Kronlandes (Herzogtum Steiermark) bildet unter dem Namen „Land Steiermark“ eine gesonderte, eigenberechtigte Provinz des Staates Deutschösterreich, vollzieht hiemit den Beitritt zu diesem Staate, erkennt die […] Nationalversammlung von Deutschösterreich als derzeitige oberste staatliche Gewalt, die von ihr gefaßten Beschlüsse als bindend und die von ihr eingesetzten Behörden an. Dieses Land tritt den anderen Ländern Niederösterreich, Oberösterreich, Kärnten, Salzburg, Tirol und Vorarlberg, Deutschböhmen und Sudetenland zur Seite und gelobt deren Schicksale unverbrüchlich zu teilen.

Ableitinger / Unentwegt Krise

2. Dem Land kommen alle Rechte und Pflichten zu, die dem früheren Kronland zuerkannt worden sind. Die provisorische Landesversammlung ist sein provisorischer Landtag, Graz wird zur Landeshauptstadt erklärt, (dafür gibt es „Heil“-Rufe). Die provisorische Landesversammlung bestellt in einem Wahlgang den Landesausschuß, der aus zwölf Mitgliedern besteht. Dieser wieder wählt aus seiner Mitte den Landeshauptmann und 2 Stellvertreter; die drei sind gleichrangig und entscheiden gemeinsam. Sie bilden die Landesregierung. 3. Die Scheidung von bisher staatlicher (landesfürstlicher) und autonomer Verwaltung im Land ist aufgehoben. Die erste wird politisch von der Landesregierung geführt, die zweite vom gesamten Landesausschuss. Beiden Organen sind die Bezirkshauptmannschaften etc. untergeordnet. (Damit wurde de facto der bisher staatliche Behördenapparat steirischen Landesorganen unterworfen, sozusagen „verländert“; das wurde in der provisorischen Landesversammlung mit mehrfachem Bravo! quittiert.) Für die Gemeinden wird ein separates Gesetz in Aussicht genommen. 4. Die im nun slowenischen Gebiet liegenden, allein oder überwiegend von den Deutschen bewohnten Teile des ehemaligen Herzogtums bleiben einstweilen im steirischen Landtage vertreten. Die Entscheidung über die Grenzen zwischen dem jugoslawischen Staate und dem deutschen Lande Steiermark bleibt einer, sei es bilateral, sei es von dem Friedenskongresse verhandelten völkerrechtlichen Vereinbarung vorbehalten. Dasselbe gilt für die politischen und nationalen Rechte der deutschen Bewohner der slowenischen Gebietsteile. (Eine reziproke Regelung für im „Land Steiermark“ wohnende Slowenen ist nicht vorgesehen; das Land ist ja „deutsch“.)54 Anschließend gab es namens der drei Parteilager Stellungnahmen von Eduard Gargitter,

39

Anton Rintelen und Hans Resel und die einstimmige Annahme des Beschlusstextes durch Erheben von den Sitzen (dazu lebhafter Beifall).55 Unmittelbar danach ging es an die Wahl der Amtsträger der zuvor geschaffenen Landesorgane. Aufgrund einer Vereinbarung sämtlicher Parteien erstattete Gottlieb Fizia, noch Grazer Bürgermeister, einen Wahlvorschlag für den Landesausschuß. Abgesprochen, wie er war, erfolgte seine Annahme ebenso schnell wie – wieder durch Erheben von den Sitzen – einstimmig. Überraschungen hatte man vorgebeugt, indem, wie erwähnt, alle in einem Wahlgang bestimmt werden sollten. Aus jedem Lager wurden vier Personen in den Landesausschuss entsandt, dieser kürte während einer kurzen Sitzungsunterbrechung Wilhelm von Kaan (DN) zum Landeshauptmann und Anton Rintelen (CSP) sowie Josef Pongratz (SDAP) zu seinen Stellvertretern. „Landesrat“, so bald der Titel der „einfachen“ Mitglieder des Landesausschusses, wurden u. a. Hans Resel (SDAP), Jakob Ahrer (CSP), August Einspinner (DN). Der Landesausschuss bestätigte anschließend die Wirtschaftskommissare und ernannte Franz Hagenhofer (CSP) zu deren drittem.56 Schließlich beschloss die provisorische Landesversammlung, dass der Landesausschuss die gerade gefaßten Beschlüsse der Nationalversammlung zur Genehmigung vorzulegen habe.57 Die politische Substanz dieser Beschlüsse – ganz ähnliche wurden in diesen Tagen von den anderen Landesversammlungen gefasst; manchmal erfolgten die „Beitritte“ allerdings mit „Vorbehalt“ – war vor allem ambivalent, sie hatte ein Janusgesicht: Das eine zeigt die Unterordnung des Landes unter die Staatsorgane Deutschösterreichs („Befolgung des Auftrages“ des Vollzugsausschusses, „Genehmigung“ der Beschlüsse), das andere die Aufwertung des Landes durch Übernahme umfangreicher administrativer Kompetenzen, die bis dahin bei von

40

Ableitinger / Unentwegt Krise

Wien direkt gesteuerten Institutionen angesiedelt gewesen waren. Diese Zuständigkeiten fielen nun der „Landesregierung“ zu. Darin vor allem bestanden, wenn man zuspitzen will, die „föderalistischen Revolutionen“ dieses Herbsts; in Graz war man am 20./26. Oktober damit vorangegangen.58 In Wien fand man sich damit nur vorläufig ab. Als die Provisorische Nationalversammlung am 14. November über ein „Gesetz betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern“ debattierte, fielen herbe kritische Bemerkungen. Man war sich bewusst, dass man einstweilen nur ratifizieren konnte, was Faktum geworden war; das Gesetz beschrieb in seinem Titel ungefähr das Gegenteil des tatsächlich Vorgegangenen. – Renner sprach von einer „Zwangslage“, der man sich in Wien einstweilen unterordnen müsse.59 Die dritte Dimension von struktureller politischer Relevanz des 6. November 1918 bestand darin, dass ab nun die Parteien über das Personal beider Regierungsorgane auf Landesebene befanden, also faktisch darin, dass die Spitzen der Parteien in sie gewählt wurden. Wie Deutschösterreich mit der Etablierung des Vollzugsausschusses zum Parteienstaat geworden war, war es auch das Land.60 Im Herbst 1918 stimmte man dort wie hier darin überein, dass alle drei Parteilager in den regierenden Institutionen repräsentiert sein sollten, in der Steiermark sogar gleich stark. Später schrieben fast alle Länder in ihre Verfassungen, dass alle Parteien nach Maßgabe der Landtagswahlergebnisse Anspruch auf Sitze in den Landesregierungen hatten. Anders geschah es auf der Staats- bzw. Bundesebene. Dort setzte in der SDAP die Mehrheit des Parteivorstandes durch, dass in der Verfassung über die parteipolitische Zusammensetzung der Regierungen nichts normiert werde; das entsprach der Maxime, offen zu lassen, ob, wie lange und unter welchen Konditionen die Partei mit ihren „bürgerlichen“ Konkurrentinnen im Rahmen von Regierungen

kooperieren oder gegenüber diesen die Opposition bilden würde. (Darüber wird zu berichten sein.) Wien: Staatsrat und Staatsregierung, Republik und Anschluss, Wahlordnung Teils noch vor diesem 6. November, teils bald nach ihm fielen in Wien fünf Entscheidungen, die, wie alle Länder, auch die Steiermark nachdrücklich berührten; sie wurden ohne Konsultationen mit den Ländern gefällt. 1. Schon am 30. Oktober hatte die Nationalversammlung „grundlegende Einrichtungen der Staatsgewalt“ Deutschösterreichs beschlossen, in der Hauptsache eine Staatsregierung. An die Stelle des Vollzugsauschusses traten der „Staatsrat“ und die „Staatsregierung“ mit „Staats- bzw. Unterstaatssekretären“ an der Spitze von „Staatsämtern“. Die Kompliziertheit dieser Konstruktion kann hier beiseite bleiben; sie wurde im März 1919 mit der Auf lösung des Staatsrates beendet. Die „Staatsämter“ übernahmen die Funktionen der bislang kaiserlichen Ministerien (deren Übergabe durch die letzte k. k. Regierung Lammasch erfolgte ohne Umstände binnen Tagen, ihr beamtetes Personal wurde in der Regel übernommen). Deutschösterreich bekam so einen zentralen Verwaltungsapparat; der begann sich mit den „verländerten“ Behörden ebenso sofort zu reiben wie diese mit ihm. Die personelle Besetzung von Staatsrat bzw. Staatsregierung erfolgte anschließend so, dass zwar alle Parteilager in sie Vertreter entsandten, allerdings unterschiedlich viele und unterschiedlich gewichtige. Die SDAP, obwohl bloß drittstärkste Fraktion in der Provisorischen Nationalversammlung, machte nicht nur ihren Eintritt in die Staatsregierung davon abhängig, dass einige ihrer Forderungen vorweg akzeptiert wurden. Sie

Ableitinger / Unentwegt Krise

verlangte außerdem die Leitung der bedeutendsten Staatsämter, bekam aber schließlich nur die für Äußeres und Soziales (Otto ­Bauer, Ferdinand Hanusch) sowie die der „Staatskanzlei“ (Karl Renner). Die Christlichsozialen erhielten Inneres und Landwirtschaft, für das „Heerwesen“ wurde formell der Deutschnationale Josef Mayer zuständig. Andere Staatsämter wurden von parteilosen Beamten geführt, so das für Finanzen von Prof. Joseph Schumpeter und das besonders undankbare für Volksernährung von Johann Löwenfeld-Russ. Jede Partei entsandte außerdem in Staatsämter, die sie nicht leitete, Unterstaatssekretäre (deren wichtigste wurden Julius Deutsch im Heeres- und Otto Glöckel im Unterrichtsressort). – Konsens wurde also erst nach ziemlichem Tauziehen hergestellt und von wechselseitiger Kontrolle begleitet. Die Sozialdemokratie hatte einmal mehr für sich de facto eine Führungsrolle beansprucht, ihre offensive Dynamik war kaum zu bremsen gewesen. Kooperation und Rivalität zwischen den Parteilagern begannen gleichermaßen spürbar zu werden.61 2. Bereits am 1./2. November wurde als neues Heer die „Volkswehr“ begründet. In ihr hatte aber von Anfang an nicht Josef Mayer das Sagen, sondern Julius Deutsch, der sich sogleich daran machte, den Auf bau der Volkswehr im Sinn der SDAP bzw. ihrer „Linken“ zu steuern. Anders als in Wien gelang das in der Steiermark nur unvollkommen. (Vgl. unten S. 42f., 62f., 70f.) Die Volkswehr geriet jedenfalls von ihrem Start an in den „Schatten der Parteien“ (L. Jedlicka); 1919/20 sollten die Auseinandersetzungen um sie die Regierungskoalition in Wien definitiv sprengen. 3. Am 12. November proklamierte die Provisorische Nationalversammlung einstimmig, dass Deutschösterreich eine „demokra-

41

tische Republik“ sei. Bis dahin war die Frage nach der Staatsform aus Rücksicht auf die Christlichsozialen noch nicht entschieden worden. Die hielten, unterstützt von der katholischen Kirche, bis zuletzt ihre „Kaisertreue“ hoch – allerdings im Rahmen einer demokratisch-parlamentarischen Monarchie.62 Als jedoch am 9. November in Berlin die „Deutsche Republik“ ausgerufen wurde, gab es auch in Wien kein Halten mehr. Unter dem Druck drohender, vermutlich gewaltsamer Massendemonstrationen schwenkten die Christlichsozialen am 11. November ein. Kaiser Karl erleichterte das, indem er auf jeden „Anteil an den Regierungsgeschäften“ verzichtete.63 So stand am 12. November der Republik nichts mehr entgegen. 4. Zusammen mit dieser Entscheidung definierte die Provisorische Nationalversammlung am gleichen Tag ebenfalls einstimmig: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.“ Sie proklamierte damit, angetrieben von der SDAP und den Deutschnationalen, halbherzig akzeptiert von den Christlichsozialen, den Anschluss an Deutschland, an das „Reich“. Es war, wie sich zeigen sollte, eine geradezu schicksalhafte Entscheidung: Einmal getroffen, wollten und konnten weder „die Politik“ Österreichs noch seine Bürger hinter sie zurück. Die Entscheidung entsprach absolut der nationalen Selbstwahrnehmung der Bevölkerung, deutsch zu sein! Dies unter Anrufung des „Selbstbestimmungsrechtes“, der großen Parole der Zeit, mit der AnschlussErklärung feierlich zu verkünden, brachte offensichtlich ein emotionales Bedürfnis ersten Ranges zum Ausdruck. Dessen Intensität ließ Gedanken darüber gar nicht erst auf kommen, ob Deutschösterreich sich mit dieser Manifestation nicht unmittelbar schadete. (Auch in der Steiermark hatte man sich

42

Ableitinger / Unentwegt Krise

im Frühling 1921 damit mühsam auseinanderzusetzen.)64 5. Da sich, wie gezeigt, die SDAP für Deutschösterreich als parlamentarisch-pluralistisches Gebilde entschieden hatte, stand ersten Wahlen in der Republik nichts entgegen. (Die spontan entstandenen, zum Linksradikalismus tendierenden „Räte“ unter Arbeitern und Soldaten, die statt in einem Parlament das politische Entscheiden exklusiv für sich beanspruchten, waren zu schwach, ihre Ambitionen zur Geltung zu bringen. Auch sorgte die SDAP dafür, dass verlässliche Vertrauensleute aus ihren Reihen sich in solchen Räten unter die Radikalen mischten und sie bald erfolgreich majorisierten.65 Ganz anders verhielt es sich gleichzeitig in Deutschland, speziell in Berlin. Dort sah es wochenlang danach aus, als würde die extreme Linke Wahlen verhindern können.) Allerdings sollten diese Wahlen auf Basis eines gründlich reformierten Wahlrechtes stattfinden, das auch für Landtags- und Kommunalwahlen zu gelten hatte.66 Demgemäß wurde schon am 12. November einmal mehr einstimmig beschlossen, Frauen das Wahlrecht einzuräumen, das Wahlalter zu senken und ein Verhältniswahlsystem zu etablieren. Einzelheiten blieben einem späteren Wahlgesetz vorbehalten. Während bei dessen Beratung die beiden ersten Punkte kaum Fragen aufwarfen, gab es Kontroversen um die Ausgestaltung des dritten. Sie kreisten um die Frage, ob der gesamte Staat einen Wahlkreis bilden oder in eine Vielzahl von Wahlkreisen gegliedert werden wollte. Für die erste Option sprach, dass sich mit ihr der Wählerwille „unverfälscht“ in Parlamentsmandate übersetzen würde, gegen sie, dass sie auch sehr kleinen Parteien gute Chancen gab, Mandate zu erreichen; d. h. dass von ihr eine Zersplitterung des Parlaments zu befürchten war, die die Formie-

rung stabiler Mehrheiten erschwerte. Das Wahlgesetz vom 18. Dezember richtete schließlich 25 Wahlkreise ein – davon vier in der Steiermark – und schuf damit umso höhere Hürden für Kleinparteien, als es ein zweites Ermittlungsverfahren zwecks Verwertung von „Reststimmen“ noch nicht vorsah. (Noch offene Fragen, z. B. ob Wahlpf licht herrschen, ob Koppelung von Parteilisten zulässig sein solle, blieb der Entscheidung der Landesversammlungen überlassen.) – Die Wahlen selbst wurden schließlich für den 16. Februar 1919 anberaumt.67 Die Steiermark im Spätherbst 1918 Parteienkonf likte – Parteienkompromisse Was am 6. November in der Landesversammlung so einmütig aussah, war tatsächlich ein Übereinkommen nach unmittelbar zuvor wahrscheinlich heftig ausgetragenen Konf likten. In der Landstube war von ihnen damals nur mehr ein schwaches Echo zu vernehmen: Rintelen betonte, dass die neue Demokratie eine „für alle“ sein müsse, d. h. dass in ihr kein Parteilager von vornherein Vorrang beanspruchen dürfe.68 Solchen Vorrang hatte seit Mitte Oktober die SDAP ähnlich wie in Wien auch in der Steiermark für sich reklamiert: Im Wohlfahrtsausschuss und dessen Exekutivkomitee war sie stark vertreten, die Christlichsozialen beinahe gar nicht, und dasselbe galt für die Wirtschaftskommissäre. Für die Landesversammlung (und den „Landesausschuss“) hatte sie durchgesetzt, ungeachtet des Wahlergebnisses von 1911, gleich viele Sitze zu bekommen wie Christlichsoziale und Deutschnationale – ein steirisches Spezifikum, das sich sonst nirgendwo wiederholte. Auch bei den Anfängen der Volkswehr in Graz bewies die SDAP offensive Energie. Ursprünglich sollte August Einspinner, seit 1907

Ableitinger / Unentwegt Krise

deutschnationaler Abgeordneter des Reichsrates aus Graz, die politische Steuerung des Militärs im Land übernehmen. Den Auftrag dazu erhielt er vom Staatsrat,69 vermutlich forcierte ihn sein Parteifreund Josef Mayer. Aber am 1. November stellte ihm der Wohlfahrtsausschuss Hans Resel, den Vorsitzenden der steirischen SDAP, an die Seite; beide fungierten von da an als „Militärbevollmächtigte“. Offenbar hatte die SDAP maßgebliche Beteiligung an den Militärangelegenheiten verlangt und durchgesetzt. Den Christlichsozialen, im Wohlfahrtsausschuss ohne Einf luss, wurde ein dritter Bevollmächtigter vorläufig nur in Aussicht gestellt; als ihr Repräsentant wurde Franz Huber jun. erst am 7. November ernannt – nach Konstituierung der Landesversammlung.70 – (Der Staatsrat billigte diese Entscheidungen erst nachträglich.) Resel und Einspinner ordneten sofort an, in den Einheiten der steirischen Kasernen „Soldatenräte“ zu wählen. Es galt, den gegenüber ihren „Oberen“ oft aufsässig gewordenen Mannschaften eigene Vertretungen zu geben und sie auf diese Weise wieder als Ordnungselement einsatztauglich zu machen.71 In Graz startete man damit bereits am 2. November. Die SDAP sorgte dafür, dass treue Anhänger aus ihren Reihen kandidierten. So kam nicht zufällig Ludwig Oberzaucher (1881–1957) an die Spitze des Grazer Soldatenrates, bald auch an die des gesamtsteirischen. Resel und Oberzaucher begannen, Einspinner an den Rand zu drängen. Vor allem trachteten sie zu beeinf lussen, wer in die „Volkswehr“ aufgenommen wurde; die Bevorzugung von Leuten „proletarischer“ Herkunft gelang anfangs nur darum unzureichend, weil sich zu wenige Bewerber dieses Profils fanden. Doch im März 1919 wurden „nahezu die ganze Mannschaft und die Offiziere des Arbeiterhilfskorps übernommen“.72 Auch am 3. und 4. November zeigte Resel militärpolitische Initiative. Am 3. rief die SDAP erstmals dazu auf, der neuen „Wehrmacht“ bei-

43

zutreten (noch war der Name „Volkswehr“ anscheinend in Graz nicht geläufig). Tags darauf ließen die Militärbevollmächtigten den bisherigen Militärkommandanten General Karl Lukas verhaften. Dafür scheint es bemerkenswerte Gründe gegeben zu haben, die vor allem Resels Misstrauen provozierten. Denn gleichzeitig wurde das Kommandogebäude auf dem Grazer Glacis von Studenten und Arbeitern besetzt, anscheinend um einer Aktion zugunsten von Lukas zuvorzukommen. Die „sozialdemokratischen“ Arbeiter waren „zu diesem Zweck militärisch ausgerüstet“ worden. Ohne Resels (und vielleicht Oberzauchers) Zutun wäre das schwerlich möglich gewesen. Vielleicht war das die Geburtsstunde der Bewaffnung des „Arbeiterhilfskorps“, dessen Mitglieder – darunter vermutlich viele Eisenbahner – in den nächsten Tagen Wache auf den Bahnhöfen hielten.73 Lukas wurde durch GM Franz Reisinger ersetzt. Der ganze Vorgang lief darauf hinaus, was an militärischen Kapazitäten im Land vorhanden war, unter die Kontrolle des Wohlfahrtsausschuss zu bringen, in dem die Sozialdemokratien inzwischen die erste Geige spielten.74 Der Auf bau neuen Militärs war aus sicherheitspolitischen Gründen dringend geboten. Aber die SDAP nutzte ihn in Graz wie in Wien, um sich im Umbruch dieser Tage eine hegemoniale Rolle zu erkämpfen; ihr Verzicht auf eine „Diktatur der Proletariats“ bedeutete nicht zugleich Verzicht auf Führungsanspruch beim Übergang in eine „neue Zeit“. Das desorientierte deutschnationale Bürgertum ließ vorerst anscheinend geschehen, was geschah; ganz auf Graz konzentriert, kam es Bürgermeister Fizia darauf an, dass der Wohlfahrtsausschuss half, die Sicherheitslage zu konsolidieren. Dagegen kamen die steirischen Christlichsozialen auf den Bühnen scheinbar gar nicht mehr vor, auf denen ihre Konkurrenten erste Elemente der neuen politischen Machtstrukturen schufen. Tatsächlich freilich verhielt es sich anders. Einen Tag

44

Ableitinger / Unentwegt Krise

nach der Entfernung von Lukas und der Besetzung des Kommandogebäudes gaben sie sich am 5. November eine neue Führung. Mit Anton Rintelen zauberten sie einen Obmann geradezu aus dem Hut, der bis dahin in der Politik nicht tätig gewesen, aber in machtpolitischen Fragen äußerst sensibel war. Was in Militär und Exekutive im Gang war, provozierte sofort seinen Widerstand. Kaum zufällig nahm der sich mit Jakob Ahrer (1888–1962) sogleich einen jungen Mann zum Adlatus, der im Krieg als Offizier gedient hatte. Analog verhielt es sich mit Huber. Die Partei war dabei, militärpolitisch einiges aufzuholen.75 Was am nächsten Tag in der Landesversammlung geschah, war, wie angedeutet, ein Bündel von Kompromissen, bewirkt aus Vorstößen der SDAP einerseits und deren Eindämmung andererseits. Man fand zu einer Machtbalance: Die drei Lager rückten gleich stark in den Landesausschuss ein, Landeshauptmann und seine Stellvertreter wurden für „gleichrangig“ erklärt und entschieden „gemeinsam“, die Wahl von Kaan zum Landeschef vermied vorerst, zwischen Resel (oder Pongratz) und Rintelen entscheiden zu müssen. Dass die Wahl

der zwölf Mitglieder des Landesausschusses in einem Wahlgang und außerdem offen erfolgte, zeigt, dass man befürchtete, manche Mandatare würden das fragile Kompromisspaket nicht mittragen. Trotzdem dominierte in der Öffentlichkeit weiter die Konfrontation der Lager. Das zeigte sich wenige Tage später: Am 12. November wurde in Graz die in Wien einstimmig erfolgte Proklamation der Republik nicht durch Landeshauptmann Kaan verkündet, den gerade einmütig gewählten Spitzenrepräsentanten des Landes, sondern durch Ludwig Oberzaucher. Die Sozialdemokratie hatte für diesen Zweck eigens zu einer großen Versammlung auf dem nachmaligen Freiheitsplatz aufgerufen; die Republik reklamierte sie nicht als gemeinsame, sondern als ihre Sache. Anfänge von Konsolidierung – Brüchigkeit von Konsolidierung Dennoch wussten die Landespolitiker aller Parteien, dass die akute Chaotisierung des Alltags ihnen Kooperation abverlangte. Die Bevölkerung, so gespalten sie in ideologische Lager war, Verkündung der ­Proklamation der ­Republik Deutschösterreich vom Balkon des Schauspielhauses in Graz, 12. November StLA 1918 

Ableitinger / Unentwegt Krise

brauchte etwas Zutrauen in die Verbesserung ihrer Versorgungslage, primär mit Lebensmitteln, und in die der öffentlichen Sicherheit. Beides griff ineinander: ohne mehr Ordnung keine Versorgung, ohne etwas Versorgung keine Ordnung. Wutte und Eisler gelang es, Nahrungsmittel teils aufzuspüren, teils einzuführen. Manche Bestände fanden sich in Militärdepots.76 Die steirische Industrie brachte einige hundert Waggons diverser Waren auf, vor allem Stahlwaren, die in der Schweiz gegen Lebensmittel getauscht wurden.77 Auch mit Ungarn und Kroatien wusste man das eine oder andere zu tauschen. Aus Kroatien erfolgte die Zufuhr per Bahn. Das verlangte darauf zu achten, dass sich die Beziehungen zu den slowenisch kontrollierten Gebieten nicht zu sehr verschlechterten; darüber fanden erste Verhandlungen schon am 28./29. Oktober in Marburg statt.78 Außerdem nützte es, dass mit Hagenhofer ein dritter Kommissär bestimmt worden war. Die Autorität, die der unbestrittene Chef der katholisch-konservativen Bauern genoss, dämpfte ein wenig deren Widerstand gegen Lieferungen vom Land; trotzdem brauchte es weiter dramatische Aufrufe der Drei. Immerhin waren mit Hagenhofer nun auch die Christlichsozialen als unverzichtbarer Faktor anerkannt, allerdings nur halbherzig. – Auch die Staatsregierung war natürlich nicht untätig; noch im Winter gelangen ihr erste Vereinbarungen mit der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn.79 Trotzdem stand spürbarer Erleichterung der Versorgungslage neben anderem noch lang entgegen, dass steirische Kleinregionen ihren eigenen Separatismus praktizierten. Mehrfach entstanden Bezirkswohlfahrtsausschüsse. Weil man sie nicht verhindern konnte, forderte man von Graz aus dazu auf, solche zu schaffen. Doch gelang es oft nicht, sie auf beratende Funktionen für die Bezirkshauptmannschaften zu beschränken.80

45

Ruhe und Ordnung zu wahren bzw. zu stiften, war Aufgabe von Gendarmerie und Polizei (in Graz und Leoben). Herkömmlich im Land letztlich dem Statthalter unterstellt, waren sie nun dem Landeshauptmann untergeordnet, nur „in letzter Instanz“ dem Staatssekretär des Inneren. Ihr Personal, sowohl Offiziere wie Mannschaften, wurden mit wenigen Ausnahmen vom neuen Staat übernommen.81 Das unterschied beide Institutionen deutlich vom Heer bzw. der Volkswehr; (partei-)politische Selektion bei der Aufnahme in sie unterblieb. Faktisch bedeutete das, dass ihr Personal in der Regel an traditionellen Vorstellungen von Ruhe und Ordnung orientiert war und zumeist mit bürgerlich-konservativen Parteien sympathisierte. Deshalb standen die Arbeiterschaft bzw. die Sozialdemokratie diesen Exekutivorganen gewöhnlich mit gewisser Skepsis gegenüber, wenn auch nicht mit so massiver wie jahrelang die „Bürgerlichen“ der Volkswehr bzw. dann dem Bundesheer. Tatsächlich gab es wiederholt Anlass für solches Misstrauen speziell gegen einzelne Polizei- bzw. Gendarmerieoffiziere, z. B. 1920 nach dem „Kirschenrummel“ in Graz oder gelegentlich von Verhaftungen „roter Genossen“ in Judenburg im November 1922. Generell allerdings anerkannte die SDAP, dass Gendarmerie und Polizei bei stürmischen Demonstrationen des „Proletariats“ nicht als „Kettenhunde der Reaktion“ fungierten, sondern fast immer eine deeskalierende Taktik praktizierten. Anfangs freilich, während der schier chaotischen Verhältnisse im Winter 1918/19 und 1919 während der politischen Turbulenzen, die von der „Räteherrschaft“ in Ungarn in die Steiermark überschwappten, genügten Polizei und Gendarmerie nicht zur Konsolidierung der Sicherheitslage. Darum kam auch „Heimwehren“ – oder wie sie anfangs sonst benannt wurden – Bedeutung zu. Wo und wann genau in diesen Wochen Heimwehren quasi aus dem

46

Ableitinger / Unentwegt Krise

Aufruf von Bürgermeister Adolf Fizia, der Grazer StLA Stadtwehr beizutreten, November 1918

Boden schossen, ist nur teilweise bekannt. Aus Thörl und der Region Gleinstätten, aus Gleisdorf und Ehrenhausen sind sie belegt.82 Die ersten entstanden spontan und ohne parteipolitische Ausrichtung. Dem Ausschuss von jener in Gösting gehörten, wie gezeigt, je zwei Sozialdemokraten und „Bürgerliche“ an. Auch in den „Ortswehren“ von Knittelfeld und Judenburg waren diese beiden Seiten „gleich vertreten“. Da und dort gingen Heimwehren sogar auf Initiativen der Volkswehr zurück, z. B. in Ligist und Voitsberg. In Graz wurde eine „Stadtwehr“ eingerichtet, der das Militärkommando (ab 1. Dezember „Volkswehrkommando“) täglich 200 Mann Volkswehr zu Sicherheitsdiensten zur Verfügung stellte; über sie verfügte Bürgermeister Fizia.83 Von der Stadtwehr zunächst unabhängig existierten das „Arbeiterhilfskorps“ und die „Studentenkompanie“; eine solche gab

es auch in Leoben. Die einschlägigen Initiativen waren so zahlreich und so verschiedenartig, dass die Militärbevollmächtigten ab Anfang November trachteten, etwas Ordnung in die Gebilde zu bringen. Dazu formulierten sie ein Statut mit Richtlinien für die gemeindeweise Einrichtung von Heimwehren84 und versprachen, sie mit Waffen auszustatten – wenn sie sich dem Statut unterwarfen. In Ehrenhausen geschah dies, die Waffen kamen vom Volkswehrkommando in Leibnitz.85 Mitte November war anscheinend ein Konsens mit dem Staatsrat über das Wehr- und Sicherheitswesen im Land erzielt: Heimwehren sollten nur auf Gemeindeebene bestehen. – Landessache sollten „Sicherheitswehren“ werden, zusammengesetzt aus „gedienten“ vormaligen „Soldaten“, die beim „Arbeiterhilfskorps“, bei „Bürgervereinigungen oder anderen Wehrausschüssen“ freiwillig „ständigen Dienst“ versahen; das Kommando über sie war, unter der Kontrolle der Militärbevollmächtigten, dem Militärbefehlshaber zugedacht. – Ebenso befehligte dieser die Volkswehr im Land, entweder auf Weisung des Staatsamtes oder auf der Basis des Einvernehmens zwischen diesem und den Militärbevollmächtigten.86 Trotzdem blieb es zwischen Gemeinden, Land und Staat häufig bei Reibungen. Die jeweils untergeordnete Ebene beanspruchte bzw. praktizierte mehr oder weniger Autonomie. Auch sonst wurde aus Planungen nicht überall Realität. Im Jänner 1919 wurde im Grenzgebiet gegen Slowenien ein Verbot, neue Heimwehren zu gründen, aufgehoben; also waren solche unautorisiert geschaffen worden.87 Mitte Februar erneuerte man das Verbot für die damals mit Slowenien vereinbarte quasineutrale Zone. Die Waffen einer in der Region entstandenen „Heimwehr-Süd“, u. a. 1.000 Gewehre, wurden von der Volkswehr nach Graz gebracht.88 Doch das am 26. Jänner in Straden entstandene „Bauernkommando“ behielt die Waffen, die es teils

Ableitinger / Unentwegt Krise

regulär erhalten, teils irregulär beschafft hatte. Das war mit Sicherheit kein Einzelfall. Im Sommer 1920 sagte Resel, etwa 13.000 Gewehre usw. befänden sich weisungswidrig noch immer illegal in der Verfügung von Heimwehren.89 Inzwischen war die Phase, während der Bürgerliche und Arbeiter in ihnen zusammengewirkt hatten, definitiv vorbei. Die meisten Heimwehren hatten sich gegen die Linke politisiert. Auch Landbevölkerung und Volkswehr gerieten zunehmend aneinander. Deren „Grenzschutz Süd“ führte bereits früh Klage, dass die Bevölkerung ihm bei Einquartierungen Schwierigkeiten mache, für Unterkünfte und Lebensmittel zu hohe Preise fordere usw.90 Umgekehrt ereigneten sich im Jänner 1919 in Eibiswald und Kleinklein Übergriffe von Volkswehrtrupps gegen die Zivilbevölkerung.91 Immer wieder befanden sich Volkswehrsoldaten auch unter den Wilderern.92 Am 16. Februar, dem Wahltag, gab es in Pöllau und Umgebung Aufruhr­a kte von Bauern und Plünderungen durch Bürger wegen nochmals verschärfter Ablieferungspf lichten und deshalb auf die Hälfte reduzierter Brotrationen im ganzen Bezirk; gegen aus Hartberg geschickte Volkswehr gingen Bauern wohlorganisiert vor. Die Unruhen f lammten bis Mitte März wieder auf, am 8.  März wurden Volkswehr und Männer des Arbeiterhilfskorps aus Graz, zusammen 200 Mann, aufgeboten; General Reisinger befahl aber keinen Einsatz, weil ein solcher die Abneigung gegen die Volkswehr nur noch gesteigert hätte. (Nach und nach gelang es christlichsozialen Abgeordneten, die lokale Bevölkerung zu beruhigen.)93 – Am 13. und 20. März kam es in Feldbach zu Schießereien zwischen einem dort unbeliebten, weil übergriffigen Volkswehr-Bataillon und einer Rotte von etwa 40 Bauernburschen.94 Die unterschiedlichen Sozialprofile von „Einheimischen“ hier und Volkswehrleuten dort erzeugten einmal mehr politisch geladene Animositäten.

47

In einem Satz: Heimwehren und Volkswehr dienten lokal bzw. regional einem Mehr an Sicherheit und produzierten gleichzeitig Unsicherheit. Winter 1918/19 – Konflikt um die Südgrenze Neben der öffentlichen Ordnung und der Güterversorgung war die neue steirische Politik im Winter 1918/19 mit dem Thema der Südgrenze konfrontiert. Mit der Antwort auf diese Frage wurde nicht nur definiert, was „Land Steiermark“ territorial bedeuteten würde. Die Grenzfrage im Süden bewegte auch die Emotionen der Menschen. Diese fühlen alle nationaldeutsch und nehmen am Geschick der deutschen Untersteirer Anteil, allerdings nach Regionen des Landes und politischen Lagern unterschiedlich intensiv. Am stärksten wissen sich natürlich die Bewohner jener Landesteile betroffen, durch die irgendwo die definitive Staatsgrenze verlaufen wird; nicht zuletzt ihre wirtschaftliche Existenz wird von diesem Verlauf stark abhängen. Mit zunehmendem räumlichem Abstand vom Grenzgebiet nimmt diese Betroffenheit natürlich ab. Unter den politischen Lagern gilt dasselbe für die deutschnationalen Bürger. Sie hatten mit den untersteirischen Stadtbewohnern, voran jenen Marburgs, traditionell starke wirtschaftliche Kontakte, vielfach auch verwandtschaftliche. Den Christlichsozialen, die traditionell in Städten wie Marburg und Pettau/ Ptuj usw. kaum Anhänger fanden, geht das Thema weniger ans Herz; aber ignorieren können sie es doch nicht. Wieder anders verhält es sich mit den Sozialdemokraten. Vor allem in Marburg hatten sie herkömmlich viel Zuspruch; Hans Resel war dort 1897 erstmals ins Parlament gewählt worden. Aber wenn 1918/19 zu entscheiden ist, ob, wie zeitgleich in Kärnten, mit Waffen um Teile des Unterlandes gekämpft werden soll, sind sie dafür nicht zu haben. Die Gefahr, im Gegenzug aus dem südslawischen

48

Ableitinger / Unentwegt Krise

Raum von Lebensmittelzufuhren abgeschnitten zu werden, ist ihnen ein zu hohes Risiko. Im Grunde stimmt ihnen die Mehrheit in den anderen Lagern zu, Streit über militärische Handlungsoptionen der Steiermark findet im Winter 1918/19 in der Landespolitik kaum ernsthaft statt. Die provisorische Landesversammlung beschließt alle Protestresolutionen einstimmig, der Wahlkampf vor dem 16. Februar 1919 wird von dem Thema nicht beherrscht. Auch begleitet es die Politik im Land nicht dauerhaft. Nur im Raum Radkersburg/Mureck erzeugt es heftige antisozialistische Ressentiments; bei denen wird es bleiben. Am 29. Oktober 1918 wurde der neue südslawische Staat proklamiert.95 Der bereits im August gegründete slowenische „Nationalrat“ trat ihm sofort bei und bezeichnete schon Mitte Oktober neben Marburg, Pettau usw. auch Radkersburg, Mureck und Mahrenberg/Radlje ob Dravi als „deutsche Sprachinseln“ in slowenisch-bäuerlichen Umgebungen. Das kam de facto im östlichen Teil dem Anspruch auf eine Grenzziehung nördlich der Mur gleich. Noch im Oktober entfernte der Nationalrat die untersteirischen Bezirkshauptmänner und die Bürgermeister in den „deutschen“ Gemeinden. Schwacher Widerstand wurde durch slowenische Freischärler unschwer gebrochen. An deren Spitze setzte sich der bisherige k. u. k. Major Rudolf Maister, der bald zum General der SHSArmee avancieren sollte. Am 1. November besetzte er Marburg, das Zentrum der Region, die er dem SHS-Staat zur Gänze einverleiben wollte. Das untere Murtal reklamierte er für diesen nicht zuletzt wegen der Bahnlinie von Spielfeld über Radkersburg nach Luttenberg/Ljutomer, die die einzige leistungsfähige Verkehrsverbindung in das vorwiegend slowenisch besiedelte „Übermurgebiet“ (Prekmurje) bildete. Dieses Gebiet mit dem Zentralort Murska Sobota gehörte bislang zu Ungarn und sollte nun von dessen Herrschaft quasi „erlöst“ werden.

Seit dem „Fall“ Marburgs Anfang November 1918 war demnach vor allem in den „deutschen“ Gemeinden zwischen Spielfeld und Radkersburg Feuer auf dem Dach. In Graz war man dem allem gegenüber ratlos. Die Gewährleistung von Lebensmitteltransporten aus Kroatien über slowenisches Gebiet überlagerte alles (vielleicht reagierte man in der Hauptstadt, wie angedeutet auch deshalb so scharf auf Lukas’ Pläne, in Marburg sofort militärisch einzugreifen). Schon bei ersten Verhandlungen in Marburg am 28. und 29. Oktober hatte Wirtschaftskommissar Wutte einen sehr schweren Stand gehabt. Ein Wirtschaftsabkommen vom 8. November verhinderte nicht, dass Maister am 25. November Spielfeld besetzte sowie am 1. bzw. 2. Dezember die Orte die Mur abwärts bis Radkersburg. Auch ein weiteres Abkommen (13. Dezember) brachte keine Erleichterungen. Offiziell blieben der lokalen Bevölkerung nur noch ohnmächtige Proteste. Doch gab es insgeheim zusätzliche Heimwehr-Gründungen; diese beunruhigten die Landespolitik, und sie verbot, damit fortzufahren (vgl. oben). Mitte Jänner, die Lage hatte sich erneut zugespitzt, verstärkte die Regierung den Grenzschutz durch die Volkswehr und hob das Verbot wieder auf. Sogar die Formierung „größerer“ Heimwehren galt nun auf Gemeindeebene für erwünscht. Um sie unter Kontrolle zu haben, entschied der Grenzschutzkommandant, ob, wie und welche Waffen sie erhielten. „Feindkontakt“ sollten sie und der Grenzschutz jedenfalls unbedingt vermeiden. Trotzdem griff am 14. Jänner eine Volkswehrkompagnie von Arnfels aus das besetzte Leutschach an. Darauf drohte Maister mit Verwüstung ganzer Orte.96 Hoffnung machte in Graz nur mehr, dass die US-Vertretung in Wien im Jänner eine ihrer Fact-Finding-Missions an die untere Mur, nach Marburg und nach Kärnten entsandte, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Sie wurde von

Ableitinger / Unentwegt Krise

Oberstleutnant Sherman Miles angeführt. Am 20. Jänner war sie in Radkersburg: Miles ließ sich davon überzeugen, dass die Stadt zum deutschen Sprachgebiet zählte. Darauf hisste die Bevölkerung deutsche (!) und steirische Fahnen.97 Im Gegenzug machte die slowenische Seite Ernst mit ihrer Ankündigung, Radkersburger zu ihrem Militär einzuberufen. Am 27. Jänner musste der Bürgermeister die dazu notwendigen Akten („Landsturmrollen“) übergeben. Darauf f lohen Betroffene in umliegende, nicht besetzte Dörfer. Einige von ihnen hatten sich bereits zu einer militärischen Widerstandsaktion verabredet.98 An demselben 27. Jänner besucht Miles’ Kommission Marburg. Dort hatte man die Deutschen der Stadt zu einer Großdemonstration aufgerufen, Tausende gingen auf die Straßen. Maister, der in den letzten Wochen einige Rückschläge hinnehmen musste, u. a. den in Radkersburg am 20. Jänner, ließ ohne Rücksicht auf Miles’ Präsenz in die Menge schießen. Es gab elf Tote und ca. 60 Verletzte. Der Amerikaner empfahl bald darauf seiner Regierung tatsächlich, fast das gesamte seit November von Maister unter Kontrolle gebrachte Gebiet Österreich zuzuschlagen.99 Seitdem war in der Steiermark vom „Marburger Bluttag“ die Rede.100 Die Erregung in der Stadt und im gesamten Land war ungeheuer. Studenten forderten in Graz militärische Gegenmaßnahmen. Aber sichtbar wurde nur die Grenzsicherung verstärkt durch Etablierung des „Grenzschutzkommandos Süd“ der Volkswehr in Leibnitz; bald zählte es knapp 1.800 Mann.101 Insgeheim bereitete jetzt Reisinger einen Angriff auf Marburg vor.102 Davon unabhängig hatten sich Männer in Radkersburg verabredet, autonom eine militärische Aktion zu unternehmen. Sie wurden von Oberleutnant Hans Mikl kommandiert, der es verstand, in Kärnten eine Waggonladung Waffen und Munition zu organisieren. Diese trafen

49

am 26. in Fehring ein, wurden aber auf Geheiß der Landesregierung beschlagnahmt. Trotzdem gelang es Mikl, sie nach Radkersburg zu bringen.103 Am 4. Februar schlug er los, ohne seine Aktion mit lokalen Heimwehren und dem seit 26. Jänner in Straden existierenden „Bauernkommando“ koordiniert zu haben. In Radkersburg selbst scheiterte das Unternehmen, auf beiden Seiten gab es Tote und Verwundete.104 Aber aus Mureck, Halbenrain und anderen Orten mussten die „Besatzer“ in den Folgetagen kurzzeitig abziehen. Der slowenische Gegenschlag blieb naturgemäß nicht aus, die „befreiten“ Orte wurden wiederbesetzt. Darauf wurden am 13. Februar auf Regierungsebene in Marburg ein allgemeiner Waffenstillstand und eine neutrale Zone vereinbart, die von der Soboth bis zur ungarischen Grenze reichte. In ihr behielten die Slowenen ihre Besatzungen, aber auch Volkswehr durfte an bestimmten Orten stationiert werden.105 Danach trat tatsächlich Beruhigung ein. In Radkersburg und Umgebung agierte die SHSBesatzung nach Gutdünken, und die Bevölkerung fügte sich resigniert in die Verhältnisse.106 Man blieb aber „außerordentlich“ erregt über die Passivität der Landesregierung.107 Ein Nebeneffekt dieses Unmutes war, dass Mikl die Reste seiner Ausrüstung dem „Untersteirischen Bauernkommando“ überließ, das von dem Stradener Arzt Willibald Brodmann geführt wurde. Diese Erregtheit bildete auch den Boden dafür, dass das „Bauernkommando“ von da an viel Zulauf und Prestige in der Region gewann. Es machte nun „unpolitisch“ selbst Politik, d. h. unabhängig von den die Landespolitik dominierenden Parteien. In der neutralen Zone konnte es allerdings nicht operieren. So konzentrierte es sich im Frühjahr und Sommer 1919 auf die Vorgänge in Ungarn und schob den „Weißen“, welche die damals dort herrschende „Diktatur des Proletariats“ Bela Kuns bekämpften, Waffen zu. Das „Bauernkomman-

50

Ableitinger / Unentwegt Krise

do“ wurde explizit und aktiv „antimarxistisch“ und reagierte damit nicht zuletzt auf die steirische Sozialdemokratie, die ihm im Februar Unterstützung verweigert hatte. Dass diese Verweigerung im Dienst der Lebensmittelver-

sorgung stand und damit der weithin wirksamen Immunisierung der heimischen Arbeiterschaft gegenüber aus Ungarn einsickernden kommunistischen Agenten, kümmerte Brodmann kaum.

Wählen versus Revoltieren: 1919 Wahlkampf und politische Kultur Seit Mitte November herrschte Wahlkampf. Er beendete jedoch nicht die Kooperationen, zu denen man inzwischen gefunden hatte. Die (wenigen) Sitzungen der Landesversammlung verliefen ohne Turbulenzen. Am 6. Dezember wurden in der „Landesordnung für das Land Steiermark“ die Beschlüsse vom 6. November einstimmig an die inzwischen in Wien geschaffenen Normen terminologisch adaptiert; relevant war nur, dass seitdem nicht mehr der Landesausschuss den Landeshauptmann und dessen Stellvertreter wählen sollte, sondern der Landtag selbst.108 Manche wahlkampf bedingten Forderungen wurden einstimmig beschlossen – Gehaltserhöhungen für Lehrer/innen, Verbesserungen für ländliche Dienstboten und städtische Hausgehilfinnen. Nur einmal, Ende Jänner 1919, gab es eine heftige Debatte. In ihr ging es darum, ob ein neu zu schaffendes, elektrischen Strom produzierendes Unternehmen auf Dauer mehrheitlich in öffentlichem Eigentum bleiben und ob seine Aktienmehrheit vom Land oder vom Staat gehalten werden müsse. Wirtschaftskommissär Eisler sprach sich vehement für den Staat als Eigentümer aus, wurde aber von seiner Partei nicht konsequent unterstützt. Die SDAP-Fraktion in der provisorischen Landesversammlung akzeptierte schließlich die nachmalige STEWEAG als Landesgesellschaft, nachdem sie durchgesetzt hatte, dass das Unternehmen überwiegend im Eigentum des Landes bleiben und die Landes-

politik über die Strompreise (mit)entscheiden würde.109 Aber mit dieser konsensbetonten Praxis, die ebenso in Landesregierung und Landesausschuss geübt wurde, vertrugen sich die Erfordernisse des Wahlkampfes kaum. Jedes der drei politischen Lager wusste, dass sein Anhang scharfe Auseinandersetzung erwartete. Denn jedem von ihnen eignete intensive Ideologisierung seiner Kernschichten. Diese kam noch mehr als in programmatischen Auffassungen zu sozialen und politischen Themen in massiven Ressentiments gegen die jeweils „Anderen“ zur Geltung: Von Deutschnationalen und noch mehr von Sozialdemokraten konnte man täglich hören oder lesen, dass Katholiken kulturell rückständig und von „Pfaffen“ indoktriniert wären. – Katholiken, besonders Priester, bezeichneten umgekehrt ihre Rivalen, vorrangig die Sozialdemokraten, nicht nur als religions- und kirchenfeindlich, sondern als Moral generell sowie Familie und Ehe speziell untergrabende Kräfte. – „Proletarier“ hießen Bürger der zwei anderen Lager aus ganzem Herzen kapitalistische Ausbeuter, Reaktionäre und Klassenfeinde – und Bauern deren blinde Mitläufer. Dafür wurden sie von diesen wiederum als Umstürzler und Revolutionäre bezeichnet sowie nicht selten als „Proleten“ diffamiert. Kurz: Auch in der Steiermark hatte sich seit den 1890ern eine politische Kultur etabliert, für die ideologische Fragmentierung und starke Aggressionspotentiale konstitutiv waren. Und diese Kultur forderte im Wahlkampf ihren Tribut. Nur von scharf ab-

Ableitinger / Unentwegt Krise

grenzendem Vokabular erwarteten die Lager­ eliten, ihre potentielle Anhängerschaft beisammen zu halten, gegen Einf lüsse von außen zu immunisieren und möglichst vollständig zur Wahlbeteiligung zu bewegen. Demgemäß sagte die Polizei in Graz bereits im Dezember, das Wahlfieber wäre auf 41 Grad gestiegen.110 Neben den gemeinsamen Zügen hatte jedes Lager freilich seine spezifischen ideologischen Fixierungen sowie politisch-sozialen Besonderheiten. Exkurs: Die politisch-ideologischen Lager Das deutschnationale Lager Das älteste, das deutschnationale – bzw. nach früherer Selbstbeschreibung auch deutschfreiheitliche – Lager pf legte eine klassisch liberale Ideologie, die für Rechtsstaat, Privatwirtschaft, Bildung (für fast alle) und lange Zeit für auf die beati possidentes begrenzte politische Partizipation („Zensuswahlrecht“) eintrat. Mit dieser Ideologie verband sich das Selbstbewusstsein, allein im Einklang mit der modernen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Welt zu stehen, aber auch „Andere“, besonders die nichtdeutschen Nationalitäten, mithilfe des Vehikels „Bildung“ (in deutscher Sprache) auf das eigene Niveau heben zu sollen. Wer sich derartiger Missionierung auf Dauer entzog, kränkte deutschliberalen Goodwill und wurde dafür mit Abqualifizierung „bestraft“. (Analoges galt folgerichtig auch für die katholisch-konservativen und auf schlichte Weise kaisertreuen „Deutschösterreicher“.) Bekanntermaßen wurde das Modell von der „deutschen Kulturmission im Donauraum“ von deren Adressaten nicht angenommen; diese entwickelten eigene Nationalkulturen, vielfach mit ebenfalls liberalen Akzentuierungen. Die jüngere Generation der Deutschfreiheitlichen, zuerst speziell die akademische, reagierte darauf

51

mit Verzicht auf die missionarische Vision der Väter, konzentrierte sich auf die „Bewahrung des deutschen Besitzstandes“ und nannte sich deshalb „deutschnational“; „deutsche“ Interessen genossen für sie im Zweifel Vorrang.111 Zunehmend bezeichnete sich diese Generation überdies als „deutschvölkisch“. Das bedeutete, den Deutschen hervorragende biologische „Rassemerkmale“ zuzuschreiben. Wer durch sie nicht ausgezeichnet war (bzw. genetisch gar nicht sein konnte), verfiel abgestufter Verachtung und oft dem leidenschaftlichen Hass seitens der „Deutschvölkischen“. Das galt vor allem für „die Juden“, vor deren Assimilation an das Deutschtum man die Imagination von etwas „reinem Deutschen“ quasi zu schützen hatte – durch „Arierparagraphen“, die Juden von deutschen Vereinen etc. fern hielten, durch wirtschaftlichen Boykott, durch kulturelle Abwehr (z. B. von „Judenpresse“) usw. Traditioneller Antisemitismus mutierte zu brachial rassischem. Verachtung galt aber zudem „den Slawen“. Sie wie auch „die Juden“ wurden tendenziell und manchmal explizit als „Untermenschen“ disqualifiziert.112 Unvermeidlich bewirkte diese bizarre Ideologie lagerintern andauernd Konf likte: Auf der einen Seite wurde ihre Radikalität nicht von allen im Lager geteilt; auch war sie im politischen und gesellschaftlichen Alltag unverkennbar nicht praktikabel, stets waren irgendwelche Kompromisse zu schließen. Auf der anderen Seite eignete sich grundsätzlich jeder Kompromiss dazu, jene im Lager, die ihn eingegangen waren, dem Verdacht auszusetzen, sie „verrieten“ das Deutschtum oder „zersetzten“ es sogar. So wurde die Geschichte des Lagers seit den 1880er Jahren zu einer Geschichte fortgesetzter Spaltungen – auf parlamentarischen Ebenen manifestiert in immer neuen Fraktionen (Deutsche Volkspartei, Alldeutsche, Freialldeutsche etc.), außerparlamentarisch in zahlreichen Parteien (u. a. seit 1903 einer „nationalsozialisti-

52

Ableitinger / Unentwegt Krise

schen“) und Vereinigungen, z. B. „Schutzverbänden“ wie der „Südmark“ in Graz.113 Analoges war im akademischen Milieu zu beobachten: es gab mehr oder weniger radikale Burschenschaften, mehr oder weniger gemäßigte Korps, bald gab es Differenzen zwischen Studenten und „Alten Herren“, bald gab es sie nicht. Das ging so jahrzehntelang. Noch die „Deutschen Volkstage“ von 1918 waren Manifestationen radikaler Auf lehnung gegen den vorgeblichen Defaitismus der deutschen Reichsratsabgeordneten des Lagers, mithin gegen dessen damaliges personelles Establishment. (Nur das ländliche Segment des Lagers machte solche Spaltungen nicht mit; es sah darauf möglichst unter sich zu bleiben, auch organisatorisch.) In dieser Verfassung erfuhr das Lager den Zerfall der Donaumonarchie. Dass es mit der Verselbständigung der altösterreichischen Nationalitäten seine innenpolitischen Hauptgegner einbüßte und seine Sehnsucht nach dem Anschluss an Deutschland mit den anderen beiden Lagern teilen musste, versetzte es in ein gänzlich verändertes politisches Umfeld. Es verlor gewissermaßen die Alleinstellungsmerkmale. Auch was seine Maximen gewesen waren, sein Antiklerikalismus, sein Antisemitismus, sein Eintreten für die privatwirtschaftliche Sozialordnung, fand sich längst im Repertoire des einen oder anderen seiner Rivalen. In einem Satz: dem deutschnationalen Lager mangelte ab 1918 ideologisch-programmatisches Profil, das über seine Kernschichten, Wirtschaftstreibende und öffentlich Bedienstete, hinaus fasziniert hätte. Bis 1914 hatte das „nationale“ Bürgertum, vom herkömmlichen Zensuswahlrecht begünstigt, das das Gewicht einer Stimme nach der Höhe der Steuerleistung differenzierte, die Landtagspolitik und die kommunale in den Städten und Märkten der Steiermark dominiert. Aber auch ohne Bonus durch den Zensus erreichten seine Kandidaten bei der Reichsrats-

wahl 1911 in elf „deutschen“ Wahlkreisen der Städte und Industrieorte sechs Mandate.114 Noch übte es eine „kulturelle Hegemonie“ aus, nicht zuletzt durch das Ansehen der Presse, die ihm, obwohl formell unabhängig, de facto zugehörte, voran die „Tagespost“ und das „Grazer Tagblatt“.115 Das änderte sich mit Verlauf und Ende des Weltkrieges. Trotzdem leistete es sich weiter, seine internen Rivalitäten öffentlich auszutragen: Kauf leute rieben sich mit Gewerbetreibenden, Hausbesitzer stritten mit den „Festbesoldeten“, zumeist Mietern, die einen favorisierten die eine Partei im Lager, die anderen jene. Persönliche Animositäten schossen reichlich ins Kraut. So kandidierten 1919 in der Steiermark je nach Wahlkreis bis zu vier Parteien des „nationalen“ Bürgertums neben- und gegeneinander, mit dem wichtigsten, 1918/19 ad hoc in Wien zustande gebrachten lockeren Verbund der „Deutschen Demokraten“ konkurrierten „Nationalsozialisten“ (die noch nichts mit der Hitler-Bewegung in München zu tun hatten), „Deutscharische Kriegsteilnehmer“ u. a. m. Unter diesen Umständen war es kein Wunder, dass dieses Bürgertum keine Person hervorbrachte oder duldete, hinter der es sich politisch hätte versammeln können; außer Alfred Gürtler, den es sich 1919 von den Christlichsozialen abwerben ließ, ist auch kein Name aus ihm im historischen Gedächtnis des Landes geblieben.116 Es war nur folgerichtig, dass es gelegentlich der Wahlgänge 1919 absackte. Die Zahl seiner Mandate ging in allen parlamentarischen Organen zurück, am deutlichsten in denen der Landes- und Kommunalpolitik als Konsequenz der Abschaffung des Zensus- und der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes auch für sie. Es sank definitiv zum bloß „dritten Lager“ ab. (Immerhin schlossen sich nach seinen Wahlkatastrophen von 1919 im September 1920 österreichweit mehr als 20 seiner „Parteien“ in der „Großdeutschen Volkspartei“ zusammen, die es dann für ein Jahrzehnt

Ableitinger / Unentwegt Krise

Antisemitisches Hetzplakat der Deutschvölkischen Einigungspartei, 1919

53

StLA

54

Ableitinger / Unentwegt Krise

zu einiger Stabilität brachte lisch-agrarische auf dem – und zur KoalitionsfähigLand und die im engeren keit.) Sinne christlichsozial-kleinWie bereits angedeutet, bürgerliche, anfangs ganz auf verhielt es sich im traditionell Wien konzentrierte. kleineren, dörf lich-bäuerliDie Dörfer der ersten chen Segment des Lagers wurden um 1870 vielfach anders. Dessen Stärke lag in von katholischen Adeligen der überproportionalen Präund Priestern politisiert, um senz seiner Aktivisten im den kirchenkritischen Libeagrarischen Genossenschaftsralismus einzudämmen. In wesen, sekundär bei den den ländlichen Wahlkreisen Lehrern landwirtschaftlicher eroberte diese Richtung – es Schulen. Bis 1914 trat es in fällt schwer, für die Frühzeit Parteien wechselnder Bevon einer „Bewegung“ oder Karl Hartleb zeichnung auf, gegen Ende gar „Partei“ zu sprechen – StLA des Krieges formierte es sich die Mehrheit der Mandate. neu. Am 22. Dezember 1918 gründeten Leo- Trotzdem blieb ihre politische Wirksamkeit pold Stocker und Franz Rottenmanner den gering, außer wenn sich, vom Kaiser gewöhn„Deutschen Bauernbund in Steiermark“. Be- lich begrüßt, mit ihrer Hilfe zusammen mit zeichnenderweise forderte dieser sofort Vertre- anderen konservativen Gruppen gelegentlich tung im Wohlfahrtsausschuss. Seit 1919 kandi- Majoritäten bilden ließen; in der Steiermark dierte der „Bund“ als „Steirische Bauernpartei“ war das nie der Fall. Dann bremsten solche und ging in den 1920ern im „Landbund für „schwarzen“ Koalitionen weitere liberale IniÖsterreich“ auf. Die Partei war in Land und tiativen, Staat und Kirche zu trennen, den StaBund durch bemerkenswerte Konsistenz cha- tus des Religionsunterrichtes im Schulwesen rakterisiert und damit eine berechenbare Größe, abzubauen usw. Mehr oder weniger Einf luss mit der, wenngleich nicht von Anfang an, ver- hatten diese Katholisch-Konservativen außerlässliche Vereinbarungen und Koalitionen ge- dem in unmittelbar agrarpolitisch relevanten schlossen werden konnten. Wohl deshalb mach- Fragen. Eine gesamtpolitische Programmatik ten sich auch manche seiner steirischen Sprecher strebten sie gar nicht erst an; an deren Stelle einen Namen – neben Leopold Stocker begnügten sie sich mit Kaisertreue und An(1886–1950) bald Franz Winkler (1890–1945) hänglichkeit an Kirche und Priester. Deren und Karl Hartleb (1886–1965) sowie etwas spä- betonter „Antimodernismus“ störte sie nicht. ter Franz Thoma (1886–1966).117 Den landesüblichen Antisemitismus teilten sie, aber lange ohne erkennbare Leidenschaft. Ihr Ehrgeiz war gewissermaßen, die Dinge in den Das katholisch-konservative bzw. Dörfern so zu konservieren, wie sie waren. Die ­christlichsoziale Lager Oststeiermark (und analoge Regionen) sollten Im christlichsozial-konservativen Lager ver- „schwarz“ bleiben, und sie blieben es.118 Aus der zweiten Wurzel wuchs hingegen banden sich zwei ursprünglich mental, ideologisch-programmatisch und organisatorisch ganz früh eine echte „Bewegung“ und bald auch eine unterschiedliche Wurzeln: die spezifisch katho- moderne Partei. Mit ihrem zunächst oppositio-

Ableitinger / Unentwegt Krise

nellen Populismus gegen das deutschliberale Establishment Wiens und ihrem ideologischen Pragmatismus, oft auch Opportunismus, war die Bewegung (fast) gänzlich das Werk Karl Luegers. Den zeitgenössisch verbreiteten Antisemitismus teilte sie, sei es gläubig, sei es taktisch als Vehikel zur Mobilisierung der „kleinen Leute“. 1897 avancierte Lueger zum Wiener Bürgermeister. Danach hörten die Christlichsozialen nicht nur in der Stadtpolitik auf, Opposition zu sein, sondern auch im Staat. 1907 erfolgte aus wahlstrategischen Gründen ein lockerer Zusammenschluss der beiden Flügel. Vorerst bildeten sie im Abgeordnetenhaus allerdings bloß eine gemeinsame Fraktion, nur da und dort gab es Fusions-Parteitage. Von da an nannten sich beide Flügel „Christlichsoziale“. Die älteren ideologischen Unterschiede zwischen ihnen waren weitgehend abgebaut, seit „die Wiener“ ihren oppositionellen Gestus abgelegt hatten. (Die wenigen unter ihnen, die die „Katholische Soziallehre“ antikapitalistisch ausgelegt hatten, waren ohnehin längst marginalisiert.) Allerdings vervielfältigten sich durch den Zusammenschluss die interessenpolitischen Postulate, die von der vereinigten Fraktion zu vertreten waren. Die Bewegung, nun die Massenpartei rechts der Mitte und tendenziell eine Volkspartei, mühte sich als solche damit ab, intern den Ausgleich und die Balance der Interessen ihrer Klientel herzustellen und im Tagesgeschäft der Politik bald den einen, bald den anderen Priorität zuzuerkennen. Das ergab in Summe eine visionslose Politik „as usual“ und viele interne Unzufriedenheiten. Doch tangierten diese den Zusammenhalt der Partei darum nicht ernstlich, weil links von ihr mit der Sozialdemokratie die andere Massenbewegung reüssierte, deren Programmatik, Rhetorik und Straßendemonstrationen alle beati possidentes, also mittlerweile auch die Christlichsozialen, nur als Gefahr wahrnehmen konnten, gegen die es Dämme aufzurichten galt. So mutierten die

55

Christlichsozialen mehr oder weniger zu einer Partei des politisch-sozialen Status quo. Sie begannen sogar Brücken zu dem von ihnen bis dahin abgelehnten kapitalistischen Großunternehmertum in Industrie, Handel und Banken zu schlagen; dass dort viele Akteure Juden waren bzw. als solche galten, störte sie de facto nicht, ließ aber dennoch ihren Antisemitismus nicht abebben. Mit dem allem passten sie sich dem obrigkeitlich-bürokratischen Habitus „Altösterreichs“ samt Kaiser, Dynastie und Kirche an; die Allianz mit den Agrariern hatte sie außerdem katholischer gemacht, als es der frühe Lueger gewesen war.119 Als eine Art Staatspartei unterstützten sie die offizielle Außen- und Militärpolitik des Reiches. Demgemäß verhielt sich das Lager während des Weltkrieges ganz passiv, mit Kaiser, Regierung und Armee stürzte es beinahe auch in seine eigene Katastrophe. Erst im Winter 1918/19 entdeckte es, maßgeblich unter dem Einf luss von Ignaz Seipel, der bald zu seinem neuen „Star“ aufstieg, dass nach dem Einsturz der monarchischen Ordnung jetzt „volle Demokratie“ auf seine politische Tagesordnung gehörte. Mit dieser Parole verband es Abwehr der damals überschießenden programmatischen Erwartungen und Machtansprüche der Sozialdemokratie. Gegen deren revolutionären Elan stellte es sich als einzige zuverlässige Barriere dar – mit Blick auf die deutschnationale Zerfahrenheit nicht ohne Grund. Vor allem mit dieser Parole bestritt es seinen Wahlkampf. In der Steiermark hatten die zwei Flügel des Lagers bis 1918 hauptsächlich nebeneinander existiert. Der erste war in seinem Milieu noch stärker verankert, seit Franz Hagenhofer (1855–1922), ein Bauer aus dem Safental im Hartberger Land, 1899 den „Katholisch-konservativen Bauernverein für die Ober-und Mittelsteiermark“ begründet hatte.120 1901 kam mit der „Bauernvereinskasse“ ein Geldinstitut hinzu – auch ihr „Präsident“ blieb bis 1920 Hagenho-

56

Ableitinger / Unentwegt Krise

fer – von dem nur Vereinsschon lange ziemlich ermitglieder Anteile erwerben schlafft. In einem Satz: Auund günstige Kredite beßerhalb der bäuerlichen Rekommen konnten, und zugionen des Landes existierte dem ein „Feuerversichedas Lager politisch nahezu rungsverein“. Beide Institute nicht. entwickelten sich geradezu Im Krieg blieb auch in glänzend und stärkten die Fider Steiermark das gesamte nanzkraft des Bauernvereins. Lager inaktiv, es verfiel sogar Im Rahmen des Katholischen die Organisationstätigkeit Pressvereins verfügte er auseiner Bauern. Mitte Oktoßerdem über das Wochenber 1918 wurde es im Wohlblatt „Der Sonntagsbote“, bis fahrtsausschuss nahezu ignodahin eine Beilage des „Grariert. Diese Erfahrung scheint Franz Hagenhofer zer Volksblatts“. Seine Aufes wiederbelebt zu haben. In StLA lage betrug bereits 1900 beAbstimmung mit Hagenhoachtliche 21.000 Stück, sicher dadurch geför- fer knüpfte schon im Winter 1918/19 der Priesdert, dass es viel Fachinformation über das ter Josef Steinberger (1874–1961) ein Netz von Agrarwesen bot. 1914 zählte der Bauernverein neuen „Pfarrbauernräten“; ausgehend von der 49.000 Mitglieder.121 1911 brachte er es gele- Oststeiermark wurde der Bauernverein mit ihgentlich der letzten Reichsratswahl in den zwölf nen fast überall lokal präsent. Seine Vertrauensländlichen Wahlkreisen der „deutschen“ Steier- leute griffen „vor Ort“ auf, was das Landvolk mark auf insgesamt 53.000 Stimmen und in elf bewegte. Aber die Bauernvereinsspitze, voran der zwölf siegten seine Kandidaten (das dama- Hagenhofer, tat noch mehr. Sie erzwang geralige Mehrheitswahlrecht kam ihnen freilich dezu den wirksamen Zusammenschluss der bisentgegen). lang autonomen Flügel des Lagers: Eine Woche Dagegen war der kleinbürgerliche Flügel nach Gründung des Wohlfahrtsausschusses fordes Lagers, d. h. der im ursprünglichen Sinne derte eine Wählerversammlung des Bauernverchristlichsoziale, bis Kriegsende im Land gera- eins in St. Ruprecht an der Raab am 27. Okdezu armselig positioniert.122 Sein Ergebnis bei tober, zusammen mit anderen katholischen der Reichsratswahl 1911 lautete: ein einziges Organisationen „eine einheitliche, Stadt und Mandat ( Judenburg) in den 15 in Betracht kom- Land umfassende christlichsoziale Landesparmenden städtischen Wahlkreisen. In Graz kam teileitung […] zu schaffen“. Tatsächlich musste er sogar nur einmal in die Stichwahl und im das Lager aktionsfähig werden: ParteiengespräGemeinderat der Stadt verfügte er damals gera- che zur Vorbereitung der Landesversammlung de über drei Sitze. Zwar gab es ein vielfältiges standen an, die Offensive der Sozialdemokratie katholisches Vereinsleben, aber, mit Ausnahme erforderte eine Reaktion. Anfang November der karitativ engagierten „Katholischen Frauen- war das vollbracht; Anton Rintelen wurde Oborganisation“ (KFO), ohne Resonanz nach au- mann der neuen Landesleitung.123 Anton Rintelen (1876–1946) entstammte ßen. Wer in Graz, Leoben, Hartberg usw. nicht sozialdemokratisch wählte, entschied sich fast einer katholischen Juristenfamilie.124 Sein Vater immer für eine der deutschnationalen Gruppen, hatte in Graz eine Anwaltskanzlei etabliert, die die Kirchenbindung des Kleinbürgertums war viel für den Pressverein und die Diözese ar-

Ableitinger / Unentwegt Krise

beitete. Trotzdem pf legte sie gute Kontakte zur deutschliberalen Wirtschaftselite des Landes. Während sein älterer Bruder Karl die Kanzlei übernahm, startete der zweitgeborene Anton eine akademische Lauf bahn. Früh wurde er Professor für Zivilprozessrecht, erst in Prag/ Praha, seit 1911 in Graz. Im Krieg war er, zum Landwehroffizier ernannt, außerdem beim Militärgericht tätig; wegen „schlechter Augen“ kam er für den Frontdienst nicht in Betracht.125 Die steirischen Christlichsozialen bekamen mit ihm erstmals eine urbane, intellektuelle Person, bestens vernetzt in der „Gesellschaft“ der Landeshauptstadt, außerdem mit der österreichischen Juristenelite, voran der in Wien. Beim Militär hatte man ihm „ungewöhnlich rasche Auffassung, Schlagfertigkeit in der Wechselrede“ attestiert. Er wusste zu verhandeln und zu entscheiden.126 Er verstand sich auf Taktik, auch auf raffinierte Züge. Wenn er wollte oder musste, „konnte“ er mit Repräsentanten aller Lager. Er hatte Sinn für die Stärken und die Schwächen von Personen. Er rekrutierte neue, noch unbekannte Mitstreiter für die Christlichsozialen – voran den erwähnten, 1918 erst 30jährigen Jakob Ahrer, den Finanzwissenschaftler Alfred Gürtler, seinen Kollegen an der Grazer Universität, sowie den Professor für Wasserbau an der Technischen Hochschule Hans Paul, bald auch als Landesparteisekretär, Karl Maria Stepan. (Trotzdem stand das Lager, als Rintelens Stern 1933 sank, ohne geeigneten Nachfolger für ihn da.). Seine größte Schwäche bestand wohl darin, sich seinen Partnern bzw. Rivalen überlegen zu wissen und u. a. deshalb immer wieder nach noch mächtigeren Funktionen zu streben. Wenn er meinte, unter seinem Status und seinen Ambitionen behandelt zu werden, reagierte er empfindlich. Vermutlich darum überwarf er sich nacheinander mit den Bundeskanzlern Seipel, Schober und Dollfuß.127 Von letzterem entmachtet, stellte er sich

57

1934 den nationalsozialistischen „Juliputschisten“ als kommender Regierungschef zur Verfügung. Zu lebenslanger Haft verurteilt, wurde er bereits Ende Februar 1938 nach dem „Tag von Berchtesgaden“ amnestiert. Obwohl nach dem „Anschluss“ in den deutschen Reichstag in Berlin berufen, spielte er ab 1938 im Land öffentlich keine Rolle mehr. Er starb Anfang 1946 in Graz. So unrühmlich seine Karriere endete, ab Herbst 1918 war er durch Jahre die Figur, die sein Lager brauchte: integrationsstark zwischen dessen Flügeln Balancen haltend und fähig, über dessen Grenzen hinaus bald kurz-, bald langfristige Kooperationen zu knüpfen. Im Land avancierte er zum „König Anton“. Anfangs genoss er auch bei seinen politischen Gegnern Respekt, ab 1920 aber mischte sich der mit Sorge und Furcht vor seinem Machtwillen, ab Mitte der 1920er zog er sich oft echten Hass zu. So listig, so zynisch-kalt manövrierte Rintelen, dass viele ihm alles zutrauten. Schon im Winter 1918/19 fassten die Christlichsozialen auch in den Städten und Märkten des Landes Tritt. Bei der Wählerschaft kam ihnen die Reputation der „Frauenorganisation“ sehr zugute, vorrangig bei den neuen Wählerinnen, aber auch über diese hinaus. Innerhalb der „KFO“ wurde eine „Politische Sektion“ geschaffen. Was diese im Detail inhaltlich in die Partei einbrachte, ist nicht bekannt. Personalpolitisch war sie nicht ganz ohne Einf luss; die Zahl von Frauen im Landtagsklub ihrer Partei überstieg zeitweise jene im sozialdemokratischen. Sonst freilich blieb das Organisationswesen der Partei außerhalb ihres bäuerlichen Flügels allzu vielfältig, reich an Eifersüchteleien, außerdem finanziell schwach. Das Landessekretariat, von Karl Maria Stepan geleitet, existierte erst seit den frühen 1920ern. Für die gesamte Obersteiermark gab es 1919 nur eine Bezirksstelle in Leoben; anderswo besorgte der Bauernverein das Tagesgeschäft.128

58

Ableitinger / Unentwegt Krise

Das sozialistische Lager An Organisationskraft überragte das sozialistische Milieu alle anderen bei weitem.129 Um seine im engeren Sinne „politische Organisation“ als Nukleus, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei/SDAP, lagerten sich die „Freien Gewerkschaften“, außerdem Genossenschaften (voran der „Konsum“) sowie ein dichtes Vereinsnetz, das, wie es hieß, „von der Wiege bis zur Bahre“ den „Proletariern“ umfassende Betreuung bzw. Freizeitaktivitäten anbot (z. B. Versicherungs- und Mietervereinigungen, „Naturfreunde“, Radfahrklubs). Im Ganzen war dies ein ziemlich abgestimmter Komplex; zahlreihe personelle Verf lechtungen sorgten dafür. Als oberstes Verhaltensmuster galt in ihm „Disziplin“ – intern wie nach außen. Sie begünstigte, dass politische Einschätzungen und Entscheidungen der jeweils übergeordneten und speziell der zentralen Instanzen kaum angefochten wurden; das Vertrauen in sie und die Loyalität zu ihnen waren fast immer sehr stark. Der Primat der „Partei“ stand im Lager nie in Frage. Dessen andere Organisationen erfreuten sich abgestufter Autonomie. Das Rückgrat der Partei bildete ihr „Apparat“ von Vertrauensleuten. Er hielt permanenten Kontakt zu den Mitgliedern, über ihn ließen sich diese jederzeit mobilisieren, vor allem in „heißen“ Zeiten bzw. Situationen. Dazu half zudem die Parteipresse, in der Steiermark „Der Arbeiterwille“. Die steirische Partei zählte im Juni 1918 – nach einem Abfall im Krieg – wieder 24.000 Mitglieder, Mitte 1919 nach eigenen Angaben bereits 56.280.130 Wie mit Victor Adler auf zentraler Ebene hatte sie im Land mit Hans Resel seit den 1890ern einen unumstrittenen Vorsitzenden.131 Im Herbst 1918 fühlte sich das Lager stärker denn je und sah trotz aller Not große Chancen, seine programmatischen Ziele ein gutes Stück weit zu realisieren. Aus seiner Sicht hatten sich

während des Krieges und an seinem Ende der Kapitalismus und seine Profiteure, die „Bourgeoisie“, so ausreichend disqualifiziert, dass die Zeit reif geworden war für den Durchbruch in die ersehnte „klassenlose Gesellschaft“ des „Sozialismus“. In dieser bis dahin einzigartig „revolutionären Situation“ hätten Lager und Partei die Gelegenheit und zugleich die Pf licht, sich als die Avantgarde einer „neuen Welt“ zu beweisen, d. h. den nach Karl Marx ohnehin zwingenden Geschichtsprozess „revolutionär“ zu beschleunigen. Allerdings verbot ihnen die Wahrnehmung, dass in Österreich dennoch das erwähnte „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ existiere, die Leninsche „Diktatur des Proletariats“ nachzuahmen. Denn diese drohte nicht nur Bürgerkrieg zu provozieren, sondern zudem die Einstellung von Hilfslieferungen seitens der Entente-Staaten und also der „Reaktion“ in die Hände zu arbeiten. Die SDAP präferierte daher den parteipolitisch pluralistischen, zugleich parlamentarischen Weg. Dabei setzte sie voraus, dass ihr auf ihm der Elan der „Massen“ genug Macht verschaffen werde, um schnell eine so energische sozialistische Gesetzgebung in Gang bringen zu können, dass die Vorgänge in ihrer Gesamtheit die Bezeichnung „revolutionär“ rechtfertigten – worauf besonders die „Linken“ viel Wert legte, voran deren führender Kopf Otto Bauer (1881– 1938). Das Konzept lautete, pausenlose Kundgebungen und Aufmärsche „auf der Straße“, Streiks und Streikdrohungen, kombiniert mit entschlossenem Agieren der Partei in den Regierungsorganen der Republik, vor allem in der Volkswehr, würden in kurzer Frist Bürger und Bauern zermürben, die überzeugenden, ja faszinierenden Gesetzesinitiativen der Partei würden das „Gleichgewicht der Klassenkräfte“ zugunsten des Proletariats verschieben und der Partei bei Wahlen so viele neue Wähler zuführen, dass sich ihre Politik als vollkommen demokratisch auswies. Diese Vision versprach

Ableitinger / Unentwegt Krise

zudem, die „revolutionäre“, marxistische Tradition des Lagers mit der taktischen Flexibilität der Partei im politischen Alltag quasi zu „versöhnen“, d. h. mit der Taktik temporären Kooperierens mit den politischen Parteien des „bürgerlichen“ Klassenfeindes. Solche „Versöhnung“ galt der Partei als unverzichtbar, weil sie ihre Anhänger gegenüber Verlockungen von linksradikaler Seite weitgehend zu immunisieren und die „Einheit der Arbeiterklasse“ unter Führung der SDAP zu bewahren versprach. Immerhin existierte seit November 1918 mit der neu geschaffenen „Kommunistischen Partei Deutschösterreichs“ (KPDÖ, später KPÖ) ein organisatorischer Anker für linksradikale Erwartungen und Sehnsüchte, der, weil am „russischen“ Muster orientiert, von der SDAP als Rivale absolut ernst zu nehmen war. Man darf vermuten, dass das Resultat, das sich die SDAP von dieser ihrer Strategie erwartete, sehr dem ähneln sollte, was bald mit der Etablierung des „Roten Wien“ tatsächlich geschah: „Herrschaft der Arbeiterklasse“ mittels überzeugender Sozial- und Wirtschaftspolitik im Interesse der städtischen „Massen“, ausgeübt durch die Partei und deren dominante öffentliche Präsenz, legitimiert durch anhaltend glänzende Wahlergebnisse. Den soziologischen Verhältnisse im Großraum Wien – allenfalls auch denen in den Industriezonen Niederösterreichs, der Obersteiermark und, mit Einschränkungen, im Ballungsgebiet Graz – entsprachen aber nicht die in den Kleinstädten, Märkten und Dörfern der Länder. In ihnen war die Sozialdemokratie nur lokal bzw. regional stark. In der „deutschen“ Steiermark hatte sie es 1911 auf rund 30 Prozent Stimmenanteil gebracht, ein sehr gutes Resultat, doch kein hinreichendes für eine demokratisch fundierte Dominanz der Arbeiterklasse. Zwar hatten der Krieg und seine sozialen „Nebenwirkungen“ das Meinungsklima in vielen Ländern nach links verschoben, doch standen

59

Intensität und Dauer solchen Meinungswandels dahin. Kurz: Falls die Wahl, die nun am 16. Februar 1919 anstand, der SDAP nicht im erwarteten Umfang Zulauf neuer Wähler – nunmehr vor allem Wählerinnen! – bescherte, einfacher gesagt, nicht die parlamentarische Mehrheit einbrachte, wurde das Problem aktuell, wie sich ihre parlamentarisch-demokratische Taktik und ihr oberstes Ziel („Sozialismus“) miteinander vertrugen. Lager und Partei standen dann vor einem Dilemma: Sie konnten sich zur „russischen“ Option quasi bekehren oder sich als Partei ohne Anspruch auf „historischem“ Vorrang vor anderen Parteien positionieren. Die erste war, wie gesagt, angesichts des „Gleichgewichts“ nicht ratsam; sie zu imitieren, widersprach mit Blick auf die abstoßenden Praktiken im zeitgenössischen Sowjetrussland auch der in der mittel- und westeuropäischen Zivilisation verwurzelten Selbstwahrnehmung der SDAP. Die zweite beinhaltete allerdings, von der Erwartung Abschied zu nehmen, innerhalb kurzer Frist die „neue Welt“ ein gutes Stück weit realisieren zu können, und stattdessen darauf zu setzen, in langfristigen Prozessen möglichst viele Elemente sozialistischer Programmatik zur Geltung zu bringen. Für diese Konzeption stand in der SDAP primär Karl Renner (1870–1950). Als die Wählerschaft der SDAP erstmals im Februar 1919 die Majorität im Parlament verweigerte, vermied die Partei die Entscheidung zwischen den beiden Optionen und verfolgte, nicht nur, aber auch wegen des hohen Wertes, den sie der „Einheit der Arbeiterklasse“ beimaß, de facto eine mittlere Linie, die, im populären Sinn des Wortes „austromarxistische“. Auf ihr propagierte sie einerseits weiter ihr traditionelles sozialistisches Narrativ samt revolutionärer Rhetorik und stilisierte sich damit als nach wie vor grundsätzliche Alternative zum, nach ihrer Diktion, kapitalistischen Gesellschafts- und Politiksystem. Andererseits ließ sie offen, ob, wie lange und zu welchen Konditionen sie trotzdem

60

Ableitinger / Unentwegt Krise

weiter Teil der Staatsregiedrückten und wie die Druckrung bleiben oder, wie 1920 stellen beseitigt werden geschehen, in die Rolle der konnten. Analog hielten es Opposition wechseln werde. die meisten KommunalpoliBauer persönlich tendierte tiker der SDAP, vor allem zunehmend in die Oppositiihre Bürgermeister in Städon, wogegen Renner für ten und Industrieorten; Vindauerhafte, sogar verfaszenz Muchitsch in Graz versungsrechtlich geforderte körperte diesen Typus paraRegierungsbeteiligung aller digmatisch und genoss dafür relevanten Parteien eintrat allseits großes Ansehen. Al(sog. „Proporzsystem“).132 lerdings fehlte es auch nicht Die steirische Sozialdean Kommunen, in denen sich mokratie orientierte sich die lokal überlegene SDAP überwiegend an Renners bzw. manche ihrer RepräKonzeption der vielen kleisentanten als Herrschende nen Schritte. Sie war gern betrugen – z. B. Anton PichVinzenz Muchitsch und aus Überzeugung Reler und später Koloman WalSammlung Kubinzky gierungspartei – im Land, in lisch in Bruck an der Mur – den Kommunen, auch in den und dafür heftige Reaktionur in der Steiermark existierenden, insgesamt nen ernteten. Den Parteivorstand in Graz brachwenig relevanten Bezirksvertretungen. Ihrer ten sie damit mehrfach in Verlegenheit. AnaloFührungselite blieben marxistische Gedanken- ges galt, wenn Freie Gewerkschafter Betriebe gänge im Grunde fremd. Davon machten nur zu „closed shops“ machen wollten, d. h. von einige Parteisekretäre und Betriebs- bzw. Ge- deren Beschäftigten mit einigem „Nachdruck“ meindefunktionären in der Obersteiermark erwarteten, vollzählig „organisiert“, also GeAusnahmen sowie manche Redakteure des werkschaftsmitglieder zu sein. In den bürgerli„Arbeiterwille“, z. B. Michael Schacherl, Mo- chen Lagern hieß das „roter Betriebsterror“.133 Anfangs, im Winter 1918/19, existierten ritz Robinson bzw. in den frühen dreißiger Jahren Ernst Fischer und Kurt Neumann. Das strategisch-taktische Differenzen zwischen maßgebliche Personal der SDAP im Land und „Graz“ und „Wien“ in der SDAP allerdings seinen Gemeinden setzte sich nicht aus Intellek- noch nicht. Resels offensiver Elan während der tuellen zusammen, die es nötig fanden, ihr Tun frühesten Stadien der Volkswehr in der Steierund Lassen als ideologisch „korrekt“ zu argu- mark brauchte keine Anweisungen aus Wien. mentieren, es bestand soziologisch aus Fachar- Erste Spannungen mit der „Zentrale“ ergaben beitern, die ihre Sozialisation „vor Ort“ in Be- sich bezüglich des Verhaltens gegenüber dem ab triebsstätten erfahren hatten – Hans Resel Anfang 1919 unerwartet kräftigen Aufschwung (1861–1928) als Schneider, sein Nachfolger bis von Linksradikalismus bzw. KPÖ in der Steier1934 (und wieder von 1945–1960) Reinhard mark. Seite an Seite mit allen anderen Parteien Machold (1879–1961) als Drucker, Josef Pon- nahm die SDAP im Land die kommunistische gratz (1863–1931), der langjährige Landeshaupt- Herausforderung kämpferisch an – und erntete mannstellvertreter, als Tischler. Sie interessierte dafür in Wien Kritik. Seit die Gesamtpartei primär, wo die „Massen“ konkret die Schuhe 1920 für die Opposition in der Bundespolitik

Ableitinger / Unentwegt Krise

entschied, wurde der Gegensatz der Steirer zu ihr vollends latent. Freilich posaunte man ihn nicht lauthals hinaus. Erst um 1930 begegnen Hinweise darauf, dass die steirischen Genossen den damals schon seit einem Jahrzehnt praktizierten, oppositionellen Mainstream der SDAP für substantiell irrig hielten. (Davon wird berichtet werden.) 16. Februar 1919: Die Wahlergebnisse Das Wahlergebnis des 16. Februar 1919 brachte ebenso Erwartetes wie Überraschendes. Die Wahlbeteiligung war mit knapp 85 Prozent erstaunlich hoch, die Zahl der ungültigen Stimmen im ganzen Staat mit rund 25.000 bemerkenswert niedrig. Unter den Wahlberechtigten gab es 53,6 Prozent Frauen, unter den tatsächlich Abstimmenden 52,2 – eine bemerkenswert geringe Differenz. In der Steiermark lauteten die entsprechenden Zahlen 85,2 Prozent bzw. 52,4 und 51,25 Prozent.134 In Deutschösterreich lag die SDAP um 143.000 Stimmen vor der CSP. Doch erreichte sie nur eine relative Mehrheit an Stimmen und Mandaten (40,76 %, 72 Sitze); damit setzte ihr oben skizziertes strategisches Dilemma ein. Die Christlichsozialen kamen auf 35,93 Prozent der Stimmen, brachten es aber dank der Vielzahl der Wahlkreise auf 69 Mandate. Mit Sicherheit dankten sie diese unerwarteten Erfolge primär dem Abstimmungsverhalten der Frauen; unter den auf die Partei entfallenen Stimmen lagen die von Frauen um etwa 30 Prozent über denen von Männern.135 Die diversen Deutschnationalen erzielten in Summe 18,36 Prozent und 26 Mandate; sie waren, wie gesagt, nun wirklich nur mehr das „dritte“ Lager. – Drei Sitze entfielen auf drei Splittergruppen. – Zusammen waren 162 Mandatare gewählt worden. Acht wurden anschließend ernannt, um auch Deutsch-Süd­t irol und der Untersteiermark Vertreter zu geben.136

61

Regional sahen die Resultate, wie zu erwarten gewesen war, sehr unterschiedlich aus. In Wien erzielte die SDAP 55,4 Prozent Stimmenanteil und 313.000 mehr Stimmen als die Christlichsozialen (22,3 %). Das ließ die Partei in der Hauptstadt anscheinend glauben, ihr Sieg im ganzen Staat wäre größer, als die Zahlen sagten. In allen anderen späteren Bundesländern, ausgenommen Kärnten, lag die CSP voran. In der Steiermark siegte diese mit 39,8 Prozent Stimmanteil. Die SDAP kam auf 34,6 Prozent, eine beachtliche Steigerung gegenüber 1911; ihr Abstand auf die CSP betrug nur knapp 22.500 Stimmen. Die bürgerlichen Deutschnationalen („Deutschdemokraten“ plus die kleinen Splittergruppen) und die Bauernbündler erreichten zusammen 25,6 Prozent der Stimmen. Wie von ihnen erhofft, waren die Christlichsozialen von der Wählerschaft als die „bürgerliche“ Alternative zur Sozialdemokratie anerkannt worden. Das galt zwar am wenigsten für die Landeshauptstadt, wo die SDAP mit 32,8 Prozent der Stimmen zur relativ stärksten Partei aufstieg, die CSP aber mit 19,2 Prozent hinter den deutschnationalen Gruppen (zusammen 24,6 %) nur den dritten Platz belegte; immerhin hatte sie sich gegenüber 1911 spürbar verbessert.137 In den Wahlkreisen Mittel- bzw. Oststeiermark dagegen erhielt die CSP mit 51,5 bzw. sogar 60 Prozent Stimmanteil absolute Mehrheiten, wogegen die deutschnationalen Kandidaturen, unter ihnen voran die Bauernpartei, sich mit 24,7 bzw. 22,5 Prozent begnügen mussten, beide allerdings vor der SDAP. – Diese konnte mit 11,5 Prozent in der Oststeiermark in der Tat nicht zufrieden sein, umso mehr aber mit ihren Resultaten im Grazer Wahlkreis (39,9 %) und erst recht im territorial ausgedehnten obersteirischen (53,3 %). Dieses letzte Ergebnis kam dem in Wien nahe, wurde aber in einem Gebiet erzielt, das in weiten Regionen beinahe ganz dörf lich-agrarisch strukturiert war; demgemäß kamen die Stimmen für

62

Ableitinger / Unentwegt Krise

die SDAP weit überwiegend aus dem dichtbesiedelten und industrialisierten Mur- und Mürztal zwischen Judenburg und Mürzzuschlag. – Die Christlichsozialen erreichten in der Obersteiermark nur (oder: immerhin?) 21,3 Prozent, die Bauernpartei 12 Prozent; für die im „Oberland“ unvermeidlich bescheidene CSP kam es darauf an, die „Bündler“ auf Distanz zu halten; das war gelungen.138 – Auf Basis der Wahlen entsandte die CSP zwölf, die SDAP acht, die Bauernpartei drei Abgeordnete in die Nationalversammlung, die Deutschdemokraten nur einen. Zusätzlich entfiel von den für die Untersteiermark zu ernennenden Mandataren auf jedes Lager einer. Stabilisierung versus Unruhen Die Wahlen selbst und die hohe Wahlbeteiligung statteten die im Herbst geschaffenen politischen Institutionen mit einem Mehr an Legitimität aus, indirekt auch die im Land. Die Parteiführungen genossen offensichtlich das Vertrauen der Masse ihrer Wähler. Das machte sie handlungs- und, wenn sie es wollten, untereinander kooperationsfähiger. Auch dass sich die deutschnationalen Gruppen (inklusive der „Bauernpartei“) in Wien parlamentarisch in einem Klub, der „Großdeutschen Vereinigung“, zusammenschlossen, förderte das: weniger Fraktionen im Haus erleichtern Kompromissfindung und Mehrheitsbildung. In Summe waren das Elemente möglicher Stabilisierung. Ihnen standen allerdings Potentiale von Destabilisierung entgegen. In Wien entstand Mitte März eine „rotschwarze“ Koalition für die neu zu bildende Staatsregierung; die erwähnten „Großdeutschen“ weigerten sich, in sie einzutreten. In ihr dominierte vorerst die SDAP. Auf ihren Koalitionspartner nahm sie wenig Rücksicht. Sie behielt nicht nur die bisher von ihr besetzten Staatsämter und zusätzlich das für das Heerwesen ( Julius Deutsch anstelle von Josef Mayer),

von ihr stammten außerdem die wichtigsten Gesetzesinitiativen, vor allem sozialpolitische. Außerdem forderte in ihrem Namen Matthias Eldersch, es müssten „alle föderalistischen Bestrebungen der Vergangenheit angehören“.139 Am 3. April beschloss sie zusammen mit den Großdeutschen gegen die CSP die Landesverweisung und die Übernahme des Vermögens des Hauses Habsburg durch den Staat. Das alles irritierte die Christlichsozialen zunehmend. Mitte Mai stimmten erstmals sie mit den Großdeutschen im Parlament gegen die SDAP, obwohl der Vollzugsausschuss der Arbeiterräte sie davor gewarnt hatte. Es ging um Passagen des von der gemeinsamen Regierung vorgelegten Betriebsrätegesetzes; die Steirer Georg Gimpl (CSP) und Viktor Wutte (GDVP) spielten dabei die ersten Geigen. Andere Zankäpfel in der Koalition betrafen weiter die Volkswehr und bald auch den Status der Länder.140 In der Landespolitik waren die Christlichsozialen nach ihrem Wahlsieg bald noch weniger so zu marginalisieren wie in Wien. Zuerst versuchte die SDAP zwar, das Sicherheitswesen noch stärker unter ihre Kontrolle zu bringen. Unter den Militärbevollmächtigten wurde Resel für Volks-, Heim- und Sicherheitswehren sowie für deren Ausstattung mit Waffen, Munition und Betriebsmittel allein zuständig; Einspinners Kompetenzen waren viel bescheidener, die Hubers wurden gar nicht erwähnt. Doch bereits Anfang März erreichte die CSP, dass die Militärbevollmächtigten zugunsten eines „Wehr- und Sicherheitsausschuss“ des Landesrates abgeschafft wurden; in den entsandte die CSP Jakob Ahrer. Allerdings dauerte es noch Wochen, bis der Ausschuss zu arbeiten begann. Noch bevor es so weit war, wurden die zwei Bataillone Arbeiterhilfskorps in die Volkswehr übergeführt. Ob das Ende März bereits im Einklang mit Ahrer vor sich ging oder noch an ihm vorbei, ist unbekannt. Ab Ende April jedenfalls musste der Landesbefehlshaber, mittlerweile war an die Stelle

Ableitinger / Unentwegt Krise

Reisingers Franz Mitteregger getreten, in allen wichtigen Fragen das Einvernehmen mit dem Ausschuss herstellen: Das betraf speziell Sachdemobilisierung, d. h. Verteilung der Güter, Gebäude und Grundstücke der alten Armee, maßgebliche Personalentscheidungen, Aufnahmen in die und Entlassungen aus der Volkswehr u. a. m. Damit wurden die Entscheidungsspielräume von Staatssekretär Deutsch beschränkt. Schließlich lief nun auch die Verbindung zwischen Volkswehrkommando und Landessoldatenrat über den Ausschuss. In einem Satz: Landespolitiker, nicht zuletzt christlichsoziale, nahmen auf das Wehrwesen noch mehr Einf luss als zuvor und zogen damit dem provisorischen Wehrgesetz vom 6. Februar 1919 mit seiner zentralisierenden Tendenz einige Zähne.141 Dass die steirische SDAP nach den Wahlen die, gemessen am Herbst 1918, bedeutendere Rolle der CSP akzeptierte, hatte mit ihrer Entscheidung zu tun, dem anschwellenden Linksradikalismus im Land, speziell der Propaganda der KPDÖ, nachdrücklich entgegenzutreten. Diese Partei kandidierte am 16. Februar bewusst nicht, sie hielt nichts von Parlamentarismus und Pluralismus der Parteien. Trotzdem betrieb sie Opfer der Zusammenstöße am Murplatz in Graz, 22. Februar 1919 Sammlung Kubinzky

63

vor und nach dem Wahltag eine heftige Agitation, konzentriert auf Heimkehrer, Kriegsinvalide usw., d. h. vielfach Arbeitslose, aber auch auf Volkswehrmänner. Auch das Arbeiterhilfskorps trachtete sie zu unterwandern; manche vermuteten in ihm bis zu 3.000 kommunistische Sympathisanten.142 Die Kampagne der KPÖ mündete in der Woche nach der Wahl in Graz in blutige Auseinandersetzungen. Donnerstag, den 20. Februar, drohte ihr Redner Heinrich Brodnig, dass, falls seine Forderungen an die Landesregierung nicht erfüllt würden, sich am Samstag „Ereignisse abspielen, die Graz noch nicht erlebt hat“. Darauf zog die Landesregierung für den 22. Februar Polizeikräfte zusammen, sogar solche aus Wiener Neustadt. In Graz wurden Versammlungen verboten. Trotzdem gingen Menschen massenweise auf die Straße, die untere Annenstraße und der Südtirolerplatz waren am Nachmittag voll. Aus dem dortigen Hotel „Zum Elefanten“ fiel ein Schuss, worauf die an der Murbrücke postierte Studentenkompanie das Feuer eröffnete. Das Arbeiterhilfskorps, es hatte sich als Puffer zwischen den Demonstranten und der Polizei postiert, schoss zurück. Offen-

64

Ableitinger / Unentwegt Krise

sichtlich verliefen die Abgrenzungen zwischen Aufrührern und Ordnungskräften unübersichtlich. Fünf Tote und zwölf Verletzte lagen auf der Straße. Exekutive und Studenten zogen sich auf den Hauptplatz zurück, wo bis in den späten Abend aus dem und auf das Rathaus weiter geschossen wurde. Wieder gab es zwei Tote und zahlreiche Schwerverletzte. Beruhigung kehrte erst ein, nachdem die Studenten, von Polizei eskortiert, abgezogen waren.143 Obwohl die Mehrzahl der Opfer Arbeiter waren, die unorganisiert demonstriert hatten, sah die SDAP keinen Grund, gegen das Vorgehen der Exekutive zu protestieren. Im Gegenteil, Oberzaucher bezeugte explizit, dass der erste Schuss „aus der Menge“ gefallen war. „Nicht von den Studenten. Das weiss (sic!) ich bestimmt“. Auch das Grazer Volkswehrbataillon 2 erklärte: „Wir haben mit den Kommunisten nichts gemein“. Analog äußerten sich die „Soldatenräte des Landes Steiermark.“144 Die kommunistische Offensive war durch den Rückschlag, den sie in Graz erfahren hatte, allerdings nicht gestoppt. Im Gegenteil, sie erfuhr zusätzlichen Auftrieb, als Mitte März die ungarischen Genossen, angeführt von Bela Kun, die Macht an sich rissen und nach russischem Vorbild die „Rätediktatur“ proklamierten. Agitatoren, Propagandamaterialien, Geld und Waffen konnten nun – trotz des bald eingerichteten „Grenzschutz Ost“, getragen von Volkswehroffizieren und ihnen beigeordneten Heimwehren145 – ziemlich ungehindert in die Steiermark gebracht werden – selbstverständlich ebenso in den Wiener Raum. Schwerpunkte der Agitation waren wieder Graz sowie die Industriezonen der Obersteiermark. Der Kohlenbergbau in Seegraben und das Hüttenwerk in Donawitz wurden von „Proletariern“ besetzt, vorgeblich um beide sofort zu „sozialisieren“. Landesrat Eisler, der am 6. April die vorsichtigere SDAP-Linie vor einer Massenversammlung in Leoben erläuterte, brüllte man nicht nur

nieder, man vertrieb ihn sogar.146 Das verhieß nichts Gutes für die im Mai bevorstehende Landtagswahl. Deshalb verschärfte die steirische SDAPFührung ihren Kurs gegen die Kommunisten. Noch bevor am Gründonnerstag, dem 17. April, in Wien ein KP-Putschversuch knapp scheiterte – sechs Tote, darunter fünf Polizisten, und rund 50 Verletzte waren zu beklagen –, gab die SDAP-Leitung im Land „grünes Licht“ für das Einschreiten der Sicherheitsbehörden gegen die Kommunisten. An der Grenze gegen Ungarn an der Lafnitz – noch existierte kein Burgenland – fielen Schüsse, Propagandamaterial und Waffen wurden beschlagnahmt, ungarische Agitatoren, hauptsächlich Eisenbahner, festgenommen. Am 24. April kamen Brodnig und viele andere KP-Funktionäre hinter Schloss und Riegel. Nicht Landeshauptmann Kaan trieb diese Aktionen an, sondern Rintelen; auch er dachte an die Landtagswahl und wollte sich als „starker Mann“ in Szene setzen. Die kommunistische Organisation im Land wurde durch dies alles weitgehend zerstört. Anders war es in Wien, wo am 15. Juni noch einmal ein gefährlicher Putschversuch stattfand. Aber sechs Wochen später brach das „Rätesystem“ in Ungarn zusammen; es hatte sich innen- und außenpolitisch übernommen. Nach dem „roten Terror“ gab es dort dann den „weißen“, mit dem, wie gesagt, Brodmanns „Bauernkommando“ kooperierte. „Rote“ f lohen nach Österreich; unter ihnen war Koloman Wallisch. – Österreich hatte die Phase ernsthafter sozialrevolutionärer Umsturzversuche hinter sich. Auf der zweiten „Reichskonferenz“ der Arbeiterräte im Frühjahr und auf dem Parteitag der SDAP im Herbst 1919 in Wien wurden die Steirer für ihr Vorpreschen vom April gescholten; „mit den Kommunisten steirisch reden“, war dort noch kein Lob. Sie antworteten, sie wären selber genügend radikal und sozialistisch und bräuchten keine Belehrungen.147

Ableitinger / Unentwegt Krise

Trotzdem kam es noch zu vereinzelten Unruhen, teils unpolitischen spontanen Rechtsverletzungen und manchmal Tumulten, teils zu solchen mit politischem „Beigeschmack“. Zahlreiche Wilddiebstähle in der Obersteiermark hatten mit Politik nichts zu tun, sie entsprangen, selbst wo sie „organisiert“ stattfanden, allein dem anhaltenden Fleischmangel.148 Auf dem Land gab es Aufruhrakte gegen die Gendarmerie, wenn diese z. B. ablieferungspf lichtiges Vieh von den Höfen abholte. Solche Aktionen sind zwischen Jänner und März 1919 aus Dörfern wie Semriach, Stubenberg, Winzendorf, Gosdorf bezeugt; in Gosdorf fand noch 1920 ein richtiges Feuergefecht zwischen Bauern und Gendarmen statt.149 Ähnliches begegnete, wie erwähnt, in Pöllau, Gleichenberg, Feldbach und Hartberg, in Feldbach wiederum Mitte Mai 1920 mehrere Tage in Folge; dort griffen angeblich 3.000–4.000 plündernde Menschen die Gendarmerie an. Unruhen in Kirchberg an der Raab führte Rintelen auf kommunistische Agenten aus Ungarn zurück.150 Stimmzettel für die Landtagswahl 1919, Wahlkreis Nr. 2, Vorort Leibnitz  StLA

65

In allen diesen Fällen fehlte es nicht an (lager-) politischen Zügen. Analog verhielt es sich bei Hungerdemonstrationen, die sich in Leoben und Graz noch im Februar bzw. März 1920 ereigneten: Sie begannen spontan, aber kommunistische Agenten nutzten sie und feuerten sie einmal mehr an. In Leoben kam es zu Schusswechseln mit fünf Toten, in Graz wurde die Burg förmlich überfallen: Landesrat Machold entkam nur mit Hilfe seines christlichsozialen Rivalen Ahrer.151 11. Mai 1919 – Landtagswahl Inzwischen ist in der Steiermark die Landtagswahl für 11. Mai anberaumt. Dass Ruhe und Ordnung weitgehend wieder hergestellt sind, kommt ihr zugute. Die SDAP hat die kommunistische Konkurrenz im Land vom Hals. Die Christlichsozialen haben gegenüber ihrer, zuvor oft verschreckten Anhängerschaft Stärke und Selbstbewusstsein demonstriert. Sogar in der Nationalversammlung haben sie Tritt ge-

66

Ableitinger / Unentwegt Krise

fasst, viel von dem, was die SDAP seit März in ihr gefordert hat, ist gebremst, nicht zuletzt deren Programm der „Sozialisierung“ von Unternehmen. Aber „Sozialisierung“ bleibt natürlich Wahlkampfthema. Ein anderes ist, wie bereits im Februar, Länderföderalismus versus Zentralismus. Die SDAP tritt, jedenfalls in Wien, tendenziell für diesen ein; wir erinnern an Elderschs Forderung. Sie forciert, nicht zuletzt um die Landeshauptleute zurückzudrängen, mehr Selbstverwaltung der Gemeinden und Bezirke; sie will, dass anstelle der Bezirkshauptmannschaften echte, gewählte „Bezirksparlamente“ treten, die Bezirksregierungen bilden.152 Den Christlichsozialen hingegen geht es um ein Maximum von Landesautonomie; besonders über Lebensmittelwirtschaft und Rohstoffnutzung soll das Land entscheiden.153 Das macht sich gut bei den Wählern, besonders bei den bäuerlichen. Bei der Landtagswahl wiederholt sich die Konstellation vom Februar: Alle drei Lager treten gegeneinander an, die Deutschnationalen allerdings noch stärker zersplittert als im Winter, im Grazer Wahlkreis sogar mit fünf rivalisierenden Listen. Die „Nationalsozialisten“ kandidieren selbständig nur in der Obersteiermark. Die deutschfreiheitliche Bauernpartei ist von dem allem nicht betroffen, sie stellt sich dem Wähler überall. Das auffälligste Ergebnis der Wahl vom 11. Mai ist das drastische Absinken der Wahlbeteiligung – von 82 Prozent im Februar auf jetzt knapp 70 Prozent.154 Bei ziemlich unveränderter Zahl von Wahlberechtigten gibt es rund 70.000 weniger gültige Stimmen. Die geringe Beteiligung wirkt sich sehr unterschiedlich auf die drei Lager aus: Die Christlichsozialen bekommen nur ca. 3.000 Stimmen weniger als im Februar; das macht 46,5 Prozent Stimmenanteil für sie – ein Triumph. Auch die Bauernpartei hält sich sehr gut; sie verliert nur etwa 1.000 Stimmen und erzielt 12,7 Prozent der Stimmen.

Dass alle bürgerlichen Deutschnationalen zusammen von rund 48.000 Stimmen auf 23.500 absacken, d. h. auf nur mehr 6,5 Prozent, haben sie sich selbst zuzuschreiben. Viele ihrer Anhänger haben sich für die CSP entschieden, viele sind nicht zur Wahl gegangen. – Verlierer des Tages sind aber auch die Sozialdemokraten: Sie erreichen insgesamt nur noch 34,3 Prozent und haben etwa 23.000 Wähler weniger als im Februar, ihr Abstand auf die CSP beträgt nun 45.000 Stimmen. Die Partei hat möglicherweise den Kampf gegen die Kommunisten übertrieben, sodass viele ihrer Sympathisanten der Wahl ferngeblieben sind. Die Wahlkreisergebnisse zeigen grosso modo dasselbe Bild wie im Februar. Doch gibt es Auffälligkeiten: Die SDAP büßt am meisten in ihren Hochburgen ein, in Graz und Umgebung fast exakt 10.000 Stimmen (bei insgesamt 88.100 gültigen Stimmen) und in der Obersteiermark rund 9.000 (bei insgesamt 117.500) – ca. ein Viertel bzw. ein Fünftel derer, die sie bei ihrem Höhepunkt im Winter einmal gewählt hatten, sind ihr nun nicht wieder gefolgt. Das schmerzt empfindlich. – Umso zufriedener können die Christlichsozialen sein, allerdings nicht überall gleichmäßig. In Graz liegen sie nur noch wenig hinter der SDAP, aber weit vor der Summe aller deutschnationalen Kandidaturen.155 In der Obersteiermark haben sie gegenüber Februar zwar zugelegt, ihr Anteil beträgt dort aber dennoch nur ca. 25 Prozent. – Die Bauernpartei ist als ihr Rivale nun im Oberland sogar noch ernster zu nehmen als bisher. Landtag und Landesregierung 1919/20 Die Wahlordnung hat bestimmt, dass der Landtag nun insgesamt 70 Mandatare zählt (nicht mehr 60 wie die „Landesversammlung“). 35 davon besetzen die Christlichsozialen, 24 die Sozialdemokraten, neun die Bauernpartei, nur zwei die Deutschdemokraten.

Ableitinger / Unentwegt Krise

Der Landtag konstituiert sich am 27. Mai. Durch „Erheben von den Sitzen“ wählen die Abgeordneten einstimmig sowohl Anton Rintelen zum Landeshauptmann wie Josef Pongratz und Jakob Ahrer zu seinen Stellvertretern, ebenso die neun Landesräte: vier Christlich­ soziale, drei von der SDAP, zwei vom Bauernbund. Die Prozedur des „Erhebens“, auf die sich die Parteien des hohen Hauses, wie ausdrücklich gesagt wird, vorweg geeinigt haben, verhindert eventuelle Abweichungen. Rintelen hält eine kurze Antrittsrede. Die ganze Sitzung dauert nur 75 Minuten.156 Diese Wahlen – und nun ebenso nach allgemeinem, gleichem Wahlrecht für beide Geschlechter abgehaltene Wahlen in die Gemeinderäte (in Graz am 11. Mai, auf dem Land im Juli 1919) – konsolidierten die politischen Strukturen in der Steiermark für Jahre.157 Im Landtag wie in den Kommunen war es seitdem mit der traditionellen, wahlrechtsbedingten Herrschaft der deutschnationalen Gruppierungen vorbei. In Landtag und Landesregierung dominierten seit 1919 die Christlichsozialen, doch übten sie ihre Macht einstweilen pf leglich aus. In der Landesregierung überließen sie auch den anderen Parteien wichtige Referate, nicht zuletzt auf deren Wunsch hin den Sozialdemokraten das Fürsorge- und das Gesundheitswesen. Im Landtag wurden die meisten Themen einstimmig erledigt, oft „ohne Wechselrede“. Man einigte sich in diesen Fällen im Vorfeld, als Forum dafür diente gewöhnlich die „Obmännerkonferenz“, d. h. die der Fraktionsvorsitzenden im Landtag. Gänzlich konf liktfrei ging es in der Landstube naturgemäß dennoch nicht ab. Die großen ideologischen Differenzen wurden nicht unterdrückt, besonders in den Generaldebatten über die Landesbudgets kamen sie reichlich zur Sprache. Aber bei den bescheidenen Themen der Landesgesetzgebung spielten sie de facto nur eine geringe Rolle. Man konnte, weil man es wollte, pragmatisch kooperieren. Seit

67

die SDAP zugestimmt hatte, dass die STEWEAG (mehrheitlich) eine Landesgesellschaft werden sollte, war auch dieser ideologiebefrachtete Streitpunkt vom Tisch. Überhaupt wurde in der Folge die STEWEAG sozusagen zu everybody’s darling.158 Scheinbar paradox wurde Parteienkooperation zudem gerade durch den Ehrgeiz der neuen SDAP-Bürgermeister und -Gemeindevorstandsmitglieder gefördert, ihre Kommunen viel aktiver agieren zu lassen, als es ihre Vorgänger gehalten hatten. Denn die Finanzierung ihrer ambitionierten Projekte gelang ihnen am bequemsten durch Steigerung der Gemeindeaufschläge auf Landessteuern. Dazu bedurfte es freilich der Zustimmung des Landtages, d. h. de facto seiner christlichsozialen Fraktion. Also hatte die SDAP dort auf tragfähige Beziehungen zur stärksten Landtagspartei zu achten. Manche dieser Bürgermeister erschwerten das durch das „ortskaiserliche“ Selbstbewusstsein, das sie „zuhause“ ihre „bürgerlichen“ Minderheitsparteien fühlen ließen. Neben dem bereits erwähnten Bruck an der Mur machte es Knittelfeld unter August Regner den SDAP-Landespolitikern jahrelang nicht leicht, die Interessen der Stadt in Graz zu vertreten.159 Aber im Großen und Ganzen vertrugen sich CSP und SDAP auf Landesebene ganz gut. Sand kam erst mit dem Ende der Koalition in Wien in ihr sozusagen gemeinsames Getriebe, doch brachte auch der es in der Folge nie zum Stillstand. – 1919/20 verursachten im Landtag beinahe nur die „Bauernbündler“ gedämpfte Konf likte. Sie bemühten sich, in die Kooperation der „Schwarzen“ und „Roten“ dadurch Keile zu treiben, dass sie die ersten vor ihren Wählern blamierten. Im Dezember 1919 z. B. forderten sie den Abbau bzw. die volle Auf hebung der agrarpolitischen „Zwangswirtschaft“ zugunsten von mehr marktwirtschaftlicher Preisbildung; nur durch solche Anreize würde die Landwirtschaft die Produktion von Nahrungsmitteln effektiv stei-

68

Ableitinger / Unentwegt Krise

gern.160 Das war naturgemäß auch die Auffassung der „schwarzen“ Bauernpolitiker; aber die waren, wie die CSP überhaupt, vor allem auf Wiener Ebene an Absprachen mit der SDAP gebunden, die ihrerseits die Regelungsdichte der Nachkriegswirtschaft als ein Stück „Sozialismus“ pries.161 Diese Regierungskoalition in Wien erlebte ab Sommer 1919 zunehmend wechselseitige Frustrationen ihrer „Partner“ SDAP und CSP. Einstweilen hielt die beiden nur das Wissen beisammen, dass sie in naher Zukunft den bevorstehenden Friedens- bzw. Staatsvertrag in der Nationalversammlung würden ratifizieren müssen. Seit Mai 1919 ahnten sie, dass er schwere Belastungen für Staat und Bevölkerung mit sich bringen werde. Trotzdem musste er akzeptiert werden. Ohne seine Ratifikation in der Nationalversammlung blieb Deutschösterreich ohne definitiven völkerrechtlichen Status, blieb die Zukunft des jungen Staates vollends unabsehbar. Also mussten „Rot“ und „Schwarz“ nolens volens zusammen weiter regieren. Wie sehr das alles Schatten auf die Parteienkooperation in Graz werfen würde, stand dahin. Saint-Germain – Die Steirische Südgrenze Dem Friedensvertrag sah man in Österreich anfangs mit großen Illusionen entgegen. Viele erwarteten, das Land werde, weil es mit der Habsburgermonarchie nichts zu tun, weil es keinen Krieg geführt habe, wie die anderen von deren Nachfolgestaaten behandelt werden – nicht als besiegter, sondern als neuer Staat. So äußerte sich, obwohl er es mittlerweile besser wusste, noch am 2. Juni 1919 Staatskanzler Renner, als die österreichische Delegation in Saint-Germain bei Paris erstmals mit den Vertretern der Siegermächte zusammentraf.162 Man erwartete, dass die Basis des Vertrages das „Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ bilden werde, ein vieldeutiges Konzept, von dem man

sich zu simple Vorstellungen machte. Aus ihm leitete man, wie bereits erwähnt, Gebietsansprüche auf die deutschbesiedelten Regionen des alten Österreich ab und das Recht, sich mittels Anschluss mit Deutschland zu vereinigen. Wirtschaftlich hoffte man u. a., keine Reparationspf lichten auferlegt zu bekommen. Umso mehr riefen die an diesem 2. Juni überreichten (vorerst noch unvollständigen) Friedensbedingungen Entsetzen hervor: Karl Seitz, ihr Präsident, sprach in der Nationalversammlung am 7. Juni von einem „Todesurteil“, Otto Bauer von „Diktat“. Der steirische Landtag protestierte feierlich am 13. Juni.163 Diese Bedingungen gaben auch reichlich Grund zu Pessimismus. Denn schon ihnen zufolge musste „Deutschösterreich“ nicht nur fortan „Österreich“ heißen, es hatte die von den Entente-Staaten erst zu definierende europäische Nachkriegsordnung im Voraus anzuerkennen und wurde zur Wahrung seiner Unabhängigkeit verpf lichtet: Zusammen genommen bedeutete dies ein Verbot des Anschlusses. (Nur der Völkerbundrat, der Vorgänger des heutigen Sicherheitsrates der UNO, konnte in Zukunft legal daran etwas ändern; das sollte 1921 auch in der Steiermark noch eine Rolle spielen, vgl. unten S. 78–80.) Die deutsch besiedelten Territorien in Böhmen und Mähren sowie jene in Südtirol und in der Untersteiermark wurden Nachbarstaaten zugeschlagen – auch Marburg. Nur für das südliche Kärnten wurde eine Volksabstimmung vorgesehen. Auch sollte „Deutsch-Westungarn“ zu Österreich kommen, das nachmalige Burgenland. (Über die finanziellen und militärischen Bedingungen wurde noch nichts gesagt.) Allerdings ließ die Entente Raum für Gegenargumente. Die österreichische Delegation arbeitete fieberhaft an ihnen. Manche Einwände berücksichtigte die Entente im Juli. Aber an den Hauptpunkten änderte sich nichts, vor allem nicht am „Verbot“ des Anschlusses. Das veranlasste Otto Bauer, den leidenschaftlichsten

Ableitinger / Unentwegt Krise

Vertreter der Anschluss-Politik innerhalb der SDAP, als Staatssekretär für Äußeres zurückzutreten. (Von Regierungsverantwortung entlastet – er sollte dann lebenslang keinem Ministerium mehr angehören – konzentrierte er sich in der Folge auf Taktik und Strategie seiner Partei, speziell darauf, dass diese mit seinen ideologischen Maximen übereinstimmten.)164 Schließlich beauftragte die Nationalversammlung, wie erwartet gegen 23 Stimmen aus den deutschnationalen Gruppen, Staatskanzler Renner, den definitiven Vertrag zu unterzeichnen. Sie bezeichnete diesen gleichzeitig als schweres „Unrecht am österreichischen Volk“. Am 10. September erfolgten in Saint-Germain die Unterschriften.165 Die Steiermark wurde von dem Vertrag „im Guten wie im Bösen“ naturgemäß ebenso betroffen wie Österreich als Ganzes. Was sie an dessen Entstehung und Ergebnissen speziell berührte, war die Frage ihrer Südgrenze gegenüber dem SHS-Staat. Trotz der ernüchternden Vorgänge im Winter setzte man diesbezüglich in Graz noch Hoffnungen in die Friedenskonferenz.166 Man dachte eine Volksabstimmung erreichen zu können, die Marburg sowie Pettau vielleicht bei Österreich belassen hätte. Aber schon mit dem 2. Juni 1919 musste man von dieser Erwartung Abschied nehmen. Danach ging es faktisch nur noch um Radkersburg und das untere Murtal. Dafür setzte sich in SaintGermain Franz Kamniker, der Vizebürgermeister von Radkersburg besonders ein, den die steirische Landesregierung in Renners Delegation nominiert hatte. Kamniker war, anders als Bürgermeister Oswald Kodolitsch, bereits im Winter 1918/19 als strikter Vertreter der „deutschen Sache“ in der Region hervorgetreten. In einer Denkschrift, die über Staatssekretär Bauer schon im Jänner der US-Mission in Wien zugeleitet worden war, kam er auf Basis der Erhebung der Umgangssprache im Zuge der Volkszählung

69

von 1910 zu dem Befund, dass sich in der Region am linken Murufer 98 Prozent der Bevölkerung als „deutsch“ bekannt hätten, am rechten immerhin 68 Prozent. Auch historisch-kulturelle, wirtschaftliche und verkehrsgeographische Gründe sprachen nach Kamniker für die Orientierung des Gebietes nach Deutschösterreich.167 Ähnlich argumentierte nach dem 2. Juni der Historiker Hans Pirchegger. Außerdem hatte die Stadt Radkersburg im April eine „Probeabstimmung“ veranstaltet, bei der sich 1.532 von 1.760 Einwohnern für Deutschösterreich entschieden hatten.168 Viel nützte das alles in Saint-Germain nicht. Als die Entente Renner die definitiven Bedingungen übergab, sahen diese von Spielfeld abwärts die Mur als Grenze vor; das sah immerhin besser aus als im Juni. Marburg und das rechte Murufer dagegen wurden umstandslos dem SHS-Staat zugeschlagen. Selbst Hoffnungen, das südlich der Mur gelegene, „deutsche“ Abstaller Feld/Apaško polje retten zu können, mussten vorerst aufgegeben werden.169 Vollkommen erledigt war die Grenzfrage jedoch auch nach der Unterzeichnung des Vertrages noch nicht. Von steirischer Seite wurde, unterstützt durch die Regierung in Wien, noch durch Monate versucht, das Abstaller Feld doch für Österreich zu gewinnen. Es war wegen seiner reichen Agrarprodukte von überregionaler Bedeutung. Dass der SHS-Staat es nicht besetzt hatte, deutete Chancen an. Aber dieser setzte darauf, es gegen Radkersburg zu tauschen. Das lehnte Österreich strikt ab. Solange darüber verhandelt wurde, blieben aber Radkersburg und die anderen Orte an der Mur besetzt. Erst nach mehrfachen Interventionen der Ententemächte räumten die SHS-Truppen am 26. Juli 1920 das Gebiet. Zuletzt hatte Wien sogar gedroht, mit Militär in Radkersburg und Spielfeld einzurücken, auch lokale Heimwehren und Brodmanns Bauernkommando wollten nicht länger stillhalten.170

70

Ableitinger / Unentwegt Krise

Mehr Konf likt, weniger Kooperation: Die frühen und mittleren 1920er Jahre Revitalisierung und Ende der Koalition in Wien Die Reaktionen auf Saint-Germain blieben in Österreich hinter den deutschen auf den Frieden von Versailles weit zurück. Vor allem entwickelte sich (noch lange) keine relevante, extreme Rechte gegen den neuen Staat: es gab keine „Dolchstoßlegende“ gegen die ihn tragenden Parteien.171 Es gab keinen paramilitärischen Putschversuch von rechts, wie ihn im März 1920 Kapp und Lüttwitz in Berlin gegen die gewählte Reichsregierung unternahmen. Gemessen an allem dem befand sich Österreich nach Saint-Germain intern in beinahe komfortablen Verhältnissen. Sogar die Regierungskoalition wurde revitalisiert. Mitte Oktober schlossen SDAP und CSP, auch um diverse Bestimmungen des Friedensvertrages in österreichisches Recht umzusetzen und dabei zu konkretisieren, ein neues Koalitionsabkommen. Sie wollten nicht nur die endgültige Staatsverfassung noch unter Dach und Fach bringen, sondern u. a. auch ein Wehrgesetz für das von Saint-Germain verlangte kleine Berufsheer (anstelle der Volkswehr) und eine große Vermögensabgabe zum Ankauf von Devisen zwecks Finanzierung von Importen; (die heimische Krone verlor rapid an Wert und war auf den internationalen Märkten nahezu unbrauchbar geworden). Die Einzelheiten jedes dieser Themen bargen allerdings Sprengstoffe. Am wenigstens galt das vorerst für die Verfassung. Im Winter 1919/20 einigte man sich, dass Österreich ein Bundesstaat sein werde, dass, wie seit Herbst 1918 praktiziert, Landesregierungen definitiv die Mehrheit der Bundesgesetze vollziehen, auch dass die legislativen Zuständigkeiten des Bundes taxativ in der Verfassung stehen würden, alles andere also in die Kom-

petenz der Landtage fallen werde u. a. m. Trotzdem blieben noch viele Verfassungsfragen offen, für einige gab es bis zuletzt keinen Konsens.172 – Aktuell strittiger war die Vermögensabgabe, die unausweichlich die bürgerliche Wählerschaft überproportional treffen musste; die SDAP wusste, dass bei ihr „der Kampf der Klassen“ „entbrennen“ werde. Auf eine Regierungsvorlage konnte sich Renners Kabinett nicht verständigen, es überließ die Causa der Nationalversammlung, wo sich allerdings eine Allianz von CSP und Großdeutschen gegen sie abzeichnete.173 Am meisten Erbitterung löste jedoch der Kampf um das Heer aus. Die Christlichsozialen forderten dessen umfassende „Entpolitisierung“, u. a. Zurückdrängung der Soldatenräte, Wiederherstellung klarer Befehlsstrukturen, Revision der von Deutsch eingeführten Zulässigkeit politischer Aktivitäten der Soldaten auch im Dienst, Abschaffung der obligatorischen Schulung der Soldaten in „republikanischem“ Geist (dieser war nach ihrer Auffassung ein ganz und gar sozialistischer). Außerdem verlangten sie, die Länder an der Heeresverwaltung und bei der „Werbung“ des Heerespersonals zu beteiligen – alles Änderungen direkt zu Lasten der SDAPPositionen im Militär. Vor allem ihr letztes Begehren zielte direkt auf Abbau der bisherigen „roten“ Dominanz in dessen Mannschaften und Führungspersonal im Zuge der unvermeidlichen Reduktion der Personalstände.174 Die SDAP empörten diese Zumutungen.175 Trotzdem kam am 18. März, unmittelbar nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch in Berlin, Konsens über das Wehrgesetz zustande. In ihm gelang es der Sozialdemokratie in der Tat Vieles quasi zu retten; Deutsch reklamierte es später sogar als „revolutionären Sieg“, den die Arbeiterschaft

Ableitinger / Unentwegt Krise

dem Bürgertum unter dem Eindruck des KappPutsches „abgerungen“ hätte.176 Aber auch die CSP hatte manche ihrer Forderungen durchgesetzt. Vor allem wurden in den Ländern „Heeresverwaltungsstellen“ etabliert, die die Parteien entsprechend ihrer Stärke im jeweiligen Landtag beschickten; (in der Steiermark wurden Jakob Ahrer für die CSP, Hans Resel für die SDAP und Heinrich Wastian für die Bauernpartei in sie entsandt).177 Deren Kompetenzen entsprachen beinahe vollständig dem, was die „schwarzen“ Föderalisten begehrt hatten; außerdem bekamen die Landesregierungen bedeutende Ingerenzen bei der Aufnahme neuen Heerespersonals (u. a. Vetorecht gegen Bewerber ohne Heimatberechtigung im Land.)178 Die gedämpfte Freude der SDAP mit dem Gesetz war verfrüht. Im Juni fühlten sich die Christlichsozialen hintergangen durch eine einseitige Weisung Deutschs über den Modus der Vertrauensmännerwahl im Heer. Zusammen mit den Großdeutschen verlangten sie am 10. Juni ultimativ deren Zurücknahme. Darüber zerbrach noch am selben Tag die Koalition.179 Die Führung der SDAP wollte ihr Ende, sie wünschte den Übergang ihrer Partei in die Opposition. Darauf hatten manche bereits lange gedrängt. Vermutlich gab die Wahl vom 6. Juni in Deutschland den letzten Ausschlag. Dort hatte die SPD zugunsten der beiden Parteien links von ihr, der USPD und der KPD, eine schwere Niederlage erlitten, sie war für die „Weimarer“ Regierungskoalition mit der (katholischen) „Zentrumspartei“ und der links­ liberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) nicht belohnt, sondern bestraft worden. Linker Radikalismus erlebte eine Renaissance, nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch sogar in Gestalt bewaffneter Revolten im Ruhrgebiet. Analoges, so folgerten Bauer und große Teile der SDAP-Funktionärsschicht wohl, durfte in Österreich nicht geschehen, ihre Partei musste

71

die „Einheit“ der Arbeiterklasse bewahren – durch Verlassen der Regierung, durch dauerhafte Oppositionspolitik.180 Vier Wochen, bis zum 7. Juli, dauerten dann vergebliche Verhandlungen über die Erneuerung der Koalition. Am Ende verständigte man sich auf ein Übergangskabinett unter Michael Mayr (CSP), auf die Textierung der Bundesverfassung bis Herbst und anschließende Neuwahl. Am nächsten Tag gab es ein Nachspiel: Renner, gerade als Staatskanzler abgelöst, publizierte den damaligen Stand der Verfassungsberatungen („Renner-Mayr-Entwurf “), fügte ihm jedoch eine Norm über die Struktur künftiger Bundesregierungen (sowie einen diese Norm erläuternden Satz) an – worüber zwischen den Parteien gar nicht verhandelt worden war: „Die Proportionalvertretung soll die verhältnismäßige Anteilnahme aller an der Regierung und Verwaltung an Stelle der Herrschaft des einen über den anderen, somit die Mitregierung an Stelle der Alleinherrschaft (der Diktatur) setzten.“ Für die gleiche Regelung hatte tags zuvor Ignaz Seipel im Parlament plädiert, Otto Bauer hingegen die Erwartung formuliert, dass bald „überall“ Regierungen möglich sein würden, die „als Exekutivorgane der besitzlosen Klassen zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft“ fungierten.181 Renner und Seipel standen somit für in der Verfassung fixierte Bundesregierungen, die sich aus allen relevanten Parteien des Parlaments gemäß den Resultaten der Nationalratswahlen zusammenzusetzen hatten, Bauer für „Herrschaft des einen über den anderen“ – idealerweise für die der Arbeiterklasse über die kapitalistische. Renners und Seipels Modell wurde in (beinahe) allen Ländern Österreichs damals nicht nur praktiziert, sondern bald zudem in den Landesverfassungen festgeschrieben. Bauers optimistische Erwartung erfüllte sich zwar nicht, seine Absage an das Modell „Proportionalvertretung“ erzwang bzw. ermöglichte aber bald Regierungen des

72

Ableitinger / Unentwegt Krise

„Bürgerblocks“, gegen die die SDAP opponierte – mehr und mehr zum Unbehagen mancher ihrer Landesorganisationen, namentlich der steirischen. (Man kann nur darüber spekulieren, ob damals mit Bauers „Sieg“ über Renner und Seipel das Geschick der Ersten Republik entschieden wurde.) Zuspitzungen auf Landesebene 1919/20 Im Land war es von Herbst 1919 bis Juni 1920 fortgegangen wie gehabt: Zwar sickerten von der Wiener Ebene Verdruss und Misstrauen ein, doch wurde in der professionellen Politik weiter überwiegend kooperiert. Die vielen schweren Unruheakte irritierten diese Praxis nicht wirklich. Selbst der Grazer „Kirschenrummel“ vom 7. Juni 1920 änderte nichts. Anfangs war der nur ein Protest von Frauen gegen die Preise, die auf dem Josefs- und dem Jakominiplatz für diese „süßesten Früchte“ gefordert wurden. Dann folgten, den ganzen Tag fortgehend, in Innenstadt und Annenstraße Exzesse von Zerstörungswut gegen Marktstände und Geschäftslokale sowie Gewaltakte gegen beliebige Personen – alles insgesamt politisch ziellose Aktionen, an denen sich vor allem Frauen und (arbeitslose?) Jugendliche beteiligten. Erst zwischen 18 und 19 Uhr kam es – wieder, wie am 22. Februar 1919, auf dem Murplatz – zur Katastrophe: die Polizei schoss und es gab mehrere Tote sowie zahlreiche Verletzte. Schon in den Abendblättern war strittig, ob es für das drastische Einschreiten der Exekutive wirklich Anlass gegeben habe; den ganzen Tag über hatte diese sich zurückgehalten. Stoff für heftigsten politischen Konf likt war demnach genug vorhanden. Doch als am nächsten Tag der Landtag zur längst anberaumten Sitzung zusammentrat, drückte Landeshauptmann Rintelen nur die allgemeine Trauer aus, dann wurde vertagt. Es gab vorerst keinerlei politische Kontroverse, wahrscheinlich herrschte sprachloses Entsetzen über das Vor-

gefallene. Die Sitzung dauerte bloß drei Minuten.182 Aber sofort nach dem Bruch in Wien war auch in der Steiermark ab Mitte Juni de facto Wahlkampf. Am 7. Juli forderte die SDAP erstmals von Rintelen die Entfernung von Gendarmeriedirektor Ferdinand Peinlich. Der lasse nicht nur Waffen nach Ungarn verschieben, er hintertreibe, dass illegale steirische Heimwehren ihre Waffen abgäben, wie vor einem Jahr einvernehmlich beschlossen worden war. Überhaupt nehme die Gendarmerie Partei: in Gosdorf tue sie nichts gegen aufrührerische Bauern, in Graz gehe sie – eine Anspielung auf den Abend des „Kirschenrummels“ – dem Gesetz entsprechend vor: Was das bedeutet, weiß jedermann […] Die blutigen Folgen geben Zeugnis davon.183 Doch das war bloß ein Vorspiel, die große Auseinandersetzung fand am 16. Juli statt.184 Zwei Themen standen im Zentrum: die Verantwortung für das Ende der Koalition in Wien und – überhaupt erstmals, kaum zufällig nach der Eskalation der Konf likte in Wien um Volkswehr bzw. „Wehrmacht“ – die Sorgen um die Bewaffnung der Bevölkerung im Land. Über das Ende der Koalition wurde mit viel Niveau debattiert; man wollte anscheinend nicht alles Porzellan zerschlagen. Aber bei der Frage der Bewaffnung der Anhängerschaft der jeweiligen Gegenseite entluden sich die bisher zurückgestauten Emotionen. Zwar gaben sich die Hauptredner der Fraktionen staatsmännisch-besorgt, sie ließen es aber an Provokationen nicht fehlen, auf die dann „Hinterbänkler“ wild mit Zwischenrufen reagieren. Das Klima wird giftig: Ahrer zählt 24 Orte auf, in welchen Arbeitervereine oder ähnliche Institutionen u. a. Schießübungen abhielten, und löst damit große Unruhe bei den Sozialdemokraten aus; aus deren Reihen ruft der Abgeordnete Ludwig Neufuß: Sollen wir […] uns ruhig von Ihnen erschießen lassen? Die Christlichsozialen quittieren das nicht etwa mit Erschrecken, sondern mit Heiterkeit. Ahrer refe-

Ableitinger / Unentwegt Krise

riert ein Dienststück, wonach der Vorstand des Arbeiterhilfskorps am 4. Mai 1920 die seinerzeit zugeteilten Armatursorten und Munition […] übernommen und für Arbeiteralarmformationen bereitgestellt habe, alles mit Resels Genehmigung. Dazu haben wir ein Recht gehabt, antwortet der und bestätigt damit das Faktum. Umgekehrt schätzt Resel, dass den Heimwehren im Herbst 1918 rund 13.000 Gewehre und dazugehörige Munition zugeführt worden seien; davon wären nur wenige zurückgestellt worden. Beides wird von „bürgerlicher“ Seite nicht geleugnet, der Bauernbündler Hannes Schreckenthal bemerkt zur Zahl vielmehr: „Das ist doch nicht so viel.“ Die SDAP kommt auf Peinlich zurück und kritisiert Pfrimer, der „eine förmliche Armee“ habe „schaffen wollen“; das kann sie sich nicht mit defensiven Absichten erklären. – Umgekehrt zitiert Ahrer aus einem Zirkulandum der SDAP-Bezirksleitung Bruck an der Mur vom 17. März 1920, wonach Arbeiterwehren […] nicht bloß ortsweise, sondern auch betriebsweise lückenlos durchzuführen wären, kein Ort oder Betrieb irgendetwas auf eigene Faust unternehmen dürfe und der Bezirksexekutive unter allen Umständen Gehorsam geleistet werden müsse. Zwischenrufern antwortet er: Wir haben keine geschlossenen Bataillone, keine Kompanien in Züge eingeteilt.185 Wie und was in dieser Debatte gesprochen wurde, war selbstverständlich parteiisch. Die Rhetorik verriet Anspannung, Erbitterung und Sorgen. Die Konf liktparteien haben erkannt, dass nach dem Ende der Koalition in Wien die bewaffneten Organisationen einen anderen Stellenwert bekommen können. Bisher wechselseitig neutralisiert, avancieren sie nun zu Drohpotentialen. Die SDAP ist bereits dabei, die „Arbeiterwehren“ überörtlich zu organisieren (vgl. Bruck an der Mur) und gleichzeitig verlässlicherer Kontrolle durch zentrale Stellen auf Bezirks- und/oder Landesebene zu unterwerfen. Damit will sie hintanhalten, dass lokale Akteure ihre Waffen spontan einsetzen. Mit

73

Blick auf derartige Organisationserfordernisse sieht Ahrer in den „bürgerlichen“ Reihen Defizite. Ironischerweise bestätigt der Abgeordnete Sonnhammer (SDAP) diese noch im März 1921. Im Landtag ruft er den „Bürgerlichen“ zu: Wenn Sie Ihre Heimwehren so in der Hand haben und so verlässliche Elemente in den Heimwehren wie wir in unseren Arbeiterwehren, dann kann ich Ihnen nur gratulieren.186 Frühe Politisierung der Heimwehren in der Steiermark Schwieriger ist es, sich von dem Konglomerat der damaligen Heimwehren ein Bild zu machen. Gesichert ist, dass viele von und in ihnen 1919/20 einen Wandel vollzogen haben. Anfangs bloß lokalen Sicherheitsbedürfnissen entsprungen, verstanden sie sich als „unpolitisch“, d. h. keinem Parteilager zugehörig. Deshalb konnten in ihnen Bürger und Arbeiter kooperieren, z. B., wie erwähnt, in Gösting, Knittelfeld und Judenburg. Viele ihrer Aktivisten beherrschte aber schon 1918/19 ein de facto konservatives politisches Motiv: Vor Ort „Ruhe und Ordnung“ zu wahren bzw. wiederherzustellen, schloss ein, die hergebrachte Eigentumsordnung zu schützen, an ihr nicht rütteln zu lassen. Wo die staatliche Obrigkeit diese durch die Beschlagnahme von Vieh zu sehr antastete, wandten sich bewaffnete Bauern sogar gegen die Gendarmerie; so noch 1920 in Gosdorf. Viel mehr noch alarmierte Bauern und Bürger, dass die politische Linke 1919 mit Sozialisierungen ernst zu machen versuchte, dass sie Vermögensabgaben forcierte, dass sie die zuerst kriegsbedingten staatlichen Eingriffe in das wirtschaftliche Alltagsleben offenbar in einen dauerhaften Zustand überführen wollte. Das veranlasste Heimwehrleute, falls sie sich nicht schon immer dort gesehen hatten, geradezu automatisch dazu, sich politisch rechts auszurichten; in ihrem katholisch-bäuerlichen Segment sorgten auch die

74

Ableitinger / Unentwegt Krise

Aufruf des Fürstenfelder Bürgermeisters Karl Pferschy zum Eintritt in die zu errichtende Heimwehr, 18. April 1919 StLA

kirchen- und religionspolitische Positionen der Linken dafür. Einige Zeit lang blieb der Aktionsradius der Heimwehren der jeweils lokale; deshalb hießen viele von ihnen auch „Ortswehren“. Die ersten regionalen Zusammenschlüsse bildeten das Bauernkommando und Pfrimers Organisation im oberen Murtal, – beide prononciert deutschnational und antimarxistisch. Ausgedehntere Organisation erforderte ein Stück ideologischer

Selbstwahrnehmung, wenigstens durch und mittels Abgrenzung von „Feinden“.187 Unübersichtlicher verliefen Bestrebungen um Zusammenschlüsse in den anderen Landesteilen. Da rivalisierten deutschnationale und konservativ-katholische Tendenzen. Nach Rape gelang es einer von dem Grazer „Südmark“Obmann Andreas Patterer geleiteten, an die Großdeutsche Partei angelehnten Organisation, sich bis Sommer 1920 „über fast die ganze Stei-

Ableitinger / Unentwegt Krise

ermark auszudehnen“, 21.300 Freiwillige zu „versammeln“ und hinreichend Waffen zu beschaffen. Darauf wurde von christlichsozialer Seite mit einem eigenen Verband geantwortet, der sich aber „nur recht langsam“ entwickelte und auf ein „zentralsteirisches Einzugsgebiet“ beschränkte. Versuche Rintelens, beide Gruppierungen in eine von ihm gesteuerte „Einheitsfront zusammenzuzwingen“ scheiterten bis zum Sommer 1920. (Ahrer hatte somit Anlass unzufrieden zu sein und im Landtag davon etwas anzudeuten.) Im August formierte sich sogar gegen Rintelens Protest eine von Patterer geführte, gemeinsame Landesleitung.188 – Beziehungen zu den „Einwohnerwehren“ in Bayern, speziell zu denen in Rosenheim („Organisation Kanzler“/Orka), die Geld, Waffen und Munition lieferten, versickerten mit deren Verbot in Bayern im ersten Halbjahr 1921. Das spielte Rintelen in die Hände. Denn der verfügte über Geld, das aus der österreichischen Industrie stammte, und über ihn und Ahrer liefen Operationen, aus staatlichen Depots Waffen etc. zu beschaffen, die gemäß „St. Germain“ hätten vernichtet werden müssen. Die „nationalen“ Heimwehrführer wurden von den beiden abhängig.189 Schließlich trat im Sommer 1921 Ahrer an die Spitze des Landesverbandes, Patterer und Landesrat Winkler von der „Bauernpartei“ übernahmen die Stellvertretung; die Mehrzahl der Heimwehr-„Kreise“ war damals bereits von Christlichsozialen geführt.190 Dagegen wieder rebellierten „Nationale“, die im April 1922 den „Selbstschutzverband Steiermark“ gründeten. Dessen Leitung übernahm sehr bald Pfrimer, als sein „Stabsleiter“ in Graz fungierte Hanns Rauter.191 Damit war der gemeinsame Landesverband de facto tot. Nach Brodmanns Tod brachte die „Ahrer-Winkler-Heimwehr“ 1922/23 den Großteil der Ortswehren des Bauernkommandos unter ihre Kontrolle; der „Rebell“ Rauter hatte weder politisch noch finanziell genug Mittel, das zu verhindern.192 Doch blieb

75

der „Selbstschutzverband“ daneben bestehen. Im November 1922 errang dessen Kreis Oberes Murtal einen „Sieg“ über die dortigen „Roten“, der Pfrimers Prestige wieder steigen ließ. (Vgl. unten S. 80f.) Bis 1927 herrscht dann aber ziemliche Ruhe, auch von den Heimwehren ist jahrelang kaum mehr zu hören.193 Die Wahlen von 1920 Trotz ihrer harten Konfrontation im Juli beschlossen die Landtagsparteien am 15. September einstimmig, am Tag der Wahl des Nationalrates auch den Landtag wählen zu lassen. Dieser Tag war der 17. Oktober 1920. Die Ergebnisse der beiden Wahlvorgänge unterschieden sich nur minimal. Die Zahl der Wahlberechtigten war inzwischen auf rund 551.000 angewachsen, von ihnen kamen 77 Prozent in die Wahllokale. Insgesamt wurden rund 420.000 gültige Stimmen abgegeben. Wieder lagen die Christlichsozialen klar voran. Ein so glänzendes Resultat wie im Mai 1919 konnten sie allerdings nicht wieder erzielen: sie kamen auf 41,5 Prozent Stimmenanteil, weniger als im Mai 1919, aber mehr als im Februar 1919. Ihre Verluste hatten ihre Ursache in dem erstmals geschlossenen Auftreten der bürgerlichen Deutschnationalen unter dem Namen „Großdeutsche Volkspartei“. Diese erreichte im Land sogleich 11,1 Prozent der Stimmen (fast doppelt so viel wie deren zersplitterte Vorgänger-Gruppen im Mai 1919 zusammen); vor allem in der Landeshauptstadt ließ sie die Christlichsozialen wieder hinter sich. Neben ihr behauptete die Bauernpartei (bzw. die „Bündler“) ihre 11 Prozent. – Die SDAP erreichte im Landesdurchschnitt nur 33,5 Prozent, ein spürbarer Rückgang; ihr bundespolitischer Wechsel in die Rolle der Opposition wurde von der Wählerschaft nicht belohnt. Immerhin konnte sie in Graz ihre relative Mehrheit halten; ihr Vorsprung auf die Großdeutschen betrug trotz

76

Ableitinger / Unentwegt Krise

deren Aufschwunges aber der CSP einen Triumph: Genur rund 9.000 Wähler. Entgenüber Februar 1919 legte täuschend lautete ihr Ergebsie österreichweit 6,3 Pronis jedoch in der Obersteierzentpunkte zu – von 35,9 auf mark. Dort sank die Partei knapp 42,3 Prozent – wähtrotz der gegenüber dem Mai rend die SDAP von 40,7 auf 1919 signifikant höheren 35,9 Prozent absackte. Die Wahlbeteiligung nicht nur Deutschnationalen kamen auf unter 50 Prozent ab, ihr zusammen auf 16,7 Prozent, Abfall zeigte sich überproetwas weniger als 1919; unter portional in den am meisten ihnen dominierte jetzt die geindustriellen Gerichtsbezirrade geschaffene „Großdeutken (Bruck an der Mur, sche Volkspartei“, weil die Mürzzuschlag, Leoben, Ju„Bauernbündler“ nur in vier denburg). Nahm ihr ein Teil Bundesländern selbständig Olga Rudel-Zeynek der bislang treuesten Wähler kandidiert hatten. Im ParlaÖNB/Wien den Wechsel in die Opposiment gab es nun, wenigstens tion übel?194 potentiell, eine solide „bürIn Landtagsmandaten drückten sich die Re- gerliche“ Majorität: Bei insgesamt 183 Mandaten sultate so aus: 31 Christlichsoziale (minus vier), besetzten die CSP 85 und die Deutschnationalen 24 Sozialdemokraten (unverändert, dank opti- 28 Sitze, die SDAP nur 69. Ob aus der poten­ maler Verwertung der erstmals berücksichtigten tiellen Mehrheit eine tatsächliche werden würde, „Reststimmen“)195, sieben Großdeutsche (plus musste sich erst weisen.196 fünf ), acht Bauernbündler (minus eines). – Personell unterschied sich der neue Landtag von der Landespolitik 1920/21 letzten Landesversammlung erheblich: 28 seiner 70 Abgeordneten waren „Neulinge“. Von ihnen Gemessen an den Kontroversen des Hochsomtaten sich in der Folge nur drei hervor: Rudolf mers 1920 verfuhr man beim Start des LandHübler (GDVP) und Franz Winkler (BP) kamen tages am 9. November 1920 erstaunlich konbald in die Landesregierung, Adolf Enge (CSP) sensual. Zunächst galt es, die „Landesordnung“ 1926. – Insgesamt gab es jetzt sieben Frauen im der neuen Bundesverfassung anzupassen; die Landtag: vier christlichsoziale (Marianne Kauf- Vorarbeit dazu leistete ein „Sonderausschuss“, mann, später verehelichte Millwisch, Frieda dessen Anträge beschloss das Plenum am 26. Mikola, Marie Rieger, Olga Rudel-Zeynek), November. Relevant war nur, dass es ab nun zwei von der SDAP (Marie Köstler, Martha ein eigenes Landtagspräsidium gab und dass die Tausk) und die großdeutsche Steffi Walter (frei- Differenzierung von 1918 zwischen „Landeslich wurde keine von ihnen jemals in die Lan- regierung“ und „Landesausschuss“ beseitigt desregierung gewählt). – In der Landesregie- wurde zugunsten eines Organs, das „Landesrerung saßen nun fünf Christlichsoziale, vier So- gierung“ hieß. Dann ging es am gleichen Tag zialdemokraten, zwei Bauernbündler und ein ans Wählen: Das dreiköpfige Präsidium, an der Spitze Franz Kölbl, damals Pfarrer von HalbenGroßdeutscher. Mehr als die steirische Landtagswahl be- rain, und elf Mitglieder der Landesregierung scherte die gleichzeitige Wahl zum Nationalrat wurden einstimmig bestimmt, durch „Erheben

Ableitinger / Unentwegt Krise

von den Sitzen“. Nur die Wahl des Landeshauptmannes erfolgte mittels Stimmzetteln: von 69 lauteten 45 auf Rintelen, 24, d.  h. die der Sozialdemokraten, blieben leer. Rintelen bekam somit sämtliche Stimmen der drei „bürgerlichen“ Fraktionen. Nur die SDAP verweigerte ihm, anders als im Frühjahr 1919, ihre Stimmen; jedoch unternahm sie auch nichts, seine Wahl zu erschweren. Insgesamt zeigte das alles, dass die Parteien paktierfähig und -willig geblieben waren.197 In den nächsten Sitzungen des Landtages wurde exemplarisch sichtbar, dass verbaler Konf likt und faktische Kooperation zwischen „rechts“ und links“ in der Landespolitik weiter koexistieren: Die SDAP stimmt am 21. Dezember dem Budgetprovisorium zu, erklärt aber, ohne konkret zu werden, dass sie ein ganz außerordentlich großes Mißtrauen […] zur Politik der Landesregierung hege, in der sie selber sitzt. Fünf Wochen später lobt sie, dass die Regierung von einer Anleihe über 300 Mill. Kronen 187 Millionen für Investitionen verwenden wolle.198 So geht es über den Winter fort. Erst am 30. März stößt man wieder scharf aufeinander und wieder wegen der Bewaffnung. Den Anlass gibt damals Ex-Kaiser Karls bereits gescheiterter Versuch, in Ungarn wieder zur Herrschaft zu kommen. Die SDAP kritisiert, dass das Großkapital Ahrer 5 Millionen für die Heimwehren gegeben habe, der kontert mit der Arbeiterbewaffnung und rotem Organisationszwang in Betrieben (später heißt der „roter Betriebsterror“). Dafür heißt ihn Resel großer politischer Schieber. Resel entschlüpft aber auch die bereits erwähnte Bemerkung, falls abgerüstet werde, wären wir die Stärkeren.199 Diese Debatten spiegelten anscheinend gewisse Frustrationen in der steirischen Sozialdemokratie. Sie hatte es wider eigenen Willen auch in der Landespolitik de facto mittlerweile mit einem soliden „Bürgerblock“ zu tun, dessen Formierung ihre Parteizentrale in Wien mit ihrer Option für Oppositionspolitik praktisch

77

unvermeidlich gemacht hatte. Auch im Landtag wurde ihr Ton deshalb gegen Rintelen und Ahrer zeitweise schärfer, wogegen sie Großdeutsche und Bauernpartei eher „schonte“. Trotzdem ging sie nicht zu voller Konfrontation mit dem Landeshauptmann über. Schon damals hatte sie dafür gute Gründe.200 St. Lorenzen im Mürztal: 8. Mai 1921 Für diesen Sonntag hatte der Pfarrbauernrat von St. Lorenzen im Mürztal, d. h. die Lokalorganisation des Katholischen Bauernvereins, zu einer der Versammlungen eingeladen, bei denen u. a. Landeshauptmann Rintelen häufig als Redner auftrat. Die Veranstaltung war sehr gut besucht, allerdings zu mehr als der Hälfte von „Proletariern“, angeblich hauptsächlich kommunistischen, aus Bruck an der Mur, Kapfenberg usw. Derlei war nicht unüblich und nicht selten von dem Willen begleitet, die Versammlung in eine „rote“ umzuwandeln. Auch diesmal waren die „Genossen“ auf einen solchen „Triumph“ aus: Ein „Kommunist“ wurde zum Versammlungsleiter gewählt, dann mittels Abstimmung Rintelen das Rederecht verweigert. Zur Begründung hieß es, er habe die Kommunisten verfolgen lassen, sei am 7. Juni 1920 in Graz zum „Massenmörder“ geworden, er wäre ein „Bluthund“ etc. Ein Teil der Versammelten begann, ihn zu beschimpfen, schlug mit Stöcken auf ihn und seine Begleiter ein, warf ihn und diese, darunter Landesrat Franz Prisching, schließlich durch das Fenster im Erdgeschoß. So ging es im Freien weiter. Der Landeshauptmann erlitt schwere Kopfverletzungen. Um sein Leben fürchtend, zog nun er eine Pistole. Es kam fast einem Wunder gleich, dass dann doch kein Schusswechsel stattfand. Schließlich ließ man von ihm ab. Mit einem PKW fuhr er nach Graz zurück. Bei der Durchfahrt durch Bruck an der Mur ließ Koloman Wallisch, der SDAP-Sekretär des Bezirkes, das

78

Ableitinger / Unentwegt Krise

Auto anhalten, um Rintelen sein Bedauern über die Vorfälle auszudrücken. In Graz suchten Resel und Machold ihn auf, sie verurteilten die Geschehnisse, machten aber Kommunisten für sie hauptverantwortlich. Das war, was gewisse Rädelsführer anlangte, nicht falsch. Es war aber auch nicht ganz richtig; die Masse der Störer ließ sich kaum der einen oder anderen der Linksparteien zuordnen. Mit Sicherheit hatte die regionale SDAP, die im Vorfeld etwas von geplanten Attacken auf die Versammlung mitbekommen haben musste, „ihre Leute“ einmal mehr nicht unter Kontrolle. Das bestätigte nochmals bereits der folgende Dienstag. Als sich in Kapfenberg herumsprach, dass die in St. Lorenzen als Hauptverdächtigte vier Verhafteten von der Gendarmerie nach Graz eskortiert werden sollten, sperrten „Proletarier“ die Ortsdurchfahrt. Einige Hundert, unter ihnen auch alarmierte „Arbeiterwehren“, stoppten den Konvoi der Exekutive, wieder kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Schließlich gab die Gendarmerie, um weitere Eskalation hintanzuhalten, die Verhafteten frei. Die Aufregung im Land ebbte deshalb naturgemäß nicht ab. Erst nachdem sich die SDAP im Landtag wiederum von den Geschehnissen distanziert hatte, beruhigte sich die Situation. Im Juli wurde am Kreisgericht Leoben gegen zwölf Beschuldigte verhandelt. Drei Hauptangeklagte wurden zu je zwei Monaten Gefängnis verurteilt – der Kommunist Martin Holzer für seine verbalen Ausfälle, zwei weitere für ihre tätlichen Angriffe gegen Rintelen. Ihren Versicherungen, ohne Vorsatz agiert zu haben, glaubte das Schöffengericht. Die „bürgerliche“ Öffentlichkeit empörte das milde Urteil, da und dort wurde Selbsthilfe gegen „roten Terror“ gefordert.201 Rintelen nahm die Distanzierung der SDAP von den Vorgängen an. Vielleicht meinte er, die Partei wäre ihm irgendeine Gegenleistung schuldig. Tatsächlich half sie ihm Ende Juni im Landtag aus einer Sackgasse.

Frühjahr 1921 – Volksabstimmungen über den Anschluss Während des ersten Halbjahres 1921 wurde Österreichs Politik von realisierten bzw. geplanten Volksabstimmungen über den Anschluss an das Deutsche Reich beherrscht. Im Herbst 1920 hatte noch die Nationalversammlung einstimmig beschlossen, die Bundesregierung habe das Volk darüber abstimmen zu lassen habe, ob es den Anschluss wünsche. Sein Votum sollte anschließend die Basis für den Antrag beim Völkerbundrat bilden, den Anschluss doch noch zu ermöglichen. Diese Prozedur stand im Einklang mit dem Vertrag von Saint-Germain (vgl. oben S. 68). Dennoch war der Entscheid, sie in Gang zu setzen, vollkommen illusorisch. Die Bundesregierung, nach den Wahlen vom 17. Oktober 1920 von Michael Mayr als Kanzler geführt, hütete sich, ihn zu realisieren. Sie wollte jede Provokation der großen Ententemächte vermeiden, im Frühjahr 1921 verhandelte sie gerade, wie es schien erfolgreich, über großzügige internationale Kredithilfe. Obwohl darüber im Bilde, setzte der Landtag von Tirol trotzdem eine solche Abstimmung für sein Land auf den 24. April 1921 an, und jener von Salzburg folgte dem Tiroler Beispiel. Warnungen der Bundesregierung blieben wirkungslos. Das ließ die steirischen Großdeutschen nicht ruhen. Also beantragte ihr Landesrat Hübler am 8. April im Landtag, eine analoge Abstimmung abzuhalten; das Land dürfe in der Bekundung seines Anschlußwillens nicht zurückbleiben, sagte er. Lebhafter Beifall und Heilrufe antworteten ihm. Die Zustimmung erfolgte diskussionslos und einstimmig.202 Die Abstimmungen in Tirol und Salzburg fanden am 24. April bzw. am 29 Mai statt. 98 bzw. 99 Prozent votierten für den Anschluss.203 Sich zu ihm – koste es, was es wolle – zu bekennen, war der Wählerschaft ein emotionales Anliegen erster Ordnung. Deshalb – allerdings

Ableitinger / Unentwegt Krise

79

Kundmachung zur Ausschreibung der Volksabstimmung über den Anschluss an das Deutsche Reich am 3. Juli 1921 in der Steiermark (Ausschnitt) StLA

außerdem aus undurchsichtigen parteitaktischen Gründen – bestanden auch die Steirer trotz Kanzler Mayrs Einspruch auf ihrer Abstimmung. Am 31. Mai beschloss der Landtag, die Abstimmung am 3. Juli abzuhalten. Diesmal stimmten die Sozialdemokraten nicht mehr mit; Machold erklärte, die Abstimmung könne den selbstverständlich wünschenswerten Anschluß nicht fördern, seine Partei werde sich aber von der Abstimmung dennoch nicht absentieren.204 Die steirische Partei folgte damit dem Zick-ZackKurs ihrer Wiener Zentrale. Das machte die Lage für die steirischen Christlichsozialen ungemütlich. Ihre Mehrheit im Landesparlament hing von den Großdeutschen ab, die unnachgiebig auf der Abstimmung beharrten. Rintelen und sein Anhang schlugen sich auf ihre Seite – das steirische Hemd war ihnen näher als der österreichische Rock. Selbst als Mayr am 1. Juni demissionierte, lenkten sie nicht ein. Öffentliche Kritik durch Seipel schlugen sie in den Wind, ja Rintelen und Ahrer reagierten auf sie sogar trotzig mit Niederlegung ihrer Regierungsämter in Graz. Schließlich mussten die beiden doch aufgeben. Ihre Parteileitung entsandte – gegen ihren Willen? – eine Delegation nach Wien, die sich vom italienischen Gesandten Toretta persönlich davon „überzeugen“ ließ, dass, falls in der Steiermark abgestimmt würde, Österreich

nicht nur keinen Kredit erhalten werde, sondern teilweise von ausländischem Militär besetzt werden würde. Die Verantwortung für derart drastische Konsequenzen wollten die fünf Delegierten dann doch nicht tragen. Sie bliesen zur Kehrtwende. (Die näheren Umstände ihres Zustandekommens sind unbekannt.) Rintelen und Ahrer hatten ihr Hasardspiel verloren. Kurzzeitig blieb sogar in Schwebe, ob Rintelen als Landeschef wiedergewählt werden würde. Darüber wurde erst am 23. Juni 1921 im Landtag entschieden. Die Großdeutschen zeigten sich störrisch. Sie verlangten, zuerst über den Antrag der Christlichsozialen auf Absage der Volksabstimmung zu entscheiden und erst danach die Wahl des Landeshauptmannes vorzunehmen; die „Bauernbündler“ schlossen sich ihnen an. Das kam der Drohung gleich, Rintelen beider Stimmen zu verweigern, falls zuvor die Christlichsozialen für die Absage der Volksabstimmung votiert hatten; Rintelens Wiederwahl hing dann von der SDAP ab. Aber die Sitzung, die scheinbar so dramatisch begonnen hatte, brachte dennoch die Resultate, auf die sich die Parteien unter Einschluss der Sozialdemokratie zuvor insgeheim offensichtlich verständigt hatten: Bestätigung Rintelens (und Ahrers) in ihren Ämtern und ersatzlose Absage der Abstimmung. Im ersten Fall gaben die Man-

80

Ableitinger / Unentwegt Krise

datare der SDAP leere Stimmzettel ab, im zweiten verließen sie die Landstube. Das hatte zum Effekt, dass beide Male die Stimmen der CSP für die Mehrheit genügten, d. h. dass Großdeutsche und „Bündler“ nicht „gebraucht“ wurden und ohne Schaden auf ihren Standpunkten beharren konnten. Kurzum: Im Detail hatten wohlabgestimmte Prozeduren des Sitzungsverlaufes dafür gesorgt, dass alle Fraktionen ihr Gesicht einigermaßen wahren konnten und aus der Sackgasse herausfanden, in die sie sich selbst manövriert hatten.205 November 1922: Judenburg und Knittelfeld Donnerstag, den 2. November 1922, durchsuchten abends rund 150 mehr oder weniger bewaffnete „Arbeiter“ in Waltersdorf nahe Judenburg drei Bauernhöfe nach Waffen und nahmen den Besitzern, offenbar bekannten Heimwehr-Leuten, drei Gewehre, vier Pistolen und Munition ab. Diese gesetzwidrige Operation geschah in Anwesenheit (oder unter Führung) des Judenburger Bezirkssekretärs der SDAP, Chalupka. Die Gendarmerie der Stadt, kommandiert von Oberinspektor August Meyszner, ermittelte und verhaftete in der Nacht vom 13. zum 14. November sechs Tatverdächtige, darunter auch Chalupka selbst. Auf Weisung der Grazer Staatsanwalt wurden sie per LKW in die Landeshauptstadt überstellt. Die darauf hin erwarteten Unruhen seitens der Arbeiterschaft blieben nicht aus. Die Causa entwickelte sich zur dramatischsten seit 1921 und bis 1927. Noch in der Nacht wurde präventiv neben mehr Exekutive auch eine Kompanie Alpenjäger nach Judenburg verlegt. Zusammen sperrten sie demonstrativ die Zugänge zur Stadt, während in den Morgenstunden des 14. November Arbeiter die Murbrücke unterhalb des Stadtzentrums besetzten und damit zugleich den Durchzugsverkehr blockierten. Umfangreiche Zu-

sammenstöße wurden erwartet. Mittags entsandte Rintelen weiteres Militär von Graz nach Judenburg. Etwa gleichzeitig alarmierte Walter Pfrimer die Ortsgruppen seines „Selbstschutzes“ und bot an, sie als Gendarmerie-Assistenz zur Verfügung zu stellen. Schon am Nachmittag gab es im Nationalrat eine stürmische Debatte über die Vorgänge; Abgeordneter Arnold Eisler (SDAP) behauptete, die Exekutive habe über die Stadt den Belagerungszustand verhängt, wie es ihn noch niemals gegeben habe.206 Abends hielten tausende Arbeiter in Knittelfeld den Transport der Soldaten aus Graz an. Darauf stimmte Rintelen zu, Pfrimers Männer, angeblich gegen 6.000, offiziell als Hilfspolizei einzusetzen. Allerdings war Pfrimer das nicht genug. Ultimativ forderte von den Knittelfeldern, ihre Aktionen zu beenden, und drohte einen „Marsch“ gegen sie an. Es sah danach aus, dass die Lage vollends außer Kontrolle geraten werde. Noch in der Nacht zum 15. November eilten SDAP-Obmann Hans Resel, Reinhard Machold und Ludwig Oberzaucher nach Judenburg, um mit Walter Pfrimer und dem Bezirkshauptmann zu verhandeln. Dabei führte Pfrimer das große Wort. Schließlich kam man überein, dass das Militär unbehelligt in die Stadt einrücken werde, der „Selbstschutz“ und die Arbeiter ihre Sicherheits- bzw. Überwachungsdienste beenden und ihre militärischen „Übungen“ einstweilen einstellen würden. Danach kehrte langsam wieder Ruhe ein; dazu trug bei, dass die Verhafteten bald freikamen. (Sie und ein paar andere wurden später wegen Hausfriedensbruchs zu einigen Monaten Freiheitsstrafen verurteilt.)207 Am 20. November tagte der Landtag. Machold begründete ausführlich eine Anfrage an Rintelen und listete in ihr die Umstände auf, die die Vorgänge provoziert hätten: Die Aufmärsche und neuerdings die Aufrüstung der Heimwehren mit Waffen, die dem Staat weggenommen worden wären, die zumal in Judenburg

Ableitinger / Unentwegt Krise

dramatisch steigende Arbeitslosigkeit, die Irreführung der regionalen SDAP, wonach die Konzentration von Gendarmerie nur dazu habe dienen sollen, am 12. November, dem Tag der Republik-Gründung, Zusammenstöße einzudämmen. Er kritisierte Rintelen, dass er, diesmal wie zuletzt bereits öfter, Maßnahmen ohne Vorausinformation oder gar Konsultation der SDAP gesetzt habe usw. Aber in Wahrheit waren Machold und seine Fraktion auf Deeskalation gestimmt, sogar August Regner, der Knittelfelder Bürgermeister, der am 14./15. November wüste Drohungen ausgestoßen hatte. Machold räumte ein, die Judenburger Arbeiter hätten eine Dummheit gemacht, man hätte aber besonnener auf sie reagieren müssen, und er schloss sogar mit der Hoffnung, die in Judenburg zuletzt getroffene Vereinbarung werde der erste Schritt, […] eine Vorbereitung zum Frieden sein. Rintelens Antwort fiel wie gewohnt kühl aus: Die Verstärkung der Exekutive und die Verhaftungen hätten die Bevölkerung vor Wiederholungen der Waltersdorfer Übergriffe schützen sollen, Meyszner habe die Erhebungen korrekt geführt, alle weiteren Details habe die Staatsanwaltschaft angeordnet etc. Er machte sich geradezu klein. Nachdem in der weiteren Debatte die bekannten wechselseitigen Beschuldigungen vorgebracht waren und es nicht an Sticheleien gefehlt hatte, ging man nach mehrstündigen Wortgefechten auseinander; zuletzt verhandelte man gänzlich routiniert über Herstellung einer unmittelbaren Fernsprechverbindung Graz–Klagenfurt.208 Signifikant an dem ganzen Geschehen war mehreres: erstens das einmal mehr autonome Vorpreschen der „Arbeiter“ zwecks Waffen­ suche, durch Chalupkas führende Rolle nur scheinbar von der SDAP gedeckt; zweitens Meyszners energisches, aber auch eskalierendes Vorgehen, sein erstes Auftreten mit politischer Dimension; dann das bis dahin vorbildlose Agieren der Knittelfelder gegen den Militär-

81

transport; ferner Regners Erwähnung von „Hakenkreuzlern“ unter den Heimwehr-Leuten; schließlich, folgenreicher als alles andere, Pfrimers offensives Agieren. Es machte ihn, der zuvor nur im oberen Murtal einen Namen gehabt hatte, definitiv zu einer landesweit bekannten Figur und zu einem Hoffnungsträger derer, die einen besonders scharfen Ton und bei Bedarf einen „Mann der Tat“ gegen die „Proletarier“ ersehnten. Dabei schadete ihm kaum, dass er seit den „Volkstagen“ von 1918 als „national“ bekannt war, d. h. nicht in katholischklerikalem Geruch stand; mit Meyszner war er in vollem Einvernehmen.209 Im Herbst 1923 wurde Pfrimer zum Landesleiter aller steirischen Heimwehrverbände bestimmt, was vorerst aber ohne praktische Folgen blieb; die Ahrer-Winkler-Heimwehr bewahrte vorläufig ihre Selbständigkeit. Erst ab 1926/27 glaubte Pfrimer sich berufen, autonom Politik zu machen; das „Linzer Programm“ der SDAP und der 15. Juli 1927 motivierten ihn dazu. Die Mitte der 1920er Jahre Inf lation und „Genfer Sanierung“ Weder 1921 noch 1922 besserten sich die Lebensverhältnisse für Österreichs Bevölkerung wesentlich. Zwar gingen Verstöße gegen bzw. bewusst unternommene Angriffe auf die öffentliche Ordnung zurück. Die wirtschaftliche Lage aber blieb weiterhin extrem prekär. Vor allem bestand eine riesige Lücke zwischen dem seit dem Zerfall Österreich-Ungarns hohen Importbedarf des Landes und seinen Möglichkeiten zu exportieren; seine Zahlungsbilanz war chronisch negativ. Die Preise für Lebensmittel stiegen auf ein Niveau, das die Regierungen zwang, sie durch Subventionen um bis zu zwei Drittel zu senken, um sie für die Konsumenten bezahlbar zu machen. Diesen und anderen Ausgaben standen 1921 nur etwa ein Drittel an

82

Ableitinger / Unentwegt Krise

Einnahmen aus Steuern und anderen Einnahmen gegenüber. Zur Deckung der Lücke wurden bereits seit 1920 Kronen-Banknoten gedruckt; deren Umlaufvolumen stieg um 400 Prozent. Dementsprechend galoppierte die Inf lation, fiel der Außenwert der Krone. Alle wussten, dass es so nicht fortgehen konnte. Im Spätherbst 1921 verständigten sich die Parteien, die SDAP eingeschlossen, auf einen von Finanzminister Gürtler vorgelegten „Finanzplan“. Aber weder der noch ein namhafter Kredit, den die Tschechoslowakei Mayrs Nachfolger Johannes Schober einräumte, genügten. Die Notenpresse wurde weiter betätigt. Erst im Oktober 1922 erwirkte die erste Regierung Ignaz Seipels, im Parlament getragen von einer jetzt formell paktierten Koalition aus Christlichsozialen und Großdeutschen, beim Völkerbund die Garantie einer internationalen Anleihe über 650 Mill. „Goldkronen“, d. h. Kronen gemäß deren Vorkriegsparität. Mit ihr wurde die Inf lation gestoppt, das Budget ausgeglichen. Man sprach von der „Genfer Sanierung“. Österreichs Gegenleistung bestand erstens darin, zwanzig Jahre lang keine Anschluss-Politik zu betreiben, zweitens in einem drastischen Sparkurs, der in Wien von einem Kommissar des Völkerbundes strikt kontrolliert wurde. Beides war naturgemäß innenpolitisch äußerst umstritten. Trotzdem war die „Sanierung“ so unvermeidlich, dass letztlich sogar die oppositionelle SDAP ihr im Nationalrat über die höchsten Hürden half. Öffentlich allerdings polemisierte die Partei weiter mit aller Macht gegen den „Genfer“ Kurs.210 Die Wahlen von 1923 Schon im Herbst 1923 musste der Nationalrat wieder gewählt werden.211 Gleichzeitig wurde am 21. Oktober auch der steirische Landtag neu gewählt. Bei der Wahl zum Nationalrat legten Christlichsoziale und Sozialdemokraten jeweils um

rund drei Prozentpunkte an Stimmen zu, Großdeutsche und der 1922 aus den „Bauernbünden“ formierte „Landbund“ sanken von 16,7 auf 12,7 Prozent ab (in fast allen Bundesländern hatten sie gemeinsam kandidiert). Alle Parteien verloren Mandate, wahlrechtsbedingt am wenigsten die SDAP. Die „bürgerliche“ Mehrheit im Hohen Haus schrumpfte zwar, ihr Vorsprung vor der „roten“ Opposition blieb mit 29 Sitzen jedoch trotzdem komfortabel. Nach Mandaten stand es jetzt 82 (CSP), 15 (DN), 68 (SDAP). Seipel konnte weiter regieren. Die Kampagne gegen „Genf “ hatte sich de facto nicht gelohnt.212 In der Steiermark erlebten die Christlichsozialen wahre Triumphe; die Resultate von Nationalrats- bzw. Landtagswahl differierten wieder bloß im Promillebereich. Bei gemessen an Gesamtösterreich deutlich unterdurchschnittlicher Wahlbeteiligung (87 gegen 81 %), erzielten sie 45,8 Prozent Stimmenanteil, deutlich mehr als 1920. Für die SDAP lauteten die entsprechenden Zahlen 34,7 bzw. 33,5 Prozent. Die beiden „nationalen“ Parteien waren 1920 auf zusammen 22,1 Prozent gekommen und muss­ ten sich nun, mit 19 Prozent begnügen.213 (In der Steiermark kandidierten sie mit zwei neuen, aber weiterhin rivalisierenden Listen, „Steirischer Bauernbund“ bzw. „Großdeutsche und Landbund“; selbst in Graz-Stadt trat der „Bauernbund“ separat an.) Rintelens Partei gewann drei Landtagsmandate hinzu, 34 statt 31, die SDAP blieb bei ihren 24, der Bauernbund bei seinen acht, die Großdeutschen fielen auf vier. (Vor allem in der Landeshauptstadt waren sie von 19.600 auf 12.500 abgesackt, die CSP dagegen von 18.562 auf 29.624 Stimmen hinaufgeschnellt. Dass gerade das „Grazer Bürgertum“, die „Geidorfer“, die CSP für „Genf “ belohnte und die Großdeutschen dafür bestrafte, ist wenig plausibel. Die Ursachen der enormen Verschiebung müssen wohl auf anderer Ebene vermutet werden.)

Ableitinger / Unentwegt Krise

83

Einladung zur sozialdemokratischen Wählerversammlung mit Otto Bauer in Knittelfeld am 14. Oktober 1923 StLA

In der Landesregierung stand es nun 6 : 4 : 1 : 1. Sie wurde am 20. November im Landtag gewählt. Rintelen bekam wieder 45 von 69 Stimmen, die Zettel der SDAP-Mandatare waren wieder leer geblieben.214 Der Rückblick zeigt, dass der Landeshauptmann sich bereits auf dem Höhepunkt seines Prestiges befand.

Output steirischer Landespolitik Der „Genfer Sanierung“ per se behob Österreichs strukturelle wirtschaftliche Schwächen naturgemäß nicht. Die Budgets des Bundes wurden zwar ausgeglichen, doch blieb auch das trotz einschneidender Maßnahmen – voran die Reduktion der Zahl der öffentlich Bediensteten um mehrere Zehntausend – auf Dauer unsicher.

Die Stabilisierung der Währung – 1925 wurde die weiche Krone vom harten Schilling abgelöst („Alpendollar“) – begleitete kein konjunktureller Aufschwung. Die Zahl der Arbeitslosen wuchs und wuchs. Streit ging um die Zollpolitik – die Agrarier forderten Schutzzölle, die Industrie verlangte niedrige Zollsätze, um im Gegenzug besser exportieren zu können. Streit ging auch um das Lohnniveau bzw. die auf Basis der Sozialgesetzgebung hohen Lohnnebenkosten, die die Gewinne der Unternehmen knapp hielten und die Bildung von Investitionskapital erschwerten.215 Streit ging schließlich zudem um die Finanzen der Bundesländer, die der Kontrolle durch den Völkerbund-Kommissar nicht unterlagen. Die Bundesregierung fand, sie und die Gemeinden sparten zu wenig, und forderte, sowohl die Ertragsanteile der Länder

84

Ableitinger / Unentwegt Krise

an gewissen Steuern zugunsten des Bundes zu kürzen, wie das Niveau reiner Landesabgaben (vor allem auf Grund und Gebäude) durch ein stärkeres Einspruchsrecht des Finanzministers begrenzen zu können. In diesen Kontroversen standen die „schwarzen“ Länder und das „rote“ Wien Seite an Seite gegen den Bund. Mitte 1924 fand man zu einem Kompromiss, der den Bund nicht zufriedenstellte.216 Die Spielräume, die die „Finanzverfassung“ bzw. das „Abgabenteilungsgesetz“ den Ländern einräumten, determinierten naturgemäß die Aktionsfelder von Landespolitik. (Diese übrigens konnte die Finanzgebarung der Gemeinden strikter kontrollieren, als dem Bund das gegenüber den Ländern erlaubt war.) Wie Landtag und Landesregierung in der Steiermark das jeweilige Maß ihrer budgetären Autonomie nutzten, ist fast gänzlich unerforscht. Solange bis 1922 der Staat bzw. der Bund das Land finanziell mehr oder weniger nach Gutdünken dotierte, scheint das Land eher großzügig agiert zu haben; die sich beschleunigende Inf lation bzw. die nahezu unbegrenzte Ausweitung der Geldmenge durch die Notenpresse erleichterte das – finanzielle Solidität war vorerst ohnedies unerreichbar. Der Landtag beschloss Verbesserungen für diverse Berufsgruppen, baute Jugendschutz und Jugendfürsorge aus (u. a. Einrichtung eines Landesjugendamtes), etablierte das landwirtschaftliche Fortbildungswesen (mit Zentrum in St. Martin bei Graz unter Leitung von Ex-Abgeordnetem Steinberger). Auch dem Wasser- und Brückenbau, d. h. der ländlichen Infrastruktur wurde viel Aufmerksamkeit zugewendet (besonders durch Landesrat Prof. Paul). Sämtliche Landtagsfraktionen kamen dabei auf ihre Rechnung. Viel Engagement widmete das Land bereits früh den Landeskrankenhäusern und insbesondere dem ehrgeizigen Ausbau der Sonnenheilstätte Stolzalpe bei Murau. (Noch 1941 rühmte Rintelen, wie sehr sich sein sozialdemokratischer Stellvertreter Josef

Pongratz darum verdient gemacht hatte.)217 Weitgehenden Konsens gab es zudem dafür, den Gemeinden, primär den seit 1919 „rot“ dominierten, expansive Kommunalpolitik zu ermöglichen; der Landtag genehmigte fast immer deren Anträge auf Steigerung jener Zuschläge auf die Gebäudesteuer, die in die Gemeindekassen f lossen. Speziell Graz und sein Bürgermeister Vinzenz Muchitsch wurden dabei ebenso pf leglich behandelt wie bei der Zustimmung zu Anleihen, die die Landeshauptstadt aufnahm. Einhellige Zuwendung durch die Landespolitik genoss, nach kurzem heftigem Konf likt Anfang 1919, durchgehend die STEWEAG. Bereits im Dezember 1919 stockte der Landtag einstimmig den Anteil des Landes an ihrer Vorgängergesellschaft auf 50 Prozent auf; die SDAP plädierte nur mehr dafür, die Option offen zu halten, dass die Staatsregierung mitziehe, falls das Kapital des Unternehmens zwecks Forcierung von dessen ehrgeizigen Plänen hinsichtlich Neu- und Ausbau von Kraftwerken von 20 auf 100 Millionen Kronen angehoben werden würde.218 Nach einigen Vorstufen wurde die STEWEAG 1921 definitiv gegründet – Rintelen übernahm bis 1925 den Vorsitz in ihrem Verwaltungsrat. Sie bewältigte bis 1927 rasch umfangreiche Kraftwerksbauten (z. B. Teigitsch­ werke, Murkraftwerk Pernegg) sowie den Ausbau eines einheitlichen Hochspannungsnetzes („Sammelschienen“), das den von ihr erzeugten Strom weiträumig verfügbar machte, etwa für die obersteirische Industrie und SchoellerBleckmann in Ternitz.219 Was für diese Expansionsschritte finanziell vorzukehren war, wurde vom Landtag immer einmütig unterstützt.220 Zugleich galt es zwecks Sicherung ihres Absatzes zu erreichen, dass die Staatsbahnen, die 1924 auch die Südbahn-Gesellschaft übernommen hatten, kontinuierlich elektrifiziert wurden. Bei dem allem waren von Anfang an Widerstände der „Kohlenlobby“, geführt von Viktor Wutte, dem Chef der Graz-

Ableitinger / Unentwegt Krise

Köf lacher Eisenbahn- und Bergbaugesellschaft (GKB), zu überwinden, außerdem im engeren Sinne politische. Rintelen nahm für sich in Anspruch, bei der Gründung des Unternehmens durchgesetzt zu haben, dass es dem Einf luss der finanziell übermächtigen Stadt Wien entzogen blieb, d. h. sozialdemokratischem, später, dass er zwecks rascher Expansion (mit persönlicher Unterstützung Mussolinis) italienisches Privatkapital interessiert habe (ohne diesem die Aktienmehrheit einzuräumen). Auch die wechselnden Erfolge in der Auseinandersetzung mit der „Kohlenlobby“ bzw. den Staatsbahnen schrieb er sich zu. Dabei anerkannte er freilich eine gewisse Unterstützung durch die steirische SDAP, in der er implizit Auseinandersetzungen zwischen einer sozusagen landespatriotischen Richtung und einer an den Auffassungen der Wiener Parteizentrale orientierten identifizierte.221 Die meisten dieser und anderer Bemühungen wurden nach der „Sanierung“ schwerer realisierbar. Die Regeln der „Finanzverfassung“ und der „Abgabenteilung“ (Verteilung der Steuern auf Bund, Länder und Gemeinden) schufen u. a. zwar einen kalkulierbareren Rahmen, anfangs sogar einen mit höheren Einnahmen für die Länder, intensivierten aber, wie angedeutet, auch Reibungen mit der Bundespolitik, als sich der erhoffte Wirtschaftsaufschwung nicht einstellte und der endlich erzielte Ausgleich der öffentlichen Haushalte wieder fragwürdig wurde. Trotzdem (oder deshalb?) betrieb die steirische Politik 1925/26, um ihre Investitionspläne finanzieren zu können, die Aufnahme einer großen Anleihe in Dollar – letztlich erfolgreich. Allerdings lauteten deren Konditionen nicht gerade günstig. Trotzdem gab es über sie zwischen den Parteien nach Ausweis der Sitzungsprotokolle in der Landesregierung keinen Streit, auch nicht darüber, dass Rintelen die Verhandlungen über die Anleihe faktisch allein führte. Landesrat Machold fand

85

im Februar 1925, Österreichs Zukunft sehe so ungünstig aus, dass man ruhig für alles stimmen könne. Geld ins Land zu bringen, sei augenblicklich jedenfalls ein Vorteil.222 Auf die Landespolitik schlugen naturgemäß generell die nationalen und internationalen Rahmenbedingungen durch, speziell die jeweiligen bundespolitischen Tendenzen. Spielräume des Landes hingen maßgeblich davon ab, wie wirksam dessen Interessen, formuliert von dem heimischen politischen Personal und mehr oder weniger mitgetragen von der Bevölkerung, gegenüber dem Bund vertreten wurden. Darüber existiert nahezu kein auf Forschung gegründetes Wissen. Man darf voraussetzen, dass sich Rintelen und Gürtler, im Sinne des damaligen Mainstreams der Christlichsozialen überhaupt, seit 1919/20 für maximale Bewahrung jenes Status der Länder im Staat verwendeten, der hier früher mit „föderalistischer Revolution“ umschrieben wurde, in militärpolitischen Belangen besonders dafür, dauerhafte Mitentscheidung der Länder erst zu erkämpfen. Dabei spielte mit, im Wege föderativer Staatsstrukturen der Dynamik der SDAP in Nationalversammlung und Staatsregierung Grenzen zu setzen. Details über Initiativen steirischer Christlichsozialer sind unbekannt. Im Februar und März 1920 nahmen Rintelen und Ahrer an den Länderkonferenzen von Salzburg und Linz teil, allerdings anscheinend unauffällig.223 Welche Rolle steirische Politiker 1921/22 in den Verhandlungen über Finanzverfassung und Abgabenteilung spielten, bedarf erst der Erforschung.224 Im Allgemeinen hatte von allen Steirern Rintelen den gewichtigsten Status „in Wien“ – allerdings einen selbst in seiner Partei zunehmend umstrittenen. Erkennbar ist, dass er sich mehr auf der Ebene von Verwaltungsentscheidungen der Ministerien ins Zeug legte – Personalrekrutierung für das Bundesheer, Wasserkraft versus Kohle, Bundesbahnen, Straßenbau des Bundes in der Steiermark (Packer- und

86

Ableitinger / Unentwegt Krise

Gesäusestraße), Erhalt des Gestüts Piber, Organisation des Rundfunkwesens („Ravag“) – als für die Bundesgesetzgebung.225 (Dies gilt naturgemäß nicht für die Phasen, während derer er auch als Bundesminister fungierte, 1926, 1932/33.) Wie es sich mit dem Status steirischer Sozialdemokraten im zentralen Vorstand ihrer Partei verhielt, steht dahin; weil sie dessen strikte Oppositionspolitik nicht schätzten, war er wohl kaum bedeutend (vgl. unten S. 112f.). In der Politik des Gesamtstaates traten steirische Politiker bis Mitte der 1920er Jahre nicht auffällig hervor.226 Unter den ins Wiener Parlament gewählten Mandataren aus der Steiermark machten sich im Grunde nur Eisler (SDAP), Gürtler (CSP) und kurzzeitig Wutte (GDVP) sowie Gimpl (CSP) bemerkbar. Wutte schied als Abgeordneter bald aus. Eisler gehörte immerhin zur zweiten Garnitur der SDAPFraktion. Gürtler blieb, mit einer Unterbrechung, während der er in Graz als Landeshauptmann fungierte, bis 1930 ein angesehenes Mitglied des Hohen Hauses, 1928 bis 1930 fungierte er als dessen Präsident. 1921/22 war er in Wien einige Monate lang Finanzminister – wie alle seine Kollegen in diesem Amt vor der „Genfer Sanierung“ geradezu unvermeidlich mit bescheidenen Erfolgen. Ahrer wurde zwar nie in den Nationalrat gewählt, als Bundesfinanzminister (November 1924 – Jänner 1926) rückte er jedoch ins Zentrum bundespolitischen Geschehens. Dabei war seine Reputation in Wien bereits bei seinem dortigen Start keine günstige. Namentlich Seipel hatte nicht vergessen, dass Ahrer im Frühjahr 1921, als es um das Anschluss-Referendum

gegangen war, in Graz zu den Falken gezählt hatte. Schwerer wog, dass Ahrer im Zuge einer Niederlage Seipels innerhalb der CSP in die Bundesregierung kam. Der Kanzler und sein Finanzminister Viktor Kienböck hatten 1924 ihre finanzpolitischen Vorhaben gegen die „Ländervertreter“ der eigenen Partei nicht durchsetzen können und machten dem Ministerium Ramek-Ahrer Platz;227 mit etwas Schadenfreude sahen sie zu, wie sich dieses mit der Völkerbund-Kontrolle und wachsenden Problemen bei der Postsparkasse abplagte, nach Ahrers Rückzug außerdem mit dem „Skandal“ um die „Centralbank“. Ob Ahrer bei diesen und anderen Fragen eine schlechte Figur machte, sei es wegen Überforderung, sei es wegen Korruptionsanfälligkeit, blieb umstritten. Den letzten Anstoß für sein Scheitern gab Ende 1925 jedenfalls sein „Wirtschaftsprogramm“, das u. a. mit den Interessen der Wiener Großbanken und ihrer internationalen Aktionäre kollidierte und außerdem einen temporären innenpolitischen Waffenstillstand mit der Sozialdemokratie inklusive gewisser sozialpartnerschaftlicher Institutionen vorsah (sog. „Steirisches Wirtschaftsprogramm“). Für beides fand er kein Verständnis.228 Kaum zurück in Graz, verschwand er fast buchstäblich über Nacht und beendete damit seine Lauf bahn als Politiker. Ob er, wie er für sich reklamierte, vor familiären Kalamitäten gef lohen war oder, wie Gegner, aber auch manche „Parteifreunde“ glaubten, wegen drohender Korruptionsvorwürfe, blieb offen. So oder so leistete er einen Beitrag zur 1926 offen ausbrechenden Krise der Christlichsozialen Partei überhaupt.229

Ableitinger / Unentwegt Krise

87

Götterdämmerung: Krise der steirischen Christlichsozialen Christlichsoziale zusammen mit Großdeutschen dominierten, wie gezeigt, bis in die Mitte der 1920er Jahre die Landespolitik weitgehend unangefochten, de facto bildeten sie eine Koalition. Mit dem Landbund unterhielten sie zumeist gute Beziehungen, mit der Sozialdemokratie zwar kritische, aber fast immer korrekte. Doch ab der Jahresmitte 1926 wurde alles anders. Finanzskandale Im Sommer 1926 wurden fast gleichzeitig mehrere Finanz-„Skandale“ publik, in die nicht zuletzt steirische Christlichsoziale tief verstrickt waren bzw. verstrickt schienen, in kleinerem Umfang auch Großdeutsche und der Landbund. Die Skandale wurden sichtbar mit dem akut drohenden Zusammenbruch der „Centralbank deutscher Sparkassen“ mitsamt deren intensiven Verf lechtungen mit einer Reihe mittlerer und kleinerer Geldinstitute, darunter der „Steirerbank“ in Graz, dann mit dem Ankauf von STEWEAG-Aktien durch das Land Steiermark zu, wie es hieß, weit überhöhten Preisen, schließlich mit Vorgängen in der staatseigenen Postsparkasse.230 Die „Steirerbank“ war ein kleines privates Unternehmen, das im Frühjahr 1920 – maßgeblich auf Initiative Rintelens und mittels dessen Netzwerk in der Wirtschaft – gegründet worden war. Aus seinen Gewinnen sollte u. a. den Finanzen der steirischen CSP „aufgeholfen“, vermutlich auch Rintelen und sein engerer Kreis in der CSP von der Finanzkraft des „Katholischen Bauernvereins“ bzw. dessen „Bauernvereinskasse“ weniger abhängig gemacht werden. Allerdings waren diese beiden 1920 mit im Boot, indem sie Anteile an der „Steirerbank“ erwarben – wie viele ist unbekannt. Gewinnorientierte Unternehmen durch Par-

teien oder deren Exponenten zu gründen bzw. zu betreiben, war damals nicht unüblich, das bekannteste Beispiel war seit 1921 die „Arbeiterbank“, in der Karl Renner eine führende Rolle zukam. Anfangs saß Rintelen als „Präsident“ dem Verwaltungsrat der „Steirerbank“ vor, Ahrer wirkte in ihr als eine Art angestellter Generalsekretär, aber nicht als ihr Direktor; später fungierte er als Vizepräsident. Er schied 1924 aus der Bank aus, als er Finanzminister wurde, Rintelen 1925 infolge des damals neuen Unvereinbarkeitsgesetzes. Die Geschäfte des Hauses hatten sich nie so günstig entwickelt wie erhofft, 1925 stand die Bank knapp vor der Insolvenz. Vermutlich auf Finanzminister Ahrers Intervention bekam sie noch einmal einen zinsgünstigen Kredit der Postsparkasse. Etwa gleichzeitig wurde die „Centralbank“ veranlasst, sie zu „retten“ – wie zuvor schon andere Geldinstitute, die ebenfalls überwiegend im Einf lussbereich von Christlichsozialen gestanden waren, u. a. von niederösterreichischen. Mitte 1926 stand die Centralbank selbst knapp vor dem Ende, es sah so aus, als ob sie sich mit den Rettungsaktionen selbst übernommen hatte. Die Bundesregierung unter Kanzler Rudolf Ramek musste, um dem „systemrelevanten“ Institut das Überleben zu ermöglichen, mit einer riesigen Summe einspringen. Dazu brauchte sie gesetzliche Ermächtigungen, d. h. wenigstens Duldung durch die SDAP; diese war ohne parlamentarischen Untersuchungsausschuss nicht zu haben. Dieser tagte von Juli bis Dezember 1926 de facto öffentlich. Was er ermittelte, waren neben anderem im Ganzen wie in zahllosen Einzelheiten z. T. unglaubliche Verzahnungen zwischen Politik und Privatgeschäften, über die täglich in den Zeitungen zu lesen war.231 So hatte, um nur ein Beispiel zu nennen, die „Stei-

88

Ableitinger / Unentwegt Krise

Das alles wurde im rerbank“, deren Konten geHerbst 1926 publik, als die öffnet wurden, einen großen steirischen ChristlichsoziaTeil des Postsparkassen-Krelen seit September ohnehin dits dazu verwendet, mehrebereits mit einem Skandal ren Politikern, naturgemäß um STEWEAG-Aktien ausschließlich „bürgerlischwerstens belastet waren. chen“, ferner hohen LandesDechant Franz Prisching beamten aus dem Umkreis (1866–1935), im Juni als Rintelens, sowie eigenen Nachfolger Rintelens zum leitenden Angestellten Kreditschulden bei ihr einfach Landeshauptmann gewählt, zu erlassen. Das wurde im hatte mit dem Ankauf von Oktober 1926 bekannt. Die 155.000 Stück STEWEAGNamen der Begünstigten Aktien für das Land nicht standen in den Blättern, nur dessen Kassen geschäebenso die Beträge; bezeichdigt, weil naturgemäß diese Landeshauptmann Dechant nenderweise wurden die in massive Nachfrage nach den Franz Prisching Kronen ausgewiesen statt in zuvor kaum gehandelten PaUMJ/MMS Schilling; so lauteten sie häupieren deren Preise hinauffig auf zweistellige Milliogetrieben hatte – zwischen nen, statt auf tausende Schilling.232 Obwohl 8. Juni und 9. Juli um rund 40 Prozent. Er diese Operationen nach dem Ausscheiden Ah- hatte die Aktien außerdem von der „Steirerrers und Rintelens aus der Bank stattgefunden bank“ bezogen und dieser damit lukrative Gehatten und für den Landeshauptmann selbst an- schäfte zugespielt sowie überdies persönlich erkanntermaßen nicht „gesorgt“ worden war,233 durch Abgabe einiger STEWEAG-Stücke prokonnte die politische Optik vor allem für die fitiert, die er sich beizeiten besorgt hatte. 236 – steirischen Christlichsozialen kaum schlechter Als Ende September die sozialdemokratischen sein. Mit dem Stagnieren bzw. Niedergang der Mitglieder der Landesregierung diese Vorgän„Steirerbank“ hatte Rintelen jedenfalls irgend- ge bekannt machten, musste Prisching sein wie zu tun, von Ahrer wurde wenigstens be- Amt zurücklegen. Die Behandlung eines Ohhauptet, seine Ernennung zum Finanzminister renleidens vorschützend, machte er sich für habe nur stattgefunden, um das drohende De- einige Tage nach Italien aus dem Staub. Selbst saster des Grazer Instituts zu verhindern bzw. das „Grazer Volksblatt“ kommentierte seinen zu verdecken.234 Und als Ahrer in Wien u. a. Abgang sehr kritisch. 237 In Frage stand, wer, nur wenig mehr als drei wegen seiner Konf likte mit dem Industriellenverband im Jänner 1926 hatte demissionieren Monate nachdem er am 25. Juni anstandslos müssen, wäre ihm, so der Anschein, Ende Juni vom Landtag gewählt worden war, als sein Rintelen dahin als Unterrichtsminister gefolgt, Nachfolger nominiert werden würde. Die um Ahrers Aufgabe fortzusetzen; dafür habe er Christlichsozialen beantworteten sie am 1. Oksogar sein Amt als Landeshauptmann geopfert tober mit dem Namen Anton Rintelen. Das (tatsächlich war das am 26. Juni 1926 geschehen, kam einer schweren Provokation gleich, übriunmittelbar bevor die Affäre um die „Central- gens nicht nur der SDAP, sondern auch des Landbundes. bank“ platzte).235

Ableitinger / Unentwegt Krise

Es konnte nicht ausbleiben, dass die Sozialdemokratie die Chancen, die ihr während dieser Monate so reichlich geboten wurden, ebenso reichlich nutzte. Schon ihre Nachrufe auf Prisching lauteten gallig: Der „Schmutz der Beutemacherei“ klebte so sehr an ihm, schrieb der „Arbeiterwille“, dass er „verjagt werden musste“, den „lustigen Finanzdechanten“ zum Landeshauptmann vorzuschlagen, wäre „von Haus aus ein Verbrechen“ gewesen. Nach Rintelens Nominierung verschärfte die Zeitung ihren Ton noch: Mit Bezug auf die „Centralbank“ las man von „Schiebungen“ an die „verlumpten christlichsozialen Parteibanken“, etwas später von der „Schmarotzerbande Rintelen und Genossen“.238 Wahl des Landeshauptmannes – Zeitweise Lahmlegung des Landtages Zur Wahl des Landeshauptmannes trat der Landtag am 11. Oktober 1926 zusammen. Aber es kam nicht zur Wahl. Vielmehr trugen sich von da an durch sieben Sitzungen bis zum 19. Oktober in der Landstube Szenen zu, wie sie es noch nie gegeben hatte. Nachdem am 11. Oktober Landesrat Leopold Zenz den auf Rintelen lautenden Wahlvorschlag einigermaßen kleinlaut begründet hatte, listete Machold ein ganzes Register von Verfehlungen Rintelens, Prischings und Ahrers auf und erklärte, Rintelen wäre der Hauptschuldige an allen diesen bekannt gewordenen Schweinereien. Dessen Nominierung habe allenthalben Siedehitze erzeugt, und die SDAP werde den Wahlakt mit allen Mitteln verhindern, nötigenfalls bis zur Zertrümmerung der Arbeitsfähigkeit des Landtages und bis hin zur vollständigen Lahmlegung der Tätigkeit der Landesregierung. Derartiges hatte der Landtag seit 1918 noch nie zu hören bekommen, es wog, von dem stets besonnenen Machold gesprochen, doppelt schwer. Unter Rintelens Vergehen kam Machold zudem auf dessen angebliche Verwick-

89

lung in eine alte Geldfälschungsaffäre in Wetzelsdorf zurück, die ein Landtagsausschuss im April 1926 untersucht hatte, ohne für den Vorwurf Anhaltspunkte zu finden; die Christlichsozialen tobten über diesen Vorwurf. Machold ätzte auch über die Verbindung des „christlichen“ Steirerbank-Präsidenten Rintelen mit dem Arier Bosel.239 Auf einen christlichsozialen Zwischenrufer reagierte der Sozialdemokrat Koloman Wallisch mit dem Satz: Sie haben nichts mehr zu reden hier. Als später Rintelen selbst zu Wort kam, tat es der Abgeordnete Johann Leichin Wallisch nach: Lösen Sie den Landtag auf, rief er dem Präsidenten zu, der Mann darf hier nicht reden […]. – Fortgesetzter ungeheurer Tumult folgte240, dann redete Rintelen doch. Zwei Tage später, am 13. Oktober, war keine Beruhigung eingetreten. Die „bürgerlichen“ Parteien schickten niemanden mehr ans Rednerpult. Dafür sprach Leichin mit bloß einer Pause vom Vormittag bis zum Abend. Tags darauf setzte Leichin fort. Im Zuge eines „Duells“ von Zwischenrufern – Landesrat Adolf Enge geriet mit Bürgermeister Vinzenz Muchitsch aneinander – begannen laut Protokoll Lärm, Pultdeckelschlagen gegen Enge. Damit hörten Leichins Parteikollegen auch nicht auf, als der weitersprechen wollte. Sie lassen Ihre eigenen Leute nicht reden, bemerkte die Christlichsoziale Frieda Mikola dazu. An diesem 13. Oktober 1926 riefen die Sozialdemokraten den Christlichsozialen noch zu: Schlagen Sie vor, wen Sie wollen, z. B. Paul oder Riegler; sie wollten die Wahl dann sofort ermöglichen.241 Aber die Christlichsozialen weigerten sich hartnäckig, auf Rintelen als Kandidaten zu verzichten. Das verursachte, dass die Opposition in den Sitzungen vom 15., 16., 18. und 19. Oktober auch nicht mehr sprach. Um ihrer Wut und Empörung Aus- und Nachdruck zu geben, verlegte sie sich auf lärmende Obstruktion, sie zeigte, wie die von Machold angekündigte Zertrümmerung praktisch aussehen

90

Ableitinger / Unentwegt Krise

Stenographischer Bericht zur Landtagssitzung am 15. Oktober 1926

konnte. Statt den unzureichenden Versuch zu machen, zu beschreiben, was vorging, werden hier die Seiten aus den „Stenographischen Berichten“ des Landtages abgebildet, die dessen Sitzungen vom 15., 16. und 18. Oktober dokumentieren.242 Nach diesen Exzessen folgte zwischen Dienstag (19.) und Freitag (22.) eine Pause. Wahrscheinlich wurde währenddessen insgeheim verhandelt und nach einem Ausweg ge-

StLA

sucht. Am Nachmittag des Freitag war er noch nicht gefunden. Die Landtagssitzung verlief zwar ruhiger, die Wahl des Landeshauptmannes kam aber noch immer nicht zustande. Ein Sozialdemokrat bemerkte, die Christlichsozialen hätten längst zustimmen sollen, dass die Bevölkerung selbst in der Streitfrage Rintelen entscheiden soll.243 Anscheinend war es in den Verhandlungen also auch um Auf lösung des Landtages und dessen Neuwahl gegangen. Fürchteten die

Ableitinger / Unentwegt Krise

Stenographischer Bericht zur Landtagssitzung am 16. Oktober 1926

Christlichsozialen eine monatelange Kampagne, um Neuwahlen zu erzwingen? Am Abend dieses 22. Oktober gaben sie jedenfalls auf. In der zweiten Sitzung des Tages präsentierte ihre Fraktion anstelle Rintelens Alfred Gürtler, ihren Grazer Nationalratsabgeordneten, als Kandidaten.244 Machold verkündete das Ende der Obstruktion; die Sozialdemokraten würden leere Stimmzettel abgeben. In der anschließenden Wahl bekam Gürtler von 68 Stimmen 38, 30 Stimmzettel waren leer245; also hatten auch der Landbund und einige Sonstige Gürtler nicht das Vertrauen ausgesprochen. Auch der Rest der Tagesordnung wurde kurz und bündig erledigt, die gesamte Sitzung benötigte bloß 50 Minuten. Politische Befriedung trat dennoch nicht ein, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Während Gürtler und der nach Prischings Abgang mit dem Finanzressort neu betraute Landesrat Enge sich anscheinend erfolgreich um Kooperation in der Landesregierung bemühten und insbesondere, angeblich erstmals, für 1927

91

StLA

einen seriös strukturierten Landesvoranschlag erarbeiteten – Ende Dezember zollten ihnen die Sozialdemokraten durch ihren Hauptredner Hermann Aust dafür Lob246 –, tobte der Kampf zwischen den Parteien in Versammlungen und Medien kaum vermindert weiter. Im Spätherbst gingen ja die Erörterungen um die „Centralbank“ nahtlos in die um die Postsparkasse über. Parallel tagte in Graz der STEWEAG-Untersuchungsausschuss. Stoff für Anschuldigungen und Polemiken war reichlich verfügbar. Naturgemäß nutzte ihn der „Arbeiterwille“ nach Kräften. Am 16. November 1926 schrieb er z. B., die Christlichsozialen würden alles tun, eine „ernste Untersuchung“ der STEWEAG-Affäre im Ausschuss zu verhindern.247 Wahlen 1927: Das christlichsoziale Desaster Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen erklärte sich daraus, dass 1927 ein Wahljahr war. An sich liefen die Legislaturperioden von Na-

92

Ableitinger / Unentwegt Krise

Stenographischer Bericht zur Landtagssitzung am 18. Oktober 1926

tionalrat und Landtag erst im Herbst aus. Die Sozialdemokratie hatte gute Gründe, früher wählen zu lassen. Sie hatte sich 1926 ein neues Grundsatzprogramm gegeben, das „Linzer Programm“, dazu ein spezielles „Agrarprogramm“. Von ihm erhoffte sie Erfolge in den Dörfern. Dazu kam die Kette von Skandalen, die sich gerade bei der Landbevölkerung gut ausspielen

StLA

ließ; es waren ja die städtischen Führer der Christlichsozialen, die sich, allerdings geduldet von den bäuerlichen, schmutzig gemacht hatten. Warum sich auch die Regierungsparteien in Wien für einen vorgezogenen Wahltermin im Frühjahr entschieden, ist unklar. Jedenfalls wurde schließlich der 24. April 1927 als Wahltag fixiert.

Ableitinger / Unentwegt Krise

In der Steiermark zögerten die Mehrheitsparteien allerdings, gleichzeitig die Wahl zum Landtag abhalten zu lassen. Erst am letztmöglichen Tag, am 24. März, entschlossen sie sich dazu. Rintelen und Gürtler hatten lieber bis zum Herbst warten wollen.248 Begannen sie schon damals die Kontrolle über ihre Partei zu verlieren? Dafür spricht, dass Rintelen selber nicht mehr für den Landtag kandidierte, sondern, im „sicheren“ Wahlkreis Oststeiermark für den Nationalrat, Gürtler tat dasselbe wieder in Graz; Ahrer und Prisching hatten sich selbst ausmanövriert. Weder im Bund noch im Land war die Lage von Christlichsozialen und Großdeutschen beneidenswert. Die ersten mussten schließlich zustimmen, dass nicht nur beide zusammen mit einer „Einheitsliste“ vor die Wähler traten, sondern dass die großdeutschen Kandidaten auf dieser so günstig gereiht wurden, dass sie ihre Mandate voraussichtlich behielten. Die zu erwartenden Verluste hatten demnach von vornherein die Christlichsozialen zu tragen. Mit Verlusten war, nach Lage der Dinge, sowohl zugunsten der Sozialdemokratie wie zugunsten des Landbundes zu rechnen, der alles tat, um die „katholischen“ Bauernführer bei deren Anhängern zu diskreditieren. Aber nicht genug damit: Überall hatte es die „Einheitsliste“ außerdem mit einer neuen Liste zu tun, dem „Wirtschaftsverband gegen Korruption“, initiiert vom Grazer Theologieprofessor Johannes Ude; Gürtler fasste die Lage später dahin zusammen, „dass kaum [einmal] eine Partei unter ungünstigeren Bedingungen in den Wahlkampf zog“.249 Dass der (kurze) Wahlkampf mit aller Härte ausgetragen wurde, versteht sich. Der „Arbeiterwille“ schrieb so aggressiv wie seit Monaten: „Der Rintelenismus am Pranger“, titelte er schon an dem Tag, an dem sich der „alte“ Landtag auf löste (24. März). In derselben Nummer belehrte er die Leser „Wie Billionen Steuergelder verwirtschaftet wurden“. Zwei Tage darauf

93

orientierte er über „Rintelens f luchbeladene Aufdringlichkeit“.250 – Der Landbund kritisierte die unzureichende Agrarpolitik der Regierungsparteien in Bund und Land und rühmte sich, an den Skandalen aller Art unbeteiligt gewesen zu sein. Das ließ ihm der „Arbeiterwille“ nicht durchgehen und erinnerte daran, dass die „bündlerische Agrarbank“ an der Preistreiberei mit STEWEAG-Aktien gut verdient hatte.251 – Die Christlichsozialen ihrerseits versuchten, von den Skandalen möglichst wenig zu reden. Über eine Wahlrede Gürtlers am 28. März wurde z. B. so berichtet: „Nach Besprechung der Zentralbankfrage erörterte Redner die Frage, ob das Wahlsystem geändert werden“ solle; dafür waren dann etwa 20 Zeilen Platz. Im Übrigen predigte die Partei „Sparsamkeit in der öffentlichen Verwaltung“ usw.252 Aber natürlich griff sie auch zur gewohnten Polemik: Sie beschwor die „Gefahr für Religion, Freiheit und Wirtschaft“, falls die Sozialdemokratie siegte, sie behauptete, was der Wahlaufruf der Sozialdemokraten forderte, „würde 169 Millionen Schilling Mehrkosten verursachen“, und der Sieg der Linken würde überhaupt bedeuten, dass „deren jüdische Führer zur Herrschaft gelangen“.253 Dann war endlich Wahltag. Beide Wahlgänge, der zum Nationalrat wie jener zum Landtag, brachten in der Steiermark überproportionale Erfolge für Sozialdemokratie und Landbund. Der Landtag war 1926 von 70 Abgeordneten auf 56 verkleinert worden, die Landesregierung von zwölf auf neun Sitze. Trotzdem behauptete die SDAP 21 ihrer bisher 24 Sitze im Landtag und ihre vier in der Regierung. Die Fraktion des Landbundes wuchs sogar um einen auf neun Mandatare an; in der Regierung blieb ihr der eine Sitz erhalten. Die Ude-Gruppe kam auf zwei Abgeordnete.254 Für alle diese Erfolge hatte die „Einheitsliste“ den Preis zu entrichten, ihrer Gründungsvereinbarung gemäß, wie angedeutet, de facto die

94

Ableitinger / Unentwegt Krise

Christlichsoziale Partei. 1923 waren auf sie allein 215.096 Stimmen entfallen, jetzt erreichte die „Einheitsliste“ bloß 206.893 – und das, obwohl insgesamt ca. 30.000 Stimmen mehr abgegeben worden waren als 1923. Die „Einheitsliste“ hatte gegenüber 1923 rund 46.000 Wählerinnen und Wähler verloren; damals waren CSP und Großdeutsche zusammen auf 250.984 gekommen. Dagegen hatten die SDAP ca. 19.000, der Landbund sogar knapp 27.000 zugelegt und die Ude-Partei hatte es aus dem Stand auf 31.410 gebracht. In relativen Zahlen waren die Parteien, die jetzt die „Einheitsliste“ bildeten, gegenüber 1923 von 53,4 auf 41,4 Prozent zurückgefallen, d. h. sie hatten mehr als ein Fünftel an Stimmenanteilen eingebüßt. Trotzdem bildeten sie als „Einheitsliste“ im Landtag mit 24 Sitzen die größte Fraktion; aus ihr stammten vier von den Großdeutschen, 20 aus der CSP. In die Landesregierung hatte diese nur noch drei Personen zu entsenden (statt bislang sechs), dazu kam ein Großdeutscher; dort entschied somit der Landbündler Franz Winkler über die Mehrheit.255 Christlichsoziale Bauern stürzen Rintelen Die Niederlage derer, die bislang das Sagen gehabt hatten, hätte kaum schwerer ausfallen können. Die ersten spontanen Reaktionen der Christlichsozialen zeugten demgemäß vor allem von Niedergeschlagenheit und – Kränkung: Das schlechte Wetter am Wahlsonntag habe die Wahlbeteiligung gedrückt. Das Volk habe gesprochen, „mag es mit seinem Votum nun auch glücklich werden“, klagte das Parteiorgan.256 Zugleich muss die Wut über das bisherige Führungspersonal der Partei ungemein gewesen sein. Die Wut bezog sich wohl auch darauf, entscheiden zu müssen, wer in der Landesregierung bleiben durfte (und also die angeschlagene Partei führen musste) und wer auszuscheiden hatte.

Am 9. Mai traf sich erstmals die Landtagsfraktion, in der viele „Neue“ saßen, aber weder Rintelen noch Gürtler. Sie nominierte die Landesräte Paul, Riegler und Zenz als Regierungsmitglieder, i. a. W. nicht nur Gaß hatte zu „gehen“, sondern auch Enge, der so gute Figur gemacht hatte – und sogar Landeshauptmann Gürtler. Paul sollte zur Wahl zum Landeshauptmann vorgeschlagen werden. Das war eine perfekte Sensation. Die „Bauernpolitiker“ hatten in der Partei die Macht übernommen, anscheinend unter Führung des Bauernvereinsdirektors Zenz, und, Paul ausgenommen, alle „Städter“ aus der Führung eliminiert. So sah es auch der „Arbeiterwille“, der außerdem zunehmende „Zerfallserscheinungen“ bei den Christlichsozialen ausmachte.257 Anders als der „Arbeiterwille“ machte sich das „Volksblatt“ Sorgen um die christlichsoziale Partei. Es bezweifelte, ob die Personalentscheidungen der Fraktion den „Wünschen der Wähler“ entsprächen, und wunderte sich vorgeblich darüber, dass der „Landtagsklub scheinbar autonom“ und „unabhängig von der Parteileitung“ handelte. Besonders beklagte es den Umgang mit Gürtler (das tat es wohl kaum gegen die Meinung Pawlikowskis).258 Eine Woche später trat der 8. Landesparteitag der Christlichsozialen zusammen. Rintelen eröffnete ihn mit der Erklärung, als Parteiobmann zu demissionieren. Dass er das nicht sofort nach dem Wahltag getan hatte, ließ tief blicken; zweifellos hatte er um die Funktion seither gekämpft – und verloren. Das politische Hauptreferat hielt bereits Zenz, das organisatorische wieder der Landesparteisekretär Karl M. Stepan, der im Amt blieb. Fünf Stunden lang beriet allein die „Landwirtschaftssektion“ des Parteitages. Die beginnende allgemeine Agrarkrise, voran der fast völlige Zusammenbruch des Viehabsatzes, bereitete offenbar die größten Sorgen; der Landbund hatte davon profitiert.259 Waren die Christlichsozialen dabei, sich wieder auf eine bloß agrarische Partei zu reduzieren?

Ableitinger / Unentwegt Krise

Neuer Landtag, neue Landesregierung Am 21. Mai 1927 konstituierte sich der neue Landtag. Ing. Hans Paul, Professor an der Technischen Hochschule und bisher Wasserbaureferent der Landesregierung, wurde anstandslos zum Landeshauptmann gewählt. Er bekam 34 von 54 abgegebenen Stimmen, also auch die des Landbundes und der Ude-Gruppe.260 Dass der Landbund „mitging“, war nach dem Herbst 1926 nicht selbstverständlich gewesen. Unmittelbar nach den Wahlen hatte das „Volksblatt“ sogar die Gefahr einer „grün-roten Koalition (Sozialisten und Bündler)“ an die Wand gemalt.261 Erst am 8. Mai hatte die gesamtösterreichische Parteileitung des Landbunds in Leoben dafür entschieden, mit Seipel und den Großdeutschen auf der Ebene der Bundespolitik eine Koalition zu schließen – der Steirer Karl Hartleb trat als Innenminister und Vizekanzler in die neue Bundesregierung ein.262 Das entschied auch für die Sammlung aller „bürgerlichen“ Kräfte im Land, für deren Mehrheit in Landtag und Landesregierung. Diese blieb üb-

95

rigens, nach dem Abgang von Gürtler, Enge und Gaß, personell unverändert: Die Sozialdemokratie entsandte Machold, Oberzaucher, Pongratz und noch einmal den schwer erkrankten Resel (seit 1925 war Machold als Nachfolger Resels im Parteivorsitz ihr „erster Mann“). Die Großdeutschen nominierten wieder Hübler, der Landbund neuerlich Winkler. Die Sozialdemokraten hatten am 21. Mai nicht gegen Paul gestimmt, sondern leere Stimmzettel abgegeben. Das bedeutete indessen nicht, dass sie weniger angriffslustig geworden waren. Machold als ihr Erstredner hatte vielmehr den Christlichsozialen deren Sündenregister vorgehalten, sich einmal mehr Rintelen, Ahrer und Prisching vorgenommen und, mit einiger Häme, festgestellt, wie sehr Landbund und Sozialdemokratie in die bäuerliche Wählerschaft eingedrungen waren, sogar in der Oststeiermark, vulgär Ostafrika, wie er sagte. Dort gebe es jetzt überall schon rote Flecken […] eine sehr ansteckende Krankheit263. Während er in den Wunden der Christlichsozialen wühlte, sah er den Weizen der Sozialdemokratie blühen.

Ambivalenzen in der Politik 1927 bis 1930 Juli 1927: Brand des Justizpalastes – Verkehrsstreik – Pfrimers Heimwehren Die Bankenskandale von 1926 – kleinere waren seit 1923 vorangegangen – galten dem sozialistischen Lager als Symptome des ökonomisch unausweichlichen Zusammenbruchs des kapitalistischen Systems, begleitet von moralischem Fehlverhalten seiner maßgeblichen Träger. Sie kamen einem ideologischen Triumph der Sozialisten gleich, die die Kapitalisten und deren vorgebliche politische Repräsentanten, die „bürgerlichen“ Regierungsparteien, öffentlich entsprechend „vorführten“. Es konnte nicht ausbleiben, dass seitdem diese auf den Tag warteten,

an dem die Sozialisten ihr „wahres Gesicht“ zeigen würden, ihr revolutionäres, gewaltbereites. Seit die SDAP im Herbst 1926 in ihr Linzer Programm die „Diktatur des Proletariats“ als eine Eventualität aufgenommen hatte, waren sie davon ohnedies vollends überzeugt. Dieser Tag ließ nicht lange auf sich warten. Es war der 15. Juli 1927, der Tag, an dem der Justizpalast in Wien in Brand gesetzt wurde. Was an ihm geschah, ist besonders für die Hauptstadt, weniger für die Steiermark, gründlich erforscht. Am Vorabend waren Beschuldigte, die im Jänner in Schattendorf im Burgenland einen „roten“ Kriegsinvaliden und dessen kleinen Neffen versehentlich erschossen hatten, von

96

Ableitinger / Unentwegt Krise

einem Wiener Geschworenengericht freigesprochen worden. Auf sozialistischer Seite waren spontane Erbitterung und Wut sofort groß. Dennoch erwartete die Führung der SDAP für Freitag, den 15. Juli, nichts Besonderes. Doch schon früh morgens bewegten sich Demonstrationszüge von Arbeitern auf das Parlamentsgebäude zu – ohne die sonst übliche Begleitung durch sozialdemokratische Ordner, ohne bekannte Parteifunktionäre an ihrer Spitze. Berittene Polizei drängte die Massen, auf dem Höhepunkt angeblich gegen 200.000 Menschen, vom Parlament ab und auf den benachbarten Schmerlingplatz und den Justizpalast zu. Ob diese „Reiterattacke“ die anschließende Radikalisierung auslöste, kann nicht mehr entschieden werden. Jedenfalls bewaffnete sich die Menge mit Pf lastersteinen, Eisenhaken usw., Teile von ihr stürmten eine nahe gelegene Polizeiwachstube. Dasselbe geschah mit der weiter abliegenden Redaktion der christlichsozialen „Reichspost“. Zwischen Demonstranten und Polizisten entwickelte sich eine wechselseitige Eskalation. Plötzlich kam es zum Sturm auf das ungeschützte Justizgebäude. Um 13 Uhr brannte das Haus. Anrückende Löschfahrzeuge wurden an der Zufahrt gehindert. Darauf entschied Kanzler Seipel, mit Heeresgewehren ausgerüstete Polizei einzusetzen. Gegen 14 Uhr begann sie in die Menge zu schießen. Diese f loh, Polizisten verfolgten sie, weiter schießend. So ging es nachmittags und in der folgenden Nacht fort. Schließlich wurden ca. 90 Tote, unter ihnen zahlreiche Polizisten, sowie wenigstens 170 Verletzte gezählt. Drei Viertel der Opfer waren Arbeiter.264 Was geschehen war, ziellos und ohne Führung, war gewiss kein „proletarischer“ Revolutionsversuch gewesen. Der Vorstand der SDAP, total überrascht, reagierte so hilf- wie ratlos. Mehrfach intervenierte er bei Seipel, verlangte dessen Rücktritt. Der kam für den Kanzler keinen Moment lang in Frage. Die Regierung, unbestritten demokratisch legitimiert, hatte

getan, wozu sie verpf lichtet war: die öffentliche Ruhe wiederherzustellen, die staatlichen Sicherheitsorgane zu schützen und intakt zu halten. Zudem wollte sie keinesfalls den Eindruck von Schwäche vermitteln, weder ihrer Anhängerschaft noch der Sozialdemokratie. Allerdings hieß es sofort, sie und der Wiener Polizeipräsident Schober hätten massiv überreagiert. Erfolglos, wie er geblieben war, rief der SDAP-Vorstand am Abend des 15. Juli für den nächsten Tag zu einem Generalstreik und zu einem unbefristeten Verkehrsstreik auf; der erste bezog sich tendenziell auf alle Unternehmen, der zweite vorrangig auf die Post- und Telegraphenverwaltung sowie die Bundes- und Straßenbahnen, d. h. generell auf das Kommunikationswesen einschließlich dessen zwischen den Behörden. Die Streiks sollten als „Ventile“ wirken, durch die die „proletarische“ Wut entweichen konnte. Jedoch drohte der Verkehrsstreik gleichzeitig, das Wirtschaftsleben zunehmend zu schädigen. Er wirkte zudem als Schlag ins Gesicht von „braven“ Bürgern und Bauern. Viele unter ihnen fanden sich in der Einschätzung bestätigt, dass nach Brandlegung und Übergriffen auf die Polizei usw. der „Pöbel“ bzw. das „Proletariat“, gezielt durch Propaganda „aufgehetzt“, damit fortmachte, andere zu „terrorisieren“ sowie „Ruhe und Ordnung“ nur in dem Maße zu dulden, das „den Roten“ jeweils genehm war. Das etwa war der Tenor, mit dem die Grazer Zeitungen von der „Tagespost“ und dem „Tagblatt“ bis zum „Volksblatt“ und dem für die Landbevölkerung bestimmten „Sonntagsbote“ nicht nur die Wiener Vorgänge kommentierten, sondern – gewissermaßen nach einer „Schrecksekunde“ – auch die, jenen folgenden, steirischen. Am 15. Juli berichteten die Abendzeitungen in Graz, was sich in Wien bis etwa 14 Uhr zugetragen hatte; von dem massiven Polizeieinsatz danach wussten sie noch nichts. Doch gingen wilde Gerüchte um; Wien schien von revolu-

Ableitinger / Unentwegt Krise

tionären Vorgängen beherrscht. Auch die Behörden im Land hatten, wie angedeutet, kein zureichendes Bild von der Lage. Nicht zuletzt machte sich die Führung der steirischen SDAP Sorgen über den Fortgang der Dinge. Noch für den Abend des 15. berief sie eine Versammlung von Vertrauensmännern ein. Als diese zusammenkamen, war bereits bekannt, wie die Polizei in Wien vorgegangen war. Die Versammlung verurteilte den Polizeieinsatz scharf und forderte den Rücktritt der Bundesregierung. Gleichzeitig bemühte sich die Parteiführung aber, die Kontrolle über ihre Anhänger zu behalten: Sie sagte eine für Samstag, den 16. Juli, geplante Großdemonstration auf dem Grazer Freiheitsplatz ab und organisierte statt dieser eine Serie von Versammlungen. Allein in Graz und seinen Vororten fanden schon am Vormittag sechzehn statt. Anscheinend wollte man nicht große Massen zusammenkommen lassen. Ähnlich wurde in den steirischen Bezirken vorgegangen. Nur in Bruck an der Mur gab es Samstag ab 10 Uhr eine Massenveranstaltung; aber Bruck war überhaupt ein besonderer Fall.265 Diese Versammlungswelle sollte die Wut der Arbeiterschaft über den Prozessausgang und den Polizeieinsatz in Wien kanalisieren. Zu diesem Zweck wurde zwischen dem Grazer Polizeidirektor Gottfried Kunz und dem Republikanischen Schutzbund vereinbart, dass dieser für Ordnung bei den Veranstaltungen sorge.266 Auch Landesregierung und Gendarmerie hielten sich einstweilen zurück. Ihre Devise war, nur einzugreifen, falls unmittelbar Exzesse drohten. Landeshauptmann Paul erließ bloß ein allgemeines Verbot, Alkohol auszuschenken – zum Missvergnügen der Gastwirte, die ja nicht streikten. Tatsächlich verliefen der Samstag wie der Sonntag weitgehend ruhig; die Grazer „Tagespost“ berichtete geradezu idyllisch von Ausf lügen, geöffneten Gaststätten usw. Vom General- bzw. Verkehrsstreik merkte man am

97

Wochenende nicht viel. Ernster war, dass Post-, Telefon- und Telegrafendienste beinahe komplett ausfielen und dass nach den Morgenblättern vom 16. Juli keine „bürgerlichen“ Zeitungen mehr erschienen. Sonntag, den 17. Juli, kam nur der „Arbeiterwille“ heraus, auch Montag, den 18., in der Früh nur er. Die Unmöglichkeit, sich aus anderen Quellen zu informieren, registrierten viele wohl als Symptom bedrohlicher Veränderungen in der kommenden Woche. Dass, wie es schien, die öffentliche Ordnung davon abhing, dass der Schutzbund das „Proletariat“ im Zaum hielt, wollten allerdings die Heimwehren nicht hinnehmen. Nach späteren mehrheitlich „rechten“, d. h. ihnen freundlichen Medienberichten reagierten sie bereits Samstag, den 16. Juli morgens, gleichzeitig mit dem Wirksamwerden der Streiks. Ihr „Landesverband“ ordnete „Bereitschaft“ an. Seine internen Verbindungen funktionierten „tadellos“. Zwecks Mobilisierung schwärmten am Wochenende Abgeordneten des Landbundes aus, „20.000 Mann aus dem Lande standen“ angeblich bald „marschbereit“. Sie sollen so erbittert gewesen sein und so begierig, es „den Gegnern endlich zu zeigen“, „daß nur der Appell an die gelobte strengste Disziplin die Formationen von selbständigem Handeln abzuhalten vermochte“. Ein darauf zielender Befehl erging jedenfalls – ob erstmals oder noch einmal, ist offen – am „Sonntag nachmittag“; ihm zufolge sollten die „Wehren“ sich „lediglich aktionsbereit“ halten. – Im Laufe des Montags, des 18., hatten sie von Radkersburg bis Deutschlandsberg einen „Sicherungsdienst“ aufgezogen. „Überall sah man Straßen- und Bahnsicherungen der Heimwehr“.267 „Zu aktiven Maßnahmen schritt nur die obersteirische Heimwehr, die Judenburg in Besitz nahm und sich in der Stadt und deren Umgebung mit einem starken Gefechtsstand konzentrierte.“268 Walter Pfrimer und August Meyszner, dort nach wie vor Kommandant der

98

Ableitinger / Unentwegt Krise

Gendarmerie, begannen nach Angaben des Landtagsabgeordnete Hermann Aust (SDAP) bereits in der Nacht auf den 16. Juli per PKW im ganzen oberen Murtal zu mobilisieren; dabei hätten sie behauptet, der Schutzbund werde die Bauern brandschatzen; nur mit solchen erbärmlichen Lügen wäre es gelungen, die schwerfälligen Bauern auf die Beine zu bringen. (Nach anderen Quellen wurden derart rund 6.000 Mann aktiviert.) Schon an diesem Samstag früh habe Meyszner die Heimatschutzverbände als bewaffnete Gendarmerieassistenz aufgeboten, neue Mannlichergewehre und 18 Maschinengewehre an sie verteilen lassen. Die Heimwehren wären also ganz anders ausgerüstet gewesen als der Schutzbund.269 Dieser Darstellung wurde im Landtag nicht widersprochen. Dort erfuhr man zudem, die Heimwehrmänner wären in der Hauptsache westlich von Judenburg postiert und trotz des Verbotes mit Alkoholika gut versorgt worden. In Scheif ling kam es zu Reibereien zwischen etwa 70 Heimwehrleuten und streikwilligen Eisenbahnern, die, einem dort umgehenden Gerücht zufolge, Verstärkung durch 500 Schutzbündler aus dem Raum Knittelfeld erwarteten. Dass die angeblich per Bahn transportiert würden, erregte zusätzlich: die bestreikte, staatseigene Bahn stand Streikenden angeblich durchaus zur Verfügung. Jedenfalls hielt die Heimwehr Scheif ling noch am Montag, dem 18. Juli, besetzt und kontrollierte dort auch den Straßenverkehr; drei Stunden lang hielt sie den Schwerinvaliden Landtagsabgeordneten Karl Gföller (SDAP) an; man wollte ihn spüren lassen, wie es den anderen Reisenden ergangen war.270 – Analoges praktizierten in diesen Tagen andere Heimwehren, aber auch Schutzbündler in der Obersteiermark häufig; beide hielten Kraftwagen an und durchsuchten sie nach Waffen; Details dazu kamen im Landtag zur Sprache. Aber nicht die lokalen Vorkommnisse verschafften Pfrimers Aktion Bedeutung. Er woll-

te den „Terror“ der Eisenbahner und des Schutzbundes in der Obersteiermark überhaupt und definitiv brechen. 1922 war ihm Ähnliches bereits gelungen. Alarmiert wurden er und viele im Land über die Streiks hinaus durch die Vorgänge, die sich seit den frühen Morgenstunden des 16. Juli in Bruck an der Mur zugetragen hatten und weiter zutrugen.271 Dort hatte der SDAP-Sekretär und Landtagsabgeordnete Koloman Wallisch, unter „Bürgerlichen“ im Land längst eine negativ aufgefallene Person, Samstag um 5 Uhr früh vom Bezirkshauptmann verlangt, kurzfristig eine Besprechung zwischen Vertretern der Sozialdemokratie und des örtlichen Bürgertums anzusetzen. Zu den zweiten gehörte der großdeutsche Vizebürgermeister Brucks, der Kaufmann und Landtagsabgeordnete Viktor Hornik. Ihn und seine Kollegen konfrontierte Wallisch ab 10 Uhr damit, einige „Mindestforderungen“ bedingungslos anerkennen zu müssen. Schließung der Geschäftslokale und Alkoholverbot wurden, weil harmlos, akzeptiert. Die anderen Forderungen waren das nicht: die Übertragung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit von der Gendarmerie auf den Schutzbund; das Verbleiben der Gendarmerie und der Sicherheitswache in ihren Quartieren; das Einstellen der Tätigkeit der Behörden auf Dauer des Generalstreiks; das Versammlungsverbot für die „Bürger“ der Stadt, nicht mehr als drei dürften sich öffentlich zeigen. Gegen Horniks Protest verlangte Wallisch uneingeschränkte Zustimmung; andernfalls sofortige Gewaltanwendung. So wie in Wien das Standrecht verhängt sei, so verhänge es in Bruck die Arbeiterschaft über die Stadt. (Ein analoges Versammlungsverbot für die Linke war nicht vorgesehen; um 10 Uhr begann ja gerade die schon erwähnte Kundgebung, bei der übrigens, so Hornik, andere Sozialdemokraten beruhigend sprachen.) Falls Heimwehr eingreife, würden Geiseln ausgehoben, kündigte Wallisch ergänzend an. Mit Aktionen der Heimwehren wurde

Ableitinger / Unentwegt Krise

99

also gerechnet. Hornik und Landeshauptmann angedeudie Seinen fügten sich.272 tet hatte mit der Bemerkung, Ob es primär die Vores wäre der steirischen SDAP kommnisse in Bruck an der mangels Zuständigkeit de Mur waren, deren Dauer sich facto unmöglich, den Streik nicht absehen ließ, die Pfrizu beenden. Denn schließmer Sonntag, den 17. Juli, zu lich lautete der minimale gesteigerter Aktivität veranKonsens bei Paul so: Die Solassten, ist nicht mehr auszialdemokraten sagten zu, zumachen. Gesichert ist, dass „dass alles veranlasst würde, er an diesem Tag von der was in der Steiermark überStreikleitung in Knittelfeld haupt durchgeführt werden und der obersteirischen Fühkönne (was nicht von Wien rung des Schutzbundes ultiabhängig sei), um schon am Koloman Wallisch mativ forderte, den Verkehrsnächsten Tag alles wieder in streik am Montag zu beenArbeit und Brot zu setzen StLA den, widrigenfalls er seine und daß sie auch selbst in Heimatschützer in Marsch setzen werde. Das Wien beantragen werden, den Generalstreik abließ er anscheinend auch Landeshauptmann zubrechen und alle Staatsbetriebe zu Aufnahme Paul mitteilen.273 Dem „Arbeiterwille“ vom 19. der Arbeit“ zu beordern. Die HeimwehrverJuli zufolge („Die Heimwehr hat ihr wahres treter „nahmen die sozialdemokratische BereitGesicht gezeigt“) übergaben Heimwehrführer schaft zur Kenntnis“ und „versprachen ihrerseits Pfrimers Ultimatum dem Landeshauptmann keinerlei Alarm oder Marschbefehl zu geben, zusammen mit dem Verlangen, der solle „ihren sondern den Montag noch […] abzuwarten“. Marsch gegen Bruck und Graz legitimieren“.274 Paul gab „seiner Freude […] Ausdruck“ und Das bedeutete eine dramatische Zuspitzung der „versprach seinerseits alles zu tun, um diese Lage. Paul rief darauf Pfrimer und Vertreter der Forderungen zu unterstützen“.278 Montag, den 18. Juli vormittags, verkündesteirischen SDAP zu einem nächtlichen Gespräch; diese entsandte Machold und Oberzau- te Otto Bauer das Ende des Verkehrsstreiks.279 cher. Es dauerte bis Montag in der Früh.275 We- Ob und welchen Anteil der steirische Heimatnigstens zeitweise ging es dabei turbulent zu, schutz an diesem Rückzug tatsächlich hatte, Pfrimer insistierte auf seinem Ultimatum und steht dahin. Manche seiner Sympathisanten jugeriet, als das zurückgewiesen wurde, in einen belten. Der „Sonntagsbote“ stellte als „zweifels„Wutanfall“.276 Parallel dazu fand „eine wichti- frei“ fest, dass „das letzte Wort“ an Paul „gege Konferenz der Heimatschutzführer“ statt, nügte. Die Sozialdemokraten nahmen Vernunft „die über die weitere Haltung der Heimwehr- an“. Aber dieser Triumphalismus wurde auf verbände schlüssig wurde“; an ihr nahmen auch bürgerlicher Seite nicht durchwegs geteilt. Zwar Rintelen und Landesrat Winkler teil, die, wie wurde mehrfach betont, dass der Streik „bedinbekannt, seit Jahren enge Beziehungen zu gungslos abgebrochen“ wurde. Aber die „TaHeimwehren und Heimatschutz gepf legt hat- gespost“ schrieb auch, dass „der friedliche Verten.277 Es scheint, dass in diesem Forum die lauf der kritischen Tage in Graz […] der beHeimatschützer dazu gebracht wurden, einen sonnenen Haltung der Arbeiterschaft zu danAusweg zu akzeptieren, den Machold beim ken“ gewesen wäre „[…] und der klugen, ver-

100

Ableitinger / Unentwegt Krise

mittelnden und verantwortungsbewußten Tätigkeit einiger ihrer Führer“.280 Ähnlich differenziert gab man sich im Landtag am 25. Juli. Die lange Debatte verlief überwiegend zivilisiert.281 Die Christlichsozialen hielten sich überhaupt zurück, Landeshauptmannstellvertreter Riegler und Landesrat Zenz kritisierten Übergriffe des Schutzbunds in geradezu freundlich-ironischem Ton. Auffällig anders hielt es Winkler. Der nahm sich die Zügellosigkeit der sozialdemokratischen Presse vor, deren ununterbrochene Agitation Klassenhass forciere, und qualifizierte den Verkehrsstreik als Verbrechen an der Republik; Streik von Staatsangestellten wäre überhaupt Hochverrat. Den Heimwehrführern attestierte er pauschal, verhindert zu haben, dass es zum Bürgerkrieg kam, usw.282 Hornik, der großdeutsche Brucker Vizebürgermeister, besprach natürlich sehr kritisch, was in seiner Heimatstadt vorgefallen war.283 Die Sozialdemokraten räumten Kompetenzüberschreitungen in Bruck an der Mur ein. Diese hätten sie schon nicht gebilligt, als – am 16. oder 17. Juli – mit Brucker Abgesandten im Landhaus verhandelt wurde. (Hornik bestätigte: Das ist richtig.) Wallisch werde bis zum Abschluss amtlicher Untersuchungen sein Landtagsmandat nicht ausüben, kündigte Oberzaucher an.284 Machold nannte, was in Bruck vorgefallen war, schlichtweg eine Dummheit, die seine Partei sofort abgestellt habe. Überhaupt hätten Partei und Schutzbund alles getan, um die Streiks zu „lokalisieren“ und dafür gesorgt, dass die Landesregierung mit den Bezirkshauptmannschaften Verbindung aufnehmen konnte und dass, auf Bitte von Ex-Landesrat Gaß, dem für Veterinärsachen Zuständigen, Züge mit lebendem Vieh gefahren sind.285 Umso schärfer nahmen er und seine Vorredner die Heimwehren aufs Korn: Wenn die mit Gewehren und Maschinengewehren nach Judenburg, Knittelfeld, Leoben und bis Bruck gezogen wären, hätten sich das Tausende Schutzbündler nicht gefallen lassen und Obersteier wäre ein

Flammenmeer, ein Trümmerfeld geworden. Zum Glück aber habe es Besonnenheit von Menschen auf beiden Seiten gegeben.286 Zuletzt wurden mehrere Entschließungen, die die „Bürgerlichen“ eingebracht hatten, mit Mehrheit angenommen, die Resolution der Sozialdemokratie abgelehnt.287 Tatsächlich waren in diesen Julitagen in der Steiermark wie in ganz Österreich nicht nur „Bürgerliche“ und „Rote“ aneinandergeraten, sondern auf beiden Seiten auch „Besonnene“ und „Scharfmacher“. Die „Besonnenen“ hatten die Oberhand behalten, aber dass sie auf Dauer dominieren würden, blieb zweifelhaft. Franz Thoma (LB), bekennender Heimwehrmann, hatte wohl damit Recht, dass im Laufe der Zeit eine Scheidung in der sozialdemokratischen Partei vor sich gehen wird müssen, dahingehend, dass diejenigen Elemente herausgelöst werden, welche nicht den staatserhaltenden Gedanken, so wie ihn, wie ich glaube, die Mehrheit der sozialdemokratischen Partei hat, für sich in Anspruch nehmen.288 Aber nicht weniger hatte Machold, an Winkler und Thoma gewandt, Recht mit der Bemerkung, sie dürften nicht von Besonnenheit reden und zugleich Lob für die Heimwehren vom Stapel lassen, sowie neue Formationen gründen wie in Bruck an der Mur die Schutzorganisation des Bürgertums.289 1927 bis 1929: Konflikte im Bund – ­Kooperationen im Land In der öffentlichen Erinnerung Österreichs gilt der Brand des Justizpalastes als der Anfang vom Ende der demokratischen Epoche der Republik. Seitdem, heißt es, hätten die politischen Lager nicht mehr den Willen zu minimalen Konsenslösungen aufgebracht. Aber dieses Urteil ist zu geradlinig. Österreichs Demokratie hatte, wenigstens bis 1931, bis zum vollen Wirksamwerden der Weltwirtschaftskrise, mehr Überlebenschancen, als üblicherweise gemeint wird. Bittere Konf likte und, wenngleich seltener, Koope-

Ableitinger / Unentwegt Krise

rationen in den Arenen der professionellen Politik existierten nebeneinander. Die zuletzt konsensual verabschiedete Reform der Bundesverfassung vom Dezember 1929 belegt das. Anschließend herrschte sogar etwas Optimismus, dass die kritischeste Phase bewältigt, die Gefahr von Bürgerkrieg gebannt wäre.290 Allerdings wurde das politische System des Staates von 1918/20 tatsächlich bereits in den späten 1920ern mehr herausgefordert als während der Phase „fragiler Stabilität“ bis 1927.291 Den ersten Faktor dafür bildeten Vorboten der späteren ganz „großen Krise“ im Agrarsektor: in ihm waren bereits ab 1926 Absatzprobleme zu registrieren, die nicht nur das Landvolk betrafen – damals noch rund ein Drittel der Bevölkerung Österreichs. Sie reduzierten die gesamtwirtschaftliche Nachfrage empfindlich, dämpften damit die Steuereingänge, erschwerten ausgeglichene Budgetpolitik und provozierten unvermeidlich härtere Verteilungskonf likte. Zum zweiten Faktor von Destabilisierung wuchs sich die zunehmende Wahrnehmung aus, dass „die Politik“, vor allem die des Bundes, sich immer weniger fähig zeigte, überhaupt Entscheidungen zu fällen. Nach einem kurzen Tauwetter zwischen den drei Regierungsparteien und der Sozialdemokratie – es brachte während des Sommers 1927 z. B. die einvernehmliche Einführung der „Hauptschule“ (im Regelfall sogar mit Religionsunterricht), Ende Oktober diskutierte die SDAP öffentlich die Eventualität einer (Wieder-)Beteiligung an Bundesregierungen 292 – griff wieder „kalter Krieg“ um sich. Vor allem die Regierungsparteien fanden und beklagten lauthals, die Opposition praktiziere im Nationalrat Obstruktion, sie verzögere Beratungen in dessen Ausschüssen, junktimiere quasi alles mit allem und blockiere derart, dass die bürgerliche Mehrheit im Parlament wirksam werde. Bereits im August 1927 hatte Kanzler Seipel erstmals gefor-

101

dert, das „Majoritätsprinzip müsse wieder zur Geltung kommen“.293 Solche Vorwürfe waren nicht einfach aus der Luft gegriffen, unterschlugen aber, dass die SDAP mit dem Kanzler schwerlich kooperieren mochte, solange der den Verdacht der Opposition nicht aktiv aus der Welt schaffte, wonach die Regierungskoalition die krisenbedingten Budgetprobleme dazu nützen wolle, die Finanzkraft des „Roten Wien“ auszuhöhlen.294 So blieb es dabei, dass Brücken über die parlamentarischen Gräben nur ausnahmsweise geschlagen wurden, z. B. als die SDAP im Dezember 1928 den Christlichsozialen half, deren Kandidaten Wilhelm Miklas gegen den großdeutschen Exkanzler Schober bei der Wahl zum Bundespräsidenten durchzusetzen und anschließend der steirische ExLandeshauptmann Alfred Gürtler sogar einstimmig zu Miklas’ Nachfolger im Amt des Nationalratspräsidenten gewählt wurde. (Gürtler bekleidete diese Funktion dann bis November 1930.)295 Insgesamt wuchs aber 1928/29 der Eindruck generellen Stillstandes, und dieser Eindruck machte Erörterungen zunehmend publikumswirksam, dass es einen gründlichen Umbau des Staates brauche, eine „Verfassungsreform“, auch gegen den Willen der SDAP, also eine gegen geltendes Recht. Seipel dachte z. B. daran, sie im Wege einer Volksabstimmung zu erzwingen. Die Unantastbarkeit des Verfassungsgefüges von 1918/20 geriet ins Rutschen. Das war Wasser auf die Mühlen der Heimwehren, die ohnehin seit dem Juli 1927 Auftrieb verspürten. Mit ihnen ist der dritte Faktor von Destabilisierung benannt. Nicht wenigen der Heimwehrführer war seitdem der Kamm geschwollen. Sie sahen sich ermutigt, mehr als bisher autonom Politik zu machen, d. h. sich der Steuerung durch die bürgerlichen Parteien zu entziehen, ja diese sogar nach Möglichkeit vor sich herzutreiben. Neben ihrem Verlangen, gegen „Marxisten“ generell aktiver vorzugehen, plädierten sie seitdem zunehmend für einen

102

Ableitinger / Unentwegt Krise

starken, autoritären Staat anstelle des Parteienstaates und für „ständischen“ Gesellschaftsaufbau nach dem Muster des faschistischen Italien. Damit propagierten sie alternative Modelle von Politik, die nicht wenige jener Zeitgenossen rechts der Mitte ansprachen, die sich vom allgegenwärtigen „Parteiengezänk“ abgestoßen fühlten. Deren Sympathie galt raschen, vermeintlich „sachlichen“, vorgeblich „unpolitischen“ und, wie sie dachten, deshalb effizienteren Entscheidungen, galt einem „starken“, obrigkeitlich-autoritativen Staat – freilich zugleich einem, dessen Praxis ihre Vorstellungen ins Zentrum rücken und jedenfalls die „Anmaßungen“ der Linken zurückschrauben werde. Damit bescherten die Heimwehren den bürgerlichen Regierungsparteien Verlegenheiten. Herkömmlich von rechts ohne ernstliche Konkurrenz, hatten diese ihre Beziehungen zur SDAP-Opposition nach eigenem Ermessen zwischen scharfem Konf likt und begrenzter Kooperation gestalten können; ab nun mussten sie, wenn die Heimwehr-Begehren nach Umbau des Staates im Publikum Resonanz fanden, diesen entweder direkt entgegentreten oder ihnen wenigstens verbal ein Stück entgegenkommen – mit negativen Folgen für ihre Optionen gegenüber der Sozialdemokratie. Wie kaum anders zu erwarten, praktizierten sie bzw. ihre einzelnen Flügel vorwiegend den zweiten Weg. Umgekehrt schwankten die HeimwehrFührer in der für sie strategischen Frage, auf welchem Weg sie ihren ehrgeizigen Zielen näher kommen wollten: Bald setzten sie auf Allianzen mit den bürgerlichen Parteien, die bloß durch Druck vorangetrieben werden müssten, bald auf einen „Marsch auf Wien“, mithin auf Putsch und Staatsstreich. Richard Steidle, seit Herbst 1927 ihr „Bundesführer“, neigte der ersten Taktik zu, Pfrimer, seit Juli 1928 „2. Bundesführer“, seinem Temperament gemäß, der zweiten. Andere Landes- bzw. die vielen

Kreisführer hielten es nach Gutdünken. Auch die heimischen Sponsoren aus Industrie und Finanzwesen sowie die auswärtigen in Rom/ Roma und Budapest spielten in internen Differenzen über das alles ihre Rollen. So brachte es die für das „Autoritäre“ entf lammte Bewegung zwar weder zu einer autoritativen Gesamtführung noch zu einer verbindlichen Strategie.296 Doch genügten ihre pure Existenz und ihre Unkalkulierbarkeit von 1928 bis 1931 als Störpotential für das politische System. Denn nicht nur ihre Kritik am parlamentarischen Parteienstaat und ihre Visionen fanden Beifall, noch mehr führte ihnen ihr vehementes Auftreten während dieser Jahre Anhänger zu. Vor allem ihre Courage, in „roten“ Hochburgen mittels Kundgebungen und Aufmärschen Flagge zu zeigen, imponierte bis dahin dort eingeschüchterten „Bürgerlichen“, in „roten“ Betrieben auch nichtsozialistischen Arbeitnehmern. Solche Erfolge suggerierten den Heimwehren, dass sie eine „unwiderstehliche Volksbewegung“ wären, auf die die Bevölkerung ihre Hoffnungen setze. Ab dem Sommer 1929 tobten vollends Sturmböen durch Österreichs Politik. Die Konf likte um eine gründliche Revision der Bundesverfassung traten in eine aktuelle Phase. In Frage stand, ob die Reform rechtskonform, d. h. letztlich im Konsens der beiden Großparteien, erfolgen würde oder, unter dem Einf luss der Heimwehren, auf irgendeine Weise gewaltsam. Noch mehr als die Bundespolitik zeigte die steirische nach dem Sommer 1927 zwei Gesichter, das in der Öffentlichkeit von Konf likten dominierte und das hauptsächlich kooperative in Landtag und Landesregierung. Das erste wurde in den Medien, in Versammlungen und anderen Kundgebungen geradezu gepf legt, das politische Vokabular wurde, soweit möglich, noch aggressiver als herkömmlich. Die Heimwehr bzw. im Land der „Heimatschutz“ taten

Ableitinger / Unentwegt Krise

sich dabei, die Juli-Ereignisse ausbeutend, besonders hervor – und ernteten von Seite der Linken entsprechende Reaktionen. In einem Satz: Es wurde emsig daran gearbeitet, dass die Anhänger aller Lager ihre einander feindseligen Mentalitäten fort und fort reproduzierten, dass ihre wechselseitigen Ressentiments lebendig blieben. (Darüber wird eingehend zu berichten sein.) Das andere Gesicht konnte vor allem im Landtag, in dessen Ausschüssen sowie zumeist in der Landesregierung beobachtet werden. In dieser fielen zahllose Beschlüsse einstimmig, in anderen Fällen führte Dissens nicht zu Zerwürfnissen oder Feindseligkeiten. Der Landtag begann, nach dem konf liktreichen Juli, im Herbst 1927 allerdings mit einigen Nachbeben: Das Landesparlament forderte mit Mehrheitsbeschluss die Bundesregierung auf, ein „Gesetz zum Schutz der Republik“ auf den Weg zu bringen, durch welches politische Streiks in den lebenswichtigen Betrieben des Staates unter schwerste Ahndung gestellt würden. Die SDAP lief dagegen Sturm und nannte es einen Anschlag auf das Streikrecht der Arbeiterschaft und sprach von faschistischen Methoden.297 Unmittelbar anschließend wurde die sozialdemokratische Fraktion nochmals überstimmt, der Landtag billigte den Antrag des Kreisgerichts Leoben, Wallisch wegen der Vorkommnisse in Bruck an der Mur an die Strafjustiz auszuliefern.298 Doch bloß ein paar Tage darauf kehrte in der Landstube Ruhe ein, und die Weichen wurden wieder, ja noch mehr als früher, auf Parteienkooperation gestellt. Es waren die skizzierten krisenhaften wirtschaftlichen Vorboten, die das nahelegten. Die Konsequenzen der sich abzeichnenden Misere ließen, je länger diese dauerte umso mehr, schwere Probleme bei den Landes- und den Gemeindefinanzen erwarten. Vor allem wurde anscheinend zunehmend ungewiss, ob die Aufwendungen für die zwölf Landeskrankenhäuser

103

plus die Heilstätten Hörgas-Enzenbach und Stolzalpe weiterhin würden geleistet werden können – und in den meisten Städten sowie fast sämtlichen Industrieorten des Landes die rapid wachsenden Kosten für das kommunale Fürsorge- und Armenwesen. Niemandem war, wie bereits angedeutet, an der einigermaßen ausreichenden Finanzierung dieser Verwaltungszweige mehr gelegen als der Sozialdemokratie. Zu deren Ehrgeiz hatte seit dem Start der Republik gehört, gerade an ihnen zu demonstrieren, was die Partei, gewissermaßen im Vorgriff auf eine künftige „sozialistische“ Gesellschaft, leisten konnte, wenn sie in diesen Politikbereichen das Sagen bekam, und tatsächlich hatten erst Pongratz und dann Machold bzw. Resel und nach ihm Regner in der Landesregierung die Ressorts für Gesundheit bzw. Fürsorge in ihre Hände gebracht. Ihr beachtliches Auf bauwerk war nun durch die Krise ebenso ernstlich gefährdet wie die ambitionierte kommunalpolitische Praxis „roter“ Gemeinderäte und Bürgermeister – von Graz bis Donawitz, von Fohnsdorf und Knittelfeld bis Vordernberg usw. –, wenn die SDAP nicht zustande brachte, dass die „bürgerliche“ Landtagsmehrheit Goodwill an den Tag legte.299 Erstaunen kann, dass es an diesem guten Willen nicht fehlte. Christlichsoziale, Großdeutsche Volkspartei, fraktionell als „Einheitsliste“ auftretend, sowie der Landbund machten keine Anstalten, die prekäre Situation der SDAP zu erschweren und auszubeuten – trotz der feindseligen Rhetorik in den beiderseitigen Medien und des verbalen Radikalismus, den man auf den Stadt- und Dorfplätzen Woche für Woche gegeneinander praktizierte. Die Obstruktion, die die SDAP im Nationalrat tatsächlich oder vorgeblich betrieb, wurde ihrer steirischen Führung nicht entgolten. Naturgemäß wurde von dieser seitens der Mehrheitsparteien im Landtag ebenfalls Kooperation erwartet, jedoch nicht die Kapitulation, die die Heimat-

104

Ableitinger / Unentwegt Krise

schützer, voran Pfrimer und Rauter, propagierten. Im Gegenteil, die SDAP trat unter Macholds Regie immer wieder selbstbewusst auf, mehrfach, zum Ärger vor allem der Christlichsozialen, in Allianzen mit dem Landbund. Wir geben einige Beispiele für die Kooperationspolitik: Schon im Dezember 1927 stand es um die Landesfinanzen so schlecht, dass man sich fürs Erste damit half, den Gemeinden ihre Ertragsanteile an diversen Steuern zugunsten des Landesbudgets zu kürzen; das dafür nötige Gesetz erhielt die erforderliche Dreiviertel-Mehrheit. Die SDAP stimmte ihm in der Voraussicht zu, dass die bürgerlichen Parteien ihr Wort halten würden, die Gemeinden ebenso loyal zu behandeln, wie wir das Landesbudget behandelt haben.300 Im März 1928 ging es dann um diese Gemeindehaushalte. Diese wurden nicht nur aus kommunalen Ertragsanteilen an allgemeinen Steuern finanziert, sondern kaum weniger aus „Zuschlägen“ bzw. „Umlagen“, die die Kommunen auf die Gebäude- und die Grundsteuer aufschlugen, deren Sätze auf Landesgesetzen beruhten. Für Beschlüsse der Gemeinderäte über die Steigerung solcher „Umlagen“ bedurfte es, wie hier früher erwähnt, der Zustimmung des Landtages, in dem die bürgerlichen Parteien die Mehrheit innehatten. Denen fiel die Zustimmung nicht leicht. Dörf liche Gemeinden waren davon wenig betroffen – ihre ärmlichen Einkünfte hatten aktive, kostspielige Kommunalpolitik von vornherein nicht erlaubt – und in industrieschwachen Bezirksstädten, z. B. Hartberg, Leibnitz, Radkersburg, die von großdeutschen Bürgermeistern regiert wurden, hatte man auf ambitionierte kommunale Projekte traditionell verzichtet, um das lokale Bürgertum steuerlich zu schonen. Demgemäß konvergierten die Interessen der Landtagsparteien bei dieser Thematik nicht derart, dass sie im Sinne von „Do ut des“ einander wechselseitig Erhöhung der „Zuschläge“ unschwer bewilligen konnten.301

Demgemäß ging es im Landtag, als aus Fohnsdorf der erste aus einer Serie von Anträgen vorlag, zunächst nicht liebenswürdig zu. Christlichsoziale fanden, dort gebe man Geld zu großzügig aus. Die SDAP antwortete, die Alpine-Montan-AG zahle älteren Arbeitern aus der Bruderlade fast nichts, sodass die Gemeinde einspringen müsse. Auch gegen das Verlangen von Graz, seine Umlagen auf die beiden Steuern von 300 auf 400 Prozent zu steigern, wurde anfangs polemisiert: Landesrat Zenz (CSP) kritisierte, Graz treibe damit die Mieten hinauf, ausgerechnet die Sozialdemokratie begehe einen Anschlag auf den Mieterschutz. Franz Witzany forderte als Äquivalent für die Zustimmung des Landbundes, dass die Landeshauptstadt sich der Kontrolle des (Bundes-)Rechnungshofes unterwerfe. Aber am Ende gab es gegen den Grazer Wunsch nur drei Gegenstimmen, und auch Witzanys Antrag wurde angenommen. (Die Causa Fohnsdorf wurde vorerst vertagt.)302 Rintelens politisches Comeback … Wie sehr die steirische SDAP unter dem Zwang stand, sich ein hohes Maß an Goodwill ihrer politischen Konkurrenten zu bewahren, zeigte sich bereits einen Monat später: Sie musste die Komplettierung von Rintelens Comeback in der Landespolitik hinnehmen. An diesem Comeback führte bereits seit dem Juli 1927 kein Weg vorbei. Die Christlichsozialen brauchten Rintelen. Nach dem Parteitag im Mai 1927 hatten sie es nicht zustande gebracht, einen neuen Obmann zu finden; im Oktober riefen sie Rintelen wieder in diese Funktion zurück.303 Nur er verstand es, ihre diversen Flügel zu integrieren. Aus ihrer Sicht war er auch als Landeshauptmann unverzichtbar. Er, nicht Landeshauptmann Paul, hatte in der Nacht vom 17. zum 18. Juli 1927 wesentlich daran mitgewirkt, Machold und Pfrimer zu einem Verhalten zu bewegen, das anderntags

Ableitinger / Unentwegt Krise

den vollkommenen Crash verhinderte. Paul hatte seitdem noch mehrfach enttäuscht; er war ein tüchtiger Fachpolitiker, aber kein Mann mit Autorität. So wurde im Frühjahr 1928 Rintelens Rückkehr als Landeschef betrieben. Im Grunde war das damals sogar der SDAP willkommen; u. a. durfte nur von ihm die Zähmung Pfrimers erwartet werden. Trotzdem fiel es der Sozialdemokratie schwer, Rintelens Wiederwahl zuzulassen. Zu lange hatte sie ihn als ihren unbedingten Gegner dargestellt. Vor dem Wahltag, dem 23. April, kündigte sie schärfsten Widerstand an. Allerdings vermied sie es dann im Landtag, gegen ihn die Obstruktion vom Oktober 1926 zu wiederholen. Zwar wurde zum Schein vehement gestritten, in Wahrheit aber perfekt kooperiert: Machold bot dem Landbund an, dessen Landesrat Winkler anstelle Rintelens zu wählen. Winkler lehnte prompt ab. Trotzdem stimmten alle Mandatare des Landbundes für diesen; das erzwang einen zweiten Wahlgang und half der SDAP zu einem kleinen Erfolg. Aber dann verließen die Landbündler den Sitzungssaal. Die Beschlussfähigkeit des Hauses wurde dadurch nicht aufgehoben, wohl aber die Stimmenzahl gesenkt, die für Rintelens Wahl nötig war. Mit 24 Stimmen aus der Einheitsliste und dem Ude-Verband wurde er gegen 19, die auf den SDAP-Kandidaten Pongratz lauteten, gewählt. Alle handelten gemäß einer perfekten Dramaturgie, alle wahrten ihr Gesicht.304 … und Fortsetzung der Zusammenarbeit Wie erwartet, änderte Rintelens Wiederwahl nichts daran, dass in Landtag und Landesregierung fast alles in ruhigen Bahnen und konstruktiv verlief. Der Landeshauptmann hielt sich im Hintergrund, im Landtag antwortete er nur auf Interpellationen; er selbst gehörte dem Haus ja nicht an. Sein Mandat im Nationalrat (seit

105

April 1927) legte er nicht nieder; anscheinend war er nach wie vor stark in Wien engagiert. Im Juni 1928 protestierte der Landtag auf Antrag der SDAP einhellig gegen das Vorhaben der Bundesregierung, mittels der 6. Novelle zum Abgabenteilungsgesetz die Budgethoheit der Länder zu beenden; die „bürgerlichen“ Fraktionen stimmten in Graz gegen ihre eigene Regierungskoalition in Wien.305 Sechs Monate später wurde der Budgetvoranschlag für 1929 beinahe ohne die bei Budgetdebatten üblichen Polemiken angenommen. Die Finanzlage hatte sich mittlerweile so rapid verschlechtert, dass der Finanzausschuss den von der Landesregierung budgetierten Abgang von 8,57 Mill. Schilling mittels zusätzlicher Ausgabenkürzungen auf rund 6,3 Mill. reduzieren musste.306 In dieser Fassung wurde das Budget für 1929 angenommen. Es charakterisierte das damals gute Klima, dass der Landtag es am 21. Dezember einstimmig (!) ablehnte, Wallisch wegen eines angeblich im Frühjahr im Gemeinderatswahlkampf begangenen Deliktes an das Kreisgericht Leoben auszuliefern! Wie anders war es noch ein Jahr zuvor gewesen.307 Aber natürlich gab es auch Streit. Ernst war jedoch Anfang 1929 nur einer, und der verlief entlang bis dahin unüblicher Fronten: SDAP und Landbund standen gemeinsam gegen die Christlichsozialen. Seit Jahren war ein Gesetz über die Einrichtung einer Landeslandwirtschaftskammer angekündigt worden (solche Institutionen gab es längst in anderen Bundesländern).308 Konf liktstoff lieferten die Fragen, wer Mitglied der Kammer und also auch berechtigt sein würde, deren Funktionäre zu wählen, ferner Einzelheiten der Wahlordnung. Der Katholische Bauernverein und mit ihm die CSP verlangten, die Mitgliedschaft auf Kleinsteigentümer – „jeder Gartenbesitzer“? –, auf Landarbeiter, außerdem auf die Ehefrauen von Bauern auszudehnen. Landarbeiter einzubeziehen hätte dem „ständischen“ Gedanken ent-

106

Ableitinger / Unentwegt Krise

sprochen, die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch eine Institution vertreten zu lassen. Das kam für die SDAP absolut nicht in Frage. Der Landbund wieder missbilligte das „Frauenwahlrecht“; er fürchtete, dass es sich zum Vorteil der christlichsozialen Bauern auswirken werde.309 Die Einbeziehung der Landarbeiter war schon wegverhandelt worden, als die Gesetzentwürfe in den zuständigen Landtags-Ausschuss gekommen waren. Aber um das Wahlrecht der Frauen der Bauern kämpften die Christlichsozialen öffentlich bis zum letzten Augenblick weiter; Frauen zählten ja, wo immer sie wählen durften, zu ihrer verlässlichsten Anhängerschaft.310 Also nahmen sie in Kauf, darüber mit ihrem „störrischen“ Bündnispartner, dem Landbund, noch im Landtagsplenum zu streiten und dort schließlich zu unterliegen. Sie bestanden auf namentlicher Abstimmung und blieben mit 18 zu 31 Stimmen in der Minderheit. Vergeblich hatten sie auch einen Antrag gestellt, eine separate Kammer für die Landarbeiter in Aussicht zu nehmen (eine solche wurde in der Steiermark erst 1949 realisiert).311 Diese Niederlage schmerzte die Christlichsozialen sehr.312 Die neue Landwirtschaftskammer zu beherrschen, war für sie wie für ihren Rivalen vom Landbund machtpolitisch ein Thema erster Ordnung. Dass der Landbund sich an die Seite der SDAP gestellt hatte, sahen sie als ein Indiz mehr dafür, dass überhaupt eine „rot-grüne“ Allianz im Entstehen wäre; tatsächlich verstanden sich Machold und Winkler, dieser seit der Wahlniederlage der „Schwarzen“ vom April 1927 Landesfinanzreferent, auffällig gut. Trotzdem nahm das allgemeine Klima für die nächste Zeit keinen spürbaren Schaden. Die finanziellen Nöte geboten weiter ein gewisses Maß an Auskommen miteinander. Im Frühsommer 1929 stellte sich heraus, dass auch das im Dezember zuvor zusammengekürzte Budget nicht „hielt“. Die Landtagspar-

teien mussten sich mit der Einführung einer bislang unbekannten Landessteuer befassen – einer auf Energieverbrauch. Im Grunde wünschte sie niemand. Aber sie versprach gemäß ihrem ersten Entwurf rund 4 Millionen pro Jahr einzubringen, genug, wie man hoffte, für mehrjährige Stabilisierung des Budgets. Doch gegen diesen Entwurf hatten sich alle Kammern vehement ausgesprochen; Handels- und Arbeiterkammer, sonst gewöhnlich in Konf likt miteinander, waren geradezu sozialpartnerschaftlich eines Sinnes gewesen. Darauf einigten sich Kammern und Landtagsparteien, auf die Besteuerung elektrisch gewonnener Kraft und Wärme zu verzichten und die Abgabe auf „Licht“ aus Elektrizität und Gas zu beschränken. Zugleich wurde allen Gemeinden, zeitlich bis Ende 1932 befristet, eingeräumt, auf sie 50 Prozent aufzuschlagen. Nach sehr konstruktiver Debatte wurde das Paket am 3. Juli 1929 einstimmig beschlossen. (Allerdings erwartete das Land für sich nun von ihr nur maximal 2 Millionen pro Jahr; von einer nachhaltigen Lösung war damit keine Rede mehr.)313 Ähnlich kooperierte man weiter in Sachen STEWEAG: Als die Einstellung des Elektrifizierungsprogramms der Bundesbahnen drohte, diskutierte der Landtag darüber eingehend am 22. November 1927 – wenige Tage nach dem Beschluss über Wallischs „Auslieferung“ – und nahm am 23. März 1928 einstimmig eine von Adolf Enge (CSP) beantragte Resolution an, in der gegen den Stopp des Programms auf der Strecke Graz–Spielfeld protestiert wurde; kurz nach der Inbetriebnahme von Pernegg wäre der ein „wirtschaftlicher Alarm“ für die Steiermark, sagte Enge. Nicht anders verhielt es sich im Juli 1929: die schon 1919 bzw. 1921 erteilte Konzession der STEWEAG zum Bau eines Ennskraftwerkes wurde einstimmig verlängert und zu deren endlicher Umsetzung eine eigene Gesellschaft in Aussicht genommen, an der sich das Land mit 40 Prozent beteiligen wollte.314

Ableitinger / unentwegt Krise

Ende 1929 wurde der Budgetvoranschlag für 1930 mit großer Mehrheit im landtag angenommen. Die Debatte verlief zahmer als sonst bei analogen Anlässen. Als Hermann Aust (SDAP) Heimwehren und Heimatschutz bürgerliche Kommunisten hieß, erregte das nur Heiterkeit.315 gab es, obwohl die steirischen Heimatschützer gerade im Sommer und Herbst 1929 ihre Agitation auf die Spitze getrieben hatten, ein stillschweigendes Einvernehmen gegen sie? Auch in der Bundespolitik gelang die Reform der Verfassung damals gegen sie.316

107

der Führer. Regionale Kreisoder gauführer, vor allem in den „alten“ Heimwehrgebieten der West- und Oststeiermark, praktizierten weiterhin ein gewisses Eigenleben. Rintelen förderte das, er hatte unter solchen unterführern mehrere ihm persönlich Vertraute. Auch dass er in einem „Finanzkomitee“ saß, welches über die Verteilung der für die Heimwehren bestimmten Spenden aus Industrie und Finanzwelt entschied, half ihm, Pfrimer Walter Pfrimer weiterhin mehr oder weniger uMJ/MMS zu kontrollieren.317 Für seine Expansion gab sich der Heimatschutzverband 1927 „Satzungen“. Ihnen zufolge unterschied der Verband unter seinen Mitgliedern zwischen physischen Heimwehren/Heimatschutz 1927–1929 Individuen („Personen“) und kollektiven grupWährend aller dieser Jahre repräsentierten die pen (d. h. „Vereine, Körperschaften und gesellHeimwehren die gegenströmung zur Parteien- schaften“). Über Aufnahme oder Ablehnung kooperation in landtag und landesregierung. der ersten entschieden die Ortsgruppen, über Sie traten viel aktiver und aggressiver auf als die politisch viel heiklere der Vereine etc. die Mitte der 1920er Jahre und provozierten damit landesleitung Mit diesen kollektiven Mitglieheftige Reaktionen aus dem sozialistischen la- dern konnte der Heimatschutz mit ihm symger. In Summe steigerte das eine wie das ande- pathisierende Organisationen unter sein Dach re ihre öffentliche Präsenz. bringen. Das machte ihn wenigstens formell In der Steiermark schlossen sich im Dezem- größer, als er aus eigener Kraft war. Es barg für ber 1927 die teilweise immer noch rivalisieren- ihn aber zugleich die gefahr, dass seine interne den gruppen zum „Heimatschutzverband“ zu- Pluralität zunahm und er, falls solche Mitglieder sammen. Pfrimer wurde zu dessen alleinigem aus welchen gründen immer austraten oder mit landesführer bzw. -leiter gewählt. Trotzdem Austritt drohten, politisch und finanziell Schagelang es ihm kaum, selbständig Politik zu ma- den nahm. – Im Übrigen war seine Binnenchen. Vor allem wusste er keine Ziele zu defi- struktur gemäß den „Satzungen“ erstaunlich nieren, für deren Realisierung er Partner hätte demokratisch: Alle Funktionäre, auch der „langewinnen können, ja er sah gar nicht die Er- desleiter“, wurden gewählt, und bereits eine forderlichkeit, Allianzen zu schließen. Er war geringe Zahl von Mitgliedern in den Ortsgrupviel mehr ein Berserker als ein strategischer pen bzw. von Delegierten auf landesebene Kopf, mithin auch nach innen kein überzeugen- konnte die Einberufung von „Hauptversamm-

108

Ableitinger / Unentwegt Krise

lungen“ erzwingen. Allerdings kam nur „ausübenden“ Mitgliedern aktives und passives Wahlrecht zu, also de facto wohl nur „Personen“. Das Statut gab somit den Ortsgruppen bemerkenswerte Autonomie bei der Rekrutierung von Mitgliedern wie bei der verbandsinternen Willensbildung – straffe Führung der Gesamtorganisation erleichterte es per se nicht.318 Teilweise schon vor, besonders aber nach dem Juli 1927 gelang es dem Heimatschutz in erster Linie in der Obersteiermark auffällig viele Ortsgruppen neu zu gründen. Brandtner nennt für 1926/27 neun, für die zweite Jahreshälfte 1927 dreizehn. Die meisten entstanden in den größeren Industriegemeinden.319 Ihre Zielgruppen waren mehr als früher Angestellte, faktisch überwiegend junge Leute. Das offensive Auftreten des Verbandes kam offenbar an. Unausgesetzt wurden Versammlungen und Kundgebungen, Aufmärsche und „Appelle“ veranstaltet, weiters Waffenübungen in teils bekannten, teils geheimen Schießständen abgehalten. Auch Landestracht und Armbinden zu tragen, vor allem aber den Hut mit der Schwanzfeder des „Hahns“, festigte die kollektive Identität der Männer (sog. „Hahnenschwanzler“). Vermutet werden darf, dass der Heimatschutz einen Teil seiner Erfolge erzielte, weil er offen und aggressiv gegen ein dominantes „rotes“ Milieu in Gemeinden und Betrieben ankämpfte, das neben viel Zustimmung auch viel Unmut erzeugt hatte. Bürger in Kapfenberg, Bruck an der Mur, Judenburg usw. hatten sich seit Jahren von den „Roten“ in ihren Gemeinden eingeschüchtert gefühlt. Werksleiter, Ingenieure und andere Angestellte, aber auch Arbeiter in den Betrieben der Alpine-Montangesellschaft in Donawitz, Eisenerz, etc. hatten nach eigener Wahrnehmung lange genug im Arbeitsalltag nach der Pfeife „linker“ Betriebsräte tanzen müssen. Dem Anspruch der Freien Gewerkschafter auf Closed Shops, d. h. auf tendenziell hundertpro-

zentigen Beitritt der Arbeiterschaft eines Betriebes zu ihnen, hatten sich viele nur aus Sorge um ihren Arbeitsplatz unterworfen. Oft war von „rotem Betriebsterror“ die Rede gewesen. Wer immer entschlossen, laut und auch gewaltsam gegen solche „rote“ Exklusivität auftrat, durfte auf Zuspruch rechnen. Naturgemäß setzten sich die Herausgeforderten massiv zur Wehr. Unmittelbar praktisch ging es, wo „Rote“ und „Hahnenschwanzler“ aneinander gerieten, sehr oft um Präsenz im öffentlichen Raum, um dessen Behauptung bzw. Eroberung. Heimwehren bzw. Heimatschutz hatten nach dem Willen der „Proletarier“ in deren Revieren „nichts verloren“. Am 12. November 1928, dem Tag der Republik-Gründung, erklärte auf dem Leobener Hauptplatz der regionale SDAP-Sekretär Stefan Plaimauer es für eine „Provokation des hiesigen Proletariats“, dass die Heimatschützer auf demselben Platz zwei Wochen zuvor überhaupt hatten aufmarschieren können. Wenig später, am 28. November, demonstrierten diese in Bruck an der Mur; dem Grazer Tagblatt zufolge nahmen 8.000 Menschen teil; der „Resch“ antwortete am 4. Dezember und mobilisierte 12.000.320 Machold nannte am 7. Oktober 1928 vor rund 6.000 „Genossen“ den großen Heimwehr-Aufmarsch dieses Tages in Wiener Neustadt einen „Stich ins Herz der niederösterreichischen Arbeiter“.321 Ähnliches fand in kleinerem Rahmen wiederholt statt: Eine Gruppe von Schutzbündlern machte Heimatwehrleuten streitig, am 15. November 1928 im Werkshotel von Göß einen Kameradschaftsabend zu veranstalten: Es f logen Fäuste, es gab Verletzte, der Gendarmerie gelang es kaum, den „friedlichen“ Abzug der „Hahnenschwanzler“ zu sichern. „Feindliche“ Versammlungen usw. zu stören, wurde gang und gäbe: Am 1. Mai 1929 wollten Heimatschützer in St. Marein im Mürztal nicht dulden, dass Wallisch sprach. Als Rache wurden sie anschließend bei der Durchfahrt ihrer LKWs

Ableitinger / Unentwegt Krise

in Kapfenberg von Schutzbündlern von den Autos gezerrt und verprügelt; nach halbstündiger „Schlacht“ wurden 19 Verletzte gezählt, davon 17 vom Heimatschutz.322 – Grazer Heimatschützer demonstrierten am 24. März 1929 „im reinen Industrieort Gratkorn“; es war, schrieb die SDAP charakteristisch, „ein Provokationsaufmarsch […] denn in Gratkorn bekennen sich mehr als neunzig Prozent zur Sozialdemokratie“.323 In der Obersteiermark kam dem Heimatschutz zugute, dass die großen Industrieunternehmen, primär die ÖAMG, in engem Verbund mit ihm eine „Unabhängige Gewerkschaft“ (UG) aus dem Boden stampften. In der Hütte Donawitz, wo sie erstmals im Mai 1928 auftrat, ging sie direkt aus der lokalen Heimatschutzgruppe hervor. Josef Lengauer, Heimatschutzführer für den Bezirk Leoben, wurde ihr Obmann.324 Sie war eine offene Kampfansage an die sozialdemokratischen „Freien Gewerkschaften“, die bei Betriebsratswahlen stets die Masse der Mandate auf sich vereinigt hatten. Sie hatten den Unternehmen vielerlei Zugeständnisse abgerungen, auch über das sozialrechtlich Gebotene hinausgehende, waren den Werksleitungen jedenfalls unbequem geworden, vermutlich am meisten mit dem Verlangen nach den Closed Shops. Wieder mehr „Herr im eigenen Haus“ zu werden, war den Unternehmen zweifellos ein zentrales Anliegen. Ob auch betriebswirtschaftliche Räson sie bestimmte, eine „gelbe“ Gewerkschaft zu forcieren – so nannten die „Freien“ polemisch die „Unabhängigen“ –, steht dahin; Steigerung der Arbeitsproduktivität hatten sie sicher nötig.325 1928/29 nahm die Unabhängige Gewerkschaft einen enormen Aufschwung. In der Hütte Donawitz soll sie bereits Ende 1928 2.600 Mitglieder oder Anhänger gezählt haben, knapp die Hälfte der Belegschaft.326 Wie viele es auch waren, es kamen nicht alle freiwillig zu den „Gelben“: Die Werksleitungen entließen lieber

109

„Rote“ und nahmen eher „Gelbe“ auf; häufig ging mit dem ersten der Verlust, mit dem zweiten die Zuteilung einer Werkswohnung einher. Heimwehr und Unabhängige betrieben eigene, von den Unternehmen geförderte Arbeitsvermittlungskanzleien. Auch sonst gab es für die „Gelben“ allerlei Vergünstigungen.327 Am Arbeitsplatz selbst hatten sie es oft mit Vorgesetzten, Ingenieuren oder Vorarbeitern, zu tun, die im Heimatschutz Funktionen bekleideten. Die sozialdemokratische Gewerkschaft hatte gute Gründe, über das alles zu schäumen; ihre Betriebszeitung, die „Alpine-Post“, geißelte den „Betriebsfaschismus“ und beschimpfte Lengauer und seine Kollegen grob.328 Trotzdem machte sie es sich mit der Kritik der „Gelben“ zu leicht. Diese waren nicht simpel die Büttel der Unternehmungen, ihre Anhänger kamen zu ihnen auch aus eigenen genuinen Motiven; die Wahlergebnisse von 1930 bzw. 1932 belegen das.329 Alle diese Aktivitäten von Heimwehren und Heimatschutz erforderten weit mehr finanziellen Aufwand, als die Mitgliedsbeiträge einbrachten. Er wurde bestritten durch Zuwendungen aus Industrie- und Finanzsektor. Die blieben allerdings immer sowohl bezüglich ihres Umfanges wie ihrer Verlässlichkeit prekär, denn es gab fortwährend Differenzen zwischen den Geldgebern und dem Heimatschutz. Solche Irritationen bezogen sich gewöhnlich auf Pfrimers simplen Radikalismus. Trotzdem soll Pfrimer zeitweise 20.000,– Schilling pro Monat erhalten haben, dazu die Vergütung von Transportkosten zu Aufmärschen; andere Angaben nennen allerdings weit geringere Beträge.330 Ähnlich wichtig oder noch wichtiger wurden ab 1928 Zuwendungen von Geld, Ausrüstung, Waffen und Munition durch Regierungsstellen in Rom und Budapest. Italien und Ungarn drängten als Gegenleistung dafür auf putschartige Machtübernahme der Heimwehren in Wien, um mit Österreich als drittem Glied eine territorial zusammenhängende Achse gegen die

110

Ableitinger / Unentwegt Krise

von Frankreich dirigierte „Kleine Entente“ im Donauraum zu schaffen.331 Freilich waren das abenteuerliche Vorhaben, die mit den Positionen der Bundeskanzler Seipel und Schober vollkommen kollidierten, sodass die Heimwehrführung auf das für einen Putsch erforderliche Stillhalten von Exekutive und Bundesheer nie sicher zählen konnte. So zögerten im Herbst 1929 sowohl Steidle wie auch Pfrimer mit einem Gewaltstreich, und Mussolini drängte vergeblich. Demgemäß gingen ab 1930 dessen und die Budapester Zuwendungen zurück, um schließlich ganz zu versiegen. Über den Umfang der Anhängerschaft des Steirischen Heimatschutzes gibt es nur unsichere Zahlen. Viel später behauptete Pfrimer, sein Verband habe auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung im Land ca. 120.000 Mitglieder bzw. Anhänger gehabt. Als militärisch ausgebildet nannte er großspurig 20.000 Mann. Andere aus dem Heimatschutz stammende Angaben lauteten sehr viel bescheidener: Ihnen zufolge war Pfrimer schon im Juli 1927 weit davon entfernt gewesen, wie öffentlich behauptet, 6.000 Mann marschbereit zu haben, die selbstkritische interne Schätzung lautete auf bloß 600.332 Wie mehrfach bemerkt, gerieten die Heimwehren in Österreich wie der Heimatschutz in der Steiermark in Sackgassen. Aber 1928/29 suggerierten erfolgreiche Aufmärsche und Versammlungen ihren Führern selbständige politische Potenz. Erstmals tendierte Pfrimer im Herbst 1928 dazu, aufs Ganze zu gehen. Sein Einf luss reichte inzwischen über den Semmering bis Wiener Neustadt. Für Sonntag, den 7. Oktober, wurde in der Stadt die bis dahin in Österreich größte Kundgebung der Heimwehren anberaumt. Von den zu erwartenden Zusammenstößen mit dem Schutzbund versprach sich Pfrimer, dass sie in seinen „Marsch auf Wien“ übergehen würden. Rintelens wie immer motivierte Warnung vor der Großdemonstration schlug er in den Wind.333 Doch die Zu-

sammenstöße blieben aus, Exekutive und Bundesheer hielten Heimwehren wie Schutzbund unter Kontrolle. Aber Pfrimer und andere waren noch nicht entmutigt. St. Lorenzen: 18. August 1929 Der blutigste Zusammenstoß von Heimatschützern und „Resch“-Männern ereignete sich am Sonntag, dem 18. August 1929, in St. Lorenzen im Mürztal. Wieder ging es bei ihm um Herrschaft über ein Revier, diesmal buchstäblich. Der Ort war, zusammen mit dem unmittelbar benachbarten St. Marein, genau in diesem Sinn bereits im Mai 1921 und wieder am 1. Mai 1929 ein besonders heißes Pf laster gewesen. Für den 18. August 1929 meldeten Schutzbund und Heimatschutz in Lorenzen Versammlungen an. Der Bezirkshauptmann von Bruck an der Mur, Dr. Robert Rattek, wollte zuerst beide untersagen, dann erlaubte er sie, aber räumlich und zeitlich getrennt. Kaum war das vereinbart, provozierte man einander wieder.334 Rattek wollte wieder alles verbieten, doch wies Rintelen ihn an, „eventuell“ beide Versammlungen zuzulassen. Rattek kommandierte darauf mehr Gendarmen zum Posten St. Marein, aber nicht genug; doch hielt er eine Einheit in Bruck in Bereitschaft. (Angeblich saßen auch in Graz 90 Gendarmerieschüler auf LKWs bereit.) Am frühen Nachmittag des Sonntag fanden ca. 1.200 bis 1.500 Schutzbündler „ihre“ Festwiese von ungefähr ebenso vielen Heimatschützern besetzt. Beide Seiten hatten Ratteks Weisung, unbewaffnet zu bleiben, umgangen. Nach einigem Hin und Her stimmten die „Roten“ zu, statt ihres Festes nur eine Kundgebung abzuhalten – auf dem Kirchplatz, aber mit Wallisch als Redner. Dorthin rückten auch Heimatschützer vor. Vermittlungsgespräche scheiterten, es hagelte wechselseitige Beschimpfungen, dann Steine. Bald war eine große Schlägerei mit allerlei „Waffen“ im Gange, u. a. Stahlruten. Schließlich

Ableitinger / Unentwegt Krise

111

Heimwehrkundgebung in Graz am 12. November 1929. V.l.: Ernst Rüdiger Starhemberg, Walter Pfrimer, ÖNB/Wien Anton Rintelen

wurde geschossen. Das Gefecht dauerte etwa zehn Minuten. Am Ende gab es drei tote Schutzbündler sowie zwei Schwer- und gegen 200 Leichtverletzte aus ihren Reihen. Die „Heimatschützer“ hatten keine Toten zu beklagen, aber 30 Schwerverletzte. Insgesamt mussten 57 Personen ins LKH Bruck transportiert werden. Die viel zu schwache Gendarmerie kam zu spät, ihre Verstärkung aus Bruck an der Mur bzw. Graz wurde nicht einmal angefordert. Wer zu schießen begonnen hatte, war nicht festzustellen. Ende September sandte Bundeskanzler Schober einen hohen Beamten nach Graz, um die Vorgänge zu untersuchen. Im Zentrum stand Ratteks und Rintelens Verhalten. Der Landeshauptmann deckte den Bezirkschef vollkommen: Man habe nicht mehr Gendarmerie nach St. Lorenzen abordnen können, weil die, als sich Nachrichten über das dortige Geschehen verbreiteten, für vielleicht noch schlimmere Zusammenstöße in Kapfenberg und Bruck in

Reserve gehalten werden musste. Befragt, warum er Rattek nicht beide Veranstaltungen in St. Lorenzen habe verbieten lassen, antwortete Rintelen knapp, seine „langjährige Erfahrung“ habe ihn bestimmt, „auch in schwierigen Situationen […] Gegensätze durch Verhandlungen auszugleichen“. Er war sichtlich „nicht angenehm berührt“ davon, dass er sich vor einem Beamten Schobers rechtfertigen musste. (Die vorsichtige Umschreibung dieser massiven Verärgerung Rintelens stammte von dem untersuchenden Ministerialrat.) Vermutungen, wonach Rintelen, sei es im Einvernehmen mit Pfrimer, Steidle und ihren ausländischen Geldgebern, sei es ohne Abstimmung mit ihnen, einen Zusammenstoß von der Größenordnung St. Lorenzens sehenden Auges habe geschehen lassen, um das Thema Revision der Bundesverfassung akut zu machen sowie seine eigene und die Rolle der Heimwehren bei dieser Reform zu stärken, blieben und bleiben spekulativ.335

112

Ableitinger / Unentwegt Krise

Klaren Zusammenhang mit den inzwischen in Gang gekommenen Verhandlungen über die Verfassungsreform hatte dagegen die große Kundgebung samt Fahnenweihe, den der Steirische Heimatschutz am 12. November 1929 in Graz durchführte. Schon dass oberösterreichische Heimwehren mit ihrem Landesführer Ernst Rüdiger Starhemberg an der Spitze mitwirkten, verwies auf einen österreichweiten Anspruch des Geschehens. Die Verfassungsberatungen führte Kanzler Schober nämlich, ohne die Heimwehren ernsthaft zu beteiligen. Ohne ihre Mobilisierungskapazität zu demonstrieren, mussten sie fürchten, in Wien als „Papiertiger“ marginalisiert zu werden. Die Wahl des 12. November erfolgte, um am Gedenktag der Republikgründung die Sozialdemokratie zu provozieren. Einmal mehr durfte davon Eskalation erwartet werden. Tatsächlich zogen zwischen 17.000 und 20.000 Heimwehrmänner durch das Zentrum der Landeshauptstadt, sie defilierten u.  a. vor Pfrimer und Rintelen (zu einer zeitgleich abseits abgehaltenen linken Gegendemonstration kamen deutlich weniger). Der Landeshauptmann wurde mit einem Ehrenhut samt Hahnenschwanz ausgezeichnet. Pfrimer wandte sich an ihn mit den Worten „Wir rechnen auf Sie! Wir wollen, dass Sie das Volk gemeinsam mit uns auf den Weg führen werden, der zur wahren Freiheit und zum wahren Volksstaat geht […]. Heute, vor dieser neugeweihten Fahne versprechen wir Ihnen, dass wir bereit sind, zur rechten Zeit ohne Rücksicht auf Gefahren und Drohungen für unsere Ideale einzutreten […]“.336 Wer aufmerksam war, konnte die Drohung mit irgendeiner Art illegaler Aktion nicht überhören. Der Grazer Aufmarsch war ein Höhepunkt von öffentlicher Präsenz des Heimatschutzes im Land, zugleich der Scheitelpunkt seines Einf lusses in der praktischen Politik. Denn obwohl aus seiner Sicht die Dinge in Wien anschließend nicht besser liefen, geschah in der Folge nichts. Falls Pfrimer darauf „rech-

nete“, dass Rintelen inzwischen bereit war, bei „etwas“ aktiv mitzumachen, wurde er im Herbst 1929 so enttäuscht wie zwei Jahre später. (Übrigens fanden wie im Fall von St. Lorenzen auch vor oder am 12. November wieder geheime Gespräche zwischen den Parteien der Landesregierung statt.) Das Jahr 1930 Den Herbst 1929 charakterisierte politische Hochspannung. Bis in den November war offen, ob Kanzler Schobers Strategie, die Heimwehr an der Arbeit an der Verfassungsreform nicht zu beteiligen, ans Ziel kommen würde; die Herstellung des Parteienkompromisses erwies sich als so schwierig wie erwartet. Selbst als am 7. Dezember im Nationalrat abgestimmt wurde, herrschte nicht durchgehend Konsens. Zuerst fanden gewisse, von den Regierungsparteien gewünschte, neue Regelungen nicht die Zustimmung der SDAP, danach erst wurde das mit ihr ausverhandelte Paket verabschiedet.337 Diese Prozedur entsprach naturgemäß auch einem für die Öffentlichkeit arrangierten Drehbuch. Trotzdem blieb für jede Seite viel Anvisiertes unerledigt. An ungeheuchelter Unzufriedenheit fehlte es da wie dort nicht. Doch waren die Heimwehren der deutlichste Verlierer: „Wir haben eine saubere Ohrfeige bekommen“, resümierte Steidle zutreffend vor der „Bundesführersitzung“ am 10. Dezember, und er ergänzte, „mit Gewalt durch einen Staatsstreich“ wäre nun nichts „mehr zu machen“.338 Beruhigung und neue Zuspitzung in der Steiermark So sah es auch Machold in Graz. Vor dem Landesparteitag der SDAP sagte er 1930, er halte es für schwer möglich, dass ein zweites Mal mit einem blutigen Bürgerkrieg gedroht werden könnte. Er war spürbar erleichtert und gab eine Erklärung da-

Ableitinger / Unentwegt Krise

113

Bundeskanzler ­Johannes Schober und Landeshauptmann Anton Rintelen auf dem Weg zur Einweihung der Murbrücke in Radkersburg, 9. Februar 1930 ÖNB/Wien

für, warum in der Steiermark die Krise durchtaucht worden war. Sie lautete dahin, dass wir nach der Landesverfassung proportionellen Anteil an der Regierung nehmen […]. Es zu einem vollkommenen Abbruch der Beziehungen zu den bürgerlichen Abgeordneten und Regierungsmitgliedern auch in den Ländern kommen zu lassen, wäre in dieser unsicheren Zeit ein schwerer Fehler gewesen. Der Mangel einer entsprechenden Verbindung in Wien machte sich ohnehin lange Zeit unangenehm bemerkbar“. Das war kritisch an den zentralen Parteivorstand in Wien adressiert. Seine eigene Taktik war, setzte Machold fort, mit dem politischen Gegner in Berührung zu bleiben, denn nur so wurde es uns möglich, zu erfahren, was dieser eigentlich beabsichtigte. Damit deute er an, dass es sehr geheime Kontakte über

die Lagergrenzen hinweg gegeben hatte; leider ist nicht bekannt, was in ihnen erörtert worden ist.339 Im Sommer und Herbst 1929 hatte die SDAP auch im Land eine Abwehrschlacht gegen den Ansturm des Heimatschutzes bestanden. Seitdem hoffte sie, die Politik der Kooperation fortsetzen zu können. Das legten ihr nicht zuletzt zunehmende Schwächen ihrer Organisation nahe: 1929 waren in der Mehrheit ihrer Parteibezirke, vor allem in der Obersteiermark, die Mitgliederzahlen zurückgegangen, der „Arbeiterwille“ verlor Abonnenten, auch um die Finanzen stand es schlecht.340 Ihre politischen Konkurrenten machten der SDAP das Kooperieren allerdings leicht. Die Christlichso-

114

Ableitinger / Unentwegt Krise

zialen verhielten sich, obwohl sie ihre Krise von 1927 bis 1929 hatten überwinden können, merkwürdig passiv.341 Der Landbund setzte sich lieber mit den „Schwarzen“ als mit den „Roten“ auseinander; sein Ziel war offenbar, die „katholische“ Dominanz in der Agrarpolitik zu brechen.342 Landesrat Winkler und Machold harmonierten nahezu perfekt. Der anhaltende „Flirt“ zwischen SDAP und Landbund erreichte im Kampf zwischen den „Grünen“ und den „Schwarzen“ um die Dominanz in der neuen Landwirtschaftskammer seinen Höhepunkt. Am 20. Oktober 1929 standen die ersten Wahlen in diese Kammer an. Nach einem harten Wahlkampf zeigte das Wahlergebnis zwar den Katholischen Bauernverein voran – zwischen ihm und dem Landbund lagen ca. 6.000 Stimmen. Aber bei den Mandaten in der Hauptversammlung der Kammer stand es nur 15 zu 14 für den ersten, und dazu kamen zwei „Freie Arbeiterbauern“, d. h. „Rote“.343 Doch kam es für den Bauernverein im Jänner 1930 noch schlimmer: in einer im Detail komplizierten Prozedur wurde letztlich Hartleb zum Kammer-Präsidenten gewählt, nicht der „schwarze“ Kandidat Franz Kandler.344 Dennoch wurde im Landtag weiter kooperiert, meistens stimmten am Ende nur die beiden Ude-Abgeordneten gegen ausverhandelte Kompromisse der anderen. Das Budget für 1930 war noch vor der Präsidentenwahl in der Bauernkammer verabschiedet worden. Doch auch danach gab es keinen Riss. Die Stadt Graz wurde einstimmig ermächtigt, Wohnbaudarlehen im Umfang von 6 Millionen Schilling aufzunehmen; man erwartete sich davon 350 neue Wohnungen – und Beschäftigung für Bauarbeiter.345 Im März folgten wieder Landtagsbeschlüsse, mit denen höhere Bezirks- und Gemeindezuschläge bewilligt wurden.346 – Im Mai und Juni ging es um die alte Idee, endlich auch in der Steiermark eine Landes-HypothekenAnstalt zu schaffen: Wieder forcierten SDAP

und Landbund das Vorhaben und behaupteten, Christlichsoziale und Großdeutschen würden im Interesse der ihnen nahestehenden Bauernkassen bzw. der Gemeindesparkassen bremsen.347 Aber schon zwei Wochen später wurde das Gesetz nach durchaus konstruktiver Diskussion seiner Details im Landtag mit überwiegender Mehrheit angenommen.348 – Noch weniger kontrovers war die finanzielle Beteiligung am Bau der Bundesstraße über die Pack: 40 Prozent der Gesamtkosten für den steirischen Teil der Straße sollte das Land, verteilt auf eine Reihe von Jahren, auf bringen, d. h. nach der 1930 aktuellen Schätzung rund 4,5 Millionen. (Seit 1927 hatte sich Rintelen darum gekümmert, dass der Bund dem Projekt Priorität gebe; das wurde im Landtag gewürdigt.)349 Man sieht: wie die Landeshauptstadt beim Wohnbau, betrieb hier das Land „Deficit spending“, und beide Male geschah das, gemessen am gesamten Budgetvolumen, nicht eben knapp. Auseinandersetzungen um Neuwahlen von Nationalrat und Landtag Gegen den Sommer 1930 hin wurden die Verhältnisse aber auch in der Steiermark ungemütlicher, verursacht durch Entwicklungen in der Bundespolitik. Dort saß Kanzler Schober mit einer nach außen stabilen Parlamentsmehrheit einerseits und nur zurückhaltender Opposition der SDAP anderseits einigermaßen fest im Sattel.350 Aber sein wachsendes Prestige missfiel den Christlichsozialen, die Heimwehren erzürnte es. Seit dem Herbst wurden die Heimwehren vom Kanzler geradezu ignoriert; doch fanden sie zu keiner Strategie, ihm zu begegnen. Dazu kam, dass seit Jahresbeginn 1930 aus dem Landbund heraus ein separater „Reichsverband der österreichischen Bauernwehren“ entstanden war, initiiert von Leuten des alten untersteirischen Bauernkommandos in der Region Straden, wahrscheinlich insgeheim von Landesrat

Ableitinger / Unentwegt Krise

Winkler gesteuert.351 Diese Bauernwehren wollten von dem Staatsumbau, den die Heimwehren erstrebten, nichts wissen. Innerhalb der Heimwehren ergriff Steidle die Flucht nach vorne. Am 18. Mai 1930 verlas er vor ca. 800 Unterführern in Korneuburg ein „Gelöbnis“, auf das fast alle Anwesenden einen „Eid“ ablegten. Darin hieß es, dass die Heimwehren „nach der Macht im Staate greifen“ wollten, dass sie den „westlich demokratischen Parlamentarismus und den Parteienstaat“ verwerfen und sich von allen Bindungen an Parteien lösen würden.352 Aber über wilde Rhetorik hinaus war damit nichts gewonnen. Die Bundesregierung reagierte einen Monat später mit der Ausweisung Pabsts, Steidles deutschem „Stableiter“. Rintelen intervenierte dagegen beim Kanzler. Trotz der Provokation von Korneuburg ließ er die Fäden zu Heimwehr und Heimatschutz nicht abreißen. Darüber kam es im Landtag in Graz am 17. Juli zu einer heftigen und aufschlussreichen Debatte. Dabei ließ die SDAP dem Landbund den Vortritt, Rintelen kritisch zu fragen, mit welcher Legitimation er interveniert habe. Der antwortete kurz, er wäre nicht als Landeshauptmann, sondern als Nationalratsabgeordneter im Sinne der Intentionen meiner Wähler und auch weiterer Kreise zu Schober gegangen, um einen Ausweg aus der Situation zu finden.353 Das befriedigte natürlich weder Landbund noch Sozialdemokraten. Für die SDAP zog zuerst Leichin vom Leder: Pabst wäre zwischen 1919 und 1922 in Deutschland der geistige Urheber politischer Morde gewesen, er habe in Österreich den Raub von Waffen aus Arsenalen organisiert und ständig mit Putsch gedroht. Dass die Regierung Schober ihn ausweise, bedeute, dass er akut gemeine Verbrechen beabsichtigt haben müsse.354 Anders als Leichin äußerte sich anschließend Machold ganz staatsmännisch. Zwar sah er in Rintelens Antwort nur Ausflüchte, er nannte es aber vor allem traurig, dass Rintelen, dieser intelligente

115

Mensch, der für das Land von großem Nutzen sein könnte, für Pabst eintrete, dass Rintelen, obwohl wiederholt gewarnt, sich mit Menschen umgebe, die besser ferngehalten werden sollten usw. Rintelen denke, dass die Heimwehr umschmeichelt werden müsse, weil er fürchte, dass diese andernfalls bei den nächsten Wahlen eigene Kandidaten aufstellen werde.355 Machold bewies Prognosefähigkeit. Rintelen reagierte dürr, er stehe für Neuwahlen zur Verfügung.356 – Zu einer Abstimmung über Rintelens Verhalten kam es nicht; sie hätte zu viel Porzellan zerschlagen.357 Mit vorzeitigen Neuwahlen wurde auf allen Seiten gerechnet und alle bezogen bereits Positionen für den Wahlkampf. Im Sommer begann die SDAP für ein „Volksbegehren“ zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu werben. Im Bewusstsein, dass ihnen diese Kampagne, je länger sie lief umso mehr, schaden werde, drängten die Christlichsozialen auf einen frühen Wahltermin. Am 16. September beantragten sie, den Landtag aufzulösen und ihn, erstmals seit 1919, allenfalls separiert vom Nationalrat zu wählen. Als Grund nannten sie, das „Unrecht“ beenden zu wollen, dass Land bzw. Gemeinde Wien bei der Abgabenteilung zulasten aller anderen Bundesländer sehr privilegiert werde. Die steirischen Wähler sollten entscheiden, ob sie „von den Abgeordneten aller Parteien ohne Ausnahme“ verlangten, „dass sie sich […] rückhaltlos für die Interessen des Landes Steiermark einzusetzen haben“; auch die Neuwahl des Landtages sollte darüber „eine Art Volksbegehren darstellen“. Dem Thema der SDAP setzten sie somit ein sozusagen landespatriotisches entgegen, von dem sie viel Zustimmung bei den Wählern erwarteten. „100 Milliarden“ nehme Wien „uns jährlich weg“, rief ihr Abgeordneter Alois Döttling aus. Im Metier Populismus wollten sich die „Schwarzen“ von der SDAP nicht übertreffen lassen.358 Aber Sozialdemokratie und Landbund lehnten den Auf lösungsantrag ab.359

116

Ableitinger / Unentwegt Krise

Dagegen waren die Christlichsozialen in der Bundespolitik in ihrem Bestreben erfolgreich, den aus ihrer Sicht allzu angesehenen Schober wenigstens aus dem Kanzleramt zu drängen und dieses wieder selber zu besetzen. Dazu trieben sie die „Affäre Strafella“ auf die Spitze. Sie forderten von Schober, diesen sehr umstrittenen Mann – er war Grazer Gemeinderat und Rintelen-Intimus – zum Chef der Bundesbahnen zu machen; Schober lehnte ab.360 Am 25. September demissionierte die Bundesregierung. Es war ein Pyrrhus-Sieg der „Schwarzen“; ihre Beziehungen zu den Großdeutschen, ihrem langjährigen Koalitionspartner, waren seitdem von tiefem Misstrauen belastet. In das neue Ministerium nahm der Kanzler Carl Vaugoin (CSP) erstmals zwei Heimwehrleute auf; Rintelen weigerte sich, Minister zu werden. Er wollte in der Steiermark bleiben, weil er fürchtete, dass nach den Wahlen „infolge der geänderten Majoritätsverhältnisse mein Nachfolger aus einer anderen Partei kommt“.361 Auf Antrag Vaugoins schrieb der Bundespräsident die vorzeitige Wahl des Nationalrates für den 9. November aus. Im Landtag in Graz wurde darauf hin auch dessen Auf lösung am 3. Oktober beantragt und, immer noch erst nach heftigen Debatten, am 6. Oktober beschlossen.362 Die Wahlen vom 9. November 1930: Neues Szenario – Ergebnisse – Verschiebungen in und zwischen den Lagern Diese Wahlen mussten die Christlichsozialen in einer gänzlich veränderten Szenerie schlagen: Denn nach vielem Hin und Her beschlossen die Heimwehren, übrigens gegen Pfrimers Rat, als „Heimatblock“ selbständig zu kandidieren – eine „bürgerliche“ Konkurrenz mehr für die „Schwarzen“.363 Großdeutsche und Landbund litten weniger unter der, weil es ihnen gelang, den populären Schober als Spitzenkandidaten zu gewinnen; ihre gemeinsame Liste firmierte

als „Nationaler Wirtschaftsblock“ bzw. schlicht „Schoberblock“. Das war die unangenehme zweite Überraschung für die CSP. Außerdem bekamen sie, aber auch alle anderen Parteien, es mit der NSDAP zu tun; nach deren großem Sieg im „Reich“ im September war sie erstmals als gefährlicher Rivale einzuschätzen. Für die steirischen „Schwarzen“ bedeuteten alle diese „Neuigkeiten“, dass ihr landespatriotischer „Wahlschlager“ überlagert wurde. Kurzum, Rintelen hatte sich Anfang Oktober zu Recht Sorgen über die kommenden Mehrheitsverhältnisse in der Landstube gemacht. Die Wählerschaft machte die SDAP österreichweit erstmals seit 1919 wieder zur stärksten Partei. Aber ihre Stimmenzahl (1.517 Millionen) blieb um rund 20.000 hinter der von 1927 zurück, obwohl insgesamt 345.000 gültige Stimmen mehr abgegeben worden waren als damals. Was die Partei als Triumph ausgab, war keiner; mit 41,2 Prozent Stimmenanzahl und 72 von 165 Sitzen im Nationalrat war sie von einer Mehrheit weit entfernt. Unter den „Antimarxisten“ gerieten nur die Christlichsozialen schwer unter die Räder (35,6 %); sie lagen um 200.000 Stimmen hinter der SDAP. Ganz gut schlug sich der „Schoberblock“, er kam auf knapp 428.000 Stimmen, gleich 11,52 %. Aber auch der Heimatblock konnte, in Anbetracht der internen Kalamitäten, seine 227.200 Stimmen (= 6,2 %) als wenigstens halben Erfolg buchen. Die NSDAP erzielte 111,600 Stimmen (3,1 %) – mehr als jemals früher, aber viel weniger als acht Wochen zuvor in Deutschland.364 In Mandaten stand es im Nationalrat nun 72 : 66 : 19 : 8. Die NSDAP blieb, weil ohne Grundmandat, unberücksichtigt. In der Steiermark kamen die Wahlen – die Resultate für den Nationalrat bzw. den Landtag unterschieden sich wieder fast gar nicht – für die steirischen Christlichsozialen einer Katastrophe gleich. Sie, die 1923 – bei damals geringerer Gesamtzahl von gültigen Stimmen –

Ableitinger / Unentwegt Krise

Wahlplakat des Heimatblocks, 1930

StLA

ca. 215.000 Wähler gewonnen hatten, rutschten nun auf 165.800 ab (= 31,1 %) Erstmals lagen sie damit um knapp 10.000 Stimmen hinter der SDAP.365 Während die Christlichsozialen einst auf ihrem Höhepunkt im Land etwa 70 Prozent der „bürgerlichen“ Stimmen auf sich vereinigt hatten, brachten sie es 1930 nur noch auf rund 50 Prozent. Die SDAP wurde zwar relativ stärkste Partei im Land, ging aber auch hier in Stimmenzahl (175.266) und Stimmenanteil (34 %) gegenüber 1927 zurück (minus 8.000 bzw. minus 2,3 Prozentpunkte).366 Vom Niedergang der „Schwarzen“ profitierte sie (netto) nichts. – Der Sieger des Wahltages war in der Steiermark der Heimatblock. Aus dem Stand kam er auf 63.500 Wähler. Sein Stimmenanteil betrug im Land 12,5 Prozent, doppelt so viel wie im

117

österreichischen Durchschnitt. – Auch der „Schoberblock“ (83.900 Stimmen, 15,4 %) hatte an sich gut abgeschnitten, vor allem zulasten der Christlichsozialen. Aber sein Abstand zum Heimatblock war in Graz und den obersteirischen Städten nicht groß.367 Die NSDAP brachte es auf 17.400 Stimmen, gleich 3,4 Prozent; damit lag sie im Land etwa im österreichischen Durchschnitt. Gemessen an ihrem Abschneiden 1927 entsprach das Resultat einer Verdreifachung.368 Regional reüssierte die Partei allerdings deutlich besser. Überhaupt zeigen die regionalen bzw. kleinregionalen Daten den Tiefgang der 1930 erfolgten Verschiebungen im Wählerverhalten:369 Diese Verschiebungen waren, soweit erkennbar, in den Wahlkreisen Ost- bzw. Mittel­ steiermark vergleichsweise gering; nur in den Gerichtsbezirken Deutschlandsberg und Stainz kamen der Heimatblock auf 10–11 Prozent, die NSDAP auf maximal 1,2 Prozent. Die Christlichsozialen hielten sich einigermaßen, die SDAP gut. In der Stadt Graz erzielten Heimatblock und NSDAP beachtliche Erfolge – 12.276 bzw. 3.880 Stimmen, 14 bzw. 4,6 Prozent Stimmenanteil, zusammen fast ein Fünftel aller Stimmen. Sie verdankten diese „Siege“ primär dem desas­ trösen Abschneiden der Christlichsozialen, die auf 21 Prozent absackten, weit unter den ohnehin tristen Landesdurchschnitt (31 %). Auch der „Schoberblock“ schnitt schlechter ab als die Großdeutschen 1923; mit 13,5 gegenüber damals 15,5 Prozent hielten sich seine Verluste aber in Grenzen.370 Ebenso verlor die SDAP in Graz nur leicht – minus 500 Stimmen bei allerdings 2.300 mehr gültigen Stimmen –, rund 47 statt 49 Prozent Stimmenanteil gegenüber 1927. – In der Landeshauptstadt erfolgte der Aufstieg von Heimatblock und NSDAP somit weit überwiegend zulasten der zwei traditionellen „bürgerlichen“ Parteien, kaum zulasten der „Roten“.

118

Ableitinger / Unentwegt Krise

Anders lautet der Befund für die Obersteiermark Im dortigen Wahlkreis kamen der Heimatblock auf 28.398, die NSDAP auf ca.7.750 Stimmen, d. h. auf 17,2 bzw. 4,3 Prozent – beide damit weit über ihrem Landesdurchschnitt.371 Reichlich ein Fünftel der Wählerschaft hatte diese zwei Gruppen favorisiert. Anders als in Graz stammte dieses Fünftel jedoch nur zu einem kleinen Teil von vormaligen Wählern der CSP – diese kam auf 20,1 Prozent und hatte 1923, ihrem besten Jahr, im Wahlkreis auch bloß 23 Prozent auf sich vereinigt –, sondern von solchen der stadtbürgerlichen Großdeutschen und aus der traditionellen Wählerschaft der SDAP. Der „Schoberblock“ machte nur 19.109 Stimmen, zu denen der Landbund den größten Teil beigetragen haben dürfte – zwischen 12.000 und 14.000.372 – Die SDAP sank 1930 in der Obersteiermark gegenüber 1927 von 50 auf 42 Prozent ab und verlor trotz gewachsener Zahl von gültigen Stimmen ca. 7.500 bisherige Wähler.373 Die Verschiebungen zum Heimatblock bzw. in viel geringerem Grad zur NSDAP fanden somit regional vorrangig in Graz und in der Obersteiermark statt und politisch teils innerhalb des deutschnationalen Lagers zulasten der Großdeutschen, teils, traditionelle Lagergrenzen überschreitend, in Obersteier von links nach weit rechts. Dieser letzte Befund gilt vor allem für die am meisten industrialisierten Bezirke der Mur-Mürz-Furche, die eigentlich „rote Region“ des Landes.374 Der Umfang des „LagerWechsels“ erreichte wenigstens ein Achtel des traditionellen sozialistischen Lagers, kleinregional an Mur und Mürz auch viel mehr. Er indiziert einen erheblichen Grad von Unmut auch innerhalb von dessen bisheriger Wählerschaft gegen die Praxis der regionalen „roten Herrschaft“, einen Unmut, der bis dahin bloß keine plausiblen Ventile gefunden hatte, und er widerlegt die nicht nur zeitgenössische Auffassung, „Hahnenschwanzler“ bzw. „Hakenkreuzler“

wären unter Arbeitern und Angestellten bloß von Arbeitgebern Genötigte gewesen. Der Wechsel aus dem sozialistischen Milieu nach weit rechts begann nicht erst 1932/33 bzw. nach dem Februar 1934. Schließlich ist zu beobachten, dass die „Schwäche“ der NSDAP 1930 in Österreich wie in der Steiermark primär durch die auffällige Stabilität des Landbund-Milieus sowie durch die Kandidatur und den Erfolg des Heimatblocks verursacht wurde; noch dominierten ein agrarischer Deutschnationalismus und ein quasi an traditionell-konservativen Mustern orientierter Rechtsextremismus über den völkisch-radikalen. An Mandaten ging die NSDAP im Nationalrat wie im Landtag leer aus. Der Heimatblock dagegen erzielte für den Nationalrat im obersteirischen Wahlkreis sein einziges Grundmandat, das ihm schließlich acht Sitze im Parlament eintrug; es wurde durch Josef Lengauer von den UG besetzt, eines der sieben Restmandate bekam Sepp Hainzl, Bauer aus Oberkurzheim bei Pöls. In den inzwischen auf 48 reduzierten Landtag entsandte der Heimatblock sechs Mandatare. Mit Ausnahme Horniks, des bisherigen Großdeutschen aus Bruck an der Mur, waren das „Newcomer“ in politischen Funktionen, einen „Namen“ hatte unter ihnen nur August Meyszner. – Der Schoberblock kam im Landtag auf acht Mandate, davon sechs für Leute aus dem Landbund. 375 SDAP und CSP besetzten jeweils 17 Mandate, die letzte nur aufgrund der Wahl­ arithmetik. Die neue Landesregierung In der Bundespolitik wurde die im September geplatzte Regierungskoalition wiederbelebt; Christlichsoziale und Schoberblock verfügten mit zusammen 85 Mandaten gegenüber den 72 Sozialdemokraten und den acht Männern (!)

Ableitinger / Unentwegt Krise

119

vom Heimatblock über eine wechselnde Mehrheiten. Vor hinreichende Mehrheit. Soallem: Wer immer als Lanlange die Querelen zwischen deshauptmann fungieren jenen in der CSP, die ihre würde, konnte im KollektiBeziehungen zu den Heimvorgan Landesregierung wehren weiter pf legten, und nicht sicher mit Zustimmung dem Landbund bzw. Schober rechnen.) persönlich nicht neuerlich Vielleicht setzte anschlieausbrachen, kam dem Heißend deshalb die SDAP dem matblock keine relevante Vorschlag, Rintelen wieder Rolle zu. Am 4. Dezember zum Landeshauptmann zu 1930 trat die neue Regierung wählen, wenig Widerstand ins Amt – mit dem bisherientgegen. Aber sie hielt fest, gen Vorarlberger Landesdass Rintelen „mitveranthauptmann Otto Ender als wortlich“ wäre für das wähKanzler und Schober als Aurend der letzten Jahre eingeßenminister. rissene „Regieren mit einer Landtagspräsident Franz Kölbl Am gleichen Tag konstisehr widerstrebenden GeDAG tuierte sich der steirische setzlichkeit“. Auch Hartleb Landtag. Weniger als die bekundete namens des LandHälfte seiner Mandatare (23 von 48) hatten dem bundes, dass Rintelen kein „uneingeschränktes vorangegangenen angehört. Wie in Wien war Vertrauensvotum“ erwarten dürfe. Schließlich auch in Graz mittlerweile die bürgerliche Ko- bekam der aber doch 30 Stimmen, d. h. alle alition geschmiedet, also wurde Franz Kölbl außer denen der SDAP. Diese gab leere Stimmeinstimmig wieder zum Präsidenten gewählt; zettel ab; anders als bei Rintelens „Neuwahl“ Machold anerkannte ausdrücklich dessen jahre- 1928 verzichtete sie aber darauf, jemandem aus lange korrekte Amtsführung und ventilierte nur ihrer Fraktion vorzuschlagen, sozusagen als kurz, dass das Amt der stimmenstärksten Partei „Zählkandidaten“. gebühre, also der SDAP. Kontroverser war die Das Personal der Landesregierung erfuhr Zusammensetzung der Landesregierung: je ein starke Veränderungen: Die SDAP nominierte Sitz in ihr fiel gemäß Wahlresultat dem Scho- Machold, Oberzaucher, Regner und erstmals ber- bzw. dem Heimatblock zu. Von den ver- Leichin (Pongratz schied krankheitsbedingt aus, bleibenden sieben Positionen konnte bei dem er verstarb 1931). – Die CSP ersetzte den Bauern Mandatsgleichstand von 17 : 17 zwischen den Alois Riegler durch Josef Pichler, einen Gymzwei großen Fraktionen nur eine vier besetzen. nasialprofessor aus Bruck an der Mur, bislang Nach kurzer Debatte entschied das Los. Es fiel Mandatar im Nationalrat; Zenz blieb. – Anzugunsten der SDAP. In der Landesregierung stelle Winklers kam namens des „Schoberhieß es somit nun 4 : 3 : 1: 1. (Weil in der blocks“ der Landbündler Anton Höpf l (Winkler Bundespolitik die gewohnten bürgerlichen Ko- wechselte, angeblich als „Präponent“ Rintelens, alitionen seit 1929 instabil geworden waren und in die Bundespolitik und wurde im Kabinett mit dem Auftreten des Heimatblocks noch in- Ender Innenminister). – Der Heimatblock, für stabiler zu werden drohten, hatten nun auch die den Pfrimer nicht kandidiert hatte, nominierte neuen Proportionen in Graz das Potential für August Meyszner.376

120

Ableitinger / Unentwegt Krise

Die „große Krise“ 1930 bis 1934. Wirtschaftliche, soziale und mentale Verwüstungen. Zerfall des politischen Systems Einbruch der Wirtschaft: Fakten und Ursachen Nichts beherrschte die erste Hälfte der 1930er Jahre in Europa – und vielfach darüber hinaus – so sehr wie die „große Krise“. Einem Tsunami vergleichbar, kam ihre Springf lut unerwartet rasch, ihre Wassermassen überschwemmten nahezu alles, sie sickerten überall hin und infizierten mit ihren Keimen, was immer mit ihnen in Kontakt geriet. Wir wagen hier ein Tableau bzw. eine Skizze dessen, was der Tsunami „anrichtete“. An die Spitze ist seine ökonomische Dimension zu stellen. Die Krise war nach räumlicher Ausdehnung und Zahl der negativ von ihr Betroffenen, nach ihrer Dauer und Intensität die bis dahin schwerste in der Moderne. Sie riss nicht nur Industrieregionen in ihren Sog, sondern auch agrarische sowie von Gewerbe und Handel dominierte Gebiete. Sie schlug sich sowohl in nie gekanntem Umfang von Arbeitslosigkeit und in Ängsten vor ihr nieder wie in Schrumpfung von Nachfrage aller Art und brachte damit unselbständig und selbständig Erwerbstätige gleichermaßen um ihre Existenz oder an deren Rand. Politik, ob nationale oder internationale, zeigte sich ihr gegenüber ohnmächtig, wenigstens durch mehrere Jahre, schon gar regionale. Kleine Volkswirtschaften und Staaten litten nur darum unter ihr noch schwerer als große, weil ihre Mittel, der Lage entgegenzusteuern, besonders gering waren. In der weitgehenden Wirkungslosigkeit der gegen sie verwendeten Medikamente, auch und gerade politischer Interventionen, unterschieden sich die einen von den anderen kaum: Gegen die eigentlichen Ursachen der Krise, den Vertrauensverlust der Kapital- und Kreditgeber, wusste die Politik national und interna-

tional keinen Rat. Konferenzen und Geheimverhandlungen jagten einander – mangels eingespielter internationaler Institutionen lange mit geringen Resultaten; (erst nach 1945 wurde z. B. der Internationale Währungsfonds IMF etabliert). Internationale Investoren zogen ihre Kapitaleinsätze zurück, das bewirkte riesige Devisenabf lüsse; nicht nur Deutschland und Österreich wurden dadurch schwer getroffen, beide aber durch innenpolitische Instabilität (dort Aufschwung von NSDAP und KPD, hier von Heimatblock und ab 1931 NSDAP) verstärkt. Internationale Finanzhäuser forderten von ihnen eingeräumte Kredite zurück und gewährten neue, wenn überhaupt, nur gegen staatliche Garantien, die wieder nur zu für die Schuldner drakonischen Bedingungen zu bekommen waren; (Österreich konnte davon viele Lieder singen). In einem Satz: Überall fehlten Kapital bzw. Kredite zwecks Finanzierung von Investitionen oder Handelsgeschäften. Entgegen allen ökonomischen Doktrinen, blieben trotz geringer Kreditnachfrage die Zinsen aberwitzig hoch; der deutsche Diskontsatz stieg mit August 1931 auf 15 Prozent. Allerdings fiel primär wegen Schrumpfung der Nachfrage die Auslastung der Produktionskapazitäten so sehr, dass fürs Erste Investitionen namentlich in Österreich gar nicht vordringlich schienen: Die „Alpine“ z. B. entließ bereits im Mai 1930 rund 1.000 Beschäftigte und sperrte im Winter 1930/31 erstmals ihr Hüttenwerk in Donawitz und den Hochofen in Eisenerz; nach Wiederinbetriebnahme sank deren Auslastung von 87,6 Prozent (1929) auf 31,7 Prozent (1933) des Wertes von 1913. Unter diesen Umständen avancierten Sich-Einschränken und überhaupt Sparen zur obersten Maxime.

Ableitinger / Unentwegt Krise

Österreichs Exporte gingen zwischen 1929 und 1933 – je nach zugrunde gelegten Preisen – um 65 bzw. 53 Prozent zurück, die Importe um 57 bzw. 42 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen wuchs von 1929 bis 1933 kontinuierlich von 192.000 auf 557.000 Personen, von 8,8 auf 26 Prozent. Die Budgets des Bundes mussten seit Ausbruch der „CA-Krise“ im Frühsommer 1931 die Investitionen scharf zurückfahren, um die Bank retten zu können – von 98,4 auf 12,5 Mill. Schilling 1932. Andere quantitativ wirksame Ausgabenkürzungen betrafen vor allem die Einkommen aktiver und pensionierter öffentlich Bediensteter (inklusive Bahn und Post), sowie Leistungen für Arbeitslose (inklusive unterschiedlicher Notstandshilfen). Stabilisierung der Staatseinnahmen – von deren tatsächlicher Steigerungen konnte ohnehin keine Rede sein – erforderte neben Hinaufschrauben von Abgabensätzen auch rigoroses Eintreiben von Steuern, z. B. ab 1931 durch Zwangsversteigerungen. Die Steuerschulden stiegen dennoch in vordem ungeahnte Höhe, umgekehrt blieben Rechnungen an die öffentlichen Kassen von diesen unbezahlt.377 Soziale und mentale Verwüstungen Die umfassende, überallhin durchsickernde Wirtschaftskrise zeitigte unvermeidlich auch soziale und mentale Wirkungen. Sie verunsicherte und desorientierte. Ihre lange Dauer machte nahezu alle vermeintlichen Gewissheiten ungewiss. Dass sie vielleicht gar kein Ende nehmen werde, löste tendenziell geläufige Verhaltensmuster auf, setzte zunehmend außer Kraft, was bislang für selbstverständlich gegolten hatte. Monate und oft Jahre anhaltende Erwerbslosigkeit – und ebenso die Besorgnis, demnächst unter ihre Räder zu geraten – gefährdeten die soziale Geltung der unmittelbar Betroffenen wie ihrer Familien. Unübersehbare Verarmung schloss von Vielerlei aus, woran man

121

herkömmlich trotz bescheidener Lebensführung hatte mitmachen können (z. B. von einem Zeitungsabonnement oder, der Beitragszahlung wegen, von einer Vereins-bzw. Parteimitgliedschaft). Gefühle von Scham und Wertlosigkeit griffen um sich. Leute gerieten aus der gewohnten Fasson. Viele wurden von Apathie erfasst, andere, ebenso viele, von Verbitterung, Neid und Wut. Doch Verunsicherung erfasste nicht allein Arbeitslose und noch Beschäftigte, sie erreichte auch selbständig erwerbstätige Bauern, Handwerker und Kauf leute. Die hatten zwar immer „etwas zu tun“ auf dem Feld, mit dem Vieh, im Haus, und ähnlich verhielt es sich bei Handwerkern in ihren Werkstätten und bei Kaufleuten in ihren Läden. Aber wenn für ihre Produkte beinahe keine Nachfrage bestand und Aufträge fast ganz ausblieben, erreichten die akuten und die Zukunftssorgen der Betroffenen und ihrer Familien ungefähr dieselben Intensität wie die der Arbeitslosen. Versicherungsprämien konnten nicht mehr bezahlt, Steuern nicht mehr entrichtet werden, „Besuche“ von Exekutoren standen bevor. Wohlstand oder bescheidenes Auskommen wurden von echter Armut abgelöst, das gesellschaftliche Ansehen im Dorf, im Markt oder in der Stadt geriet ins Rutschen. Für Desperation, Verbitterung, Neid und Wut war unter Selbständigen kaum weniger Anlass als unter Unselbständigen. Alle sozialen Gruppen erwarteten Hilfe vom Staat, von „der Politik“ und alle wurden geradezu unvermeidlich fort und fort enttäuscht. In Staaten, die im Weltkrieg besiegt und anschließend, wie nur zu gern gemeint wurde, mit „Schandfrieden“ unterjocht worden waren, waren „Schuldige“ im Ausland schnell identifiziert. Innenpolitisch wurde geradezu selbstverständlich in Zweifel gezogen, dass Einschränkungen, falls sie denn überhaupt als unausweichlich anerkannt wurden, „gerecht“ verteilt würden. Allseits herrschte die Überzeugung,

122

Ableitinger / Unentwegt Krise

die jeweils anderen Gruppen würden bevorzugt bzw. weniger hart getroffen. Vertrauen in Regierungen, Parlamente und Parteien schwand von Quartal zu Quartal. Nicht nur in Österreich wurde so in der Politik möglich, was bislang, trotz aller wechselseitigen Ressentiments, zumeist jenseits des Horizonts des Vorstellbaren geblieben war. Das rapide Anschwellen der NSBewegung, bereits 1930 im „Reich“, ab 1931 auch in Österreich, gehörte in diesen Kontext. Seine primären Antriebsmittel waren Aussichtslosigkeit und die aus ihr gewachsene Wut. Wut breitete sich vor allem in der jungen Generation aus. Nach Absolvierung der Schulpf licht meist ohne Chance, zu „eigenem Geld“ zu kommen, erlebte sie das Sozialisationsmedium „Arbeit“ jahrelang gar nicht. Die Strukturierung des Tages in (reichliche) Arbeitsstunden und (knappe) Freizeit wurde den „Jungen“ so wenig vertraut, wie sie – wenn man so sagen darf, mangels der Erfahrung „normalen Lebens“ – die klassischen Routinen des individuellen und gesellschaftlichen Alltagslebens Erwachsener nicht einübten – die Bereitschaft zu Kompromissen, das Ausbalancieren von Wünschen und der Unmöglichkeit sie zu realisieren usw. Die damals 15 bis 25 Jährigen gewinnen nicht Zutrauen in die Praxis und die Nützlichkeit der „kleinen Schritte“. Das ganze Gewebe von Regeln des sozialen Umganges, das den Älteren irgendwie selbstverständlich war, erscheint vielen der Jungen als wertlos, weil durch die Krise offenbar obsolet geworden, es fällt vielfach ihrer Verachtung anheim. Das Leben der Eltern in hergebrachten Vereinigungen sowie deren Engagement für diese nehmen sie leicht als nutzlosen Leerlauf wahr, elterliche Bindung an politische Lager als etwas von gestern. Traditionelle politische Loyalitäten („Lagerbindung“), Organisationen („Altparteien“) und Institutionen (Parlament, Behördenapparate) blieben ihnen entweder fremd oder sie gelten ihnen als feindseliges Umfeld, als Verursacher der allge-

genwärtigen Misere, als bloß mit sich selber und mit Wahrung des eigenen Status befasst, als „korrupt“ usw. So werden Burschen und junge Männer, aber auch reichlich Mädchen und junge Frauen gar nicht mehr „schwarz“ oder „rot“ bzw. hören auf, das eine oder andere zu sein. Je aktiver ihr Temperament ist, desto empfänglicher sind sie für „ganz Anderes“ – nicht nur, aber besonders für „Braunes“. Dessen Aktivismus und Radikalismus faszinieren, von ihm gehen fortwährend Appelle zum Mitmachen aus, nicht zuletzt zum Mitwirken an Verbotenem und Konspirativem. „Braun“ avanciert sozusagen zur Mode. Seiner vermeintlichen Modernität vermögen sich viele junge Leute auch wegen des geläufigen jugendspezifischen Anpassungszwanges an das je Aktuelle nicht zu entziehen. Das steirische Landesgendarmeriekommando diagnostizierte die Lage mitsamt der ihr innewohnenden Dynamik im Juni 1932 zwar etwas simpel, aber insgesamt ziemlich richtig, als es an das Bundeskanzleramt berichtete: Die Arbeitslosen wären „mangels irgendwelcher Beschäftigung […] leicht zur Teilnahme an Versammlungen, Aufzügen und Demonstrationen zu bewegen“, und es fiele „gewissenlosen Hetzern in dieser Atmosphäre von Hunger und Not“ nicht schwer, „die Massen aufzupeitschen und zu Gewalttaten zu verleiten“.378 Das war, nach den Wahlen vom 24. April, keine Prognose mehr. Das politische System von 1918/20 war „von unten“ schon erheblich ausgewaschen. Zerfall des politischen Systems von 1918/20 Die wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Verwüstungen, die die „große Krise“ mit sich brachte, zerstörten mit den Jahren das politische System Österreichs, das 1918/20 etabliert worden war. Mit dem Aufstieg der NSDAP bekam es dieses System mit einem Faktor zu tun, der es mit legalen und außerlegalen Mitteln absolut

Ableitinger / Unentwegt Krise

bekämpfte und der, wenn man den Blick nach Deutschland richtete, erwarten ließ, dass er noch viel weiter anzuschwellen werde. Ob es systemkonforme Optionen gab, der NS-Bewegung erfolgreich zu begegnen, steht dahin. Denn keine von ihnen wurde in der Praxis realisiert. Die maßgeblichen österreichischen Parteien, ausgenommen die Großdeutschen, blieben auf die Rollen fixiert, die sie seit 1920 gewählt hatten: Christlichsoziale und Landbund sahen keine Alternative, als am Regierungskurs festzuhalten, d. h. an der am Mainstream europaweiter Wirtschafts- und Finanzpolitik orientierten Linie liberal-konservativer Instrumente von Krisenbekämpfung. Ihr auf die Erfahrung des ersten Nachkriegsjahrzehnts gestütztes Credo lautete, Österreich sei zu klein für autonomes Agieren, es dürfe ausländische Investoren bzw. Kreditgeber auf keinen Fall vor den Kopf stoßen, es sei dazu verurteilt, sich deren Vorgaben zu fügen, vor allem der Wahrung des Geldwertes bzw. ausgeglichener Staatshaushalte. Dafür fand sich freilich immer schwerer eine Mehrheit im Nationalrat. – Die Großdeutschen, die die NSDAP schon seit 1930 im Nacken spürten, f lohen aus ihr definitiv im Jänner 1932; die Majorität mutierte zur Minderheit. – Die Sozialdemokratie, während des Ministeriums Schober und zu Anfang der Kanzlerschaft Enders stillschweigend kooperierend, verweigerte, an Stelle der Großdeutschen an einer stabilen neuen Regierungskoalition mitzuwirken oder ein Minderheitskabinett verlässlich zu tolerieren:379 Sie zog es prinzipiell vor, den vermeintlich finalen Einsturz des „Kapitalismus“ abzuwarten. Nur seit ab Mai/Juni mit der Krise der Creditanstalt („CA“) die Existenz der weitaus wichtigsten Bank Österreichs auf dem Spiel stand, ließ sie mehrere Gesetze zu deren Rettung passieren; z. T. stimmte sie ihnen sogar zu.380 Aber zu einer formellen Regierungskoalition fand sie sich, wie bemerkt, nicht bereit, und selbst das Anschwellen der NSDAP in den

123

Wahlen vom April 1932 veranlasste sie zu keinem Kurswechsel. Sie forderte vielmehr Seite an Seite mit dieser sofortige Neuwahlen zum Nationalrat, die nach Lage der Dinge schwerlich dessen effizientere Arbeitsfähigkeit bewirkt hätten.381 In einem Satz: spätestens seit damals war das unentbehrliche Fundament des parlamentarischen Systems von 1918/20, die Bereitschaft der Parteien und Fraktionen um der Regierbarkeit des Landes willen wenigstens an Minimalkompromissen mitzuwirken, dem Zerbersten nahe. Im Laufe von 1933 kam das System an sein Ende. Die komplexen Prozesse auf dieses Ende hin, die Prozesse, in denen die „politische Klasse“ Österreichs de facto Suizid beging und dem von ihr selbst beim Start der Republik geschaffenen Gefüge das Grab schaufelte, können hier nicht dargestellt werden. Nur die vier Phasen sind zu skizzieren, in denen diese Prozesse verliefen. Die erste zwischen Frühjahr 1931 und Jänner bzw. April/Mai 1932 war noch weitgehend von den gewohnten parlamentarischen Verhältnissen bestimmt. Allerdings machte die wachsende Resonanz für die NSADAP sowie die Unberechenbarkeit des seit 1930 auch im Nationalrat agierenden Heimatblocks das Regieren schwieriger als zuvor. Die herkömmliche „bürgerliche“ Regierungsmehrheit war nicht mehr zusammenzuhalten. Das Scheitern des Projekts einer österreichisch-deutschen Zollunion am Einspruch vor allem Frankreichs (Sommer 1931) veranlasste die Großdeutschen zum Wechsel in die Opposition; ab Jänner 1932 wurde das mit dem Ausscheiden Außenminister Schobers aus dem Kabinett Buresch definitiv. Das Ministerium verfügte über keine Mehrheit mehr, die SDAP war nur noch willig, sie bis zu den AprilWahlen zu tolerieren. Die zweite Phase währte vom April bzw. Mai 1932 bis zum 4. März 1933. Sie setzte mit

124

Ableitinger / Unentwegt Krise

dem 24. April ein, an dem die Landtage von Wien, Niederösterreich und Salzburg turnusgemäß neu gewählt wurden sowie in der Steiermark und Kärnten die meisten Gemeinderäte. Alle diese Wahlgänge brachten einen signifikanten Aufschwung der NSDAP – primär zulasten der Regierungsparteien, sekundär auch des Heimatblocks. Seitdem forderte die Sozialdemokratie wie gesagt zusammen mit der NSDAP, obschon sie auf den Straßen mit dieser gleichzeitig heftigste Auseinandersetzungen austrug, Neuwahl des Nationalrates. Was sie davon erwartete, stand dahin; im „Reich“, speziell in Preußen, feierte der Nationalsozialismus gerade noch größere Siege auf ihre Kosten. Es dauerte vier Wochen, bis eine neue Bundesregierung mit Engelbert Dollfuß als Kanzler gebildet war (20. Mai 1932): Sie stützte sich auf eine Allianz von CSP, Landbund und Heimatblock, die rechnerisch über 83 der 165 Sitze im Nationalrat, mithin über eine knappe, aber hinreichende Mehrheit verfügt hätte, wenn sich nicht der Steirische Heimatschutz mittlerweile von der Bundesführung unter Starhemberg abgespaltet hätte. Die Steirer wollten an einer Parteien- bzw. parlamentarischen Koalition nicht teilnehmen; das kostete diese zwei Mandate, sodass die Regierungsmehrheit auf eines schrumpfte.382 Um dies zu vermeiden, hatte der Heimatblock zwischendurch in das Kabinett nur eintreten wollen, wenn Rintelen Kanzler bzw., etwas später, wenigstens Außenminister würde. Davon versprach sich die Wiener Führung des Heimatblocks anscheinend, den Riss zwischen ihr und dem Heimatschutz in Graz kitten zu können. Schließlich begnügte sie sich mit Rintelen als Unterrichtsminister. Der selber fand, relevant wäre nur, dass er überhaupt Mitglied des Ministeriums werde. (Im Übrigen blieb er außerdem Landeshauptmann.)383 Ob diese Logik aufging, musste sich erst zeigen. Aber davon unabhängig zerriss Dollfuß’ Allianz mit dem Heimatblock die letzten Ge-

sprächsfäden zur SDAP, die freilich selber keinen alternativen Ausweg offerierte. Das politische System von 1918/20 kollabierte, wenn weder Großdeutsche noch Sozialdemokraten eine Bundesregierung zumindest tolerierten. Die Vorgänge bis Mitte März 1933 trieben auf diesen Zerfall hin: Im August 1932 stand die Ratifikation der mühsam ausgehandelten „Anleihe von Lausanne“ an, gegen die nicht nur die NSDAP agitierte. Die Bedingungen, zu denen sie gewährt wurde, waren freilich extrem unpopulär – voran die Erneuerung des AnschlussVerzichts von 1922. Andererseits waren die Folgen unausdenkbar, wenn die Anleihe an Österreich gescheitert wäre. Trotzdem bekämpfte auch die SDAP sie gemeinsam mit den Großdeutschen und zwei Heimatblock-Mandataren in National- und Bundesrat mit aller Konsequenz.384 – Auch in der Folge trat keine Entspannung ein. Deshalb fand das Verlangen der Heimwehr-Minister, autoritär ohne bzw. gegen das Parlament zu regieren, bei Dollfuß mehr und mehr Resonanz. Im Oktober erließ er die erste Notverordnung unter Berufung auf das „Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz“ von 1917. Anfang März 1933 grub er eine Verordnung von 1914 aus, derzufolge gegen streikende öffentliche Bedienstete, damals gegen Eisenbahner, mit Strafen bis zur Entlassung vorgegangen werden konnte. Das führte am 4. März zu der schicksalhaften Debatte im Nationalrat, in deren Verlauf dessen drei Präsidenten diese ihre Funktion niederlegten (sog. „Selbstausschaltung“).385 Die kurze dritte Phase, März bis Mai 1933, war eine des Überganges. Dollfuß verlangte von der SDAP Zustimmung zu Änderungen der Bundesverfassung, die ihn ermächtigt hätten, mittels Notverordnungen weitgehend ohne Parlament zu regieren. Ohne solche Reformen wollte sein Kabinett den Nationalrat nicht wieder zusammentreten lassen. Am 15. März wies er tatsächlich Polizei an, Abgeordnete am Be-

Ableitinger / Unentwegt Krise

treten von dessen Sitzungssaal zu hindern. So viel bekannt ist, waren bis dahin ernsthafte Gespräche über Verfassungsreform gar nicht zustande gekommen; die SDAP scheint auf dahin zielende Entwürfe von Dollfuß nicht reagiert zu haben. Im Gegenteil, zusammen mit Nationalsozialisten und Großdeutschen hatte sie vor dem 15. März in drei Landtagen die Rückkehr zum chaotischen Status quo vor dem 4. März beschlossen – und wiederum sofortige Neuwahl des Nationalrates gefordert.386 Das alles geschah, obwohl nach seinem Wahlsieg im „Reich“ vom 5. März der Nationalsozialismus dort binnen Tagen mittels zumeist gewalttätiger Aktionen beinahe die gesamte Staatsmacht an sich riss („Gleichschaltung“ der Länder zwischen 6. und 10. März).387 Dollfuß erließ darauf am 7./8. März ein allgemeines Demonstrationsund Aufmarschverbot und eine Verordnung über Pressezensur; beide Maßnahmen richteten sich sowohl gegen die österreichische NSDAP wie gegen die Sozialdemokratie. Am 31. März löste seine Regierung zudem im ganzen Land den Republikanischen Schutzbund auf – ein Kurzschluss ohne strategisches Kalkül oder eine Vorleistung für intensivere Beziehungen zu Mussolini? Allerdings wurde nach den Waffenlagern des „Resch“ noch nicht konsequent gesucht – vielleicht ein letzter Wink an die SDAP zur Kooperation? Während der vierten Phase, die etwa im Mai 1933 begann, betrieb Dollfuß die Etablierung eines definitiv autoritären politischen Systems schließlich aktiv. Dafür waren zwei Motivationen maßgeblich: außenpolitisch Unterstützung von Mussolinis faschistischem Italien gegen die akute Bedrohung Österreichs durch die Hitler-Regierung in Berlin zu mobilisieren und innenpolitisch, wie der Kanzler sagte, „das, was die Nazi versprechen […], gemildert durch verschiedene Richtungen bei uns, selber (zu) machen“. 388 Für Dollfuß und andere in der CSP-Führung schloss das ein,

125

endgültig scharf gegen die SDAP vorzugehen. Dahin brauchten ihn Parteifreunde, seine Minister aus der Heimwehr und Mussolini kaum mehr zu drängen. Schon zu Ostern 1933 bahnte er in Rom engeres Einvernehmen mit dem Duce an. Den Preis dafür zu entrichten, d. h. die politische Macht der politischen Linken in Österreich vollständig zu beseitigen, fiel ihm zunehmend leichter. Sozusagen als erste Raten darauf wurden der Mai-Aufmarsch der SDAP untersagt und am 26. Mai ohne besonderen Anlass ein Betätigungsverbot über die KPÖ verhängt. Der Kanzler erwartete nichts mehr von der heimischen Sozialdemokratie und nichts mehr vom Parlamentarismus und dessen Parteien. Bereits im Juni glaubte Dollfuß, auf Italiens Rückendeckung verlässlich setzen zu können. Schwerlich hätte er es sonst riskiert, am 19. Juni eine neue Woge von NS-Terror mit dem vollständigen Verbot und der Auf lösung der NSDAP (sowie der Steirischen Heimatschutzes) zu beantworten. Viele ihrer „Führer“ wurden interniert, viele f lohen ins „Reich“. Aber ab dem Herbst nahm die NSDAP ihren „Kampf “ in und um Österreich „illegal“ wieder auf. Umso dringlicher wurde es, einen Modus Vivendi mit Hitlers Regierung zu finden. Mussolini sollte ihn vermitteln, nicht zuletzt deshalb schickte Dollfuß Rintelen als Gesandten nach Rom. Im Inneren vertraute der Kanzler ab Sommer 1933 ganz auf den „starken“ Staat, insbesondere auch auf dessen Exekutive. Zu dessen Abstützung in der Bevölkerung sollte neben der explizit „österreichischen“ Heimwehr Starhembergs eine politisch-institutionelle Innovation dienen, die „Vaterländische Front“, die Ende Mai 1933 ins Leben gerufen wurde. Die christlichsoziale Partei, der er angehörte, spielte für Dollfuß kaum mehr eine Rolle.389 Im September charakterisierte der Kanzler das künftige Österreich als christlich, deutsch, ständisch und autoritär („Trabrennplatzrede“). Signale, die im

126

Ableitinger / Unentwegt Krise

Herbst aus der SDAP kamen, griff er nicht mehr auf. Mit dem mehrfach angekündigten bewaffneten Aufstand des „Proletariats“ rechnete er nicht mehr, er hielt es durch die Wirtschaftskrise und wegen der Nadelstiche, die seine Regierung ihm fortwährend zufügte, für zermürbt. Als die „Erhebung“ im Februar 1934 dennoch stattfand, ließ er sie militärisch massiv bekämpfen und nach ihrem raschen Erlöschen einige ihrer „Führer“, darunter Koloman Wallisch, durch Standgerichte zum Tod verurteilen und tatsächlich exekutieren. Zu der Zeit wurde bereits am Verfassungstext für den „Bundesstaat Österreich“ gearbeitet – eine Art Imitation des italienischen Faschismus (H. Konrad). Am 1. Mai 1934 wurde die gänzlich neue Bundesverfassung beschlossen. Doch noch bevor Dollfuß an deren Umsetzung gehen konnte, wurde er in seinen Amtsräumen am 25. Juli im Zuge des NS-Putsches ermordet. Inzwischen war Österreich eine, gemessen an der von 1918/20, ganz andere Republik geworden. Ihre Akzeptanz in der Bevölkerung blieb hinter der der früheren noch deutlich zurück. Die Krise und die steirische Politik Selbstverständlich erfasste die „große Krise“ auch die Steiermark – wirtschaftlich, sozial, mental und politisch. Was das Gendarmeriekommando im Juni 1932 geschrieben hatte, war insgesamt richtig: Die politische Ordnung von 1918/20 wurde gerade auch „von unten“ ausgehöhlt. Die Agitation der heimischen NSDAP, viel „moderner“ und also wirksamer als die der „Hahnenschwanzler“ in deren besten Zeiten, ließ die öffentliche Erregung auch im Land weiter um einige Hitzegrade ansteigen. Trotzdem sah die offizielle steirische Politik mit einer Ausnahme, dem „Pfrimer-Putsch“, zwischen der Jahreswende 1930/31 und Frühjahr 1933 fast wie gewohnt aus. Die gemäß Landesverfassung gesicherte Präsenz aller rele-

vanten Landtagsparteien in der Landesregierung sorgte auch im Landtag für ein in der Regel ausreichendes Arbeitsklima. Dazu kam das Selbstverständnis der Regierungsmitglieder, in der Regierung nicht als Parteipolitiker fungieren zu sollen, sondern als quasi sachlich-objektive Repräsentanten des gesamten Landes. Das färbte auf den Landtag ab – wenn es auch nicht oft die dort beliebte, scharfe Rhetorik dämpfte, noch weniger die in den Medien gegeneinander praktizierte. Unabdingbare politische Basis solchen Arbeitsklimas war freilich, dass Christlichsoziale und Sozialdemokraten trotz ihrer Zerwürfnisse auf Wiener Boden im Land einigermaßen erträglich miteinander umgingen.390 Das bewies, wie gezeigt, die Premiere des neuen Landtags im Dezember 1930. Auch 1931 wird in Landstube und Landesregierung anfangs grosso modo wie herkömmlich konstruktiv zusammengearbeitet. Man freut sich gemeinsamer Erfolge, z. B. wenn es gelungen ist, die Stadt Wien vertraglich zu veranlassen, große Strommengen der STEWEAG zu beziehen, oder die Bundesbahn zu bewegen, der „Alpine“ viel Kohle abzunehmen.391 Fast alle Kapitel des Landesbudgets für 1931 werden einstimmig verbschiedet und außerdem schnell.392 Im März 1931 beschließt der Landtag, wieder einstimmig, ein Programm produktiver Arbeitslosenfürsorge (42.000 Arbeitswochen zu je 50 Schilling), ein Volumen, das Fritz Matzner (SDAP) ausdrücklich lobt, dazu ein spezielles Projekt für jugendliche Arbeitslose.393 Der Heimatblock fungiert, auch wenn er mitunter polternd auftritt, vorerst kaum als Störenfried.394 Wenn es Kontroversen gibt, wiederholen sie solche, die zuvor bereits im Nationalrat ausgetragen wurden – und natürlich Tag für Tag in der steirischen Presse. Die Konf likte der Bundespolitik sind selbstverständlich allgegenwärtig. Im Jänner 1931 beantragt z. B. die SDAP auch im Landtag, womit sie in bereits in Wien gescheitert ist: dass in Zukunft Be-

Ableitinger / Unentwegt Krise

triebsschließungen durch Privatunternehmen nur mit Zustimmung der Bundesregierung erfolgen dürfen. (Die ÖAMG hat gerade mit solchen Schließungen begonnen.) Das ist gut antikapitalistisch. Rintelen dagegen warnt, so massiv staatlicherseits einzugreifen, gefährde es, Kredite aus dem Ausland zu erhalten, weil das Kapital, das hierher kommt, […] gewissermaßen […] gefangen genommen würde. Auch der Heimatblock will die Demagogie der SDAP nicht unterstützen und stimmt gegen den Antrag, dem seine Nationalratsfraktion aber beigetreten war.395 Ab Frühjahr 1931 wird es im Landtag ernster. Die „Creditanstalt-Affäre“ schlägt voll auf ihn durch. Der Heimatblock kritisiert das zweite „CA-Gesetz“, das Garantien für die Auslandsgläubiger enthält, und beschuldigt die SDAP, die das Gesetz am 28. Mai im Nationalrat hat passieren lassen, sie verrate Arbeiterinteressen. Meyszner denunziert Machold und wird dafür von Matzner als Praterschreier qualifiziert (29. Mai). Auch beim nächsten Mal, am 8. Juni, ersparen die zwei einander nichts. Die Christlichsozialen halten sich zurück und missbilligen nur vorsichtig den Ton, der sonst hier nicht üblich ist, der sonst üblich ist irgendwo draußen. Sie tun sich sichtlich schwer dabei, gute Beziehungen zum Heimatblock und erträgliche zur Sozialdemokratie gleichzeitig aufrecht zu erhalten.396 Die Zuspitzungen sind nicht zuletzt Folge der Konf likte innerhalb der Heimwehr-Bewegung. Seit 1929 hat sie keine echten Erfolge mehr. Den „Marsch auf Wien“ hat sie nicht gewagt, mit ihrer halbherzigen Kandidatur bei den Wahlen hat sie nicht beweisen können, dass sie die „unwiderstehliche Volksbewegung“ ist, als die sie sich ausgibt. Im April 1931 erzielt sie bei Landtagswahlen in Oberösterreich um 21.000 Stimmen weniger als ein halbes Jahr zuvor. Darauf wird ihr Bundesführer Starhemberg am 2. Mai wieder von Pfrimer abgelöst, der stets gegen Kandidaturen bei Wahlen oppo-

127

niert hat. Er setzt auf direktere Machtergreifung. Die Misere der Wirtschaft sieht er als „die entscheidende Triebfeder“, um wieder „angreifen“ zu können. Der Zusammenbruch der Creditanstalt bzw. die Kosten ihrer Rettung eignen sich zur Mobilisierung. Mitte Juni lässt Pfrimer im „Panther“, der seit März 1930 in Graz erscheinenden Wochenzeitung des Heimatschutzes, ein Volksbegehren ankündigen, wonach am CA-Debakel „Schuldige“ strafrechtlich verfolgt werden sollen. Dafür gibt es bis zum Ende des Sommers österreichweit 620.000 Unterschriften.397 Pfrimer-Putsch Vorgeschichte und Verlauf Das alles bildet den Hintergrund des „PfrimerPutsches“ Mitte September 1931. Seit August tritt Pfrimer seiner Auslösung näher. Er glaubt, dass das Ende des Projektes der Zollunion mit Deutschland die Zustimmung der Bevölkerung für einen Gewaltstreich fördern werde. Warnungen von Konstantin Kammerhofer, seinem Stellvertreter in der Steiermark, und Hanns Rauter schlägt er in den Wind. Er vertraut den Einf lüsterungen des Grafen Othmar Lamberg; (möglicherweise fungierte der bereits als NSAgent).398 Auch denkt Pfrimer, dass die Skeptiker mitgehen würden, sobald die Aktion erst einmal begonnen ist. Ab 7. September reift sein Entschluss zur bewaffneten Aktion. Er führt zahlreiche Gespräche und schreibt Briefe. Zweif lern gegenüber behauptet er, Zusagen von Regierungspolitikern, darunter Rintelen und Meyszner, sowie aus der Exekutive bekommen zu haben. Dabei verschleiert und verschweigt er. Kammerhofer wird noch am 12. September davon überrascht, dass sich auf einem Aufruf, der die Aktion bekannt machen soll, nur Pfrimers Unterschrift befindet, nicht, wie versprochen, die

128

Ableitinger / Unentwegt Krise

von prominenten Unterstützern.399 Es ist möglich, dass Pfrimer von Lamberg – vielleicht auch von Rintelen – irregeführt wurde,400 und es ist ungewiss, ob er selbst noch Realitäten, Wunschvorstellungen und von ihm verbreitete „Notlügen“ zu unterscheiden wusste; (seine Konfusion während der entscheidenden Stunden spricht dafür, dass er es nicht konnte). Schließlich werden die steirischen Heimatschutzverbände für Samstag, den 12. September 1931, 23 Uhr in Alarmzustand versetzt. In der Obersteiermark handeln sie während der Nacht tatsächlich weithin energisch, namentlich im Raum Kapfenberg/Af lenz, in Stainach verhaften sie Landesrat Leichin (SDAP), in Gröbming den Nationalratsabgeordneten Thoma (LB) und Bundesrat Döttling (CSP). In der Annahme, sie agierten in Übereinstimmung mit den Behörden, treten sie in Kontakt mit Bezirkshauptleuten und Gendarmerieposten. In Selzthal folgt der teilweise ihren Anordnungen. Meist erfahren sie aber, dass ihre Annahme auf einem Irrtum beruht. Manchmal reagieren Behörden sofort ablehnend, oft erst nach Rückfragen bei der Grazer Landesregierung. Kammerhofer, der im Bezirk Bruck an der Mur kommandiert – in Kapfenberg kommen bei einer Schießerei zwei Arbeiter zu Tode, ein Heimwehrmann wird schwer verletzt –, erfährt erst in den Morgenstunden, dass aus Wien Weisung ergangen ist, gegen den Heimatschutz vorzugehen. Hingegen ordnet Bezirkshauptmann Josef Tieber ausgerechnet in Pfrimers Heimatstadt Judenburg die sofortige Entfernung der Plakate an, mit denen Pfrimer verkündete, „in höchster Not“ vom „Volk Österreichs zum obersten Hüter seiner Rechte“ gerufen worden zu sein. Auch ein „Provisorisches Verfassungspatent“, worin Pfrimer „als Führer des Staates Österreich“ ausführliche Anordnungen trifft, erleidet dasselbe Schicksal.401 Pfrimer selbst fährt mit Lamberg nach Grambach bei Graz und überrascht dort um

etwa 2 Uhr den Eigentümer des „Spielerhofes“, der nichts davon weiß, dass er Gastgeber sein sollte. Lamberg wird zu Rintelen gesandt, während Pfrimer sich zur Ruhe legt. Unterdessen wird die Landeshauptstadt von Einheiten des Heimatschutzes großräumig „zerniert“, was weitgehend gelingt; Einmarsch in die Stadt wird jedoch nicht befohlen. Inzwischen erscheint Meyszner bei Pfrimer und verlangt, Heimatschützer dürften keinesfalls gegen die Exekutive vorgehen; das wird von Pfrimer angeordnet. Lamberg, der um ca. 5 Uhr zurückkehrt, hat nur zu melden, dass Rintelen gefordert hat, das gesamte Unternehmen sofort zu beenden. Der Landeshauptmann hatte bereits von der Festsetzung Leichins und Thomas erfahren, Meldungen aus der Gendarmerie empfangen und darauf mit Kanzler Karl Buresch telefoniert. Dabei war zwar über eine Amnestie für die Aufrührer gesprochen, aber vor allem vereinbart worden, „die Sache“ ruhig, aber bestimmt bis zum Abend zu erledigen. Demgemäß kommandiert Rintelen nicht sofort Polizei nach Grambach, um Pfrimer zu verhaften, sondern lässt dem Zeit zur Flucht. Pfrimer reagiert vorerst „völlig apathisch“. (Ob er wegen Alkoholisierung oder anderer Drogen eine Herzattacke erlitt oder diese nur fingiert wurde, steht dahin.) Erst am Vormittag f lieht er über einige Zwischenstationen in seine Geburtsstadt Marburg. Seine „Stelle als Bundesführer“ legt er nieder.402 Der Putsch war, wie kaum anders möglich, misslungen. Über die Steiermark hinaus war im Wesen nur aus dem Ennstal ein Vorstoß in den Raum Amstetten erfolgt, ausgeführt von Leuten aus dem oberösterreichischen Kremstal.403 – Pfrimer selbst hatte in dem ganzen Unternehmen die kläglichste Rolle gespielt. – Die Bundesregierung hatte nicht gewankt – Buresch konnte allein wegen gerade in Genf anlaufender Gespräche über die neue Völkerbund-Anleihe längeren Aufruhr in Österreich nicht dulden –,

Ableitinger / Unentwegt Krise

129

Sozialdemokratische Trauerfeier mit viel uniformiertem Schutzbund in Bruck an der Mur für die Opfer des „PfrimerÖNB/Wien Putsches“. Am Podium Karl Renner, 16. September 1931

ließ aber die Heimatschützer samt ihren Waffen quasi geräuschlos abziehen; (Bundesheer, nach Bruck an der Mur in Marsch gesetzt, bewegte sich auffällig langsam). Parteipolitische Reaktionen und die Landtagsdebatte Die steirischen Christlichsozialen missbilligten den Putsch „schärfstens“, verlangten, die Schuldigen zur „Verantwortung“ zu ziehen, warnten aber gleichzeitig davor, „mit aller Wucht gegen die Irregeführten“ vorzugehen; „Massenverhaftungen“ lehnten sie ab. Sie betrieben Schadensbegrenzung, wollten ihre Fäden zum Heimatschutz nicht vollends abreißen lassen. Umso

mehr attackierte die SDAP den Heimatschutz, sie forderte dessen behördliche Auf lösung und die Beschlagnahme seiner Waffen. – Die heimische NSDAP versuchte sofort, von Pfrimers Niederlage zu profitieren und dessen enttäuschte Anhänger auf ihre Seite zu ziehen. Aber trotz des blamablen Verlaufs seines Putschs war der Heimatschutz noch nicht an seinem Ende. Ihm kam vielmehr zustatten, dass viele öffentlich Bedienstete, vor allem aus der Exekutive und der Lehrerschaft wegen Beteiligung am Putsch straf- und/oder disziplinarrechtlich angezeigt wurden. Schon im Herbst wurden sie häufig als „Märtyrer“ angesehen, das öffentliche Klima begann sich zu ihren Gunsten wieder zu drehen.404

130

Ableitinger / Unentwegt Krise

Möglicherweise unter diesem Eindruck diskutierte man den Putsch im steirischen Landtag am 20. November mit Ausnahme eines Zusammenstoßes zwischen Rintelen und seinem Stellvertreter Machold reservierter, als es am 1. Oktober im Nationalrat geschehen war.405 Als Hauptredner der SDAP erklärte Machold, dass man inzwischen über das Staatsverbrechen vom 13. September mit einer ruhigeren Auffassung und Kritik sprechen könne. Er konzedierte sogar den meisten derjenigen, die mitgetan haben, irrgeführt worden zu sein. Wäre nicht wahrheitswidrig vom Heimatschutz behauptet worden, zwischen Schutzbund und Exekutive fänden im Ennstal schwere Auseinandersetzungen statt, in denen die Gendarmerie aufgerieben würde, wäre ein großer Teil dieser Heimwehrmänner nicht mitgegangen. Es klang, als wolle Machold zum Heimatschutz abgedriftete Anhänger seiner Partei für diese zurückgewinnen. Umso mehr nahm er sich Rintelen vor. Dass der vorgebe, vom Putsch ebenso überrascht worden zu sein, wie das die meisten Heimwehrführer für sich reklamierten, glaubt niemand, außer vielleicht die österreichische Justiz. Noch mehr kritisierte er, dass Rintelen pf lichtwidrig den Bezirkshauptleuten und der Exekutive keine klaren Weisungen erteilt habe, den Aufrührern entschieden entgegenzutreten. Kurz, Machold schonte die „Kleinen“, auch die in Gendarmerie und Polizei, und attackierte primär den Landeshauptmann, sekundär die Justiz, weil diese verhaftete Heimatschutzführer auf freien Fuß setze.406 – Rintelen antwortete wie zuvor im Nationalrat, er habe, um Blutvergießen zu vermeiden, besonnen gehandelt, übrigens dutzende Weisungen erlassen. Darauf, wann das geschehen war, ging er nicht ein. Zur Rechtfertigung seiner Taktik erinnerte er an Fälle von Arbeiteraufruhr seit 1919, bei welchen Sozialdemokraten ihn gebeten hätten, die Exekutive zurückzuhalten, damit wir verhandeln können. Aber dann verlor er kurz seine kühle Überlegenheit und behauptete, Machold selbst habe

ihn am 13. September damals […] auf der Burg […] angeschrieen mit den Worten: Lassen Sie doch schießen! Machold konterte empört: So eine Lüge, das ist der Landeshauptmann! – Wer von beiden log, ist unauf klärbar.407 Auffällig war, dass der Zusammenstoß der beiden nur ganz kurz dauerte und anschließend im Landtag niemand mehr auf ihn zurückkam. – Nach einigen Zwischenrufen ging die Debatte fort, im Ganzen etwa drei Stunden. Schließlich beantragte der Landbund, die Ereignisse vom 13. September zu verurteilen und, um deren Wiederholung zu verhindern, den Landeshauptmann aufzufordern, unverzüglich entsprechende Weisungen an alle Unterbehörden ergehen zu lassen. Die CSP lehnte ab, weil sie Rintelen kritisiert sah, und wurde zusammen mit dem Heimatblock überstimmt.408 Das war aber nur scheinbar ein Eklat, denn zuletzt gab es noch eine Überraschung. Gföller von der SDAP forderte Rintelen auf, bei der Bundesregierung zu erwirken, dass diese ein „Programm zur planmäßigen und planwirtschaftlichen Bekämpfung der Wirtschaftsnot“ bzw. zum „Wiederauf bau und Ausbau der österreichischen Wirtschaft“ erstellen lasse. Er griff damit Forderungen der Freien Gewerkschaften vom September auf, die der gesamtösterreichische Parteitag der SDAP in Graz Mitte November gebilligt hatte. Gföller ging aber darüber hinaus und verlangte von der Bundesregierung eine Fachmännerkonferenz einzusetzen, die das Programm im Detail ausarbeiten solle – planmäßiges Zusammenarbeiten aller arbeitenden Schichten in de facto sozialpartnerschaftlicher Manier.409 Nicht weniger erstaunlich als Gföllers Initiative war Rintelens Antwort: Sie lautete mit einigen Vorbehalten positiv, stieß sich nicht an den planwirtschaftlichen Vorstellungen Gföllers, erwähnte vielmehr das Viehverkehrsgesetz, mit welchem Planwirtschaft in gewissen Grenzen bereits realisiert werde, die hoffentlich zum Erfolge führt.410 „Rote“ wie „Schwarze“

Ableitinger / Unentwegt Krise

zeigten sich willens, die durch den Putsch entstandenen Scherben wieder zu kitten. Der „Pfrimer-Prozess“ Am 14. Dezember begann in Graz der Strafprozess gegen Pfrimer, Kammerhofer und sechs weitere Angeklagte. Pfrimer war Anfang Dezember aus Deutschland zurückgekehrt; einige Zeit war er in München gewesen und hatte dort mit NS-Kreisen Kontakte. Die Anklage lautete für alle auf Verbrechen des Hochverrates, für Pfrimer, weil „Urheber, Anstifter und Rädelsführer“ so, dass er mit lebenslänglicher Kerkerhaft rechnen musste. Die Anklageschrift war gründlich gearbeitet. Pfrimer bekannte sich nicht schuldig, bestritt, dass ein Putsch stattgefunden habe, wollte den Heimatschutz – wie schon dreimal zuvor – nur „aufgeboten“ haben, um entscheidenden Schlägen zuvorzukommen, die die Sozialdemokratie angeblich geplant hatte. Von Rintelen sagte er nur, der wäre als Vermittler zur Bundesregierung gedacht gewesen. Die Amtstätigkeit der Behörden hätten die Heimatschützer nicht behindert. Deren gewaltloses Vorgehen wurde, trotz der Festsetzung Leichins und anderer, von mehreren hohen Beamten als Zeugen bestätigt. Rintelen, nicht von der Verteidigung, sondern vom Staatsanwalt als Zeuge nominiert, unterstrich, in seine Kompetenzen wäre nicht eingegriffen, seine Amtsführung nicht behindert, Gewalt auch gegen ihm unterstellte Organe nicht ausgeübt worden. Der Staatsanwalt erkundigte sich nicht weiter. Aber er insistierte auf allen Anklagepunkten und nahm in sein Plädoyer die sarkastische Bemerkung auf, wer auf das Mittun der Exekutive hoffen könne, brauche freilich keine Gewalt gegen diese anzuwenden. Die Verteidiger setzten auf die Emotionen der Geschworenen. Einer rief, „gegen die Parteiherrschaft aufzutreten, ist nicht Hochverrat“, ein anderer appellierte, mit einem einstimmigen Freispruch „dem Fort-

131

wursteln in diesem Staat ein Ende“ zu „machen“. Die Laienrichter brauchten am 18. Dezember weniger als eine Stunde, um die Schuld Pfrimers zu verneinen. Das hatte Freisprüche für ihn und sämtliche Mitangeklagte zur Folge. Pfrimer zog mit seinen Kameraden triumphierend durch Graz, „von der Bevölkerung bejubelt“.411 Drei Tage später hielt der Landtag die Generaldebatte über das Landesbudget für 1932 ab. Sie bot den Rahmen, die Freisprüche ausführlich zu besprechen.412 Für die SDAP stellte Gföller sie mit galligem Humor in den Kontext der steirischen Atmosphäre überhaupt, wonach die Gesetze […] nur für Rot da wären, nicht aber für die anderen Gruppen. Dafür gab er einmal mehr Beispiele aus der Praxis der Gendarmerie.413 Danach wurde heftig über Zusammenstöße zwischen Arbeitern und Heimatschützern in Voitsberg gestritten, wo am 16. Dezember die Gendarmerie von der Waffe Gebrauch gemacht hatte und zwei Tote zu beklagen gewesen waren.414 Doch Resolutionsanträge zum Prozess wurden nicht gestellt, und der Landtag nahm zuletzt das Budget für 1932 sogar einstimmig an, obwohl es keine neuen Schulden vorsah und demgemäß allenthalben empfindliche Kürzungen von Ausgaben enthielt. Manifestierte sich darin wieder ein Rest von Kooperationswillen oder sogar etwas politischer Optimismus? Wendejahr 1932 Im April 1932 standen, wie erwähnt, in fünf Bundesländern reguläre Wahlen an, dreimal in die Landtage, in Kärnten und der Steiermark in die meisten Gemeinderäte; (die wichtigste Ausnahme davon machte Graz). Während der 1920er Jahre waren namentlich solche Kommunalwahlen nur von lokaler Bedeutung gewesen.415 1932 hingegen kam allen diesen Wahlgängen von vornherein Testcharakter zu. Nach

132

Ableitinger / Unentwegt Krise

rund zwei Jahren Wirtschaftskrise und hoher Arbeitslosigkeit ließen ihre Resultate Aufschlüsse darüber erwarten, ob bzw. inwieweit sich die Wählerschaft seit 1930 von den ihr gewohnten Parteien abgewandt hatte – nach links zur lebhaft agitierenden KPÖ, nach rechts zur NSDAP. Abbröckeln an diese letzte hatten primär die traditionellen bürgerlichen Parteien zu fürchten, aber auch Heimatblock bzw. Heimatschutz. Denn gerade im Frühjahr 1932 nahm die NS-Bewegung in Deutschland unter ähnlich krisenhaften Gesamtbedingungen wie in Österreich einen zusätzlichen stürmischen Aufschwung. Die NS-Bewegung. Ein Exkurs Bis Ende 1930 waren die Bäume des Nationalsozialismus in Österreich noch nicht in den Himmel gewachsen, die NSDAP war weit hinter ihren Erfolgen im „Reich“ zurückgeblieben. Gegen sie hatten Heimwehren und Heimatschutz quasi als Hitzeschild gewirkt; gelegentlich rühmten steirische Christlichsoziale deren „gemäßigten Radikalismus“.416 1932 stand u. a. in Frage, ob sie diese Funktion weiter würden erfüllen können bzw. wollen. Nationale Sozialisten gab es in der Steiermark bereits vor 1914. Damals und zwischen 1918 und 1930 waren sie nie mehr als eine Splittergruppe innerhalb des „nationalen“ Lagers gewesen. Unter dem Namen DNSAP wollte ihre kleine Partei vor allem Arbeiter gegen die „internationale Sozialdemokratie“ immunisieren und mobilisieren. 1920 bei den Nationalrats- bzw. 1924 bei den Gemeinderatswahlen erzielte sie gewisse Erfolge, z. B. in Leoben und Knittelfeld bzw. in Graz (3,8 %, zwei Sitze), aber nicht in der Arbeiterschaft, sondern bei kleinbürgerlichen Beamten und Angestellten. Danach sackte sie ab. Ideologisch hatte sie viel weniger Profil als damals die Hitler-Bewegung in München, außer was, selbst nach dem Maß-

stab jener Jahre, die besondere Aggressivität ihres Antisemitismus betraf. Wie man sich zu Hitler positionieren sollte, war innerhalb der Partei lange strittig; die Steirer in ihr hielten es tendenziell mehr mit München als mit ihrer Wiener Zentrale (Walter Riehl). Ab Sommer 1926 unterordnete sich die Mehrheit der Partei Hitler, auch sie nannte sich von da an NSDAP. In Graz hatte sie seit 1923/24 einige „Scharen“ SA („Sturmabteilung“). Die ersten waren studentische, vielleicht spielte Hanns Rauter dabei eine Rolle. Ihre Aufgabe war es, nach bayerischem Vorbild NS-Versammlungen zu schützen; im November 1923 konnten zu diesem Zweck bereits ca. 40 Mann von Graz nach Voitsberg dirigiert werden. Nicht weniger wichtig war es, dass SA „marxistische“ Veranstaltungen störte. In beiden Fällen waren Schlägereien erwünscht, auch schlimmere Gewaltakte. Von planmäßiger Terrorisierung versprach man sich mehr öffentliche Aufmerksamkeit und damit mehr Zulauf – allerdings vergeblich. Bis 1930 reüssierte die NSDAP auch in Deutschland kaum.417 Im Herbst 1928 bestellte die „Reichsleitung“ in München Walther Oberhaidacher zum Gauleiter für die Steiermark. Er bemühte sich, die deutschen Organisationsgrundsätze einzuführen – Auf bau von Ortsgruppen, auch solche von SA, HJ, NSBO (Betriebszellen), „Frauenschaften“ usw., streng hierarchische Struktur, Bestellung statt Wahl von „Führern“. Erfolge blieben vorerst trotzdem aus. Es mangelte, von einigen begabten Versammlungsredners abgesehen, weithin an geeigneten „Führern“, es mangelte an der geforderten Pateidisziplin. Mitgliedsbeiträge, Indiz für echtes Engagement, wurden nur unregelmäßig bezahlt. usw. Auch fehlte es an einem eigenen Parteiorgan im Land. Dass Oberhaidacher als „Radaubruder“ galt, schadete bei bürgerlichen „Nationalen“. 1929 wurde nur er aus seiner Partei zum Gemeinderat in Graz gewählt. Die NSDAP erhielt bloß 1.695 Stimmen, im ganzen Land soll sie damals

Ableitinger / Unentwegt Krise

Einladung zur Wählerversammlung der NSDAP/­ Hitlerbewegung mit (Hermann) Wilhelm Göring in der StLA Grazer Industriehalle am 4. November 1930

etwa 900 Mitglieder gehabt haben. Noch 1930 erreichte sie, wie gesagt, in Graz nicht mehr als 3.880 Stimmen (= 4,2 %), im ganzen Land erst 17.468, davon die meisten in Obersteier. Der Heimatblock lag zu der Zeit weit vor ihr.418 Erst 1931/32 wurde zum Wendejahr für die NSDAP. Ab März 1931 erschien in Graz „Der Kampf “, in dem Oberhaidacher regelmäßig schrieb. Im Juli 1931 wurde von der „Reichsleitung“ in München mit Theodor Habicht ein deutscher Staatsbürger als NS-„Landesinspekteur“ für ganz Österreich etabliert, ein sehr impulsiver, oft taktloser Mann. Trotzdem machte die „Bewegung“ mit ihm einen „großen Sprung vorwärts“. Mit der Autorität des von der Parteizentrale Eingesetzten unterdrück-

133

te er vielerlei persönliche Rivalitäten und Animositäten zwischen den „Führern“ im heimischen NS-Gef lecht. Die Partei bekam eine einheitliche Linie in Propaganda, Organisation und Politik. Das machte die Lage für den Steirischen Heimatschutz zunehmend schwierig. Erste Gespräche zwischen Habicht und Pfrimer noch vor dessen Putsch erbrachten nichts. Am 13. September 1931 verhielt sich die NSDAP passiv. Noch im Herbst unterwarf sich Pfrimer ihr insgeheim. Nach seiner Flucht kamen auch seine vorerst provisorischen Nachfolger mit ihr zu keinen dauerhaften Absprachen. Beide Seiten legten Wert auf Wahrung ihrer Selbständigkeit. Eine erste „Kampfgemeinschaft“ (31. Oktober 1931) zerfiel nach wenigen Wochen. Dass Habicht das große Wort zu führen beanspruchte und die Pfrimer-Putschisten in seiner Presse verhöhnen ließ, verärgerte Meyszner und Rauter; sie verteidigten sogar Starhemberg, nach Pfrimers „Abgang“ wieder alleiniger Bundesführer der Heimwehren, gegen ihn. Bis zu den Wahlen im April 1932 blieb es dabei. Heimatschutz und NSDAP waren trotz aller ideologischen Nähe sogar in der Steiermark Gegner.419 Aprilwahlen 1932: Wahlkampf und ­Wahlergebnisse Den Wahlkampf führte die österreichische NSDAP vor dem 24. April mit äußerster Aggressivität, sie wollte hinter der in Deutschland nicht zurückbleiben. Ihre Kommunikationsstrategie setzte auf „Wir gegen Alle“, auf das Neue gegen die vorgeblich verrottete alte Welt des „unfähigen Parlamentarismus“ und dessen Parteien. Mit konkreten Themen, gar mit Vorschlägen zur Überwindung der Krise gab sie sich nicht ab. Ihre Parolen waren kurz und wüst, wandten sich gegen Marxisten, „Pfaffen“ und sonstige „Verräter“ am deutschen Volk, hinter ihnen allen operierte „das Judentum“. Dem das Volks spaltenden „Klassenkampf “ wurde simpel

134

Ableitinger / Unentwegt Krise

das Ideal einer „Volksgemeinschaft“ entgegengesetzt, dem „bürgerlichen Klassendünkel“ das der (Wieder-)Vereinigung von „Arbeitern der Faust“ und „Arbeitern der Stirn“. Dieses Vokabular sollte polarisieren und fanatisieren – auf Versammlungen, bei Aufmärschen mit entsprechenden Sprechchören der SA, auf großf lächigen Plakaten. Straßen in Städten und Dorfplätze wurden mit Flugzetteln überschwemmt, viele zeigten nur das Hakenkreuz oder Hitlers Porträt. Es galt den öffentlichen Raum zu okkupieren, Gegner einzuschüchtern. Wo ihr Wille war, suggerierte die Partei, war ein Weg. Das faszinierte vor allem wütende junge Leute. Sie bekamen Aufgaben übertragen; das verlieh ihnen Bedeutung. Prügeleien mit Gegnern waren erwünscht, „Helden“ und „Märtyrer“ wurden gleichermaßen gefeiert. Die Ortsgruppen der NSDAP wetteiferten um den Nachweis ihrer „Schlagkraft“, ihre Kreisleitungen konkurrierten darum, wie viele neue Ortsgruppen sie gründeten bzw. neue SA-Trupps usw. sie aufstellten. Als Ziel wurde jeweils Verdoppelung vorgegeben. Gleichzeitig wurden Kontakte mit bürgerlichen „nationalen“ Vereinen intensiviert, diverse Berufs- und Sozialgruppen speziell umworben. Die NSDAP praktizierte die im „Reich“ bewährte Doppelstrategie, sich gleichzeitig reputierlich und revolutionär zu geben, auch in Österreich und der Steiermark.420 Naturgemäß ließen es auch ihre Konkurrenten an Vehemenz nicht fehlen. Unter ihnen war, weil die KPÖ f lächendeckende Präsenz nicht auf brachte, die Sozialdemokratie nach wie vor die im doppelten Wortsinn schlagkräftigste. Heimatschutz bzw. -block taten sich schwer; gemessen an dem der NSDAP sah ihr rechter Extremismus so „alt“ aus wie ein guter Teil ihres Personals. Die bürgerlichen Gruppen operierten etwa wie gewohnt; mit der Radikalisierung des Kampfstils vermochten sie nicht mitzuhalten.

Bei den Landtagswahlen in Wien, Niederösterreich und Salzburg erzielte die NSDAP zwischen 14 und 29 Prozent der Stimmen; sie war in den drei Ländern drittstärkste Kraft.421 Für die steirischen Kommunalwahlen existiert kein amtliches Endergebnis.422 Trotzdem lässt sich zweifellos sagen, dass die NSDAP als einzige Gruppe als Sieger aus der Wahl hervorging, wenngleich nicht so berauschend wie in Salzburg etc. Jedenfalls war sie fähig gewesen, nicht nur in fast allen größeren Gemeinden des Landes Kandidaten aufzustellen, auch in zahlreichen kleinen. Die Gesamtzahl der von ihr eroberten Mandate stieg von 21 im Jahr 1928 auf rund 300.423 Die meisten Zuwächse erzielte die Partei in Leibnitz (29,7 %) und im Bezirk Gröbming, speziell in Schladming und seinen Umgebungsgemeinden, dann in den Bergbau- bzw. Industrieorten an Mur und Mürz, aber auch in Kommunen wie Feldbach, Fehring, Hartberg, Pöllau, Kaindorf an der Sulm, Eibiswald usw. In Trofaiach und Judenburg erzielte sie deutlich mehr als 20 Prozent der Stimmen, in Leoben 18,7 Prozent (aber nur 8 % in Donawitz und 8,7 % in Kapfenberg). Jedenfalls war sie nach dieser Wahl keine Splitterpartei mehr.424 – NSDAP und Heimatschutz kamen in der Industrieregion zusammen auf ein Viertel bis ein Drittel der Wählerschaft. Ob dort der Heimatschutz wie bereits 1930 der SDAP überproportional Arbeiter abnahm, die NSDAP ihre Wähler dagegen vorrangig bei Unselbständigen aus dem Dienstleistungssegment sowie bei jungen Arbeitslosen rekrutierte, lässt sich nicht verlässlich feststellen; stark scheint ihre Anziehungskraft bei Eisenbahnern gewesen zu sein. (Die Frage des Wahlverhaltens der Arbeitslosen unterschiedlicher Alterskohorten ist faktisch gar nicht zu klären.)425 Mit dem Erfolg der NSDAP korrespondierten die Einbußen ihrer Rivalen. Die SDAP verlor, soweit das insgesamt zu erkennen ist, gegenüber 1930 nicht viel, am meisten wieder im

Ableitinger / Unentwegt Krise

steirischen Oberland. Die Verluste in Leoben, Donawitz, Trofaiach und Eisenerz, in Bruck an der Mur, Kapfenberg und Pernegg, waren empfindlich. Von ihnen profitierte allerdings nur vereinzelt die KPÖ (Donawitz, St. Michael, Eisenerz, Kapfenberg, Pernegg); die sozialdemokratische Sorge, zugunsten der radikalen Linken Federn lassen zu müssen, bestätigte sich kaum. In der Ost-, West- und Südsteiermark vermochte die Partei ihre Positionen zumeist zu halten; Hoffnungen, im verelendeten kleinbäuerlichen Segment voran zu kommen, erfüllten sich nicht.426 – Überraschend gut hielten sich, anders als ihre Parteifreunde in Wien usw., die steirischen Christlichsozialen, vor allem wo sie selbstständig kandidiert hatten, z. B. in Bruck, Kapfenberg und Mariazell. Andernorts waren sie mit dem zufrieden, was ihre Allianzen mit den Resten der Großdeutschen bzw. mit dem Heimatblock erbracht hatten; ihr Parteiorgan argumentierte, dass, wo sie mit dessem „gemäßigten Radikalismus“ zusammengegangen wären, die NSDAP „keinen richtigen Nährboden gefunden“ habe.427 – Ungefähr analog erging es dem Heimatblock: Allianzen schadeten ihm nicht und, wo er autonomes Auftreten zustande gebracht bzw. gewagt hatte, reüssierte er auch in unmittelbarer Konkurrenz mit der NSDAP, z.  B. in Bruck, Fohnsdorf, Gröbming und in Stainz. – Der Landbund kam selbst, wo er schon immer stark gewesen war, unter den Druck von Heimatschutz und NSDAP, vor allem im obersten Ennstal. Aber folgenreicher als die einzelnen Wahlresultate wurde, dass die NSDAP sich, wie gleichzeitig in Deutschland, am 24. April durch die ganze Art und Weise ihres Agitierens enorm ermutigt fühlte, und außerdem, dass ihr Erfolg dem Ministerium Buresch den Boden entzog. In Wien wurde die Regierung Dollfuß gebildet, die den Heimatblock zur Mehrheitsfindung benötigte und die die bereits skizzierte zweite Phase der Auf lösung des politischen Systems

135

von 1918/20 einleitete. Unvermeidlich schlug das alles auf die Steiermark durch – jedoch nicht in der Manier simpler Imitation. Finale in der Steiermark Nach dem 24. April 1932, forderten SDAP, NSDAP und nun auch die Großdeutschen, wie früher bemerkt, Auf lösung und Neuwahl des Nationalrates. Christlichsoziale und Landbund lehnten das ab. So wurde der Heimatblock zum Zünglein an der Waage. Nach Bureschs Demission sah Bundesführer Starhemberg in der ­Regierungsbeteiligung u. a. die Chance, seine Organisation(en) politisch-programmatisch gegen die NSDAP abzugrenzen und in der Konkurrenz mit ihr zu bestehen. Der Fürst Starhemberg sympathisierte mehr mit Mussolinis Faschismus als mit der plebejischen Hitler-Bewegung, Österreichs Anschluss an Deutschland hielt er für einstweilen aussichtslos, im Hinblick auf Hitlers Aufstieg auch kaum mehr für erwünscht. Allerdings wusste er, dass der entschieden „nationale“ steirische Heimatschutz kaum mit ihm gehen würde.428 Starhembergs Bereitschaft zur Regierungskoalition mit Christlichsozialen und Landbund sprengte binnen Wochen definitiv den ohnehin seit Jahren prekären Zusammenhalt der Heimwehrbewegung. Den Anfang machte Pfrimer bereits am 8. Mai; er trat nicht nur aus den Heimwehren überhaupt aus, sondern auch aus dem Steirischen Heimatschutz. In einer öffentlichen Erklärung kritisierte er, dass sich beide, wie er glaubte, „mit den Systemparteien in eine Regierung setzen“ wollten. Gleichzeitig übernahm er die Führung des „Deutschen Heimatschutzes“, eines kleinen Verbandes enttäuschter Heimwehrleute. (Von seiner unmittelbar nach seinem Prozess erfolgten Unterordnung unter Habicht bzw. Hitler war im Mai anscheinend noch nichts nach außen gedrungen.)429 Das alles alarmierte die Leitung des Steirischen Heimat-

136

Ableitinger / Unentwegt Krise

schutzes, seit Herbst interiBevor Dollfuß am 20. mistisch von August MeyszMai 1932 zum Kanzler erner, Sepp Hainzl und Hanns nannt wurde, hatte der noch Rauter geführt. Außer der nicht gespaltene Heimatblock NSDAP im „nationalen“ Laverlangt, nach Bureschs Abger auch noch Pfrimer als gang Rintelen mit der ReKonkurrenten zu bekommen, gierungsbildung zu beaufhatte etwas ausgesprochen tragen. Der sollte Kanzler Bedrohliches. Also spaltete werden, dann, als sich dies in sich der Heimatschutz von Wien nicht durchsetzen ließ, der „österreichischen“ Heimwenigstens Außenminister. wehr Starhembergs am 19. Dass das eine oder andere die Mai ostentativ ab; mit diesem Abspaltung des steirischen an der Seite von Dollfuß zu Heimatschutzes aufgehalten stehen, kam für die Steirer hätte, ist zweifelhaft; der Ernicht in Betracht. Ideologisch forderlichkeit der „Anleihe August Meyszner und persönlich-charakterlich von Lausanne“ hätte sich ÖNB/Wien unterschieden sie sich von der auch Rintelen kaum entzieNSDAP ohnehin kaum noch. Es war nur mehr hen können. Schließlich trat er als Unterrichtsihr Ehrgeiz, eine selbstständige Rolle zu spielen, minister in die Regierung ein und übernahm in der sie davon abhielt, mit der NS-Bewegung eine ihr von Dollfuß Aufträge, die über sein Ressort Allianz einzugehen; (ein Jahr später hinderte sie hinausreichten; z. B. verhandelte er, sogar mit daran nichts mehr). Am selben Tag wurde Kon- einigem Erfolg, in London mit den internatiostantin Kammerhofer zum neuen Landesführer nalen Gläubigern der Creditanstalt.432 Gleichgewählt. Bereits im Juni verkündete dieser zeitig blieb er aber Landeshauptmann; er wusste „Zwölf Grundsätze“ des Heimatschutzes, mit um die Kurzlebigkeit von Ministerämtern und welchen er seinen Verband u.a. erstmals auf wollte die Erfahrung vom Oktober 1926 nicht „Rassebewusstsein“, „Rassenreinheit“, Kampf nochmals machen. Gewiss zweifelte er bereits an gegen das „internationale Weltjudentum“ usw. den Erfolgschancen einer konsequenten kämpferischen Auseinandersetzung mit der NSDAP, verpf lichtete.430 Die Trennung von Starhemberg wurde von wie Dollfuß sie anvisierte, auch als Vorausseteiner scharfen „Erklärung“ begleitet, in der sich zung dafür anvisierte, den Nationalsozialismus die neue Führung die steirischen Abgeordneten im In- und im Ausland zu einem Modus Vivendes bisherigen „Heimatblock“ in National- und di zu veranlassen. Rintelens Einschätzungen Bundesrat sowie im Landtag ausdrücklich „un- werden bekannt gewesen sein und den Natioterstellte“.431 Während offen blieb, ob und wie nalsozialismus nicht entmutigt haben.433 In der steirischen Landespolitik blieben alle sich dies in der Landespolitik bemerkbar machen würde – Meyszner übte sein Amt als Lan- diese Vorgänge vorerst folgenlos. Kammerhofer desrat weiter aus –, wurde die parlamentarische und Meyszner, die Dollfuß bekämpften, hatten Mehrheit für Dollfuß damit äußerst knapp – an Rintelen als Landeshauptmann nichts ausund unsicher. In Wien standen schwere Stürme zusetzen. Dagegen nahm Machold, wie angebevor; im Frühjahr 1933 zerstörten sie das po- deutet, am 20. Mai im Landtag seine Doppelfunktion aufs Korn – allerdings nicht energisch. litische System von 1918/20.

Ableitinger / Unentwegt Krise

Es waren sogar die Heimatschützer, die Rintelens Engagement in Wien als nützlich für das Land verteidigten. Außerdem höhnten sie, Machold als dessen offizieller Stellvertreter profitiere in Graz von Rintelens häufiger Abwesenheit und arrogiere für sich administrativen Einf luss, der ihm nicht zustehe. Rintelen selbst äußerte sich dazu nicht. Immer noch wollte er anscheinend weder zum Heimatblock noch zur SDAP seine Fäden abreißen lassen.434 Auch sonst ließen es die Heimatschützer im Landtag nicht an verbalen Provokationen der SDAP fehlen. Aber auffälliger war anderes: In der Landesregierung wurde wie bisher ganz sachlich zusammengearbeitet – und gewöhnlich unter Einschluss Meyszners einstimmig entschieden. Und auch im Landtag gab es oft Einstimmigkeit – oder Beschlüsse, die wechselnde Mehrheiten fassten.435 Dabei handelt es sich allerdings häufig nur um Resolutionen ohne unmittelbare Folgen. Aber auch wo es um Substantielles geht – primär um Einsparungen von Landesgeld oder um kleine Förderungen aus diesem – lassen sich im Landtag im Herbst und Winter 1932/33 noch immer Kompromisse finden. Freilich werden die gewöhnlich geradezu verschämt beschlossen, nach langen rhetorischen „Schlachten“. So geschieht es im Oktober mit einem 13 Punkte umfassenden Maßnahmenkatalog der Landesregierung zugunsten der notleidenden Bevölkerung und Gemeinden; er wird einstimmig verabschiedet.436 Ähnlich glatt geht es wenig später ab, wenn am Budgetgesetz für 1932 rückwirkend weitere Kürzungen vorgenommen werden müssen. Nach langer, diesmal zahmer Debatte wird die Regierungsvorlage mit Mehrheit angenommen; auch der Heimatblock stimmt ihr zu, obwohl Meyszner tags zuvor wahrheitswidrig bemerkt hat, in der Landesregierung stehe es gewöhnlich Eins zu acht gegen ihn.437 – Ende Dezember freilich gelingt für 1933 nur noch ein Budgetprovisorium, auf das sich CSP, SDAP und

137

Landbund verständigen. Der Heimatblock, heißt es, habe wochenlang keine Einsparungsvorschläge gestellt und wird also überstimmt.438 Der definitive Voranschlag wird am 2. März 1933 wieder mit der gleichen Mehrheit verabschiedet. Einen Tag nach dem Proteststreik der Eisenbahner, über den es am 4. März im Nationalrat zum Eklat kommen wird („Selbstausschaltung“), billigen in Graz „Rote“, „Schwarze“ und Landbund noch einmal einen Budget-Kompromiss.439 In einem Satz: Während in Wien die Zeichen auf Sturm stehen, finden in Landtag und Landesregierung die klassischen Parteien immer noch gemeinsame Lösungen. Rintelen steht ihnen nicht im Weg, vielmehr wird sein Engagement für sie ausdrücklich gewürdigt. Aber was in der Landstube geschah war eines, die Stimmung in der Öffentlichkeit war etwas ganz anderes. Vor allem die NSDAP peitscht die Leidenschaften hoch. Wie in Deutschland erwartet sie nach dem April 1932 auch in Österreich, „das System“ in kurzer Frist überrennen zu können. Atemlos bemühte sie sich um neue Mitglieder, neue Ortsgruppen, neue Stützpunkte für SA, HJ, usw. Wie viele Mitglieder sie warb, hielt sie geheim. Aber es ist glaubwürdig, dass sich deren Zahl, wie beabsichtigt, in der Steiermark innerhalb zweier Phasen – zuerst zwischen Herbst 1930 und April 1932, dann von September 1932 bis Mai 1933 – jeweils verdoppelte, insgesamt somit um 400 Prozent. Schätzungen besagten, dass ihr „Gau“ Steiermark im Juni 1933 9.800 Mitglieder zählte, im Jänner 1933 bereits 5.400; (das würde für Herbst 1930 rund 2.500 entsprechen).440 Ihren personellen Zuwachs und die Ausbreitung ihrer organisatorischen Präsenz verdankte die heimische NSDAP ihrer fortgesetzten öffentlichen Agitation. Die beschränkte sie nicht auf Wahlzeiten. Versammlung folgte auf Versammlung, Aufmarsch auf Aufmarsch in den immer gleichen Dreierreihen. Das Landesgendarmeriekommando (=LGK) zählte in der

138

Ableitinger / Unentwegt Krise

Steiermark (ohne Graz) während der Monate April und Mai sowie August bis Oktober 1932 124, 62, 157, 138 und 157 NS-Versammlungen und schätzte deren gesamte Teilnehmerzahl auf rund 79.800. (Die meisten von ihnen gab es im August nach dem bis dahin größten Wahlsieg der NSDAP im „Reich“ vom 31. Juli.). Dass auch zahlreiche Gegner zu den Versammlungen erschienen und es auf ihnen oft handgreif lich zuging, passte der Partei in ihr Konzept. Alles, was öffentliche Aufmerksamkeit auf sie lenkte, war ihr willkommen. Demgemäß störten ihre SA-Männer selber häufig Veranstaltungen von „Marxisten“. Regional streuten die Versammlungen unterschiedlich, Schwerpunkte waren erst die obersteirischen Industriebezirke und das oberste Ennstal, im Lauf des Jahres 1932 kamen Orte der Ost- und Weststeiermark dazu. In Graz fanden am 31. Mai und 16. Juni zwei größere Kundgebungen statt, im August in Leoben eine mit 3.000 Besuchern.441 Aber mit Versammlungen und Aufmärschen war es der NS-Bewegung nicht genug. Sie strebte, im öffentlichen Raum gewissermaßen allgegenwärtig zu sein: durch Fackelzüge mit und ohne Musikbegleitung, durch spontane Demonstrationen mit und ohne Schlägereien, durch ausgestreute Flugzettel, durch Beschmieren von Straßen, Mauern, Felsen (und selbst Kühen) mit Parolen oder Hakenkreuzen. Verstöße gegen Rechtsnormen und gesellschaftliche Regeln gehörten selbstverständlich zum Programm: je mehr Mut sie erforderten, desto mehr faszinierten sie die zumeist jugendlichen Aktivisten. Dasselbe galt für „spaßige“ Verhöhnungen von Behörden und jeweils gerade Missliebigen. Auf Uniformverbote wurde mit ersatzweiser Uniformierung reagiert: weißen Hemden und weißen Stutzen, auf Aufmarschverbote mit scheinbar unorganisiertem „Bummel“, teilweise in der neuen Montur. Schon im Winter 1932/33 mischten sich in legale Aktivitäten mehr und mehr illegale.442

Allerdings fehlte es nicht an Gegenwehr. In ost- und südsteirischen Gemeinden lehnten sich Christlichsoziale und Landbündler gegen Vorstöße in ihre Hochburgen auf.443 Bis zu Hitlers „Machtergreifung“ Ende Jänner 1933 wehrte sich auch der Heimatschutz. Kammerhofer gab ihm bereits im Juni 1932 „12 Grundsätze“; sie radikalisierten seinen Verband, würzten seine Programmatik „mit einer starken Dosis Antisemitismus.“ Letztlich schadete ihm die ideologische Anpassung an die NSDAP aber mehr, als sie nützte. Der Heimatschutz gab ein Stück seiner Identität auf, aber seine Anhänger hielten sich mehr an den Schmied Nationalsozialismus bzw. Hitler als an den „Schmiedl“ Kammerhofer. Ab Februar 1933 liefen sie scharenweise zur NSDAP über. Doch bis dahin kämpften seine Leute noch um ihre Selbstbehauptung, nicht selten lieferten sie den „Braunen“ Straßenkämpfe.444 Geschworene Gegner der „Nazi“ waren naturgemäß bewusste „Marxisten“. Jene galten ihnen als „Reaktionäre“ bzw. „Kettenhunde“ des Kapitalismus. Ihr mehr oder weniger revolutionäres Selbstbewusstsein gebot ihnen grundsätzlich offensives Auftreten gegen die NS-Bewegung, nicht nur defensives. In manchen Fällen ging es zwar de facto gemeinsam mit „Nazis“ gegen „Schwarze“ und Heimatschützer. Die Regel war freilich Kampf gegen die „Braunen“. Namentlich Kommunisten suchten Zusammenstöße mit ihnen, auch um sich gegen vorgeblich zögerliche Sozialdemokraten zu profilieren. Die betont linke „Jungfront“ innerhalb der Sozialdemokratie hielt es ähnlich. Straßen und Plätze durften der NSDAP nicht überlassen werden. So wurden gewalttätig ausgetragene Konf likte gang und gäbe, mit einem vorläufigen Schwerpunkt im September 1932. Auffällig „spektakuläre“ Zusammenstöße hatten sich schon vor und knapp nach dem 24. April in St. Michael ob Leoben, Judenburg, Knittelfeld und Leoben zugetragen, am 29. Juli wieder in Knit-

Ableitinger / Unentwegt Krise

telfeld; dort hatten Sozialdemokraten und Kommunisten bereits seit Tagen „auf Personen, die Hakenkreuz oder Heimatschutzhut trugen, geradezu Jagd gemacht“. In Graz kam es am 6. September nach einer mehrfach von jungen Linken gestörten NS-Versammlung an der heutigen Tegetthoff brücke zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen „Jungfront“ und SSLeuten in Zivil; einer von ihnen, August Aßmann, wurde erstochen, drei verletzt. Tags darauf überfielen Jungsozialisten in Leoben die NS Männer Josef Laß und Paul Helle, Laß starb.445 Erst danach wurde es etwas „ruhiger“; Rückschläge, die die NSDAP im November in Deutschland hinnehmen musste, dämpften auch den Elan ihrer steirischen Aktivisten. Aber mit Hitlers „Machtergreifung“ am 30. Jänner 1933 fassten sie verstärkt wieder Mut. Schon im Februar stieg die Zahl der NS-Versammlungen wieder signifikant an – und die der Teilnehmer an ihnen. Vollends drohten die Dämme nach dem Wahlsieg der NSDAP in Deutschland vom 5. März und dem Furor ihrer „Parteigenossen“ in den folgenden Tagen zu brechen. Dem setzte die Regierung Dollfuß das allgemeine Versammlungs- und Aufmarschverbot vom 8. März sowie die Vorzensur der Presse entgegen. Die Maßregeln trafen mit Absicht auch Sozialdemokraten und Kommunisten. Dollfuß bekämpfte unter dem Einf luss Mussolinis, aber auch, um sich gegen „rechts“ keine Blöße zu geben, aktiv die Linke. Wie die Nationalsozialisten reagierten auch diese gegen die Regierungsmaßnahmen mit gesteigerter Empörung. Der öffentliche Streit um die Wiedereinberufung des Nationalrates am 15. März fachte sie zusätzlich an. Noch im März kam es allein in der Steiermark zu mindestens sechs größeren Kundgebungen und gewalttätigen Zusammenstößen – in Graz, Kapfenberg, Bruck an der Mur, Leoben, Knittelfeld. Die Aktionen richteten sich teils gegen Behördengebäude, teils gegen politische Geg-

139

ner; die Konf liktlinien verliefen unübersichtlich. Die NSDAP „spezialisierte“ sich auf Sprengstoffanschläge gegen Telefonzellen, auf Sabotageakte gegen Telegraphenleitungen sowie Leiteinrichtungen der Eisenbahnen.446 Auch in der Steiermark war also die Lage zwischen dem 4. und 15. März 1933 zunehmend angespannt. Aber während zwischen diesen Tagen die Landtagsfraktionen der SDAP in Wien und Salzburg Seite an Seite mit den NSAbgeordneten von der Bundesregierung fordern, ihre Notverordnungen zurückzuziehen, verfassungskonforme Verhältnisse wiederherzustellen sowie den Nationalrat neu wählen zu lassen,447 halten sich die steirischen Sozialdemokraten auffällig zurück. Erst am Vormittag des 15. März beantragen sie durch Oberzaucher in der Landesregierung, der Landtag solle vom Landeshauptmann verlangen, in der Bundesregierung, deren Mitglied er ist, dasselbe zu erwirken, was in Wien und Salzburg bereits von ihr verlangt worden war. Doch soll der Landtag erst am 20. März zusammentreten, also wenn in der Hauptstadt die Entscheidung so oder so schon gefallen sein wird; immerhin begehrt Oberzaucher, dass der von ihm beantragte Beschluss sofort publiziert werde. Aber für den gibt es ohne Meyszners Zustimmung in der Grazer Burg noch keine Mehrheit. Dieser aber will, dass Dollfuß nur jene Notverordnungen außer Kraft setze, die nicht wirtschaftspolitischer Natur sind (d. h. bis dahin fast keine). Trotzdem nehmen die Sozialdemokraten diese Verwässerung ihrer Forderungen ohne weiteres hin. Sie meinen ihren Vorstoß nicht wirklich ernst, er ist ihnen eine (von Wien diktierte?) bloße Pf lichtübung. Der Beschluss wird mit fünf gegen drei Stimmen gefasst. SDAP und Heimatblock haben eine merkwürdige Allianz gebildet, erstmals hat der Heimatblock in Graz de facto gegen Rintelen gestimmt (der ist allerdings nicht anwesend).448 Im Grunde handelt es sich bei dem allem um Spiegelfechtereien.

140

Ableitinger / Unentwegt Krise

Auch im Landtag zeigt sich am 20. März, dass die steirischen Politiker, wenn sie quasi unter sich sind, nicht alles Porzellan zerschlagen wollen. Zwar gibt es eine sechsstündige Redeschlacht.449 In der geraten vor allem die aneinander, die den Antrag gestellt haben. Zugleich aber stimmen Meyszner, Hübler und Machold darin überein, gegen Dollfuß zu wettern, jedoch den Landeshauptmann bzw. andere landespolitische Rivalen zu schonen. – Rintelen bestritt, dass die Verfassung gebrochen worden wäre und rühmte ungewöhnlich ausführlich die wirtschaftspolitischen Regierungsinitiativen.450 – Einigermaßen ernsthaft war nur Meyszners Zusatzantrag, Rintelen förmlich zu verbieten, sich von Machold in der Landesregierung vertreten zu lassen; diese Forderung war eine Bosheit gegen Machold und eine den Christlich­ sozialen gestellte Falle.451 Schließlich wurde namentlich abgestimmt. Alle an die Bundesregierung adressierten Forderungen wurden mit 24 gegen 23 Stimmen angenommen, Christlichsoziale und Landbund blieben in der Minderheit. Trotzdem stellten sich anschließend beide an die Seite der Sozialdemokratie gegen den Spezialantrag Meyszners; (dessen Begehren wurde mit 39 gegen acht Stimmen verworfen).452 Offensichtlich legten sie mehr Wert darauf, im Land einen Rest der traditionellen Kooperation mit der SDAP zu retten, als sich zusammen mit Meyszner und Co in unbedingtem „Antimarxismus“ zu üben.453 Während der folgenden drei Monate überstürzten sich die Ereignisse. Anfangs wirkten die Verbortsverordnungen vom 8. März, Zusammenstöße und Terrorakte ließen nach.454 Dann aber belebte die Gemeinderatswahl in Innsbruck am 23. April den Glauben der NSBewegung wieder, dass ihr definitiver Sieg nahe bevorstehe: Sie erzielte 41 Prozent der Stimmen, mehr als irgendwo zuvor in Österreich. Inzwischen hat zudem Kammerhofer in letzter Minute die Reißleine gezogen und seine

Auseinandersetzung mit der NSDAP aufgegeben; sie war, auch weil die „Alpine“ mittlerweile ihre Zahlungen an ihn eingestellt und zu den „Braunen“ umgelenkt hatte, aussichtslos geworden. Stattdessen schließt sein Heimatschutz am 22. April in Liezen mit Habichts Partei wieder eine „Kampfgemeinschaft“, diesmal eine endgültige. Dem Liezener Konsens zufolge sollten zwar beide Organisationen selbständig bleiben, geheime „Ausführungsbestimmungen“ erklärten jedoch für die „Führung des Kampfes“ die NSDAP zuständig. Hitler wurde von Kammerhofer explizit als „Führer der deutschen Nation“ anerkannt. Auch trugen die Heimatschützer von da an (wieder) das Hakenkreuz. Seitdem standen rund 15.000 Heimatschützer und die knapp 10.000 NSMitglieder im Land Seite an Seite. Was an ihrer Rivalität politisch relevant gewesen war, war beendet, viele persönliche Eifersüchte aber blieben.455 Auch die Vorgänge der folgenden zwei Monate bis zum Verbot der NSDAP Mitte Juni betrafen die Steiermark nicht nur generell, sondern wegen der Rolle, die Rintelen in ihnen zukam, spezifisch. Neue und nunmehr teilweise illegale Aktionen der NSDAP nahmen ab Mai signifikant zu – weithin sichtbare Feuer auf Höhen, Anschläge mit Papierböllern, Sabotageakte.456 Es machte den Eindruck, nicht nur die NS-Reichsleitung gäbe nun für alle Kampfmittel grünes Licht, sondern die Regierung in Berlin selbst ginge in Österreich aufs Ganze. Bald nach deren Amtsantritt hatte Dollfuß sie umworben, aber, statt auf seine Anfragen Antwort zu bekommen, war ihm nur beschieden worden, eine nach den geforderten Neuwahlen in Österreich denkbare Regierungsbeteiligung der heimischen NSDAP komme mit ihm nicht in Frage. Der Konf likt der Wiener Regierung mit den „Nazi“ im Land war nun kein bloß innenpolitisches Problem mehr, sondern einer zwischen den zwei Staaten.

Ableitinger / Unentwegt Krise

Schon am 18. März drohte der bayerische Justizminister Hans Frank, ab 1940 „Generalgouverneur“ im besetzten Polen, die deutsche NSDAP werde „die Sicherung der Freiheit der deutschen Volksgenossen in Österreich übernehmen“, falls Wien weitere Repressionen gegen sie ergreifen würde. Das Wiener Kabinett konnte gar nicht anders, als gegen diese massive Einmischung in Berlin offiziell zu protestieren. Darauf gab es durch Wochen keine Antwort, während derer Rintelen, noch ohne Beauftragung, mit Habicht ein politisches Gespräch hatte, das auf Ausgleich der Konf likte zielte. Angeblich verzichtete Habicht dabei auf Dollfuß’ Rückzug aus dem Ministerium, worauf dieser weitere Gespräche mit Habicht guthieß. Bald danach trafen sich Rintelen, Buresch und Schuschnigg mit diesem, Fortsetzung wurde in Aussicht genommen. Aber dann bewegte sich nichts. Im Gegenteil, es kam zum Eklat, als Frank, obwohl offiziell „unerwünscht“, Wien und Graz besuchte (13./14. Mai), wo ihm am Schlossberg ein begeisterter Empfang bereitet wurde. Bei dieser Gelegenheit nannte er Dollfuß einen „Millimetternich“.457 Tags darauf war er noch immer im Land und musste direkt „abgeschoben“ werden. Obwohl – oder weil? – Rintelen sich als Landeshauptmann dem widersetzt hatte, wurde er nun von Dollfuß förmlich beauftragt, mit Habicht doch noch einen Modus Vivendi zu verhandeln. Das misslang. Habicht forderte einmal mehr, in der Wiener Regierung die Heimwehr-Minister durch Nationalsozialisten zu ersetzen, was Dollfuß zurückwies. Darauf demissionierte Rintelen als Unterrichtsminister und kehrte nach Graz zurück (24. Mai).458 Dollfuß stützte sich nun zusehends auf Mussolinis Italien, das damals, an Österreichs staatlicher Existenz interessiert, noch keine „Achse“ mit Berlin unterhielt. Innenpolitisch verschärfte er die Gangart: am 18. Mai, noch vor Rintelens Abgang, stellte seine Regierung das Tra-

141

gen von Uniformen und Abzeichen der NSDAP unter Strafe. Am 27. Mai folgte darauf und auf die Causa Frank die Antwort aus Berlin. Sie bestand in der sogenannten „Tausend-MarkSperre“, welche deutsche Staatsbürger verpf lichtete, vor Ausreise nach Österreich eine Kaution dieses Umfanges zu deponieren – ein schwerer Schlag für den heimischen Fremdenverkehr.459 Fast gleichzeitig brach eine mehrwöchige neue Welle von NS-Aktivitäten in Österreich los, nun vor allem in Gestalt von Sprengstoffanschlägen gegen Sachen, bewaffneten Überfällen und ab Anfang Juni auch in Attentaten auf Personen. Der krasseste Vorfall dieser Art trug sich am Sonntag, dem 18. Juni, bei Krems an der Donau zu, wo „Christlichdeutsche Turner“, die als Hilfspolizei fungierten, Opfer eines Angriffs mit Handgranaten wurden; es gab einen Toten, drei Schwer- und 27 Leichtverletzte.460 Tags darauf verordnete die Regierung Dollfuß ein umfassendes Betätigungsverbot gegen die NSDAP und den „Deutschösterreichischen Heimatschutz (Leitung Kammerhofer)“ sowie die Auf lösung beider Organisationen. Zugleich lief eine Verhaftungswelle gegen NS-Aktivisten an; Habicht war bereits am 13. Juni des Landes verwiesen worden. Diese Maßnahmen hatten naturgemäß Konsequenzen für deren gewählte Repräsentanten im Bundesrat, in den Landtagen und Gemeinderäten. Dazu legte die steirische Landesregierung dem Landtag am 15. Juli 1933 den Entwurf eines Landesverfassungsgesetzes vor, wonach nicht nur deren Mandate, sondern auch die der Kommunistischen Partei (in den wenigen Gemeinden, in denen ihre Kandidaten gewählt worden waren) „ruhen“ sollten.461 Parallel dazu wurde im Landtag ein Gesetz über besondere Maßnahmen gegen regierungsfeindliche Handlungen von Landesangestellten, Landeslehrern sowie Bezirks- und Gemeindebediensteten, eingebracht.

142

Ableitinger / Unentwegt Krise

Die sofortige Verabschieder NSDAP zu 100 Prozent dung der ersten Vorlage vergeteilt.466 Hornik beantragte weigerte die SDAP-Fraktion Vertagung; die wurde in naals Antwort auf Zensurakte mentlicher Abstimmung mit gegen ihre Zeitung „Arbeiacht gegen 38 Stimmen – terwille“. Machold erklärte, darunter der Rintelens – abseine Partei habe zwar in der gelehnt, anschließend das Regierung für die Vorlagen Verfassungsgesetz mit der ergestimmt, habe aber, da die forderlichen Zweidrittelmehrheit Bundesregierung Tag für Tag verabschiedet.467 gegen seine Partei und deren Die praktische Relevanz Presse rechtswidrig vorgehe, dieser Beschlüsse blieb, auskeinen Grund Faschisten zu genommen für die gemaßbekämpfen und dadurch nur eiregelten öffentlich Bediensnem anderen, aber auch wieder teten, gering. Der Landtag Reinhard Machold 462 einem Faschismus zu helfen. trat im Herbst 1933 und im StLA So kam es erst am 29. Juli anschließenden Winter bloß zu entscheidenden Sitzung, einige Male ohne die sechs die schließlich bis kurz nach Mitternacht an- Mandatare des Heimatblocks zusammen – Landauerte.463 Die Klubobmänner Zenz (CSP), despolitik ging scheinbar weiter, wie bis 1930 Machold (SDAP) und Hartleb (LB) gaben Be- gewohnt. In Wahrheit aber verwies die Verabgründungen für die Vorlagen, Meyszner (HB) schiedung der beiden Gesetze potentiell auf und Hübler (GDVP) widersprachen ihnen. eine politische neuartige Konstellation: Die Zenz, der in der Regierung die Initiative er- steirische SDAP akzeptierte Dollfuß’ Verbotsgriffen hatte, erläuterte zuerst, warum das Ge- Verordnungen – faktisch ein Kurswechsel gesetz auch die KPÖ und den Heimatschutz ein- genüber dem 20. März. In ihrem Namen idenbeziehen müsse: Das erste nannte er einfach tifizierte Machold in der NSDAP (und deren naturnotwendig, das zweite legitimierte er mit Mitläufern im Heimatschutz) den primären dem Liezener Abkommen und dem Fehlen jeg- Gegner, weit bedrohlicher als das Dollfuß-Milicher Distanzierung des Heimatschutzes von nisterium.468 Gleichzeitig nahmen CSP (inkluden Anschlägen der NSDAP.464 Meyszner wehr- sive Rintelen, der schwieg) und, weniger überte sich dagegen, dass Kampfgemeinschaft mit der raschend, der Landbund, klar Stellung: Die NSDAP Unterstellung unter diese bedeute, be- steirischen Heimatschützer waren, anders als stritt, dass irgendein Heimatschützer Schuld an bisher, nicht mehr ihre Partner, die NSDAP ein den vielen Gewaltakten trage und erklärte die- durchaus feindliches Element. Die Allianz von se als das Werk junger Burschen, […] die manch- Parteien, die im Landtag in Graz für die notmal […] extemporieren würden.465 Das ließ Hart- wendigen Mehrheiten sorgte, wurde jedoch auf leb nicht gelten: Glauben Sie ja nicht, dass wir so Ebene der Bundespolitik nicht vorbildlich. Es kindisch sind, die Tarnkappe nicht zu sehen, hinter kam weder zu einer Kooperation von der SDAP der Sie sich verstecken wollen. Was dahinter ist, ist über die CSP bis zum Landbund, noch weniger Nationalsozialismus. Denn der Heimatschutz zu einer Regierungskoalition: Die SDAP sandhabe längst vor dem Liezener Abkommen die te zwar Signale an Dollfuß, der aber griff sie zerwühlende Einstellung, die verhetzende Tätigkeit nicht mehr auf – sei es mit Rücksicht auf Mus-

Ableitinger / Unentwegt Krise

solini, dessen Unterstützung gegen Berlin er nicht mehr entbehren konnte, sei es aus Erbitterung über das Verhalten der SDAP seit Mai 1932, sei es aus anderen taktischen Erwägungen. Macholds Rede war zweifelsfrei die bedeutendste dieses 29. Juli 1933.469 Sie darf eine „historische“ genannt werden. Denn in ihrem zweiten Teil setzte sich der Vorsitzende der steirischen Sozialdemokratie mit der deutschen und österreichischen NSDAP in einer bis dahin beispiellosen Manier auseinander: Unsere Republik befindet sich geradezu im Krieg mit Deutschland, hervorgerufen durch die Machtergreifung durch Hitler. Die deutschen Nationalsozialisten möchten dieses Österreich eingliedern und mit diesem deutschen Zuchthausstaat gleichschalten. Ihre österreichische Ablegerpartei erhalte ihre Befehle und Weisungen nicht von hier, leiste ihnen trotzdem in blindem Gehorsam Folge. Diese staatsfeindliche nationalsozialistische Bewegung bedient sich dabei Kampfesmittel, Kampfformen, die jeder Zivilisation Hohn sprechen, die geradezu eine Kulturschande sind, die bisher in Österreich unbekannt waren und daher außergewöhnliche Maßnahmen gegen diesen Terror […] rechtfertigen […]. Da hilft keine Aufklärung […]. Hier handelt es sich nicht um unaufgeklärte Menschen, die aus eigenem Impuls handeln, nicht um verantwortungslose Elemente, […] hier handelt es sich um planmäßig geleitete Mordaktionen, und die Fäden dieser Taten führen […] zu den ersten Spitzen der Nationalsozialistischen Partei, und die deutschen Behörden schützen das und helfen diesen Tätern weiter.470 Wir Sozialdemokraten haben […] unsere schweren Bedenken gegen die vorliegenden Gesetze zurückgestellt […]. Wir handeln also jetzt aus Notwehr […] gegen die barbarischen Zustände in Deutschland […]. Unter Verweis auf Kaiser Wilhelms berüchtigte „Hunnenrede“ von 1900 setzte Machold fort: Genau so wie die Hunnen hausen in Deutschland draußen die Nationalsozialisten gegen ihre deutschen Volksgenossen. Hab und Gut wird ihnen zerstört, gestohlen und dieser Diebstahl wird als neue deutsche

143

Tugend angesehen […]. Die NSDAP rühme sich zum ersten Male in der Geschichte […] Rechtlosigkeit, Barbarei, tierische Grausamkeiten politischen Gegnern gegenüber zu verüben […]. Keine Maßnahme bei uns […] kann auch nur annähernd auf die gleiche Linie gesetzt werden […]. Die Berufung der heimischen NSDAP und der steirischen Heimwehrler auf die Demokratie und die Verfassung wäre geradezu ein Hohn und abstoßend, würden die doch, wenn sie bei uns an der Macht wären, aus freien Stücken, über Auftrag aus Berlin oder München, genau dasselbe machen, was in Deutschland gemacht wird zum Entsetzen der ganzen zivilisierten Welt, zum Entsetzen aller Kultur.471 Tatsächlich ist rückblickend zu erkennen, dass 1932, gegenüber Deutschland zeitlich etwas verzögert, in Österreich wie in der Steiermark krisenbedingt eine sozialmoralische Kulturrevolution einsetzte, die Machold hier diagnostizierte. Wie 1917/18 der Krieg und seine Konsequenzen im Alltagsleben einen „Umbruch“ produzierten, der beinahe alles herkömmlich Gültige außer Kraft setzte, so jetzt die Vehemenz und Dauer der „großen Krise“. Wie damals vermochten die Regierungen der Ausbreitung von elementarer Unsicherheit nichts Glaubwürdiges entgegenzusetzen, wie damals wurden große Teile der Bevölkerung empfänglich für eine Entwertung bzw. „Umwertung aller Werte“. Die massiven wechselseitigen Ressentiments, von denen bereits mehrfach gesprochen wurde, voran der notorische Antisemitismus, disponierten ohnehin zu radikalen Verhaltensweisen. Jetzt kamen, individuell und familiär, wirtschaftlicher Niedergang, Verlust des sozialen Status sowie düstere Zukunftsaussichten hinzu. Massenweise nahmen Menschen sich als Opfer von äußeren und inneren Feinden wahr, auf die sich ihr Hass richtete. Die NSBewegung, selber ohne Antworten auf die Krise und auch deshalb, wie sich zeigen sollte, schließlich von ungehemmter Destruktivität, beutete die Desperation der derart von der um-

144

Ableitinger / Unentwegt Krise

fassenden Krise Ge- und Beschädigten auf eine Weise aus, mit der die traditionelle linke Opposition weder mithalten wollte noch konnte. Sie erreichte Menschen aus tendenziell allen sozialen Milieus – zuerst solche aus kleinbürgerlichen – und gab deren Widerwillen gegen und Verachtung über die gewohnte Politik und deren bekanntes Personal eine Intensität, die auch die der „alten“ Heimwehr-Anhänger sozusagen hinter sich ließ. Mehr als durch ihre Ideologie führte sie mittels ihrer brutalen Selbstinszenierung vor Augen, dass, was bisher zum Bestand an kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Selbstverständlichkeiten gehört hatte, seine Geltung eingebüßt habe. Sie wurde so zum Ferment der erwähnten „Umwertung“. Für ein wachsendes Segment der Bevölkerung, voran für große Teile der jüngeren, setzte sie traditionelle Sozialisationsmuster außer Kraft, gab sie dem Bedürfnis nach „Abrechnungen“ Legitimität. Verächtlichmachen, Ignorieren von gesellschaftlichen Regeln, Gewaltanwendung – auch Vergnügen an dem allem – machte sie zu Normalität. Das schockierte Machold. In enormem Tempo breitete sich dieser mentale Habitus, hergebrachte soziale Tabus zu suspendieren, ab 1932/33 auch in Kreisen vormals „bürgerlicher“ Solidität und selbst in Teilen des sozialmoralisch herkömmlich verhaltenskonservativen „Proletariats“ Bahn. Der Wucht dieses soziokulturellen Umbruches stand durch Jahre beinahe nur noch die geradezu fassungslose Befremdung gegenüber, die viele der älteren Generation von Katholiken, Sozialisten und wenigen traditionell Liberalen über das ergriff, was da vor sich ging. Politisches Gegensteuern innerhalb der in Österreich 1918/20 etablierten Strukturen fand ab dem Sommer 1933, wie gesagt, nicht mehr statt. Dollfuß verschrieb sich einem autoritären Kurs, der den Februar 1934 beinahe unausweichlich machte. Der NS-Bewegung gereichte das nicht zum Schaden.

Epilog Der Juni 1933 bezeichnete eine Epochenschwelle: Dass das Verbot ihrer Partei die NSDAP für viele zu Märtyrern machte, entzog dem Staat Dollfuß’ noch mehr die Legitimität. Was sich während des folgenden Jahres für die und in der Steiermark an politisch Relevantem zutrug, hatte weitgehend den Charakter eines Nachspieles, in dem nach wie vor die Signale von Kooperationswillen erstaunen. Es wird hier in vier Punkten zusammengefasst: Erstens: Rintelens beredtes Schweigen im Landtag vom 29. Juli bekundete, dass er das Parteienverbot vom 19. Juni und die von Wien aus angeregten Landesgesetze über das „Ruhen“ von Mandaten etc. zu den verfehlten „Verfolgungsmaßnahmen“ seitens Dollfuß zählte, denen er als Landeshauptmann „entgegenzutreten“ trachtete.472 Auch an sich „zweckmäßige […] Einrichtungen“ wie die der „Vaterländischen Front“ hielt er für untauglich, der „alles mitreißenden Volksbewegung“ des National­ sozialismus wirksam entgegenzutreten.473 Macholds weit über die nationale Dimension der „braunen Revolution“ hinausreichende Sicht auf das, was im Gange war, teilte er nicht – naiv oder opportunistisch-zynisch, um nur rechtzeitig zu den kommenden Siegern überzulaufen? Rebus sic stantibus musste Dollfuß sehen, ihn aus Österreichs Innenpolitik zu entfernen. Schon im Sommer, angeblich während einer Begegnung bei den Salzburger Festspielen, bot er Rintelen das Amt des österreichischen Gesandten bei Mussolinis Regierung in Rom an (nicht das beim Vatikan). Erstaunlicherweise nahm der das Offert an.474 Folgt man seinen „Erinnerungen“, so sah er durch diese Berufung seinen längst gehegten „Gedanken“ bestätigt, „dass die Lösung des mitteleuropäischen Problems in einem innigen Verhältnis zwischen

Ableitinger / Unentwegt Krise

dem Deutschen Reich, Italien und Österreich bestehe“. Das hieß im Klartext: Ausgleich zwischen der (verbotenen) NSDAP und Dollfuß, Ausgleich zwischen Berlin und Wien hielt er nur mehr auf internationaler Ebene durch Italiens Vermittlung möglich, nicht mehr allein auf innenpolitisch-österreichischer. So sah es unterdessen auch Dollfuß; der setzte vielleicht mehr auf Italiens Schutz, auch auf militärischen, als auf dessen Chancen als Vermittler. – Rintelens Mission in Rom war zweifellos sehr interessant, jedoch gemessen an ihren Zielsetzungen nicht erfolgreich; letztlich wünschte Hitlers Regierung und Partei keine Regelung mit Österreich, die einer Unterwerfung Wiens nicht wenigstens nahekam. Das gehört im Einzelnen aber nicht mehr hierher, auch Rintelens weitere Aktionen und Geschicke nicht.475 Zweitens: Rintelens Ernennung wurde Ende August bekannt gemacht, doch ging er erst am 23. Oktober nach Rom.476 Inzwischen empfing er in der Steiermark zahlreiche Huldigungen, vor allem Ehrenbürgerschaften von Gemeinden, bei seiner Abreise wurde ihm auf dem Bahnhof in Graz ein großer Abschied bereitet. Erst am 13. November erfolgte die Wahl seines Nachfolgers. Sie muss eine schwere Geburt gewesen sein. Zwei Faktoren waren gegenüber früheren, analogen Wahlgängen neu: Die CSP, gewohnt den Landeshauptmann zu stellen, war in Landtag und Landesregierung nicht mehr stärkste Partei und stand zudem ohne verlässlichen Partner da. Dazu kam, dass aus der Bundesregierung versucht wurde, die Auswahl der Person des Landeschefs zu beeinf lussen.477 Tatsächlich wurde dem Landbund von der CSP zuerst ein Kandidat genannt, den der glatt ablehnte; vermutlich war es ein von Wien gewünschter.478 Dann wurde in Alois Dienstleder eine Person gefunden, mit der alle Landtagsparteien gut leben konnten. Er erhielt 22 von 37

145

abgegebenen Stimmen, die der Sozialdemokraten waren, wie zuvor angekündigt, ungültig; der konstruktive Beitrag der SDAP bestand zudem darin, dass sie selbst keinen Kandidaten nominierte.479 Alois Dienstleder (1885–1946), ein unbeschriebenes Blatt, war weder jemals Landtagsabgeordneter gewesen, noch hatte er sonst politische Funktionen bekleidet. Aus bescheidenen sozialen Verhältnissen stammend, hatte er sich im Landesdienst hochgearbeitet („Landesregierungsrat“) und nebenher ein Jus-Studium absolviert; vielleicht war er Rintelen dabei aufgefallen. Machold sagte, er wäre uns persönlich nahezu unbekannt, gelte aber als anständig, geradlinig, korrekt und auch energisch; verlangen wollte er von ihm nur, dass er sich vorbehaltlos auf den Boden der Republik und […] der Verfassung stellt und die Rechte dieses Landes nach jeder Richtung hin […] wahrt und verteidigt. Ähnlich äußerte sich der Landbund.480 Die Christlichsozialen sagten buchstäblich nichts zur Charakterisierung ihres Kandidaten – ein Indiz wofür? Dienstleder selber rühmte anschließend Rintelen und versprach, sich wirtschaftspolitisch für alle Gruppen einsetzen zu wollen; konkrete Hoffnungen setzte er auf die Landesanteile am Erfolg der von der Bundesregierung aufgelegten Trefferanleihe, die er der Arbeitsbeschaffung zuwenden wollte.481 Drittens: Vor und nach Dienstleders Wahl ging die professionelle Landespolitik weiter, als ob außerhalb ihrer Foren volle Normalität herrschte. Die Landesregierung hielt ihre wöchentlichen Sitzungen. In ihnen drehte sich faktisch alles um angesichts der überaus knappen Finanzmittel unbezahlbare Rechnungen, um politisch irrelevante kleine und kleinste Personalfragen, um Nothilfen für diese und jene, die etwa wegen Rückständen bei der Entrichtung ihrer Steuerschuld Zwangsversteigerungen von Vieh, Feldern oder Wirtschaftsgebäuden aus-

146

Ableitinger / Unentwegt Krise

gesetzt waren. Ob man dem Landtag einen halbwegs realistischen Budgetentwurf für 1934 würde vorlegen können, war Gegenstand zunehmender Sorge. – Das Plenum des Landtages kam im Herbst 1933 noch fünfmal zusammen (51. bis 55. Sitzung). In der vorletzten des Jahres, am 16. Dezember, legten Franz Kölbl, mittlerweile Dechant und Stadtpfarrer von Hartberg, vor allem aber seit 1919 Präsident des Hauses, und Leopold Zenz, seit 1927 Landesrat, beide von den Christlichsozialen, ihre Ämter nieder; sie entsprachen damit der Vorgabe der Bischofskonferenz, alle Priester aus politischen Funktionen zurückzuziehen.482 Es gab eine beinahe feierliche Stimmung im Landtag: Machold, der Sozialdemokrat, würdigte in bewegenden Worten die Objektivität und Umsicht, mit der Kölbl auch in schwierigsten Zeiten, z. B. im Oktober 1926, die Sitzungen geleitet und die Geschäfte des Landtages administriert habe. (Für Zenz fiel die Verabschiedung weniger liebenswürdig aus.) Anschließend wurden die Nachfolger der beiden gewählt: Adolf Enge als Präsident, Josef Hollersbacher als Landesrat. Diese Wahlen erfolgten einstimmig.483 Auch sechs Tage darauf verlief die Generaldebatte über das Budget 1934 relativ friedlich. Hermann Aust (SDAP) registrierte mit Genugtuung, dass Mandatare der CSP applaudiert hatten, als Hartleb (LB) von Dollfuß verlangt hatte, sich die Radikalinskis aus dem Heimwehrlager vom Hals zu schaffen. Das Budget wurde mit Mehrheit, einige Begleitgesetze einstimmig angenommen.484 Viertens: Sieben Wochen später war es Mitte Februar 1934. Nach den gerade auch in der

Steiermark sehr heftigen Kämpfen versammelte sich der Landtag wieder am 26. Februar. Sozialdemokraten gab es in ihm nun nicht mehr; die Partei war inzwischen verboten und aufgelöst worden. Präsident Enge verlas eine Erklärung, in der er der schweren Angriffe auf die Ruhe und Ordnung gedachte, denen unsere Heimat in den letzten Wochen ausgesetzt war und allen, von der staatlichen Exekutive über die Mehrheit der Organe der öffentlichen Stellen bis zur vaterländisch gesinnten Bevölkerung, dafür dankte, dass diese Angriffe glücklich und erfolgreich abgewehrt werden konnten. Abgesehen von ihrer Qualifizierung als Angreifer kamen die „Februarkämpfer“ nur indirekt unter den schweren Blutopfern vor, an die mit Wehmut und Trauer gedacht wurde; immerhin davon wurden sie nicht explizit ausgenommen. – Dann wurde, nach Revisionen der Gemeinde- und der Gemeindewahlordnung für die Stadt Graz – es wurden die Konsequenzen aus dem SDAP-Verbot gezogen –, eine von den Landtagsparteien beantragte Abänderung der Landesverfassung beschlossen – alles ohne Wechselrede und einstimmig. Der wichtigste Punkt besagte, dass die Landesregierung sich nur noch aus fünf Mitgliedern zusammensetze und ihre Beschlüsse nur rechtsgültig würden, wenn ihnen der Landeshauptmann beitritt.485 Auch auf Landesebene wurden also die Strukturen des Regierens zur autoritären Seite hin verschoben. Der Landtag tagte zwar bis zu seinem letzten Zusammentritt am 12. Juli 1934 noch acht weitere Male; für alle seine Beratungen und Beschlüsse benötigte sein Protokoll aber nur mehr 64 Seiten.486

Ableitinger / Unentwegt Krise

147

Anmerkungen 1 2 3 4

5

6

7

8

9

Pferschy, Steiermark. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert. Z. B. Mang, Steiermarks Sozialdemokraten. Dazu zählen z. B. Pferschys, seine Skizze gewissermaßen begleitende Beiträge: Pferschy, Kräfte und Ideen; Pferschy, Strömungen; ferner: Lipp, Landtag. Wie die Arbeit in der Landesregierung vor sich ging, was zwischen den Polen von Konf likt und Kooperation in ihr Usus und was Ausnahme war, ob in ihr Einstimmigkeit oder Mehrheitsentscheidungen üblich waren bzw. welches von beidem in Fragen unterschiedlicher politischer Relevanz dominierte, wissen wir so wenig, wie welche Rollen hohen Exponenten der Landesbürokratie zukamen oder wer zu diesen zählte. Das In-, Mit- und Gegeneinander von bundes-, landes- und kommunalpolitischen Bedingtheiten ist weithin unbekannt. Auch über die Resultate landespolitischen Handelns („Output“) gibt es, von Ausnahmen abgesehen, z.  B. den Elektrifizierungsbemühungen, wenig Kenntnis. Zur Quellenlage noch reserviert: Pferschy, Kräfte und Ideen 245. Diese Ausführlichkeit war, obzwar an sich sachlich geboten, doch für den vorliegenden Band lange nicht vorgesehen. Erst als die Summe aller Beiträge zu ihm aus dem sehr praktischen Grund seiner Handlichkeit ohnehin seine Teilung nahe legte und die HLK sich schließlich für diese entschied, wurde von vielen weiteren Kürzungen an den Erstfassungen des Manuskriptes abgesehen – mit dem Ergebnis des gegenwärtigen innerhalb des Bandes überproportionalen Umfanges. Über Politik in den Gemeinden informieren, teilweise eingehend, die zahlreichen Ortsgeschichten, über die in Graz: Brunner, Entwicklung von Graz 248–260, über die Politik der Bezirksvertretungen: Polaschek, Bezirksvertretungen. Die folgende, aus Raumgründen fast ganz abstrakte Skizze der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung im Krieg stützt sich auf einige neuere Zusammenfassungen, die selbst die ältere Literatur (z. B. J. Redlich, G. Gratz/R. Schüller, R. G. Plaschka/H. Haselsteiner/A. Suppan, R.J. Wegs) und die zusehends reichere neue Forschung (z. B. P. Hecker, G. Hasiba, M. Grandner, M. Healy) verarbeiten: Sandgruber, Ökonomie und Politik 319–333; Schulze, Austria-Hungary’s Economy in World War I; Rauchensteiner, Erster Weltkrieg,

10

11

12

Kap. 6, 12, 17, 28; Dornik, Verwaltung des Mangels; Moll, Steiermark im Ersten Weltkrieg. – Zur Situation in der Steiermark, neben Moll, Steiermark im Ersten Weltkrieg, sehr anschaulich insbesondere: Mittermüller, „Ein Volk von Bettlern“; Hammer-Luza, Kriegsbrot. – Ferner zu ausgewählten speziellen Themen: Hansak, Landwirtschaft (mit Verweisen auf die ausführliche, fast gleich betitelte Grazer geisteswiss. Diplomarbeit des Verfassers aus 1989); Weber, Ernährungskrise der Steiermark; Moll, Erster Weltkrieg und Ausnahmezustand. Zum Vorstehenden differenziert und mit zahllosen Beispielen: Neck, Arbeiterschaft und Staat. Vgl. zu den komplexen Beziehungen zwischen heimischer Bevölkerung und internierten „Fremden“ im Land, zeitweise bis zu 175.000 Personen, d. h. etwa 18 Prozent der 1910 auf dem Boden der heutigen Steiermark gezählten Wohnbevölkerung, ausführlich: Moll, Steiermark im Ersten Weltkrieg 64–80 (mit vielen archivalischen Quellen und der Spezialliteratur); ergänzend neuerdings zu Wagna: Halbrainer, Lager Wagna. Wilsons „14 Punkte“, die sehr rasch als Magna Charta eines universalen nationalen Selbstbestimmungsrechtes ver- bzw. missverstanden wurden, plädierten, soweit sie sich explizit auf ÖsterreichUngarn bezogen, primär für nicht näher umschriebene „nationale Autonomie“; davon blieben unberührt gewisse Abtretungen, z. B. die von Galizien an ein neues, unabhängiges Polen und die von Teilen des südlichen Tirol an Italien („Welschtirol“). Zu bereits 1898/1900 erfolgten reichsdeutschen Interventionen in Wien vgl.: Ableitinger, Badeni, und Ableitinger, Problemlösung durch Notverordnungsrecht. – Die unterschiedlichen Konzepte von nationaler Autonomie sind hier nicht zu diskutieren. Es gab prinzipiell zwei solcher Konzeptionen. Die eine sah Autonomie für Gebiete vor („territoriale Autonomie“), in denen weit überwiegend nur eine Nation siedelte. In ihren ehrgeizigen Fassungen bedeutete das, alte Länder ganz oder teilweise aufzulösen und an ihrer Stelle neue Länder zu konstituieren, z. B. ein slowenisches aus Krain, Teilen der Steiermark und Kärntens etc. Derlei provozierte allemal massiven Widerstand der an den „alten“ Ländern Interessierten, in diesem Fall der „deutschen“ Steirer, vor allem der im „Unterland“. – Dagegen wandten personal konzipierte Modelle ein, dass Autonomie für Territorien zu viele gemischtnationale

148

13

14

15

16

17

18

19

Ableitinger / Unentwegt Krise

Regionen nicht berücksichtigten. Sie sahen deshalb vor, die Menschen selbst entscheiden zu lassen, zu welcher Nationalität sie sich bekannten, und anschließend Menschen gleicher nationaler „Konfes­ sion“ in Personenverbänden prinzipiell unabhängig von Siedlungs- bzw. Sprachgebieten zusammenzufassen und diese Verbände zu Subjekten und Trägern nationaler Autonomie zu machen. (Diese Konzepte wurden seit 1899 von der SDAP favorisiert, Karl Renner war einer ihrer Promotoren.) Streng genommen bezog sich das Wort „Brotfriede“ auf einen im Februar 1918 vorangegangenen Vertrag mit der Ukraine, die sich von Sowjetrussland bereits abgespaltet hatte; er sah die Lieferung von 1 Mill. Tonnen Brotgetreide vor, von denen bis zum Herbst aber nur 120.000 t in die Donaumonarchie gelangten; dieser Vertrag war allerdings von Wien auch nicht ratifiziert worden. Vgl. Bihl, Weg zum Zusammenbruch 38. Eingehender Bihl, Friedensschlüsse; Dornik/Lieb, Die wirtschaftliche Ausnutzung. Zur wachsenden Abhängigkeit von Berlin während des Krieges: Rauchensteiner, Erster Weltkrieg, u. a. 565–574, 614–620, 931–941 („Die Parma-Verschwörung“), 999–1007 (offizielles Bekenntnis des Ministerpräsidenten Ernst Seidler zum „deutschen Kurs“ in der Innenpolitik). Rauchensteiner, Erster Weltkrieg 1006 („völlige Angliederung“), 999 („Anarchie“), 1001 („keine Einschränkung“ der „zivilen und militärischen Machtbefugnisse“ des Kaisers). Vgl. die brillante Analyse Ardelt, Sozialdemokratie und der Kriegsausbruch, für den Sommer 1914 bes. 62–98. Wieder abgedruckt in: Ardelt, Kampf um Bürgerrechte 75–153. – Neuerdings weniger ertragreich: Musner, Schlafwandler. Mehrere hundert Seiten umfassende, gedruckte Lis­ten mit Namen „bedenklicher“ Heimkehrer aus Juni und Juli 1918 in: StLA, Statth-Präs. E 91, 1706/1918, K. 1153. – Leidinger/Moritz, Heimkehrer. Der im Text gegebene, knappe Umriss zur Situation der SDAP 1917/18 stützt sich auf: Hautmann, Anfänge der linksradikalen Bewegung; Hautmann, Geschichte der Rätebewegung, (beide mit stark linksradikalen Sympathien); Unfried, Positionen der „Linken“; Hanisch, Otto Bauer 132–135, 138f. Zu den Volkstagen finden sich viele Berichte in: StLA, Statth-Präs., E 91, vier Kartons zu 1918. Vgl. Hinteregger, Steiermark 1918/19 23–30. – Im September protestierte übrigens die Israelitische Kultusgemeinde in Graz formell bei der Statthalterei

20

21 22

23 24 25

26

27

gegen die fortwährenden antisemitischen Ausfälle bei diesen „Volkstagen“; StLA, Statth-Präs., E 91, 2537/1918. StLA, Statth-Präs., E 91, 1566/1918, K. 1153; Mittermüller, „Ein Volk von Bettlern“ 109; StLA, Statth-Präs., E 91, 1304/1918, K. 1152; StLA, StatthPräs., E 91, 2311/1918, K. 1154; StLA, Statth-Präs., E 91, 3091/1918, K. 1154. Andritsch, Meuterei in Judenburg. Zur Doppelstrategie der steirischen SDAP, verbal angriffig für die eigene Anhängerschaft, aber gegenüber den Behörden vorsichtig zu agieren ab Frühjahr 1918: Hinteregger, Graz 214–216. StLA, Statth-Präs., E 91, 1865/1918, K. 1153. StLA, Statth-Präs., E 91, 2047/1918, K. 1154. Machold, „Arbeiterwille“. – Zu dieser Episode und generell zur chaotischen Behördenpraxis bei den Ablieferungen und zur Stimmung der Bauern: Hinteregger, Graz 216–218. Indem das Manifest dieser „deutschösterreichischen“ Nationalversammlung die Abgeordneten der deutschen Wahlkreise in West- und Nordböhmen zuordnete, erfolgte de facto die oben erwähnte Teilung Böhmens bzw. indirekt die Etablierung eines Landes „Deutschböhmen“. – Sehr wahrscheinlich wussten die Tschechen vorweg von diesem Punkt des Manifestes; seit Mai waren als Vorgriff auf ihn in Böhmen durch kaiserliche Verfügung bereits tschechische bzw. deutsche „Kreise“ neu etabliert worden. Die zwei Tage vor Publikation des Manifestes erfolgte Einstellung der Lebensmittellieferungen aus Mähren bzw. Böhmen muss wohl als präventive Reaktion auf dieses zu verstehen sein. Vorstehend konnte selbstverständlich nur eine grob vereinfachende Skizze gegeben werden. Sie übergeht beinahe ganz die katastrophale Piave-Offensive der k. u. k. Armee Mitte Juni 1918 und ihre radikalisierenden Folgen in der Innenpolitik. – Sie führt, weil zu komplex, Präsident Woodrow Wilsons „14-Punkte-Plan“ nicht weiter aus, dessen Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker äußerst vieldeutig war – „nationale Autonomie“ bildete nur eine seiner Varianten – und die im Übrigen von mehreren anderen Entente-Staaten nicht geteilt wurde. – Sie übergeht, dass Wien, unabhängig von Berlin, der Entente am 14. September 1918 Frieden anbot, aber kaum einer Antwort gewürdigt wurde. – Sie übergeht die an Illusionen reiche Vor- und Entstehungsgeschichte des „Völkermanifests“ und die mit ihm verbundenen Erwartungen Kaiser Karls. Sie übergeht, dass dessen Vision von einem Bundesstaat schon darum obsolet war, weil die Ententemächte die Unabhängigkeit eines tschechoslowaki-

Ableitinger / Unentwegt Krise

28 29 30

31

32

33 34 35

36

37

schen und eines südslawischen Staates bereits im September de facto anerkannt hatten. – Sie übergeht vollständig die gleichzeitigen Vorgänge in Ungarn und schließlich auch das Wirrwarr um den Waffenstillstand mit Italien, speziell das um den Zeitpunkt seines Inkrafttretens. – Dazu und vielem anderen: Rauchensteiner, Erster Weltkrieg 995–1054. StLA, Statth-Präs., E 91, 2772/1918. Arbeiterwille (2. 11. 1918). Grazer Volksblatt (Abendausgabe) (6. 11. 1918), 3; Grazer Volksblatt (Morgenausgabe) (8. 11. 1918), 3; Grazer Volksblatt (Morgenausgabe) (9. 11. 1918), 3, jeweils in der Rubrik „In schweren Tagen“. Grazer Volksblatt (6. 11. 1918), 3, „Beschlagnahmte Lebensmittel“. Tagespost (Morgenausgabe) (5. 11. 1918). – Eine anschauliche Darstellung der Verhältnisse in Judenburg gab die „Murtaler Zeitung“ vom 9. 11. 1918, zit. bei Schaffer, Volkswehr 17. Grazer Volksblatt (Abendausgabe) (6. 11. 1918), 3. Tagespost (Abendausgabe) (4. 11. 1918). Tagespost (Morgenausgabe) (4. 11. 1918), 4 bzw. Grazer Volksblatt (Abendausgabe) (6. 11. 1918), 3. Grazer Volksblatt (Morgenausgabe) (8. 11. 1918), 3, „Sicherung der Ordnung“. Zur Vorgeschichte des Wohlfahrtsausschuss vgl.: Machold, „Arbeiterwille“ 1f. – Tagespost (Morgenblatt) (26. 10. 1918), 1. „Der Rücktritt des Statthalters“ mit der ergänzenden Bemerkung, dass der „Weg zur Selbsthilfe“ außerdem beschritten werden musste, weil „die Wiener Zentralstellen auch den letzten Rest an Autorität verloren“ hätten und ihre „administrative Gewalt“ kaum mehr „über den Umkreis von Wien hinaus“ reichte. – Ferner: Hinteregger, Steiermark 1918/19 66–69 und Pferschy, Steiermark 943; dort der Hinweis, dass die Zuspitzung der Versorgungskrise im Land auch durch das Verbot des „Rucksackverkehrs“ ab 1. September 1918 bewirkt worden war. – Die Namen der Mitglieder des Wohlfahrtsausschuss bei Hinteregger, Graz 239 und im Faksimile bei Polaschek/ Riesenfellner, Plakate 15. – Die Mitglieder des Exekutivkomitees wurden in der Presse nicht genannt. Den Vorsitz im Wohlfahrtsausschuss führten gemeinsam der Industrielle Ludwig Kranz und, für die SDAP, der Rechtsanwalt Arnold Eisler, das Ernährungsreferat übernahm von Anfang an als Vertreter der Industrie Viktor Wutte; Pferschy, Steiermark 943. – Die Berichterstattung über den Wohlfahrtsausschuss in den Grazer Medien fiel Ende Oktober merkwürdig dürftig bzw. knapp aus; z. B. wusste die „Tagespost“ zwischen 21. Oktober (Abendblatt) und 25. Oktober (Morgenblatt) über

38

39 40

41 42 43

44 45

46

47

149

ihn gar nichts mitzuteilen, am 28. Oktober informiert sie S. 3 ganz kurz über Wutte und Eisler. Vgl. die Kritik des „Grazer Volksblatt“ (27. Oktober 1918), wonach es, um „das Vertrauen der gesamten Bevölkerung zu erwerben, […] einer Erhöhung der Anzahl der christlichsozialen Vertreter im Wohlfahrtsausschuß“ bedürfe; zit. nach: Hinteregger, Graz, 222. Arbeiterwille (26. 10. 1918). Machold, „Arbeiterwille“; Moll, Steiermark im Ersten Weltkrieg 58. Tagespost (Abendausgabe) (5. 11. 1918). Tagespost (4. 11. 1918). Vgl. Karl Seitz unmittelbar nach seiner Wahl zu einem der drei Präsidenten der Konstituierenden Nationalversammlung am 21. Oktober 1918. (Stenographisches Protokoll der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten. Wien, am 31.[sic!] Oktober 1918, 4.) Holtmann, Sozialdemokratie und Staat 142–148. Die Namen der Mitglieder in StProtPNV 11 und bei Berchtold, Verfassungsgeschichte 16, Anm. 3. Unter ihnen war nur ein Steirer, Michael Schoiswohl von der CSP, der sich aber nicht weiter bemerkbar machte. Für das Vorstehende und Folgende neben Goldinger/Binder, Geschichte ausführlich: Berchtold, Verfassungsgeschichte 11–136 und Brauneder, Deutsch-Österreich 32–78, „akkordiert“ 67. Die Landtage fußten bis 1918 bekanntlich nicht auf allgemeinem, gleichem, sondern auf von Steuerleis­ tungen abhängigem Zensus- und Kurienwahlrecht, und dieser Auf bau setzte sich in den „Landesausschüssen“ fort, deren Benennung außerdem zum Ausdruck brachte, dass ihnen nicht die Funktion von Regierungen, sondern nur administrative zukam – deshalb oben „ancien régime“. – Zu den Vorgängen vom 22. bzw. 25. Oktober primär: Brauneder, Deutsch-Österreich 64–68; der Wortlaut des Beschlusses des Vollzugsausschusses 335. Der Verfasser nennt 66 die Versammlung vom 22. Oktober „eigentlich einen Ausschusslandtag“, d. h. ein Analogon zu den in der älteren österreichischen Geschichte seltenen Gebilden, wodurch Organe der historischen Länder von sich aus, d. h. ohne Aufforderung „von oben“, also ohne Zutun des jeweiligen monarchischen Herrschers (= Landesfürsten), auf die Willensbildung des Gesamtstaates Einf luss zu nehmen versucht hatten. – Die wenigstens potentielle, andeutungsweise bereits akute Differenz zwischen dessen Vorstellungen und denen des Vollzugsausschusses – bzw. anschließend denen der Provisorischen Nationalversammlung und bald denen

150

48

Ableitinger / Unentwegt Krise

des Staatsrates – über den künftigen Status der Länder spielt Brauneder m. E. zu sehr herunter. Sie ist jedoch aus einigen, oben zitierten Formulierungen in nuce schon zu erkennen: Dass die Länder „in der gegenwärtigen Staatskrise“ Vertretungen brauchten und diese „bis zur endgültigen Festsetzung“ eingerichtet und übrigens „berufen“ würden, konnte durchaus als auf unbestimmte Zeit gemeinte Begrenzung ihrer Existenz bzw. ihres Stellenwertes gelesen werden und war möglicherweise bereits damals eine Formulierung, die Wünsche nach sehr weitgehender Zentralisierung bzw. nach Minimierung des Status der Länder zugunsten demokratisierter Bezirke und Gemeinden vorbehielt – Wünsche, die es bei manchen politischen Kräften im Vollzugsausschuss bzw. in der Provisorischen Nationalversammlung durchaus gab; vgl. S. 62 und Anm. 139 die Äußerung von Matthias Eldersch (SDAP). – Berchtold, Verfassungsgeschichte 39f. setzt die Akzente etwas anders. Er attestiert den Beschlüssen des 22. Oktober andere (und mehr) Bedeutung als B ­ rauneder. Vor allem sagt er von der Mitwirkungsbereitschaft der Ländervertreter am Auf bau des Gesamtstaates, dass durch sie der neue Staat „erst möglich geworden ist“, weil seine „Zentralgewalt“ damit „über eine vollständige Verwaltungsorganisation“ habe „verfügen“ können. Mit dieser Aussage setzt Berchtold allerdings voraus, dass in den Ländern geschehen würde, was um den 22./25 Oktober – ausgenommen in der Steiermark durch Entfernung des Statthalters zugunsten des „Wohlfahrtsausschusses“ und dessen Wirtschaftskommissären – noch nicht geschehen war, aber bald darauf realisiert wurde, nämlich die mehr oder weniger revolutionäre, weil durch kein Gesetz bzw. keinen Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung gedeckte Übernahme der wichtigsten bislang „staatlichen“ Behörden durch Landespolitiker, d. h. durch die maßgeblichen Funktionäre der Landesorganisationen der politischen Parteien, inklusive durch die der Sozialdemokratie. Berchtold meint, für den so erst ermöglichten neuen Staat wären damit bereits zwingend die Weichen für „föderalistischen Staatsauf bau“ gestellt worden. – In der Folge werden hier die vielen staatsrechtlichterminologischen bzw. -typologischen Erörterungen weitestgehend ausgeklammert; bei Brauneder, Deutsch-Österreich 272–286 werden sie resümiert und z. T. kritisch bewertet. Von der Aufforderung existiert kein Wortlaut; ihr exakter Inhalt kann nur aus mehreren anderen Quellen erschlossen werden. Daraus resultieren die im Text festgehaltene Ungewissheit in (wenigstens)

49

50

51 52 53

54

55 56 57 58

zwei relevanten Punkten; vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte 40, Anm. 60. Brauneder, Deutsch-Österreich 67 will wissen, dass eine Vorgabe aus Wien besagt hätte, maßgeblich für die parteipolitische Machtverteilung in den provisorischen Landesversammlungen hätte das Ergebnis der Wahl ins Abgeordnetenhaus von 1911 im jeweiligen Land zu sein, also die Verteilung, die in der Provisorischen Nationalversammlung und ihrem Vollzugsausschuss herrschte. Die Übersicht, die Berchtold, Verfassungsgeschichte 41–45 über die tatsächlichen Verhältnisse in den Ländern gibt, zeigt, dass die Orientierung an 1911 wirklich am häufigsten stattfand – umso auffälliger der steirische Sonderweg. Zwei, die 1911 als Christlichsoziale gewählt worden waren, befanden sich jetzt unter den Deutschnationalen: Raimund Neunteufel und Ferdinand Pantz. – Acht der 22 waren zugleich Mitglieder des Wohlfahrtsausschuss: Einspinner, Hagenhofer, HofmannWellenhof, Huber, Muchitsch, Pongratz, Resel, Schacherl; gleichzeitige Mitgliedschaft im vermeintlich revolutionären und separatistischen Wohlfahrtsausschuss und in der Landesversammlung war miteinander verträglich! Grazer Zeitung (3. 11. 1918). Vgl. Dorfer, Martha Tausk. Ein „Verzeichnis“ der Mitglieder der Provisorischen Landesversammlung „vom Jahre 1918“ in: StBerPLV 49f. (Inhaltsverzeichnis); (in den folgenden Monaten schieden aus diversen Gründen einige der ursprünglichen Mitglieder aus, einige z. B. wegen ihrer Wahl in die Konstituierende Nationalversammlung im Februar 1919). – Auch die Grazer Zeitungen vom 7. November 1918 brachten die Namen. StBerPLV 2f. – Mit Ausnahme von Zwischenrufen wie „Heil“ und „Bravo“ wortident in: Landesgesetz- und Verordnungsblatt für das Land Steiermark, Jg. 1918, 65. Stück, ausgegeben am 20. November 1918, Nr. 78, 231–237. StBerPLV 3–5. StBerPLV 5. StBerPLV 8. Die Übersicht bei Berchtold, Verfassungsgeschichte 41–45 zeigt, dass analoge Übernahmen bzw. Beschlüsse über sie in anderen Ländern etwas später stattfanden. – Darauf bezieht sich oben Anm. 47 die Bemerkung des Verfassers, Berchtold habe etwas als am 22. bzw. 25. Oktober bereits geschehen dargestellt, was damals noch nicht geschehen war; korrekt ist, dass er kommende Vorgänge antizipiert und an sie bereits dort weitgehende Schlussfolgerungen geknüpft hat.

Ableitinger / Unentwegt Krise 59

60 61

62 63

64

65

66

67

Berchtold, Verfassungsgeschichte 73–77, das Renner-Zitat 75. – Brauneder, Deutsch-Österreich 66 referiert dazu den vormaligen cisleithanischen Finanzminister Josef Redlich, die Länder strebten danach, „den ganzen bestehenden Mechanismus der inneren staatlichen Verwaltung“ unter ihre Kontrolle zu bringen „und so dem Minister des Inneren jede Amtsgewalt zu entziehen“. – Vgl. zu dieser Thematik außerdem: Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat und Hasiba in diesem Band S. 194, 198, 207–209. – Die langwierigen und komplexen Prozesse der tatsächlichen verfassungs-, verwaltungsund personalrechtlichen Realisierung der „föderalistischen Revolutionen“ vom Herbst 1918 werden hier in der Folge fast gänzlich ausgeblendet; der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf die einschlägige (macht-)politische Transformation, die sich bereits 1918 vollzog und später nur partiell revidiert wurde, im hier in Rede stehenden Zeitraum substantiell durch die Novellierung der Bundesverfassung von 1929 und zuletzt durch die Einrichtung von Sicherheitsdirektionen im Juni 1933. Brauneder, Deutsch-Österreich 75–79. Berchtold, Verfassungsgeschichte 23–26; Braun­ eder, Deutsch-Österreich 16–64 (aber ohne Regierungsbildung). – Wichtige Ergänzungen auf Basis neuer Quellen bei Boyer, Silent War 18–24. Grazer Volksblatt (8. 11. 1918). Diese Erklärung bezeichnete er am 24. März 1919 in Feldkirch für ungültig, unmittelbar bevor er ins Exil in die Schweiz ging. Vgl. Wiesflecker, Karl I. von Österreich 52. Zur Vorgeschichte der Anschluss-Erklärung und zu damaligen parteipolitischen Differenzierungen zu ihr u. a.: Brauneder, Deutsch-Österreich 109–116 und Boyer, Silent War 37–41. Vgl. Hautmann, Geschichte der Rätebewegung, passim, zur steirischen Szene insbesondere 339–356, und kurz: Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert 126f. Bis dahin hatte es seit 1907 auf der Ebene des „Staates“ allgemeines gleiches Wahlrecht für Männer gegeben, auf der von Ländern und Gemeinden verschiedene ungleiche Wahlrechte; vgl. oben Anm. 47. Zur parteipolitischen Wirkung des Frauenwahlrechts vgl. S. 61 und Anm. 135, 137. – Zum Wahlalter äußerte Landesrat Resel am 6. 11. 1918 in der provisorischen Landesversammlung, dass, wer im Krieg bereits Militärdienst geleistet habe, auch unbedingt wahlberechtigt sein müsse, StBerPLV 5. – Zur Problematik des Verhältniswahlsystems: Ableitinger, Mehrheitsförderndes Verhältniswahlrecht.

68 69 70

71

72

73

151

– Über Details der definitiven Wahlordnung in der Steiermark Lipp, Landtag 14–31. StBerPLV, 4. Grazer Zeitung (3. 11. 1918). Schaffer, Volkswehr 10, unter Berufung auf die Grazer „Tagespost“, fast wortgleich in: Grazer Zeitung (3. 11. 1918). Hubers Ernennungsdatum bei Weiss, Militärhistorische Aspekte 16f. Einige signifikante Details aus der Palette von Ordnungswidrigkeiten bei Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert 126. Zur Personalpolitik der steirischen SDAP im Militärsektor vgl. Machold, „Arbeiterwille“, zur Bewerbungslage Schaffer, Volkswehr 30f. Vgl. ferner Anm. 199. Lukas stand im Verdacht, für ein militärisches Vorgehen gegen slowenische Übergriffe in der Untersteiermark nicht nur einzutreten, sondern es anscheinend aus eigenem Entschluss mit ungarischen Truppen (!) in Gang setzen zu wollen, wofür als Indiz auch seine Weigerung zu gelten schien, Waffen an den Wohlfahrtsausschuss abzuliefern. Dass nicht zuletzt deshalb vermutet wurde, er habe trotz seiner am 1. November erfolgten Vereidigung auf die Volkswehr keine positive Einstellung zur Republik, ist wahrscheinlich, obwohl diese formell noch nicht proklamiert war (alle diese Gründe nennt Weiss, Militärhistorische Aspekte 17). Sich auf ungarische Verbände stützen zu wollen, die in Deutschösterreich nur als auswärtige Freischärler qualifiziert werden konnten, bedeutete in der Tat, dass Lukas sich herausnahm, mit einer Art Privatarmee operieren zu wollen – jedenfalls am Wohlfahrtsausschuss und seinen Militärbevollmächtigten bzw. Wirtschaftskommissären vorbei, die sich damals erstens als einzige politische Autorität im Land verstanden und zweitens wegen unverzichtbarer Lebensmittelzufuhren aus dem südslawischen Raum selbst gegen die als feindseligen Akt angesehene, am 1. November erfolgte slowenische Besetzung Marburgs nicht militärisch reagieren wollten. Aus der Sicht des Wohlfahrtsausschuss sowie Resels usw., die Lukas die genannten Absichten zutrauten, handelte es sich letztlich um den grundsätzlichen Konf likt, ob zentrale politische Entscheidungen nur einer zivilen, wenn auch vorläufig bloß provisorischen Regierungsgewalt zukamen oder diese eine militärische „Nebenregierung“ dulden musste. (In diesem Licht war es geradezu erstaunlich, dass Lukas sehr bald enthaftet wurde, allerdings anscheinend mit der Auf lage, die Steiermark umgehend zu verlassen.) – Die „zu diesem Zweck“, d. h. zur Besetzung des Kommandogebäudes, erfolgte militärische Ausrüs­

152

74

75

76

77

78

79

80 81

82

Ableitinger / Unentwegt Krise

tung der Arbeiter in: Kleine Zeitung (5. 11. 1918), 2, zitiert bei Schaffer, Volkswehr 10. – Warum die durchwegs deutschnationalen Studenten Front gegen Lukas machten, obwohl der Marburg quasi retten wollte, ist unklar; möglicherweise irritierten auch sie die ungarischen Truppen. – Den Entschluss, sich bewaffnet zu organisieren, hatten die Studenten auf Versammlungen in Graz und Leoben bereits im Oktober gefasst. Vgl. Kernbauer, Universitäten, Hochschulen und Wissenschaft 373f. Schaffer, Volkswehr 10–12. Dort wird aus Reisingers erstem Befehl zitiert, dass er „über Anordnung des vom Wohlfahrtsausschuss […] bestellten Militärbevollmächtigten“ sein Amt angetreten habe, d. h. auf Anordnung Resels ohne Befassung Einspinners. – Der Singular „des“ ist keine Verschreibung, er findet sich im Original des Befehls. Rintelen, Erinnerungen 100–102. – Vgl. S. 62f., ferner 70f. Das k. u. k. Stationskommando Graz forderte bereits am 25. Oktober, nach Designierung der Wirtschaftskommissäre durch den Wohlfahrtsausschuss, aber noch vor deren formeller „Amtsübernahme“, von den Kasernen der Stadt im Zuge vorbeugender „Maßnahmen zum Schutz staatlicher Ämter, Lebensmitteldepots und Banken“ Listen über Lagerbestände und Lagerorte an. StLA, Statth-Präs., E 91, 2839/1918, K. 1154; einige solcher Listen finden sich dort. – Vgl. Mittermüller, „Ein Volk von Bettlern“ 115. Machold, „Arbeiterwille“; Moll, Steiermark im Ersten Weltkrieg 159. – Diese Initiative verärgerte Wiener Zentralstellen ziemlich, weil sie Kompetenzfragen ignorierte, aber auch weil sie im Ausland mit steirischen Beschwerden gegen in Wien gesetzte Maßnahmen einherging. – Ärger gab es in Wien auch über von der Steiermark abgeschlossene internationale Abkommen im Post- und Telegraphenwesen. Vgl. Hinteregger, Graz 223, Anm. 39. Vgl. mehr im Kapitel „Konf likt um die Südgrenze“. Loewenfeld-Ruß, Hunger; Haas, Lebensmittelversorgung Österreichs; kurz auch Hanisch, Otto Bauer 154–157. Hinteregger, Steiermark 1918/19 88–92. Gesetz vom 27. 11. 1918 betreffend die Gendarmerie (StGBl. 75/1918), § 2 bzw. § 5 Abs. 4. – Im Übrigen wurde die Gendarmerie als „Zivilwachkörper“ definiert, während sie bis dahin eine dem Heeresamt (früher dem Landesverteidigungsministerium) unterstellte militärische Institution gewesen war. Riegler, Thörl 575. Riegler, Gleinstätten 582, erwähnt auf Basis der Gendarmeriechronik bewaffne-

te Heimwehrgruppen aus dem „mittleren Sulmtal“ in Gleinstätten, St. Andrä, Pistorf. – Zu Gleisdorf: Rosenberger, Gleisdorf 134, zu Ehrenhausen: Stauder, Ehrenhausen 168. 83 Schaffer, Volkswehr 23f. – Die Bezeichnung „Volkswehrkommando“ bei Schaffer, Volkswehr 30. 84 Ein Exemplar in: StLA, ZGS, K. 208. Vgl. das Faksimile bei: Weiss, Militärhistorische Aspekte 23. 85 Stauder, Ehrenhausen 168. 86 Schaffer, Volkswehr 28, 30; Weiss, Militärhistorische Aspekte 21f. 87 Schaffer, Volkswehr 50. 88 Schaffer, Volkswehr 44, 48. 89 Vgl. S. 73. 90 Schaffer, Volkswehr 81, 90. 91 Schaffer, Volkswehr 43f. und später 78ff. 92 Schaffer, Volkswehr 97, 111, 114. 93 StLA, Statth-Präs., E 91, 638/1919 (Sammelakt; unter den Mandataren werden Hagenhofer, Riemelmoser und Steinberger genannt.) 94 Schaffer, Volkswehr 69f. 95 Das Folgende ausführlicher bei Moll in diesem Band; dort auch neuere Quellen und die frühere Literatur, z. B.: Karner, Abtrennung der Unter­ steiermark; Hinteregger, Abwehrmaßnahmen; Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg. 96 Schaffer, Volkswehr 38f. über die Truppenstärke und Dislozierungen, 44 über die Auf hebung des Verbotes, welches demnach zuvor bestanden haben muss. 97 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 168f. 98 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 164 und 169f. 99 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 168. 100 Erstmals: Tagespost (29. 1. 1919). 101 Schaffer, Volkswehr 45 und 81. Größere Zahlen bei Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 175 beziehen sich auf die Volkswehr in der gesamten Steiermark. 102 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 177. 103 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 178. 104 Detailreich: Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 186–206. 105 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 213– 221. Der Text des Abkommens u. a. bei Schaffer, Volkswehr 192–203. 106 Details, auch über einzelne Widerstandsakte bei Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 229– 234. 107 Schaffer, Volkswehr 55 gestützt auf einen Bericht der dortigen Volkswehr nach Graz.

Ableitinger / Unentwegt Krise StBerPLV, 30, 4. Sitzung, 6. Dezember 1918. Vgl. Urschitz, Verfassung und Verwaltung 84f. und Hasiba in diesem Band S. 198. 109 StBerPLV, 24. und 28. Jänner 1919, 78–88 bzw. 103–131; Rintelen, Erinnerungen 226–228 mit antisemitischem Zungenschlag über Eislers angebliches Motiv, „die steirischen Wasserkräfte“ der Herrschaft der Wiener SDAP zuzuspielen. 110 StLA, Statth-Präs., E 91, 3350/1918, K. 1155. 111 Bewahrung des deutschen Besitzstandes schloss 1895 z. B. ein, zu verhindern, dass im untersteirischen Cilli/Celje in der Unterstufe des dortigen Gymnasiums Parallelklassen mit slowenischer Unterrichtssprache etabliert würden; darüber ließen deutschnationale Abgeordnete damals die Regierung in Wien stürzen. 112 Zur deutschnationalen Ideologie allgemein: Höbelt, Kornblume und Kaiseradler; Schmid, Kampf um das Deutschtum. – Mit Schwerpunkt auf der Steiermark: Moll, Kein Burgfrieden. – Zum Antisemitismus u. a.: Pauley, Geschichte des österreichischen Antisemitismus; Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus. – Mit starkem Steiermark-Bezug: Rütgen, Antisemitismus und Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt, insbes. 204– 206 (1908 Ablehnung der „wehrhaften“ jüdischen Studentenverbindung „Charitas“ durch das Rektorat der Technischen Hochschule in Graz mit dem Argument, dass „ein fremdnationaler Verein Art und Weisen“ anstrebe, „die von jeher nur deutschen Studentenverbindungen eigen waren“, weshalb diese „in Wahrung ihrer angestammten Rechte“ Stellung nehmen und dadurch „neuerliche Unruhen an den Hochschulen“ auslösen würden), 215–223 (1892/93 Antrag im Grazer Gemeinderat durch den Deutschnationalen Heinrich Wastian auf Verbot des Schächtens mit anschließenden Kontroversen) usw.; sowie Zettelbauer, Antisemitismus und Deutschnationalismus 63–75. – Zur Abqualifizierung von Slawen besonders drastisch: Theodor Mommsens Brief „An die Deutschen in Österreich“ von 1897, in dem es u. a. heißt, die Tschechen wären „Apostel der Barbarisierung“ und, noch krasser, „Vernunft nimmt der Schädel der Tschechen nicht an, aber für Schläge ist auch er zugänglich.“ Zit. bei Sutter, Badenische Sprachenverordnungen 108. 113 Zur „Südmark“: Staudinger, Südmark, und mit Betonung der erstaunlich starken Aktivität von Frauen in ihr: Zettelbauer, „Die Liebe sei euer Heldentum“. 114 Übersicht in: Sonntagsbote (18. und 25. 6. 1911), detailliertere Wahlergebnisse in den Grazer Tageszeitungen vom 14., 15. und 21. Juni 1911. 108

153

Zum Lager in der Steiermark zusammenfassend: Moll, Kein Burgfrieden 71–89; Moll, Politische Organisationen 411–421. – Zur Presse des Lagers Höbelt, Presselandschaft 1862f., 1865. – Beide mit älterer Literatur. 116 Zur Situation 1918/19: Neubacher, Deutschdemokratische Partei. 117 Haas, Die vergessene Bauernpartei 95–161, die Gründungsgeschichte 116f., Porträts der Genannten 352–370. – Zur Auseinandersetzung über das S. 49f. genannte Projekt der „Bauerneinheit“ von christlichsozialer Seite unmittelbar vor der Februar-Wahl 1919: Zenz, Schuld an dem Zwiespalt sowie Zenz, Weg der Eintracht. – Rottenmanner, 1918/19 „Waldschulmeister“ auf dem Alpl, wurde erst 1930 in den Landtag gewählt, aber als Kandidat des „Heimatblock“, d. h. des „Steirischen Heimatschutzes“. – Die Forderung nach Vertretung im Wohlfahrtsausschuss in: StLA, Statth-Präs., E 91, 93/1919, K 1156. 118 Allgemeiner Umriss bei: Hanisch, Prägung 62–76. – Zur steirischen Situation des Lagers im 19. Jahrhundert aus der älteren Literatur: Schwechler, Grazer Volksblatt 191–236. – Jetzt Marko-Stöckl, Entwicklung des katholisch-konservativen Lagers 219–254 und Moll, Politische Organisationen 421– 424. 119 Vgl. Boyer, Karl Lueger, Kapitel 2 und 3. 120 Mit der einschränkenden Selbstbezeichnung wurde zum Ausdruck gebracht, dass der Verein sich von der Untersteiermark fern hielt und sich so wenig wie möglich mit dem deutsch-slowenischen Konf likt im Land befassen wollte. 121 Thaller, Steirischer Bauernbund; Gaar, Franz Hagenhofer; Schuller, Franz Hagenhofer. 122 Nur einmal, 1904, hatte er in Graz einen bescheidenen Wahlerfolg gefeiert, als sein Landtagskandidat mehr Stimmen bekam als der deutschnationale; gewählt wurde freilich der sozialdemokratische. – Erst 1907 brachten es diese (älteren) Christlichsozialen zu einer Parteileitung für die ganze Steiermark. Damals reüssierten in drei ländlichen Wahlkreisen ihre Kandidaten (u. a. Franz Prisching und Michael Schoiswohl), in fünf städtisch-industriellen, darunter aber keinem Grazer, kamen sie in die Stichwahl – und unterlagen. Analog verhielt es sich bezüglich Graz in der „allgemeinen Wählerkurie“ bei der Landtagswahl 1909; vermutlich war das jahrelangen internen Streitigkeiten geschuldet. Vgl. Schwechler, Grazer Volksblatt 273–276 (1904), 281f. (1907 und 1909), 293–304 („Zwist“). 123 Die starke Rolle Hagenhofers bei diesen Vorgängen betonte erstmals Pferschy, Kräfte und Ideen 246. 115

154

Ableitinger / Unentwegt Krise

– Der Wortlaut der „Entschließung“ von St. Ruprecht, in der noch weitere Maßnahmen zur Sprache kamen, bei Schwechler, Grazer Volksblatt 305f. (Dort Hinweise auf die aktuellen politischen Motivationen der Resolution). – Diese Resolution muss man als eine Art Ultimatum des Bauernvereins, de facto Hagenhofers, an die „anderen katholischen Organisationen“ lesen: Sollten diese dem nicht ebenso rasch wie effektiv nachkommen, was der Bauernverein vor allem forderte, nämlich die Landesparteileitung, würde dieser vermutlich bereits bei der Beschickung der Landesversammlung allein seine Interessen wahren sowie bei kommenden Wahlen allein kandidieren und „die anderen“ ihrem, vorhersehbar trüben Schicksal überlassen. – Dass es die Landesversammlung geben und sie sehr rasch konstituiert werden würde, war seit 22. Oktober bekannt (Konferenz der „alten“ Landesausschüsse in Wien), das Ultimatum somit per se auf wenige Tage befristet. – Montag, den 4., oder Dienstag, den 5. November, fielen die maßgeblichen Personalentscheidungen. In ihnen dokumentierte sich zugleich die Effektivität des neuen Zusammenschlusses: Dieser bestand nicht in (wortreichen) Absichtserklärungen, über deren Umsetzung im Detail erst noch zu sprechen wäre, sondern in Entscheidungen über die Zusammensetzung der „schwarzen“ Fraktionen nicht nur im Landtag, sondern uno actu in der (nachmaligen) Landesregierung mit ihrem, verglichen mit dem traditionellen Landesausschuss, weitaus größeren Stellenwert. Demokratisierung von Wahlrecht, Landtag und (Landes-)Regierungsstruktur griffen ineinander und erzwangen eine Partei und Fraktion mit neuartiger Binnenstruktur: Der Parteienstaat verwandelte sowohl den Staat wie die Parteien. 124 Materialreich: Gorke, Anton Rintelen. – Dieter A. Binder in diesem Band S. 178–180. – Tendenziös, für Details aber unentbehrlich, die Memoiren: Rintelen, Erinnerungen. 125 Gorke, Anton Rintelen 23f. 126 Gorke, Anton Rintelen 24f. 127 In der Sache ähnlich, aber im Wortlaut viel kritischer die Charakterisierung Rintelens durch Kurt Schuschnigg in einem Interview mit Dieter A. Binder aus 1975 in: Binder, Dollfuß und Hitler, Anhang Nr.1, 1–12, hier 7f. – Vgl. Binder, Dollfuß und Hitler 35, Anm. 4 sowie 260–264. 128 Für zahlreiche Hinweise dankt der Verfasser Dr. Otto Niedermayr, Mürzzuschlag, der eine Monographie über die steirischen Christlichsozialen vorbereitet. – Zur KFO kurz: Walterskirchen, Katholische Frauen- und Mädchenverbände

Wir nennen es, seiner programmatischen Ziele wegen, der „sozialistischen Gesellschaft“ bzw. des „Sozialismus“, in seiner Gesamtheit „sozialistisch“; wo von seiner maßgeblichen Partei diese Rede ist, sprechen wir deren Namen gemäß von „sozialdemokratisch“. 130 Bericht der Polizeidirektion über die Stimmungslage im Juni 1918 in: StLA, Statth-Präs., E 91, 2217/1918, K. 1154; dem Bericht zufolge waren es im Sommer 1917 nur noch 12.000 Mitglieder gewesen. Der Bericht registrierte auch Zugänge zur SDAP auf dem Land, primär Folge der Aktivitäten lokaler Konsumvereine. – Die Mitgliederzahl für 1919 bei: Schacherl, Arbeiterbewegung 312. 131 Zur zeitgenössischen SDAP in der Steiermark aus der älteren Literatur: Schacherl, Arbeiterbewegung. – Ferner: Reichl, Aufstieg; Hinteregger/ Müller, Weg in die Freiheit. 132 Die Darstellung und Argumentation im Text folgt im Wesen dem nach wie vor grundlegenden Werk von Norbert Leser (Leser, Zwischen Reformismus und Bolschewismus) sowie neuerdings Hanisch, Otto Bauer. – Als erster hat Leser den skizzierten mittleren Weg sehr kritisch analysiert: Die SDAP habe sich auf ihm vor allem ihren „Klassenfeinden“ gegenüber als weit übertrieben stark und revolutionär-gef ährlich dargestellt („Schaf im Wolfspelz“) und auf diese Weise Bürger und Bauern so sehr gereizt, dass diese sich gegen die „rote Gefahr“ unter Verwendung beinahe aller Mittel, insbesondere mit den „Heimwehren“, widerstandsf ähig machte und schließlich 1933/34 die sozialistische Arbeiterbewegung überhaupt beseitigte. – Vgl. Binder, Parlamentarismus 131–137. – Ebenfalls kritisch, aber nicht so weit gehend: Hanisch, Otto Bauer. 133 Zum Personal der SDAP im Land insbesondere: Mang, Steiermarks Sozialdemokraten, zu den Linken anfangs der 1930er neben Schiffer, Linke in der steirischen Sozialdemokratie, auch Halbrainer, Kurt Neumann. 134 Wenn nicht andere Herkunftsorte ausgewiesen werden, stammen hier alle Zahlen aus den drei Tabellen bei: Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-25f. – Die bloß 25.000 ungültigen Stimmen errechnet aus der Übersicht bei: Weinzierl/Skalnik, Österreich 1092. 135 Die Aussage im Text ist durch das „etwa“ vorsichtig formuliert; erst für die Nationalratswahl 1920 finden sich bei Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-28, Tab. d, genaue Zahlen: Danach kamen auf 1.000 Männer, die damals die CSP wählten, 1.315 Frauen. Das Wahlverhalten der Ge129

Ableitinger / Unentwegt Krise schlechter wird sich 1919 kaum von dem von 1920 unterschieden haben; wenn überhaupt, dann zugunsten eines noch eine Spur höheren Anteils an Frauenstimmen für die CSP, denn es beteiligten sich 1920 prozentuell etwas weniger an der Wahl als 1919; Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-25, Tab. 1, bzw. C-27, Tab. a. – Vgl. Hoffmann, Nationalratswahlen 144–161. 136 Dort hatten Italien bzw. der SHS-Staat natürlich verhindert, dass Menschen, die sie als ihre Staatsbürger reklamierten, an Wahlen in ein ausländisches Parlament teilnahmen. In der Tschechoslowakei verhielt es sich analog; für die umfangreichen deutschen Gebiete in ihr waren im Wahlgesetz sogar über 90 Abgeordneten vorgesehen gewesen, von denen traditionsgemäß wahrscheinlich die Mehrzahl den Deutschnationalen zugefallen wären. Aus außenpolitischen Gründen verzichtete man in Wien sehr bald darauf, diese Mandatare zu ernennen. – Boyer, Silent War 31f.; Brauneder, DeutschÖsterreich 205–209, 217–223. 137 Die Daten für die Stadt Graz – damals nur die heutigen Stadtbezirke I bis VI – aus: Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz, Anhang 1f. (Tab. 1 und 2). – In Graz zählte man 1919 90.145 Wahlberechtigte, davon 50.188 Frauen und 39.957 Männer, von denen, bei 416 ungültigen Stimmen, 69.457 zur Wahl kamen, rund 77 Prozent, d. h. klar unter dem Landesdurchschnitt. Angaben, wie sich die Wahlbeteiligung auf Frauen und Männer verteilte, fehlen. – Mit ihren 17.334 Stimmen hatte sich die CSP allerdings gegenüber der Reichsratswahl 1911 signifikant verbessert; damals hatte sie im 1. Wahlgang nur 3.124 von insgesamt 21.893 Stimmen erhalten, also knapp 15 Prozent; ihr Zuwachs auf 19,2 Prozent im Februar 1919 wird vermutlich auch in Graz wesentlich den erstmals wählenden Frauen zugerechnet werden dürfen. – Im Bezirk Graz-Umgebung wurde die CSP übrigens bei höherer Wahlbeteiligung damals relativ stärkste Partei vor der SDAP und den Deutschnationalen, von deren knapp 10.900 Stimmen beachtliche 6.370 auf die Steirische Bauernpartei entfielen; vgl. Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz, Anhang 22 (Tab. 5). 138 Weitere regionale bzw. lokale Differenzierung ist hier nicht möglich; sie wäre auch schwierig, weil entsprechende Daten für die Februar-Wahl 1919 m. W. nur aus Zeitungen erhoben werden könnten; anders verhält es sich bereits für die Landtagswahl im Mai 1919, vgl. Anm. 154f., 157. 139 Berchtold, Verfassungsgeschichte 152. 140 Berchtold, Verfassungsgeschichte 168–177. – Der Vollzugsausschuss hatte postuliert, dass „das Prole-

155

tariat“ die „entscheidende Klasse im Staat“ wäre, und „vor dem verbrecherischen Plane“ gewarnt, „die Regierungsvorlagen […] in irgend einer Weise […] zu verändern […]“; die Antwort der CSP lautete, sie würde sich „durch keinerlei Drohungen einschüchtern“ und die Interessen ihrer Wähler „nicht durch bolschewistische Tagesströmungen gefährden lassen“; die Zitate bei: Berchtold, Verfassungsgeschichte 170f. – Zur Thematik Sozialisierung ausführlich: Garamvölgyi, Betriebsräte und sozialer Wandel 47–146, die Rolle Gimpls und Wuttes 131f. 141 Schaffer, Volkswehr 49, 68f., 73. 142 Zur Agitation der KPDÖ zwischen November 1918 und Jänner 1919 in der Steiermark: Hinteregger, Graz 229; zur kommunistischen Infiltration von Volkswehr und Arbeiterhilfskorps: Hinteregger, Graz 233–236 mit vielen Quellen, die Schätzung („3.000“) stammte allerdings von dem nicht unparteiischen Landesgendarmeriekommandanten; zur anfangs unentschiedenen Haltung der steirischen SDAP zur KPDÖ: Hinteregger, Graz 230; zu ihrem Umschwenken auf strikte Abgrenzung: Hin­ ter­egger, Graz 235–237. 143 Hinteregger, Steiermark 1918/19 163–166; Hinteregger, Graz 231–233. – In Details abweichend: Botz, Gewalt in der Politik 41f. – Ferner ausführliche, in der Tendenz bemerkenswert übereinstimmende Berichte in den Grazer Tageszeitungen vom 23. bis 25. Februar 1919, viele davon referiert bei Schaffer, Volkswehr 60–62. 144 Das Oberzaucher-Zitat sowie die Stellungnahmen von Volkswehrbataillon und Soldatenräten im „Arbeiterwille“ vom 23. Februar bei Schaffer, Volkswehr 61 bzw. 62f. 145 Schaffer, Volkswehr 89–99. 146 Hinteregger, Steiermark 1918/19 171–176, ergänzend viele Gendarmerieberichte in: StLA, StatthPräs., E 91, 1919, K. 1156. 147 Hinteregger, Graz 236 bzw. Hinteregger, Steiermark 1918/19 172f. 148 Vgl. z. B.: StLA, Statth-Präs., E 91, 3255/1919 und 89/1920 (geradezu organisierte Wilderei durch Arbeiter im Bezirk Leoben) und StLA, Landeshauptmann-Korrespondenz 1919, 1. Mappe, S. 355 (Trofaiach). 149 Schober/Vukan, Gosdorf 43f.; Ahrer, Erlebte Zeitgeschichte 59f. 150 Botz, Gewalt in der Politik 76f. – Grasmug, Feldbach 303–305. – Zu ähnlichen gleichzeitigen Vorgängen in Gleisdorf bzw. im Raum Fehring–Straden Berichte und Analysen in: StLA, Statth-Präs., E 91, 1345 bzw. 1350/1920, K. 1157.

156

Ableitinger / Unentwegt Krise

Viel Material zu diesen Vorgängen in den Berichten der Bezirkshauptmannschaften, der Gendarmerie und der Polizei in: StLA, Statth-Präs., E 91/1919 und 1920, K. 1156f. – Zu Leoben: Botz, Gewalt in der Politik 77f. – Zum 26. März 1920 in Graz: Ahrer, Erlebte Zeitgeschichte 53 und StLA, StatthPräs., E 91, 766 und 1181/1920 (Schließung von Burg und Landhaus für die Öffentlichkeit). 152 Berchtold, Verfassungsgeschichte 191–195. – Für die weitere Entwicklung des Themas gewählter Bezirksvertretungen: Polaschek, Bezirksvertretungen 83–96. 153 Wahlprogramm vom 26. März 1919. Grazer Volksblatt (Morgenausgabe) (30. 3. 1919), 1; Hinteregger, Steiermark 1918/19 180. 154 Alle Zahlen in der Folge nach Lipp, Landtag 31–41. – Kleinregional exemplarisch die Daten für die damals fünf Gemeinden der Pfarre Anger bei: Hausmann, Anger 537. Der dort teilweise überproportionale Rückgang der Deutschnationalen ist dem Zerfall der „Deutschen Demokraten“ geschuldet, an deren Stelle im Wahlkreis Oststeiermark die „Oststeirische Volkspartei“ getreten ist – erfolglos von Einspinner geführt. 155 Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz, 18. 156 StBerLT 1919/20, 6–9. 157 In Graz hatte der größere Teil der „nationalen“ Gruppen mit den Christlichsozialen eine gemeineinsame Liste gebildet. (Wie das bei Rivalität zwischen beiden bei der gleichzeitigen Landtagswahl gelang, ist rätselhaft.) Diese kam auf 24.822 Stimmen (und 24 Mandate). Für die SDAP lauteten die analogen Zahlen 21.356 bzw. 20; drei kleinere Listen erzielten zwischen rund 3.500 und 630 Stimmen bzw. zusammen vier Sitze. (Die Wahlbeteiligung war ähnlich niedrig wie bei der Wahl in den Landtag). Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz 32 (mit Anm. 1). – Ergänzend: Wagner, Grazer Gemeinderatswahlen. – Trotzdem wurde Vinzenz Muchitsch (SDAP) zum Bürger­ meister gewählt; die gemeinsame Liste bildete im Gemeinderat keine gemeinsame Fraktion. – Muchitsch (1873–1942) wurde 1924 und 1929 wiedergewählt – Ausdruck überparteilicher Anerkennung seines Wirkens – und übte sein Amt bis Februar 1934 aus; vgl. Brunner, Entwicklung von Graz 252–255, 257f. – Ähnlich wie in Graz wurden im Juli 1919 die Machtrelationen in den meisten größeren Gemeinden des Landes umgepf lügt: In der Obersteiermark (sowie in der Region um Köf lach und sonst in einigen Bergbaugemeinden) übernahmen in allen Industriestädten bzw. -orten sozialde151

mokratische Bürgermeister die lokale Administration und setzten in ihr die Akzente wesentlich anders als ihre Vorgänger. Nur in den ost- und südsteirischen Kleinstädten Hartberg, Feldbach, Radkersburg, Leibnitz, nicht aber in Fürstenfeld, behaupteten sich deutschnationale Kandidaten. In den dörflich bäuerlichen Gemeinden behielten bzw. bekamen „schwarze“ Bauern das Sagen, nicht ganz selten freilich auch „grüne“ von der Bauernpartei. 158 Vgl. S. 84f. 159 In Bruck an der Mur wurde zwar Anton Pichler bald durch Franz Gruber ersetzt, doch provozierte im Juli 1927 dort das quasi revolutionäre Vorgehen von Parteisekretär Wallisch „Revanchegelüste“ des großdeutschen Vizebürgermeisters Hornik, die dieser anschließend im Landtag auslebte. – August Regner, ab 1928 Landesrat, bekam ab 1930 in Graz zu spüren, wie schwer – bzw. gar nicht – die Finanzbedürfnisse seiner obersteirischen Ex-Kollegen zu erfüllen waren. 160 Die Debatte in StBerLT 1919/20, 386–396. – Der „bündlerische“ Abgeordnete Erich Klusemann verstieg sich zur Behauptung: Wenn die Zentralen weiter bestehen, so sind wir gleichgestellt den Sklaven. (StBerLT 1919/20, 394). 161 Analog hatten die „Bündler“ bereits am 30. Juni und 3. Juli 1919 im Landtag dadurch zu ärgern versucht, dass sie, den früheren Streit um die STEWEAG wiederbelebend, verlangten, „Sozialisierungen“ von Unternehmen dürfte, wenn sie überhaupt stattfänden, nicht der Staat vornehmen, sondern nur das Land, z. B. beim Kohlenbergbau, wo 80 Prozent der (ganz unzureichenden) österreichischen Förderung aus steirischen Gruben stammten. Mit der Gefahr konfrontiert, als Föderalisten von den „Bündlern“ überholt zu werden, stimmten die Christlichsozialen in diesem Fall sogar erstmals gegen die SDAP (StBerLT 1919/20, 40 bzw. 54). 162 Das den Vertrag von Saint-Germain determinierende internationale Umfeld, seine Entstehung und seine zentralen Inhalte sind konzentriert dargestellt bei: Fellner, Vertrag von St. Germain 95f. Wieder abgedruckt in: Fellner, Dreibund zum Völkerbund 282–304. – Weiters: Fellner, Friedensordnung von Paris. Wieder abgedruckt in: Fellner, Dreibund zum Völkerbund 305–319. – Vgl. auch: Hanisch, Otto Bauer 151–155. 163 Hanisch, Otto Bauer 164f.; StBerPLV 13–22, hier 22. 164 Hanisch, Otto Bauer 161f., 167f. 165 Die kontroversen Diskussionen über das sog. „Diktat von St. Germain“, über das sog. „Anschluss-Verbot“ und die Einschätzung des Vertragswerkes überhaupt

Ableitinger / Unentwegt Krise müssen hier gänzlich ausgeklammert bleiben. Vgl. die differenzierte Beurteilung durch Fellner, Vertrag von St. Germain 95, 96f., 100–104. 166 Vgl. für das Folgende zumeist den Beitrag von Martin Moll in diesem Band. 167 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 255– 257. – Von slowenischer Seite hielt man Kamnikers Argumentation entgegen, dass die Erhebung von 1910 durch ihre Fragestellung manipulierte Ergebnisse gebracht habe und nur aussagte, dass die Masse der ethnischen Slowenen infolge des Germanisierungsdrucks die deutsche Sprache passiv beherrscht habe (vgl. Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 251f.). – Die begrenzte Validität der Erhebung wird in der neueren Forschung anerkannt. Vgl. Brix, Umgangssprachen in Altösterreich. 168 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 241. 169 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 258– 272; Moll in diesem Band. 170 Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg 294– 344; zum wirtschaftlichen Stellenwert von Abstall/ Apače 305, zu den österreichischen Angeboten für Abstall 307, 310f., zur Rolle der Heimwehren bzw. Brodmannns 337 und 339; Moll in diesem Band; Staudinger, Von der Mehrheit zur Minderheit. 171 Rechtsextreme „Einwohnerwehren“, die in Bayern 1919 auch als Reaktion gegen die dort kurzlebige Räteherrschaft gebildet worden waren, existierten in ähnlichem Umfang in Österreich nicht. Verbindungen, die sie und ab 1921 ihre geheimen Nachfolgeinstitutionen, z. B. die „Orgesch“ oder die „Orka“ mit einzelnen Gruppen der Heimwehren in Österreich, auch steirischen, unterhalten hatten, blieben einstweilen auf Operettenniveau. – Anders: Höbelt, Heimwehren 220. – Zu diesen Verbindungen detailreich: Rape, Heimwehren. 172 Das Koalitionsabkommen vom 17. Oktober 1919, seine zentralen Punkte – z. B. „Die neue Verfassung wird Deutschösterreich als Bundesstaat konstituieren“, aber auch der später nicht realisierte über die sogenannte „Demokratisierung der Bezirksverwaltungsbehörden“ – und auch das, worüber in der Vereinbarung auffällig nichts zu finden war bei: Berchtold, Verfassungsgeschichte 205–207. Dort wird 207, Anm.17 auch ein Satz Renners zitiert, mit dem der dem Widerstand in der eigenen SDAP, de facto den Landeshauptleuten weitgehend den Vollzug von Bundesgesetzen zu überlassen (später „mittelbare Bundesverwaltung“), begegnete: „Was nützt mir das schönste Gesetz, wenn ich weiß, dass der Wiener Stadtrat oder die Landesregierung in Vorarlberg es nicht durchführen und behaupten, dass sie es nicht können.“

157

Berchtold, Verfassungsgeschichte 234f. Diese Dominanz bestätigte Otto Bauer noch Anfang 1922 mit der Bemerkung, im Bundesheer wären 90 Prozent der Mannschaften verlässliche Sozialdemokraten und in dem Teil des Offizierskorps, welcher aus der Mannschaft hervorgegangen war, eine „hervorragende Minderheit“. Außerdem erwähnte er weitere Machtfaktoren, u. a. die „Wiener Sicherheitswache“, nicht näher definierte „bewaffnete Korps“ und „die überwiegende Mehrheit der Eisenbahner, der Telegraphen- und Telephonbediensteten“, die ihn zum Schluss führten: „Diese Tatsachen machen jede Diktatur der Bourgeoisie in Deutsch-Österreich unmöglich.“ (Bauer, Koalitionsregierungen und Klassenkampf, abgedruckt in: Bauer, Werkausgabe, Bd. 7, 611–619, hier 612). 175 Bauer unterstellte den Christlichsozialen bereits im Dezember 1919 in einem Artikel über „Die Wehrfrage und die Reaktion“ rundweg, sie wollten die willkürliche Offiziersherrschaft aus der Zeit der Monarchie wiederherstellen (Bauer, Werkausgabe, Bd. 7, 44–47). 176 Berchtold, Verfassungsgeschichte 234f., 237f., dort Anm. 80 das Deutsch-Zitat. – Zur Thematik ferner: Broucek, Heerwesen. – Älter: Jedlicka, Heer im Schatten der Parteien. 177 StBerLT 1919/1920, 538. 178 Wehrgesetz vom 18. März, StGBl 122/1920, insbes. § 8 (über die große Rolle der Heeresverwaltungsstellen), § 13 (über Ingerenzen der Landesregierungen). 179 Berchtold, Verfassungsgeschichte 241f. 180 Hanisch, Otto Bauer 167f., 172–179 und Hautmann, Kapp-Putsch, beide aber ohne Bezugnahme auf die deutschen Wahlen vom 6. Juni 1920. – Zu den Vorgängen in Deutschland während der ersten Jahreshälfte 1920 zuletzt zusammenfassend: Büttner, Weimar 366–378. 181 Ableitinger, Grundlegung der Verfassung 176–178 (mit Nachweisen). – Auch im Koalitionsabkommen vom Oktober 1919 war von solchen Vorgaben für die Bildung von Bundesregierungen nicht die Rede gewesen; vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte 206 („[…] über so wesentliche Fragen wie etwa das Regierungssystem […] keine Aussage enthielt.“) – Merkwürdig ist, dass Berchtold, Verfassungsgeschichte 241–247, im Abschnitt „Der Bruch der Koalition und der Stand der Verfassungsarbeit“ diese Differenzen zwischen Renner und Bauer gar nicht anspricht. 182 Die Ereignisse dieses 7. Juni 1920 sind sehr detailreich in den Grazer Zeitungen beschrieben, beginnend bereits in Abendausgaben vom 7. Juni. – Kurz: 173 174

158

Ableitinger / Unentwegt Krise

Rintelen, Erinnerungen 107f. – Zu den amtlichen Untersuchungen über den Einsatz der Polizei ein umfangreicher Sammelakt mit vielen Vernehmungsprotokollen in: StLA, Statth-Präs., E 91, 1525/1920, K. 1157. Darin u. a. auch, dass gegen den kommandierenden Polizeioffizier Arnold Lichem, derselbe wie am 22. Februar 1919 am selben Ort, im August Erhebungen wegen § 355 StGB eingeleitet, im Dezember 1920 gemäß § 90 StPO zurückgelegt wurden. Dazu auch: Gebhardt, Gendarmerie in der Steiermark 202ff. – Die Landtagssitzung vom 8. Juni 1920: StBerLT 1919/1920, 561. – Nur gendergeschichtlich ergiebig: Berger, Grazer „Kirschenrummel“. 183 Anfrage der Abgeordneten Hans Primus und Johann Leichin, StBerLT 1919/1920, 612f. 184 StBerLT 1919/1920, 678–745; die Sitzung dauerte 13 Stunden, von 10.05 bis 23.10 Uhr. 185 Ahrers Ausführungen im StBerLT 1919/20, 682– 684, Neufuß und die Heiterkeit 682, Resel 684 (ein Recht gehabt) bzw. 705 (13.000 Gewehre), Schrecken­ thal 705, Pfriemer (sic!) 706; er dürfte in Graz noch weitgehend unbekannt gewesen sein; zu Peinlich (Der Mann gehört weg) 709. – Über die Anfrage von Primus und Leichin betreffend Peinlich und die von der SDAP behauptete Untätigkeit der Landesregierung beim Schutz gegen Horthybanden geht die Debatte am 15. September 1920 weiter, StBerLT 1919/20, 806. Rintelen weist die Vorwürfe am 23. September zurück, StBerLT 1919/20, 841f. 186 StBerLT, I. Periode, 165. 187 Für das Bauernkommando wurden diese Prozesse bereits gezeigt. Beim Murtaler Verband dürften teilweise dieselben Personen maßgeblich gewesen sein wie beim Judenburger „Volkstag“ von 1918 bzw. wie bei den, diesen beschickenden örtlichen „Volksräten“ der Region. Pfrimer, 1881 im deutschnationalen Marburg geboren und schon während seiner Studienjahre in Graz in der „Südmark“ und im „Deutschen Schulverein“ aktiv, wurde, seit er sich als Rechtsanwalt in Judenburg niedergelassen hatte, in der Region führender Akteur der „Volksräte“, an denen mitzuwirken die Sozialdemokraten abgelehnt hatten. Vielleicht resultierte daraus auch der betonte Antimarxismus Pfrimers und seiner Anhänger; jedenfalls reagierten sie stark auf die „rote Gefahr“ im Raum Judenburg–Knittelfeld–Fohnsdorf. Vgl. Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 40–42 und ergänzend Hofmann, Pfrimer-Putsch 8f., sowie Zechner, Walter Pfrimer. 188 Rape, Heimwehren 215–220, zum Personal um Patterer 218. – Um die christlichsoziale Organisation in der Weststeiermark kümmerten sich vor allem

der Abgeordnete Franz Huber aus Stallhofen und der Journalist Franz Ircher aus Schwanberg. 189 Rape, Heimwehren 93–111, bes. 198f. – Differenzen, die Ahrer mit den „nationalen“ Heimwehren habe, erwähnte hämisch auch der Landtagsabgeordnete Sonnhammer im Landtag am 30. März 1921; sie waren mithin in die Öffentlichkeit gelangt, StBerLT, I. Periode, 165. 190 Rape, Heimwehren 221f. 191 Zu Rauter während der zwanziger und frühen dreißiger Jahre: Wiltschegg, Heimwehr 243–245, zu seiner späteren Funktion als Höherer SS- und Polizeiführer in den Niederlanden: Birn, Rauter 408– 417. 192 Ableitinger, „Unpolitische“ Heimwehr. 193 Überhaupt ist ungewiss, ob sie bis dahin, ausgenommen in Brodmanns und Pfrimers Regionen, so viel Bedeutung hatten, wie ihre rivalisierenden Funktionäre sich suggerierten. Rape, gestützt auf deutsche Archivquellen und einige Memoiren, darunter die Rintelens, neigt dazu, ihr Gewicht zu betonen. In den von ihm genutzten, für die Zentralen der „Einwohnerwehr“ in München bzw. Rosenheim bestimmten internen Berichten machen sich deren Funktionäre jedoch teilweise übertrieben wichtig. Auch Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 42, spricht, allerdings nur für den Selbstschutzverband, von einer „beachtlichen Streitmacht“, die die bürgerlichen Parteien erst veranlasst habe, analog aktiv zu werden. – Dagegen urteilt Wiltschegg nicht explizit darüber, ob die Heimwehren in der Steiermark bis 1923 Relevanz hatten (Wiltschegg, Heimwehr 172f.). Ähnlich Höbelt, Heimwehren 219–222. 194 Die Zahlen nach Lipp, Landtag 55–63 (für Landtag 1920) bzw. 31–41 (für Landtag 1919); Zahlen zu den obersteirischen Gerichtsbezirken bei Lipp, Landtag 62f. bzw. 36f. – Nach: Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz 1, betrug die Differenz zwischen SDAP und Großdeutschen nur ca. 7.700 Stimmen. 195 Lipp, Landtag 65f. 196 Details zu Wahlbeteiligung und Wahlverhalten inklusive geschlechterspezifischer Aspekte bei: Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-27f., Tab. a–d. 197 StBerLT, I. Periode, 14f. – Franz Kölbl, später Stadtpfarrer in Hartberg, erfreute sich bald allseits hohen Ansehens und wurde 1923, 1927 und 1930 anstandslos wiedergewählt; er schied erst im Herbst 1933 aus dem Landtag (vgl. S. 146). – Bemerkenswert war im November 1920 auch, wen die Parteien in den durch die Bundesverfassung gerade neu geschaffe-

Ableitinger / Unentwegt Krise nen Bundesrat entsandten: die CSP z. B. Rintelen und Kaspar Hosch, ihren Listenführer im Wahlkreis Graz und Umgebung, die SDAP Resel, Pongratz und Machold. Die zweite Kammer des Parlaments wurde demnach anfangs ernst genommen. Grund für diese Entsendungen kann aber auch gewesen sein, dass Mitglieder des Bundesrates und Mitglieder des Nationalrates einer Partei jeweils einen gemeinsamen „Klub“ im Parlament bildeten und Landespolitiker von Gewicht zunächst diesen Klubs angehören, also Bundespolitik mehr oder weniger mit beeinf lussen wollten. 198 StBerLT, I. Periode, 21f. (Mißtrauen) bzw. 50–52 (Lob); beide Male ist ihr Sprecher der Grazer Bürgermeister Vinzenz Muchitsch, im politischen Alltag ein ganz konsensorientierter Mann. 199 5., 8. und 10. Sitzung vom 8., 30. März bzw. 6. April 1921, StBerLT, I. Periode, 73f., 158–160, 165–177. – Zu beachten ist, dass „5 Millionen“ Kronen inf lationsbedingt schon damals nicht sehr viel waren. Hier und vollends später, wenn in ähnlichen Debatten polemisch von „Milliarden“ die Rede war, war das absolut populistische Rhetorik: 1922 in der Hyperinf lation war der Wert der Krone ins Bodenlose gestürzt, danach durch den Schilling abgelöst worden (10.000 Kronen = 1 Schilling); trotzdem wurde verbal, wenn es beliebte, noch jahrelang mit Kronen-Summen in Milliardenhöhe operiert. – Das Resel-Zitat: StBerLT, I. Periode, 172. – Außerdem bestätigt Resel, dass in der Wehrmacht der Hauptsache nach Proletarier seien, dies freilich weil sich Bauernsöhne nicht zu ihr meldeten, obwohl wir nie irgendeinen Bauernsohn abgelehnt haben. Wenig später kritisiert Machold an Rintelen, dass der von seinem Recht ausgiebig Gebrauch mache, nicht im Land heimatberechtigte Bewerber für das Heer abzulehnen. Man sieht: personelle „Umpolung“ der „Wehrmacht“ war schon im Gange. – Bemerkenswert ist, dass Hübler (GDVP) und Kobald (CSP) in der Debatte auf die gleichzeitigen kommunistischen Aufruhrakte im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland verweisen und mit ihnen implizit die Bewaffnung der Heimwehren legitimieren; Kobald sagt, in den erwähnten Regionen gebe es (gewissermaßen leider) keine Heimwehren, (die den Aufruhr hätten verhindern oder eindämmen können.) StBerLT, I. Periode, 169f. 200 Deshalb ist auch nicht zuverlässig auszumachen, ob nicht überhaupt Spiegelfechterei bzw. Pf lichtübungen vor der je eigenen Anhängerschaft am Werk waren, wenn nun und in den Folgejahren die Landtagsfraktionen verbal manchmal übereinander herzogen, primär deren „Hinterbänkler“. In der Presse

159

freilich herrschte gegeneinander immer eine schärfere Sprache. 201 Rintelen, Erinnerungen 110, 110–113; Botz, Gewalt in der Politik 83–85; Gorke, Anton Rintelen 56–58; StBerLT, I. Periode, 434. – StLA, StatthPräs., E 91, 1251/1921, K. 1157; Sammelakt mit zahlreichen Gendarmerieberichten; aus diesen geht u. a. hervor, dass es mehrere Versammlungen brauchte, um die Arbeiter in Bruck an der Mur und Kapfenberg wegen der Verhaftungen zu beruhigen; Resel, Eisler und Wallisch mussten „ausrücken“. 202 StBerLT, I. Periode, 345. 203 Das Folgende fast ausnahmslos nach: Hinteregger, Anschlußagitation. 204 StBerLT, I. Periode, 433–435, das Machold-Zitat 434. 205 StBerLT, I. Periode, 437–451. – Dass Vereinbarungen stattgefunden hatten, erschließt sich aus den einzelnen Abstimmungsvorgängen im Landtag: Zuerst wurde die von den Großdeutschen und der Bauernpartei geforderte Umstellung der Tagesordnung mit 28 gegen 25 Stimmen abgelehnt (StBerLT, I. Periode, 437f.). Da die Antragsteller zusammen über maximal 15 Stimmen verfügten, kann nur rund die Hälfte der anwesenden Sozialdemokraten mit ihnen gegangen sein, die andere Hälfte aber enthielt sich – de facto zugunsten der Christlichsozialen. Bemerkenswert war zudem, dass sich die den Antrag stellenden zwei Parteien glatt überstimmen ließen; sie machten keinerlei Versuche, durch lange Reden zu obstruieren. – Bei der unmittelbar anschließenden Wahl des Landeshauptmannes gab es 19 leere Stimmzettel, wohl die sozialdemokratischen, eine ungültige und 36 Stimmen für Rintelen (StBerLT, I. Periode, 438), d. h. sieben mehr, als die an der Wahl teilnehmenden Christlichsozialen allein auf bringen konnten; es müssen demnach wenigstens sieben Großdeutsche bzw. „Bauernbündler“ für Rintelen votiert haben. Diese sieben stimmten aber am Ende der Sitzung in namentlicher Abstimmung gegen den Antrag auf Streichung der Volksabstimmung; dieser Antrag wurde mit 29 christlichsozialen Stimmen gegen die 15 aus den Reihen von Großdeutschen und Bauernpartei angenommen; die SDAP-Mandatare hatten, im Effekt wiederum zugunsten der Christlichsozialen, den Sitzungssaal, wie erwähnt, zuvor verlassen (StBerLT, I. Periode, 450f.). 206 StProtNR 1922, I. GP, 4687–4720, Eisler, der u. a. sagt, in der Steiermark wären Zernierungen von Orten (z. B. zuletzt Köf lachs) und nächtliche Verhaftungen von Arbeitern Methode geworden, die Rintelen praktizieren lasse, 4705–4708, das Zitat 4707, Methode 4706.

160

Ableitinger / Unentwegt Krise

Rintelen, Erinnerungen 135f. – Dort schreibt sich der Verfasser 1941(!) eine sehr aktive Rolle in dem Judenburger Geschehen von 1922 zu: Da die „Lokalbehörden“, weil zu schwach, gegen die allgemein bekannten „Rädelsführer“ von Waltersdorf nicht eingeschritten wären, hätten sich Bauern bei Pfrimer beschwert und dieser darauf in Graz Rintelens „Einschreiten“ erbeten und seine Bereitschaft erklärt, „seine Organisation gegen die schwerbewaffneten Kommunisten antreten zu lassen.“ Rintelen will darauf Peinlich „beauftragt“ haben, „eine größere Anzahl von Gendarmen zu konzentrieren, den Heimatschutz heranzuziehen, die Verhaftungen nachts durchzuführen und die Verhafteten sofort nach Graz zu überstellen.“ Die „Aktion“, heißt es weiter, wäre von Meyszner „überfallsartig durchgeführt“ worden, die „Wucht“ der „Heimwehrbataillone“ habe die „Marxisten“ die Forderungen Pfrimers „bedingungslos“ annehmen und u. a. ihre „Waffen niederlegen“ lassen. – Rintelen beschrieb seinen Part also ganz anders als 1922 im Landtag (vgl. die folgende Fußnote) und rühmte sich geradezu dessen, wofür ihn Eisler kritisiert hatte. In Rintelens Absicht, sich hervorzutun, übertreibt seine Darstellung aber möglicherweise nicht nur dort, wo sie, evident falsch, bedingungslose Unterwerfung der „Marxisten“ behauptet. – Vorsichtiger hinsichtlich Rintelens Rolle und ohne Erwähnung der Vorgänge in Knittelfeld: Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 43f. – Botz, Gewalt in der Politik 167, erwähnt die Vorgänge nur ganz kurz. – Sehr ausführlich die zeitgenössischen Zeitungen. 208 StBerLT, I. Periode, 841–875. Machold 841–850 und 872–875, Rintelen 850–854, Regner 857–859; dieser fühlte sich von Berichten des „Grazer Volksblatt“ (19. 11. 1922), wonach er Arbeiter aufgefordert habe, mit „Hundspeitschen“ gegen „Gesindel“ unter Bauern und Bürgern sowie gegen „Hakenkreuzler“ vorzugehen, vollkommen falsch interpretiert – die „Hundspeitschen“ hätten den Griff zu Schusswaffen ersetzen, hätten somit nicht verhetzen, sondern im Gegenteil dämpfen sollen. – Die Deutung, dass die Debatte trotz einzelner verbaler, jeweils an die Adresse der eigenen Anhängerschaft und deren Ressentiments gerichteter „Höhepunkte“, auf Deeskalation gerichtet war, wird dadurch bestätigt, dass „Judenburg“ in den folgenden Landtagssitzungen nicht wieder aufgegriffen wurde, übrigens nach dem 15. November auch nicht mehr im Nationalrat. Tatsächlich war der politische Alltag in diesen und den folgenden Wochen ganz von den Auseinandersetzungen um die „Genfer Sanierung“ determiniert. 207

Meyszner sollte später in und außerhalb der steirischen Landespolitik von sich reden machen, ab 1941 als Höherer SS und Polizeiführer im vom „Dritten Reich“ besetzten Serbien. Vgl. Moll, August Meyszner. 210 Zur damaligen wirtschaftlichen Situation Österreichs generell: Kernbauer/März, Die wirtschaftliche Entwicklung 347–358; Weber-Felber, Freie Gewerkschaften 33–39; Sandgruber, Ökonomie und Politik 354–363. – Zur „Genfer Sanierung“: Ladner, Seipel; Weber-Felber, Freie Gewerkschaften 39–46. – Zu den innenpolitischen Kontroversen über sie: Berchtold, Verfassungsgeschichte 322– 330, 350–362 und Hanisch, Otto Bauer 214–219. 211 Die erste Legislaturperiode des Nationalrates war 1920 ausnahmsweise auf drei Jahre begrenzt worden, weil man sich in der Eile, mit der damals das Bundes-Verfassungsgesetz finalisiert worden war, nicht auf eine definitive Nationalratswahlordnung hatte verständigen können. Mit deren Verabschiedung (BGBl. 367/1923) wurde sowohl die Gesamtzahl der Mandate auf 165 herabgesetzt wie auch, zwecks Verwertung von „Reststimmen“, das „zweite Ermittlungsverfahren“ in definitiver Weise etabliert. Davon profitierten primär die Deutschnationalen, die bis dahin unter dem Bonus des mehrheitsfördernden Verhältniswahlrechtes gelitten hatten; vgl. S. 42. 212 Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-30, Tab. a und b; Weinzierl/Skalnik, Österreich 1092. 213 Die Zahlen, dort um regionale Resultate angereichert, nach Lipp, Landtag 77–87 bzw. 66 und 55 für 1920; sie differieren ein wenig von denen Stiefbolds. – Für Graz: Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz 1; die Details dort in den Anmerkungen. 214 StBerLT, II. Periode, 3f. 215 Kernbauer/März, Die wirtschaftliche Entwicklung 359–367. 216 Berchtold, Verfassungsgeschichte 374f. 217 Rintelen, Erinnerungen 225f. 218 StBerPLV 145f. 219 Zur baulichen und technischen Ausstattung der neuen Kraftwerke und zu ihrer Leistungskraft detailreich: Riegler, Wasserwirtschaft 446–454; Karner, Kampf; Karner, Wasser; zusammenfassend Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert 183, 188–190. 220 Engagements des Landes für die STEWEAG erfolgten z. B. 1921 durch Landeshaftung für eine große Anleihe der Gesellschaft, die, wie es bald hieß, im In- und Ausland gut aufgenommen wurde, durch 209

Ableitinger / Unentwegt Krise Mitgehen des Landes bei damals inf lationsbedingt notwendig gewordenen Kapitalaufstockungen im März, Juni und Dezember 1922 usw. in: StBerLT, I. Periode 1920–1923, 421–424 (ergänzend 696 zur guten Platzierung der Anleihe) bzw. 837 und 913, ferner Landeshaftung für ein 5-Millionen-Frankendarlehen am 21. Dezember 1922, StBerLT, I. Periode 1920–1923, 1024. – 1926/27 wurden Teile der 5-Millionen-Dollaranleihe, die das Land in New York hatte platzieren können, der STEWEAG zugeführt; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert 185. 221 Rintelen, Erinnerungen 226–230. – Zum italienischen Engagement Rintelen selbst näher in: Grazer Volksblatt (21. 12. 1924), 1; danach erwirkte er den Einstieg von italienischen Anteilseignern im Umfang von 180 Mrd. Kronen, (später 18 Mill. Schilling) bei Wahrung der steirischen „Quote“ von 30 Prozent des Aktienkapitals. – Im Zusammenhang mit den internen Differenzen in der steirischen SDAP suggerierte Rintelen, dass 1919 der damalige Wirtschaftskommissar bzw. Landesrat Arnold Eisler im Grazer Landtag quasi als Agent Wiens fungiert habe, der, weil „jüdisch“, damit „den Antisemitismus in der Steiermark sicherlich mächtig“ gefördert habe – ein typisches Beispiel für damalige Rhetorik (Rintelen, Erinnerungen 227). 222 StLA, L.Reg., Regierungssitzungsprotokolle, K. 1925, das Machold-Zitat aus der Sitzung vom 21. Februar 1925. – Die SDAP begehrte z. B. kein Verhandlungskomitee, in dem sie vertreten gewesen wäre. – Neben Investitionen der Steweag wurde aus der Anleihe u. a. auch der Bau der Landesbahn von Feldbach nach Gleichenberg, und zwar deren verlängerte Version über Gnas, (mit)finanziert; Vgl. Pferschy, Wirtschaftliche und politische Entwicklung 322, Grasmug, Feldbach 308. 223 Staudinger, Aspekte christlichsozialer Föderalisierungspolitik 65. – Ahrer engagierte sich offenbar für das Wehrgesetz vom März 1920; vgl. S. 70f. 224 Zur Thematik kurz: Berchtold, Verfassungsgeschichte 330–335. 225 Rintelen, Erinnerungen 156–162, 224–232, 297, Anm. 2. 226 Zu Rintelens späteren Aktivitäten in Wien und dann in Rom S. 57, 88, 136, 144f. 227 Berchtold, Verfassungsgeschichte 379–388. 228 Ahrer, Erlebte Zeitgeschichte 213–224, 240f.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 426–431; Ableitinger, „Steirisches Wirtschaftsprogramm“. 229 Ahrer, Erlebte Zeitgeschichte 261f., 266–272. – Unmittelbar nach dem Abgang als Finanzminister kehrte Ahrer noch in die Landespolitik zurück; er

161

hatte sein Landtagsmandat nicht aufgegeben und wurde sogar wieder Obmann der CSP-Fraktion. Aber sehr bald galt er unter seinen Parteifreunden, anders als früher, nicht mehr als „zweiter Mann“ nach Rintelen. Das scheint mit den erwähnten familiären Kalamitäten zu tun gehabt zu haben, die es für die Partei nicht ratsam machten, ihn wieder für ein (bezahltes) Regierungsamt vorzusehen. Auch privatberuf lich bekam er keinen Boden unter die Füße; er war noch nicht zugelassener Rechtsanwalt. Im Sommer 1926 verschwand er über Nacht aus Graz, erst nach einiger Zeit erfuhr man, dass er sich in Kuba auf hielt – angeblich mittellos. Im November 1926 weigerte er sich, zwecks Befragung durch den Centralbank-Untersuchungsausschuss zurückzukehren. Im Frühjahr 1927 war er noch einmal kurz in Wien, wurde aber angeblich verhalten, sofort wieder ins Ausland zu gehen; die Fama wollte wissen, dass Seipel das veranlasste und Ahrer mit Geld versah. – 1930 erschienen Ahrers Memoiren „Erlebte Zeitgeschichte“, über weite Strecken eine wertvolle Quelle. Später unterhielt Ahrer in Wien eine Anwaltskanzlei. Er starb 1962 in der Bundeshauptstadt. 230 Zum Folgenden ausführlich: Ableitinger, Krise der steirischen Christlichsozialen; dort die Nachweise im Detail. 231 Bericht des auf Grund des Centralbankgesetzes (BGBl. 173/1926) eingesetzten Untersuchungsausschusses. StProtNR, 2. GP, Nr. 175 der Beilagen (X, 237 Seiten). 232 Bericht des Untersuchungsausschusses (vgl. Anm. 231) 154–157; Ableitinger, Krise der steirischen Christlichsozialen 269. 233 Bericht des Untersuchungsausschusses (vgl. Anm. 231) 162f.; Ableitinger, Krise der steirischen Christlichsozialen 270. 234 Der „Arbeiterwille“ titelte am 19. November 1926 auf S. 2: „Ahrer wurde Finanzminister nur um die Steirerbank zu retten“. 235 Außerdem sprachen andere Indizien für diesen Zusammenhang. Zu den Details: Ableitinger, Krise der steirischen Christlichsozialen 257–260. 236 Technisch ermöglicht wurden die Operationen, weil Prisching als Landeschef weiter das seit Herbst 1924 von ihm geleitete Finanzressort behalten hatte. – Übrigens war es in der Landesregierung Konsens gewesen, STEWEAG-Papiere anzukaufen und auf diese Weise u. a. etwas „Kurspf lege“ zu betreiben; Prisching hatte den Handel aber in Gang gesetzt, ohne, wie vereinbart, die Landesregierung genau zu informieren; die Transaktionen kostete das Land 1,3 Mill. Schilling, beinahe den gesamten Rest aus der

162

Ableitinger / Unentwegt Krise

Dollaranleihe. Die Details bei: Ableitinger, Krise der steirischen Christlichsozialen 263–266. 237 Grazer Volksblatt (Abendausgabe = 6-Uhr-Blatt) (28. 9. 1926), 1. 238 Arbeiterwille (29. 9. 1926); (4. 10. 1926), 1; (16. 10. 1926), 2. – Im November 1926 kam noch die Causa Postsparkasse hinzu; diese hatte sich seit Jahren von ihrem Hauptschuldner, dem Bankier Siegmund Bosel, abhängig gemacht, der 1925 nicht zahlen konnte oder wollte. Weil Ahrer als Finanzminister mit Bosel einen neuen Tilgungsplan vereinbart hatte, der im Rückblick für zumindest äußerst „ungünstig“ galt, vermutete der „Arbeiterwille“, dabei wäre „eine fette Provision“ für ihn abgefallen (16. 11. 1926, 1), eine Behauptung, die Machold im Landtag am 21. Mai 1927 als unbeweisbar quasi zurückzog, StBerLT, III. Periode, 5. 239 StBerLT, II. Periode, 1236–1240. 240 StBerLT, II. Periode, 1240 bzw. 1246. 241 StBerLT, II. Periode, 1255–1274 (Oberzaucher), 1300 (Enge, Muchitsch, Mikola sowie „Paul oder Riegler“). 242 StBerLT, II. Periode, 1301–1307. – Zu beachten sind, will man eine Vorstellung von der Dauer der Krawalle gewinnen, die Zeitangaben auf diesen Seiten: die teilweise nur kurzen Unterbrechungen abgerechnet, dauerten zwei dieser Sitzungen zwischen acht und neun Stunden, eine sechseinhalb Stunden, nur eine kam mit knapp zwei Stunden aus. Aber jede Sitzung beansprucht nur eine Protokollseite, es gab offenbar nichts zu protokollieren. 243 StBerLT, II. Periode, 1309–1316, das Zitat 1316. 244 StBerLT, II. Periode, 1316–1318. – Eingangs hatte Präsident Franz Kölbl eine im Einvernehmen mit allen Parteien erarbeitete Art „Drehbuch“ aus mehreren Punkten für diese Sitzung verkündet, darunter neben der Wahl des Landeshauptmannes auch die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu den STEWEAG-Aktien. 245 StBerLT, II. Periode, 1318. 246 StBerLT, II. Periode, 1385–1396. 247 In der „gestrigen Sitzung“, schrieb die Zeitung, wären ihrem Abgeordneten Raimund Riemelmoser nur noch Beschimpfungen eingefallen – leicht erklärlich, weil für Riemelmoser „der Montag […] seinem ganzen Habitus nach nie ungefährlich ist“ –, doch hätte sich die SDAP dessen „Geistesblitze aus der Weinstube“, seine „Bübereien und Frechheiten“ nicht länger anhören wollen und also den Ausschuss verlassen. – So etwa war der Umgang miteinander. Christlichsoziale Blätter, voran das „Volksblatt“, bemühten sich natürlich, die Tonlage zu dämpfen und unter Hinweis auf die Regierung Seipel, die inzwi-

schen jene Rameks abgelöst hatte, zu versichern, „die Reinigung des öffentlichen Lebens“ wäre jetzt ohnedies „auf dem Marsch“. – Grazer Volksblatt (23. 11. 1926), 1, ein Leitartikel mit dem Titel „Ist der ganze Schutt weggeräumt?“ von „k.sch.“, d. h. Karl Schwechler. 248 Grazer Volksblatt (23. 6. 1927). 249 Zu Ude u. a.: Liebmann, DDDDr. Johann Ude; Liebmann, Johannes Ude; Farkas, Aufstieg und Fall; Farkas, Johannes Ude. – Grazer Volksblatt (16. 6. 1927), Zitat aus einem Vortrag Gürtlers vom 13. 6.: „Zum Neuauf bau der christlichsozialen Partei“. 250 Arbeiterwille (24., 26. und 27. 3. 1927). Die „Aufdringlichkeit“ bezog sich darauf, dass Rintelen sich bei Wahlversammlungen „aus Furcht vor den Bauern“ angeblich mit einer „Leibgarde“ umgab. 251 Arbeiterwille (27. 3. 1927), 2: „Was die Christlichsozialen über ihre großdeutschen Freunde und die Landbündler erzählen“. 252 Beides nach Sonntagsbote (3. 4. 1927), 2. 253 Sonntagsbote (17. 4. 1927), 3. 254 Ude selbst hatte nicht kandidieren dürfen, Bischof Ferdinand Pawlikowski hatte es ihm explizit untersagt. 255 Zu den Resultaten der Landtagswahl: Lipp, Landtag 95–100, ferner Haas, Die vergessene Bauernpartei 185 und Ableitinger, Krise der steirischen Christlichsozialen 279f. – Über die Wahlen zum Nationalrat nach Wahlkreisen differenziert: Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-31f., Tab. a und b. Die dort gegebenen Daten dürfen fast eins zu eins auf die Wahlen zum Landtag übertragen werden: Demnach betrug die Wahlbeteiligung in den Wahlkreisen der Steiermark zwischen 80 (Mittelsteier) und 87 (Obersteier) Prozent, das Verhältnis zwischen Frauen und Männern war bei Wahlberechtigung und -beteiligung seit 1920 ziemlich konstant geblieben, ebenso das Wahlverhalten der Geschlechter; die CSP bzw. die „Einheitsliste“ bekam nach wie vor weit mehr Stimmen von Frauen als von Männern, besonders in den Wahlkreisen GrazUmgebung und Obersteiermark, bei SDAP und Landbund verhielt es sich umgekehrt. – Die Daten für die Stadt Graz in: Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz 1. 256 Grazer Volksblatt (25. 4. 1927), 1, Leitartikel; ähnlich Sonntagsbote (1. 5. 1927), 1: „Die Wahl ist so ausgegangen, wie das Volk gewählt hat oder auch von der Wahl ferngeblieben ist.“ Tatsächlich war die durchschnittliche Wahlbeteiligung in den Wahlkreisen Mittel- bzw. auch Obersteiermark 1923 signifikant niedriger gewesen; vgl. Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-30, Tab. a.

Ableitinger / Unentwegt Krise Übrigens meinte das Blatt, dass der gerade zum Diözesanbischof ernannte Pawlikowski wohl seine Hand im Spiel gehabt habe; ihm sei gewiss der Katholik Paul lieber als der Protestant Gürtler; alles Arbeiterwille (12. 5. 1927), 1: „Für Klarheit“. 258 Alles 6-Uhr-Blatt (9. 5. 1927), 1: „Die neue steirische Landesregierung“. – Auffällig auch, dass das Volksblatt Gürtlers Rede „Zum Neuauf bau der christlichsozialen Partei“ am 16. Juni fast die ganze erste Seite widmete, samt Fortsetzung auf Seite 2 (Grazer Volksblatt, 16. 6. 1927, 1f.). 259 Grazer Volksblatt (15., 16. und 17. 5. 1927); Sonntagsbote (22. 5. 1927). 260 StBerLT, III. Periode, 10. 261 Grazer Volksblatt (25. 4. 1927), 1. 262 Grazer Volksblatt (9. 5. 1927), 1. 263 StBerLT, III. Periode, 2–7, hier 3. 264 Aus der umfangreichen Literatur ist hervorzuheben: Botz, „Juli-Demonstranten“. 265 Das Vorstehende und Folgende in der Hauptsache nach den Grazer Tageszeitungen beginnend vom 15. Juli abends bis etwa 20. Juli sowie dem „Sonntagsboten“ bis 31. Juli. Einzelnachweise und überhaupt viele Details mitsamt ihrer Einordnung bzw. Interpretation bedürften einer Spezialuntersuchung. 266 Arbeiterwille (19. 7. 1927), 3: Landeshauptmann Paul sah zwar solches „Zusammenarbeiten“ skeptisch, äußerte aber, es wäre „den kompetenten Organen des Landes natürlich nur recht gewesen“, wenn eine „Organisation“ erklärte, „in ihren eigenen Reihen Ordnung halten zu wollen“. – Ähnlich: 6-Uhr-Blatt (18. 7. 1927), 1: „Die Ausübung des Sicherheitsdienstes in Graz“. 267 „Landesverband der Heimatschutzverbände (Heimwehr und Heimatschutz)“, „Bereitschaft“, „tadellos“, „20.000 Mann“, „Appell an […] Disziplin“ und „Sicherungsdienst“ in Sonntagsbote (24. 7. 1927), 5f.: „Die Heimwehren. Die Retter der Heimat“. – Landbund-Abgeordnete in Tagespost (Abendausgabe) (18. 7. 1927), 6; „Straßen- und Bahnsicherungen“ in Tagespost (19. 7. 1927), 3 „Die Heimwehren“; dort auch über Heimwehr-Vorkehrungen in der Oststeiermark. – Befehl „lediglich aktionsbereit“ in 6-Uhr-Blatt (18. 7. 1927), 1. – In polemischem Ton bestätigte das meiste der Arbeiterwille (19. 7. 1927): „Die Heimwehr hat ihr wahres Gesicht gezeigt“. 268 6-Uhr-Blatt (18. 7. 1927), 1. 269 Landtagssitzung vom 25. 7 1927, StBerLT, III. Periode, 57–61 (Abgeordneter Aust, SDAP). 270 Landeshauptmannstellvertreter Riegler aus St. Georgen ob Judenburg im Landtag am 25. Juli 1927, StBerLT, III. Periode, 65f. 257

163

Zu Bruck an der Mur und zum Brucker Bezirk ausführlich: Soós, Koloman Wallisch 68–72. Das generell analytisch anspruchslose und streckenweise geradezu hagiographische Buch gibt hier (und an anderen Stellen), weil mit scharfem Klassenkampf sympathisierend, in zustimmender Sprache viele Details, u. a. Seite 70 zur „Straßenbewachung“ durch den Schutzbund im Bezirk. 272 Wir folgen hier Horniks Ausführungen im Landtag am 25. Juli (StBerLT, III. Periode, 51f.). Gegen deren Korrektheit wurde dort nur vorgebracht, die Bürgerlichen wären nicht bedroht worden, sondern hätten aus freien Stücken zugestimmt. Es wurde nie Diktatur des Proletariats ausgerufen, bemerkte Oberzaucher (StBerLT, III. Periode, 54); Soós, Koloman Wallisch 69f. – Selbstverständlich war im Landtag anschließend von „Sowjetregime“ und „Rätediktatur“ die Rede, die in Bruck an der Mur geherrscht hätten, auch von Wallischs Rolle als „roter“ Kommissar während der ungarischen Räteherrschaft Bela Kuns im Jahr 1919. 273 Vgl. Tagespost (Abendausgabe) (19. 7. 1927), 1: Die „Leitung“ der Heimwehren wäre von den Vorgängen so erregt gewesen, dass sie „bei der Landesregierung intervenierte“. 274 Arbeiterwille (19. 7. 1927), 2. 275 Machold, StBerLT, III. Periode, 81. 276 Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 49 und, sehr polemisch, Arbeiterwille (19. 7. 1927), 2; das Blatt schrieb, Pfrimer habe sich „wie verrückt“ gebärdet und immer wieder geplärrt „‚Nix verhandeln, ich lege mit meinen fünftausend Mann los.‘“ Über einen heftigen Zusammenstoß mit Pfrimer berichtete auch Machold im Landtag vom 25. Juli, StBerLT, III. Periode, 81. 277 Tagespost (19. 7. 1927), 1: „Der Verkehrsstreik abgebrochen“. 278 Alles nach 6-Uhr-Blatt (18. 7. 1927), 2. – Der „Arbeiterwille“ berichtete am 19. 7. von sozialdemokratischen Zusagen nichts und behauptete, „die Großmäuler“ vom Heimatschutz hätten nicht gewusst, „was sie machen sollen, bis sie gestern um mittag erfuhren, dass die Wiener Parteileitung den Verkehrsstreik für beendet erklärte“. – Dem „Sonntagsbote“ vom 24. 7., S. 6 zufolge brauchte es Montag, den 18. Juli, mittags ein weiteres Ultimatum der Heimatschützer an Paul, weil am Morgen im wieder aufgenommenen Eisenbahnverkehr „nur sozialdemokratische Arbeiter zugelassen“ worden wären; diese Intervention wäre erfolgreich gewesen. 279 Hanisch, Otto Bauer 245. 280 Tagespost (19. 7. 1927), 1; Bruck an der Mur und Wallisch blieben unerwähnt, der linken Presse atte271

164

Ableitinger / Unentwegt Krise

stierte das Blatt aber eine „radikale Schreibweise“ – bei der Diktion des „Arbeiterwille“ vom gleichen Tag nicht zu unrecht. 281 16–22.10 Uhr, StBerLT, III. Periode, 49–87. 282 StBerLT, III. Periode, 55f. 283 StBerLT, III. Periode, 51f. 284 StBerLT, III. Periode, 53f. 285 StBerLT, III. Periode, 80. 286 StBerLT, III. Periode, 81. 287 StBerLT, III. Periode, 85–87. 288 StBerLT, III. Periode, 71f. 289 StBerLT, III. Periode, 83. 290 StLA, ZGS, K. 187. So Machold im Entwurf für seinen „Bericht“ an den Parteitag der steirischen SDAP im März 1930. 291 „Fragile Stabilität“ nach Hanisch, Otto Bauer 201– 255. 292 Berchtold, Verfassungsgeschichte 464–469. – Auf dem Parteitag der SDAP stießen Bauers und Renners Positionen hart aufeinander: Der erste fand, ein Regierungseintritt der Partei käme jetzt einer Kapitulation gleich, weil das Ministerium am und seit dem 15. Juli keinerlei Entgegenkommen gezeigt habe, der zweite meinte, die SDAP sei so stark, dass sie nicht nur in den Ländern mitregiere und Wien sogar allein verwalte, sondern den „bürgerlichen“ Regierungskoalitionen thematisch so viel vorgebe, dass diese nicht mehr der „Vollzugsausschuss der besitzenden Klasse“ wären. In ihrem Kampf um die Staatsmacht dürfe die SDAP nicht mehr auf „alles oder nichts setzen“, überhaupt müsse sie vom Begriff der „Revolution im Heugabelsinn“ wegkommen. – Den Anstoß zu solchen öffentlichen Diskussionen hatte bereits im Herbst 1926 namens der nieder­ österreichischen „Genossen“ Landesrat Oskar Helmer gegeben, als er sich für das in den Bundesländern praktizierte Modell der Proporzregierungen aussprach. Salzburger und Burgenländer stimmten ihm zu, aber nicht die Steirer, obwohl sie diese Auffassungen teilten. Vgl. S. 113. – Der Parteitag 1927 beschloss letztlich, eine Koalition mit den „Bürgerlichen“ wäre nicht möglich, solange diese die Interessen und die Würde der Arbeiterklasse de facto ignorierten – ein taktisch-verbaler Kompromiss im Namen der „Einheit“ der Partei, der Renners Analyse des damaligen Ist-Zustandes in den Wind schlug. 293 Einige konkrete Hinweise inklusive Literatur über sie bei Höbelt, Heimwehren 221f. 294 Viele Details bei Berchtold, Verfassungsgeschichte 464–489. 295 Berchtold, Verfassungsgeschichte 496–499. 296 Vgl. Höbelt, Heimwehren 223f., 228–232.

Die 9. Sitzung am 17. November, begonnen um 16.05 Uhr, musste um Mitternacht (0.10) unterbrochen und am folgenden Nachmittag (17.10 Uhr) fortgesetzt werden (StBerLT, III. Periode, 136–181). – Während sich die Mehrheitsparteien in Voraussicht ihre Abstimmungssieges leicht zurückhalten konnten, schenkte die SDAP ihnen nichts: Leichin (SDAP) z. B. attestierte Pfrimer, eine Bartholomäusnacht über die österreichische Arbeiterschaft heraufzubeschwören, er predige offen den Massenmord (153). Merkwürdigerweise polemisierte Regner (SDAP) dagegen, dass die Bundesbahnen, jetzt ein eigener Körper, wieder unter die Hoheitsverwaltung gestellt werden sollte, damit die Eisenbahner unter das Republikschutzgesetz fielen (143). – Wie 1922 forderte zuletzt Thoma (LB) Abbau der Aufrüstung, ohne den es keinen wirtschaftlichen Aufbau geben könne (180). – Die Abstimmung selbst verlief unspektakulär, die SDAP ließ sich glatt überstimmen (181) – vielleicht ein Indiz dafür, dass Dauer und Rhetorik der Debatte von ihr in Wahrheit primär zum Beweis ihrer Widerstandskraft vor dem eigenen Anhang gedacht waren. 298 StBerLT, III. Periode, 181–189. Diesmal begehrte die SDAP namentliche Abstimmung (189). – Das gegen Wallisch eingeleitete Verfahren wurde übrigens 1928 eingestellt. – Pfrimer, ohne Mandat und Immunität, hingegen wurde wegen seiner Drohungen von Mitte Juli wegen Hochverrates angeklagt, der wenig bekannte Prozess gegen ihn endete Anfang 1928 mit Freispruch; Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 224, Anm. 13. 299 Im StLA, ZGS, K. 194, Mappe „LR Regner, Korrespondenz“ finden sich zwei undatierte Blätter mit dem Titel Richtlinien. In deren 1. Artikel heißt es: Den sozialdemokratischen Gemeinde- und Bezirksfunktionären wird zur Pflicht gemacht, anlässlich der Verteilung der Referate in den Gemeinde- und Bezirksvertretungen sich unbedingt um das Armen- und Fürsorgereferat zu bewerben. Dieses ist nach Möglichkeit einer Frau zu übertragen. – Am selben Ort erliegen Resultate über Erhebungen, die Landesrat Regner, zuvor Bürgermeister von Knittelfeld, vor den Parteienverhandlungen rund um das Landesbudget für 1930 hatte anstellen lassen. Dabei wurde z. B. aus Vordernberg gemeldet, dass die 2.795 Einwohner zählende Gemeinde, in deren Gemeinderat es 11:5 für die SDAP stand, bereits 1929 für das Armenwesen 40.007,– Schilling ausgegeben hatte, für Fürsorge 16.268, für ihre Pf lichten gegenüber der zehnklassigen Volksschule (mit 337 Kindern) 18.250, für zwei Gemeindeangestellte (ohne Lehrer und zwei Pf leger in der Armenanstalt) 6.200, für Bürgermeister und andere 297

Ableitinger / Unentwegt Krise Mitglieder des Gemeindevorstandes 1.532,– Schilling. – Armenwesen und Fürsorge zusammen hatten damals bereits also das 3 ½ fache der Schule und rund das Achtfache des Gemeindepersonals ge­ kostet. 300 Landtagssitzung am 22. Dezember 1927, StBerLT, III. Periode, 360f. 301 Den „bürgerlichen“ Fraktionen fiel Zustimmung zu den einschlägigen Anliegen „roter“ Gemeinden umso schwerer, als es unvermeidlich ihre Klientel war – Gewerbetreibende, Kauf leute, Hausbesitzer –, die vor Ort steigende „Umlagen“ überproportional zu bezahlen haben würde; „Proletarier“ wurden von Gebäude- und Grundsteuerzuschlägen auch indirekt kaum betroffen, weil der „Mieterschutz“ die Erhöhung der Mieten eng begrenzte. (In Vordernberg betrugen 1929 die „Zuschläge“ auf die beiden Steuern ohnedies bereits nicht weniger als 360 %; StLA, ZGS, K. 194 in der Mappe „Verzeichnis der sozialdemokratischen Mehrheitsgemeinden. Korres­ pondenz Regner.“) 302 Landtagssitzung am 9. März 1928, StBerLT, III. Periode, 428–439 zu Fohnsdorf, 439–466 zu Graz, 440 das Zenz-Zitat. 303 Gorke, Anton Rintelen 103f. 304 Landtagssitzung am 23. April 1928, StBerLT, III. Periode, 485–492. – Der „Arbeiterwille“ vom 24. April konnte z. B. über die „Feigheit der bürgerlichen Parteien“ schreiben, die ihre „Stellungnahme für Rintelen zu maskieren“ versucht hätten, die aber von der SDAP-Fraktion gezwungen worden wären, „Farbe zu bekennen“; vgl. Gorke, Anton Rintelen 108. Dort werden aber die taktischen Verhaltensweisen der Parteien nicht beachtet. 305 Landtagssitzung am 13. Juni 1928, StBerLT, III. Periode, 496–504. 306 Landtagssitzung am 29. November bzw. 20. Dezember 1928, StBerLT, III. Periode, 607–617 bzw. 635– 660. 307 Schon im Juni hatte Sernetz (Ude-Partei), positiv vermerkt, dass Koloman Wallisch, der doch immer den politischen Totschläger in der Hand führt, […] plötzlich mildere Töne anschlägt, StBerLT, III. Periode, 519. 308 In der 33. Landtagssitzung vom 20. und 21. Februar 1929 wurde darüber eine lange Debatte geführt, StBerLT, III. Periode, 737–784. 309 Wir sind der Meinung, dass es nicht Aufgabe der Frauen sei, im politischen Leben zu kämpfen, sondern Sache der Männer, sagte Landesrat Winkler. StBerLT, III. Periode 746. 310 Bei der Landtagswahl 1930 bekam die Partei in Graz und den zum Grazer Wahlkreis zählenden Umgebungsgemeinden rund 60 Prozent ihrer Gesamt-

165

stimmen von Frauen, nur 40 Prozent von Männern. StLA, ZGS, K. 199 Mappe „Landtagswahl 1930“. 311 Landtagssitzung am 20./21. Februar 1929, StBerLT, III. Periode, 737–784; 754 namentliche Abstimmung; 752–754 Antrag Riemer betr. Landarbeiterkammer. Dazu: Redik, Steiermärkische Landarbeiterkammer. – Zur Landwirtschaftskammer überhaupt: Karner/Kopetz, Die grüne Mark. 312 Vgl. das „Nachwort zu den Bauernkammerwahlen“ in Grazer Volksblatt (24. 10. 1929), 1. 313 StBerLT, III. Periode, 889–903. – Den Gemeinden Graz, Leoben, Knittelfeld und Fohnsdorf hatte das Land eine solche „Lichtsteuer“ schon früher erlaubt, ihre Resultate waren günstig gewesen. – Im November 1932 bat der Grazer Finanzstadtrat Engelbert Rückl seinen Parteifreund Machold, sich für die Fortschreibung der „Lichtsteuer“ einzusetzen; diese mache einen bedeutenden Teil der Einkünfte der Landeshauptstadt aus. StLA, ZGS, K. 194, Mappe „Gemeinde Elektrizitätsabgabe. Weitereinhebung 1932“. 314 StBerLT, III. Periode, 193–204 (22. 11. 1927) und 480–483 (23. 3. 1928) sowie 910 (11. 7. 1929); die Gesellschaft sollte die Bedingungen des Baubeginns studieren und diesen vorbereiten; ihr Kapital betrug bloß 200.000 Schilling. 315 Landtagssitzung am 23. Dezember 1929, StBerLT, III. Periode, 951–976; 954 das Aust-Zitat. 316 Vgl. S. 112. 317 Viele Details aus dem Innenleben der steirischen Heimwehren bzw. des Heimatschutzes auf Basis neuer Quellen bei Höbelt, Heimwehren 228–232, 238f. 318 Ein Exemplar der „Satzungen“ in StLA, ZGS, K. 199. 319 Brandtner, Diskursverweigerung 140. 320 Brandtner, Diskursverweigerung 84; dort irrig „Bleimauer“. – Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 58, unter Berufung auf das Grazer Tagblatt vom 28. November 1928. – Soós, Koloman Wallisch 78. 321 Brandtner, Diskursverweigerung 194. 322 Brandtner, Diskursverweigerung 193–196; weitere Beispiele 190–192. – Soós, Koloman Wallisch 82, 86, 89 (St. Marein). 323 Die Zitate aus: Bericht des Landesparteivorstandes der Sozialdemokratischen Partei Steiermarks an den Landesparteitag für das Jahr 1929 (Graz 1930), 4. 324 Brandtner, Diskursverweigerung, erwähnt 84, Anm. 221 differierende Gründungsdaten und gibt 144–146 weitere Beispiele für die Identität von Heimatschutzleitern, Alpine-Angestellten und UGFunktionären. – Staudinger, „Unabhängige Ge-

166

Ableitinger / Unentwegt Krise

werkschaft“; Stocker, Arbeiterschaft 21–45; Fraydenegg-Monzello, Volksstaat und Ständeordnung 53–77. 325 Zur gewerkschaftlichen Position zu Rationalisierungen und Produktivitätssteigerungen 1927 bis 1929 generell: Weber-Felber, Freie Gewerkschaften 110–120. Dabei geht die Verfasserin auf „Fordismus“ und DINTA nicht ein. – Zu diesen sehr kritisch: Brandtner, Diskursverweigerung 144f. 326 Brandtner, Diskursverweigerung 146. Die Quelle, die Chronik des Bezirksgendarmeriekommandos Leoben, ist allerdings von ungewisser Seriosität; wie sie die genannten Zahlen ermittelt bzw. erhoben hatte, sagt sie nicht, sie kann sie durch übertriebene Informationen aus Kreisen der UG bezogen haben. 327 Stocker, Arbeiterschaft 21–40 über „die Maßnahmen der Alpine zur Zerschlagung der Arbeiterbewegung“. 328 Brandtner, Diskursverweigerung 145–147. 329 Vgl. S. 118. 330 Für den Frühsommer 1931 ist gesichert, dass Industrieverbände und ÖAMG ihm deshalb ihre Zahlungen kürzten. Brandtner, Diskursverweigerung 133f., 148–150, mit weiterer Literatur. – Höbelt, Heimwehren 229–232, kommt auf Basis interner Heimwehr-Quellen für 1928 auf insgesamt 7.500,– Schilling pro Monat, davon nur 1.600 an Pfrimer (232). 331 Kerekes, Abenddämmerung. 332 Die Zahlen, auf die sich Pfrimer berief, bei Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 61, die selbstkritischen bei Höbelt, Heimwehren 224. Die Zahl 120.000 erklärt sich, wenn sie nicht vollends erfunden war, am ehesten daraus, dass Pfrimer in sie neben „Mitgliedern“ auch die „Vereine, Körperschaften und Gesellschaften“ einbezog. Vgl. S. 107. 333 Höbelt, Heimwehren 239. 334 Brandtner, Diskursverweigerung 197. – Das Folgende primär nach Botz, Gewalt in der Politik 172–179; ergänzend Soós, Koloman Wallisch 90–94 (Mit Informationen über die Reaktionen von SDAP und Schutzbund in den anschließenden Wochen). – Zu den Provokationen im Vorfeld gehörte namentlich: Der Brucker Bezirksführer des Heimatschutzes Konstantin Kammerhofer wollte nicht zulassen, dass Wallisch bei den „Roten“ die Festrede hielt, der „Arbeiterwille“ revanchierte sich am 17. mit der Meldung, die Heimatschützer hätten einen „Rückzieher“ machen und statt der Festwiese, die dem „Resch“ zugesprochen worden war, einen anderen Versammlungsplatz akzeptieren müssen 335 Botz, Gewalt in der Politik 178f.; Vlcek, Schutzbund 216f.; Hofmann, Pfrimer-Putsch 14f.; Pauley,

Hahnenschwanz und Hakenkreuz 57f. – Auch Hasiba, St. Lorenzen im Mürztal. – Ein Indiz für die Irrigkeit solcher Vermutungen mag sein, dass es in Graz zwischen Mitgliedern der Landesregierung aus SDAP, CSP und vielleicht auch anderen (z. B. Winkler) offenbar Konsultationen über den Umgang mit den Vorgängen in St. Lorenzen gab; vgl. Anm. 339. 336 Gorke, Anton Rintelen 112; zu den Zahlen der Teilnehmer Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 59. 337 Berchtold, Verfassungsgeschichte 567–569. 338 Berchtold, Verfassungsgeschichte 571. 339 Macholds Redetyposkript in StLA, ZGS, K. 187, Mappe „Sozialdemokratische Partei 1918“; die Zitate auf S. 2–5. – Das Faktum solcher geheimer Kontakte ist dadurch belegt, dass Macholds Ghostwriter, der Klubsekretär Dr. Goldemund, in einem früheren handschriftlichen Entwurf des Redetextes einen Abschnitt vorgesehen hatte, der dann für das Typoskript nicht mehr ausformuliert wurde, weil Machold eigenhändig mit Bleistift dessen Titel gestrichen hatte. Nur der für diesen Abschnitt gedachte Zwischentitel ist im Erstentwurf (S. 31) überliefert. Er lautete: (Politische Verhandlungen der Regierungsmitglieder [der SDAP] mit den Gegnern im Zusammenhang mit Heimwehraufmärschen – St. Lorenzen – 12. November usw.). StLA, ZGS, K. 12, „Sozialdemokratische Partei“, Heft 76 – In der Rede selbst bemerkte Machold nur: besonders kritisch waren die Tage von St. Lorenzen und der 12. November – immerhin eine Andeutung. 340 Der „Bericht“ (vgl. Anm. 339) enthüllte diese Tendenzen erstaunlich offen. Vgl. dessen Tabelle „Mitgliederzahl nach der Zählung vom 31. Dezember 1929“ auf S. 8 bzw. zum „Arbeiterwille“ und zu den Parteieinnahmen S. 40 und 42f. – Dort wird fortgesetzt: Der Mitgliederschwund war, namentlich in der Obersteiermark, allerdings bereits seit Jahren im Gang. – Soós, Koloman Wallisch 64, 79–88, gibt aus Wallischs Berichten nach Graz über die Entwicklung in Stadt bzw. Bezirk Bruck an der Mur zahlreiche Zahlen dazu; der Republikanische Schutzbund dagegen zeigte mehrfach zunehmende Tendenz. 341 Am 21. April 1929 feierten sie bei der Wahl zum Grazer Gemeinderat einen großen Erfolg. Angeführt von Franz Strafella, dem von der SDAP heftig angefeindeten Direktor der in Privateigentum stehenden Grazer „Tramwaygesellschaft“; erreichten sie 29.273 Stimmen und zuerst 16, nach einem Einspruch der NSDAP 15 Mandate; vgl. Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz 32,

Ableitinger / Unentwegt Krise Anm. 4. bzw. Wagner, Grazer Gemeinderatswahlen 353f., 363. – Sie führten den Sieg nicht zuletzt darauf zurück, dass sie allein kandidiert hatten; vgl. Grazer Volksblatt (22. und 23. 4. 1929), jeweils 1f. – Beim Landesparteitag der CSP im November 1929 konnte ein signifikanter Anstieg der Mitgliederzahlen referiert werden, allerdings auch schlechte „Zahlungsmoral“ der Mitglieder; vgl. 6-UhrBlatt (11. 11. 1929), 2f. und Grazer Volksblatt (12. 11. 1929), 3f. Ich danke Otto Niedermayr für Hinweise darauf. – Der Parteivorstand, 1928 im Zug einer Statutenreform neu geschaffen, war allerdings, soweit er direkt vom Parteitag gewählt wurde, erstaunlich zusammengesetzt: Er bestand aus drei Vertreter des Bauernvereins, ferner Rintelen, Msgr. Großauer und Frieda Mikola; d. h. er schloss keine Vertreter von Gewerbe/Handel und unselbständig Erwerbstätigen ein; Grazer Volksblatt (12. 11. 1929), 4. 342 Ein gutes Stück weit war ihm das bereits bei den Gemeinderatswahlen außerhalb von Graz am 29. April 1929 gelungen; vgl. Haas, Die vergessene Bauernpartei 222. 343 Auch in den Bezirkskammern herrschte, bei großen regionalen Unterschieden, faktisch Gleichstand zwischen „schwarz“ und „grün“, 106:104 bei den Mandaten insgesamt; vgl. „Bericht“ (Anm. 339), 7 mit genauen Abstimmungszahlen. 344 Haas, Die vergessene Bauernpartei 224–226. Dort auch Hinweise auf die unterschiedlichen Wahlergebnisse in den Bezirken: Der Landbund dominierte mit Ausnahme Muraus und Mürzzuschlags alle obersteirischen Bezirkskammern, der Bauernverein die von Deutschlandsberg, Feldbach, Graz und Umgebung, Hartberg, Murau und Weiz. 345 13. Feb. 1930, StBerLT, III. Periode, 1003. 346 20. März, StBerLT, III. Periode, 1028–1048; die Abstimmungen 1047f. 347 So Gföller bzw. Winkler am 20. Mai, StBerLT, III. Periode, 1066. 348 Landtagssitzung am 5. Juni 1930, StBerLT, III. Periode, 1097–1108; in 3. Lesung am 17. Juli sogar einstimmig, 1126. 349 Landtagssitzung am 5. Juni bzw. 17. Juli 1930, StBerLT, III. Periode, 1109f. bzw. 1126. 350 Sogar ein sog. „Antiterrorgesetz“, das de facto closed shops verbot, akzeptierte die Sozialdemokratie nach einigem Hin und Her, ein „Entwaffnungsgesetz“ ließ sie ohne Obstruktion passieren (Berchtold, Verfassungsgeschichte 575–579). 351 Haas, Die vergessene Bauernpartei 227–229. 352 Details der tumultartigen Versammlung von Korneuburg bzw. Text und Textgeschichte des „Eids“

167

samt bescheidener Rolle Pfrimers bei: Wiltschegg, Heimwehr 55f. bzw. 255–258. 353 StBerLT, III. Periode, 1129. 354 StBerLT, III. Periode, 1130–1132. 355 StBerLT, III. Periode, 1136–1138. 356 StBerLT, III. Periode, 1138. 357 Während sich die Spitzen der Landespolitik bemühten, einander nicht persönlich zu disqualifizieren, ging es unter den „einfachen“ Abgeordneten wieder giftiger her – symptomatisch für die mentalen Stimmungen in den Lagern: Gaß, bis 1927 CSP-Landesrat, hieß den Landbündler Witzany einen Schulschwänzer (1128), der ätzte gegen den Christlichsozialen Riemer (1129). Griffen die einen Pabst an, revanchierten sich die anderen mit den Namen „Wallisch“ und „Bela Kun“. Leichin qualifizierte Sernetz als Mandatar der Udeotenpartei (1134). 358 StBerLT, III. Periode, 1155–1180. Antrag und Begründung inkl. Art Volksbegehren 1156. Döttling (1165f.) bemerkte außerdem, Wien könne es sich leisten, für einen Sportplatz – gemeint war das Praterstadion – 60 Mill. Schilling auszugeben, während die Steiermark nur 900.000 für Straßenbau verfügbar habe. 359 StBerLT, III. Periode, 1159–1164 (Machold), 1172– 1174 (Thoma). Thoma fragte die CSP drohend, ob sie wirklich glaube, dass der Wahlkampf die Arbeitsgemeinschaft der bürgerlichen Parteien fördere, dass danach diese Koalition noch möglich wäre. – Am Ende bekam kein Antrag eine Mehrheit, 1179f. 360 Zur „Affäre Strafella“: Berchtold, Verfassungsgeschichte 580–584; Gorke, Anton Rintelen 128–130. – Allerdings hatte Rintelen zugleich ein legitimes Interesse an Strafellas Ernennung: Der sollte die Elektrifizierung der Bundesbahn weiter treiben und damit der STEWEAG eine wichtige Kundschaft langfristig sichern. 361 Brief an seinen Neffen vom 3. Oktober 1930, zitiert bzw. nachgewiesen bei Gorke, Anton Rintelen 130 bzw. 329, Anm. 89. – Er setzte mithin potentiell andere Mehrheitsbildungen im Landtag voraus, vielleicht eine Allianz von SDAP und Landbund. Hoffte er, wenn er selbst kandidierte, dass der Landbund, wie bereits im April 1928, Opposition gegen die CSP scheuen oder nicht auf die Wahl des Landeschefs ausdehnen werde? Oder rechnete er bereits mit einer Heimatblock-Fraktion, die zusammen mit den Christlichsozialen eine neue Mehrheit unter seiner Führung ermöglichen würde? 362 StBerLT, III. Periode, 1181, 1183–1191. 363 In Wien, Niederösterreich und Burgenland gingen Teile der Heimwehren zusammen mit der CSP in

168

Ableitinger / Unentwegt Krise

die Wahl, andere selbständig, sodass Heimwehrleute dort auf unterschiedlichen Listen konkurrierten (Wiltschegg, Heimwehr 58f.). 364 Die Ergebnisse für Österreich pauschal bei: Weinzierl/Skalnik, Österreich 1093, differenziert bei Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-33f., Tab. a und b: Die Wahlbeteiligung war sehr hoch, sie betrug in der gesamten Republik 90 Prozent, in der Steiermark 87 Prozent. – Frauen stellten nach wie vor die Mehrheit bei Wahlberechtigten und tatsächlichen Wählern und stimmten überproportional für die CSP. 365 Lipp, Landtag 119 bzw. 86 (1923). Unter ihren Wählern waren 99.100 Frauen und 66.400 Männer, d. h. rund 60 bzw. 40 Prozent. (Für alle anderen Parteien stimmten mehr Männer als Frauen.) Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-34, Tab. b. 366 Eigene Berechnung aus den Daten bei Lipp, Landtag 119 und 102. 367 Lipp, Landtag 116. – Bedeutend lag der Schoberblock vor dem Heimatblock nur in der Ost- bzw. Mittel und Untersteiermark (Lipp, Landtag 119). 368 Lipp, Landtag 119 bzw. 102; dort „Völkischsozialer Block“. Bei Stiefbold, Wahlen und Parteien in Österreich C-34, Tab. b, wird die NSDAP nicht separat ausgewiesen, sondern zusammen mit anderen Kandidaturen unter „Sonstige Parteien“; zusammen kamen diese im Land auf 21.253 Stimmen. – Haas, Die vergessene Bauernpartei 211f. – Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert 599. 369 Für 1930 ist die Datenlage in der Literatur, auch bei J. Lipp, viel ungünstiger als bei jeder Wahl seit 1919: Für die Wahlkreise Mittel- und Untersteiermark sowie Oststeier fehlen fast sämtliche Bezirksergebnisse, für die Obersteiermark die von Judenburg, Knittelfeld und Leoben; auf der Ebene der Gerichtsbezirken gibt es, anders als früher, nur für die von Deutschlandsberg, Eibiswald und Stainz Informationen, für einzelne Gemeinden, ausgenommen primär Graz, nur sehr wenige. (Lipp, Landtag 116f.) – In der Folge werden die bei Lipp, Landtag 116–119 verfügbaren Daten zitiert und die Angaben über Stimmenanteile aus eigenen Berechnungen auf Basis dieser Daten gemacht – Für die Stadt Graz ergänzend: Magistrat Graz, Wahlen in der Landeshauptstadt Graz, Tab. 1 „Nationalratswahlen in GrazStadt von 1919 bis 1962 (absolute Zahlen)“; dort enthält das in den Anmerkungen Gebotene wichtige, die Tabelle selbst weiter differenzierende Informationen. 370 Da der Landbund in der Hauptstadt, falls er überhaupt kandidierte, naturgemäß nie reüssiert hatte, ist der Vergleich mit den Großdeutschen anzustel-

len; dabei kommen die Resultate von 1927 nicht in Betracht, weil die Großdeutschen damals als Teil der „Einheitsliste“ angetreten waren. 371 Der Heimatblock lag in den Bezirken Gröbming, Liezen und Murau unter 10 Prozent, im Mürzzuschlager bei 15 Prozent, dagegen im Bezirk Bruck an der Mur bei 20,1 Prozent; sein hohes Wahlkreisergebnis erfordert, dass er auch in den Bezirken Judenburg, Knittelfeld und Leoben, für die keine Detailresultate verfügbar sind, ähnlich gut wie in Bruck an der Mur abgeschnitten haben muss. Seine relative Schwäche im Ennstal korreliert mit der dortigen Stärke des „Schoberblocks“, d. h. de facto der des Landbundes, in Murau mit der der Christlichsozialen. – Die NSDAP reüssierte, soweit erkennbar, am besten im Bezirk Gröbming, (7,5 %), auffällig weniger im Liezener und im Murauer. Lokal kam sie in Gemeinden wie Mautern, Knittelfeld und Judenburg auf 8,51–11,93 Prozent, in Trofaiach sogar auf 19,43 Prozent (Lipp, Landtag 117; Brandtner, Diskursverweigerung 66). 372 Wir schließen dies aus den ziemlich stabil gebliebenen Landbund-Ergebnissen im Ennstal und rechnen diese auf den gesamten Wahlkreis hoch. Demnach können von den Stimmen des „Schoberblocks“ nur rund 5.000 bis 7.000 von früheren Großdeutschen gekommen sein, die 1920, ihrem besten Jahr im Wahlkreis, 11.872 Personen gewählt hatten – rund doppelt so viele. 373 Unter der Voraussetzung, dass bei herkömmlichem Wahlverhalten von dem Plus von ca. 2.700 gültigen Stimmen 50 Prozent der SDAP zugefallen wären, also 1.350, summierte sich deren Gesamtverlust sogar auf knapp 9.000 Stimmen, d. h. auf ein Viertel der für Heimatblock und NSDAP zusammen abgegebenen. 374 Die Stimmenanteile der SDAP gingen am wenigs­ ten in den politischen Bezirken Gröbming und Liezen sowie Murau zurück, wo die Partei stets Minderheit gewesen war; vgl. die Daten bei Lipp, Landtag 83, 99f., 117 375 Haas, Die vergessene Bauernpartei 231. 376 StBerLT, IV. Periode, 1–8. – „Präponent“ bei Binder, Dollfuß und Hitler 38, leider ohne Nachweis; (an der entsprechenden Stelle in Rintelen, Erinnerungen 203 bleibt Winkler gänzlich unerwähnt). 377 Die Daten nach Kernbauer/März, Die wirtschaftliche Entwicklung 366–370 und Weber-Felber, Freie Gewerkschaften 123–127. – Einige Angaben zum Wandel der Todesursachen während der Weltwirtschaftskrise in der Steiermark bei: Kramer, Wandel der Mortalität 37f., 170–174. 378 Brandtner, Diskursverweigerung 72f.

Ableitinger / Unentwegt Krise Das Folgende generell nach den sehr ausführlichen Darstellungen von Berchtold, Verfassungsgeschichte 573–633 und Schausberger, Parlament 59–84. – Schausberger unterstreicht und dokumentiert an mehreren Beispielen die „Konsensbereitschaft“ der SDAP, die teilweise bis Februar 1932 noch der Regierung Buresch zugutekam; „sie handelte de facto als Regierungspartei“, schreibt er gestützt auf Fritz Weber, und spricht andernorts von einem „informellen Proporzsystem“. Er betont aber zugleich, dass die SDAP mehrfach Koalitionsangebote ausschlug – nicht nur das Seipels am 19. Juni 1931, sondern auch das Bureschs vom 2. Oktober 1931, „vielleicht […] das einzige ernst gemeinte […] seit 1927“ (Schausberger, Parlament 77, 82, 84). 380 Zur CA-Krise vgl. zusammenfassend: Nautz, CAKrise. 381 Tendenziell anders: Schausberger, Parlament 190– 192, der im Vergleich zu den Wahlresultaten vom November 1930 im April 1932 „keine wesentlichen Einbußen“ von CSP und SDAP diagnostiziert, bei allfälliger Neuwahl des Nationalrates nur „rund 400.000 Stimmen und etwa 20 bis 25 Mandate“ für die NSDAP vermutet, die Forderungen nach solcher Neuwahl aber zugleich als „kaum gerechtfertigt“ erklärt etc. 382 Die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat waren, wie sich im August 1932 und am 4. März 1933 herausstellte, in Wahrheit komplizierter: nur einer der beiden steirischen Abgeordneten des Heimatblocks bzw. -schutzes, nämlich Sepp Hainzl, machte die Abspaltung mit, jedoch nicht Josef Lengauer; dafür schloss sich ein Kärntner (Hans Ebner) Hainzl an; Seipel (CSP) und Schober („unabhängig“) waren bereits so krank, dass sie oft nicht mitstimmen konnten – Seipel starb am 2., Schober am 19. August. Zwei weitere Abgeordnete, Josef Vinzl und Franz Zelenka, waren de facto unberechenbar. Das alles wurde bereits bei den Entscheidungen über die „Anleihe von Lausanne“ im August 1932 sichtbar und wieder am 4. März 1933. Vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte 598, 674–679, 701. 383 Die speziell die Steiermark berührenden Einzelheiten dieser an überraschenden Wendungen reichen Regierungsbildung werden auf S. 135f. ausgeführt. 384 Vgl. die Details der Abstimmungsvorgänge im National- und im Bundesrat bei: Berchtold, Verfassungsgeschichte 674–679; sie lassen nicht nur die Härte der Auseinandersetzungen erkennen, sondern auch, dass die abschließende knappe Zustimmung ganz zufallsabhängig erfolgte, d. h nicht dem Kalkül, die SDAP könne bis zuletzt gefahrlos opponie379

169

ren, weil die Ratifizierung schließlich ohnedies feststehe. – Allerdings hat die Partei durch Otto Bauer im Dezember 1932 in Paris dahin gewirkt, dass die Sozialdemokratie die dortige Ratifikation unterstützten, vgl. Berchtold, Verfassungsgeschichte 677, Anm. 65.; welche Rolle Bauer dabei damals und später genau spielte, ist strittig, vgl. Hanisch, Otto Bauer 280f. 385 Die Kontroversen um die Vorgänge an diesem Tag und die Verantwortlichkeiten für diese braucht hier nicht verfolgt zu werden; vgl. zuletzt die Kritik am historiographischen Mainstream der letzten Jahrzehnte durch: Burz, Tücke im Detail. 386 Wichtige Details zu den Tagen vom 4. bis 15. März bei: Berchtold, Verfassungsgeschichte 708–734 und, speziell zu den Vorgängen in den Landtagen, bei Schausberger, Parlament 304–342. 387 Der Zusammenhang mit den exakt gleichzeitigen Entwicklungen im Deutschen Reich wird zwar öfter angesprochen, u. a. bei Schausberger, Parlament 306f., aber ohne Verweis auf den Reichstagsbrand, die ihm unmittelbar folgende „Notverordnung zum Schutz von Volk und Reich“ (28. Februar) und deren exzessive Anwendung gegen die politische Linke, vor allem die KPD, sowie ohne Verweise auf gewaltsame bzw. illegale „Gleichschaltung“ der deutschen Länder unmittelbar in der Woche nach der Reichstagswahl. Vgl. Grüttner, Das Dritte Reich 62–69 (mit Literatur), für die besonders dramatischen Vorgänge in Bayern: Zorn, Bayerns Geschichte 356–364. 388 Wohnout, Regierungsdiktatur 74; Talos, Herrschaftssystem 38. 389 Vgl. u. a. Berchtold, Verfassungsgeschichte 749f. und Talos, Herrschaftssystem 59f. 390 Der Befund im Text fußt auf Stichproben gerade in jenen Protokollen über die Sitzungen der Landesregierung, die aus politisch sehr hitzigen Zeiten stammen, insbesondere zwischen Mai 1932 und Ende Juni 1933. Allerdings spiegelt der Wortlaut der Protokolle nicht das tatsächlich „gesprochene Wort“, er ist vom Protokollführer, jeweils einem hohen Beamten, geglättet. Auch ist die Inanspruchnahme von Sachlichkeit und Objektivität bei der Behandlung anstehender Themen „per se“ nicht beweiskräftig: Oberzaucher (SDAP) bezweifelt z. B., dass Pichler (CSP) und Höpf l (LB) diese zwei Tugenden gelegentlich der Entscheidungen über die Leitung der Bezirkshauptmannschaften von Gröbming und Liezen geübt hätten. Aber er lässt sich dann von deren Argumenten überzeugen, und auch sie nehmen einzelne seiner Anregungen auf. – Beachtlich ist ferner, dass Oberzaucher einräumt, selbst wichtige Perso-

170

Ableitinger / Unentwegt Krise

nalentscheidungen wären fast immer einvernehmlich getroffen worden, dass das Publizieren der parteipolitischen Zusammensetzung eines Mehrheitsbeschlusses in der Regierung für ungehörig gilt und gerügt wird, schließlich dass, wenn Rintelen, weil mutmaßlich als Unterrichtsminister in Wien unabkömmlich, fehlt, bald Machold, bald Pichler allein den Vorsitz in der Regierung führen, bald beide in einer Sitzung abwechselnd. StLA, L.Reg., Regierungssitzungsprotokolle, Karton „Jänner bis Mai 1933“. 391 StBerLT, IV. Periode, 16 bzw. 87. 392 StBerLT, IV. Periode, 95–117. 393 StBerLT, IV. Periode, 174, 187. 394 Zur ersten Sitzung kamen seine Abgeordneten mit aufgesetztem Hut und Hahnenschwanz in den Saal, später sagte Hartleb dazu: „wie Kondottieri“ (Brandtner, Diskursverweigerung 153). 395 Die hitzige Debatte in StBerLT, IV. Periode, 87–93. – Das Rintelen-Zitat 91. Viktor Elser, 1945 kurzzeitig Landesrat als Repräsentant der KPÖ, rechnet vor (89), dass alle Gruben der Alpine und der GrazKöflacher während der letzten fünf Jahre ihre Produktion fast verdoppelt hätten bei gleichzeitiger Reduzierung ihrer Belegschaft um 50 Prozent, aber im Interesse ihrer Profite die Preise für Kohle nicht gesenkt hätten. Ob dafür komplexere Ursachen verantwortlich waren, bleibt unerwähnt. – Vgl. Brandtner, Diskursverweigerung 151f. und Fraydenegg-Monzello, Volksstaat und Ständeordnung 169f., aber ohne Verweis auf das Verhalten des Heimatblocks im Nationalrat. 396 StBerLT, IV. Periode, 217–220, 222–231; Heimatblock und CA-Gesetz 218 (vgl. Fraydenegg-Monzello, Volksstaat und Ständeordnung 174f.), Praterschreier 218, die Rüge betreffend den Ton 223. 397 Für die Interna der Heimwehren und ihren Niedergang ab 1929/30 vgl.: Hofmann, Pfrimer-Putsch 19–31, „Triebfeder“ 34. – Die 620.000 nennt Hofmann, Pfrimer-Putsch 41. 398 Hofmann, Pfrimer-Putsch 93f.; unentschieden: Sandgruber, Karl Othmar Lamberg 188–190. 399 Hofmann, Pfrimer-Putsch 50. 400 Hofmann, Pfrimer-Putsch 93, 95. 401 Hofmann, Pfrimer-Putsch 60–64, die Plakattexte 58–60; Zechner, Walter Pfrimer 72–78. – Zu den Vorgängen im Raum Kapfenberg/Af lenz vgl. Riegler, Thörl 576, zu Voitsberg/Köf lach vgl. Lasnik, Voitsberg 109f. 402 Hofmann, Pfrimer-Putsch 72f., 74f., Zernierung von Graz 64, die letzte Proklamation 75. – Hofmann, Pfrimer-Putsch 61–63 berichtet von viel mehr Einzelheiten, als hier skizziert werden kön-

nen. – Die Bundesregierung wurde anscheinend zuerst von Julius Deutsch, dem Führer des Republikanischen Schutzbundes, informiert, der dessen Eingreifen ankündigte, falls nicht sofort gegen den Heimatschutz vorgegangen werde; Deutsch selbst war von Wallisch benachrichtigt worden; vgl. Hofmann, Pfrimer-Putsch 69f. – Als Rintelen mit Buresch telefonierte, war der Kanzler bereits im Bilde, aber nicht aus Grazer Quellen. 403 Über Vorgänge in anderen Bundesländern: Hofmann, Pfrimer-Putsch 65–68. 404 Hofmann, Pfrimer-Putsch 79–83. – Zu spezifisch steirischen Reaktionen: Gorke, Anton Rintelen 141 und Brandtner, Diskursverweigerung 47f., 152. – Zu den vielen Anzeigen bekannte sich Landesrat Leichin im Landtag; sein Kontrahent Hornik vom Heimatblock bezifferte sie unwidersprochen auf gegen 2.000, StBerLT, IV. Periode, 310–312. – Hofmann, Pfrimer-Putsch 83, spricht, gestützt auf die Anklageschrift vom Dezember, von etwa 4.000 Anzeigen, denen aber nur 240 Voruntersuchungen gegen Heimatschützer folgten. 405 StBerLT, IV. Periode, 302–324. 406 StBerLT, IV. Periode, 302–307. 407 StBerLT, IV. Periode, 307. – Dass Machold „auf der Burg“ war, bestritt er nicht, es belegt aber nicht Rintelens Behauptung. Deren Richtigkeit ist aber ebenso wenig auszuschließen. Machold, der noch nie als „Scharfmacher“ aufgefallen war, mag tatsächlich überreagiert haben, als auch er erstmals mit der Frage konfrontiert war, wie mit einem planmäßigen Aufruhr organisierter militärischer Einheiten umzugehen wäre. Dass Rintelen ihm den ungeheuren Vorwurf wahrheitswidrig an den Kopf warf, entbehrt allerdings des Motivs; der Tenor seiner gesamten Antwort war, verbal nicht zu eskalieren, sondern seine souveräne Umsicht während der Putsch-Nacht zu unterstreichen – und dabei Einzelheiten seines Agierens bzw. Nicht-Handelns auszublenden. – Bei Gorke, Anton Rintelen 142f. wird die Episode nicht erwähnt, auch nicht bei Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 120f., der die Landtagsdebatte kennt; Hofmann, Pfrimer-Putsch behandelt diese gar nicht. 408 StBerLT, IV. Periode, 323f. 409 StBerLT, IV. Periode, 324–326. – Über den Parteitag berichtete ausführlich der „Arbeiterwille“ vom 14. bis 16. November 1931; am 15. referierte er S. 1–5 Otto Bauers „politischen Bericht“. In diesem setzte Bauer eingehend auseinander, dass die große Krise zwar das Ende des Kapitalismus bringen werde, seine Partei bis dahin aber in Österreich nicht zuwarten dürfe, sondern Verantwortung überneh-

Ableitinger / Unentwegt Krise men müsse, um die vollkommene Verelendung der Bevölkerung zu vermeiden. Die, sagte er, stehe unmittelbar bevor, weil Österreich lebenswichtige Importe nicht mehr finanzieren könne. Benötigt würden vor allem massive Steigerungen der Agrarproduktion, die er sich von staatlicher Bewirtschaftung erwartete; außerdem müsse die Creditanstalt nicht nur gerettet, sondern zugleich verstaatlicht werden, wodurch ein Steuerungsinstrument für große Teile der heimischen Industrie gewonnen würde. Vgl. Bauer, Werkausgabe, Bd. 5, 585–638. – Bauer bot aber weder eine förmliche „rot-schwarze“ Koalition an – das entsprechende Offert Bureschs hatte die SDAP erst vor einigen Wochen abgewiesen (vgl. oben Anm. 379) –, noch machte er sonst Andeutungen, wie das Programm politisch realisiert werden sollte. – Gföllers Vorstoß bedeutete demgegenüber anscheinend eine Initiative der steirischen Sozialdemokratie, um den Parteitagsbeschluss auf Wiener Ebene mittels eines sozialpartnerschaftlichen Forums auf einen praktikablen Weg zu bringen – unpräziser, aber doch ähnlich, wie es 1925 Ahrer im Sinn gehabt hatte. – Gföllers Initiative verlief in Wien im Sand; ihre Erforschung ist ein offenes Desiderat. 410 StBerLT, IV. Periode, 326f. – Rintelens wohlwollende Reaktion lässt vermuten, dass er von Gföllers Anfrage vorweg informiert war; umso rätselhafter bleibt seine vorangegangene Attacke auf Machold. 411 Ausführlich und gegen Gericht sowie Staatsanwalt kritisch Hofmann, Pfrimer-Putsch 83–91. – Der im Text erwähnte sarkastische Satz findet sich bei ihm nicht, er wurde wenig später im Landtag referiert. – Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 125f., ergänzt, dass sich unter den Geschworenen kein Arbeiter befunden habe und dass für das Urteil „wahrscheinlich entscheidend ins Gewicht fiel“, dass seinerzeit die Hochverratsverfahren gegen Verdächtige vom 15. Juli 1927 ebenfalls ohne Urteile eingestellt worden waren. 412 StBerLT, IV. Periode, 342–354. 413 StBerLT, IV. Periode, 342–346; der erwähnte bittere Humor 344; Staatsanwalt Dr. Seelig, obwohl deutschnationaler Gesinnung und Mitglied des Akademischen Turnvereins, wurde von Gföller ausdrücklich gelobt. 414 Lasnik, Voitsberg 111. 415 U. a. hatte sich das darin niedergeschlagen, dass die bürgerlichen Parteien bei ihnen sehr oft nicht gegeneinander antraten, sondern auf gemeinsamen Listen kandidierten, z. B. als „Wirtschaftspartei“; auch 1932 behielten sie diese Tradition noch vielfach bei.

171

6-Uhr-Blatt (Abendausgabe des Grazer Volksblattes) (25. 4. 1932), 1: „Krisenwahlen“. 417 Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 87–107; Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 31–46; Gorke, Sturmabteilung 13–30; Brandtner, Diskursverweigerung 153–160; Bauer, Struktur und Dynamik; Bauer, „Steiermark“; kurz: Halbrainer/Lamprecht, Nationalsozialismus in der Steiermark 28–30. 418 Vgl. S. 117f. 419 Details bei: Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 127–139, 132 („taktlos“), 204 („großer Sprung vorwärts“). Ferner (mit teilweise neuen Quellen): Moll, „Letzten Endes“ 19–24. 420 Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 51–56; Brandtner, Diskursverweigerung 159f., 169; Bauer, Struktur und Dynamik 41f. 421 Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 54; Schausberger, Parlament 172–175. – Noch viel stärker schnitt sie am selben Tag bei der Wahl zum preußischen Landtag ab; mit 36,3 Prozent der Stimmen stieg sie zur stärksten Partei im weitaus größten der deutschen Länder auf. 422 Zu den Ungewissheiten es annähernd zu ersetzen mit Nutzung der älteren Literatur: Bauer, Struktur und Dynamik 62f., speziell Anm. 164. 423 Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 54. 424 Viele Details im Arbeiterwille (25., 26. 4. 1932), ergänzend: Schausberger, Parlament 173; Brandtner, Diskursverweigerung 160f. Stark abweichend: Bauer, Struktur und Dynamik 63, gestützt auf die „Obersteirische Volkszeitung“, z. B. Judenburg nur 9,6 Prozent. 425 Bauer, Steiermark 310, Anm. 40 und 41. 426 Nach Bauer, Struktur und Dynamik 19 bzw. 63 steiermarkweit aber deutlich gegenüber den Kommunalwahlen 1928; vgl. Bauer, Struktur und Dynamik 135f. die Abbildungen 5/1 und die Zusatzabbildung 5/a. 427 6-Uhr-Blatt (Abendausgabe des Grazer Volksblattes) (25. 4. 1932), 1, „Krisenwahlen“. Ähnliche Sympathien für autoritäre Positionierungen in der Grazer Tagespost (26. 4. 1932), zitiert bei Schausberger, Parlament 173f., wonach Parteien, die Kraft und Erneuerungswillen zeigten, auch junge Leute in Massen angezogen hätten, nicht aber die ewig verständnisbereiten bürgerlichen „Retter“ einer unbrauchbaren Demokratie. 428 Bereits Ende November 1931 hatte Starhemberg in Graz eine Art Strategie-Dokument für die Heimwehren insgesamt billigen müssen, das sich mit dem Eintritt in eine Bundesregierung sehr schlecht vertrug, die in Genf über eine neuerliche Völkerbund416

172

Ableitinger / Unentwegt Krise

Anleihe verhandeln wollte und für diese, das war voraussehbar, neuerlich auf Betreiben von AnschlussPolitik förmlich verzichten würde müssen. – Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 133–136. 429 Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 140– 142. 430 Fraydenegg-Monzello, Volksstaat und Ständeordnung 44. Ausführlicher: Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 143–149; dort 145 auch Informationen zu Kammerhofers Biographie und Politik bis 1932. – Zu Kammerhofer jetzt außerdem: Moll, „Letzten Endes“ 24–41. Für steirische Belange nicht ergiebig, sondern auf Kammerhofers spätere Funktionen im SS-System v. a. im UstaschaKroatien konzentriert: Graf, Österreichische SSGeneräle 244–248. – Mit der Abspaltung von Starhemberg nahmen er und seine Leute in Kauf, dass ein großer Teil ihrer früheren Anhängerschaft in der Oststeiermark und im Bezirk Murau auf die Seite des „Österreichischen Heimatschutzes“ trat; rund ein Drittel der vormals steirischen Heimatschützer gingen Kammerhofers Weg nicht mit. 431 Der Text der Erklärung vom 20. Mai über die Abspaltung von „der derzeitigen Bundesführung“ und über die Unterstellung der Abgeordneten aus der „Neuen Freien Presse“ bei: Berchtold, Verfassungsgeschichte 664, Anm. 10. – Bei den Mandataren handelte es sich um Josef Lengauer und Sepp Hainzl (beide im Nationalrat) und Hans Tanzmeister (im Bundesrat); Lengauer unterwarf sich dem Verlangen der Grazer Führung nicht. Anstelle Lengauers schloss sich aber der Kärntner NRAbg. Hans Ebner der Opposition des Heimatschutzes an. 432 Gorke, Anton Rintelen 161–165. 433 Zur komplizierten Regierungsbildung im Mai 1932 ausführlich: Berchtold, Verfassungsgeschichte 642–668, zu den Manövern um Rintelen und dessen abschließender Einschätzung: Berchtold, Verfassungsgeschichte 652, 658, 663–665. – Zur Motivation Rintelens in die Regierung Dollfuß einzutreten, primär gestützt auf S. 206 von dessen „Erinnerungen“: Gorke, Anton Rintelen 153f. Danach wäre Rintelen Mitte Mai „vom Klubvorstand“ seiner Partei „um Vermittlung ersucht“ worden – er sagt nichts darüber, zwischen wem oder welchen Kräften er habe vermitteln sollen – und hätte sich dann von Dollfuß‘ Programm überzeugen lassen, namentlich von dessen Wirtschaftsprogramm, das „in enger Anlehnung an das Reich“ realisiert werden sollte. – Dass Rintelen das Amt des Landeshauptmannes nicht niederlegte, war selbstredend Gegenstand von Kritik durch die SDAP. Rintelens eigene Motivation lautete, er habe, falls seine „Er-

wartungen durch die künftige Regierungspolitik enttäuscht würden“, sich die „Rückkehr nach der Steiermark“ vorbehalten, Gorke, Anton Rintelen 155. Das ist glaubwürdig, kam doch seine Aufgabe, zwischen dem unvermeidlichen „Lausanne“-Kurs der Regierung Dollfuß und dem Heimatschutz zu vermitteln, von vornherein einer „mission impossible“ nahe. Trotzdem haben er selbst, Starhemberg und auch Dollfuß auf diese Mission mehr oder weniger gesetzt. Dollfuß betraute ihn tatsächlich mit solchen Vermittlungsaufgaben, spätestens 1933 auch zur Habicht-NSDAP hin. Alternativ ist allerdings in Betracht zu ziehen, dass Rintelen bereits im Frühjahr 1932 bereit war – wie dann 1933/34 tatsächlich geschehen –, im Zweifel mit der NSDAP zu gehen. – Selbstverständlich ist, wie oben angedeutet, auch möglich, dass Rintelen primär sein außerordentlicher Ehrgeiz nach Rollen auf größeren Bühnen als der steirischen motivierte und für politische wie persönliche Risiken blind machte. Zu Rintelens wirtschafts- und finanzpolitischem Engagement im Auftrag von Dollfuß vgl. Gorke, Anton Rintelen 156–158. 434 StBerLT, IV. Periode, 494f. 435 Zur Arbeitsweise der Landesregierung vgl. oben Anm. 390. – Zum Landtag beispielsweise StBerLT, IV. Periode, 506–527 über die Sitzung vom 9. Juni 1932: Zuerst wurde der sog. „Tardieu“-Plan, der u. a. Österreich in einen ostmitteleuropäischen Verbund von Präferenzzöllen einbinden wollte, einstimmig abgelehnt, weil er gegen das Deutsche Reich gerichtet wäre, dann überstimmen SDAP, CSP und Landbund den Heimatblock wegen Schädigung des Fremdenverkehrs durch Heimatschutz-Aufmärsche und unmittelbar anschließend auf Antrag des Heimatblocks dieser, die Sozialdemokraten und die zwei Großdeutschen die Christlichsozialen und den Landbund; (es geht um Auf hebung der Bundeshaftung für Gläubiger der Creditanstalt). Jede Fraktion kann mit jeder und gegen jede. 436 Sitzung vom 8. Oktober 1932, StBerLT, IV. Periode, 539–558. 437 Sitzung vom 20. Oktober, StBerLT, IV. Periode, 567–586, das Meyszner-Zitat S. 564. – Zwei Gegenstimmen stammten von den Großdeutschen. 438 StBerLT, IV. Periode, 607–611, das Zitat 611. 439 StBerLT, IV. Periode, 643–708. 440 Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 164, gestützt auf deutsche Quellen. Die Zahlen für ganz Österreich beliefen sich im Jänner 1933 auf 43.100, zu welchen bis Juni angeblich genau 25.336 weitere hinzukamen; demnach hätte der Gesamtstand etwa 68.500 betragen und der Gau Steiermark seinen

Ableitinger / Unentwegt Krise Anteil an ihm von etwa 12,5 auf 14,3 Prozent leicht gesteigert. – Zur Verdoppelung während der zweiten Phase auf Basis der „Steirischen Gaunachrichten“ auch: Bauer, Struktur und Dynamik 144, Zusatzabbildung 6/d mit regionaler Differenzierung nach Gerichtsbezirken. 441 Die Daten aus der Steiermark außerhalb von Graz bei: Bauer, Struktur und Dynamik 64–67, zu Graz: Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 51f., zu Leoben: Brandtner, Diskursverweigerung 175f. – Herbert Blatnik verdanke ich den Hinweis, wonach die Steirischen „Gaunachrichten“ meldeten, die Partei habe bis Ende 1932 die Zahl ihrer Landes-, Gau- und Bezirksredner auf 8, 27 und 13 aufstocken können. 442 Zusammenfassend: Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 54–57 und Bauer, Struktur und Dynamik 50–53; viele Details aus dem Raum Leoben bei: Brandtner, Diskursverweigerung 171–177. 443 Bauer, Struktur und Dynamik 65. 444 Vgl. das Kapitel „Gezogene Schwerter“ bei: Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 137–157, speziell 138f., 145–149 (12 Grundsätze), außerdem 204 (Würzung mit „starker Dosis Antisemitismus“); ferner: Moll, „Letzten Endes“ 26–32. 445 Bauer, Struktur und Dynamik 42–45; Brandtner, Diskursverweigerung 173. 446 Bauer, Struktur und Dynamik 68–71. 447 Dazu ausführlich: Schausberger, Parlament 304– 342. 448 StLA, L.Reg., Regierungssitzungsprotokolle vom 15. März 1933, Karton „Protokolle Jänner bis Mai 1933“. 449 StBerLT, IV. Periode, 722–747. 450 StBerLT, IV. Periode, 718–722. 451 StBerLT, IV. Periode, 726, Punkt 6 seines Antrages; Fraydenegg-Monzello, Volksstaat und Ständeordnung 169. 452 Die Abstimmungen StBerLT, IV. Periode, 751f. – Vgl. M. Polaschek in diesem Band S. 241f. 453 Umgekehrt stimmten in der folgenden Landtagssitzung vom 7. April 1933 CSP und Landbund einem Antrag Meyszners zu, der „Invasion“ von „Juden“ entgegenzutreten, vorgeblich ein aktuelles Problem, weil während der letzten zehn Jahre in Wien durch Bürgermeister Seitz angeblich 31.447 Juden die Staatsbürgerschaft verliehen worden wäre. Nur die SDAP lehnt den Antrag ab. Die CSP versuchte durch Enge vergeblich, die Abstimmung mit Verweis auf die Geschäftsordnung zu verhindern – Präsident Kölbl ließ sie aber zu. StBerLT, IV. Periode, 769–773. 454 Bauer, Struktur und Dynamik 70.

173

Zur Vor- und unmittelbaren Nachgeschichte von „Liezen“: Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 161–167, außerdem: Moll, „Letzten Endes“ 34–36 mit den im Text genannten Zahlen. – Ein kleinerer Teil der steirischen Heimatschützer, die Schätzungen sagen etwa 3.000, u. a. der gesamte Bezirksverband Murau mit seinem Leiter Karl Brunner, ging Kammerhofers Weg nicht mit und schloss sich der „Österreichischen Heimwehr“ Starhembergs an. – Das Liezener Abkommen wurde im November 1933 durch eines von Venedig ergänzt; es regelte u. a., allerdings auch nicht vollkommen, unter welchen Bedingungen vormalige Heimatschutzmitglieder NS-„Parteigenossen“ werden konnten. Eine heikle Thematik, weil sie dann als „Alte Kämpfer“ der NSDAP einzustufen waren. – Über fortbestehende Eifersucht und Rivalitäten u. a.: Schafranek, Sommerfest 20–24 und Moll, „Letzten Endes“ 38–40. – Ein dem Liezener Abkommen ähnliches „Kampf bündnis“ schloss am 15. Mai 1933 die Großdeutsche Partei mit der NSDAP ab. 456 Bauer, Struktur und Dynamik 69 mit Abbildung 5/3. 457 Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 56. 458 Für die Entwicklungen zwischen Wien und Berlin vgl.: Binder, Dollfuß und Hitler 113–119 und 123– 127. – Zu dem wachsenden Zerwürfnis zwischen Dollfuß und Rintelen vgl. Gorke, Anton Rintelen 177f.; danach kündigte dieser dem Kanzler bereits seit Mitte April seinen Rücktritt an, wenn „alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen verhindert“ würden, und Ende des Monats kam es zu einem richtigen Zusammenstoß zwischen beiden im Ministerrat. Nur scheinbar ging es wieder um Wirtschaftspolitik. Rintelen sagte, die Regierung stehe „im schwersten Kampf mit den Nazis“, gebe aber diesen „Waffen“, „weil wir nichts in der Arbeitsbeschaffung gemacht haben wegen der valut[arischen] Seite. Die Bauern gehen in Scharen zu den Nazis über“, weil „wir nichts getan“ haben für die „Entschädigung der Bauern“. Auch der aktuelle „Vorstoß“ bei der Arbeitsbeschaffung „geht wieder nicht, weil wir eine Diktatur haben, gegen die niemand auftritt.“ Dollfuß konterte scharf: „Das lasse ich nicht gelten“ worauf Rintelen replizierte: „Ich nehme nichts zurück“. – Rintelen sagte also dem Kanzler das Gegenteil dessen, womit er im Landtag argumentiert hatte und behauptete, Arbeitsbeschaffung und Diktatur wären inkompatibel, obwohl jene in Deutschland gerade in Gang gebracht wurde und er selbst an ihr in der Wiener Regierung seit Wochen (oder bereits Monaten) mitwirkte. In 455

174

Ableitinger / Unentwegt Krise

Wahrheit suchte er den Zusammenprall mit Dollfuß, um seine Demission vorzubereiten. Die in Vorbereitung befindlichen nächsten Maßnahmen gegen die NSDAP im Land ließen wohl die Reste seiner Zuversicht schwinden, mit dieser noch zu einem Arrangement zu gelangen. – Zu seinen Gesprächen mit Habicht und zur Causa Frank: Rintelen, Erinnerungen 215–217, 261–263. Rintelens Darstellung ist, anders als Pferschy, Steiermark 947 und Gorke, Anton Rintelen 178–181 urteilen, an sich plausibel, sogar inklusive seiner Angaben über die Ursachen seines Scheiterns („Kräfte am Werke, die jeden Ausgleich zu verhindern wußten“) . Unter diesen Kräften identifizierte er namentlich Innen- und Sicherheitsminister Emil Fey, den Wiener HeimwehrFührer; zur Auseinandersetzung mit diesem: Rintelen, Erinnerungen 262, ein schier unglaubliches Detail. – Wenn man nicht voraussetzt, dass Rintelen bereits damals aus welchen Gründen immer, u. a. persönlich-opportunistischen, insgeheim zum Nationalsozialismus übergewechselt war, differierten der Kanzler und er primär über die innen- und außenpolitische Taktik, die gegenüber Berlin, Habicht usw. anzuwenden wäre. Im Spätsommer 1933, als er Rintelen nach Rom dirigierte, näherte sich Dollfuß wieder Rintelens taktischem Kalkül; vgl. S. 144f. – Übrigens hatte Dollfuß Anfang Mai mit Habicht ein direktes Gespräch, worin dieser die Forderung fallen ließ, Dollfuß müsse als Kanzler ausscheiden; Berchtold, Verfassungsgeschichte 748, gestützt auf Protokolle des Klubvorstandes der CSP. 459 Dieser Berliner Revancheakt erfolgte merkwürdig spät; ob das ein Indiz dafür ist, dass man ca. zehn Tage auf den Erfolg von Habichts Gesprächen gesetzt hatte, steht dahin – Am 16. Juni sagte Landesrat Zenz im Landtag, die Bundesregierung habe Briefe, worin von einem steirischen Heimatschützer […] die deutsche Hitler-Regierung aufgefordert wird, den Boykott über Österreich zu verhängen, StBerLT, IV. Periode, 807f. – Als Absender solcher Briefe wurde später der steirische Bergingenieur und vormalige Heimatschützer Rudolf Steiner ausgemacht. 460 Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 57. 461 Das Betätigungsverbot und die Auf lösung der KPÖ hatte die Bundesregierung, wie bereits bemerkt, ohne besondere Veranlassung bereits am 26. Mai 1933 verfügt. 462 StBerLT, IV. Periode, 829. Der von Machold gewählte Wortlaut ist massiv und suggeriert an sich totale Ablehnung beider Arten von „Faschismus“. Tatsächlich war diese Position jedoch durch Zustimmung seiner Partei zu den Vorlagen in der Landes-

regierung relativiert worden; allerdings war sie dort mit deren Textierung nicht ganz einverstanden gewesen. ­– Man wird die Härte von Macholds Formulierung daher als taktische Drohung aufzufassen haben, das Landesverfassungsgesetz durch Missbilligung seitens der SDAP, also durch Verweigerung der Zweidrittelmehrheit, überhaupt zu Fall zu bringen, wenn die Partei dafür nicht irgendeine Kompensation bekam, sei es bezüglich der definitiven Texte im Landtag, sei es bezüglich der Intensität der Verfolgung ihrer Presse durch die Bundesregierung bzw. durch den Landeshauptmann als deren Organ im Land. – Dafür sprechen auch die scharfe Zurückweisung von Macholds Bemerkungen zur Rechtswidrigkeit der Maßnahmen gegen seine Partei und deren Presse durch Rintelen und der insistierende Zwischenruf Macholds. 463 StBerLT, IV. Periode, 833–876. 464 StBerLT, IV. Periode, 833–835. 465 StBerLT, IV. Periode, 840. 466 StBerLT, IV. Periode, 845–848, die Zitate 847. 467 StBerLT, IV. Periode, 874. – Die Vorlage über Maßnahmen gegen regierungsfeindliche Handlungen von […] Landesangestellten […] wurde, nach Einarbeitung eines präzisierenden Zusatzantrages von Aust (SDAP), ebenso mit den Stimmen der SDAP, der Christlichsozialen und des Landbundes angenommen, StBerLT, IV. Periode, 875f. 468 Deshalb fügten er und seine Landtagsfraktion sich auch mit nur wenig Murren dem Verlangen der Christlichsozialen, in der Steiermark – und zwar nur in ihr – die Gemeinderatsmandate der KPÖ ebenfalls dem „Ruhen“ zu unterwerfen. – In diesem Detail des Gesetzentwurfes witterte seine Partei bereits während der Vorbereitungen innerhalb der Landesregierung und wieder Machold im Landtag – ob tatsächlich oder bloß vorgeblich, ist nicht zu entscheiden – eine Falle, die die CSP der SDAP habe stellen wollen. Danach war die Einbeziehung der KPÖ nur dazu bestimmt, die SDAPFraktion zur Ablehnung des Entwurfes zu veranlassen, d. h. dessen Verabschiedung mittels Zweidrittelmehrheit zu verhindern. Zweck des Manövers sollte Machold zufolge sein, den Christlichsozialen zu ermöglichen eine gewisse freundschaftliche, nachbarliche Beziehung mit dem Steirischen Heimatschutz aufrecht [zu] erhalten. (StBerLT, IV. Periode, 837). – Merkwürdigerweise reagierte seitens der Christlichsozialen im Landtag niemand auf diesen drastischen Vorwurf! 469 StBerLT, IV. Periode, 835–839. 470 StBerLT, IV. Periode, 837f. 471 StBerLT, IV. Periode, 838f.

Ableitinger / Unentwegt Krise Rintelen, Erinnerungen 244. Auch in den die Gesetze vom 29. Juli vorberatenden Sitzungen in der Landesregierung hatte er sich ganz passiv verhalten; StLA, L.Reg., Regierungssitzungsprotokolle, Karton Juni bis Dezember 1933. Irrig Gorke, Anton Rintelen 183, der den Landeshauptmann am 29. Juli 1933 im Landtag mit Berufung auf StBerLT, IV. Periode, 874 das Wort ergreifen und das „Ruhen“ der Mandate „dezidiert“ gutheißen lässt. 473 Rintelen, Erinnerungen 244. 474 Rintelen, Erinnerungen 247. Erhellend ist an dieser Stelle freilich auch die Bemerkung, „die Stellung des Landeshauptmannes“ wäre inzwischen „ohnehin eine sehr reduzierte geworden“; das bezieht sich (vgl. Rintelen, Erinnerungen 264), insbesondere auf die im Juni 1933 erfolgte Einrichtung der „Sicherheitsdirektionen“ in den Landeshauptstädten, die der Regierung in Wien unmittelbar unterstellt wurden. – Auch spürte Rintelen seinen Sessel als Landeshauptmann durch Manöver wackeln, die von Dollfuß ausgingen und von Männern in der steirischen CSP mitgetragen wurden (Strafella, Stepan, Wurzinger); Rintelen, Erinnerungen 244–246. Der „Arbeiterwille“ schrieb am 31. August, Rintelen gehe „wegen schwerer Differenzen in der Christlichsozialen Partei“ nach Rom (Gorke, Anton Rintelen 185); dass die Zensur dem Blatt das durchgehen ließ, war bemerkenswert. Neben solchen sachlich-politischen Motiven wird für Rintelens Zusage an Dollfuß jedoch wenigstens auch mitgespielt haben, dass er die Chance bekam, auf der mitteleuropäischen Bühne aktiv mitzuspielen – mithin auf einer, die für ihn zukünftig vielerlei Optionen offen halten mochte. 475 Zur internationalen und österreichischen Politik, in die Rintelen 1933/34 verwoben war, vgl. sehr detailliert und mit der Spezialliteratur: Binder, Dollfuß und Hitler passim, Gorke, Anton Rintelen 185–200 und das neuere Schrifttum zum „JuliPutsch“ 1934, vor allem Bauer, Elementar-Ereignis und Schafranek, Sommerfest. Zuletzt: Bauer, Hitlers zweiter Putsch. – Zu Rintelens persönlichem Geschick: Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert 158–160; Gorke, Anton Rintelen 222–265. 476 Gorke, Anton Rintelen 185–187. 477 Die CSP verfügte selbst nur über 17 von 48 Landtagssitzen bzw., seit dem Ruhen der sechs Sitze des „Heimatblocks“, von 42. Der Landbund, traditionell zumeist an der Seite der CSP, hatte im September mit der Regierung Dollfuß gebrochen (die verbliebenen zwei großdeutschen Abgeordneten waren seit Mai der „Kampfgemeinschaft“ ihrer Partei mit der NSDAP verpf lichtet, ihre Mandate „ruhten“ den472

175

noch nicht). Wenn der Landbund leere Stimmzettel abgab, also ungültig wählte, konnte ein Kandidat der SDAP im zweiten Durchgang die Wahl gewinnen. Dazu aufschlussreich Machold im Plenum vor dem Wahlakt, StBerLT, IV. Periode, 893–895. – Die Intervention aus Wien wird deutlich aus der Äußerung des Abgeordneten Witzany (StBerLT, IV. Periode, 895), wonach die Wahl u. a. darum so spät stattfand, weil bei der Kompromissfindung selbstverständlich […] auch auf die Einstellung der entscheidenden Faktoren in der Bundesregierung Rücksicht zu nehmen war. 478 Darüber ausführlich, aber zurückhaltend Machold (StBerLT, IV. Periode, 894), jedoch ohne Bezugnahme auf die Intervention aus Wien und ohne Namen. – Man kann darüber nur spekulieren, ob Dollfuß bereits damals Stepan in Graz platzieren wollte, zu der Zeit sein Vertrauter beim Auf bau der „Vaterländischen Front“, gleichzeitig seit 1927/28 notorischer Gegner Rintelens. Vermutlich hat Rintelen während der Herbstwochen 1933 das ihm Mögliche getan, einen Gewährsmann von Dollfuß als seinen Nachfolger zu verhindern. Ein politisches „Leichtgewicht“ musste ihm für den Fall erwünscht sein, dass er selbst ein weiteres Mal Landeshauptmann in Graz werden wollte. 479 Dafür gab Machold eingehende taktische Erläuterungen, die sich glaubwürdig ausnehmen: Er schloss diese Passage seiner Wortmeldung einmal mehr mit der Hoffnung, die bürgerlichen Parteien würden aus der sachlich-korrekten Haltung der SDAP und aus den der Wahl vorangegangenen […] Parteienverhandlungen die Überzeugung gewinnen […], dass der demokratische Weg der Verständigung in allen Fällen noch immer weit eher […] zu einem befriedigenden Ziele führt, als andere in der heutigen Zeit sehr beliebte Methoden. (StBerLT, IV. Periode, 894); das Wahlergebnis StBerLT, IV. Periode, 895. 480 StBerLT, IV. Periode, 894f. Dem zuletzt zitierten Satz ließ Machold, quasi als rhetorische „Pf lichtübung“, einen Katalog von Verfehlungen der Dollfuß-Regierung folgen; unter den dem Land, speziell dem Landeshauptmann, entzogenen Rechten erwähnte er namentlich die Sicherheitsdirektionen. – Witzany (LB) sah in Dienstleders Wahl sichere Gewähr dafür […], dass die […] Verwaltung des Landes in vollkommen objektiver und gerechter Weise geführt werden wird, und erwartete zudem, dass in der Wirtschaftspolitik des Landes auch den nationalen Kreisen […] wohlwollende Behandlung zuteilwerde. 481 StBerLT, IV. Periode, 895f. – Zur Trefferanleihe, die immerhin 270 Mill. Schilling einbrachte, nur vorsichtig kritisch: Rintelen, Erinnerungen 249f.

176 482

Ableitinger / Unentwegt Krise

Der Beschluss der katholischen Bischöfe vom 30. November 1933 bedeutete, wie bekannt, keineswegs einen Rückzug auf eine innenpolitisch neutrale Position, auch keine Distanzierung von der autoritären Regierung Dollfuß. Im Gegenteil, er beabsichtigte geradezu der christlichsozialen Partei als einem gegenüber Regierung und Vaterländischer Front autonom und in Teilen immer noch demokratisch „von unten“ fungierenden Gebilde einen „Todesstoß“ zu versetzen (E. Hanisch). Vgl. Liebmann, „Heil Hitler“; Hanisch, Politischer Katholizismus (74: „Todesstoß“), kurz Talos, Herrschaftssystem 242f. – Talos, Herrschaftssystem 249 verweist als Beleg für

diese Einschätzungen mit Recht darauf, dass die katholische Kirche Österreichs nach 1934 durchaus damit einverstanden war, dass einige ihrer Priester in quasi parlamentarischen Organen des „Ständestaates“ tätig wurden – sieben im „Bundeskulturrat“, einer im „Staatsrat“. 483 StBerLT, IV. Periode, 899–901. 484 56. Sitzung vom 22. Dezember 1933: StBerLT, IV. Periode, 903–955, Aust 928, die Abstimmungen 945–948. 485 StBerLT, IV. Periode, 957–961. 486 58.–65. Sitzung: StBerLT, IV. Periode, 963–1026.

Dieter A. Binder

Die politische Kultur der Steiermark

Die Alpenfestung „König Antons“. Die Steiermark zwischen 1918 und 1933 Der Zusammenbruch der Monarchie im Herbst 1918 traf in der Steiermark auf eine politische Landschaft, die charakteristische Fraktionierungen aufwies. Als monolithischer Block stand die Sozialdemokratie da, deren pragmatisches Agieren wesentlich zum geordneten Übergang von der Monarchie zur Republik beitrug und sich fernab einer ideologischen Profilierung schlicht als linke/linksliberale Alternative präsentierte.1 Die „Revolution“ war wie auf Bundesebene lediglich der konstitutionelle Umbruch, also die Findung einer neuen Staatsform, während die Verwaltungspraxis und das Krisenmanagement pragmatische und konservierende Züge trug. Diese strukturkonservative Haltung dürfte zweifellos der Hintergrund für die gegen Ende der 1920er Jahre zunehmende Kritik des linken Flügels der Partei gewesen sein, der die Parteiführung letztlich verständnislos gegenüberstand. Dieses Verharren der Parteiführung trug dazu bei, dass ein nicht unerheblicher Aderlass stattfand. Die Exponenten der parteiinternen Kritik wechselten ab 1933/34 zu den Kommunisten, die bis dahin keine Bedeutung in der Steiermark besessen hatten und deren steirische Spitzenpositionen 1945 weitgehend von ehemaligen linken Sozialdemokraten besetzt waren.

Im prononciert deutschnationalen Milieu gelang den durchaus im Stile der Honoratiorenparteien agierenden Politikern keine eindeutige Konsolidierung. Neben den das bürgerlich-urbane Segment sammelnden Deutschnationalen (Großdeutschen)2 fand das deutschnationale bäuerliche Segment im „Deutschen Bauernbund“ Leopold Stockers, dem späteren Landbund, eine parteimäßige Organisation. So zeigen bereits die Wahlen 1919, bei der Stockers Gruppe als „Steirische Bauernpartei“ antrat, im deutschnationalen Wählerspektrum charakteristische Ausfransungen und Tendenzen zur Kleingruppenbildung. Diese Phänomene ermöglichten ab 1930 den Nationalsozialisten als moderne Sammelpartei die rasche Absorbierung des „nationalen“ Milieus.3 Der politisch größte Erfolg des Landbundes in der Steiermark war 1930 die Wahl Karl Hartlebs zum Präsidenten der Kammer für Land- und Forstwirtschaft, die mit den Stimmen des sozialdemokratischen Freien Arbeiterbauernbundes erfolgte. Die Profilierung auf dieser Ebene gelang also nur, indem man das „Bürgerblockbollwerk“ verließ, dem man seit 1919 angehörte. Das christlichsoziale Milieu monopolisierte den katholisch geprägten ländlichen Raum,

178

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

befand sich aber seit der SpätPartei gerne demonstrativ phase der Monarchie auch in zur Schau gestellten Katholider Steiermark in einer zismus. Als Mann der Wis­latenten Krise, die sich in senschaft und des gehobenen einem Anhängerschwund Bürgertums verfügte er von innerhalb städtischer Milieus, Beginn an über beste Konaber auch in jenen Marktf letakte zu den antiklerikalen, cken bemerkbar machte, die bisweilen liberalen Kreisen, an sich in dominant christaus deren Mitte 1919 tatsächlichsozialen Regionen lagen. lich einzelne Mandatare in Hinzu kam eine tiefe VerGraz gewonnen werden unsicherung im Hinblick auf konnten. Ebenso erleichterdie Kriegsheimkehrer – da ten ihm diese Kontakte den man, die Angst vor der „OkZugang zu Führern der sich toberrevolution“ saß tief – formierenden antimarxistidiesem Potential durchaus schen Wehrverbände. Sein Anton Rintelen zutraute, „revolutionäre“ Integrationsstreben zielte auf UMJ/MMS Gesinnung mitzubringen. In eine Sammlung aller Kreise den Frauen sah man eine sichere Bastion, die rechts von der Sozialdemokratie, mit der er im gerade im Wahlkampf 1919 sehr bewusst um- Übrigen am Beginn der Republik problemlos worben wurde. Sowohl den Christlichsozialen, kooperierte und angesichts der als akute Beals auch den deutschnationalen Parteien war drohung empfundenen Rätediktatur Bela Kuns klar, dass man, um gegen den soliden Block der in Ungarn gemeinsame Vorbereitungen zu eiSozialdemokraten bestehen zu können, sich ner gegebenenfalls auch militärischen Abwehr nicht ausschließlich auf die jeweilige Kernwäh- traf, bei der die schwachen Kräfte der Volkslerschicht verlassen konnte. Während Stocker wehr8 mit antimarxistischen Heimwehrgruppen den Versuch unternahm, Josef Steinberger für und sozialdemokratisch orientierten Arbeiterseine deutschnationale, bäuerliche „Standes- wehren zusammenwirken sollten.9 Rintelens Führungspersönlichkeit, seine partei“ zu gewinnen,4 was allerdings misslang, präsentierten die Christlichsozialen mit dem pragmatische Machtausübung, letztlich auch Quereinsteiger Anton Rintelen einen Mann, seine Politik der Stärke übten durchaus eine dessen Einbindung in das christlichsoziale La- gewisse Faszination auch auf sozialdemokratiger5 und dessen Attraktivität auch für deutsch- sche Funktionäre aus, die, wie etwa bei Hans nationale Potentiale gerade im urbanen liberalen Resel nachzuweisen ist, ziemlich anhaltend Milieu auf Grund seiner familiären Verbindun- wirkte. Dennoch demonstrierte Rintelen seit gen6 außer Frage standen.7 seiner Wahl zum Landeshauptmann im öffentRintelen, der sich im Hinblick auf die feh- lichen Raum seine Distanz zur Sozialdemokralende Parteiorganisation hundertprozentig auf tie, wobei er, durchaus antisemitisch agierend, die Pfarrer und Kapläne der Diözese verlassen den „jüdischen“ Austromarxismus mit dem konnte – letztere ersetzten ihm weitgehend die Kommunismus gleichsetzte. Die Sozialdemoörtlichen Organisationsreferenten seiner Partei kraten verhinderten 1926 Rintelens Rückkehr –, vermied in seinem Auftreten in der Öffent- auf den Posten des Landeshauptmanns, den er lichkeit den sonst vom Funktionärstypus seiner kurzfristig für die Funktion des Unterrichts-

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

ministers aufgegeben hatte; sie setzten im Zusammenspiel mit den Großdeutschen und dem Landbund 1927 diese Blockadepolitik fort, die die Christlichsozialen daran hinderte, ihren Parteiobmann wiederum als Landeshauptmann durchzusetzen. Schließlich gelang es Rintelen selbst, mit dem aufstrebenden sozialdemokratischen Funktionär Reinhard Machold in einem politischen Kuhhandel die Basis für seine Wiederwahl als Landeshauptmann 1928 zu legen.10 Rintelen war von Beginn an klar, dass er, um gegen Sozialdemokraten bestehen zu können, einen verlässlichen Koalitionspartner im deutschnationalen Milieu finden und gemeinsam mit diesem auch Brückenköpfe innerhalb der Industriearbeiterschaft bilden musste. So gesehen trägt die Politik der Alpine Montan ab Mitte der 1920er Jahre, die durch die Förderung „gelber“ Gewerkschafter und durch die Förderung der Heimwehren innerhalb ihrer Arbeiterschaft massiv gegen das sozialdemokratische Potential der industriegeprägten Mur-/ Mürzfurche vorzugehen suchten, auch seine Handschrift.11 Während innerhalb des Landes 1918/19 von allen Parteien eine pragmatische Politik im Hinblick auf die akuten Probleme der Region betrieben wurde, bezog Rintelen innerhalb der Verfassungsdiskussion einen entschiedenen föderalistischen Standpunkt, den er einerseits gegen den sozialdemokratischen Zentralismus und die damit verknüpften Neuordnungsvorstellungen des Staatswesens positionieren, während er andererseits das charakteristische Gegensatzpaar Provinz versus Metropole populistisch instrumentalisieren konnte.12 Als Pragmatiker und wohl auch als profilierter Jurist akzeptierte er die Verfassung 1920. Gleichzeitig versuchte er mit Hilfe des Anti-Wien-Duktus die Landesidentität zu steigern und als politisches Mobilisierungsinstrumentarium zu nutzen. Damit wurde er, den auch die politischen Gegner nicht ohne eine gewisse Achtung „König An-

179

ton“ nannten, wohl zum Vorbild für jene Landespolitiker, die unter dem Mythos „Steiermark“ die Lagergrenzen und die Enge der Parteipolitik mit dem Anspruch, Landeshauptmann aller Steirer zu sein, überwinden wollten. ­A lfred Ableitinger interpretierte den Begriff „König Anton“ nicht ohne Ironie, da „von ‚Landesfürsten‘ zu reden [...] damals noch unüblich“ war.13 So gesehen muss Rintelen zweifellos als „moderner“ Landeshauptmann definiert werden, da er im Prinzip auf eine „moderne Volkspartei“ abzielte.14 Letztlich blieb er ein Einzelkämpfer, der die eigene Partei stets unter Kontrolle hatte, während er in nachbarschaftlichen Gruppierungen über seine Vertrauensleute Einf lussnahme betrieb. Mit seinem Eintritt in die Politik nahm Rintelen Abschied von der Wissenschaft, zu der er erst ansatzweise in der Strafanstalt Stein während der Jahre seiner Kerkerhaft nach dem Juliputsch 1934 zurückkehrte, wenngleich er auch als Landeshauptmann und Minister weiterhin am Lehr- und Prüfungsbetrieb der Grazer juridischen Fakultät teilnahm und diese Tätigkeit auch durchaus nutzte, um Studenten, die ihm positiv auffielen, rasch innerhalb seines politischen Apparats zu integrieren. Das erhebliche bäuerliche Potential seiner Partei überließ er weitgehend jenen christlichsozialen Bauernvertretern, die, wie Franz Hagenhofer und nach diesem Alois Riegler und Leopold Zenz, innerhalb der Christlichsozialen deutlich erkennbare „bündische“ Strukturen verankerten, aber ihre persönlichen Grenzen, nämlich die Wahrnehmung von Standesinteressen, nie überschritten. Andererseits überspannte Rintelen den Bogen nicht dadurch, dass er die deutlich antiklerikal und prononciert deutschnational orientierten Gruppierungen des steirischen Heimwehrmilieus in seine Partei drängte. Er beließ sie im Vorfeld, akzeptierte gelegentlich eigenständig formulierte politische Standpunkte und behandelte deren Exponenten eher

180

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

als eine Art persönlicher Prätorianergarde und nicht als „Parteiarmee“. Er blieb ihnen verbunden, als sie zunehmend faschistische, schließlich nationalsozialistische Positionen einzunehmen begannen, sie blieben ihm verbunden, da sie Rintelen nicht als klassischen Parteipolitiker wahrnahmen, sondern in ihm eher den „Schutzpatron“ sahen, der zu überregionalen Weihen prädestiniert schien. Wenngleich sein Verhältnis zu Walter Pfrimer nicht friktionsfrei war – Pfrimers Aktionismus und Anspruch stellten Rintelens Machtmonopol in Frage –, blieb er sichtlich dem Milieu verhaftet und schützte es auch, nachdem Pfrimers „Marsch auf Wien“ in einem einzigartigen Desaster geendet hatte.15 Das Scheitern Pfrimers bedeutete für Rintelen auch die „Entsorgung“ eines lästigen, nur zeitweise „nützlichen Idioten“. Sein zynisches Agieren während und nach diesem Putschversuch Pfrimers spiegeln nicht so sehr die Sympathie für den „Wirtshaus-Duce“, sondern sind von seiner Grundhaltung geprägt, sich ohne moralische Bedenken Gruppierungen am rechten Rand im Interesse seines Machterhalts zu verpf lichten. „Machtwille und Machtinstinkt“16 waren zweifellos ein entschiedener Motor seines politischen Handelns. Weniger schien ihm persönlich etwas an der Umsetzung seiner politischen Macht in Besitzakkumulierung zu liegen. Gleichwohl erkannte und nutzte er die spezifische Mischung aus Katholizismus und Korruption, die sich vielfach in den steirischen Bankenskandalen der 1920er Jahre spiegelt.17 Sie ermöglichte ihm die Korrumpierung seines Umfeldes, das dadurch weitgehend von ihm abhängig wurde. Jakob Ahrer, der sich schließlich nach Kuba absetzen musste,18 Dechant Franz Prisching,19 der kurzfristig Landeshauptmann war und über Aktienspekulationen stolperte, Franz Strafella,20 der Vizebürgermeister von Graz war und sich von den Sozialdemokraten „Häuserschiebereien und Grundstücksspekulationen“ vorhalten lassen musste,21 sind signifi-

kante Beispiele. Im Zusammenhang mit Strafella entsteht der Eindruck, dass er im Wissen um die Anfälligkeit einer Person für die Vermengung von Politik und Geschäft diese schon deshalb forcierte und in Position behielt, weil sie ja auch durch ihn „erpressbar“ blieb. „Machtwille und Machtinstinkt“ Rintelens verhinderten eine spezifische Profilierung antagonistischer Persönlichkeiten und Gruppen. Zwar konnten in der Phase seiner Absenz als Landeshauptmann nach Prisching mit dem Grazer Technikprofessor Hans Paul und dem Universitätsprofessor Alfred Gürtler Personen die Funktion des Landeshauptmanns bekleiden, die nicht unbedingt zu seinem engeren Kreis zu zählen waren, doch die Position als Parteiobmann blieb weitgehend in Rintelens Händen. Paul und Gürtler, letzterer zunehmend ein ­vehementer innerparteilicher Gegner Rintelens, kamen aus dem deutschnationalen Bürgertum und signalisierten nach außen die „Breite“ der steirischen Christlichsozialen. Prisching, ein letzter Repräsentant des politisierenden Klerus, war hingegen eine Engführung, wenngleich ihn seine korrupte Persönlichkeit zum „klassischen“ Rintelen-Mann stempelte. Gürtler war zweifellos der angesehenste steirische Politiker auf Bundesebene, der an den Verhandlungen in Saint-Germain teilnahm, das Finanzministerium 1921/22 leitete und zwischen 1928 und 1930 Nationalratspräsident war. Der Finanzrechtler kehrte 1930 endgültig an die Grazer Universität zurück, nachdem er sich aus der Politik zurückgezogen hatte. Der in Wien geborene Hans Paul, 1914 an die Technische Hochschule als Wasserbauer berufen, profilierte sich als Landesrat 1919/20 im Bereich Schulwesen und Straßenbau und wurde wie Gürtler wohl als Signal für das deutschnationale Bürgertum von den Christlichsozialen gekeilt. Gürtler wie Paul, über die Lagergrenzen hinaus hoch angesehen, waren nicht in der Lage, Rintelen ernsthaft in Frage zu stellen. Als „deutsch-

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

nationale“ Bürgerliche fehlte ihnen die Rückendeckung innerhalb der christlichsozialen Kernschichten im bäuerlichen und kleinbürgerlichen Milieu. So wurde etwa Gürtler, ein zeitweise kämpferischer evangelischer Christ,22 innerhalb der Partei als „Atheist“ denunziert. Damit schied er automatisch als echte Führungspersönlichkeit des „politischen Katholizismus“ aus. Einer, der alle Weihen dieser Art besaß, Karl Maria Stepan, der als Oberleutnant nach langer Gefangenschaft aus Sibirien zurückkehrte und sein Studium in Graz fortsetzte, nachdem er in Wien durch den Tod seiner Mutter keine familiäre Bindung mehr hatte, wurde, wie auch Alfons Gorbach, von Rintelen „entdeckt“.23 Der CVer Stepan machte rasch Karriere. Nach Abschluss des Studiums wurde er „Landesparteisekretär“ und zählte damit zum engeren Kreis um Rintelen, der über seine offiziellen und inoffiziellen „Sekretäre“ die einzelnen Stränge seines politischen „Marionettentheaters“ ziehen ließ. Als Rintelen 1926 überraschend als Unterrichtsminister nach Wien ging, um wohl die Steirerbankaffäre als Regierungsmitglied zu meistern, erwartete er von seiner Truppe, dass sie weiterhin widerspruchslos und ohne eigene Ambition ihre Arbeit machte. Stepan, intelligent und ehrgeizig, war aber nicht der Mann, der sich ausschließlich als Befehlsempfänger sehen wollte. Dazu kam, wie er später immer wieder betonte, dass er sich seine eigene Meinung über die Qualität der „politischen Arbeit“ Rintelens bildete. Er durchschaute zweifellos die gezielte Korruption des Rintelenschen Systems und dürfte wohl auch durch seine Wiener Kontakte entsprechende weitere Informationen bekommen haben. Ein „Parteisekretär“, der sichtlich Zeichen der Unabhängigkeit erkennen ließ, war für Rintelen untragbar. Mit Hilfe des frisch ernannten Diözesanbischofs der Steiermark, Ferdinand Pawlikowski, der als hundertprozentiger „Rintelen-Mann“

181

einzustufen ist, „entsorgte“ Rintelen Stepan, indem er diesem den Ruf als Direktor der Anstalten des Katholischen Pressvereins zukommen ließ. Dies war zum damaligen Zeitpunkt für einen jungen Mann zweifellos formal ein gewaltiger Karrieresprung, den Stepan noch dadurch unterstrich, dass er rasch seine neue Funktion mit dem Titel „Generaldirektor“ überhöhte. Doch darf die damalige „Styria“ nicht mit jener, die er nach 1945 wiederaufbaute und die unter Hanns Sassmann zu einem international wahrgenommenen Konzern aufstieg, verwechselt werden. Die „Pressvereinsanstalten“ waren weitgehend am Rande des Bankrotts, die von Stepan übernommene ­Direktion in einem Zustand, die eher einem Dilettantenstadel als einer Betriebsführung glich. Stepan ging zunächst zu Rintelen auf Distanz, blieb ein engagierter Beobachter des Milieus und sah spätestens mit dem Tod Seipels keine wirkliche Zukunftsperspektive für die Christlichsozialen. Die dramatisch sich ändernde politische Landschaft, wie sie bei den Regionalwahlen 1932 sichtbar wurde, der seit 1930 auch in der Steiermark unübersehbare Erosionsprozess, dem das christlichsoziale Lager unterworfen war, machten ihn aufnahmebereit für die neue Form des politischen Katholizismus. Dessen autoritärer Habitus wurde von der katholischen Hierarchie ungleich mehr goutiert als die demokratische Tradition des christlichsozialen Lagers, deren Exponenten man ja in der Phase der Auseinandersetzung mit den Katholischkonservativen häufig im Verdacht hatte, einem „Kaplanssozialismus“ anzuhängen. Gorbach, der gemeinsam mit Stepan als CVer beim Katholikentag 1923 einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde, 24 war ebenfalls Schüler Rintelens an der Universität und bestens im Grazer christlichsozialen Milieu verhaftet, da er nicht nur Angehöriger des Cartellverbandes, sondern auch Absolvent des fürstbischöf lichen Knabenseminars war, einer zuneh-

182

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

mend profilierteren KaderPartei aufstiegen. Das Heimschmiede für den akademiwehrmilieu, mehr denn je schen Nachwuchs der Pardavon entfernt, Prätorianertei.25 Jene Absolventen, die garde der Christlichsozialen nach der Matura nicht das zu sein, kam mit dem HeiPriesteramt anstrebten, wamatblock auf über 12 Proren nicht mehr „verlorene“ zent, während die NationalSchafe, sondern bis heute sozialisten noch kein Mandat gerne gesehene Lobbyisten erreichten, aber mit 3,5 Prodes Milieus. Der aus dem zent erstmals wirklich im Ennstal stammende EisenAufwind lagen. Rintelen, bahnersohn gelangte zu eivon seiner „Bürgerblocks­ nem Zeitpunkt in die Politik, politik“ profitierend, wurde zu dem sein Bundesbruder wiederum zum LandeshauptStepan bereits im „Wartemann gewählt. Es war aber saal“ weilte. 1929 eher zuunübersehbar, dass das ChaFranz Strafella fällig in den Grazer Gemeinrisma „König Antons“ erUMJ/MMS derat gewählt, stieg der heblich gelitten hatte und er schwerkriegsinvalide Reserveoffizier des Ersten selbst sicherlich die Signale, die von diesem Weltkriegs rasch zum stellvertretenden Klub- Wahlergebnis ausgingen, zu deuten wusste. obmann seiner Fraktion auf, um schließlich Rintelen war sich im Klaren, dass die ErStadtschulrat von Graz zu werden. 1933 ent- gebnisse der regionalen Wahlen 1932 in einigen sprach Gorbach als typischer Vertreter der Bundesländern, die ein dramatisches Ansteigen Frontkämpfergeneration den idealen Maßstäben der NSDAP deutlich machten, auch dem steiri„ständestaatlicher“ Politik und setzte seine Kar- schen politischen Zustand entsprachen. Pfrimer, riere innerhalb der Vaterländischen Front fort. der zunächst nach seinem Freispruch im DeBei den Landtagswahlen 1930 mussten die zember 1931 zum Ehrenlandesleiter des SteiriChristlichsozialen und Rintelen als Person eine schen Heimatschutzes gewählt worden war, verheerende Niederlage einstecken. 1927 war propagierte nun das Zusammengehen der steiman nur deshalb über 41 Prozent der Stimmen rischen Heimwehrgruppen mit der NSDAP. und auf 24 Mandate gekommen, da man auf Rintelens Versuch, durch eine Rückkehr in die einer Einheitsliste mit den Großdeutschen kan- Bundespolitik als Unterrichtsminister innerhalb didiert hatte. 1930 erreichten die Christlichso- der Steiermark erneut stärker Kontur als der zialen nur knapp etwas mehr als 32 Prozent und „Steirer“, der Österreich retten könnte, zu gedamit das schlechteste Ergebnis ihrer Geschich- winnen, musste am entschiedenen Widerstand te überhaupt.26 Das emanzipatorische Verhalten des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß scheides deutschnationalen Lagers – Großdeutsche tern. Dieser verbündete sich rasch mit jenen und Landbund traten als Schoberblock gemein- christlichsozialen Funktionären, die nicht mehr sam an – bescherte diesen zwar keinen rau- willens waren, Rintelens Politik in der Steierschenden Erfolg, sicherte ihnen aber den dritten mark mitzutragen. Zweifellos war Stepan ein Platz im Landtag, während die Sozialdemokra- entschiedener Drahtzieher in der Bildung einer ten bei leichten Verlusten knapp vor den Christ- Anti-Rintelen-Plattform. Es gelang ihm, Stralichsozialen zur stimmen- und mandatsstärksten fella mit Exponenten des Katholischen Bauern-

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

bundes ins Gespräch zu bringen. Während die katholischen Bauernbündler alten Zuschnitts unter Rintelen ein Schattendasein fristeten, gewannen sie nunmehr über ihre akademisch gebildeten Beamten Kontur.27 Dollfuß, in diesen Kreisen hoch angesehen, konnte also damit rechnen, dass er die steirischen Bauernbündler auf seine Seite ziehen könnte, während Strafella für das schmale bürgerliche Segment stand. Angesichts einer derartigen Konstellation wurde Rintelen klar, dass er erstmals innerhalb des harten christlichsozialen Kerns einer ernstzunehmenden Opposition gegenüberstand. Stepan war hier der getreue Gefolgsmann von Engelbert Dollfuß, der Rintelen zunächst als Unterrichtsminister ablöste, obwohl dieser unmittelbar nach Ausschaltung des Nationalrates durch die Auf hebung des Glöckel-Erlasses28 sich die Hierarchie zu verpf lichten suchte.29 Da er zu diesem Zeitpunkt das deutschnationale Milieu, das weitgehend bereits ein nationalsozialistisches geworden war, wenngleich die unterschiedlichen Wurzeln noch lange zu erkennen waren, nicht mehr für sich einnehmen konnte, war diese Rückkehr in den Klerikalismus an sich ungefährlich. Sie brachte Rintelen aber auch nicht mehr das gewünschte Standing innerhalb der eigenen Reihen. Als Dollfuß Rintelen 1933 bei den Salzburger Festspielen damit konfrontierte, dass er ihn auch als Landeshauptmann der Steiermark nicht mehr akzeptieren könnte, war innerhalb der steirischen Partei die veritable Achse gegen ihn weitgehend ausgebildet. Rintelen besaß genug Realitätssinn, sein Scheitern zu erkennen. Statt sich auf seine Professur an der Universität zurückzuziehen, nahm er das Angebot von Dollfuß an, als österreichischer Gesandter nach Rom/Roma zu gehen. Mit Alois Dienstleder wurde wiederum ein Ordinarius der Grazer juridischen Fakultät Landeshauptmann, der, seltsam konturlos, den Februar und den Juli 1934 überstand. Fast hatte es den Anschein, dass

183

die Gegner Rintelens noch nicht so weit waren, einen der Ihren als Landeshauptmann zu lancieren. In nahezu Rintelenscher Manier präsentierte man daher einen Mann „ohne Fußvolk“, der jederzeit ohne Aufsehen entfernt werden konnte. Denkbar wäre es aber auch, dass Rintelens Hand im Herbst 1933 noch so weit reichte, einen Repräsentanten der „Jungtürken“ zu verhindern und so seinen politisch unerfahrenen, stillen und introvertierten Bundesbruder30 als Übergangskandidat zu installieren. Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg nutzte diese Situation, um dem neuen „Charismatiker“ aus der Steiermark, Karl Maria Stepan, der zunächst unter Dollfuß Generalsekretär der Vaterländischen Front geworden war und nach dessen Ermordung während des nationalsozialistischen Juliputsches 1934 vehement in die Regierung drängte, zu entsorgen. Stepan wurde als Landeshauptmann in die Steiermark zurückgeschickt. Spätestens nach der Niederwerfung des partiellen Schutzbundaufstandes im Februar 1934 war Rintelen klar, dass er sich nicht mehr auf dem Weg bisheriger und ihm höchst geläufiger politischer Mechanismen zurück an die politische Macht bringen konnte. Die Aushebelung der Verfassungsstaatlichkeit und der straffe Zentralismus des „autoritären Ständestaates“ verhinderten die Rekonstruktion seines „Königreiches“ in der Steiermark. So konnte die Rückkehr in die Politik nur über die Funktion des Bundeskanzlers erfolgen, da er, nunmehr zum Einzelkämpfer geworden, auch nicht damit rechnen konnte, als Repräsentant einer Gruppierung in die fragile Regierungskoalition aus ehemaligen Christlichsozialen, Heimwehrfaschisten und autoritären Regierungsbürokraten geholt zu werden. Für die sich zum Putsch formierenden Teile der österreichischen Nationalsozialisten aber war er das Aushängeschild jenes Teils des christlichsozialen Lagers, von dem man hoffte, nach einem geglückten Putsch die

184

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

„alte“ antimarxistische Waffenbruderschaft, allerdings unter ihrer Führung, wiederauf leben lassen zu können. Bei Rintelen, brennend vor Wut über die rasche und ungeschönte Demontage durch Dollfuß und dessen Anhang, versagte sichtlich jede Form von Selbstkontrolle und rationaler Ref lexion. Obwohl ihm kaum entgangen sein konnte, dass innerhalb des nationalsozialistischen Milieus schwere Richtungskämpfe tobten, dass das eigentliche Machtzentrum der NSDAP längst nicht mehr in Österreich lag, dass Hitler seit dem Frühsommer

1933 offen die Doppelrolle als Reichskanzler und als innerösterreichischer Oppositionspolitiker spielte, nahm er das Angebot Theo Habichts und jener Gruppe der NSDAP in Österreich an, die, schon um ihre eigene Stellung zu sichern, zu einem raschen Erfolg kommen mussten. Rintelens erneuter Anlauf, als „Quereinsteiger“ in die Politik zurückzukehren, endete in den Stunden nach dem Mord an Dollfuß und Rintelens Ausrufung als Bundeskanzler im Rundfunk mit einem Selbstmordversuch und 1935 mit der Verurteilung zu lebenslangem Kerker.

Zwischen Faschismus und autoritärer Bürokratie: 1933 bis 1938 Als der Sozialdemokrat Reinhard Machold unmittelbar nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee im Mai 1945 zur zentralen Person der sich formierenden Zweiten Republik in der Steiermark wurde, rekonstruierte er die politische Landschaft vor dem 12. Februar 1934.31 Er besetzte innerhalb seiner Partei die verschiedenen Posten mit jenen Leuten, die diese 1933/34 innehatten. Ebenso animierte er innerhalb des christlichsozialen Milieus Alois Dienstleder, den Landeshauptmann von 1933/34, sich an der Gründung der ÖVP zu beteiligen, und installierte ihn als Landeshauptmann-Stellvertreter der provisorischen Landesregierung.32 Damit unterstrich er die demokratische Legitimation der neuen Funktionäre, während er Karl Maria Stepan, der am 12. Februar 1934 gar nicht in der Steiermark weilte, sondern in Wien am Ballhausplatz antichambrierte, um mit Bundeskanzler Engelbert Dollfuß die Details seiner Tätigkeit als künftiger Generalsekretär der ­Vaterländischen Front zu besprechen, gleichsam zur Inkarnation des „Ständestaates“, des „Austrofaschismus“ machte.33 Diese Verortung Stepans, deren Hintergründe auszuleuchten hier nicht der Platz ist,

blieb auch nach dessen Rückkehr aus dem KZ im Sommer 1945 aufrecht, wobei sich die Funktionäre der ÖVP dieser Sichtweise bereitwillig und teilweise sichtlich auch mit einer gewissen Erleichterung anschlossen. In der Dämonisierung Stepans folgte man auch der Propaganda der Nationalsozialisten vor und nach dem März 1938, die diesen gemeinsam mit Alfons Gorbach, Landesführer der Vaterländischen Front, und mit Oberst Franz Zelburg, „ständestaatlicher“ Sicherheitsdirektor der Steiermark, zum „Trio infernal“, zum „Verbrecher der Systemzeit“ gestempelt hatten.34 Während Gorbach sich dieser Punzierung durch die „Versöhnungspolitik“35 zu entziehen trachtete, was ihm auch partiell gelang, blieb Stepan als Sühneopfer auf dem Altar der Partei bis zu seinem Tod ein lebendiges Beispiel dafür, dass die ÖVP als Neugründung nichts mit der Vergangenheit zu tun hätte.36 So darf es auch nicht wundern, dass in der Selbstref lexion dieses Milieus die „ständestaatliche“ Steiermark ausgeklammert und marginalisiert blieb, was etwa dazu führte, dass man offensichtliche „Spuren“ dieser Vergangenheit bei den neuen Granden der Partei, wie etwa Josef Krainer sen., weitgehend ignorierte und

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

185

zwar, indem man, um dies das Steirische gleichsam das an seinem Beispiel zu verGegenteil von Wien; es handeutlichen, des langjährigen delt sich dabei auch zweifelKammerfunktionärs, kaum los um die Kontroverse Land aber des „ständestaatlichen“ - Stadt, deren geschichtliche Vizebürgermeisters von Dimension Adam WanGraz gedachte.37 Die Auseidruszka am Beispiel 1848 nandersetzung der SPÖ mit verdeutlicht hat: „Die Isoder „austrofaschistischen“ lierung der kleinbürgerlichSteiermark blieb weitgehend proletarischen ‚demokratiauf die Wahlkämpfe der schen‘ Oktoberrevolution 1940er und 1950er begegenüber dem umgebenschränkt und diente häufig den Land zeigt diesen Entder innerparteilichen Stratewicklungsunterschied, der gie, durch entsprechende dann auch in der ganzen Zitate, etwa Auftritte der Geschichte der ersten RepuKarl Maria Stepan Nationalratsabgeordneten blik im Gegensatz von ,rotem ÖNB/Wien Paula Wallisch, den schmaWien‘ und bürgerlich-antilen linken Rand der Partei in die Pf licht zu marxistischen ‚Ländern‘ fortleben sollte, bereits nehmen.38 Andererseits gab es eine breite Tra- in aller Schärfe.“42 Stepan definierte dies so: Eine ditionslinie, die den „Ständestaat“ mit der wesentliche Änderung, auf die ich hinweisen möchte, Zweiten Republik in der Steiermark verknüp- charakterisiert die neue Landespolitik in ihrem Verfen sollte. hältnis zum Bund. Wir sind bestrebt, könnte man In seiner exemplarischen Studie über die mit einem Schlagworte sagen, nach dem Vorbild des Verfassungswirklichkeit des „Ständestaates“ hat Erzherzog Johann zu arbeiten, der ein „treuer UnHelmut Wohnout 39 deutlich gemacht, dass der tertan des Kaisers“ gewesen ist, der trotzdem die autoritäre zentralistische Duktus eine Föderali- Steiermark absolut autonom gestaltet führte. In andesierung der „ständestaatlichen“ Realität von ren Worten: wir wollen unbedingt mit Wien zuvornherein unterbunden hatte,40 sodass Stepans sammenarbeiten, aber unter Betonung unserer Eigenemotionaler Appell an das „Steirische“ nicht art.43 Die Aussagen Stepans sind umso grotesker, vom realpolitischen Ansatz her erfolgte, sondern wenn man bedenkt, dass dem Landtag und der im Kontext einer Befriedungsstrategie zu sehen Landesregierung innerhalb der „ständestaatliwar, in der über die Formung einer ausgepräg- chen“ Verfassungswirklichkeit weitestgehend ten regionalen Identität die komplexe innen- ornamentaler Charakter zukam. Karl Maria Stepan, der ein Bild des Erzpolitische Verwerfung des Landes überwunden werden sollte. Der Heimatbegriff, der nach herzogs in der Landstube auf hängen ließ, posStepan „nicht wissenschaftlich zu definieren“ tulierte die angestrebte wirtschaftliche und wäre,41 lief auf eine Tautologie hinaus: Steirisch kulturelle Erneuerung „im Geiste Erzherzogs ist, was steirisch ist. Zum rituellen Gestus stei- Johanns“.44 Den geistigen Wiederauf bau des rischer Innenpolitik zählt die Darstellung re- Landes, den Stepan ankündigte, formulierten gionalpolitischen Oppositionsverhaltens als Viktor von Geramb und Hanns Koren als „Becharakteristische Landeseigenschaft. Als Epi- geisterung und Fähigkeit [...] für heimatliche theton für oppositionelles Verhalten bedeutet Art und Kultur“, die durch die Modeströmun-

186

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

gen überdeckt worden wäwie den „Mai 1945“. Steinren.45 Das Bekenntnis zum berger, für den 1913 das BauBrauchtum sollte die politierntum noch die „sicherste schen, sozialen und ideologiStütze von Thron und Altar“ schen Unterschiede einebwar,47 hatte sich Ende November 1918 mit „aller Entnen. Rein optisch sollte dies schiedenheit [...] auf den durch die Tracht, den grauen Standpunkt der DemokraRock des Erzherzogs, vertie“, die mit der „Luderwirtdeutlicht werden. „Unsere schaft der einstigen MonarSteirertracht, unsere steirichie gebrochen“ hatte,48 geschen Sitten, unser Brauchstellt und diente auch dem tum sind Ausdruck unseres „Ständestaat“, dessen VerWesens, unseres Charakters, fassung im „Namen Gottes, unserer Eigenart. Sie sind des Allmächtigen, von dem dem Boden der Heimat entalles Recht ausgeht“,49 besprungen und heilig wie dieAlfons Gorbach gann, und sah am 6. April ser.“ Hanns Koren, Gerambs ÖNB/Wien 1938 im Vorfeld der AnSchüler und Mitarbeiter vor 1938, führte diesen Gedanken unter Landes- schlussabstimmung in Adolf Hitler den „Führer hauptmann Josef Krainer sen. als steirischer [...] durch Gottesfügung“.50 Dennoch aus dem Amt entfernt, hielt er mit seinem Nachfolger auf Kulturpolitiker in den fünfziger Jahren fort. Das „Steirische“ war und blieb der „natio- dem „Martinshof “ Filibert Gragger, der nach nale“ Schulterschluss in der Frontstellung ge- dem Juliputsch 1934 zu lebenslanger Haft vergenüber der Metropole, im Bemühen um eine urteilt worden war, engen Kontakt und kam Konsolidierung: Bedeutete dies innerhalb des ihm nach 1945, nun wiederum Direktor von Stepanschen Denkens primär die Überwindung „St. Martin“, bei der Entnazifizierung zu Hilfe. der parteipolitischen Bruchlinien, so war es in Der Grundanspruch Stepanscher Kulturpolitik den Augen Josef Steinbergers der Brückenschlag im weitesten Sinn zielte also auf den von Rinder christlichsozialen Bauernschaft hin zum telen formulierten Weg eines Brückenschlags deutschnationalen Bürgertum, die Einheitsfront zum „nationalen“ Lager, wenngleich Stepan auf deutschnationaler Grundlage, der er seit dezidiert eine Kooperation mit dem National1918 das Wort redete und die artikuliert anti- sozialismus ablehnte. Die Kulturpolitik des „Ständestaates“ untermarxistisch gedacht war.46 Von Stepan in seinem Werk „St. Martin“ demonstrativ gefördert und strich in seiner Optik das Bild des „Konkureng verknüpft mit Geramb, der hier wie im renzfaschismus“ und traf sich weitgehend im Volkskundemuseum seine Vorstellungen von bodenständigen Mief mit der deutschnationalen Volksbildung entwickeln konnte, wurde Stein- Onkologie der Nationalsozialisten, die wiedeberger zu einer Schlüsselfigur der Kontinuität: rum nach dem März 1938 im „Reichsgau SteiDie Zäsur von 1934 förderte das Milieu, das ermark“ weniger auf eine puristische Umset1938 in einzelnen Personen den formalen Tribut zung nationalsozialistischer Weihespiele setzten, für die „ständestaatliche“ Förderung zahlen sondern vielmehr aus den „ständestaatlichen“ musste, aber in weitgehend uneingeschränkter Lederhosenträgern das Kruckenkreuz entfernKontinuität den „Anschluss“ ebenso überstand ten und durch das Hakenkreuz substituierten.51

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

Auch hier stand hinter dieser Mimikry die Hoffnung, durch eine regionale Selbstdarstellung die politische Zerrissenheit des Landes zu überwinden. Nach 1948/49 waren es wiederum dieselben Schienen, auf denen vor allem die seitens der ÖVP mit zunehmendem Erfolg betriebene „Versöhnungspolitik“ fuhr und so der „Epoche der Epochenverschlepper“,52 eingebettet im Fluidum des „Kalten Krieges“, das Umfeld bereitete. Katholische Aktion und der „Bund Neuland“53 waren vor 1938 und nach 1945 – der Bund existierte als Seilschaft innerhalb der KA weiter – in der Steiermark Amalgamierungspotentiale für die charakteristische Gemengelage von Katholizismus und Deutschnationalismus/Nationalsozialismus, die die steirische Volkspartei in den 1950er und 1960er Jahren ähnlich der bayerischen CSU offen nach ganz rechts machte. Dieser nicht unbedingt erstaunliche Befund – waren ja die Parameter „ständestaatlicher“ und nationalsozialistischer Apologetik weitgehend vergleichbar, sieht man von der scharfen Differenzierung durch das Epitheton „deutsch“ und jenes von „deutschösterreichisch“ ab – muss allerdings auf zwei Ebenen hin überprüft werden, zumal das prononciert österreichische Bekenntnis des „Ständestaates“ in der Steiermark durch die Kultivierung des Landesbewussteins nicht wirklich gegriffen hatte. Stepan, der intensiv dieses Landesbewusstsein förderte, wurde damit ungewollt zum Scharnier zwischen dem christlichsozialen, katholischen und dem betont völkischen bis nationalsozialistischen Milieu. Wechselseitig beeinf lussend, getragen auf den Schultern der „betont nationalen“ Katholiken, entstand jenes Spektrum, das nach 1945 die Melange aus „Katholischer Aktion“ der Diözese Graz-Seckau und „steirischer Volkspartei“ ausmachte.54 So konnte aus der „himmlisch-vaterländischen Front“ des Jahres 1934/35 – so die Selbstdarstellung der Katholischen Aktion55 – ein we-

187

sentlicher Aspekt einer, um mit einer politikwissenschaftlichen Kategorie zu sprechen, modernen Volkspartei werden. Sein Bemühen, durch groß angelegte und inszenierte Betriebsbesuche auch eine tragfähige Brücke zur Arbeiterschaft zu schlagen, blieb Dekorum. In beiden Fällen, sowohl im „nationalen“ Lager, das längst ein nationalsozialistisches geworden war, als auch im „sozialdemokratischen“ Lager, das das Trauma des Februar 1934 und die Zerschlagung der Partei nicht überwinden konnte, gab es für den „Ständestaat“ keinen Anknüpfungspunkt. Warum gelang die Amalgamierung des sozialdemokratischen Milieus nicht? Einerseits war die Zäsur des Februar 1934 ein unüberwindbares Trauma, denn der als lächerlich empfundene Engelbert Dollfuß hatte das sozialdemokratische Milieu zerschlagen. Überdies war in diesem politischen Spektrum bereits zwischen 1930 und 1933 ein Erosionsprozess feststellbar,56 der auf der Schiene des Antiklerikalismus den Wechsel vom sozialistischen ins nationalsozialistische Lager möglich machte, zumindest aber eine gemeinsame Front gegenüber dem betont katholisch auftretenden „ständestaatlichen“ Regime erleichterte. Diese Frontstellung hat Otto Bauer in seiner Analyse des Februars 1934 deutlich angesprochen und die daraus folgenden Konsequenzen markant definiert: „Ob die Diktatur an den Klassengegensätzen in ihrem ­eigenen Lager oder ob sie am Gegensatz zwischen dem Austrofaschismus und dem Nationalsozialismus scheitert [...] ihre Tage sind gezählt. Auf die Dauer werden nicht dreißig Prozent des Volkes über siebzig Prozent, nicht das Dorf über die Großstadt, nicht der Klerikalismus über ein zu zwei Drittel nicht klerikales Volk die Diktatur ausüben können.“57 Die virulentesten NS-Milieus waren bereits vor dem März 1938 sichtbar geworden und konzentrierten sich in einem nicht unerheblichen Maße auf den urbanen, industriellen Raum,

188

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

was Graz schließlich – eingebettet in den Aktionismus der überwiegenden Mehrheit nationalsozialistisch orientierter und organisierter Schüler und Studenten – den offiziellen „Ehrentitel“ „Stadt der Volkserhebung“ einbrachte. Stepan, der in dieser Situation gemeinsam mit Gorbach bedingungslose Härte zeigen wollte und verlässliche Truppenkontingente nach Graz beorderte, musste gehen. Sein klar definierter antinationalsozialistischer Habitus war bereits am 12. Februar 1938, dem Tag des Diktats von Berchtesgaden, so markant ausgebildet, dass Hitler seine und Gorbachs Ablöse gefordert hatte. Die Dämonisierung beider Repräsentanten des „Ständestaates“ hatte bereits 1934 eingesetzt, wobei die nationalsozialistische Propaganda deren Personalpolitik, insbesondere die Maßnahmen gegen die illegalen Parteigänger und deren Sympathisanten, überzeichnete. Timischls Studie58 über das steirische Schulwesen des „Ständestaates“ hat hier korrigierend das Bild zurechtgerückt und gleichzeitig an einzelnen Beispielen deutlich gemacht, dass Stepan eher einem Sozialdemokraten als einem Nationalsozialisten traute und so erstere gegenüber letzteren bei Postenbesetzungen bevorzugte. Dennoch hat die sozialdemokratische Auseinander-

setzung mit dem „Ständestaat“ nach 1945 diese differenzierende Haltung in der Steiermark nicht zur Kenntnis genommen, sondern im gesamtösterreichischen Kontext durch die Dämonisierung des „Ständestaates“ den Nationalsozialismus verharmlost. Diese Dämonisierungsstrategie, die John Bunzel 1987 heftig angegriffen hat,59 erleichterte nach 1945 die Entnazifizierung, denn die „Illegalen“ konnten sich so im Einklang mit den sozialdemokratischen Parteigängern als Opfer einer demokratisch nicht legitimierten Obrigkeit darstellen, ihre Hinwendung zum Nationalsozialismus gleichsam als Folge des Staatsstreiches 1933/34 interpretieren und sich schließlich in den Widerstandsdiskurs 1934 bis 1938 einbringen. Beharrt man allerdings auf der Option, die illegalen Nazis als Widerstandskämpfer gegen den „Austrofaschismus“ zu definieren, wie das nicht nur Ernst Hanisch in seinem Versuch, den „Nationalsozialismus zu verstehen“,60 gemacht hat, dann muss der antinationalsozialistische Habitus des „Ständestaates“, auf den sich Autoren wie Kindermann61 verknappen, gerade in der Steiermark aufgewertet werden, wodurch man in eine bedenkliche Nähe zu den Apologeten des „Ständestaates“ rückt.

Anmerkungen 1 2 3 4

Hinteregger/Müller, Weg in die Freiheit 155. Dostal, Großdeutsche Volkspartei 197. Burkert, Landbund 208. Binder, Volksbildung und Politik 41. In einem Brief Stockers an J. Steinberger am 28. 10. 1918 warnte er vor einer totalen Machtübernahme der Sozialdemokraten in einem kommenden neuen Staat und folgerte daraus: Es muß dieser Masse wiederum eine Masse entgegengestellt werden, und diese Masse, die uns vor der sozialdemokratischen Welle retten kann, wird einzig und allein der Bauernstand sein [...] Es ist nun höchste Zeit, gegen den allmächtig werdenden Bolschewikismus [sic!] Stellung zu nehmen. Wohin wir segeln, zeigt am besten die Tatsache, daß nun an oberster Stelle der Landes-

5

6

7

regierung ein sozialdemokratischer Jude sitzt. Bisher saßen sie bloß in den Zentralen, nun werden sie Regierungsmänner. Das darf der Bauernstand nicht dulden. (Archiv St. Martin, Nachlass Steinberger) Rintelens Vater Louis Philipp Anton Rintelen (1842–1905) war der Rechtsanwalt der Diözese. Rintelen war etwa mit Felix Busson (1874–1953), Angehöriger des Corps Joannea Graz und des Corps Schacht Leoben, Verfasser des „Ritterlichen Ehrenschutzes“ (Graz 1907), der die bisher allgemein angewandten „Regeln des Duells“ von Franz von Bolgár ersetzte (Grimm/Besser-Walzet, Corporationen), verschwägert. Zur Person und Familie Anton Rintelens siehe Bin-

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

8 9 10

11

12 13 14

15

16 17 18

19 20

21

22

23 24 25 26

27

der, Anton Rintelen 641f. Hier findet sich auch die neueste Literatur zu diesem nach wie vor wenig überzeugend untersuchten Politiker der Zwischenkriegszeit. Schaffer, Volkswehr. Rintelen, Erinnerungen 65, 125. Im Gegenzug zur Tolerierung seiner Wahl stimmte Rintelen dem sozialdemokratischen Verlangen nach einem neuen Statut für Graz zu. Ableitinger, Erste Republik 41. Staudinger, Gewerkschaftsorganisationen 411–429. Rintelen denunzierte die Arbeiterschaft in dieser Region in seinen Memoiren wiederholt als kommunistisch dominiert und unterstrich dabei insbesondere den Brucker Raum. Ableitinger, Erste Republik 31. Ableitinger, Erste Republik 31. Wegen der terminologischen Nähe zu einer bestehenden Partei sei ausdrücklich darauf verwiesen, dass in der politikwissenschaftlichen Terminologie unter „Volkspartei“ eine Partei verstanden wird, die Mitglieder und Wähler aus allen gesellschaftlichen Gruppen anspricht und so eine relativ große Anhängerschaft hat, um ihrem politischen Anspruch, das gesamte Volk zu vertreten, gerecht zu werden. Zu Pfrimers Putschversuch siehe Botz, Gewalt in der Politik 184–186. Ableitinger, Erste Republik 25. Bucnik, Grazer Banken. Jakob Ahrer, Rintelens Stellvertreter und kurzfristig Finanzminister, war zweifellos eine der wichtigsten Drehscheiben Rintelens, um Heimwehr- und Parteienfinanzierung umzusetzen. Ahrer scheint aber darüber hinaus auch einen gewissen Hang zur Eigenfinanzierung auf Staatskosten besessen zu haben, sodass Pfrimer ihn 1929 mit Siegmund Bosel und Camillo Castiglioni in einem Zug nannte. Mikoletzky, Österreich im 20. Jahrhundert 169. Bucnik, Grazer Banken 185. Zur Person siehe Enderle-Burcel, Mandatare im Ständestaat 233f. Mikoletzky, Österreich im 20. Jahrhundert 165. Bei Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000) scheint Strafella nicht auf. Ableitinger, Erste Republik 39, spricht davon, dass er sich „an der kirchenfeindlichen „Los-von-Rom“Bewegung beteiligt haben“ soll. Zu Stepan siehe Binder, Verlorene Positionen. Liebmann, Kulturkampf 290–294. Bleier-Bissinger, Alfons Gorbach. Lipp, Landtag 116–118; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 599. Rintelen, Erinnerungen 245f.

28

29

30

31 32

33 34

35

36

37 38 39 40 41 42

189

Rintelen hatte am 10. 4. 1933 – den schleichenden Staatsstreich nach der Ausschaltung des Nationalrates nutzend – die „religiösen Übungen“ im Schulbetrieb wiedereingeführt, indem er den einschlägigen Erlass Otto Glöckels durch eine Verordnung auf hob. Liebmann, Dominanz 411. Liebmann hält fest, dass Kardinal Theodor Innitzer mit einer Dankadresse den Rechtsbruch Rintelens würdigte, während die „Reichspost“ Rintelen für die „Forträumung des Revolutionsschuttes“ dankte. Anton Rintelen war während seines Studiums in keiner Studentenkorporation aktiv. Nach seiner Berufung nach Graz wurde er so wie sein Bruder Max, der ebenfalls über eine Professur in Prag/ Praha als Rechtshistoriker nach Graz berufen wurde, in die später in den KV eintretende „Akademische Vereinigung Winfridia“ als Ehrenmitglied aufgenommen. Diese eher reformkatholische Studentenvereinigung, der Dienstleder seit seiner Studentenzeit angehörte, wurde schließlich auch die Urkorporation von Anton Rintelen jun., dem Sohn des Landeshauptmanns, der Ende der 1920er Jahre auch Ehrenmitglied des CV geworden war. Rintelen wurde 1934 sowohl aus dem CV als auch aus dem KV ausgeschlossen, während sein Bruder und sein Sohn in ihrem Bund, Winfridia, verblieben. Vgl. Binder, Politischer Katholizismus. Vgl. Binder, Stunde der Pragmatiker. Ableitinger, „Bad Start“ 81–108; Binder, Volkspartei 559–600. Binder, Verlorene Positionen. Als 1939 alle drei im KZ Dachau inhaftiert waren, wurden für eine Ausstellung über die „Verbrechen der Systemzeit“ jenes berühmte Foto von diesen Männern in der gestreiften KZ-Kleidung gemacht, das lange Zeit durch österreichische Schulbücher der Zweiten Republik als Illustration für das NS-Regime geisterte. Vgl. Binder, Weg ins KZ 124. Binder, Volkspartei; etwas anders die Sichtweise bei Ableitinger, Politik in der Steiermark. Stepans Aufnahme in einer der ÖVP-Listen für die Wahlen im November 1945 „might cost the Party up to 20.000 votes“, lautete die britische Einschätzung. Zit. nach: Ableitinger, „Bad start“ 106, Anm. 11. Vgl. Mayr, Josef Krainer 42–50. Binder, Stunde der Pragmatiker 118–123. Wohnout. Regierungsdiktatur. Binder/Wohnout, Regierungssystem 145–168. Grazer Volksblatt (21. 6. 1936), 5. Wandruszka, Österreichs politische Struktur 423f.

190 43

44 45 46 47

48 49 50

51

52 53

54

55 56

57

Binder / Die politische Kultur der Steiermark

StLA, LH-Korr. 877/1935, fol. 4, zit. nach: Spreitzhofer, Kulturpolitik 44. Semetkowski, Stepan und unsere Heimat 1. Grazer Volksblatt (16. 2. 1936), 6. Binder, Volksbildung und Politik 39–56. Steirische Bauernzeitung, Null-Nummer (Archiv St. Martin). Grazer Volksblatt (28. 11. 1918). BGBl. 1, 1934. J[osef ] St[einberger], „Bist Du noch unsicher, Oesterreicher? Ein deutscher Priester für Adolf Hitler.“ In: Grazer Volksblatt (6. 4. 1938), 6. Vgl. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 189. Vgl. Binder, Heimatsuchen 551–634. Zweifellos trafen sich „Neuländer“ und „Nationale“ schon vor 1938 in der „Volkstumsarbeit“. Vgl. Kapfhammer, Neuland 85f. Regionale Unterschiede mögen für die unterschiedlichen Übergänge der „Neuländer“ zum Nationalsozialismus und zum Widerstand eine Rolle gespielt haben. Vgl. Binder, Volkspartei 559–600; Liebmann, Leben und Wirken 343–408; im selben Band die Gegendarstellung von Opis, Steirischer Katholizismus 409–476. Katholische Aktion und Seelsorge (1935), 39. Hänisch, Die österreichischen NSDAP-Wähler; Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 31–74. Weiters: Manstein, Mitglieder und Wähler; Ardelt/Hautmann, Arbeiterschaft und Nationalsozialismus; Kirk, Nazism and the Working Class. Bauer, Aufstand der österreichischen Arbeiter, zit. nach: Bauer, Werkausgabe, Bd. 3, 997.

58

59

60 61

Timischl, Beiträge zum steirischen Schulwesen (1990). Bunzl, Lebenslüge 11. Ebenso entschieden nahm Ella Lingens gegen die vor allem in den frühen 1980er Jahren häufig gehörte „These“ Stellung. Vgl. Lingens, Gefangene der Angst 37: „Natürlich habe ich, wie alle meine sozialdemokratischen Weg­ gefährten, den Austrofaschismus abgelehnt, aber ich war zu keinem Zeitpunkt bereit, ihn mit dem ­Nationalsozialismus auch nur entfernt in einen Topf zu werfen, wie das beispielsweise Bruno Kreisky bis zuletzt nicht ganz lassen wollte: Die Konzentrationslager des Austrofaschismus, die Kreisky allen Ernstes in einem Atemzug mit den Vernichtungslagern des Dritten Reiches erwähnte, waren, an ihnen gemessen, Ferienlager. Und vor allem war Dollfuß kein Hitler und keine schwächliche An­näherung an ihn. Eher erschien er mir [...] als ein österreichischer Patriot, der das Gefühl hatte, das Land müsse mit fester Hand geführt werden, um nicht in eine Katastrophe abzugleiten. Nicht, dass ich den Weg, den er zu diesem Zweck beschritt, schon gar das Verbot der Sozialdemokraten, für richtig oder auch nur für effizient gehalten habe, aber ich habe ihm abgenommen, dass er dieses Land vor einem Teufel – vor Adolf Hitler – bewahren wollte. Deshalb war ich dafür, dass die Sozialdemokraten an seiner Seite gegen Hitler kämpfen sollten und halte es mit dem Politologen Norbert Leser für einen historischen Fehler, dass sie sich dem verweigert haben.“ Hanisch, Versuch 154–162. Kindermann, Österreich als Angriffsziel.

Gernot D. Hasiba †

Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

I. Vom Kronland zum Bundesstaat – 1918 bis 1920 Die Zeit der Ausschüsse Das Land Steiermark – seit dem Jahre 1192 mit Österreich verbunden – konnte für längere Zeit aufgrund zahlreicher in der Georgenberger Handfeste von 1186 garantierten Privilegien seine Eigenständigkeit bewahren.1 Diese Sonderstellung zeichnet das Kronland Steiermark auch im Jahre 1918 aus. Wenn Hans Kelsen nicht ganz unbestritten meint, der revolutionäre Charakter könne mit dem Beschluss über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt vom 30. Oktober 19182 nicht mehr geleugnet werden, da ein klarer Bruch der Rechtskontinuität vorläge,3 so gilt dies vor allem und in besonderer Weise für die Steiermark.4 Diese wurde im Jahre 1918 sowohl vom Nationalitätenkonf likt – fast ein Drittel der Bevölkerung zählte zur slowenischen Sprachgruppe – erfasst, als auch mit enormen sozialen Problemen konfrontiert. Gezielt organisierte Streiks der Arbeiter im Jänner und im Mai und zunehmend radikalere Ausschreitungen zwangen die steirische Sozialdemokratie zu einer Öffnung nach links, was sie zunächst in deutliche Opposition zu Dynastie und Staat brachte und auch Misstrauen bei bürgerlicher und bäuerlicher Bevölkerung hervorrief.

Obwohl bei Kriegsbeginn durch den Einsatz aller verfassungsmäßigen Notstandsinstrumentarien wie Notverordnungs- und Ausnahmerecht, aber auch die Vertagung des Reichsrates und der Landtage, Übernahme der Gemeindeverwaltung durch die Militärkommanden, staatliche Wirtschaftslenkung und anderes mehr,5 der Staat eine omnipotente Position eingenommen hatte, war es ihm keinesfalls gelungen, die mannigfaltigen Probleme zu lösen. Vornehmlich die äußerst unzulänglichen Versorgungsverhältnisse führten zu einem Autoritätsverlust der Zentralbehörden und förderten Bestrebungen zur Ablösung der staatlichen Landesverwaltung.6 Nach Verhandlungen zwischen Vertretern von Industrie und Arbeiterschaft kam es am 20. Oktober 1918 in der Steiermark – also noch vor der Konstituierung der Provisorischen Nationalversammlung am 21. Oktober in Wien, welche die Bildung eines selbstständigen Staates Deutschösterreich beschloss und einen Vollzugsausschuss einsetzte7 – zur Einberufung einer Landesversammlung unter Vorsitz des Grazer Bürgermeisters Mag. Adolf Fizia und unter Beteiligung weiterer Persönlichkeiten des politischen und wirtschaftlichen Lebens. Man einigte sich auf die Einsetzung eines nur dem Volk verantwortlichen 24-köpfigen „Wohl-

192

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

fahrtsausschusses“, der die rüber letztlich der WirtÜbernahme der gesamten schaftskommissär entscheiden Landesverwaltung in Ansollte. Grundsätzlich war dem spruch nahm. Von diesem Bezirkswohlfahrtsausschuss Wohlfahrtsausschuss wurden eine bezirkspartikularische Polider Sozialdemokrat Dr. Artik untersagt.13 Solche Ausschüsse wurden in der Folge nold Eisler und der deutschin allen Bezirken errichtet.14 freiheitliche Dr. Viktor WutWenngleich die Bezirkste zu „Landesverwesern“ erwohlfahrtsausschüsse nur als nannt.8 Vier Tage später begab beratende Organe provisorischer sich der Wohlfahrtsausschuss Natur bei den politischen Bezu Ministerpräsident Hussazirksbehörden angesehen 15 rek nach Wien und forderte wurden, versuchten sie ihre Kompetenzen weiter auszuden Rücktritt des an sich von Manfred Graf Clary und Aldringen, bauen, was bei den Landesallen politischen GruppieStatthalter der Steiermark 1898–1918 behörden verständlicherweise rungen durchaus akzeptierten UMJ/MMS auf wenig Gegenliebe stieß. Statthalters Manfred Graf 9 Bereits am 12. September Clary und Aldringen , welcher schließlich am 26. Oktober erfolgte. Gleich- 1919 kam es zur formellen Auf lösung der Auszeitig ernannte der Ministerpräsident Dr. Wutte schüsse.16 Hauptaufgabe des Landeswohlfahrtsauszum Wirtschaftskommissär für Steiermark und schusses war es, durch WirtschaftslenkungsDr. Eisler zu dessen Stellvertreter.10 Im entsprechenden Verständigungsschreiben maßnahmen zu gewährleisten, dass die Ausfuhr – noch an die k. k. Statthalterei in Graz ge- von Rohstoffen und Industrieprodukten nur richtet – wird den Wirtschaftskommissären eine mehr gegen Sicherstellung von Nahrungsmitamtlich übergeordnete Stellung gegenüber den Be- teln erfolgte. Weiters musste für die innere Siamten der Statthalterei eingeräumt, wobei der cherheit des Landes – die vornehmlich durch Wohlfahrtsausschuss als Beratungsorgan dienen zurückf lutende Truppen gefährdet wurde – sollte, wie auch der Aufgabenbereich festgelegt gesorgt werden. Da die vorhandene Exekutive wurde, der sich auf den ganzen Apparat der poli- zu schwach war, erfolgte die Aufstellung von tischen und wirtschaftlichen Verwaltung einschließlich Heim- und Ortswehren unter Beteiligung aller der Wirtschaftsstellen in Steiermark erstrecken soll- Bevölkerungsschichten.17 Als zusätzliche Aufte.11 Somit war die Steiermark das erste Kron- gabe übernahm der Wohlfahrtsausschuss am land, welches den Umsturz der Monarchie 1. November 1918 durch Vollmacht vom Staatseingeleitet hatte.12 rat auch die gesamte Militärverwaltung.18 Der Landeswohlfahrtsausschuss ermächtigte Gleichzeitig wurde die Bildung von Soldatennun die Bezirksbehörden, die dortige Bevölkerung räten vorbereitet, welche die Verbindung zwizur Bildung von Bezirkswohlfahrtsausschüssen in schen Truppe und Verwaltung sicherstellen analoger Weise zum Landeswohlfahrtsausschuss sollten und in denen die Sozialdemokratie beaufzufordern, wobei den Bezirksbehörden ein deutenden Einf luss erlangte. Die NeuorganisaEinspruchsrecht gegen Beschlüsse des Landes- tion der militärischen Volkswehr führte jedoch wohlfahrtsausschusses eingeräumt wurde, wo- zu einem Desinteresse der Arbeiter an den Orts-

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Plakat des Wohlfahrtsausschusses, Oktober 1918

193

StLA

194

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

und Bürgerwehren, da diese der Gendarmerie unterstellt waren.19 Wenngleich der Vollzugsausschuss der Provisorischen Nationalversammlung vornehmlich der Zentralgewalt verpf lichtet war, erließ er noch vor dem 30. Oktober grundlegende Richtlinien für die Einberufung von provisorischen Landesversammlungen und -ausschüssen.20 Am 31. Oktober vereinbarten Vertreter der Deutschfreiheitlichen, der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten, eine Vertrauensmänner dieser Parteien sowie steirische Reichstagsabgeordnete umfassende provisorische Landesversammlung zu bilden.21 Die konstituierende Sitzung erfolgte am 6. November, wo die drei großen Parteien durch je 20 Abgeordnete vertreten waren.22 Der Antrag betreffend die Beschlussfassung über die Konstituierung der steiermärkischen Landesversammlung fand unter Hinweis auf den Antrag des Vollzugsausschusses der Provisorischen Nationalversammlung einstimmige Annahme.23 Im ersten Kapitel wurde unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet des ehemaligen Kronlandes (Herzogtum Steiermark) unter dem Namen „Land Steiermark“ zur eigenberechtigten Provinz des Staates Deutschösterreich und auch der Beitritt zu diesem Staat erklärt, wie auch die Provisorische Nationalversammlung als zurzeit oberste staatliche Gewalt anerkannt.24 Das zweite Kapitel des Antrages enthält die Grundzüge einer provisorischen Landesverfassung. Demnach bilden die aus den Parteienvereinbarungen hervorgegangenen 60 Abgeordneten den Provisorischen Landtag, welcher vom Landeshauptmann oder einem Viertel der Abgeordneten einberufen wird. Sitz des Landtages und der Landesregierung bleibt Graz. Der Provisorische Landtag bestellt einen aus zwölf Mitgliedern bestehenden Landesausschuss,25 aus dessen Mitte der Landeshauptmann und zwei Stellvertreter gewählt werden, welche die Landesregierung bilden. Die Landesverwaltung wird ungeteilt vom Landesausschuss und der

Landesregierung geführt. Die bisherige Trennung von landesfürstlicher und autonomer Verwaltung gilt für aufgehoben, die Aufgaben der Statthalterei gehen auf die Landesregierung über, die Bezirkshauptmannschaften und sämtliche Verwaltungsorgane in Bezirk und Gemeinde werden dem Landesausschuss und der Landesregierung unterstellt.26 Das dritte Kapitel widmet sich den im Siedlungsgebiet der slowenischen Nation liegenden, von Deutschen bewohnten Gebieten der Untersteiermark, die einstweilen vom steirischen Landtag vertreten werden, da endgültige Regelungen hinsichtlich der Grenze bzw. der politischen und nationalen Rechte der deutschen Bewohner der slowenischen Gebietsteile der völkerrechtlichen Vereinbarung zwischen beiden Staaten respektive dem Friedenskongress vorbehalten bleiben.27 Nach Annahme des Antrages erfolgte die Wahl der Mitglieder des Landesausschusses, der nach seiner Konstituierung Dr. Wilhelm von Kaan (deutschfreiheitlich) zum Landeshauptmann sowie Dr. Anton Rintelen (christlichsozial) und Josef Pongratz (sozialdemokratisch) zu dessen Stellvertretern wählte.28 Eine ähnliche Entwicklung finden wir in beinahe allen übrigen Ländern, wobei Deutschböhmen – noch vor der Steiermark – den Beschluss für eine provisorische Verfassung sowie den Beitritt zum Staat Deutschösterreich am 20. Oktober fasste, jedoch nicht aufgrund einer eigenständigen „revolutionären“ Haltung, sondern lediglich, um sich deutlich vom neuen tschechoslowakischen Staat abzugrenzen.29 In Tirol hingegen wurde ein eigener Weg eingeschlagen, denn dort kam es zur Bildung eines „Tiroler Nationalrates“30, der jedoch wegen der offenen Südtirolfrage unter Berufung auf das Wilson’sche Selbstbestimmungsrecht zunächst keine Beitrittserklärung zum neuen Staat Deutschösterreich abgegeben hatte.31 Über die rechtliche Relevanz der diversen Beitrittserklä-

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

rungen ließe sich noch eingehend diskutieren, zumal sich die Situation aufgrund der Gesetze vom 12. November über die Staats- und Regierungsform Deutschösterreichs32 bzw. vom 14. November betreffend die Übernahme der Staats- und Regierungsgewalt in den Ländern33 nicht unwesentlich geändert hatte.34 Die steiermärkische Landesregierung veröffentlichte am 9. November 1918 einen Aufruf an die Bevölkerung, die nunmehr mit dem ausdrücklichen Hinweis, im Gang der Verwaltung sei keinerlei Änderung zu erwarten, über die vorläufigen verfassungsmäßigen Veränderungen informiert wurde. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten der staatlichen Verwaltung des Landes, insbesondere die Sicherstellung der Ernährung sowie sozialpolitische Aufgaben – so der Aufruf – oblägen demnach den Wirtschaftskommissären. Zu den dringlichsten Aufgaben der Landesregierung und der politischen Bezirksbehörden zählten die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, Schutz der Person und des Eigentums, Organisation von Lebensmitteln und dergleichen, wobei entsprechende Anordnungen bei sonstiger Strafandrohung von jedermann und grundsätzlich auch von den Bezirkswohlfahrtsausschüssen zu befolgen waren.35 Grenzprobleme im Süden Zur Durchsetzung der im Aufruf angekündigten Maßnahmen bedurfte es erheblicher Anstrengungen – erschwert durch die ungeklärte Situation an der Südgrenze. Die am 29. Oktober erfolgte Gründung des Staates der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) in Agram/Zagreb führte zum Abbruch der Beziehungen zur Habsburgermonarchie. Die handstreichartige Übernahme des Stationskommandos Nr. 26 in Marburg/Maribor durch den slowenischen Major Rudolf Maister schuf weitgehend vollendete Tatsachen, da gleichzeitig seitens Jugoslawiens

195

angedroht wurde, Lebensmitteltransporte nach Graz und Wien einzustellen.36 Dieser Umstand bewog nun die Staatsregierung wie auch die Steiermärkische Landesregierung, keinerlei militärische Abwehrmaßnahmen zu ergreifen, zumal ein Einsatz der Volkswehr aufgrund der zunehmenden Kriegsmüdigkeit bei der Bevölkerung schwer durchsetzbar gewesen wäre.37 Dadurch wurde jedoch der von der Laibacher Regierung zum Generalmajor ernannte Maister ermutigt, seine Aktivitäten auf weitere Gebiete nördlich von Marburg wie Spielfeld, Straß und Radkersburg auszudehnen.38 Dagegen protestierte die provisorische Landesversammlung am 2. Dezember mit allem Nachdruck und forderte die Staatsregierung auf, sich diesem Einspruch anzuschließen39 und im Verhandlungsweg mit der jugoslawischen Regierung den ursprünglichen Rechtszustand wiederherzustellen.40 Der Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten Dr. Otto Bauer wandte sich zwar mit einem diesbezüglichen Protesttelegramm an die Nationalregierung in Laibach/ Ljubljana, welches jedoch sehr kühl und ohne definitive Zusagen beantwortet wurde. Die Situation in Marburg verschärfte sich durch die von General Maister angeordneten Geiselnahmen von Marburger Bürgern und gipfelte im sogenannten „Marburger Bluttag“41: Am 27. Jänner 1919 kam es anlässlich der Informationsreise einer amerikanischen Studienkommission unter Leitung von Oberstleutnant Sherman Miles von Kärnten kommend über Mureck und Radkersburg vornehmlich in Marburg zu massiven „deutschösterreichischen“ Sympathiekundgebungen, welche den deutschen Charakter der Stadt bekräftigen sollten. Dabei war es angeblich zu Ausschreitungen gegen einen jugoslawischen Offizier gekommen, worauf die von Maister eingesetzten SHS-Truppen mit Maschinen­gewehren das Feuer auf die Demonstranten eröffneten, mit dem traurigen Ergebnis von acht Toten und etlichen Verletzten.42

196

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Da sich die Staatsregierung, aber auch die Steiermärkische Landesregierung überaus passiv verhielten, ergriff die untersteirische Bevölkerung selbst die Initiative, bildete Bauernkommandos und stoppte somit ein weiteres Vordringen von General Maister; es gelang sogar, Gebiete, u. a. auch Radkersburg, zurückzuerobern. Dies führte nun doch zu Verhandlungen zwischen der Steiermärkischen Landesregierung und südslawischen Vertretern in Marburg, mit dem Ergebnis, dass am 14. Februar ein Waffenstillstand geschlossen und eine Demarkationslinie vereinbart wurden.43 Da diese vorläufige Grenzziehung – durchaus berechtigt, wie sich später herausstellen sollte – auf wenig Verständnis bei der betroffenen Bevölkerung stieß, beeilte sich die Staatsregierung beschwichtigend darauf hinzuweisen, es handle sich dabei um kein Präjudiz für die endgültige Festlegung des Staatsgebietes, die letztlich ausschließlich der Friedenskonferenz zustehe und die sich an den Grundsätzen des Selbstbestimmungsrechtes orientieren werde.44 Die Friedensverhandlungen in Saint-Germain verliefen jedoch keineswegs erfolgreich, obgleich es zeitweilig berechtigte Hoffnungen für Korrekturen zugunsten Österreichs gab. So war von Volksabstimmungen in Marburg und anderen Gebieten die Rede, die letztendlich am Einspruch Frankreichs scheiterten.45 Dazu trugen auch entscheidende Fehler der österreichischen Friedensdelegation bei. So wurden die steirischen Gebietsexperten, der Radkersburger Bürgermeister-Stellvertreter Dr. Franz Kamniker und der Grazer Geograph Dr. Robert Sieger, nach Fertigstellung eines umfassenden Memorandums – trotz deren Protests – von der österreichischen Delegationsleitung nach Hause geschickt, obwohl die südsteirische Grenzfrage – infolge eines Stimmungsumschwungs bei den Alliierten – neuerlich zur Diskussion stand. Kamniker und Sieger – wiederum nach Paris berufen – kamen jedoch zu spät. Die Alliierten

hatten sich mit Ausnahme Italiens auf das Unterbleiben einer Volksabstimmung geeinigt; lediglich Radkersburg konnte für Österreich erhalten bleiben.46 Länderkonferenzen Die kritische Haltung der Länder gegenüber der Staatsregierung manifestierte sich nicht erst bei den Friedensverhandlungen, sondern schon unmittelbar nach Verabschiedung des Gesetzes vom 14. November 1918 betreffend die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern.47 Unter dem Vorsitz von Staatskanzler Renner fanden Besprechungen mit den Landeshauptleuten und weiteren Ländervertretern statt, die später unter der Bezeichnung „Länderkonferenzen“ firmierten. Die erste dieser Sitzungen wurde am 23. November 1918 mit dem Thema Sicherstellung des einheitlichen Zusammenarbeitens mit den Landesbehörden in administrativen Belangen abgehalten.48 Renner verwies einleitend auf die Notwendigkeit der Einordnung der einzelnen Glieder unter das Ganze auf dem Weg gegenseitiger Fühlungnahme, wobei dies nicht auf einem Zwangsbefehl von oben, sondern auf der freiwilligen Unterordnung der einzelnen Teile beruhen sollte. Bei dieser Besprechung zeigte sich der steirische Landeshauptmann Kaan sehr selbstbewusst, forderte eine paragraphenweise Erörterung des obigen Gesetzes und ließ – unterstützt von anderen Ländervertretern – klar erkennen, dass alle zentralistischen Tendenzen, wie beispielsweise Entsendung von Beauftragten der Staatsregierung zu den Landesregierungen, keinesfalls akzeptiert werden würden.49 Kaan konnte auch die Tolerierung des Wirtschaftskommissariats für Steiermark mit der Einschränkung durchsetzen, dieses müsse so umgestaltet werden, dass es sich in den normalen Rahmen der Landwirtschaftsämter einordne.50 Weiters fanden Besprechungen der Landeshauptleute im Staatsamt für Volksernährung

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

unter dem Vorsitz des Staatssekretärs Dr. Johann Loewenfeld-Ruß51 statt, wo vor allem die Ernährungsprobleme diskutiert wurden. Auch hier gab es seitens der Staatsregierung häufig Kritik am separatistischen Vorgehen mancher Länder.52 Dieser Gegensatz zieht sich wie ein roter Faden durch alle Länderkonferenzen. Bei der zweiten Länderkonferenz im Jänner 1919 räsonierte der niederösterreichische Landeshauptmann Leopold Steiner, es müsse eine klare Abgrenzung zwischen den Kompetenzen der Zentralregierung und jener der Landesverwaltung geben, da die Revolution das alte System beendet habe und eine gesunde Staatsform nur durch eine vernünftige Dezentralisierung erreicht werden könne.53 Auch gegen einen Vorentwurf der Staatskanzlei für ein Gesetz über Neuwahlen in den Ländern und Gemeinden (Landes- und Gemeindewahlordnungen) anlässlich der dritten Länderkonferenz erfolgten massive Einsprüche seitens der Landeshauptleute, die sich jedoch auch untereinander nicht einig waren.54 Einhellig wurde jene Bestimmung abgelehnt, der zufolge alle Städte über 20.000 Einwohnern den bisher bestehenden Städten mit eigenem Statut gleichgestellt werden sollten. Staatskanzler Renner trat auch sogleich den Rückzug an, verwies auf den der Vorlage zugrunde liegenden Gedanken der Vermehrung der städtischen Freiheiten, nahm aber zur Kenntnis, dass die Ländervertreter eine Reform der Städte mit eigenem Statut nur der Konstituierenden Nationalversammlung zugestehen würden.55 Im weiteren Lauf der Verhandlungen eskalierten die Gegensätze zwischen Renner und den Ländervertretern. Ersterer betonte, die Nationalversammlung, in der die Länder ohnehin vertreten wären, stünde über den Partikularinteressen der einzelnen Länder, und es könne nicht akzeptiert werden, wenn einzelne Landesversammlungen beabsichtigen, ihre Landesordnungen im Gegensatz zu bestehenden

197

Staatsgesetzen – somit den Rat von Wien ablehnend – selbstständig zu beschließen.56 Landeshauptmann Kaan replizierte, bei der völligen Unklarheit über die endgültige Gestaltung des Staatsganzen sei es unmöglich, dass über die inneren Lebensinteressen der einzelnen Länder eine außerhalb dieser Länder sich bildende Gewalt entscheidet.57 Renner zeigte ein gewisses Verständnis für die wienfeindliche Haltung der Länder, die letztlich für die Versorgung der Zwei-Millionen-Stadt aufzukommen hätten, verstieg sich dann aber zu der – angesichts des bereits von der Nationalversammlung angenommenen Staatsvertrages – etwas befremdlich anmutenden Behauptung, Deutschösterreich könne ohnehin allein nicht bestehen, und nach erfolgtem Anschluss an Deutschland wäre die Stadt Wien für ganz Süddeutschland das Ausbruchstor nach dem Osten. Als solches würde Wien hohe kommerzielle Bedeutung erlangen und somit ein sich selbst erhaltender Gemeinschaftskörper werden.58 Bei der vorläufig letzten Länderkonferenz im Oktober 1919 wurde erstmalig die Verfassungsfrage gestreift. Anlass bot ein Beschluss des Tiroler Landtages über die Grundsätze der definitiven Verfassung, wonach jedenfalls das föderalistische Prinzip zu verwirklichen sei und eine solche ohne Zustimmung der Länder nicht eingeführt werden könne.59 Dieser Beschluss – so Staatskanzler Renner – zeige die divergierenden Auffassungen der Länder über die Art und Weise, wie das Verfassungsproblem behandelt werden solle. Nun wäre es aber für die Staatsregierung selbstverständlich, sich an den Auftraggeber, also an die Konstituierende Nationalversammlung, zu halten, die ausschließlich zur Verabschiedung der Verfassung berufen sei, was aber nicht hindern solle, dass auch die Landesregierungen und Landesvertretungen in geeigneter Weise zu Wort kommen.60 Dann wurde zur Tagesordnung übergegangen, die Themen wie Getreideauf bringung, Treibstoff beschaf-

198

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

fung und grundsätzliche Ernährungsfragen enthielt. Als die Ländervertreter wieder zahlreiche Einwände vorbrachten, verwies Staatssekretär Loewenfeld-Ruß auf den Missstand, dass die Landeshauptleute als gewählte Vertreter sich nur ihren Landesbürgern verpf lichtet fühlten und die Wünsche der Zentralstellen bestenfalls an zweiter Stelle gereiht liegen würden. Das Verschweißen der autonomen mit den landesfürstlichen Behörden hat nicht, wie es seinerzeit gedacht war, dazu geführt, dass in den Ländern eine staatliche Verwaltung eingeführt wurde, sondern der Staat hat in den Ländern keine Organe mehr.61 Der Landeshauptmannstellvertreter von Niederösterreich, Steiner (der Sozialdemokrat Albert Sever war im Mai 1919 zum Landeshauptmann gewählt worden) brachte die Diskussion auf den Punkt, indem er an die erste Länderkonferenz im November des Vorjahres erinnerte, bei der sich zwischen den Ländern und der Staatsregierung eine tiefe Kluft geöffnet hätte. Die heutige Tagung – so Steiner – zeige das erschütternde Bild, das sich diese Kluft noch erweitert hat 62. Die Schuld läge bei der Staatsregierung, die es verabsäumt habe, im Einvernehmen mit den Ländern so rasch wie möglich das Grundgesetz über die neue Verfassung zu schaffen 63. So weit zu den Länderkonferenzen, die sich grundsätzlich mit Verwaltungsfragen und provisorischen Kompetenzverteilungen beschäftigten. Eine völlig idente Situation findet sich auch wieder bei den beiden Länderkonferenzen in Salzburg und Linz 1920, wo es jedoch ausschließlich um die Fragen zur definitiven Verfassung ging. Landtag und Verfassungsfragen In der Steiermark erließ die provisorische Landesversammlung am 6. Dezember 1918 eine neue Landesordnung,64 die sich als zeitgemäße Adaptierung der alten Kronlandverfassung dar-

stellte.65 Das Land Steiermark wird nach wie vor von der provisorischen Landesversammlung – deren Mitglieder aus Parteienvereinbarungen hervorgingen – vertreten.66 Diese wählt den Landeshauptmann und zwei Stellvertreter, ferner neun weitere Mitglieder des Landesrates, die den Titel „Landesräte“ führen und somit den Landesausschuss ersetzen.67 Der Landeshauptmann und seine Stellvertreter bilden die Landesregierung.68 Die Teilung der öffentlichen Verwaltung in landesfürstliche und autonome wird neuerlich als aufgehoben bezeichnet,69 dennoch bleiben bis zur Durchführung einer entsprechenden Verwaltungsreform die Geschäfte des Landesrates – dessen Beamte von diesem ernannt werden und den Charakter von Staatsbeamten haben – und der Landesregierung getrennt.70 Der Landeshauptmann kann lediglich verfügen, dass Amtsabteilungen des Landesrates und der Landesregierung, die mit derselben Sache befasst sind, unmittelbar zusammenarbeiten.71 Somit wurde das sogenannte „Doppelgeleise“ in der Landesverwaltung bis zur Bundes-Verfassungsnovelle von 1925 prolongiert.72 Als Reminiszenz an die Kronlandverfassung kann auch jene Bestimmung angesehen werden, wonach der Landesrat mit Genehmigung des Staatsrates einen Stellvertreter des Landeshauptmanns bestimmt, der die Amtsgeschäfte zu versehen hat, die zum Wirkungskreis des Finanzministeriums gehören.73 Weiters hat der Landesrat zur einheitlichen Handhabung der Dienstaufsicht einen „Landesamtsdirektor“74 zu ernennen, der dem Landeshauptmann persönlich zugeteilt und der unmittelbare Vorgesetzte sämtlicher Beamten und Diener des Landesrates und der Landesregierung ist.75 Mit dieser neuen – wiederum nur vorläufigen – Landesverfassung kam die Steiermark jedenfalls in keinen Widerspruch zur bestehenden Staatsverfassung.76 Am 16. Februar 1919 fanden die – nach den Bestimmungen der im Dezember erlassenen

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

199

Konferenz der Bundesländer in Linz, 29. April 1920. Univ.-Prof. Dr. Anton Rintelen, Landeshauptmann der ÖNB/Wien Steiermark, eröffnet die Tagung.

neuen Wahlordnung – Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung statt.77 Sie brachten eine Umkehr des bisherigen Kräfteverhältnisses, wodurch die Sozialdemokraten zur stärksten Partei wurden, knapp gefolgt von den Christlichsozialen. Das deutschnationale Lager wurde empfindlich geschwächt und musste in Opposition gehen,78 während die beiden großen Parteien eine Koalitionsregierung bildeten, in der jedoch die Sozialdemokraten bestimmend waren.79 Die provisorische Landesversammlung der Steiermark beschloss am 13. März 1919 ein Gesetz über die Durchführung von Neuwahlen in den Landtag und die Landtagswahlordnung. Der aus 70 Abgeordneten bestehende Landtag sollte für die Dauer von zwei Jahren erstmals nach einem allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrecht aller Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts und dem System der Verhältniswahl gewählt werden.80 Das Land Steiermark – so die Wahlordnung81 – wird in

vier Wahlkreise mit der entsprechenden Zuordnung der Mandate eingeteilt und zwar die Wahlkreise Graz und Umgebung (16 Abgeordnete), Mittel- und Untersteier (21 Abgeordnete82), Oststeier (13 Abgeordnete) sowie Obersteier mit 20 Abgeordneten. In den Grundprinzipien orientierte sich diese Wahlordnung streng an jener für die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung. Am 17. März wurden die Wirtschaftskommissäre der Umbruchszeit durch ein Wirtschaftsdirektorium ersetzt,83 welches nach dem Ausscheiden von Dr. Wutte und Dr. Eisler aus dem Landesrat am 21. August 1919 in einen vierköpfigen Wirtschaftsrat umgewandelt wurde. Dieser war als reines Beratungsorgan der Landesregierung konzipiert.84 Da im Gesetz über die Durchführung der Neuwahlen ein Termin für Mai vorgesehen war, fand die Schlusssitzung der provisorischen Landesversammlung am 30. April 1919 statt. Landeshauptmann Kaan verwies in seinem Rechen-

200

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

schaftsbericht auf die anfänglichen Probleme der Landesregierung im November des Vorjahres, nämlich die Sicherstellung der Ernährung sowie die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung. Beides könne notdürftig für gelungen bezeichnet werden, wobei gerade die öffentliche Sicherheit in frevelhafter Weise von landfremden Personen ernsthaft zu gefährden versucht worden wäre und dies nur Dank des gesunden Sinnes der Arbeiterschaft und der Volkswehr vereitelt worden sei. Kaan bedauerte abschließend die traurigen Verhältnisse im steirischen Unterlande, da der übermächtige Druck von außen die Landesregierung gehindert habe, die dortige Bevölkerung tatkräftig zu unterstützen.85 Den Wahlen in der Steiermark gingen – wie auch der Landeshauptmann erwähnte – heftige kommunistische Agitationen mit Umsturzabsichten voraus, die vornehmlich durch die Ausrufung einer Räterepublik in Ungarn starken Auftrieb erhielten.86 Die Sozialdemokratie befand sich nun in einem unangenehmen Dilemma, da sie, um ihren Führungsanspruch über die Arbeiterschaft nicht zu gefährden, den kommunistischen Forderungen keine klare Absage erteilen wollte. Erst später kam es zu einer deutlichen Distanzierung, was jedoch zu einer vorübergehenden Spaltung innerhalb der Arbeiterschaft führen sollte.87 Die Ereignisse in Ungarn und die kommunistischen Putschversuche in der Steiermark beunruhigten auch das untersteirische Bauernkommando, welches nunmehr eine extrem antimarxistische Linie einschlug.88 Unter diesen Auspizien standen die ersten allgemeinen steirischen Landtagswahlen vom 11. Mai 1919. Wie bereits bei den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung vertraten im Wahlkampf die Sozialdemokraten ein zentralistisches Konzept, während die bürgerlichen Parteien föderalistische Ideen propagierten. Das Wahlergebnis brachte einen erheblichen Vorsprung für die Christlichsozialen mit

35 Mandaten, gefolgt von den Sozialdemokraten mit 24 Mandaten, während die deutschnationalen Gruppierungen nur elf Mandate erreichten.89 Gleichzeitig fanden erstmalig auch Wahlen in den Grazer Gemeinderat nach dem allgemeinen Wahlrecht für Frauen und Männer statt. Die sozialdemokratische Partei errang mit 20 Mandaten die relative Mehrheit, zum ersten Mal zogen Frauen in den Grazer Gemeinderat ein. Vinzenz Muchitsch, der im Juni 1919 als erster Sozialdemokrat zum Bürgermeister von Graz gewählt wurde, hatte dieses Amt bis zum Februar 1934 inne.90 In der Eröffnungssitzung des Steiermärkischen Landtages am 27. Mai 1919 wurden aufgrund eines Übereinkommens der Parteien einstimmig der Grazer Univ.-Prof. Dr. Anton Rintelen91 zum Landeshauptmann, Josef Pongratz und Dr. Jakob Ahrer zu dessen Stellvertretern gewählt.92 In gleicher Weise erfolgte die Wahl von neun weiteren Mitgliedern des Landesrates.93 Rintelen skizzierte nach seiner Wahl das künftige Programm der Landesregierung mit den Schwerpunkten Auf bau und Reform der Landesverwaltung, Sicherung der Landesfinanzen, die jedoch weitgehend vom Schicksal der österreichischen Kriegsanleihe abhängig wären, Wasserrecht und Elektrizitätswesen, Förderung von Land- und Forstwirtschaft und Verbesserung des diesbezüglichen Schulwesens, Unterstützung von Handel, Gewerbe und Industrie durch wettbewerbserleichternde Maßnahmen und Ausbau des Eisenbahnwesens, Neuordnung des Jagd- und Fischereiwesens, vermehrte Zuwendung auf den Gebieten der sozialen Fürsorge – insbesondere auch der Jugendfürsorge – sowie Sicherung der kulturellen Grundlagen des Landes (Schul- und Hochschulwesen). Abschließend verwies Rintelen auf die Bedeutung der Gemeinden und deren Effizienzerweiterung durch mögliche Schaffung größerer Gemein-

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

den, auf das Schicksal der Bezirksvertretungen und auf die dringliche Verbesserung der Stellung der Gemeinde- und Bezirksbeamten.94 Vorerst erfolgte lediglich eine Neuorganisation des Landesrates durch Schaffung eines eigenen Geschäftsplanes, wonach neben den Präsidialagenden, die zum Hauptaufgabenbereich des Landeshauptmannes zählten, elf weitere Abteilungen eingerichtet wurden, die mit genau umschriebenem Kompetenzbereich unter politischer Leitung eines Landeshauptmannstellvertreters oder Landesrates standen.95 Weiters wurden ausführliche Geschäftsordnungen für den Landesrat und den Landtag erarbeitet, die letzterer am 2. Juli 1919 zum Beschluss erhob.96 Am 29. September wurde dem Landtag eine Protestresolution der 6. Länderkonferenz zur Kenntnis gebracht, in welcher die Ländervertreter ihr tiefes Bedauern hinsichtlich des Friedensdiktates und des Bruches des Selbstbestimmungsrechtes zum Ausdruck brachten, welcher zu den bekannten Gebietsverlusten geführt habe.97 Etwas skurril mutet ein Aufruf der Landesprofessorenkammer für Steiermark vom 4. Oktober an, in welchem gefordert wurde, an allen Mittelschulen zum Jahrestag der Ratifizierung des Friedensvertrages von Saint-Germain Trauerfeiern bei Entfall des Unterrichtes abzuhalten. Niemals solle vergessen werden, dass Millionen unserer Volksgenossen der Fremdherrschaft unterworfen wurden und es daher für die deutsche Schule keine heiligere Pflicht, als den festen, werktätigen Glauben an eine Wiedervereinigung mit unseren Brüdern in den Herzen der Jugend lebendig zu erhalten, gebe.98 Vom Landesschulrat wurde der Landesprofessorenkammer mitgeteilt, diese Anregung sei, so sehr sie auch dem Empfinden der Bevölkerung entsprechen mag, aus außenpolitischen Erwägungen vom Staatsamt für Unterricht abgelehnt worden.99 Nach der Unterzeichnung des gescholtenen Friedensvertrages im September 1919 konnten

201

nunmehr die Arbeiten betreffend die definitive Staatsverfassung wieder aufgenommen werden. Dazu bedurfte es vorerst einer Erneuerung der bereits etwas brüchig gewordenen großen Koalition, die durch zunehmende Konsolidierung des Bürgertums und der Bauernschaft – begünstigt durch das Scheitern der beiden kommunistischen Rätediktaturen in Ungarn und Bayern – erforderlich wurde. Im gemeinsam vereinbarten Koalitionsprogramm findet das wiedergewonnene Selbstbewusstsein der Christlichsozialen in deren eindeutigen Forderungen hinsichtlich der künftigen Verfassung – Einrichtung Österreichs als Bundesstaat, Zweikammersystem, taxative Aufzählung der Bundeskompetenzen, Elemente direkter Demokratie und anderes mehr – seinen Niederschlag.100 Auch die Bestellung des christlichsozialen Abgeordneten Dr. Michael Mayr, Archivdirektor und Universitätsprofessor in Innsbruck, zum Staatssekretär für Verfassungs- und Verwaltungsreform, rundet obiges Bild ab. Der nun von Mayr unter Berücksichtigung der bisherigen Vorarbeiten erstellte private Verfassungsentwurf wurde mit den führenden Landespolitikern eingehend besprochen.101 Für eine Regierungsvorlage reichte es jedoch nicht, weshalb die Länder die Initiative an sich rissen, was zu den beiden notorischen Länderkonferenzen im Februar 1920 in Salzburg und im April in Linz führte.102 Die Salzburger Länderkonferenz unter dem Vorsitz des steirischen Landeshauptmannes Rintelen zeigte aufgrund der doch sehr konformen Aussagen der jeweiligen Parteienvertreter sehr klar, dass die Frage Föderalismus versus Zentralismus nicht mehr eine Länderangelegenheit war, sondern vornehmlich eine solche der politischen Parteien zu werden drohte.103 Aber selbst innerhalb der sozialdemokratischen Delegierten kam es zu Abweichungen von der einheitlichen Linie. Während der Stei-

202

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

rer Hans Resel noch vehein der Folge enorm aus und ment den Einheitsstaat forführten zu einem Zusamderte, betonte sein Parteimenstoß mit der Exekutive freund Reinhard Machold, mit der erschütternden Bilanz auf dem Boden der Koalitivon über zehn Toten und onsvereinbarungen stehen zu zahlreichen Verletzten.107 Am 7. Juli erfolgte der demonswollen und einen Bundestrative Rücktritt von sozialstaat dann akzeptabel fände, demokratischen Spitzenfunkwenn die Verfassung die voltionären, allen voran jener le Demokratie verbürgen und des Landeshauptmannstellentsprechende Voraussetzunvertreters Josef Pongratz.108 gen für die wirtschaftliche Dieser wurde zwar am 13. Entwicklung garantieren Hans Resel, 1905 104 Juli wiedergewählt, eine Zukönne. Foto: Rosa Jenik, ÖNB/Wien In der Linzer Länderkonsammenarbeit mit den ferenz wurde die BundesChristlichsozialen hielt man staatsthematik erneut ventiliert und auch die allerdings weiterhin für unmöglich. In derselKompetenzverteilung diskutiert, jedoch ohne ben Sitzung wurde ein sozialdemokratischer konkreten Erfolg. Das Selbstbewusstsein und Dringlichkeitsantrag eingebracht, demzufolge der damit verbundene Elan der Länder ließen ein sechsköpfiger Ausschuss zur Ausarbeitung deutlich nach, wodurch die Fortsetzung der eines Gesetzesentwurfes betreffend die AusVerfassungsverhandlungen wiederum von zen- schreibung von Neuwahlen für den Landtag tralistischen Gremien übernommen wurde. Die gleichzeitig mit den Nationalratswahlen gekürt weitere Abfolge nach dem Bruch der Koalition werden sollte.109 Im Lauf des Sommers kam es im Juni 1920 darf als bekannt vorausgesetzt wiederholt zu Kundgebungen der Sozialdemowerden und mündete schließlich in das „Gesetz kraten und Kommunisten in Graz, Leoben, vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Kapfenberg, Deutschlandsberg und Weiz gegen Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird das bisherige Verhalten der „christlichsozialen“ (Bundes-Verfassungsgesetz)“.105 Dieses stellte Landesregierung und für die Sicherung des Beeinen Kompromiss dar, der den Föderalismus standes der Republik und ihrer freiheitlichen nur unzulänglich verwirklichte und eher den Einrichtungen, wie auch der Rücktritt des Vorstellungen der Sozialdemokraten entsprach, Gendarmeriedirektors und die Auf lösung des was sich für die weitere innenpolitische Ent- südsteirischen Bauernkommandos und der wicklung des Staates – vor allem nach dem Heimwehren gefordert wurde.110 Der Bericht des Sonderausschusses, der auch Gang der Sozialdemokratie in die Opposition eine Reihe von Abänderungsanträgen hinsicht– als unheilbringend erweisen sollte.106 Das Ende der großen Koalition am 10. Juni lich der bestehenden Landtagswahlordnung 1920 und die darauf folgende Demission der enthielt, bildete am 15. September im Landtag Staatsregierung warf seine Schatten auch auf die den wichtigsten Tagesordnungspunkt. Im weSteiermark. Auslösendes Moment war hier der sentlichen handelte es sich um eine Angleichung sogenannte „Kirschenrummel“ in Graz: De- der Landtagswahlordnung an jene für die Wahmonstrationen wegen zu hoher Obst- und Ge- len zur Nationalversammlung (Nationalrat) und müsepreise auf einigen Märkten weiteten sich diverse Änderungen, wie beispielsweise neue

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Mandatszuweisungen an die vier Wahlkreise, bedingt durch den Wegfall der Gebiete in der Untersteiermark, die Möglichkeit der Ausstellung von Wahlkarten sowie Überprüfung der Wählerverzeichnisse durch die Ortswahlbehörden, Neugestaltung der Stimmzettel und anderes mehr. Alle Anträge für die neue Wahlordnung wurden einstimmig angenommen.111 Die letzte Sitzung des „konstituierenden“ Landtages vor den Neuwahlen fand am 23. September 1920 statt.112 Eine kurze Übersicht über seine Tätigkeit ab Mai 1919 soll nur schlagwortartig erfolgen: Eine bedeutende wirtschaftliche Besserstellung konnte nicht erreicht werden. In der Gesetzgebung hatte sich der Landtag sowohl in gesamtstaatlichen Belangen (Verfassung) aber auch im eigenen Bereich weitestgehend bewährt. Hervorzuheben sind die eigenständige Wasserrechtsnovelle und die Aktienausgabe für die Steirische Wasserkraft- und Elektrizitätsgesellschaft (Steweag), womit die Steiermark

203

allen anderen Ländern vorangegangen war. Das Land trat auch durch diverse Beteiligungen an Industriegesellschaften, vor allem aber am Ausbau der Graz-Köf lacher Eisenbahn- und Bergbaugesellschaft hervor. Das Abgabensystem wurde durch neue Steuern (Lustbarkeitssteuer) und Abgaben ( Jagd usw.) entsprechend erweitert, bessere Nutzung der Landesforste und Heilquellen, Ausbau von Eisenbahnen und Straßen, Fluss- und Bachregulierungen zumindest in Angriff genommen. Die Errichtung von landwirtschaftlichen Schulen und die Förderung der Alpenwirtschaft sind ebenfalls erwähnenswert. Auch im Bereich der sozialen Fürsorge kann auf Erfolge wie die Schaffung eines Landesjugendamtes oder die Übernahme der Heilstätten Hörgas, Enzenbach und Stolzalpe verwiesen werden. Umfassende Reformen der Verwaltung und der Finanzgebarung vornehmlich der Gemeinden mussten jedoch der Bundesgesetzgebung vorbehalten bleiben.113

II. Der beginnende Bundesstaat – 1920 bis 1925 Die Bundesverfassung von 1920 und die Landesverfassung Am 17. Oktober 1920 fanden die Wahlen zum ersten Nationalrat und in der Steiermark – als einzigem Bundesland – gleichzeitig auch Landtagswahlen statt. Konnten bei den Nationalratswahlen die Christlichsozialen erhebliche Gewinne auf Kosten der Sozialdemokraten erzielen,114 verloren bei den Landtagswahlen die beiden Großparteien Mandate zugunsten der Großdeutschen.115 In der ersten Sitzung des neu gewählten Landtages am 9. November verwies Rintelen auf das Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes am folgenden Tag, was für die Steiermark sowohl als selbstständiges Land wie auch als

Gliedstaat des Bundesstaates Österreich einen neuen historischen Abschnitt bedeute.116 Daher solle – so Rintelen – nicht tagesordnungsgemäß die Landesregierung gewählt werden, sondern ein zwölf köpfiger Sonderausschuss, der binnen 14 Tagen eine bundeskonforme, vorläufige Landesverfassung auszuarbeiten und dem Landtag vorzulegen habe.117 Diese wurde am 26. November einstimmig angenommen.118 Anschließend fanden die personellen Wahlen zu den in dieser Verfassung vorgesehenen Gremien statt.119 Nach dem neu festgelegten Proporzsystem,120 welches die Parteien zur künftigen Zusammenarbeit zwingen sollte, wurde Rintelen wiederum zum Landeshauptmann, Ahrer zum ersten Stellvertreter und Pongratz nunmehr zum zweiten Stellvertreter gewählt.121

204

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Ahrer erstattete anschließend einen kurzen Bericht über die Neuerungen der in drei Hauptstücke unterteilten Verfassung. Hervorzuheben ist die Trennung der Funktion des Landeshauptmannes und jener der Präsidenten im Landtage, was im Interesse einer geordneten Geschäftsführung liege.122 Die Regelung der finanziellen Verhältnisse wie auch jene der Kompetenzen betreffend die Gemeinden erfolgt nur in rahmenartiger Form.123 Eine weitere Novität ist die Einführung eines Hauptausschusses, der bei der Bestellung der zwölf köpfigen Landesregierung mitwirken soll sowie Kontrollaufgaben über die finanzielle Gebarung zu übernehmen und Vorsorge gegenüber Regierungskrisen zu treffen hat. Im dritten Hauptstück (Landesregierung, Landeshauptmann) tritt nun die Landesregierung an die Stelle des ehemaligen Landesrates, wobei dieser sowohl in ihrer Gesamtheit als auch einzelnen Mitgliedern gegenüber das Misstrauen ausgesprochen bzw. das Vertrauen versagt werden kann. Letzteres führt automatisch zum Rücktritt, eine Bestimmung, die dem BundesVerfassungsgesetz gleicht. Alles weitere, wie Geschäftsordnung, Stellvertretung des Landeshauptmannes, Verwaltungstätigkeit des Landtages usw., sind eher formale Bestimmungen.124 Mit dieser vorläufigen Landesverfassung – der ersten nach Inkrafttreten des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 – hatte die Steiermark zwar wiederum eine Pionierstellung eingenommen, die strenge Anlehnung an die Vorgaben des Bundes-Verfassungsgesetzes jedoch wenig Originalität zugelassen.125 Das Attribut „vorläufig“ findet seine Erklärung im Übergangsgesetz 1920126, wonach die Kompetenzartikel vorerst suspendiert blieben. Erst nach deren Inkrafttreten durch die Bundes-Verfassungsgesetznovelle 1925 sollte im Jahre 1926 die endgültige Landesverfassung verabschiedet werden.127 In der vorläufigen Verfassung von 1920 wurde die erste Legislaturperiode des Landtages – der des Nationalrates folgend – für

die Dauer von drei Jahren, danach laufend für vier Jahre normiert. Wenngleich man die Trennung zwischen Landesregierung und Landesrat beseitigte, blieb diese de facto aufrecht, da der Landeshauptmann bzw. seine Stellvertreter mit den ihm unterstellten Landesbehörden für die unmittelbare Bundesverwaltung zuständig war, wofür sich in weiterer Folge der Begriff „Landesregierung-Burg“ etablieren sollte, während für den eigenen Wirkungsbereich die Kompetenz bei den neun Landesräten lag, für die man die Bezeichnung „Landesregierung-Landhaus“ einführte.128 Jedenfalls bildete die neue Landesverfassung129 den vorläufigen Abschluss jener ursprünglich sehr kontroversiell geführten Auseinandersetzung zwischen Land und Gesamtstaat, bei der jedoch der Föderalismus weitgehend auf der Strecke blieb. Die Anschluss-Frage Mit dem Inkrafttreten der Bundesverfassung bzw. der Landesverfassungen änderte sich zunächst im Verwaltungsablauf relativ wenig, wie auch von Einsparungen keine Rede sein konnte. Die triste Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit hinsichtlich der Versorgungsprobleme blieb weitestgehend erhalten. Österreich war nach Kriegsende von einer Großmacht zu einem Kleinstaat degradiert worden, dessen Lebensfähigkeit man von allen Seiten bezweifelte, was auch im Verfassungsgesetz vom 12. November 1918 seinen Niederschlag gefunden hatte, wenn dort in Paragraph 2 Österreich programmatisch als Bestandteil der Deutschen Republik bezeichnet worden war.130 Gleichwenn der Artikel 88 des Staatsvertrages von Saint-Germain ein grundsätzliches Anschlussverbot vorsah, konnte damit der Glaube an die Existenzfähigkeit des neuen Kleinstaates keinesfalls bestärkt werden.131 Von Rohstoff- und Industriezentren wie auch von traditionellen Landwirtschaftsgebieten abgeschnitten, setzte die Regierung ihre einzige

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Hoffnung in Auslandskredite, große Teile der Bevölkerung hingegen nach wie vor in einen Anschluss an das Deutsche Reich.132 Einen Antrag für eine gesamtösterreichische Volksabstimmung unter Bedachtnahme der im Artikel 88 des Staatsvertrages von Saint-Germain enthaltenen Verpf lichtung stellten die Großdeutschen im Juli 1920 in der Nationalversammlung, wonach eine Erhebung des Willens der Österreicher hinsichtlich eines allfälligen Anschlusses gleichzeitig mit den Nationalratswahlen im Oktober erfolgen sollte. Dieser Antrag wurde zwar Ende September vom Verfassungsausschuss mehrheitlich abgelehnt, von der Nationalversammlung im Rahmen der Enddiskussion um die definitive Verfassung dem Grunde nach einstimmig angenommen, nicht jedoch bezüglich des angestrebten Termins. Die beiden Großparteien befürchteten – durchaus zu Recht – den Widerstand der Sieger­ mächte.133 Die Großdeutschen ließen sich jedoch von der Anschlussidee nicht abbringen und legten am 10. Februar 1921 einen neuerlichen Antrag für ein Bundesgesetz zur Durchführung einer Volksabstimmung über den Anschluss an das Deutsche Reich vor.134 Da ein Verstoß gegen den Staatsvertrag vermieden werden musste, änderte der Verfassungsausschuss den Titel des Gesetzes auf „Bundesgesetz zur Durchführung einer Volksbefragung über einen an den Rat des Völkerbundes aufgrund des Artikels 88 des Staatsvertrages von Saint-Germain-en-Laye zu stellenden Antrag“.135 Der grundsätzliche Widerstand der Ententestaaten – insbesondere Frankreichs – machte die momentane Undurchführbarkeit einer derartigen Abstimmung sehr deutlich.136 Dies rief nun die Bundesländer auf den Plan, welche die Möglichkeit einer länderweisen Abstimmung ventilierten. Bereits im April und Ende Mai kam es zu Abstimmungen in den Ländern Tirol und Salzburg, die mit einem eindeutigen Vo-

205

tum für den Anschluss an Deutschland ausgingen.137 Auch im steirischen Landtag stellten die Großdeutschen am 8. April 1921 einen Dringlichkeitsantrag hinsichtlich einer Volksabstimmung für den 29. Mai über die Frage: Wird der Anschluss an das deutsche Reich gefordert?138 Als Begründung wurde angeführt, eine derartige Abstimmung wäre noch von der Konstituierenden Nationalversammlung innerhalb der nächsten sechs Monate in Aussicht gestellt, jedoch von der Regierung nie durchgeführt worden. Da aber nunmehr Tirol, Salzburg und Oberösterreich – trotz des jeder gesetzlichen Grundlage entbehrenden Einspruches der Bundesregierung – im jeweiligen Landtag derartige Abstimmungen beschlossen hätten, dürfe auch die Steiermark nicht zurückstehen. Kredite allein könnten ohnehin nicht helfen, sondern nur der Anschluss an ein großes Wirtschaftsgebiet. Mit dem Hinweis Selbst der Schandfriede von Saint Germain verwehrt uns das Recht nicht, unser Verlangen nach dem Anschlusse durch Volksentscheid aller Welt kundzutun; er bindet nur dessen Erfüllung an die Zustimmung des Völkerbundes, endete der Antrag, welcher ohne weitere Diskussion einstimmige Annahme fand.139 Bereits am 15. April wandte sich Bundeskanzler Mayr mit einem Schreiben an die Steiermärkische Landesregierung, welches die Stellungnahmen des französischen und italienischen Gesandten sowie des englischen Geschäftsträgers hinsichtlich der Anschlussbestrebungen enthielt. Übereinstimmend hieß es dort, man würde alle Hilfsaktionen für Österreich einstellen und die Reparationskommission140 wiedereinsetzen, wenn die Anschlussaktivitäten kein Ende fänden.141 Da die betroffenen Bundesländer keinerlei Anstalten machten, den Bedenken des Bundeskanzlers Folge zu leisten, erließ dieser am 11. Mai eine vertrauliche Erklärung an alle Landeshauptmänner, in welcher auf die katastrophalen

206

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Konsequenzen verwiesen wurde, wenn die Ententemächte ihre Drohungen wahr machten. Darüber hinaus habe die Volksvertretung des Deutschen Reiches ein ähnliches an sie gerichtetes Ultimatum akzeptiert, weswegen eine Fortsetzung der Anschlusskundgebungen in Österreich auch Deutschland schaden könnte.142 All dies hinderte die steirischen Landesregierungen (Burg und Landhaus) nicht, die Vorbereitungen für eine Abstimmung weiter zu betreiben. Bestärkt durch Eingaben der Rektorate der Technischen Hochschule in Graz und der Montanistischen Hochschule in Leoben sowie durch eine Massenkundgebung in Graz am 23. Mai für die Anschlussabstimmung, beschloss der Landtag am 31. Mai, die Volksabstimmung für den 3. Juli anzuberaumen.143 Die Sozialdemokraten sprachen sich zwar gegen den Termin aus und verwiesen auf das Bundesgesetz für eine österreichweite Abstimmung, betonten jedoch abschließend, sie würden zwar nicht für den Antrag stimmen, damit sich aber aus dem Ergebnis einer solchen Volksbefragung kein falsches Bild vom Anschlusswillen der Bevölkerung ergibt, jedenfalls an der Volksabstimmung teilnehmen.144 Sodann wurde ein eigener Abstimmungsausschuss unter dem Vorsitz des Landeshauptmannstellvertreters Ahrer konstituiert, der seinerseits noch einen Propagandaausschuss installierte, um die organisatorischen Maßnahmen detailliert vorzubereiten.145 Auf Bundesebene führten die wiederholten Warnungen Mayrs, der nur einem Minderheitskabinett vorstand, zu dessen Rücktritt, da die Großdeutschen im Nationalrat die Arbeitsgemeinschaft mit den Christlichsozialen aufgekündigt hatten.146 Massive ausländische, aber auch inländische Einf lussnahme auf die Steiermark bewirkte schließlich ein Umdenken bei den steirischen Christlichsozialen. Rintelen und Ahrer als erklärte Anschlussbefürworter traten deswegen am 17. Juni formal zurück, wurden jedoch am 23. Juni vom Landtag wiederge-

wählt.147 In dieser Sitzung erfolgte auch nach eingehender heftiger Debatte die Reassumierung des Volksabstimmungsbeschlusses für den 3. Juli, aus Liebe und Sorge für unser Vaterland, so der christlichsoziale Landesrat Dechant Franz Prisching. Bei der Abstimmung verließen die Sozialdemokraten den Saal, die Großdeutschen und der Bauernbund votierten dagegen.148 Somit unterblieb die Abstimmung in der Steiermark; zu einer bundesweiten Volksabstimmung sollte es vor 1938 nicht mehr kommen. Nach dem Rücktritt des Kabinetts Mayr erfolgte am 21. Juni 1921 im Nationalrat die Wahl einer neuen Bundesregierung mit dem Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober als Bundeskanzler, die weitestgehend als Beamtenkabinett konzipiert war.149 Auch Schober bemühte sich – neben Problemen, die sich mit der Angliederung des Burgenlandes ergaben150 – um die für einen ökonomischen Aufschwung des Landes unabdingbaren Auslandskredite. Schober musste jedoch – trotz erheblicher Teilerfolge – demissionieren, da es Prälat Dr. Ignaz Seipel, dem Obmann der christlichsozialen Partei, im Mai 1922 gelungen war, mit den Großdeutschen eine Koalitionsregierung zu bilden.151 Seipel, der nunmehr mit den österreichischen Kreditwünschen an den Völkerbund verwiesen wurde, konnte denselben mit eindrucksvollen Argumenten von der Notwendigkeit des Weiterbestehens eines unabhängigen Staates Österreich überzeugen und erwirkte am 4. Oktober 1922 den Abschluss der sogenannten „Genfer Protokolle“ zum Zwecke der wirtschaftlichen und finanziellen Wiederaufrichtung Österreichs.152 Mit der Gewährung dieser Völkerbundanleihe war, neben der Verpf lichtung zur strikten Einhaltung der Unabhängigkeit Österreichs für die nächsten zwanzig Jahre, die Aufforderung zu schärfsten Sparmaßnahmen unter Kontrolle des Völkerbundes verbunden.153

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Sanierung und Verwaltungsreform Die Beilage zum Durchführungsgesetz, dem sogenannten „Wiederauf baugesetz“, enthält das Reform- und Finanzprogramm, welches innerhalb von zwei Jahren durchgeführt werden sollte.154 Größtes Augenmerk wurde auf die Vereinfachung, Vereinheitlichung und Sparsamkeit der Verwaltung gelegt, verbunden mit einer grundlegenden Reform der Verwaltungsvorschriften.155 Eine eigens zu diesem Zweck eingerichtete Abteilung für Verwaltungsreform unter Leitung des Ministerialrates Dr. Egbert Mannlicher erarbeitete die ersten Reformmaßnahmen auf Bundesebene, die sich vornehmlich in einem radikalen Abbau von Beamten und in der Zusammenlegung von Ministerien manifestierte.156 Eine Ausdehnung dieser Sparmaßnahmen auf die Länder – vor allem die Beseitigung der dortigen Doppelverwaltung – stieß zunächst auf heftigen Widerstand. Dabei sollte die Steiermark einmal mehr eine führende Rolle spielen.157 Die Anfänge gehen in das Jahr 1919 zurück, wo sich der „Verein der Staatsbeamten der steiermärkischen Landesregierung einschließlich der angegliederten Behörden“ laufend zu Wort meldete und auch volle Unterstützung der Landesregierung erhielt. Die ständig wiederholte Grundforderung des Vereines war die, in sämtliche Reformarbeiten der Staatsregierung einbezogen zu werden.158 Dieser Forderung schlossen sich auch andere Bundesländer an und pf legten engen Kontakt mit dem steirischen Verein, der in der Folge auch die Federführung des „Verbandes der rechtskundigen Bundesbeamten der politischen Verwaltung Österreichs“ übernahm.159 Im Jänner 1920 teilte nunmehr Staatssekretär Mayr dem steirischen Landeshauptmann mit, er sei an der Mitwirkung der Beamtenschaft durchaus interessiert und ersuche um allfällige Vorschläge. Dieser Schritt ermutigte den Verein künftig zu ausführlichen und

207

überaus kritischen Stellungnahmen und Gutachten, die – befürwortet von der Landesregierung – der Staatskanzlei und später der Bundesregierung zugingen.160 Nach der Verabschiedung des Wiederaufbaugesetzes161 und der Einrichtung der Verwaltungsreformkommission nunmehr beim Ministerium für Inneres und Unterricht162 – neben der noch gleichzeitig bestehen bleibenden Ersparungskommission – sah sich der Verband der rechtskundigen Beamten bemüßigt, engagierter in das Reformgeschehen einzugreifen. Ende Jänner 1923 wurde dem zuständigen Ministerium ein umfangreiches Exposé über die Reform der politischen Verwaltung übersandt, welches auch dem Präsidium der Steiermärkischen Landesregierung (Burg), mit der Bitte um Unterstützung und tunlichste Durchsetzung der empfohlenen Richtlinien, zur Kenntnis gebracht wurde.163 Im gegenständlichen Exposé werden einleitend die jahrzehntelangen Bestrebungen betreffend eine Reform der politischen Verwaltung in Österreich in Erinnerung gerufen. Nach dem Kriege wären nun als weitere Aspekte einerseits die Notwendigkeit der Sparsamkeit und die Anpassung an die geänderten verfassungsrechtlichen Verhältnisse andererseits – verstärkt durch Forderungen der Genfer Sanierungsaktion – hinzugekommen.164 Ersparungen und Vereinfachungen bei der Verwaltung könnten nur durch ein rascheres Verfahren ohne Beeinträchtigung der Gründlichkeit gewährleistet werden, wobei am bisherigen Zustand nicht die grundsätzliche Behördenorganisation Schuld trage, sondern veraltete und unzweckmäßige Normen, die ehestens einer Verbesserung bedürften. Als wichtigste Leitgedanken werden die Abkürzung des Instanzenzuges und eine Stärkung der Verantwortung der unteren gegenüber den oberen Stellen genannt. Weiters müsste ein Abbau der Verwaltungsziele erfolgen, da sich ein verarmter Kleinstaat eine

208

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

umfangreiche Detailverwaltung nicht leisten könne. Zahlreiche Ideen des Verbandes, die bereits der Ersparungskommission zugegangen wären, hätten schon im Wiederauf baugesetz Berücksichtigung erfahren. Als weiterer Schwerpunkt erfolgt anschließend eine Erörterung über das Problem der sogenannten Doppelverwaltung, wobei man sehr deutlich die äußerst konservative Haltung der Beamtenschaft erkennen kann, da das Doppelgeleise weitgehend verteidigt wird.165 Es müsse eher zwischen Hoheitsverwaltung und Wirtschaftsverwaltung – die für die Vermögensverwaltung bis hin zu den Kommunen, das Fürsorge- und Krankenwesen u. dgl. zuständig sei – unterschieden werden. Tatsächliche Doppelverwaltung gebe es nur dort, wo wesensgleiche Verwaltungsakte desselben Verwaltungsgebietes sowohl von der gesamtstaatlichen als auch von der autonomen Verwaltung geübt werden. Diese sei im Sinne der Ersparung tunlichst auszumerzen, dennoch wäre aber bei Gefährdung öffentlicher Interessen eine Zweigeleisigkeit zu vertreten, da solche Verwaltungsakte (beispielsweise im Sanitätsbereich oder im Straßenbau), selbst wenn sie von beiden Behörden behandelt werden, trotzdem wesensverschieden sein könnten. Die schlagwortartigen Vorwürfe, die man [...] der sog. Doppelverwaltung macht, sind zum Großteil nicht begründet166. Die geforderte Verschmelzung zu einem einheitlichen Apparat werde vielleicht keine unzweckmäßige Ersparungsmaßnahme darstellen, allerdings wohl mehr eine solche rein amtstechnischen Charakters167. Mehr Erfolg – so weiter im Exposé – wäre durch eine Einführung des Dezernats sowohl bei der Landesregierung als auch bei den Bezirkshauptmannschaften zu erwarten, der durch erhöhte Qualifikation bei den dort tätigen Beamten und sinnvolle Arbeitsteilung verwirklicht werden könnte. Die bereits durch die Einrichtung der Dezernate erhöhte Verantwortlichkeit der Beamten sollte durch die Schaffung einer

Syndikatshaftung verstärkt werden.168 Schließlich müsse auch eine grundlegende Studienreform ins Auge gefasst werden, da derzeit bestenfalls allgemeine Staatslehre, jedoch kaum österreichisches Verwaltungsrecht gelehrt werde.169 Es folgt eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Verwaltungsreform unter dem Gesichtspunkt der Bundesverfassung, wobei einmal mehr von einer zu weit gehenden Demokratisierung im allgemeinen und insbesondere bei den Landesregierungen als Behörden der früher staatlichen politischen Verwaltung gewarnt wird, da eine solche dem Ersparungsziel vielfach direkt zuwider laufen170 und zu einer vollständigen Entwertung des Beamtenstandes führen würde.171 Resümierend wird jedenfalls betont, die politische Verwaltung bedürfe einer grundlegenden Vereinfachung, Beschleunigung und Verbilligung172. Was die Ausführungen zur Doppelverwaltung betraf, widersprach Mannlicher diesen in einer vertraulichen Denkschrift, in der er auf das Bundes-Verfassungsgesetz von 1920 und das Übergangsgesetz verwies, wonach die Länder zu Gliedstaaten erhoben worden waren. Dadurch könne die Unterscheidung zwischen staatlicher und autonomer Verwaltung nicht mehr aufrechterhalten werden. Das System der mittelbaren Bundesverwaltung neben dem selbstständigen Wirkungsbereich der Länder bedinge förmlich ein „einheitliches Amt der Landesregierung, mit einem einheitlichen Beamtenkörper“173. Ein neuerliches Ersuchen der Steiermärkischen Landesregierung an das Bundesministerium für Inneres und Unterricht vom 22. März 1923, den Verhandlungen über das gegenständliche Thema unbedingt Verwaltungspraktiker des Landes beizuziehen,174 wurde wegen des Hinweises von Mannlicher, die politischen Konzeptsbeamten der Steiermark würden einen besonders beharrenden Standpunkt einnehmen, vorläufig abschlägig beschieden.175 Diese Prognose bestätigte sich in weiterer Folge, da die Länder Salzburg, Burgenland und vor

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

209

allem Kärnten durchaus poneben den Ministerialbeamsitiv an der Beseitigung der ten die Hauptlast im UnterDoppelverwaltung mitarbeiausschuss.180 176 Die seit 1867 geplante teten. Gleichwenn die SpargeVerwaltungsreform konnte sinnung der Länder nicht durch die Verabschiedung überwältigend war, was Bunder durchaus zukunftsweideskanzler Seipel, der in diesenden Verwaltungsverfahser Haltung auch einen Wirensgesetze und des Verwalderstand der christlichsoziatungsentlastungsgesetzes vom len Landespolitiker hinsicht21. Juli 1925181, die Verfassungsanpassung durch die lich seines Sanierungswerkes Erste Bundes-Verfassungsnoerblickte, im November 1924 velle vom 30. Juli 1925 vom zur Demission bewog, muss Bundeskanzler Dr. Ignaz ­Seipel Nationalrat erledigt werden. vornehmlich die steirische ÖNB/Wien Durch letztere erfolgte vorPosition etwas relativiert nehmlich die Inkraftsetzung werden. Mannlichers Reformkonzept sah ursprünglich die Überführung der Kompetenzartikel, die endgültige Beseitialler Beamten des neu einzurichtenden Amtes gung der Doppelverwaltung durch die Einfühder Landesregierung in ein Bundesdienstver- rung des einheitlichen „Amtes der Landesregiehältnis vor, wobei die Länder entsprechende rung“ in allen Bundesländern sowie die UmBeiträge leisten sollten. Dieser Plan wurde – wandlung der Bezirkshauptmannschaften in nicht zuletzt wegen des steirischen Widerstan- Landesbehörden.182 des – fallen gelassen, da es überdies für einen Bundesstaat paradox gewesen wäre, wenn die Landtagswahlordnung – Landesverfassung – Gliedstaaten keine eigene Beamtenschaft auf- ­L andtagsrückblick zuweisen gehabt hätten.177 Nach der Demission Seipels folgte am 20. Wenngleich die Verwaltungs- und VerfassungsNovember 1924 der Salzburger Nationalrats- reform bis Sommer 1925 das Hauptinteresse auf abgeordnete Dr. Rudolf Ramek als Bundes- Bundesebene wie auch in den Ländern beankanzler.178 Diesem gelang es nun, als Länderver- spruchte, muss dennoch ein kurzer Rückblick treter die grundlegenden Differenzen zwischen zu anderen Themenbereichen vorgenommen Bund und Ländern abzubauen und sowohl die werden. Aufgrund der im VerfassungsüberVerwaltungs- wie auch eine notwendig gewor- gangsgesetz von 1920 normierten abweichenden dene Verfassungsreform einem erfolgreichen Regelung für die Dauer der ersten LegislaturAbschluss zuzuführen.179 Für den weitgehenden periode des Nationalrates, die nur drei Jahre Konsens bei den Verwaltungsverfahrensgeset- dauern sollte,183 standen im Oktober 1923 Neuzen war nicht zuletzt die überaus konstruktive wahlen ins Haus. Zuvor wurde jedoch die NaZusammenarbeit zwischen dem steirischen So- tionalratswahlordnung aus mehreren Gründen, zialdemokraten Dr. Arnold Eisler und dem wie Herabsetzung der Zahl der Abgeordneten Tiroler Christlichsozialen Dr. Franz Schuhma- von 183 auf 165 im Rahmen der Einsparungscher verantwortlich. Diese beiden Abgeordne- maßnahmen des Bundes, Einführung eines ten – von Beruf Anwalt bzw. Richter – trugen zweiten Ermittlungsverfahrens, Neuverteilung

210

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

der Mandate und anderes mehr, novelliert.184 Da man in der Steiermark bereits 1920 beschlossen hatte, die Landtagswahlen gleichzeitig mit den Nationalratswahlen durchzuführen, bedurfte auch die Landtagswahlordnung entsprechender Adaptierungen, vornehmlich im Hinblick auf die geänderte Nationalratswahlordnung. Am 3. September 1923 wurde im Steiermärkischen Landtag ein Sonderausschuss des Verfassungsausschusses eingesetzt,185 dessen Ergebnisse bereits am 13. September vorlagen.186 Der christlichsoziale Abgeordnete Dr. Adolf Enge erstattete den Bericht über die Entwürfe betreffend die Abänderung der Landtagswahlordnung, der Landesverfassung und der Geschäftsordnung des Landtages.187 Die Änderungen der Landtagswahlordnung hätten sich aus der Angleichung mit der Nationalratswahlordnung hinsichtlich des Abstimmungsverfahrens, der Wählerverzeichnisse und der Ermittlungsverfahren ergeben. Strittige Fragen, wie die Einführung der Wahlpf licht, die Auf lassung des Hauptausschusses und die Festsetzung der Bezüge der Abgeordneten wären nicht behandelt worden und sollten dem neuen Landtag vorbehalten bleiben.188 In einem Punkt habe sich der Sonderausschuss nicht bemüßigt gefühlt, eine Angleichung an die Nationalratswahlordnung vorzunehmen, nämlich bei der Herabsetzung der Mandate,189 was durchaus dem bereits bekannten Bild des „Bund–Länder-Konf likts“ entspricht.190 Zur Begründung wurde auf den Umstand verwiesen, dass eine bescheidene Reduktion um zehn bis 20 Prozent keine bedeutende Ersparnis für das Landesbudget mit sich bringe, ein radikaler Abbau hingegen die Relation zur Zahl der steirischen Nationalratsabgeordneten (26) sowie der Abgeordneten zum Grazer Gemeinderat (48 Mitglieder) verzerren würde.191 Kleine Abänderungen bei der vorläufigen Landesverfassung wären in erster Linie durch das Finanz-Verfassungsgesetz und das gleich-

zeitig erlassene Abgabenteilungsgesetz – beide vom 3. März 1922192 – notwendig geworden. Bei der Geschäftsordnung gebe es unwesentliche Änderungen hinsichtlich der Ersparung bei Drucklegungen, ansonsten handle es sich lediglich um Wiederholungen aus der Regierungsvorlage über die Landesverfassung.193 Dr. Enge berichtete weiters, der Sonderausschuss habe sich auch mit der Frage der Zusammenlegung der beiden Landesregierungen (Burg und Landhaus) befasst und einen detailreichen Entschließungsantrag ausgearbeitet, der gleichfalls zur Abstimmung gelangen solle. Darin werde die Bundesregierung aufgefordert, so rasch wie möglich die Kompetenzartikel des BundesVerfassungsgesetzes in Kraft zu setzen, was die Länder in die Lage versetzen würde, die bundesstaatliche Verwaltung von der gewählten Landesregierung vollziehen zu lassen. Die Bundesregierung solle auch mit der gewählten Landesregierung unmittelbar und nicht auf dem Umwege der die mittelbare Bundesverwaltung führenden Bundesbehörde verkehren.194 Nach kurzer Diskussion wurden die drei Entwürfe mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit, der Resolutionsantrag sogar einstimmig angenommen, womit die erste Legislaturperiode des Landtages ihr Ende fand.195 Am 21. Oktober 1923 fanden die Wahlen zum Nationalrat und in bereits fünf Ländern – so auch in der Steiermark – gleichzeitig die Wahlen zum Landtag statt.196 Gegenüber den Landtagswahlen im Oktober 1920 konnten in der Steiermark die Christlichsozialen drei Mandate auf Kosten der Großdeutschen hinzugewinnen. Bei den übrigen Parteien blieb der Mandatsstand gleich. Die erste Sitzung der zweiten Landtagsperiode wurde von Präsident Pfarrer Franz Kölbl mit einem kurzen Rückblick auf die abgelaufene dreijährige Periode eröffnet. Er erinnerte an die Verabschiedung der provisorischen Landesverfassung im November 1920, die lediglich durch das Bundes-Verfassungsgesetz über die

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Abgeordnete zum Steiermärkischen Landtag, 1924

finanzielle Auseinandersetzung zwischen Bund und Ländern von 1922 einen Teil des Provisoriums verloren hätte. Ansonsten habe sich der Landtag nur in einem sehr eingeschränkten Wirkungskreis bewegen können, wodurch die eher bescheidene Verwirklichung der angestrebten Ziele erklärt werden müsse. Hervorzuheben wären Gesetze auf dem Gebiet der Land- und Forstwirtschaft (Landeskultur) und die Beteiligung des Landtages am Lehrergehaltsgesetz,197 das Engagement in der Anschlussfrage sowie die gedeihliche Zusammenarbeit in der paritätisch zusammengesetzten Abbaukommission, womit zumindest unwiederbringliche Verluste vermieden blieben [...] und die Voraussetzungen einer künftigen Entwicklung ungeschmälert erhalten wurden198. Im Anschluss an diesen Bericht erfolgte die Konstituierung des neu gewählten Landtages, wie auch die erforderlichen Wahlen – neben den vier Landtagspräsidenten und den Mitgliedern des Hauptausschusses die des Landeshauptmannes und seiner Stellvertreter – durchgeführt wurden. Es kam zur Wiederwahl der bisherigen Amtsträger Rintelen, Ahrer und Pongratz.199

211

Aus: Pickl, 800 Jahre Steiermark

Nach einer kurzen Erklärung Rintelens – vornehmlich zu seiner Amtsführung – ergriff der sozialdemokratische Landesrat Machold das Wort, der sehr langatmig die äußerst kritische Haltung seiner Partei zu Landeshauptmann Rintelen und zur Mehrheit der Landesregierung offenbarte. Diese bezeichnete er als Abklatsch der Seipel’schen Koalition auf Landesebene, welche es mit allen Mitteln zu bekämpfen gelte, sofern der Versuch unternommen werden sollte, diese Koalition zur Förderung der Reaktion und zur Bekämpfung der Arbeiterklasse zu missbrauchen.200 Ahrer replizierte, der überwiegende Teil der Wählerschaft wäre mit der von den Christlichsozialen vertretenen Richtung einverstanden, und daher werde diese zum Wohle des gesamten Landes und unter Ablehnung einer Klassenpolitik zu verfolgen sein. Was das künftige Programm der Landesregierung betreffe, können angesichts des weiter bestehenden Provisoriums hinsichtlich der Verwaltung keine weitreichenden Perspektiven eröffnet werden. Habe der Landtag in seiner ersten Periode zahlreiche ­Gesetze auf dem Gebiet der „Landeskultur“

212

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

verwirklicht, so werde der neue Landtag mit Reformen der veralteten Gemeindeordnungen, des Fürsorgewesens und des Armenrechts, der Bauordnung und anderem mehr konfrontiert werden. Grundsätzlich müsse jedoch die Gesetzgebung vermeiden, mit der Bundesverfassung in Widerspruch zu geraten, jedoch sei zu verlangen, dass uns zugestanden wird, dass wir auf

dem Gebiete der Lebensnotwendigkeit unserer Bevölkerung Rechnung zu tragen haben, wobei keinerlei separatistische Tendenzen verfolgt würden.201 Leider bewies der Verlauf der Sanierungsbestrebungen das Gegenteil, was schlussendlich zum Rücktritt der Regierung Seipel führte, dem es sohin nicht beschieden war, sein Sanierungswerk selbst zum Abschluss zu bringen.202

III. Reformen und Konf likte – 1925 bis 1929 Die definitive Landesverfassung Nach der Verabschiedung der Verfassungs-Novelle und der Verwaltungsverfahrensgesetze bemühten sich Bund und Länder umgehend um deren Durchführung, da es ja vordergründig um Einsparungen mit der Zielsetzung ging, das von Genf geforderte Budgetgleichgewicht herzustellen. Bereits im August 1925 nahm die Steiermärkische Landesregierung eine neue Referatseinteilung – unter Einschluss der Bezirkshauptmannschaften als nunmehr neuen Landesbehörden – vor.203 Anfang September erging seitens des Bundeskanzleramtes eine Aufforderung an alle Landeshauptmänner, der Abteilung 2 des Bundeskanzleramtes mitzuteilen, wie weit die entsprechenden Vorarbeiten gediehen wären, da die Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle mit 1. Oktober in Kraft treten werde.204 Auch die Ministerien sollten in einheitlicher Vorgangsweise alle erforderlichen Vorbereitungen zur Einführung der Kompetenzbestimmungen zwischen Bund und Ländern treffen. In dem an alle Ressorts gerichteten Schreiben findet sich eine detaillierte Aufstellung jener Bestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes, die durch das Inkraftsetzen der Kompetenzartikel eine Änderung erführen.205 Somit wurden auch in der Steiermark mit 1. Oktober 1925 die Amtsapparate der autono-

men Landesverwaltung (LandesregierungLandhaus) und der mittelbaren Bundesverwaltung (Landesregierung-Burg) im „Amt der Steiermärkischen Landesregierung“ vereinigt.206 Was die beiden Beamtenkörper betraf, so war noch im Nationalrat ein Kompromiss erzielt worden, wonach die bisherigen Bundesbeamten ihre dienst- und besoldungsrechtliche Stellung zum Bund beibehalten konnten, die dienstliche Verwendung hingegen vom Landeshauptmann bzw. der Landesregierung festzulegen wäre.207 Die Steiermärkische Landesregierung beschloss gleichzeitig eine neue Geschäftsordnung für sich und auch für das Amt der Landesregierung. Auf eine endgültige Einteilung der Referate konnte man sich zunächst noch nicht einigen. Als nächste Aufgabe wurde der Abbau von Juristen bei der ehemaligen „Landesregierung-Burg“ in Angriff genommen, wobei man von dreizehn bis fünfzehn Betroffenen ausging.208 Da ein erhöhter Abbau von „Bundesangestellten“ auch in anderen Ländern zu verzeichnen war, wandte sich Bundeskanzler Ramek mit der nachdrücklichen Aufforderung an die Landeshauptleute, den Grundsatz der Gleichmäßigkeit und Gerechtigkeit zu beachten. Von Vertretern der Bundesangestellten wären Vorwürfe erhoben worden, der Abbau bei dieser Beamtengruppe diene lediglich dazu, Raum für Neuaufnahmen im Landesdienst zu schaffen, was

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

dem Geist des Wiederaufbauwerkes direkt zuwiderlaufen würde. Mit der „Einladung“ an die Landeshauptleute, bis Ende November sämtliche im Zusammenhang mit der Verfassungs- und Verwaltungsreform stehenden Personalmaßnahmen dem Bundeskanzleramt bekannt zu geben, schloss das Schreiben von Ramek.209 Der steirischen Landesregierung stand nunmehr die Ausarbeitung einer definitiven Verfassung ins Haus. Ein diesbezüglicher Entwurf konnte bereits am 3. Dezember 1925 in der Regierungssitzung beraten und danach angenommen werden.210 Die Beschlussfassung des Landes-Verfassungsgesetzes im Landtag erfolgte am 4. Februar 1926.211 Die Zahl der Mitglieder wurde auf 56 reduziert, die Legislaturperiode weiterhin mit einer Dauer von vier Jahren beibehalten. Die Landesregierung umfasste nunmehr den Landeshauptmann, zwei Stellvertreter und sechs Landesräte, aufgeteilt auf die Landtagsparteien im Verhältnis ihrer Mandatszahlen. Inkompatibilitätsbestimmungen und die Einrichtung eines eigenen Kontrollamtes für das Rechnungs- und Gebarungswesen rundeten die Verfassung ab.212 Bei den Beratungen des Entwurfes im Landtag räsonierte der Berichterstatter Dr. Enge, dass durch das unter demokratischer Leitung stehende Amt der Landesregierung der alte Gegensatz zwischen Zentralismus und Föderalismus an Bedeutung verloren habe. Hingegen werde sich die Bevölkerung in Kürze von einer zunehmenden Objektivierung der Verwaltung überzeugen können. Auch hätten sich seinerzeit gehegte Befürchtungen im Zusammenhang mit der Beseitigung der Doppelverwaltung als unzutreffend herausgestellt, wofür in erster Linie sowohl der altbewährten Beamtenschaft des Landes, als auch der in den Dienst der Landesregierung übernommenen Bundesbeamten, die sich mit vollem Diensteifer den neuen Verhältnissen angepasst hätten, zu danken wäre. Zur Vereinfachung und Verbesserung des Amtsbe-

213

triebes trügen auch die mit 1. Jänner 1926 in Kraft getretenen Verwaltungsgesetze bei. Die Reduzierung der Mitglieder der Landesregierung bzw. des Landtages könne jedoch erst nach Neuwahlen erfolgen.213 Dazu bemerkte der sozialdemokratische Abgeordnete Machold, obgleich sich das Land durch diesen Abbau fast nichts ersparen werde, habe man auf das allgemeine Empfinden der Bevölkerung Rücksicht genommen.214 Auch wäre die Schaffung eines Kontrollamtes angesichts der Erweiterung der Bundesrechnungshof befugnisse auf die Ländergebarungen durch die Bundes-Verfassungsgesetz-Novelle von 1925 nicht unbedingt erforderlich gewesen, es sei aber zweckmäßiger, durch Einrichtung eines eigenen Kontrollinstitutes auf die Kontrolle von auswärts verzichten zu können.215 Die neue Landesverfassung, die – von diversen Novellierungen abgesehen – bis heute in Geltung steht, wurde vom damaligen Landtag einstimmig angenommen.216 Anlässlich des Inkrafttretens der Verwaltungsverfahrensgesetze beschloss der Ministerrat am 5. Februar 1926 einheitliche Richtlinien für alle Ressorts, welche Bundeskanzler Ramek den Landeshauptmännern mit dem Ersuchen zur Kenntnis brachte, die gleichen Verfügungen treffen zu wollen, da in den Ländern sehr ähnliche Anpassungsprobleme bestünden.217 Haupttenor der Richtlinien war, alle neuen Gesetze und Verordnungen den Verfahrensgesetzen anzupassen, aber auch bei allfälliger Novellierung materiellrechtlicher Bestimmungen unbedingt den Bezug zu den verfahrensrechtlichen Vorschriften herzustellen.218 Die Steiermärkische Landesregierung kam diesem Wunsch weitestgehend nach, beschloss jedoch gleichzeitig, auf die Bezirkshauptleute dahingehend einzuwirken, bei erstmaliger Verhängung von Strafen nach dem Verwaltungsstrafgesetz auf die wirtschaftlichen Verhältnisse der Betroffenen Rücksicht zu nehmen.219

214

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Die Zentralbank-Affäre Ein Ereignis von nachhaltiger Bedeutung für den Bund und das Land Steiermark stellte die sogenannte „Zentralbank-Affäre“ dar, die im Juni 1926 publik wurde. Um den sich abzeichnenden Zusammenbruch der „Centralbank deutscher Sparkassen“ abzuwenden, stellte die Regierung sofort Budgetmittel zu deren Stützung zur Verfügung, während eine entsprechende Regierungsvorlage erst Tage danach den Nationalrat erreichte. Seitens der sozialdemokratischen Opposition wurde nun die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses beantragt und die Forderung, gegen Bundeskanzler Ramek und die übrigen Mitglieder der Bundesregierung eine staatsrechtliche Anklage wegen Gesetzesverletzung zu erheben, gestellt.220 Im Kabinett Ramek bekleidete Rintelen im Hinblick auf eine bevorstehende Schulreform das Unterrichtsressort.221 Während es zur Einsetzung des Untersuchungsausschusses kam, dessen Schlussbericht erschütternde Manipulationen zutage brachte, erhielt der Antrag auf Ministeranklage im Nationalrat nicht die erforderliche Mehrheit.222 Das auslösende Moment für die Misere der Zentralbank war die aufgezwungene Fusion mit drei bankrotten Geldinstituten, nämlich der Industrie- und Handelsbank, der Niederösterreichischen Bauernbank und der Steirerbank gewesen. Die Gründung letzterer ging auf eine Initiative Rintelens und Ahrers zurück, die auch die Funktion eines Präsidenten bzw. Vizepräsidenten des Verwaltungsrates innehatten. Da nun diverse Spekulationen – wobei der Führung dieser Bankhäuser generell mangelnde Qualifikation attestiert werden musste – nicht aufgegangen waren, unternahm Rintelen einen folgenschweren Rettungsversuch. Es gelang ihm, Landeshauptmannstellvertreter Ahrer als Finanzminister im Kabinett Ramek unterzubringen. In dieser Funktion zählte auch das

Bankwesen zu Ahrers Kompetenzen, dessen Bemühungen, alle drei vom Bankrott bedrohten Geldinstitute unter dem Vorwand der ökonomischen Konzentration der Zentralbank einzuverleiben, von Erfolg gekrönt waren. Diese und ähnliche Interventionen beim Postsparkassenamt führten zu seinem Ausscheiden aus dem Kabinett im Jahre 1926. Ahrers spätere Beurlaubung im Steiermärkischen Landtag, welcher die Rücklegung des Mandates folgte,223 und schließlich seine Auswanderung nach Kuba nährten jedenfalls die Korruptionsgerüchte.224 Wenngleich der Nationalrat eine Ministeranklage abgelehnt hatte, blieb Ramek nur mehr bis Herbst 1926 im Kanzleramt. Ihm folgte im Oktober wiederum Seipel, nachdem ein Widerstand von christlichsozialen Landespolitikern nicht mehr zu befürchten stand.225 Der Steiermärkische Landtag wurde im Herbst 1926 von einer noch nie dagewesenen Obstruktionswelle erfasst. Die erste Sitzung nach der Sommerpause am 11. Oktober eröffnete Präsident Kölbl mit der Mitteilung über den Rücktritt von Landeshauptmann Dechant Franz Prisching – wegen Rintelens Abgang war am 25. Juni 1926 auf Antrag Ahrers, der wieder in den Landtag zurückgekehrt war, Prisching zum Landeshauptmann gewählt worden – und dessen Mandatsniederlegung mit 28. September.226 Danach wurde die Beurlaubung Ahrers für acht Wochen genehmigt. Als beim Tagesordnungspunkt „Neuwahl des Landeshauptmannes“ der christlichsoziale Landesrat Pfarrer Leopold Zenz den Vorschlag, Rintelen zu wählen, vortrug, ertönten laute „Pfui-Rufe“ seitens der Sozialdemokraten. Landesrat Machold wies darauf hin, man habe bisher immer die Mehrheit der Christlichsozialen im Landtag respektiert und die Wahl des Landeshauptmannes ohne Aufsehen vollzogen. Die bereits vorliegenden Untersuchungsergebnisse bei der Steirerbank im Zusammenhang mit der Zentralbank-Affäre hätten nun weite Kreise der Bevölke-

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

215

hauptmanns beworben, sonrung empört und verbittert, und dern seine Partei habe es von die Tatsache, dass der Hauptihm verlangt.231 schuldige an all diesen bekannt In der folgenden Sitzung gewordenen Schweinereien jetzt des Landtages am 13. Oktozum Landeshauptmann wieder ber verwies der sozialdemovorgeschlagen wird, steigere die kratische Abgeordnete Jopolitische Atmosphäre im hann Leichin auf StellungHohen Haus wie auch außernahmen der beiden anderen halb desselben zur Siedehitbürgerlichen Parteien ze.227 (Deutschnationale und LandIm weiteren Verlauf von bund) in der Presse, wonach Macholds Rede wurde zudiese gleichfalls mit Rintelen nächst der unrühmliche Abnicht mehr einverstanden gang von Landeshauptmann wären.232 An der ObstruktiPrisching beleuchtet, der Landeshauptmann Univ.-Prof. Dr. Alfred Gürtler onsatmosphäre ändert sich ohne Zustimmung der LanUMJ/MMS jedoch sehr wenig, sie wurde desregierung auf Kosten des sogar durch dringliche Aneine „Dollardarlehens“228 horrende Menge von Steweag-Aktien zu fragen verschärft. Die folgenden Sitzungen am einem weit überhöhten Preis erworben habe. 15., 16. und 18. Oktober mussten unmittelbar Der Schaden für das Land und seine Steuerzah- nach deren Eröffnung wieder geschlossen werler wäre beträchtlich, der Initiator im Hinter- den. Erst am 22. Oktober wurde seitens des grund jedoch Rintelen unter Mithilfe seines christlichsozialen Landtagsklubs mitgeteilt, „Kronprinzen“ Ahrer gewesen.229 Machold lis- Rintelen habe seine Kandidatur zurückgezotete penibel die fahrlässigen Geschäftspraktiken gen. Es werde nunmehr der Grazer Univ.-Prof. der Steirerbank und deren Verf lechtungen mit für Statistik und Finanzrecht Dr. Alfred Gürtler christlichsozialen Landespolitikern, aber auch – der seinerzeit Staatskanzler Renner nach hohen Beamten auf und schloss seine Rede mit Saint-Germain begleitet hatte – vorgeschlader Beteuerung, die Sozialdemokratie würde gen.233 Nachdem Machold erklärt hatte, es gebe eine Wahl Rintelens zum Landeshauptmann nun keine weitere Veranlassung mehr zur Obstruktion, man werde aber dennoch leere Stimmkeinesfalls zulassen.230 Rintelen, der zu einer Replik ansetzte, wur- zettel abgeben, konnte Gürtler mit den Stimmen de durch lautstarke Zwischenrufe am Reden der übrigen Parteien zum Landeshauptmann gehindert, und da die Ordnungsrufe des Präsi- gewählt werden. Dieser nahm die Wahl zwar denten nichts fruchteten, unterbrach dieser die an,234 enthielt sich jedoch einer sonst üblichen Sitzung. Danach versuchte Rintelen sehr selbst- Regierungserklärung. Die Steirerbank, deren Zusammenbruch bewusst, diverse Vorwürfe Macholds zu entkräften, wobei ihn fortwährend schärfste Vor- mit den damit verbundenen Untersuchungserwürfe wie „schändlich“, „charakterlos“ u. ä. gebnissen wesentlich zur Obstruktionsphase im seitens der sozialdemokratischen Opposition Landtag geführt und zur Verhinderung der störten. Rintelen beendete seine Stellungnahme Wiederwahl Rintelens beigetragen hatte, ging mit dem Hinweis, er habe sich nicht – wie Anfang 1927 durch Fusion mit anderen GeldMachold glaube – um die Stelle des Landes- instituten in der „Bank für Steiermark“ auf.235

216

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Auch die Dollaranleihe sollte sich bald als ruinöses Geschäft erweisen, da aufgrund der angespannten Budgetsituation die Bedienung des Zinsendienstes immer schwieriger wurde.236 Ende des Jahres 1926 forderte Bundeskanzler Seipel sämtliche Landeshauptleute auf, mittels eines äußerst umfangreichen und detaillierten Fragebogens zu erheben, welche Erfolge die neuen Verwaltungsverfahrensgesetze im ersten Jahr gebracht hätten. Die bisherigen vereinzelten Berichte wären zwar durchaus positiv gewesen, dennoch bedürfe es im Hinblick auf die Budgeterstellung umfassender Daten. Die Landesregierung sah sich nun genötigt, diese Erhebungen bei allen zuständigen Unterbehörden – wobei die Hauptlast beim Landesgendarmeriekommando lag 237 – durchzuführen, obgleich diese grundsätzlich zufriedenstellenden Ergebnisse auf das Landesbudget wenig Einf luss hatten. Vielsagende Untersuchungsausschussberichte und ein schwieriger Neubeginn Bevor Ignaz Seipel im Oktober 1926 das Bundeskanzleramt wieder übernahm, hatten die Sozialdemokraten Neuwahlen für den Fall gefordert, dass die sozialpolitischen Gesetzesvorlagen eine Verzögerung erfahren würden. Seipel versprach in seiner Regierungserklärung ein ausgeglichenes Budget, die bevorzugte Behandlung der Sozialgesetze, distanzierte sich von den Skandalen in der letzten Zeit und schloss eine Verkürzung der Legislaturperiode nicht aus.238 Das entsprechende Auf lösungsgesetz wurde im März 1927 vom Nationalrat beschlossen und der Termin für Neuwahlen mit 24. April festgelegt.239 Für den Steiermärkischen Landtag bedeutete dies gleichfalls das Ende der zweiten Gesetzgebungsperiode. In seiner letzten Sitzung am 23. März 1927 wurde im Rahmen der Aufarbeitung einer umfangreichen Tagesordnung

auch ein Gesetz zur Abänderung der Landtagswahlordnung von 1923 beschlossen. Es handelte sich dabei um bescheidene Adaptierungen im Bereich der Wahlkarten und der Beisitzer bei der Landeswahlbehörde.240 Die Minderheitenanträge von Großdeutschen und Landbund auf Auf hebung der gebundenen, starren Listen fanden keine Mehrheit.241 Das eigentliche Hauptthema dieser denkwürdigen Schlusssitzung bildete nicht – wie zu erwarten gewesen wäre – ein Rechenschaftsbericht über die abgelaufene Legislaturperiode, sondern kurioserweise der Bericht zweier parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, und zwar über die Steweag-Aktienkäufe des Landes242 und über die Unterschlagungen im Landesabgabenamte 243. Als komprimiertes Ergebnis des erstgenannten Untersuchungsausschusses stellte sich heraus, dass der frühere Landesfinanzreferent und Landeshauptmann Prisching völlig zu Recht zurückgetreten war, da er seine Kompetenzen weit überschritten und dadurch dem Land geschadet hatte. Überdies konnte ihm nachgewiesen werden, auch mit Privatmitteln an diversen Transaktionen beteiligt gewesen zu sein, wodurch ihm materielle Vorteile erwachsen wären.244 Dieser Bericht wurde mit der erforderlichen Majorität zum Beschluss erhoben, ein sozialdemokratischer Minoritätsbericht fand jedoch keine Annahme, da er zu sehr auf Vermutungen beruhte 245. Erschütternd waren auch die Ergebnisse des Ausschusses zum Landesabgabenamt, wo wiederum Prisching stark involviert war, da von einzelnen Beamten Missstände aufgezeigt und Änderungsvorschläge unterbreitet worden wären, jedoch der Finanzreferent Dechant Prisching es nicht für notwendig befunden hat, dies in der Landesregierung vorzubringen 246. Insgesamt hatte – wie den vom Ausschuss vorgeschlagenen Reformmaßnahmen entnommen werden kann – die Führung des Amtes nicht nur in jeder Hinsicht

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

versagt, sondern wurde mangels entsprechender Dienstvorschriften und Kontrolleinrichtungen sogar dazu verleitet, absolut unzulänglich zu agieren.247 Bei der parlamentarischen Behandlung dieses Berichtes kam es zu Geschäftsordnungsdivergenzen, weshalb der Bericht an den Ausschuss zurückverwiesen wurde.248 Den Abschluss der Sitzung bildete der Antrag auf vorzeitige Auf lösung des Landtages, der mit lebhaftem Beifall einstimmig angenommen wurde.249 Bei den Wahlen im April 1927 traten – sowohl bei den Nationalratswahlen als auch bei den Landtagswahlen – Christlichsoziale und Großdeutsche mit einer Einheitsliste an, die jedoch erhebliche Verluste zu verzeichnen hatte.250 In der Steiermark kandidierte eine neue politische Gruppierung unter der Führung des Moraltheologen Univ.-Prof. DDDDr. Johannes Ude, der sich als Antikorruptionsverband anbot und sich für eine ständische Ordnung einsetzte. Der Ude-Verband erlangte zwei Mandate, er selbst musste sich infolge eines Redeverbots seines Bischofs aus der Bewegung zurückziehen.251 Auf die Einheitsliste entfielen 24, die Sozialdemokraten 21 und den Landbund neun Mandate.252 Auf Bundesebene gelang es Seipel, trotz seiner persönlichen Niederlage, den durch die Wahlen erheblich verstärkten Landbund – und somit alle bürgerlichen Parteien – in die Regierungskoalition einzubinden.253 Auf Landesebene hingegen war die politische Zusammenarbeit in der Regierung ohnehin verfassungsmäßig verankert. In der konstituierenden Sitzung des Landtages am 21. Mai 1927 wurde zunächst der Landeshauptmann gewählt.254 Die Wahl fiel auf den Ordinarius für Wasserbau an der Technischen Hochschule Dipl.-Ing. Hans Paul, der diese mit der Erklärung annahm, nunmehr für das ganze Volk von Steiermark da zu sein und nach bestem Gewissen für dessen Belange in sittlicher, volkswirtschaftlicher und völkischer Hinsicht

217

Sorge zu tragen.255 Auf die durch die Weltwirtschaftslage bedingte allgemeine Not – insbesondere auf die hohe Zahl der arbeitslosen Volksgenossen – eingehend, schlug er zu deren Beseitigung – wohl fachbedingt – vor, den Straßenbau und die Sanierung der Flussläufe zu forcieren. Weiters wären das Schulwesen sowie Fürsorgeeinrichtungen auszubauen, wobei jedoch die budgetäre Lage des Landes wenig Spielraum böte.256 Der 15. Juli 1927 und seine Auswirkungen Als bedeutender Wendepunkt für die politische Geschichte der Ersten Republik sollte sich der 15. Juli 1927 erweisen. An diesem Tag fand in Wien eine Massendemonstration – vornehmlich der Arbeiterschaft – gegen den Freispruch jener drei Angeklagten statt, die am 30. Jänner 1927 in Schattendorf anlässlich eines Zusammenstoßes zwischen Frontkämpfervereinigung und Schutzbundformationen Schüsse auf letztere abgegeben hatten, wobei zwei Todesopfer zu beklagen waren. Im weiteren Verlauf dieses spontanen Demonstrationszuges wurde der Justizpalast in Brand gesteckt, worauf die Polizei Schusswaffen zum Einsatz brachte, was zu zahlreichen Toten und Verletzten führte. Von den Sozialdemokraten wurden darauf hin ein eintägiger Generalstreik sowie ein unbefristeter Verkehrsstreik ausgerufen.257 Diese Maßnahmen – wenn auch nur von kurzer Dauer – zeitigten auch in der Steiermark fatale Auswirkungen. So kam es in Graz zu Straßensperren seitens des Republikanischen Schutzbundes und zur teilweisen Lahmlegung von Polizei und Gendarmerie. In Bruck an der Mur erfolgte am 16. Juli sogar die Ausrufung des Ausnahmezustandes durch einen Arbeiterexekutivausschuss unter Leitung des Landtagsabgeordneten Koloman Wallisch, wonach der Schutzbund die öffentliche Ruhe und Ordnung aufrechterhalten sollte. Dies rief jedoch den Judenburger Heimatschutz-

218

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Kinoplakat mit Bewerbung eines Dokumentarfilms über die Unruhen und den Justizpalastbrand in Wien im Juli 1927. KeplerKino, Graz StLA

führer Dr. Walter Pfrimer auf den Plan, der bereits 1922 mit Hilfe seines Selbstschutzverbandes einen politischen Streik der Stahlarbeiter beendet hatte, was ihm einen großen Zulauf von weiteren Orts- und Bauernwehren sicherte. Pfrimer mobilisierte nun eigenmächtig im oberen Murtal den Heimatschutz als Gendarmerieassistenz, und es gelang ihm zunächst dort, dann aber im ganzen Land, die Streikaktionen zu beenden. Sein Einsatz bewirkte auch die Freigabe aller Straßen und Telefonverbindungen und letztlich die Demobilisierung der Schutzbundeinheiten.258 Es nimmt nicht Wunder, dass diese Vorkommnisse auch den Steiermärkischen Landtag in hohem Maße beschäftigten. Am 25. Juli 1927 stand eine dringliche Anfrage der Einheitsliste und des Landbundes betreffend Maßnahmen zum Schutze der Verfassung und der durch sie verbürgten Rechte der Bevölkerung auf der Tagesordnung. Landeshauptmannstellvertreter Alois Riegler trug diese vor und verwies vor allem auf Zwischenfälle in den obersteirischen Industriegebieten. Besonders dramatisch habe sich die Si-

tuation in Bruck an der Mur dargeboten, wo eine Art Diktatur des Proletariats259 ausgerufen und sämtliche Behörden, insbesondere die Gendarmerie, an der Ausübung ihrer Tätigkeit gehindert worden wären.260 Abschließend kam es zur Frage an den Landeshauptmann, ob er bereit wäre, alle Schritte zu beschleunigen, die dazu führen, den Abgeordneten Wallisch zur gesetzlichen Verantwortung zu ziehen. Landeshauptmann Paul bejahte dies, da die Ereignisse vom 15. bis 18. Juli 1927 geeignet waren, die ohnehin äußerst schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse durch unermesslichen materiellen und moralischen Schaden höchst ungünstig zu beeinflussen.261 Der Verlauf der überaus heftig geführten Debatte ließ eindeutig die klare Trennung in zwei einander feindlich gegenüberstehende Klassenlager erkennen, was in der Folge – nicht nur in der Steiermark – zu einem bedeutenden Aufschwung der Heimwehrbewegung und des bürgerlichen Lagers im allgemeinen führte. Diese Thematik beschäftigte den Landtag auch noch in den nächsten Sitzungen bis Ende November. Am 3. November wurde der Antrag

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

des Kreisgerichtes Leoben auf Strafverfolgung von Wallisch dem Gemeinde- und Verfassungsausschuss zugewiesen,262 über dessen Bericht in den Sitzungen vom 17. und 18 November 1927 beraten wurde.263 Wenngleich seitens der Sozialdemokraten eingewendet worden war, die Maßnahmen von Bruck an der Mur hätten lediglich dazu dienen sollen, Wiener Verhältnissen mit Todesopfern und Verletzten vorzubeugen, was letztlich auch gelungen sei, und umgekehrt die gleichfalls absolut ungesetzlichen Aktionen der Heimwehr genauso Berücksichtigung finden müssten, kam es zur mehrheitlichen Annahme des Auslieferungsantrages.264 In derselben Sitzung wurde auch der Antrag der bürgerlichen Parteien auf Schaffung eines „Bundesgesetzes zum Schutz der Republik“, dessen Ausarbeitung und Übersendung an die Bundesregierung mehrheitlich angenommen.265 Diese nunmehr wesentlich schärfere Gangart gegenüber den Sozialdemokraten sollte auch zur Wiederwahl von Rintelen zum Landeshauptmann führen. Nachdem am 16. April 1928 Landeshauptmann Paul seinen Rücktritt erklärt hatte, stand am 28. April die Neuwahl des Landeshauptmanns auf der Tagesordnung.266 Machold stellte zunächst den Antrag, wegen der bevorstehenden Gemeinderatswahlen in der Steiermark die Wahl zu vertagen. Nach Ablehnung dieses Antrages erfolgte der Vorschlag seitens der Einheitsliste, wiederum Rintelen zu wählen. Machold betrachtete diesen Vorschlag für absolut unannehmbar und erinnerte an jene Gründe, die bereits im Jahr zuvor Rintelens Wiederwahl verhindert hätten, und schlug seinerseits Pongratz vor. Sollte dennoch – was zu befürchten stehe – Rintelen gewählt werden, so würde den Christlichsozialen bei den nächsten Wahlen die Rechnung präsentiert. Der Abgeordnete des Landbundes Ing. Franz Winkler verwies auf den äußerst befremdlichen Rücktritt von Landeshauptmann Paul, welcher

219

immer die Unterstützung des Landbundes genossen habe. Die Einheitsliste wolle offensichtlich einen schwachen durch einen starken Landeshauptmann ersetzt wissen. Landeshauptmann Paul wäre unter merkwürdigen Umständen ohne Kündigung [...] von seiner Partei quasi davongejagt worden. Den Vorschlag der Sozialdemokratie, der Landbund solle entweder den sozialdemokratischen Kandidaten unterstützen oder einen eigenen Kandidaten aufstellen, der dann die Stimmen der Sozialdemokratie bekäme, lehnte Winkler mit dem Hinweis auf das derzeitige Kräfteverhältnis ab, da der Landbund nur ein Regierungsmitglied habe. Dieses müsse sich um die Agrarangelegenheiten kümmern und wäre nicht in der Lage, auch noch die Führung des Landes zu übernehmen. Man erwarte zwar die Wahl von Dr. Rintelen, um hiefür nicht die Verantwortung mitzutragen, werde man aber wegen des zu großen Misstrauens einen eigenen Kandidaten aufstellen. Dr. Alois Sernetz vom Ude-Verband erklärte, man werde es den Regierungsparteien überlassen, die Wahl unter sich auszufechten, die mit Sicherheit die Fortsetzung oder das Bekenntnis zu Parteienhader bedeuten werde. Da nun unter drei Kandidaten – Rintelen, Pongratz und pro forma Winkler – zu wählen war, brachte die erste Abstimmung kein Ergebnis, erst im zweiten Wahlgang erzielte Rintelen die Mehrheit, wobei der Landbund und der Ude-Verband leere Stimmzettel abgaben.267 Die Bundesverfassungsreform von 1929 Auch die B-VG-Reform von 1929 stand unter dem Einf luss der Nachwirkungen des 15. Juli 1927, da sich ab diesem Zeitpunkt verstärkt autoritäre Tendenzen offenbarten. Den letzten Anstoß für diese – von den bürgerlichen Parteien schon seit 1922 geforderte – Reform boten die Ereignisse von St. Lorenzen im Mürztal vom 18. August 1929.268 Dort war es anlässlich einer

220

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Jubiläumsveranstaltung des Schutzbundes unter Leitung von Koloman Wallisch zu einem Zusammenstoß zwischen Heimwehr und Schutzbund mit drei Toten und zahlreichen Verletzten gekommen, für die der christlichsoziale Bundeskanzler Ernst Streeruwitz, der Seipel im Mai 1929 im Amte gefolgt war,269 verantwortlich gemacht wurde. Eine vom Innenministerium eingesetzte Untersuchungskommission konstatierte einwandfrei das Versagen des steirischen Landeshauptmannes und der ihm unterstehenden Behörden. Sein zögerndes Verhalten beim Einsatz der Exekutive – obwohl von mehreren Seiten eindringlich gewarnt – dürfte auf Vorkommnisse im Mai 1921 zurückgehen, wo Rintelen bei einer christlichsozialen Parteiveranstaltung in St. Lorenzen von kommunistischen Unruhestiftern aus dem Fenster des Veranstaltungslokals geworfen worden war.270 Auf Regierungsebene wollte man Streeruwitz jedoch nicht aus der Verantwortung entlassen, denn nun ergriff der kleinste Koalitionspartner die Initiative. Vizekanzler Ing. Vinzenz Schumy vom Landbund forderte nach der Tagung des erweiterten Vollzugsausschusses seiner

Partei in Deutschfeistritz vom Bundeskanzler die Anberaumung einer Volksbefragung über das Thema einer durchgreifenden Verfassungsreform mit dem Ziel der Stärkung der staatlichen Autorität. Diese sollte vornehmlich durch eine grundlegende Kompetenzerweiterung des Bundespräsidenten erreicht werden, der dann aber vom Gesamtvolk gewählt werden müsse. Der bestehende Parlamentarismus sollte durch ein berufsständisches Element abgeschwächt werden, was als ersten Schritt die Umwandlung des Bundesrates in eine Ständekammer erfordern würde.271 Streeruwitz stellte lediglich eine Regierungsvorlage für eine Verfassungsreform in Aussicht, die dann jedoch weder den Vorstellungen des Landbundes noch der Heimwehr entsprach. Daher musste das Kabinett demissionieren und es folgte wiederum Schober als Bundeskanzler, dem es – trotz Staatsstreichdrohungen der Heimwehr auf dem Boden der Rechtsstaatlichkeit bleibend – gelang, die Zweite B-VG-Novelle am 7. Dezember 1929 auf parlamentarischem Wege einer Erledigung zuzuführen.272

IV. Ideologie vor Demokratie – 1930 bis 1933 Autoritäre Präludien Bundeskanzler Schober, der sich nicht nur wegen seiner standhaften Haltung in der Verfassungsfrage die Feindschaft der Heimwehr – obwohl nie ihr erklärter Gegner – zugezogen hatte, trug nicht unerheblich zur Schwächung dieser Bewegung bei, die auch ihren ursprünglichen Elan eingebüßt hatte.273 Er scheiterte jedoch an seiner Weigerung, den Grazer Vizebürgermeister und Direktor der dortigen Tramway-Gesellschaft, Dr. Franz Strafella, zum Generaldirektor der Bundesbahnen zu ernennen.274

Für Strafella votierte vehement der langjährige Heeresminister und Nachfolger Seipels als Obmann der christlichsozialen Partei, Carl Vaugoin, der seinerzeit die sogenannte „Entpolitisierung des Bundesheeres“ durchgeführt hatte. Strafella, ein Protegé Rintelens, empfahl sich durch seinen betont antimarxistischen Kurs bei den Grazer Straßenbahnen, weshalb sich Vaugoin eine ebensolche Haltung bei den Bundesbahnen erwartete, da dort die Sozialdemokraten unverändert die Personalpolitik dominierten. Gegen Strafella liefen aber gerichtliche Untersuchungen wegen dubioser Beteiligungen

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

bei den steirischen Landesbahnen, was Schober bewog, seine Ernennung abzulehnen, worauf Vaugoin und weitere Kabinettsmitglieder ihr Amt niederlegten und somit den Bundeskanzler zwangen, im September 1930 zu demissionieren.275 Nun konnte Bundespräsident Wilhelm ­M iklas, der am 10. Dezember 1928 auf Dr. Michael Hainisch gefolgt war, sein neues – durch die B-VG-Novelle 1929 eingeführtes – Machtinstrumentarium einsetzen. Er betraute am 26. September 1930 Carl Vaugoin mit der Regierungsbildung, dem es jedoch nur gelang, ein Minderheitskabinett zu bilden, in welchem erstmalig zwei Heimwehrvertreter aufschienen.276 Über Vorschlag dieser Regierung löste nun der Bundespräsident den Nationalrat auf, die Bundesregierung musste nun umgehend Neuwahlen anordnen (Art. 29 Abs. 1 B-VG), deren Termin vom ständigen Unterausschuss des Nationalrates mit 9. November 1930 festgelegt worden war.277 Im Steiermärkischen Landtag, der bisher seine Wahltermine auf jene der Nationalratswahlen abgestimmt hatte, waren Gedanken über eine vorzeitige Auf lösung bereits im Gefolge der Novellierungen der Landesverfassung und der Landtagswahlordnung entstanden. Mitte Mai 1930 wurden in der Landesregierung die Entwürfe für die aufgrund der Zweiten B-VGNovelle notwendig gewordenen Änderungen der Landesverfassung bzw. der Landtagswahlordnung vorgelegt und angenommen.278 Beide Regierungsvorlagen fanden am 5. Juni ihre parlamentarische Behandlung. Die Abänderung des Landes-Verfassungsgesetzes betraf Bestimmungen für den Landtag, wie die Herabsetzung der Zahl der Abgeordneten von 56 auf 48 Mitglieder, die Erhöhung des aktiven und passiven Wahlalters (20. auf 21. bzw. 24. auf 29. Lebensjahr), weiters die Möglichkeit der Auf lösung des Landtages auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Länder- und Ständerates – wie

Sozialdemokratisches Wahlplakat 1930

221

StLA

der Bundesrat nunmehr bezeichnet wurde – durch den Bundespräsidenten, die Einführung von zwei ordentlichen Sitzungsperioden (Frühjahrs- und Herbsttagung) und die Neuregelung der Immunitätsbestimmungen. Das Gesetz erhielt im Landtag ohne Diskussion die erforderliche Zweidrittelmehrheit.279 Bei der Abänderungsvorlage betreffend die Landtagswahlordnung waren entsprechende Adaptierungen hinsichtlich der Verringerung der Mandate und des neuen Bürgerlistengesetzes (BGBl. 85/1930) erforderlich. Letzteres bot im Gemeinde- und Verfassungsausschuss Anlass für eine von der Regierungsvorlage abweichende Regelung, die nun zur Diskussion gestellt wurde. Bei nicht gleichzeitiger Abhaltung von Nationalrats- und Landtagswahlen sollten die abgeschlossenen Bürgerlisten grundsätzlich ei-

222

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

nem Richtigstellungsverfahren unterzogen werden. Der Ausschussantrag zielte darauf ab, in diesem Falle ein Einspruchsrecht vorzusehen, was ein neuerliches Richtigstellungsverfahren nach sich gezogen und Mehrarbeit für die Wahlbehörden bedeutet hätte. Dieser Antrag wurde abgelehnt, die Änderungen der Landtagswahlordnung in der Fassung der Regierungsvorlage beschlossen.280 In einer außerordentlichen Sitzung des Landtages am 12. September wurden zwei Anträge eingebracht. Einer von den Großdeutschen, der sich auf eine neuerliche Reform der Landtagswahlordnung – die vornehmlich den kleineren Parteien Vorteile bringen sollte – bezog,281 der andere von den Christlichsozialen, welcher die vorzeitige Auf lösung des derzeitigen Landtages zum Inhalt hatte.282 Der Auf lösungsantrag – obgleich vom Verfassungsausschuss bereits abgelehnt – führte am 16. September zu einer heftigen Diskussion im Landeshauptmannstellvertreter Landtag.283 Riegler verteidigte den Antrag, hinter dem die gesamte christlichsoziale Fraktion stünde. Abgesehen von der Tatsache, dass auch die Sozialdemokraten und der Landbund schon seit einiger Zeit auf Neuwahlen drängten, glaube man auch im Interesse des Landes zu handeln, da die Abgabenverteilung zwischen Bund und Ländern dringend eine Neuregelung erfahren müsse. Vor allem jedoch bedürfe die äußerst ungerechte Verteilung zwischen Wien und den anderen Ländern einer Änderung im Wege der Bundesgesetzgebung. Eine solche könnte durch die Auf lösung eines Landtages möglicherweise beschleunigt werden, wobei Riegler Verständnis für die ablehnende Haltung der Sozialdemokraten habe, da diese stets die Bundesparteiinteressen in den Vordergrund stellten.284 Der Landbundvertreter Franz Thoma replizierte, seine Partei wäre in einer derart krisenhaften Zeit nur dann für eine Auf lösung, wenn der Nationalrat die lebenswichtigen Maßnah-

men zur Eindämmung der Krise – wozu auch die Reform des Wahlrechtes zähle – nicht innerhalb der nächsten Monate erledigen würde. In diesem Falle solle zuerst der Nationalrat und anschließend der Steiermärkische Landtag aufgelöst werden.285 Thoma formulierte diese Forderung im Laufe der Debatte als Resolutionsantrag. Für den Ude-Verband stellte der Abgeordnete Dr. Sernetz den Antrag auf die bedingte Auflösung nach Durchführung der Wahlreform286. Nach langer, sehr emotional geführter Debatte kam es zu den Abstimmungen, wobei alle Anträge in der Minderheit blieben.287 Angesichts der Ausschreibung von Neuwahlen für den Nationalrat bekam die vorzeitige Auf lösung des Steiermärkischen Landtages eine völlig neue Dimension. Am 3. Oktober wurden ein Antrag aller Regierungsparteien auf Auf lösung des Landtages wie auch neuerlich der großdeutsche Antrag auf Reform der Landtagswahlordnung gestellt.288 Die vorzeitige Auf­ lösung des Landtages verbunden mit Neuwahlen am 9. November wurde einstimmig angenommen, hinsichtlich des Wahlreformantrages kam es lediglich zur Annahme eines Resolutionsantrages, wonach Landesregierung und Verfassungsausschuss angehalten wurden, den Antrag 289 binnen acht Tagen vorlagereif zu bearbeiten, womit die dritte Gesetzgebungsperiode des Landtages ihr Ende fand.290 Der 9. November 1930 sollte ein denkwürdiges Wahldatum werden, denn an diesem Tag fanden die letzten Nationalratswahlen und in der Steiermark die letzten Landtagswahlen der Ersten Republik statt. Unter den wahlwerbenden Parteien gab es eine neue Einheitsliste mit der Bezeichnung „Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund“, zu der sich unter Führung von Schober die Großdeutschen und der Landbund vereinigt hatten.291 Erstmalig kandidierte unter der Bezeichnung „Heimatblock“ auch die Heimwehr.292 Der Ausgang der Nationalrats-

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

wahlen bedeutete einen Schock für das bürgerliche Lager, denn die Sozialdemokraten konnten die relative Mehrheit erringen, die anderen Parteien verloren vor allem Mandate an den Heimatblock.293 Dieser war auch bei den steirischen Landtagswahlen erfolgreich, denn dort erlangte der Heimatblock bei seiner Premiere gleich sechs Mandate auf Kosten der übrigen Parteien, womit die Bedeutung dieser Bewegung in der Steiermark unterstrichen wurde.294 Am 4. Dezember 1930 fand die Eröffnungssitzung der vierten Legislaturperiode des Landtages statt. Präsident Kölbl gab einen gerafften Überblick über die Tätigkeit des Landtages in der abgelaufenen Periode. Der Bogen spannte sich von verkehrstechnischen Maßnahmen im Bereich von Schiene und Straße – hier hob er den Ausbau der Packer Bundesstraße295 hervor –, Forcierung von landwirtschaftlichen Schulen, Errichtung einer Kammer für Land- und Forstwirtschaft sowie Fremdenverkehrsförderung, über Erfolge im Bereich der sozialen Fürsorge wie den Ausbau der Stolzalpe und Umbauten in der Landes-Heil- und Pf legeanstalt „am Feldhof “ bis hin zur Schaffung der „Landes-Hypothekenanstalt“ und der Beteiligung an der Ausfuhrförderung nach Russland. Der neu gewählte Landtag – so Kölbl – beginne seine Tätigkeit im Zeichen einer allgemeinen wirtschaftlichen Depression, was enorme Anstrengungen für die künftige Landtagsarbeit bedeute.296 Die personellen Wahlen hinsichtlich des Landtagspräsidiums und der Landesregierung waren mit einigen Problemen behaftet, da Christlichsoziale und Sozialdemokraten zwar gleich viele Mandate hatten, letztere jedoch mit einem Überhang von 8.864 Stimmen. Die Sitzverteilung für die Landesregierung ergab zunächst je drei Sitze für Christlichsoziale und Sozialdemokraten und je einen Sitz für den Nationalen Wirtschaftsblock mit Landbund und den Heimatblock. Somit war noch ein Sitz zu vergeben, den die Sozialdemokraten für sich

223

reklamierten. Sie konnten sich jedoch nicht durchsetzen, da die Landesverfassung eindeutig nur auf die Mandatszahl abstellte. Der sohin notwendig gewordene Losentscheid fiel jedoch zugunsten der Sozialdemokraten aus, die nunmehr mit vier Landesräten vertreten waren.297 Auch der Wiederwahl Rintelens gingen neuerlich heftige Debatten voraus, da – außer den Christlichsozialen und dem Heimatblock – alle anderen Parteien mehr oder weniger Einwände erhoben. Mit dem Hinweis, Rintelen bekäme nur einen beschränkten Vertrauensvorschuss, erhielt er schließlich die Stimmen von Wirtschaftsblock und Landbund.298 Die neue Landesregierung hatte von Anfang an mit schwerwiegenden Finanzierungsproblemen zu kämpfen, die sich im Laufe des Jahres 1931 – bedingt durch den Zusammenbruch der Creditanstalt im Mai 299 – wesentlich verschärfen sollten.300 Daher musste die Regierung – zum wiederholten Male – Einsparungsmöglichkeiten im Verwaltungsbereich in Betracht ziehen, womit auch eine bereits 1929 informell eingerichtete Ersparungskommission befasst wurde, deren Vorschläge zunächst auf sich warten ließen und dann nicht umgesetzt wurden.301 Vom Heimatblock erfolgte Anfang Jänner ein interessanter Vorstoß in Richtung Einsparungen auf höchster Ebene. Am 2. Jänner 1931 wurde vom Abgeordneten August Meyszner ein Antrag auf Abänderung der Landesverfassung gestellt, wonach die Zahl der Regierungsmitglieder von neun auf sechs herabgesetzt werden sollte.302 Es war dies ein durchaus zukunftsweisender Vorschlag, der jedoch durch eine weitere – sehr offenkundige – Bestimmung zum Scheitern verurteilt war, denn dort hieß es: Der Landeshauptmann bestimmt, sofern er an der Ausübung seines Amtes verhindert ist, jeweils seinen Stellvertreter aus der Mitte der Mitglieder der Landesregierung.303 Einen gleichfalls visionären Vorschlag enthielt der Antrag des Abgeordneten Dr. Rudolf

224

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Hübler vom Wirtschaftsblock am 12. Februar 1931, demzufolge größere länderübergreifende Verwaltungseinheiten geschaffen werden sollten.304 Auch diesem Antrag war kein Erfolg beschieden, denn er blieb im Gemeinde- und Verfassungsausschuss liegen. Die finanzielle Krise des Landes Am 26. März fand eine „Krisensitzung“ der Landesregierung statt, an der auch Ministerialrat Dr. Richard Pfaundler als Vertreter des Bundesministeriums für Finanzen teilnahm. Finanzlandesrat Anton Höpf l verwies auf die äußerst gespannte Finanzlage des Landes und zählte die Gründe – wie Steigerung der Landesbeiträge für die Sozialversicherung, Minderertrag der Lohn- und Gehaltsabgaben, fallende Tendenz bei Einnahmen aus der Bierauf lage und anders mehr – penibel auf. Insgesamt würde somit der Voranschlag für das Jahr 1931 um über vier Millionen Schilling überschritten werden.305 Ministerialrat Pfaundler konstatierte – nach dem einleitenden Hinweis auf ähnliche Verhältnisse in anderen Bundesländern –, es sei primär notwendig, dass die ganze Front der Verwaltung zurückverlegt wird. Allein der Personalaufwand mache die Hälfte des steirischen Landeshaushaltes aus, der vor allem durch erhöhten Aufwand für die Lehrer belastet sei. Weiters kritisierte er die Mehrfachverwaltung in der Steiermark und bezeichnete die Bezirksvertretungen als Unglück.306 Lokale Behörden sollten zu größeren Gruppen vereinigt werden. Rintelen replizierte, gewisse Fragen müssten im Einvernehmen mit anderen Ländern verhandelt werden, während der sozialdemokratische Landesrat Ludwig Oberzaucher die Anregungen von Pfaundler begrüßte, die es nun umzusetzen gelte. Nach längerer Diskussion einigte man sich als Erstmaßnahme auf Streichungen im Voranschlag, die im Einzelnen noch zu erörtern wären.307

Das Thema Bezirksvertretung sollte sowohl den Landtag als auch die Landesregierung noch öfters bewegen. So brachten am 23. April 1931 christlichsoziale Abgeordnete einen Antrag betreffend die Auflösung der Bezirksvertretungen und die Übernahme der Agenden derselben durch das Land ein, der jedoch nach mehrmaliger Beratung vom Gemeinde- und Verfassungsausschuss ohne Erledigung an die Landesregierung zurückverwiesen wurde.308 Die Landesregierung behandelte am 22. Mai diese Frage sehr ausführlich. Dabei betonte Landesamtsdirektor Dr. August Gstettenhofer, die Steiermark sei das einzige Land, welches sich den Luxus der Bezirksvertretungen leiste. Nach längerer Diskussion einigte man sich darauf, diverse Vorarbeiten und Erhebungen auf Beamtenebene in Auftrag zu geben und diese Ergebnisse abzuwarten.309 Von der Landesregierung wurden jedoch konkrete Sparmaßnahmen in Form der Zurückstellung von Landesbeiträgen zu diversen Einrichtungen (z. B. Grazer Messe) oder von Bauvorhaben ergriffen.310 Zur Durchführung von Vorschlägen eines Ersparungskomitees betreffend die Vereinfachung der Verwaltung durch Zusammenlegung von Bezirkshauptmannschaften oder eine Umwandlung in Exposituren und dergleichen konnte man sich nicht aufraffen.311 Der Pfrimer-Putsch Die katastrophale Wirtschaftslage in Bund und Ländern, eine bedrohlich hohe Arbeitslosenrate, das Scheitern eines Zollunionplanes mit Deutschland, die Creditanstaltkrise und der – wenn auch zuletzt erfolglose – Versuch Seipels, eine Konzentrationsregierung aus allen Parlamentsparteien zu bilden,312 führten in der Steiermark zu einer gewissen Radikalisierung im ländlichen Bereich, welche die Heimwehr zu einer härteren Gangart ermutigte. Da sich deren

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

225

Hochverrats­ prozess in Graz gegen Dr. Walter Pfrimer und seine Mitstreiter, 18. Dezember 1931. Pfrimer schwenkt nach seinem Freispruch den Hut, hinter ihm Stabsleiter Hanns Rauter Foto: Albert ­H ilscher, ÖNB/Wien

Bundesführer Ernst Rüdiger Starhemberg etwas zurückgezogen hatte, sah nun sein Stellvertreter Pfrimer – trotz erheblicher Bedenken zahlreicher führender Funktionäre – den Zeitpunkt für gekommen, seinen mehrfach angekündigten „Marsch auf Wien“ zur Übernahme der Macht im Staat wahrzumachen.313 Das als „Pfrimer-Putsch“ in die Geschichte eingegangene Unternehmen wurde am 12. September 1931 abends mit einer Proklamation „An das Volk von Österreich“ sowie der Verkündung eines „Provisorischen Verfassungspatentes“ eingeleitet und am 13. September erfolglos beendet.314 Jedenfalls marschierten in der Steiermark 14.000 bewaffnete Heimwehrmänner auf und besetzten strategisch wichtige Punkte, Bezirksstädte und auch die Landeshauptstadt Graz, nahmen zahlreiche „Verhaftungen“ vor und errichteten Straßensperren. Bereits am Vormittag des 13. September mussten die Anführer des Putsches erkennen, dass dieser zum Scheitern verurteilt war. Die Hoffnung, Bundesheer und Exekutive würden sich

anschließen oder zumindest wohlwollende Zurückhaltung üben, sollte sich nicht erfüllen. Rintelen, der an einer Zerschlagung der Heimwehr wenig Interesse hatte, distanzierte sich rechtzeitig und machte seinen Einf luss bei der Bundesregierung geltend, wodurch das Bundesheer betont langsam vorging, um so den Einheiten der Heimwehr den Rückzug zu ermöglichen. Pfrimer f lüchtete noch am selben Tag nach Jugoslawien und später nach Deutschland, kehrte aber im Dezember zurück und stellte sich in Graz der Justiz. Dort wurde er wegen Hochverrates angeklagt und am 18. Dezember 1931 gemeinsam mit den mitangeklagten Führern von einem Geschworenengericht freigesprochen. Landeshauptmann Rintelen unterstützte Pfrimer durch seine demonstrative Zeugenaussage. Anschließend wurden die Freigesprochenen von ihren Kameraden im Triumphzug zur Industriehalle geleitet, wo unter Anwesenheit Starhembergs eine große Freudenfeier stattfand.315

226

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Dennoch bedeutete der fehlgeschlagene Putsch einen enormen Rückschlag für die steirische Heimwehrbewegung, deren Führung provisorisch durch Abgeordnete übernommen wurde, die unter dem Schutz der Immunität standen.316 Zunächst vom steirischen Landesrat Meyszner, der jedoch in den Sitzungen der Landesregierung mit zahlreichen Vorwürfen konfrontiert wurde. Am 16. September stellte Landesrat Machold in der Regierungssitzung den Antrag, die Landesregierung wolle beschließen, den Erlass der Bundesregierung, wonach die Bundesbediensteten, die sich am Heimwehrputsch beteiligt haben, zu suspendieren sind, auch auf die Landesbediensteten auszudehnen. Wenngleich von Meyszner – unter Anspielung auf den 15. Juli 1927 – eingewendet wurde, er wundere sich, dass der Antrag von einer Seite komme, die seinerzeit sehr ähnlich gehandelt habe, deren Leute jedoch sogleich freigelassen worden waren, fand der Antrag Machold eine Stimmenmehrheit. Ein weiterer sozialdemokratischer Antrag, man solle Meyszner so lange sämtliche Referate entziehen, als er sich nicht vom Verdachte der Mitwisserschaft am staatsfeindlichen und hochverräterischen Heimwehrputsch restlos gereinigt habe, wurde vorerst auf eine Woche vertagt.317 In der nächsten Sitzung am 28. September verteidigte sich Meyszner unter Heranziehung von historischen Beispielen über Friedrich Adler, Otto Bauer bis Koloman Wallisch und erklärte dann – nach heftigen Diskussionen unter Austausch persönlicher Schimpfworte – eidesstattlich, von den Ereignissen am 13. September weder vorher gewusst noch daran teilgenommen zu haben. Somit wurde Macholds Antrag bis zur Einholung entsprechenden Aktenmaterials durch den Landesamtsdirektor weiterhin vertagt.318 Nachdem diese Akten beigebracht worden waren,319 befasste sich die Landesregierung wiederum ausführlich mit der Thematik, wobei

durchaus belastendes Material vorlag. Meyszner verlangte die Abtretung der Akten an die Staatsanwaltschaft, die ihrerseits bereits mitgeteilt habe, dass gegen ihn nicht eingeschritten werde. Zum Antrag Machold betreffend die Nieder­ legung seiner Referate stellte Meyszner einen Gegenantrag auf Aberkennung der Sozialreferate Macholds, da dieser als ehemaliger Konsumdirektor nur deswegen zum Direktor der Krankenkasse bestellt worden wäre, weil er als Landesrat den sozialen Bereich betreue. Der Antrag Machold blieb in der Minderheit, jener von Meyszner konnte aus Geschäftsordnungsgründen nicht behandelt werden.320 Auch der Landtag wurde mit den Ereignissen des 13. September in seiner Sitzung am 20. November 1931 befasst. Eine dringliche Anfrage seitens der Sozialdemokraten, ob der Landeshauptmann erstens bereit sei, den verbrecherischen Anschlag gegen die Republik auf das schärfste zu verurteilen, und zweitens gewillt sei, alles Zweckdienliche vorzukehren, um einer Wiederholung eines solchen hochverräterischen Verbrechens mit den schärfsten Mitteln der Exekutive zu begegnen, führte zu einer langen, emotionsgeladenen Wechselrede.321 Anschließend wies Rintelen Vorwürfe gegen die Exekutive zurück, die sich seiner Meinung nach vorbildlich verhalten habe, denn ein Einschreiten von einigen Gendarmeriebeamten gegen eine bewaffnete Übermacht von hunderten Heimwehrleuten hätte nur zu einem Blutbad geführt.322 Ansonsten werde er die Gesetze weiterhin so anwenden, wie er dies auch bei seiner bisherigen Amtsführung geübt habe.323 Ein Antrag des Landbundes, wonach der Landtag die Ereignisse des 13. September auf das vehementeste missbillige und den Landeshauptmann auffordere, unverzüglich an alle Unterbehörden Weisungen ausgeben zu lassen, um die Wiederholung solcher Ereignisse für alle Zukunft hintanzuhalten324, wurde mit der erforderlichen Mehrheit angenommen.325 Sämtliche anhängi-

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

gen Verfahren – sowohl gerichtliche als auch disziplinäre – wurden nach dem Freispruch von Pfrimer pauschal eingestellt.326 Abenddämmerung der Demokratie Im Jänner 1932 endete auf Bundesebene mit dem neu gebildeten Minderheitskabinett Buresch II327 die beinahe zehn Jahre andauernde Koalition zwischen Christlichsozialen und Großdeutschen. Letztere orientierten sich nunmehr in Richtung NSDAP; ähnliches unternahm auch die regionale Heimwehrorganisation, der Steirische Heimatschutz, der sich ab 1933 mit dieser weitestgehend fusionierte.328 Das Jahr 1932 brachte für die Steiermark keine Verbesserung im finanziellen Bereich. Die Mittel der Dollaranleihe329 waren ausgeschöpft, die Einnahmen weiter gesunken und das Budget nicht mehr zu halten. Die Landesregierung stellte alle Ausgaben zurück, die keine Pf lichtleistungen waren. Den Landesbediensteten sowie Eisenbahnern und Lehrern wurde das Gehalt auf 80 Prozent gekürzt. Verwaltungsreformen wurden schleppend bzw. überhaupt nicht durchgeführt.330 Das Land Steiermark stand somit vor der Zahlungsunfähigkeit, selbst der Zinsendienst für die Dollaranleihe konnte nicht mehr getätigt werden.331 Als auch die Budgetverhandlungen für 1933 scheiterten, wurde am 30. Dezember 1932 lediglich ein Budgetprovisorium für zwei Monate vom Landtag verabschiedet,332 womit auch die Landtagstätigkeit bis Ende Februar 1933 ruhte. Der Budgetvoranschlag für 1933 – ein ausgesprochenes Sparbudget – wurde in den Sitzungen am 1. und 2. März 1933 beraten und auch beschlossen.333 Das Ende des demokratischen Verfassungsstaates auf Bundesebene sollte am 4. März 1933 eingeleitet werden. An diesem Tag erfolgte der

227

gleichzeitige Rücktritt der drei Präsidenten des Nationalrates, ein Vorgang, der von Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß, der im Mai 1932 Karl Buresch abgelöst hatte,334 als „Selbstausschaltung“ interpretiert wurde.335 Die Regierung ließ darauf hin – wesentlich beeinf lusst durch den beachtlichen Sieg der Nationalsozialisten bei den deutschen Reichstagswahlen – durch einen Aufruf „An Österreichs Volk“ verkünden, das Parlament sei gelähmt und handlungsunfähig, es gebe aber keine Staatskrise, da Bundesregierung und Staatsoberhaupt im Amt seien. Die Bundesregierung werde im Interesse des Landes ihre Arbeit in der nächsten Zeit ohne Parlament fortsetzen, und zwar auf der Grundlage von Notverordnungen nach dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz.336 In der Sitzung der Steiermärkischen Landesregierung vom 15. März 1933 – an der Rintelen jedoch nicht teilgenommen hatte – bot das Ereignis der Auf lösung des Parlaments Anlass zur Diskussion. Der sozialdemokratische Landesrat Oberzaucher stellte einen Antrag, wonach die Handlungsweise der Bundesregierung scharf verurteilt werden sollte. Landeshauptmannstellvertreter Pichler und Landesrat Höpf l sprachen sich dagegen aus. Erstaunlicherweise kam nun Landesrat Meyszner den Sozialdemokraten zu Hilfe, indem er den Antrag modifizierte. Er lautete nun: Die steiermärkische Landesregierung legt gegen die von der Bundesregierung erlassenen und noch angekündigten Notverordnungen, soweit sie nicht wirtschaftsfördernd sind und der Verfassung widersprechen, schärfste Verwahrung ein. Die Bundesregierung wird aufgefordert, unverzüglich den verfassungsmäßigen Zustand in Österreich wiederherzustellen.337 In dieser Form fand der Antrag einstimmige Annahme.338 Es war jedoch nur mehr eine Frage der Zeit, bis die demokratischen Einrichtungen auch in den Ländern ihr Ende finden sollten.

228

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

Anmerkungen 1 2 3

4

5

6 7

8

9

10

11 12 13

14

Vgl. Spreitzhofer, Georgenberger Handfeste 8f. StGBl. 1/1918. Kelsen, Österreichisches Staatsrecht 79; vgl. dazu wesentlich differenzierter: Köfner, Revolutionen 131ff. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 474; Köfner, Revolutionen 135. Hasiba, Notverordnungsrecht 153ff.; Hasiba, Inter arma 11–32. Hasiba, Inter arma; Köfner, Revolutionen 135. Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 5f.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 13ff. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 474; Berchtold, Verfassungsgeschichte 41; Amtlicher Anzeiger 1932, 47. Weitere Mitglieder des Wohlfahrtsausschusses waren die Bürgermeister von Judenburg, Leoben, Graz und Marburg, Gemeinderäte von allen politischen Parteien, Landesausschussmitglieder und Landtagsabgeordnete, Vertreter des Handels und der Presse. Vgl. Amtlicher Anzeiger 1932, 48; Österreichisches Biographisches Lexikon, Bd. 1, 149. Siehe Hinteregger, Demokratisierung 133; Berchtold, Verfassungsgeschichte 41f. StLA, Statth. Präs. A 5b 2866/1918. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 474. StLA, Statth. Präs. A 5b 2866/3 und 4/1918 – Bereits am 31. 10. erging ein Schreiben des Wirtschaftskommissärs an alle Volksräte (diese wurden bereits im Frühjahr 1918 gebildet – vgl. Hinteregger, Demokratisierung 131) und Bezirksausschüsse, keinerlei Separatismus zu betreiben, da die Institution der Wirtschaftskommissäre nunmehr im Einvernehmen mit dem Vollzugsausschuss in Wien agierten, jedoch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Wahrung der allgemeinen Interessen von ganz Deutschösterreich; siehe StLA, Statth. Präs. A 5b 2866/1/1918. – Auch vom Staatsamt des Innern wurde mit Rundschreiben vom 3. 1. 1919 auf die Unzulässigkeit hingewiesen, dass lokale Gewalten wie Nationalräte oder Wohlfahrtsausschüsse, deren Verdienste zwar grundsätzlich gewürdigt werden, Befugnisse aus eigener Machtvollkommenheit für sich in Anspruch genommen haben. Eine besondere Hervorhebung galt dem Knittelfelder Bezirkswohlfahrtsausschuss, der von der Postverwaltung verlangt habe, die erliegenden Wertzeichenbestände unverzüglich mit dem Aufdruck ‚Republik Deutschösterreich‘ zu versehen. – Vgl. ÖStA/AdR, Staatskanzlei 231/1919. Vgl. etwa StLA, Statth. Präs. A 5b 2866/3, 4 und

15 16

17

18

19

20 21 22

23

24

25

26 27 28

29

5/1918. Zur Wahrung der Bezirksinteressen gab es in der Steiermark – wenngleich mit anderer Zusammensetzung – die traditionellen Bezirksvertretungen (Bezirksausschüsse), die auch in den Kriegsjahren ihre Arbeit weiterführten. Dazu Hinter­ egger, Demokratisierung 134; neuerdings grundlegend Polaschek, Bezirksvertretungen 21–51. Siehe StLA, Statth. Präs. A 5b 2866/4/1918. StLA, Statth. Präs. A 5b 174/8/1919. Die Bezirksvertretungen hingegen konnten sich mehr oder weniger bis 1938 behaupten; vgl. Polaschek, Bezirksvertretungen 154–167. Hinteregger, Demokratisierung 135; Berchtold, Verfassungsgeschichte 68f. Als erster Bevollmächtigter fungierte der steirische deutschfreiheitliche Reichsratsabgeordnete August Einspinner, Amtlicher Anzeiger 1932, 48. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 474; Berchtold, Verfassungsgeschichte 69. Berchtold, Verfassungsgeschichte 39f. Berchtold, Verfassungsgeschichte 39f. Amtlicher Anzeiger 1932, 48. Die gleichmäßige Verteilung der Abgeordneten auf alle drei Parteien ergibt sich aus dem Umstand, dass in den Ländern das allgemeine Wahlrecht von 1907 nicht eingeführt worden war. In der Steiermark kam es durch die Landtagswahlordnung von 1904 (LGBl. 55/1904) lediglich zur Schaffung einer zusätzlichen allgemeinen Wählerkurie im Sinne der Badenischen Wahlreform von 1896 (RGBl. 168/1896) mit acht Abgeordneten, die durch die Landtagswahlordnung von 1909 (LGBl. 24/1909) auf zehn Abgeordnete aufgestockt wurde. Vgl. Protokoll über die konstituierende Landesversammlung – LGBl. 78/1918, 232. Protokoll über die konstituierende Landesversammlung – LGBl. 78/1918, 233. Dem zwölf köpfigen Landesausschuss, auch Landesrat genannt, gehörten auch die bisherigen Wirtschaftskommissäre Wutte und Eisler an, zu denen aus Proporzgründen der Christlichsoziale Dr. Franz Hagenhofer hinzutrat, die als Fachorgane des Landesausschusses weiter fungieren sollten. Amtlicher Anzeiger 1932, 48. LGBl. 78/1918, 233f. LGBl. 78/1918, 234; siehe auch unten. LGBl. 78/1918, 235ff.; Riesenfellner, Erste Republik 13. Goldinger/Binder, Geschichte 45f.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 40f.; Suppan, Jugoslawien und Österreich, 119–124.

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933 30

31

32 33 34

35 36

37

38 39 40

41

42

43

44 45

46

Wohl in Anlehnung an das Kaiserliche Manifest vom 16. 10. 1918. Vgl. grundlegend: Berchtold, Verfassungsgeschichte 39–51. StGBl. 5/1918. StGBl. 24/1918. Grundsätzlich wird man Brauneder zustimmen können, der hinsichtlich des Verhältnisses Gesamtstaat–Länder meint, dieses sollte trotz des geschriebenen Verfassungsrechts für den jeweiligen Zeitabschnitt immer wieder neu überdacht und untersucht werden. Siehe Brauneder, Verhältnis Gesamtstaat–Länder 38. StLA, Statth. Präs. A 5b 2866/3/1918. Suppan, Jugoslawien und Österreich 511f.; Karner, Die untersteirische Frage 296–299; Pferschy, Steiermark 945f.; Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 220f.; Pickl, Südgrenze. Vgl. dazu auch: Berichte und Stellungnahmen vornehmlich vom Stadtamt Radkersburg: StLA, Statth. Präs. A 5b 3045/1918, 3375/1918; 3419/1918; 75/1919; 585/1919; 999/23/1919 sowie E 91 450/1919. Ebd. – Spätere Versuche seitens der Landesregierung, eine militärische Abwehr zu organisieren, scheiterten in der provisorischen Landesversammlung stets am Widerstand der sozialdemokratischen Abgeordneten. Ebd. Amtlicher Anzeiger 1932, 48. Suppan, Jugoslawien und Österreich 512; vgl. StLA, Statth. Präs. A 5b 3187/1918. Pferschy, Steiermark 945; Karner, Die untersteirische Frage 297; Pickl, Südgrenze 8f.; Hinter­ egger, Abwehrmaßnahmen 230; Suppan, Jugoslawien und Österreich 513f.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 99f. Zuweilen ist vom „Marburger Blutsonntag“ die Rede, der 27. Jänner war aber ein Montag. Suppan, Jugoslawien und Österreich 515; Beer/ Staudinger, Grenzziehung 134f. Suppan, Jugoslawien und Österreich 515; Pferschy, Steiermark 945; Burkert-Dottolo, Das Land geprägt 92. Suppan, Jugoslawien und Österreich 516. Vgl. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 476; Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 239–246; Karner, Die untersteirische Frage 297; Desput, Die neuen Grenzen 443. Siehe Kurahs, Franz Kamniker in St. Germain 112–122; Karner, Die untersteirische Frage 299; Pickl, Südgrenze 12f. Siehe vor allem ein sehr aufschlussreiches Schreiben von Kamniker aus SaintGermain vom 27. 7. 1919 an den steirischen Landes-

47 48

49

50

51 52

53

54

55 56 57 58 59

60 61 62 63 64 65

66 67 68 69 70

229

hauptmann, in welchem detailliert Kamnikers Kontakte zur ausländischen Presse dargestellt, wie auch die Chancen für die südsteirische Frage bei einzelnen Alliierten ventiliert werden. Resümierend kommt Kamniker zum Ergebnis, für Marburg und Radkersburg sei die Lage günstig zu beurteilen, Pettau/Ptuj hingegen müsse bereits als verloren betrachtet werden – in: StLA, Präs., Landeshauptmann-Korrespondenz 1919; zum Wirken Kamnikers siehe unter anderem StLA, Nachlass Dr. Franz Kamniker. StGBl. 24/1918. StLA, Statth. Präs. A 5b 3218/1918, Kabinettsprotokoll Nr. 15 vom 23. 11. 1918, 1. StLA, Statth. Präs. A 5b 3218/1918, Kabinettsprotokoll Nr. 15 vom 23. 11. 1918, 12ff. StLA, Statth. Präs. A 5b 3218/1918, Kabinettsprotokoll Nr. 15 vom 23.  11. 1918, 10. Grundsätzlich ging es der Staatsregierung um weitestgehende Vereinheitlichung der Verwaltung in den Ländern (Landesregierungen, Bezirkshauptmannschaften, Gemeinden). Siehe grundlegend: Loewenfeld-Ruß, Hunger. LReg (Burg) Präs. 378/1919 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 3218/1918; Protokolle der Sitzungen vom 24. 11. 1918 und 5. 1. sowie 1. 2. 1919. LReg. (Burg) Präs. 378/1919 in: StLA, Statth. Präs A 5b 3218/1918; Kabinettsprotokoll Nr. 28 vom 4. und 5. 1. 1919, 5. LReg. (Burg) Präs. 1023/1919 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 3218/1918; Protokoll über die 3. Länderkonferenz (Nr. 36 der Kabinettsprotokolle) vom 31. 1. und 1. 2. 1919 und Anhang I. Ebd., 41. Ebd., 52. Ebd. Ebd., 53. Siehe LReg (Burg) Präs. 2783/1919 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 3218/1918; Protokoll über die 7. Länderkonferenz (12. und 13. 10. 1919), 4. Ebd. Ebd., 28. Ebd., 36. Ebd. LGBl. 50/1919. Vor allem musste das schon bekannte Gesetz vom 14. 11. 1918 über die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern Berücksichtigung finden. § 1 der Landesordnung, LGBl. 50/1919. § 4 der Landesordnung. § 7 der Landesordnung. § 8 der Landesordnung. §§ 18 und 8 der Landesordnung.

230 71

72 73

74

75 76 77

78 79

80

81 82

83

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

§ 8 der Landesordnung. Lediglich in Angelegenheiten der Jugendfürsorge wurde bereits vorher vom Landeshauptmann verfügt, dass hier eine gemeinsame Abteilung geschaffen werden müsse, was der Steiermark besonderes Lob vom Staatssekretär für soziale Verwaltung Ferdinand Hanusch einbrachte, vgl. LReg. (Burg) Präs. 378/1919 in: StLA, Statth Präs A 5b 3218/1918; Kabinettsprotokoll Nr. 28 vom 4. und 5. 1. 1919, 14. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 476. § 24 der Landesordnung – womit die politische Verwaltung und die Finanzverwaltung wiederum vereint wurden. Zum Wirkungskreis der Landesamtsdirektoren vgl. Art 14 StGBl. 179/1919; auch StLA, Statth. Präs. A 5b 1337 und 1339/1919. Vgl. wieder § 24 der Landesordnung. Ermacora, Österreichischer Föderalismus 43. Gesetz vom 18. 12. 1918 über die Einberufung der Konstituierenden Nationalversammlung, StGBl. Nr. 114, sowie das Gesetz gleichen Datums über die Wahlordnung StGBl. Nr. 115, mit dem einerseits das Verhältniswahlrecht und andererseits das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Vgl. Wahlen und Parteien in Österreich 35. Diese Dominanz zeigte sich auch in den ersten Ergebnissen der Tätigkeit des von der Konstituierenden Nationalversammlung gewählten Verfassungsausschusses, nämlich den beiden Gesetzen über die Volksvertretung (StGBl. 179/1919) und über die Staatsregierung (StGBl. 180/19) vom 14. 3. 1919, die gemeinsam das neue Verfassungsprovisorium bildeten. Hier kann man klar die sozialdemokratischen Vorstellungen hinsichtlich der definitiven Verfassung erkennen (Einkammersystem, kein eigenes Staatsoberhaupt, da diese Funktion der erste Präsident der Nationalversammlung ausübte, Wahl der Regierung durch die Nationalversammlung, keine Länderkammer und kein selbstständiger Landesverwaltungsapparat), weshalb auch Kelsen eine Annäherung an den Verfassungstyp des Einheitsstaates konstatierte, der nur durch die faktische Gewalt der Landesregierungen abgeschwächt würde. Es könne daher von einem dezentralisierten Bundesstaat gesprochen werden. – Vgl. Kelsen, Verfassungsgesetze 140; Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 10–13. LGBl. 14/1919, Art II; siehe auch: Lipp, Landtag 14–27. LGBl. 14/1919, § 1. Hier waren noch die Städte Marburg und Pettau miteinbezogen. Vgl. Amtlicher Anzeiger 1932, 49.

Siehe die Präsidialverfügung StLA, Statth. Präs. A 5b 2359/1919. 85 Amtlicher Anzeiger 1932, 49. 86 Amtlicher Anzeiger 1932, 49. Siehe auch StLA, Statth. Präs. A 5b 1518/1919, Statth. Präs. E 91 – 235, 488, 659, 935, 1834, 2901/1919; auch Botz, Gewalt in der Politik 41–55; Hinteregger, Graz 229–236. 87 Hinteregger, Graz. 88 Pferschy, Steiermark 946. 89 Amtlicher Anzeiger 1932, 49; Lipp, Landtag 31–40; Hinteregger, Demokratisierung 140. 90 Mang, Steiermarks Sozialdemokraten 188. 91 Anton Rintelen, Ordinarius für Zivilprozessrecht war eine schillernde und nicht unumstrittene Persönlichkeit, die der steirischen Politik eine eigene Prägung gab; vgl. dazu: Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 478 m. w. N. 92 StBerLT 1919–1920, 1–10. 93 StBerLT 1919–1920, 1–10. – Christlichsoziale: Franz Hagenhofer, Franz Prisching, Josef Steinberger und Franz Tauschmann. Sozialdemokraten: Dr. Arnold Eisler, Reinhard Machold, Hans Resch. Deutschnationale (Bauernbund): Dr. Erich Klusemann und Heinrich Wastian. 94 StBerLT 1919–1920, 1–10, 6–9. 95 StLA, Statth. Präs. A 5b 1730/1919, Geschäftsplan vom 20. 6. 1919; die revolutionären Nachwehen kann man an den Amtstiteln der beamteten Leiter der Abteilungen erkennen, die – allesamt Akademiker – nur als Amtsräte oder Oberamtsräte fungierten. 96 StBerLT 1919–1920, 43. 97 StBerLT 1919–1920, 126. Bereits die 3. Sitzung am 13. 6. hatte sich ausschließlich den vorläufigen Ergebnissen der Friedenskonferenz gewidmet, die von allen Parteienvertretern mit überaus scharfen Worten kritisiert und bedauert wurden – vgl. StBerLT 1919–1920, 17–22. 98 StLA, Statth. Präs. A 5b 2858/1919. 99 StLA, Statth. Präs. A 5b 2858/1919, Schreiben des steiermärkischen Landesschulrates vom 15. 1. 1920. 100 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 14f.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 191–211. 101 Siehe auch ein Schreiben Renners an den steirischen Landeshauptmann vom 25. 12. 1919 – StLA, Statth. Präs. A 5b 26/1920 –, in welchem dieser auf eine kritische Note Clemenceaus verweist, wonach Österreich vom Obersten Rat der Alliierten vor Agitationen (beispielsweise in Vorarlberg und Salzburg), die den Zusammenhalt und die Integrität der Gebiete der österreichischen Republik gefährden würden, gewarnt wird. Die Forderung nach Ver84

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933 wirklichung des Selbstbestimmungsrechts durch Plebiszite könnte auch von Westungarn gestellt werden. Österreich dürfe daher nichts unternehmen, was die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit beeinträchtigen könne. Renner ersuchte daher den Landeshauptmann, seinen Einf luss im Lande in dieser Richtung aufzubieten. Wichtig sei auch ein vertrauensvolles Zusammenwirken zwischen Nationalversammlung und Landesvertretungen bzw. Staatsregierung und Landesregierungen zur Vollendung des Verfassungswerkes, das die Stellung der Republik festigen würde. Die Staatsregierung wäre den Ländern bei der Kompetenzverteilung in weitem Maße entgegengekommen, was auch die Vorbesprechungen des Staatssekretärs Dr. Mayr mit den Ländervertretern unterstreichen dürften. 102 Vgl. generell: Ermacora, Materialien. 103 Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 479. 104 Vgl. Ermacora, Materialien 160f.; Schmidlechner, Presse 147–161. 105 StGBl. 450/1920 bzw. BGBl. 1/1920. 106 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 15–19. 107 Dazu ausführlichst: StLA, Statth. Präs. E 91 – 1512, 1525 und 1582/1920; weiters Grazer Zeitung (9. 6. 1920), 1; Tagespost, Morgenblatt (8. 6. 1920), 3f. und Tagespost, Morgenblatt (9. 6. 1920), 1f.; Arbeiterwille (9. 6. 1920), 1; auch Lipp, Landtag 53. 108 StBerLT 1919–1920, 586; vgl. auch: Schacherl, Arbeiterbewegung 302f. 109 StBerLT 1919–1920, 617 und 635f. 110 Siehe StLA, Statth. Präs. E 91 – 2139 und 2150/1920. 111 StBerLT 1919–1920, 798–804 und 503Blg sowie LGBl. 237 und 238/1920; siehe auch: Lipp, Landtag 42–55. 112 StBerLT 1919–1920, 821–843. 113 Amtlicher Anzeiger 1932, 50; insbes. StBerLT 1920–1923, 1. Gesetzgebungsperiode (GP), 2f.; vgl. auch: Prattl, Die soziale Tätigkeit. 114 Mandatsverteilung (NR): 82 Christlichsoziale, 66 Sozialdemokraten, 20 Großdeutsche, 6 Deutsche Bauernpartei, 1 Bürgerliche Arbeiterpartei – siehe Wahlen und Parteien in Österreich 3, Teil C 27. 115 Zusammenschluss der deutschnationalen und deutschfreiheitlichen Gruppierungen mit Ausnahme der deutschen Bauernpartei zur „Großdeutschen Volkspartei“ im September 1920 in Salzburg – vgl. Wende, Lexikon 453; Berchtold, Parteiprogramme 439ff. Mandatsverteilung (LT): 31 Christlichsoziale, 24 Sozialdemokraten, 8 Bauernpartei, 7 Großdeutsche – vgl. Amtlicher Anzeiger 1932, 50; Lipp, Landtag 66.

231

StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1f. StBerLT 1920–1923, 1. GP, 4. 118 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 7–17 und LGBl. 1/1921. 119 Die Mitglieder des Hauptausschusses, des Bundesrates, des Landtagspräsidiums u. a. – Ebd. 120 LGBl. 1/1921, § 52. 121 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 15. 122 Eine elegante Umschreibung einer klassischen Proporzlösung, da die Verfassung bis zu vier Präsidenten vorsah – StBerLT 1920–1923, 1. GP, 13f. und LGBl. 1/1921, § 23. 123 Ebd. und LGBl. 1/1921, §§ 26–28. 124 LGBl. 1/1921, §§ 26–28 und §§ 31–36 sowie 51ff. Mit Schreiben vom 7. 12. 1920 teilte Bundeskanzler Mayr dem Präsidium der steiermärkischen Landesregierung mit, die Bundesregierung habe gegen die vorläufige Verfassung keinen Einspruch erhoben und der sofortigen Kundmachung zugestimmt, dennoch gebe es Anlass für einige Bemerkungen, deren Berücksichtigung durch den Landtag der Landesregierung anheim gestellt werde. So wurde beispielsweise beim § 10 Abs. 2 moniert, dass der Landesamtsdirektor lediglich zur Leitung des „inneren Dienstes in der mittelbaren Bundesverwaltung“ berufen sei, was mit Art 106 B-VG nicht in Einklang stünde. Im § 24 wiederum sei die Rede von der „Regierung“, obwohl die Landesregierung gemeint wäre; siehe BKA 2383-2/20 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 2569/1920. Diese wie auch andere Änderungsvorschläge wurden jedoch n i c h t berücksichtigt. 125 Ermacora, Österreichischer Föderalismus 64 spricht von einer beschämenden Uniformität der Landesverfassungen. 126 BGBl. 2/1920. 127 Siehe unten. 128 Vgl. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 480 sowie dazu ausführlich StLA, Statth. Präs. A 5b 140/1921. Ähnlich unterschiedliche Bezeichnungen für die mittelbare Bundesverwaltung bzw. den selbständigen Wirkungskreis der Länder finden sich auch in anderen Bundesländern, wie z. B. Oberösterreichische Landesregierung – Landesrat für Oberösterreich, oder Wiener Magistrat – Stadtmagistrat Wien. Mit Erlass des Bundeskanzleramtes vom 14. 5. 1922, 318-4/22, sollte einheitlich der Begriff „Amt der Landesregierung“ für die mittelbare Bundesverwaltung verwendet werden, wogegen sich jedoch die Länder nachhaltig wehrten. 129 Am 29. 12. 1920 wurde noch eine neue Geschäftsordnung des Landtages beschlossen, siehe StBerLT 1920–1923, 1. GP, 47 und 22Blg sowie Landtagsbeschluss Nr. 19; es handelt sich dabei nur um Adap116 117

232

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

tierungen im Hinblick auf die neue Landesverfassung. 130 StGBl. 5/1918 – vgl. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 480. 131 Es nimmt nicht wunder, wenn die Anschlussbestrebungen auch nach der Annahme des Staatsvertrages von Saint-Germain durch die Nationalversammlung nicht nachließen. Am 17. 3. 1920 fasste die Tiroler Landesregierung einen Beschluss, die Staatsregierung im Hinblick auf die furchtbare Ernährungslage des Staates aufzufordern, bei der Entente die Auf hebung des Anschlussverbotes unter Androhung der Niederlegung der Mandate sämtlicher Volksvertreter mit allem Nachdruck zu verlangen. Weiters sollte dieser Beschluss der Nationalversammlung und allen Landesregierungen mitgeteilt werden. Der Salzburger Landesrat trat dem Beschluss am 30. 3., die steiermärkische Landesregierung am 2. 4. 1930 bei – vgl. StLA, Laa. A. Rezens. I 9581 und I 10.557/1920. Ein von den großdeutschen Abgeordneten am 30. 4. 1920 eingebrachter Antrag auf Auf hebung des Anschlussverbotes gemäß Art 88 des Staatsvertrages im steirischen Landtag wurde zwar dem Gemeinde- und Verfassungsausschuss zugewiesen, jedoch nicht weiter behandelt – vgl. Polaschek, Volksabstimmung 50f., bes. Anm. 14. Zum umfassenden Anschlussproblem während der Ersten Republik siehe die Literaturübersicht bei: Low, Anschluss Movement. 132 Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 480. 133 Vgl. dazu grundlegend: Polaschek, Volksabstimmung 49f. 134 StProtNR, 1920–1921, 1. GP, 409 und 198Blg. 135 StProtNR, 1921, 1. GP, 326Blg. 136 Das Gesetz wurde zwar am 12.  5. 1921 vom Nationalrat beschlossen, jedoch nie kundgemacht – siehe wiederum Polaschek, Volksabstimmung 56–59 und 64f. 137 Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 480 und Anm. 83; Hinteregger, Anschlußagitation 267f.; Polaschek, Volksabstimmung 56. 138 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 344 und Landtagsbeschluss Nr. 94 – siehe auch: StLA, Laa. A. Rezens I 12.761/1921. 139 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 344f. 140 Österreich war im Staatsvertrag zu weitgehenden Reparationsleistungen verpf lichtet worden, die jedoch seitens der alliierten Reparationskommission – im Gegensatz zum Deutschen Reich – gestundet wurden. Vgl. dazu: Hasiba, Meisterwerk 166. 141 Vgl. StLA, Laa. A. Rezens I 13.252/1921. 142 StLA, Laa. A. Rezens I 17.790/1921. 143 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 431, 433f.; Amtlicher Anzeiger 1932, 51.

Amtlicher Anzeiger 1932, 51. StLA, Laa. A. Rezens I 18.611/1921. 146 Polaschek, Volksabstimmung 63; Berchtold, Verfassungsgeschichte 309f. 147 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 437f. 148 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 450; siehe auch: Polaschek, Volksabstimmung 64. 149 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 22. 150 Eine friedliche Übernahme des Burgenlandes im August 1921 scheiterte neuerlich am heftigen Widerstand von ungarischen Banden, die ihre Aktivitäten auch auf steirische Gebiete, insbes. Fehring, ausdehnten – vgl. Polaschek, Rezeption 229–256; Berchtold, Verfassungsgeschichte 312–326; Amt­ licher Anzeiger 1932, 51. Auch der zweite Restaurationsversuch des ehemaligen österreichischen Kaisers Karl als König von Ungarn im Oktober 1921 scheiterte – wie schon zuvor im März d. J. –, trug aber gleichfalls zur Beunruhigung bei, was die steiermärkische Landesregierung bewog, am 28. 10. 1921 den Landtag von einem Beschluss in Kenntnis zu setzen, wonach die Landesregierung im Einvernehmen mit allen politischen Parteien zum unerschütterlichen Entschluß gekommen sei, die demokratische Republik mit allen Mitteln zu verteidigen und die Bundesregierung zu unterstützen, „um Ungarn zur Einhaltung des Friedensvertrages zu verhalten“. – StBerLT 1920–1923, 1. GP, 502f. 151 Siehe Klemperer, Ignaz Seipel 102. 152 BGBl. 842/1922; Berchtold, Verfassungsgeschichte 348–359; vgl. grundlegend: Ladner, Seipel. 153 Hasiba, Meisterwerk 169. 154 BGBl. 843/1922. 155 Die Verwaltungsreformbestrebungen haben in Österreich eine lange Tradition. Bereits nach 1867 erfolgten immer wieder Vorstöße in Richtung Vereinheitlichung und Straffung der Verwaltung. Mit Ausnahme des durch die Rechtsprechung des 1875 eingerichteten Verwaltungsgerichtshofes entstandenen Richterrechts konnten keine umfassenden Erfolge erzielt werden. Diverse Vorstöße – auch von der Anwaltschaft unterstützt, – die letztlich in der Einrichtung einer österreichweiten Verwaltungsreformkommission mündeten, die ihrerseits umfangreiche Reformvorschläge erarbeitete, scheiterten letztlich immer wieder – bedingt durch das Nationalitätenproblem – an der autonomen Landesverwaltung, in die man keine Eingriffe wagte. Nach dem Ersten Weltkrieg griff man zwar auf diese Vorarbeiten zurück, doch stand nun die Verfassungsfrage im Vordergrund. Erst massiver Druck von außen in Form von Forderungen der alliierten Reparationskommission führte zur Einsetzung einer 144 145

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933 Ersparungskommission und zu ersten bescheidenen Ergebnissen, die jedoch kaum umgesetzt wurden. Die Völkerbundkontrolle in der Person des Völkerbundkommissärs Alfred Zimmermann brachte nunmehr eine Wende – vgl. dazu: Hasiba, Verwaltungsreform; Hasiba, Kommission; Hasiba, Meisterwerk 163–169. 156 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 153; siehe auch den umfangreichen Aktenbestand StLA, Statth. Präs. A 5b 1632/1921 (Arbeitsabbau in der staatlichen Verwaltung, 2 Hefte 1921–1925). 157 Hasiba, Meisterwerk 170–179. 158 Vgl. etwa StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919. So stieß beispielsweise ein Vorschlag der Staatsregierung hinsichtlich der Demokratisierung der Bezirkshauptmannschaften auf heftigen Widerstand bei den rechtskundigen Beamten, der von den Landesregierungen (insbes. von Steiermark, Kärnten, Tirol und Salzburg) dem Staatsamt für Inneres mitgeteilt wurde. 159 Hasiba, Meisterwerk 170. 160 So wurde etwa der Entwurf für ein „Allgemeines Verwaltungsorganisationsgesetz“ vom Sommer 1920, der eine Gliederung der Verwaltungskörper des Landes in Kreise, Bezirke und Gemeinden mit jeweils gewählten Vertretungskörper vorsah, heftig kritisiert und eigene „Leitsätze“ aufgestellt, wonach eine Reform nur unter vorläufiger Belassung der Grundformen der gegenwärtigen Verwaltungsorganisation sinnvoll erscheine, da sonst nur allzuleicht eine volle Anarchie in der Verwaltung eintreten könne. – vgl. dazu: LReg. (Burg) Präs. 412/8/1920 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919. 161 Siehe oben. 162 Hasiba, Meisterwerk 169. 163 LReg. (Burg) Präs. 416/19/1923 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919. 164 Ebd., 1. 165 Ebd., 2f. 166 Ebd., 3. 167 Ebd. – auch Hasiba, Meisterwerk 170. 168 LReg. (Burg), Präs 416/19/1923, 4 in: StLA, Statth Präs A 5b 1142/1919. 169 Diese Kritik findet sich bereits in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts – vgl. Hasiba, Kommission 248 sowie Anm. 61 und 253. 170 LReg. (Burg) Präs. 416/19/1923, 8 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919. 171 LReg. (Burg) Präs. 416/19/1923, 9 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919. 172 LReg. (Burg) Präs. 416/19/1923, 12 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919. Bei künftigen Stellungnahmen der steirischen Landesregierung zur Verwaltungsre-

233

form bildete dieses – in Graz für den Gesamtverband erarbeitete – Exposé die ausschließliche Grundlage – vgl. etwa ÖStA/AdR, BKA-Inneres, Verw. Ref., Material 1919–1925, Kart. 8122b, Mappe 3. 173 Hasiba, Meisterwerk 171f. 174 LReg. (Burg) Präs. 416/20 und 416/21/1923 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919. 175 Siehe Hasiba, Meisterwerk 172, sowie das Schreiben des Vizekanzlers als Leiter des Bundesministeriums für Inneres und Unterricht an das Präsidium der steiermärkischen Landesregierung; LReg. (Burg), Präs. 416/21/1923 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919 und ÖStA/AdR, BKA-Inneres, 3 VR, Kart. 130, 17.559-4b/23. 176 ÖStA/AdR, BKA-Inneres, 3 VR, Kart. 130, 17.5594b/23; siehe auch das Schreiben des Vorstandes der rechtskundigen Bundesbeamten an das Bundesministerium für Inneres und Unterricht vom 20.  6. 1923, LReg. (Burg), Präs. 912/25/1923 in: StLA, Statth. Präs. A 5b 1142/1919. 177 Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 483. 178 Zu Ramek vgl.: Ackerl, Rudolf Ramek 118–130. 179 Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 483. 180 Hasiba, Meisterwerk 177f. 181 Siehe grundlegend: Mannlicher, Verwaltungsreform. 182 Vgl. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 483 und Anm. 106; Berchtold, Verfassungsreform. 183 BGBl. 2/1920, § 20 Abs. 2. 184 Bundesgesetz vom 11. 7. 1923 über die Wahlordnung für den Nationalrat, BGBl. 367/1923 – vgl. auch: Berchtold, Verfassungsgeschichte 364–367. 185 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1328. 186 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1336ff. 187 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1336ff. und 404Blg. 188 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1336. 189 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1337. 190 Feststellung des Autors. 191 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1337. 192 BGBl. 124 und 125/1922, siehe auch: Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 28. 193 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1337. 194 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1338. 195 StBerLT 1920–1923, 1. GP, 1340f. – Landtagswahlordnung LGBl. 108/23, Landesverfassungsnovelle LGBl. 110/1923. 196 Mandatsverteilung (NR): 82 Christlichsoziale, 68 Sozialdemokraten, 10 Großdeutsche, 5 Landbund – siehe Wahlen und Parteien in Österreich 3, Teil C, 72. Mandatsverteilung (LT): 34 Christlichsoziale, 24 Sozialdemokraten, 8 Landbund, 4 Großdeutsche – siehe Amtlicher Anzeiger 1932, 52; ausführlich bei: Lipp, Landtag 77–86.

234

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1f. StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1f. – Hierbei handelt es sich um eine euphemistische Umschreibung der Tatsache, dass das Land die Sanierungsbestrebungen des Bundes weitestgehend boykottiert hatte. 199 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 3f. 200 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 4–8. 201 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 8f. 202 Siehe oben. 203 StLA, Statth. Präs. A 5b 2569/1920. 204 StLA, Statth. Präs. A 5b 2569/1920, Schreiben vom 9. 9. 1925, BKA 122.421–2. Vom Bundesministerium für Finanzen wurde dem steirischen Landeshauptmann mitgeteilt, dem Land würde aus dem Bundespräzipuum ein Betrag von ganzjährig 20 Millionen S für die Bestreitung des Personal- und Sachaufwandes der verländerten politischen Verwaltung zugewiesen werden – siehe StLA, Statth. Präs. A 5b 2569/1920, Schreiben vom 19. 8. 1925, 57.408 III/1925. Das Präsidium der Landesregierung erwiderte am 17. 9., der tatsächliche Gesamtaufwand betrüge im Hinblick auf zahlreiche Industriestandorte mit entsprechender Bevölkerungsdichte, aber auch durch eine Universität und zwei Hochschulen sowie weitere allgemein- und berufsbildende höhere Schulen 51 Millionen S, was einen höheren Beitrag aus dem Bundespräzipuum rechtfertigen würde (LReg. (Burg) Präs. 1213/18/1925). 205 StLA, Statth. Präs. A 5b 2569/1920, Schreiben vom 17. 9. 1925, BKA 126.662–1. Hier wird vor allem darauf hingewiesen, dass nur organisatorische Bestimmungen der diversen in Kraft stehenden Gesetze betroffen sind, nicht jedoch deren materieller Inhalt. Weiters müssten durch Kompetenzverschiebungen bedingte Regelungen des Rechtsmittelweges erfolgen. Auch die Neuerung hinsichtlich des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser nunmehr auch zu überprüfen haben wird, ob ein Akt der Gesetzgebung oder der Vollziehung gem. Art 10 bis 15 B-VG in die Zuständigkeit des Bundes oder der Länder fällt, wird besonders hervorgehoben. 206 Amtlicher Anzeiger 1932, 53; gleichzeitig wurden dafür neue Kanzleivorschriften erarbeitet; die bisher bestehenden getrennten Kanzleiordnungen blieben jedoch bis auf weiteres ebenfalls aufrecht – siehe StLA, Statth. Präs. A 5b 2569/1920. 207 StProtNR, 1924–1925, 2. GP, 2627–2651 und 2657–2663; Hasiba, Meisterwerk 179. 208 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokolle vom 1., 6. und 20. 10. 1925 sowie vom 10. 11. 1925. 209 StLA, Statth. Präs. A 5b 2569/1920, Schreiben vom 14. 11. 1925, BKA 143.837-3. Die notorischen Spannungen zwischen Bund und Ländern wurden durch 197

198

das Inkraftsetzen der Kompetenzartikel zunächst einmal prolongiert. 210 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 3. 12. 1925. 211 Vgl. StBerLT 1923–1927, 2. GP, 981–988 und 130Blg; LGBl. 12/1926. 212 Vgl. wieder LGBl. 12/1926 sowie Mokre, Verfassungsrecht 93ff. – Die im vierten Hauptstück der Landesverfassung vorgesehene Einrichtung eines von der Landesregierung unabhängigen Kontrollamtes stieß jedoch auf Schwierigkeiten, da dieses eine Beschränkung der Bundesrechnungshof befugnisse bedeutet hätte. Es erfolgte daher am 23. 12. 1926 eine Novellierung, wonach die Bestimmungen des vierten Hauptstückes außer Wirksamkeit gesetzt wurden. Weitere Änderungen betrafen die Behandlung des Landesvoranschlages; neu geregelt wurde die Möglichkeit des Liegenschaftserwerbes sowie Veräußerung und Belastung von Landesvermögen durch die Landesregierung (LGBl. 64/1926). Diese Änderungen führten zu einer Verordnung des Landeshauptmannes vom 28. 12. 1926, wonach eine Wiederverlautbarung des Landes-Verfassungsgesetzes angeordnet wurde – siehe LGBl. 1/1927. Dazu auch: Moser, Landtag 70ff. und das umfassende Konvolut StLA, LReg. 9 La 5/1932. Eine weitere, eher unbedeutende Novelle des Landes-Verfassungsgesetzes erfolgte am 21. 12. 1928, und zwar hinsichtlich der Berichterstattung bei Budgetüberschreitungen (§ 32 Abs 2); LGBl. 26/1929. 213 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 982f. 214 Eine Sensibilität, die den Politikern unserer Zeit völlig abhanden gekommen ist. 215 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 986f. – siehe aber in diesem Zusammenhang oben Anm. 208. 216 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 988. 217 Vgl. Schreiben BKA 90.294–2 in: StLA, LReg. 62 V1/1926. 218 Vgl. Schreiben BKA 90.294–2 in: StLA, LReg. 62 V1/1926. 219 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 11. 5. 1926. 220 Vgl. Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 30f.; Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 484f.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 437–440; ausführlich Ausch, Banken 205–245; auch Duscher, Die bankbezogene Gesetzgebung. 221 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1229f.; vgl. auch: Berchtold, Verfassungsgeschichte 434–437. 222 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 31 und Anm. 14. 223 Siehe StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1235 und 1268. 224 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 30ff.;

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933 Ausch, Banken 226ff.; Pferschy, Steiermark 950; auch Fraydenegg-Monzello, Anton Pantz 246ff. 225 Kabinett Seipel (IV) vom 20. 10. 1926 bis 18. 5. 1927; siehe Weinzierl/Skalnik, Österreich 1072f. 226 Amtlicher Anzeiger 1932, 53 und StBerLT 1923– 1927, 2. GP, 1235. 227 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1237. 228 Da durch das Wiederauf baugesetz (BGBl. 843/1922) die Gewährung von Darlehen seitens des Bundes an Länder und Gemeinden mit Ende 1922 eingestellt worden war und auch die Zuschüsse zu den Personalkosten mit Jahresbeginn 1925 wegfallen sollten, sahen sich die Länder genötigt, selbst Investitionsanleihen aufzunehmen, wobei auch an ein gemeinsames Vorgehen mehrerer Länder gedacht war. Von der steirischen Landesregierung wurde ein Antrag auf Aufnahme eines „Dollaranlehens“ von 400 Milliarden Kronen erstmalig am 23. 5. 1924 ventiliert. In weiteren Regierungssitzungen (25. 11. und 30. 12. 1924, 10. 1. 1925, 13. und 21. 2., 27. 4., 4., 20. und 25. 6., 14. 7., 21. 8., 17. 11. 1925 sowie 26. 2. 1926) wurden die unterschiedlichen Möglichkeiten und diverse Angebote eingehend geprüft und diskutiert. Am 15. 3. 1926 einigte sich die Landesregierung auf eine Anleihe von 3,5 Millionen Dollar auf 20 Jahre mit siebenprozentiger Verzinsung bei Baker, Kellog & Co. Diese wurde am 30. 3. auf fünf Millionen Dollar aufgestockt, ein diesbezüglicher Gesetzentwurf am 4. 5. 1926 dem Landtag vorgelegt und von diesem einstimmig angenommen. Demnach sollte die Anleihe vornehmlich für den Ausbau von Lokalbahnen und Zufahrtsstraßen, für landwirtschaftliche Genossenschaften, den Ausbau der Wasserkräfte, der Beteiligung an der Steiermärkischen Wasserkraft- und Elektrizitäts-A.G. (Steweag), Ausbau von Krankenanstalten, Darlehen an Gemeinden u. a. m. verwendet werden. – Siehe StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokolle, sowie StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1061ff. und LGBl 15/1926. 229 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1238. 230 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1246. 231 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1254. 232 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1255. 233 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1317. 234 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1318. 235 Steirerbank, Filiale der Centralbank, Filiale der Boden-Creditanstalt und Agrarbank AG – vgl. Pferschy, Steiermark 951. 236 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 8. 3. 1927. Ein weiteres Problem bildete die Tatsache, dass die Anleihen bei mehreren Banken vorläufig wieder veranlagt wurden, wobei naturgemäß die

235

Habenzinsen unter den Sollzinsen lagen – siehe etwa Regierungssitzungsprotokoll vom 21. 7. 1927. 237 StLA, LReg. 62 V3/1926. 238 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 34–37; Berchtold, Verfassungsgeschichte 440–445. 239 Berchtold, Verfassungsgeschichte 440–445. 240 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1534ff. und LGBl. 23/1926. Gleichfalls mit 23. 3. 1927 ergingen eine Verordnung der Landesregierung über die Durchführung des novellierten Wahlgesetzes LGBl. 24/1927 und eine Kundmachung betreffend die Ausschreibung der Wahlen für den 24. 4. 1927, LGBl. 25/1927. 241 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1534ff. 242 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1537–1554. 243 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1554–1568. 244 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1543. 245 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1554. 246 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1555. Jedenfalls konnte einem Beamten die Unterschlagung von S 127.719,nachgewiesen werden, was den Anlass für die Einsetzung des Untersuchungsausschusses bildete. 247 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1555. 248 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1560. 249 StBerLT 1923–1927, 2. GP, 1569. 250 Mandatsverteilung (NR): 85 Einheitsliste, 71 Sozialdemokraten, 9 Landbund – vgl. Wahlen und Parteien in Österreich 3, Teil C 77. 251 Vgl. Liebmann, DDDDr. Johann Ude 64–71; Liebmann, Johannes Ude 127–143; Farkas, Aufstieg und Fall 77. 252 Amtlicher Anzeiger 1932, 54. 253 Berchtold, Verfassungsgeschichte 448–453; Goldinger/Binder, Geschichte 136f.; Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 37f. 254 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 10f. – weiters wurden die acht übrigen Mitglieder der Landesregierung gewählt. Die Wahl der Stellvertreter des Landeshauptmanns erfolgte gemäß § 21 der Landesverfassung durch die Landesregierung und fiel auf Josef Pongratz (SDAP) und Alois Riegler (CSP). 255 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 10f. 256 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 10f. 257 Vgl. Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 486 und Anm. 124; Hasiba, Strafprozeßreformen 181– 184; Hasiba, „Rechtliche Zeitgeschichte“ 97ff.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 455ff. 258 Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 486 und Anm. 125; Berchtold, Verfassungsgeschichte 458; Soós, Koloman Wallisch 66–78; Hinteregger, Koloman Wallisch 105–109. 259 Die Metapher von der „Diktatur des Proletariats“ findet sich in nahezu allen bürgerlichen Pressemel-

236

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933

dungen dieser Zeit. Damit sollte an das Ende Oktober 1926 in Linz verabschiedete sozialdemokratische Parteiprogramm erinnert werden, wo es an einer Stelle heißt: „Wenn sich aber die Bourgeoisie gegen die gesellschaftliche Umwälzung, die die Aufgabe der Staatsmacht der Arbeiterklasse sein wird, durch planmäßige Unterbindung des Wirtschaftslebens, durch gewaltsame Auf lehnung, durch Verschwörung mit ausländischen gegenrevolutionären Mächten widersetzen sollte, dann wäre die Arbeiterklasse gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen“. Vgl. Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 35; Berchtold, Parteiprogramme 252f. 260 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 49–88 (hier 50f.). 261 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 49–88. 262 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 109. 263 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 181–189. 264 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 181–189. – Das Verfahren gegen Wallisch wurde zwar eingeleitet, jedoch im Juli 1928 von der Staatsanwaltschaft eingestellt. Vgl. Soós, Koloman Wallisch 86. 265 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 137–181. 266 Vgl. dazu und zum Folgenden: StBerLT 1927–1930, 3. GP, 485–492. 267 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 485–492. – Rintelen sollte nun dieses Amt bis zum November 1933 ausüben. 268 Vgl. Hasiba, St. Lorenzen im Mürztal; Botz, Gewalt in der Politik 171–179. 269 Siehe Weinzierl/Skalnik, Österreich 1073; Ackerl, Ernst Streeruwitz 132–146. 270 Zum sogenanten „St. Lorenzener Fenstersturz“ vgl. Amtlicher Anzeiger 1932, 51; Rintelen, Erinnerungen 110ff.; Wiltschegg, Heimwehr 173. 271 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 27; Berchtold, Verfassungsgeschichte 513ff. 272 Hasiba, Zweite Bundes-Verfassungsnovelle 64–135; Berchtold, Verfassungsgeschichte 526–572. 273 Hubert, Schober 324ff. 274 Berchtold, Verfassungsgeschichte 580ff.; Goldinger/Binder, Geschichte 172f. 275 Goldinger/Binder, Geschichte 172f., vgl. auch: Hubert, Schober 333–338 und 353–362. 276 Berchtold, Verfassungsgeschichte 584ff.; Weinzierl/Skalnik, Österreich 1067 und 1074; Weissensteiner, Michael Hainisch; Goldinger, Wilhelm Miklas 99f.; Staudinger, Zerstörung 19. 277 Berchtold, Verfassungsgeschichte 590ff. 278 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokolle, Sitzung vom 14. 5. 1930 (Z 3-9L 28/10 und Z 3-9L 47/17). 279 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1118 und 186Blg, LGBl. 66/1930.

StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1119 und 185Blg, LGBl. 67/1930. 281 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1149, E.-Zl. 685. 282 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1149, E.-Zl. 686. 283 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1156–1180. 284 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1156. 285 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1156ff. 286 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1180. 287 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1180. 288 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1181. 289 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 207Blg. 290 StBerLT 1927–1930, 3. GP, 1191. Die Landtagswahlordnung wurde erst in der zweiten Sitzung der 4. GP am 19. 12. 1930 auf Grund eines neuerlichen Antrages wieder thematisiert. Der Bericht des Verfassungsausschusses vom 2. 3. 1931 enthält die Aussage, es habe im Ausschuss keine Mehrheit gegeben. Grundsätzliche Forderungen waren: Auf hebung der starren Listen, Verkleinerung der Wahlkreise, berufsständische Vertretung u. a. m. Der Gemeindeund Verfassungsausschuss forderte die Ausarbeitung eines neuen Wahlgesetzes, welches in der Ersten Republik nicht mehr verwirklicht wurde; siehe grundlegend Lipp, Landtag 108ff. 291 Hubert, Schober 365ff. 292 Wiltschegg, Heimwehr 58ff. 293 Mandatsverteilung (NR): 72 Sozialdemokraten, 66 Christlichsoziale, 19 Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund (10 + 9), 8 Heimatblock – siehe Wahlen und Parteien in Österreich 3, Teil C 35. 294 Mandatsverteilung (LT): 17 Christlichsoziale, 17 Sozialdemokraten, 8 Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund, 6 Heimatblock – StBerLT 1931– 1934, 4. GP, Inhaltsverzeichnis 105f. 295 Zur Bedeutung der Packer-Bundesstraße als Verbindung zwischen Italien und Ungarn siehe Suppan, Jugoslawien und Österreich 189; Pferschy, Steiermark 955. 296 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 1f. 297 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 3–6. 298 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 6ff. Zu Stellvertretern wurden nach großen Meinungsverschiedenheiten in der Sitzung der Landesregierung am 15.  12. 1930 Reinhard Machold (SDAP) und Josef Pichler (CSP) gewählt – StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokolle 1930. 299 Ausch, Banken 353–390; Hasiba, Ermächtigungsgesetz 563f.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 607–610. 300 Siehe StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokolle im ersten Halbjahr 1931. 301 Gleichfalls 1929 wurde von der Landesamtsdirektion ein umfangreiches Elaborat ausgearbeitet, welches 280

Hasiba / Gesetzgebung und Verwaltung in der Steiermark 1918 bis 1933 zahlreiche Vorschläge für eine „schlankere Verwaltung“ – um einen heutigen Begriff zu verwenden – enthält, siehe StLA, LReg. 60 E-4/1–1929. 302 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 23 und 5Blg. 303 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 23 und 5Blg. 304 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 119 – E.-Zl. 73; vgl. zur heutigen Diskussion: Polaschek, Föderalismus als Wert. 305 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 26. 3. 1931. 306 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 26. 3. 1931. – zu diesen siehe wiederum Polaschek, Bezirksvertretungen. 307 StLA, LReg., Regierungssitzung vom 26. 3. 1931. 308 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 193 und 210; auch Polaschek, Bezirksvertretungen 108ff. 309 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 22.  5. 1931 und Polaschek, Bezirksvertretungen 110f. Die endgültige Auf lösung erfolgte erst im März 1938 (LGBl. 19/1938) – siehe Polaschek, Bezirksvertretungen 156ff. 310 Etwa StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 29. 4. 1931. 311 Vgl. StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 17. 7. 1931. 312 Berchtold, Verfassungsgeschichte 606–620. 313 Er bezog sich dabei auf den „Korneuburger Eid“ vom 18. 5. 1930, in welchem sich die Heimwehren zum Faschismus bekannten und alle Macht im Staat forderten – vgl. etwa Wiltschegg, Heimwehr 55 und 255–258. 314 Vgl. dazu grundlegend: Hofmann, Pfrimer-Putsch; Wiltschegg, Heimwehr 178ff.; Botz, Gewalt in der Politik 184ff.; Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 488. 315 Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 488. 316 Wiltschegg, Heimwehr 179. 317 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 16. 9. 1931. 318 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokolle vom 28. und 30. 9. 1931. 319 Vgl. StLA, Präs. V4/1932, Vorfälle am 13. 9. 1931, fol. 14–144. 320 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 20. 10. 1931. 321 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 301–324. 322 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 307. 323 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 308.

237

StBerLT 1931–1934, 4. GP, 323. StBerLT 1931–1934, 4. GP, 324. 326 Wiltschegg, Heimwehr 180. 327 Bundesregierungen nach den Wahlen 1930: Ender (Dezember 1930 bis Juni 1931), Buresch I ( Juni 1931 bis Jänner 1932), Buresch II ( Jänner 1932 bis Mai 1932) – siehe Weinzierl/Skalnik, Österreich 1074ff. – auch Weissensteiner/Weinzierl, Bundeskanzler 160–216. 328 Wiltschegg, Heimwehr 182f. 329 Siehe oben. 330 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokolle vom 17. 2., 24. 2., 13. 4. und 30. 5. 1932. 331 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 6. 6. 1932. 332 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 607–611. 333 StBerLT 1931–1934, 4. GP, 613–708. 334 Die seit 20. 5. 1932 im Amt befindliche Regierung Dollfuß verfügte im Nationalrat nur über eine Mehrheit von einem Mandat, was zwangsläufig zu Problemen führen musste. Landeshauptmann Rintelen gehörte diesem Kabinett als Unterrichtsminister an. Dies führte am 30. 5. 1932 zu einer dringlichen Anfrage der Sozialdemokraten im Landtag hinsichtlich der Unvereinbarkeit dieser beiden Ämter, die letztlich jedoch ohne Konsequenzen blieb; siehe StBerLT 1931–1934, 4. GP, 494–496 sowie StLA, LReg. 6 Bu 7-1/1932. 335 Hasiba, Ermächtigungsgesetz 565; Welan, Verfassungsentwicklung 83f.; Berchtold, Verfassungsgeschichte 699–734. 336 Berchtold, Verfassungsgeschichte 699–734; vgl. auch: Huemer, Robert Hecht. – Das „Gesetz vom 24.  Juli 1917 (RGBl. Nr. 307), mit welchem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlaß der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen“, wurde 1918 in die republikanische Rechtsordnung übernommen und aus unterschiedlichen parteipolitischen Gründen nie aufgehoben, was letztlich nicht unerheblich zum Untergang der Demokratie beigetragen hat. Siehe Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 488f. 337 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 15. 3. 1933. 338 StLA, LReg., Regierungssitzungsprotokoll vom 15. 3. 1933. 324

325

Martin F. Polaschek

Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär Die Steiermark zwischen 1933 und 1938*

„Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde, wunderhold.“1 Vom März 1933 bis zum Frühjahr 1934 Als am 4. März 1933 der Nationalrat nach dem Rücktritt seiner drei Präsidenten formlos auseinander ging,2 war sich wohl keiner der Abgeordneten der dermaßen weit reichenden Konsequenzen dieser Handlung bewusst. Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß, dessen Regierung nur eine äußerst knappe Mehrheit im Nationalrat hatte, nutzte jedoch dessen Handlungsunfähigkeit zu seinen Gunsten. Neuwahlen lehnte man ab, musste man doch davon ausgehen, sowohl von den Sozialdemokraten wie auch den Nationalsozialisten überf lügelt zu werden. Diesbezüglich dürfte auch der Sieg der Nationalsozialisten bei den Wahlen in Deutschland am 5. März eine gewisse Rolle gespielt haben. Beginnend mit der „Preßverordnung“ vom 7. März 1933 schlug die Bundesregierung einen autoritären, „scheinlegalen“3 Weg auf der Basis des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes (KWEG) aus dem Jahr 1917 ein, für den wohl die Bezeichnung „Verfassungsputsch“4 als die zutreffendste erscheint. War bislang die Lage im Land, sieht man von einigen kleinen Zusammenstößen am 5. März zwischen Nationalsozialisten und Sozialdemokraten beziehungsweise Kommunisten

sowie mehreren Fackelzügen der Nationalsozialisten nach den Wahlen in Deutschland am 6. März ab,5 ruhig geblieben, kam es am Abend des 8. März trotz des allgemeinen Versammlungsverbotes in Graz zu einem Massenaufmarsch der NSDAP, an dem sich auch viele Angehörige des Steirischen Heimatschutzes beteiligten. Es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei, wobei eine Person verhaftet wurde, nach zwei Stunden kehrte jedoch wieder Ruhe ein.6 Am 11. März kam es in der Vorhalle der Universität Graz zu einer „spontanen“ Studentenversammlung gegen die Regierungsmaßnahmen, die mit einem Marsch durch die Stadt und an der Burg vorbei zum deutschen Konsulat endete.7 Der Monatsbericht des Landesgendarmeriekommandos Steiermark an die Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit über die nationalsozialistische Bewegung im Monat März vermerkt, dass die von der NSDAP organisierten Kundgebungen und Veranstaltungen nicht bloß von deren Parteigängern besucht wurden. Vielmehr beteiligte sich auch zahlreich die Bevölkerung bürgerlicher Richtung, zum Teil aus Neugierde, zum Teil aus Sympathie für diese Bewegung, während in

240

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

den linksradikalen Kreisen die Agitationstätigkeit fast gar keinen Erfolg aufweist. Besonders die national gesinnte Jugend und die nationalen Vereine haben sich für die Bewegung begeistert und erwarten alles Heil nur noch von Hitler und seinem Programm. Die unermüdliche Agitation in Wort und Schrift, wobei sich wieder besonders die Jugend hervortut, verschafft der Bewegung auch auf dem flachen Lande immer mehr Anhänger; es wurden auch einige neue Ortsgruppen in rein ländlichen Kreisen gegründet. Die Bevölkerung sieht eben, dass die sogenannten Intelligenzkreise und zwar vielfach auch die Beamtenschaft mit dieser Bewegung mehr oder minder offen sympathisieren.8 Nachdem in Reaktion auf den diktatorischen Kurs der Bundesregierung bereits in mehreren Bundesländern auf Betreiben der Oppositionsparteien die Landtage einberufen worden waren, verlangten auch die Großdeutschen sowie der Steirische Heimatschutz (und die Landesregierung) eine Sondersitzung des Steiermärkischen Landtages.9 Auch die Landesregierung setzte sich am 15. März mit den Vorgängen auf Bundesebene auseinander.10 Mit den Stimmen der vier sozialdemokratischen Landesräte sowie jener des „Heimatblocks“ (= Steirischer Heimatschutz)11 – Landeshauptmann und Unterrichtsminister Dr. Anton Rintelen war bei der Sitzung nicht anwesend – wurde beschlossen, sich gegen jene Verordnungen der Bundesregierung, die nicht wirtschaftsfördernd seien und der Verfassung widersprechen, zu verwahren. Die Bundesregierung wurde aufgefordert, unverzüglich wieder verfassungsmäßige Zustände herzustellen. Diese Resolution wurde der Bundesregierung telegraphisch mitgeteilt,12 die sich von diesem Beschluss allerdings wenig beeindruckt zeigte, insbesondere, da er nur mit einer „schwachen Mehrheit“ gefasst worden war.13 An diesem Tag versuchte außerdem in Wien der dritte Nationalratspräsident Sepp Straffner eine Nationalratssitzung abzuhalten, woran er mit Polizeigewalt gehindert wurde.

Um Ausschreitungen vorzubeugen, wurden auch in Graz wichtige öffentliche Gebäude von der Polizei bewacht, was in der Bevölkerung zwar Aufsehen erregte, die Lage blieb jedoch im ganzen Land ruhig.14 Am Abend des 17. März kam es allerdings in Kapfenberg zu schweren Zusammenstößen: Die Gendarmerie hatte mehrere sozialdemokratische Funktionäre verhaftet und Waffensuchen vorgenommen. Nachdem zwei Heimatschützer von Schutzbündlern bei einem Handgemenge schwer verletzt worden waren, wurden sieben Männer verhaftet.15 Darauf hin kam es zu einer Versammlung sozialdemokratischer Parteigänger vor der Gendarmeriekaserne. Als einige Schüsse auf das Gebäude abgegeben wurden, erwiderte man von dort aus das Feuer, es kamen aber glücklicherweise keine Personen zu Schaden.16 Eine am selben Abend stattgefundene Demonstration von vier- bis fünf hundert Sozialdemokraten und Kommunisten in Bruck an der Mur verlief friedlich,17 während es am 18.  März in Leoben zu Unruhen kam.18 Der Gemeinderat der Stadt Bruck an der Mur nahm an diesem Tag – eine dichte Menschenmenge wartete vor dem Rathaus – in einer außerordentlichen Sitzung gegen die Regierungsmaßnahmen Stellung.19 Diesen Beschluss fassten Sozialdemokraten, Heimatschützer und Nationalsozialisten gemeinsam, die christlichsozialen Gemeinderäte hatten die Sitzung verlassen. Knapp eine Woche später, am 25. März 1933, kam es in Bruck zu Zusammenstößen zwischen Arbeitslosen, die unter den geringen Arbeitslosenunterstützungen litten, und der Gendarmerie. Demonstranten drangen in die Bezirkshauptmannschaft ein und beschädigten einige Möbel. Die Gendarmerie ging mit aufgepf lanztem Bajonett gegen die Demonstranten vor; mehrere Menschen wurden verletzt, zwei Verhaftungen vorgenommen.20 Als Ende März der Republikanische Schutzbund aufgelöst und die Versammlungslokale von den Behörden ge-

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

schlossen wurden, kam es in der Folge in der Obersteiermark zu erneuten Kundgebungen.21 Zahlreiche Hausdurchsuchungen nach versteckten Waffen folgten, vor allem in Graz und Eggenberg, aber auch in Bruck an der Mur, Knittelfeld und anderen „roten Hochburgen“. Dabei richteten Exekutivbeamte wiederholt mutwillig großen Schaden an, was die Situation nicht gerade entspannte.22 In der Zwischenzeit waren am 20. März 1933 die Abgeordneten des Landtages zu einer mehr als sechsstündigen Sondersitzung zusammengetreten. Inhalt der Sitzung waren mehrere Anfragen an Landeshauptmann Rintelen, der ja gleichzeitig der Bundesregierung als Unterrichtsminister angehörte.23 Als erste richteten die Abgeordneten des Heimatblocks (= Heimwehren) eine Anfrage an den Landeshauptmann wegen der Maßregelung der Angestellten der Bundesbahnen anlässlich der letzten Protestaktion, wegen der in letzter Zeit erlassenen Notverordnungen, sowie bezüglich der Erledigung des Abkommens mit den Creditanstaltsgläubigern und bezüglich der Führung der Geschäfte des Landeshauptmannes.24 Insbesondere wurden die grundrechtswidrigen Einschränkungen des Vereins- und Versammlungsrechts sowie die oftmalige Abwesenheit des Landeshauptmannes von Graz kritisiert, wodurch hier die Geschäfte in Steiermark von einem marxistischen Landeshauptmann-Stellvertreter geführt werden. Das erscheint uns [dem Heimatblock, M. P.] auf die Dauer unerträglich, weil Steiermark ein vorwiegend nicht marxistisches Land ist.25 Die zweite dringliche Anfrage der Abgeordneten des Nationalen Wirtschaftsblocks (= Großdeutsche) betraf die Ausnahmsbestimmungen gegen die nationale Bewegung und den Schutz des Dienstrechtes der Beamten.26 Abgeordnete der Sozialdemokratischen Partei richteten zwei weitere Interpellationen an Rintelen, nämlich wegen raschester Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustandes in Österreich sowie wegen verfassungswidriger Knebelung der Presse.27

241

Nach der Beantwortung der Anfragen durch Landeshauptmann Rintelen und einer äußerst turbulenten Debatte – die Sitzung dauerte insgesamt über sechs Stunden – verabschiedete der Landtag schließlich mit den Stimmen von Heimatblock, Sozialdemokraten und Großdeutschen – die sich in der Debatte durchaus untereinander angegriffen hatten – in namentlicher Abstimmung gegen die Christlichsozialen und den Landbund 28 mit 24 zu 23 Stimmen sieben Beschlüsse, die sich gegen die Politik der Bundesregierung richteten:29 Der Landtag sprach der Bundesregierung das Misstrauen aus und beauftragte das Landtagspräsidium, dem Bundespräsidenten nahezulegen, die Bundesregierung zu entlassen und den Nationalrat aufzulösen. Außerdem wurde die Landesregierung beauftragt, an den Verfassungsgerichtshof den Antrag zu stellen, die auf Grund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes erlassene Verordnung vom 13. März 1933, betreffend die Anzeigefrist für Versammlungen und die Untersagung von Vereinsversammlungen und öffentlichen Versammlungen, sofort aufzuheben. Das Präsidium des Steiermärkischen Landtages wurde aufgefordert, der Bundesregierung Dollfuß mitzuteilen, dass sie das Vertrauen des steier­ märkischen Landtages nicht besitzt, der die gesetzeswidrige willkürliche Ausschaltung des Nationalrates durch die Bundesregierung nicht billigt. Die Regierung wolle aus der Ablehnung durch die wichtigsten Landtage des Bundesstaates und durch den Bundesrat die Folgerung ziehen und ihren Rücktritt beschließen.30 Außerdem erhob der Landtag schärfsten Protest dagegen, dass die Bundesregierung in einer Zeit schwerster wirtschaftlicher Not Fragen juristischer und formaler Natur zum Vorwand genommen hat, um die Volksvertretung auszuschalten und schwere Verfassungsbrüche damit zu begründen. Er protestiert gegen die Angriffe der Bundesregierung auf die Freiheitsrechte des österreichischen Volkes und fordert die unverzügliche Wiederherstellung des verfassungsmäßigen

242

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Zustandes in Österreich. Er verlangt vor allem die sofortige Aufhebung des Versammlungsverbotes, die Aufhebung der Einschränkung des Vereinsrechtes und die Wiederherstellung der Freiheit der Presse.31 Weiters forderte der Landtag Landeshauptmann Rintelen in dessen Funktion als Mitglied der Bundesregierung auf, alles zu unternehmen, um die unverzügliche Wiederherstellung des verfassungsmäßigen Zustandes zu erwirken, damit schwere Verfassungskämpfe, die den Frieden und die Wirtschaft unserer Republik bedrohen, noch in letzter Stunde verhütet werden. Der steiermärkische Landtag gibt schließlich seiner Überzeugung dahin Ausdruck, dass eine Regierung, die im Parlament und im Volk nur eine Minderheit hinter sich hat, zurückzutreten hätte und dass die Bevölkerung im Wege von Neuwahlen zur Entscheidung aufgerufen werden soll.32 Das am 31. März verfügte Verbot des Schutzbundes und die Waffensuchen sowie der Entzug der Wachebefugnis der städtischen Sicherheitswache Knittelfeld waren Gegenstand zweier dringlicher Anfragen der Sozialdemokratischen Partei an Landeshauptmann Rintelen im Landtag am 7. April 1933.33 In dieser Sitzung traten auch die Abgeordneten des Heimatblocks an Rintelen mit einer dringlichen Anfrage betreffend die sofortige Verhinderung der Judeninvasion nach Österreich34 heran. Landesrat August Meyszner35 wandte sich in der Begründung der Interpellation vor allem gegen die seiner Ansicht nach zu hohe Zahl an Einbürgerungen insbesondere in Wien. Rintelen zog sich mit dem Hinweis, dass diese Materie die Wiener Landesregierung und als übergeordnete Instanz das Bundeskanzleramt betreffe, dem er die Anfrage vorlegen werde, rasch aus der Affäre. Zusätzlich stellte der Heimatblock einen Resolutionsantrag, die Bundesregierung solle aufgefordert werden, unverzüglich geeignete Maßnahmen zu treffen, diese volks-, staats- und wirtschaftsgefährliche Invasion ungetaufter und getaufter Juden sofort und restlos unmöglich zu machen.36 Nachdem die Abgeordneten der Christlichsozialen Partei gegen den

sachlichen Inhalt dieses Entschließungsantrages [...] keine Einwendung37 erhoben (!) und offenbar einzig die sozialdemokratischen Abgeordneten nicht dafür waren – eine inhaltliche Debatte fand nicht statt –, wurde der Antrag mehrheitlich angenommen.38 Am 22. April 1933 erfolgte ein Bündnis zwischen dem Steirischen Heimatschutz unter Konstantin Kammerhofer und der NSDAP.39 Die gemeinsame Front war geschlossen worden, um zusammen gegen den Marxismus und das System zu kämpfen.40 Der Steirische Heimatschutz war maßgeblich an der Förderung der Polarisierung zwischen „Marxisten“ und „Antimarxisten“ beteiligt gewesen. Aus seinem Lager wurde stets von neuem die Gefahr des „Bolschewismus“ beschworen und als Begründung für den eigenen Extremismus verwendet. Im Gegensatz dazu verhielt sich die Sozialdemokratische Partei zurückhaltend. Der 1. Mai – die Bundesregierung hatte alle Kundgebungen untersagt – verlief weitestgehend ruhig. Im Gegensatz dazu setzten die Nationalsozialisten ihren Aktionismus fort: So wurde etwa auf dem Dach der Gießerei in Donawitz am ersten „nationalsozialistischen Maitag“ im Deutschen Reich die Hakenkreuzfahne gehisst, Mitglieder der Ostmärkischen Sturmscharen (einer dem späteren Bundeskanzler Kurt Schuschnigg unterstehenden Wehrformation), die auf dem Weg zu einer Kundgebung waren, wurden in der Nähe von Wildon von Steirischen Heimatschützern und Nationalsozialisten mit f lüssigem Kalk und faulen Eiern und Äpfeln beworfen und ähnliches mehr.41 Mitte Mai hielt sich der deutsche Reichsjustizkommissar Hans Frank in Österreich auf. Bei einer nationalsozialistischen Versammlung in Graz griff er die Regierung scharf an.42 Seine darauf hin erfolgte Ausweisung beantwortete Deutschland am 27. Mai mit der Verhängung der „Tausend-Mark-Sperre“.43 Deutsche Staatsbürger, die nach Österreich ein-

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

reisen wollten, mussten eine Ausreisegebühr von 1.000 Mark entrichten. Der dadurch bedingte starke Rückgang der Einreisenden führte zu einer massiven Schädigung des Fremdenverkehrs.44 Am 21. Mai 1933 erfolgte in der „Wiener Zeitung“ der erste offizielle Aufruf zum Eintritt in die Vaterländische Front,45 die Mitte Mai auch in der Steiermark ihre Tätigkeit begonnen hatte. Der Zulauf war zu Beginn eher spärlich, da sie bloß als weitere Gruppierung im bürgerlichen Lager, neben der Christlichsozialen Partei und den Wehrverbänden, in Erscheinung trat.46 Die Landesleitung litt zudem ständig unter Geldmangel, da die Wiener Zentrale nur sporadisch schwache finanzielle Unterstützung gewährte. Als erster provisorischer Landesleiter fungierte Oberstleutnant (in manchen Quellen Oberst) Stephan (zuweilen: Alfons) SchrommBodenelb; die formelle Führung in der Steiermark hatte Landeshauptmann Rintelen inne. Am 27. November erfolgte schließlich die Übernahme der Geschäfte durch Dr. Alfons Gorbach.47 Einige Verordnungen, die auf Grund des KWEG erlassen worden waren, waren mittlerweile beim Verfassungsgerichtshof angefochten worden. Um eine Auf hebung der Verordnungen und somit die Beendigung des Regimes zu verhindern, entschloss sich die Bundesregierung zur Lahmlegung des Verfassungsgerichtshofes. Durch eine Verordnung vom 23. Mai 1933 wurde das Verfassungsgerichtshofgesetz 1930 dahingehend abgeändert, dass die auf Vorschlag des Nationalrates oder Bundesrates ernannten Mitglieder oder Ersatzmitglieder nur dann an den Sitzungen oder Verhandlungen teilnehmen respektive überhaupt dazu eingeladen werden dürfen, wenn und solange dem Verfassungsgerichtshof sämtliche Mitglieder und Ersatzmitglieder angehören, die auf Grund solcher Vorschläge ernannt worden sind. Da es der Bundesregierung gelungen war, mehrere

243

christlichsoziale Mitglieder und Ersatzmitglieder zum Verzicht auf ihr Amt zu bewegen, und die von den anderen Parteien vorgeschlagenen Richter deshalb ebenfalls ihr Amt verloren, konnten nur mehr die über das Vorschlagsrecht der Bundesregierung vom Bundespräsidenten ernannten Mitglieder zusammentreten (insgesamt elf ). Von diesen traten jedoch ebenfalls drei zurück, sodass das für die Verordnungsprüfung nötige Quorum von acht Stimmführern und dem Vorsitzenden nicht erreicht werden konnte.48 Der Verfassungsgerichtshof war somit durch eine verfassungswidrige Norm, die er nicht prüfen konnte, ausgeschaltet worden. Die Bundesregierung hatte endgültig den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen und sich zum offenen Bruch der Bundesverfassung bekannt! Die Steiermärkische Landesregierung kam mit ihrem – gegen die Stimmen der christ-

Sicherheitsdirektor Franz Zelburg 

Aus: Um Österreichs Freiheit / StLB

244

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

lichsozialen Landesräte gefassten – Beschluss vom 24. Mai 1933, sämtliche NS-Flugzettel, 1933 StLA Notverordnungen, insbesondere zwei (BGBl. 132 und 146/1933), die einen verfassungswidrigen Eingriff in die Steuerhoheit der Länder bedeuteten, beim Verfassungsgerichtshof anzufechten, zu spät.49 Mitte Juni erfolgte in den Bundesländern die Einrichtung von Sicherheitsdirektionen, die dem Bundeskanzleramt/Generaldirektion für öffentliche Sicherheit direkt unterstanden. Dadurch entzog man den Ländern die Sicherheitskompetenzen (Wahrung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, Waffen-, Munitions- und Sprengmittelwesen, Presse-, Vereins- und Versammlungsangelegenheiten). Die Sicherheitsdirektoren hatten somit eine große Machtfülle, was sich in der Folge auch an ihrem öffentlichen Auftreten zeigen sollte.50 Für die Steiermark wurde im Juni 1933 der Bundesheeroberst Ferdinand Pichler ernannt, dem am 1. Jänner 1934 Oberst der Gendarmerie Franz Zelburg nachfolgte.51 Im Februar 1936 übernahm Dr. Viktor KastnerPöhr, der bisherige Bezirkshauptmann von Leibnitz, das Amt.52 Anlässlich eines Attentates auf den Heimwehrführer Richard Steidle wurden Mitte Juni 1933 alle Gauleiter und weitere höherrangige NS-Funktionäre verhaftet und Hausdurch­ suchungen vorgenommen, die aber größtenteils ergebnislos verliefen.53 Nach einem Handgrana-

tenattentat in Krems an der Donau erfolgte schließlich mittels einer Verordnung der Bundesregierung am 19. Juni die Auf lösung der NSDAP sowie des Steirischen Heimatschutzes.54 Es gelang aber nicht, den Nationalsozialismus damit zu besiegen. Das Verbot führte zwar dazu, dass einige höhere NS-Funktionäre nach Deutschland f lohen, wo sie zum Teil in die „Österreichische Legion“ eintraten, ansonsten ging die Partei in den Untergrund. Die nunmehrigen „Illegalen“ setzten ihre Propagandaund Terroraktionen weiter fort, wobei sie – etwa durch die Lieferung von Flugblättern usw. – aus Deutschland massiv unterstützt wurden.55 Die Behörden reagierten mit der Anhaltung von Nationalsozialisten in den Anhaltelagern und dem Einsatz von Putzscharen zur Beseitigung von Schäden.56 Trotz massiver Exekutiveinsätze war man aber nicht in der Lage, der nationalsozialistischen Agita­ tion Herr zu werden. Auf der anderen Seite bestand weiterhin eine tiefe Kluft zum „marxistischen“ Lager. Obwohl es in erster Linie Sozialdemokraten waren, die bereits damals die Verbrechen durch das NS-Regime in Deutschland anprangerten,57 war die Sozialdemokratische Partei für das bürgerliche Lager vornehmlich ein Repräsentant des verachteten (demokratischen) Parteienstaates, wenn nicht sogar ein Vorreiter einer „bolschewistischen“ Revolution.

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Dem Verbot der links- beziehungsweise rechtsextremen Parteien auf Bundesebene – die Kommunistische Partei war bereits am 26. Mai 1933 verboten worden58 – folgten auch mehrere Bundesländer. Nach einer mehr als siebenstündigen Sitzung beschloss der Steiermärkische Landtag am 29. Juli das Ruhen der Mandate der Kommunistischen Partei, der NSDAP, des Steirischen Heimatschutzes und des Heimatblocks.59 Im Gegensatz zu den anderen Ländern bezog man in der Steiermark auch die Kommunistische Partei, die ohnehin nur einige Gemeinderatsmandate besetzte, in das Verbot ein. Die Sozialdemokratische Partei sprach sich zwar dagegen aus, stimmte aber dennoch zu, um nicht das Gesetz als Ganzes zu verhindern.60 Landeshauptmannstellvertreter Reinhard Machold begründete dies als „Notwehrmaßnahme“ gegen den Nationalsozialismus und um den Bestand der Republik zu sichern.61 Das Gesetz wurde schließlich gegen die Stimmen des Heimatschutzes sowie des Nationalen Wirtschafts­ blockes angenommen.62 Ebenfalls beschlossen wurde, den Landeshauptmann zu beauftragen, falls sich durch die Auf hebung der Mandate die Mehrheitsverhältnisse in den Gemeinden grund­legend verschieben sollten, die Gemeindevertretungen aufzulösen und Regierungskommissäre einzusetzen. Diese Resolution, die sich gegen jene Gemeinden richtete, in denen die Sozialdemokraten nunmehr die Mehrheit gehabt hätten, wurde allerdings gegen die Stimmen dieser Partei beschlossen.63 Aufgrund dieses Gesetzes ruhten sämtliche Mandate im Landtag, Bundesrat, Landesschulrat, den Bezirks- und Ortsschulräten, Bezirksund Gemeindevertretungen und sonstigen Behörden und Körperschaften, die auf Grund von Vorschlägen dieser Parteien in diese Vertretungskörper gewählt oder entsendet worden waren oder sich zu diesen Parteien (wenn auch nicht durch ausdrückliche Mitgliedschaft) bekannten. Ebenso betraf das Verbot die Landes-

Landeshauptmann Dr. Alois Dienstleder

245

StLA

regierungs-, Bürgermeister- sowie andere Amtsbefugnisse. Die Landesregierung hatte aber die Möglichkeit, Mandate, die sich auf den Steirischen Heimatschutz oder den Heimatblock bezogen, nicht zum Ruhen kommen zu lassen, wenn eine der in der österreichischen Bundesregierung gegenwärtig vertretenen Parteien durch ihre zuständige steirische Landesparteileitung (Landesleitung) erklärt, dass der Mandatar ihr angehört;64 ein entsprechender Antrag war binnen vier Wochen einzubringen.65 Zur Ergänzung dieser Bestimmungen beschloss der Landtag ein Gesetz, mit dem besondere Maßnahmen gegen staats- und regierungsfeindliche Handlungen von im Dienst- oder Ruhestande befindlichen Landesangestellten (Landeseisenbahnangestellten), Lehrkräften an den öffentlichen Volksund Hauptschulen Steiermarks und Bezirks- und Gemeindeangestellten, sowie deren Hinterbliebenen getroffen wurden.66 Diese Personen durften nicht weiter der Kommunistischen Partei, der NSDAP oder dem Steirischen Heimatschutz angehören. Das Verbot umfasste auch jede andere Betätigung sowie jede geflissentliche Unter-

246

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

stützung staats- und regierungsfeindlicher Bestrebungen der obigen Parteien. Die öffentlichrechtlichen Landesangestellten (Landeseisenbahnangestellten) waren verpf lichtet, einen neuen Diensteid (Gelöbnis) abzulegen,67 andernfalls waren sie so zu halten, als ob sie selbst ihren Austritt aus dem Dienstverhältnis erklärt hätten. Auf eine entsprechende „vaterländische Gesinnung“ der öffentlich Bediensteten und Lehrer legte man größten Wert, denn wer aus öffentlichen Mitteln im Staat Österreich seinen Unterhalt bezieht, der hat das Lob Österreichs zu künden und den Ruhm Österreichs zu singen 68. Dennoch blieben nationalsozialistische Anschläge, Schmieraktionen usw. auf der Tagesordnung. So wurden beispielsweise in der Nacht zum 9. November anlässlich der Zehnjahresfeier der NSDAP in Deutschland zahlreiche Höhenfeuer in Form von Hakenkreuzen entzündet. Brennende Hakenkreuze in Flüssen und auf

Straßen, Flugzettel und Papierböller dokumentierten die rege Tätigkeit der „Illegalen“. Zur selben Zeit hatte der Steiermärkische Landtag einen neuen Landeshauptmann zu wählen. Anton Rintelen, der bereits am 24. Mai 1933 sein Ministeramt zurückgelegt hatte, sollte als Gesandter nach Rom/Roma abgeschoben werden.69 Nach Rintelens formeller Resignation am 10. November 1933 wählte der Landtag am 13. November 1933 Dr. Alois Dienstleder zum Landeshauptmann.70 Die Sozialdemokraten als stimmenstärkste Partei hatten, wohl wissend, dass die bürgerliche Mehrheit im Landtag zu keiner ­Koalition bereit war, verzichtet, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. Christlichsoziale und Landbund hatten sich schließlich auf Dienstleder geeinigt, der als leitender Präsidialbeamter der Landesregierung bis jetzt kaum politisch aktiv gewesen war.

„Brüder, zur Sonne, zur Freiheit ...“71 Der Februaraufstand und seine Folgen Der Aufstand im Februar 1934 kam nicht gänzlich unerwartet. Die dem Kreis um Dollfuß nahestehenden Wehrverbände drängten seit dem Winter 1933 vermehrt zur endgültigen Einführung eines faschistischen Systems.72 Dem aufmerksamen Beobachter der politischen Szene konnte auch in der Steiermark nicht entgangen sein, dass sich der Graben zwischen der Sozialdemokratie und dem „antimarxistischen“ Lager weiter vertieft hatte. So gab etwa Landeshauptmann Dienstleder anlässlich einer Tagung der steirischen Gauführer der Ostmärkischen Sturmscharen am 30. Dezember 1933 „in längeren Ausführungen seiner Freude darüber Ausdruck, dass er in den Ostmärkischen Sturmscharen seine wahren Freunde erkenne, die je-

derzeit an seiner Seite stehen“73. Für große Unruhe in der Arbeiterschaft sorgte die Anfang Jänner beginnende Umorganisation der Kammern für Arbeiter und Angestellte. Um die längst fälligen Kammerwahlen zu verhindern, wurde deren Leitung von der Regierung ernannten „Verwaltungskommissionen“ übertragen und somit die bisherigen sozialdemokratischen Funktionäre, die die Mehrheit innerhalb der Arbeiterschaft repräsentierten, abgesetzt. Es kam daraufhin in mehreren Betrieben zu Warnstreiks, die Polizei löste einige Versammlungen auf.74 Die Bundesregierung sah sich außerstande, der NS-Aktivitäten Herr zu werden und griff zu immer drastischeren Maßnahmen. So war am 10. November 1933 das standrechtliche Ver-

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

247

fahren für Mord, Brandlegung und öffentliche Gewalttätigkeit durch boshafte Beschädigung fremden Eigentums für das ganze Bundesgebiet angeordnet worden. Jeder, der ein solches Verbrechen beging oder daran teilnahm, konnte nunmehr vor ein Standgericht gestellt und zum Tode verurteilt werden.75 Der österreichweit zweite Prozess76 aufgrund dieser Bestimmung fand am 10. und 11. Jänner 1934 in Graz statt. Angeklagt war der geistig minderbemittelte Landstreicher Peter Strauß, dem vorgeworfen wurde, am 7. Jänner in Af lenz bei Leibnitz ein Bauernhaus in Brand gesteckt zu haben.77 Der am Tag nach der Tat Verhaftete, der wegen mehrerer kleinerer Delikte vorbestraft war, war geständig; politi-

sche Motive lagen nicht vor. Aufgrund der Rechtslage fiel die Sache dennoch in die Zuständigkeit des am Wiener Landesgericht für Strafsachen I angesiedelten Standgerichtes. Strauß wurde am 11. Jänner zum Tode verurteilt.78 Das vom Verteidiger eingereichte Gnadengesuch wurde von der Bundesregierung nicht unterstützt und musste deshalb vom Bundespräsidenten abgelehnt werden, das Urteil wurde vollstreckt.79 Diese seit 1918 erste Hinrichtung in Graz begründete man damit, dass aufgrund der starken Zunahme von Brandstiftungen – die jedoch größtenteils nicht mit dem NS-Terror in Zusammenhang standen – eine Abschreckung erfolgen sollte.80

Flugblatt gegen die Hinrichtung von Peter Strauß, 1934

StLA

248

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Über politische Prozesse aus dieser Zeit finden sich in den Zeitungen nur spärliche Hinweise. Dies liegt daran, dass „Berichte über Ereignisse, die staatspolizeiliches Gebiet berühren“, grundsätzlich nicht veröffentlicht werden durften. Einzig Meldungen, die von der „Amtlichen Nachrichtenstelle“ versendet wurden, konnten veröffentlicht werden, aber auch nur in der vorgegebenen Form.81 Da sich die nationalsozialistische Propagandatätigkeit von Dezember 1933 auf Jänner 1934 mehr als verdoppelt hatte, überstellten die Behörden zahlreiche führende sowie besonders radikale Nationalsozialisten in das Anhaltelager Wöllersdorf.82 Dies führte vor allem im Mürztal zu wiederholten Demonstrationen und Ausschreitungen, wie etwa in St. Marein, Kindberg, Krieglach oder Langenwang. Erst größere Gendarmeriekontingente, die zahlreiche Verhaftungen vornahmen und zum Teil auch von der Waffe Gebrauch machen mussten, konnten für Ordnung sorgen.83 Auch in anderen Teilen des Landes nahm die nationalsozialistische Bewegung ständig zu, wie etwa seit Anfang Jänner 1934 in der Landbevölkerung im Gebiet um Radkersburg: Hauptsächlich waren es Anhänger des Landbundes beziehungsweise der Bauernwehr, die mit der NSDAP sympathisierten. Der Bundeskanzler genießt zwar noch immer ihr Vertrauen, doch sind sie scharfe Gegner des Starhemberg als Bundesführer der österreichischen Heimwehr und ist ihre gegenwärtige Einstellung zum Nationalsozialismus hauptsächlich auf diese Gegensätze zurückzuführen. In dieser Haltung scheint [...] besonders die Landbundjugend eine besondere Rolle zu spielen.84 Mit Verordnung vom 12. Jänner 1934 führte die Bundesregierung einen Kostenersatz für Schäden durch Terrorakte ein.85 Der Sicherheitsdirektor (in Wien der Polizeipräsident) konnte sowohl dem Täter als auch anderen Personen, die durch ihr Verhalten die mit Strafe bedrohte Handlung begünstigt oder sie nachträglich gutgeheißen haben, zur Zahlung einer Schadenersatzsumme heranzie-

hen. Dies betraf nicht nur nationalsozialistische Anschläge; waren diese durch Sozialdemokraten oder Kommunisten begangen worden, wurden Angehörige dieser Partei zu Ersatzleistungen herangezogen. Als „Schaden“ wurden nicht nur konkrete Sachschäden angesehen, sondern auch beispielsweise die Kosten für eine notwendige Übersiedlung von Gendarmeriebeamten.86 Die Ersatzvorschreibungen waren, wie der Text der Verordnung zeigt, an keine konkrete Beteiligung beziehungsweise an den Verdacht einer (Mit-) Schuld gebunden, was in der Bevölkerung auf entsprechenden Unmut stieß. In der Steiermark drohte der Sicherheitsdirektor bei Zahlungsverweigerung sogar die Abgabe in ein Anhaltelager an.87 Da dafür keine rechtliche Grundlage bestand, wurde diese im Herbst 1934 über Anweisung der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit zurückgenommen.88 Dennoch nahmen die vornehmlich nationalsozialistischen Terrorakte kein Ende: In der Nacht zum 28. Jänner kam es in etwa zwanzig steirischen Orten zu Anschlägen auf Fernsprechleitungen und öffentliche Amtsgebäude, die größeren Sachschaden verursachten.89 Anfang Februar explodierte unter anderem im Wohnhaus von Landeshauptmann Dienstleder ein Papierböller. Ein ständiger Unruheherd waren außerdem die Universitäten: Ende Jänner 1934 nahmen die Ausschreitungen, wie etwa das Entzünden von Rauchtöpfen oder Papier­ bölleranschläge, dermaßen zu, dass sowohl die Universität wie auch die Technische Hochschule in Graz zwischenzeitlich geschlossen wurden; eine größere Zahl von mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Studenten wies man in das Anhaltelager Wöllersdorf ein.90 Für Unruhe sorgten jedoch nicht nur die Nationalsozialisten. Die regierungsnahen Heimwehrorganisationen drängten auf eine endgültige Abschaffung der Demokratie und die Errichtung eines autoritären Regimes. Ende Jänner kam es zu einem regionalen Putschver-

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

such der Tiroler Heimwehr. In Innsbruck marschierten Heimwehrverbände auf und versuchten, die wichtigsten öffentlichen Gebäude zu besetzen und eine „Landesdiktatur“91 zu errichten. Das rasche Eingreifen durch den Tiroler Sicherheitsdirektor – Anton Mörl hatte den Heimwehrführer Richard Steidle Anfang Jänner abgelöst – verhinderte die Verwirklichung dieser Pläne, die Tiroler Landesregierung sah sich jedoch gezwungen, zumindest einen „beratenden Ausschuss“ der Wehrverbände hinzunehmen.92 Die offene Duldung durch Dollfuß – Vizekanzler Emil Fey war sogar einer der Betreiber der Aktion – führten zu ähnlichen Forderungen in Oberösterreich, Niederösterreich, Kärnten, Salzburg und der Steiermark.93 Auch in diesen Ländern weigerten sich jedoch die Landeshauptmänner, nachzugeben.94 Am 7. Februar 1934 fand eine außerordentliche Führertagung der Ostmärkischen Sturmscharen in Graz statt. Thema des Treffens waren die aktuellen Vorgänge sowie die Frage eines „schärferen Kurses zum endlichen Neubau des Vaterlandes“.95 Am Abend davor hatte der monarchistische Reichsbund der Österreicher eine groß angelegte Kundgebung veranstaltet, an der sich zahlreiche andere, dem Regierungslager zugehörige Organisationen, insbesondere die ­Vaterländische Front (die von Bundeskanzler Dollfuß als „überparteiliche“ politische Organisation zur Zusammenfassung aller „regierungstreuen“ Kräfte geschaffen worden war), der Österreichische Heimatschutz (im Gegensatz zum Steirischen Heimatschutz, welcher sich den Nationalsozialisten angeschlossen hatte) und die Ostmärkischen Sturmscharen, beteiligt hatten. Themen waren vor allem der künftige beruf­ ständische Auf bau des Landes und die Möglichkeit einer Auf hebung der Habsburgergesetze.96 An diesem Abend geriet auch die steirische Landesregierung von Seiten der extremistischen Wehrformationen unter Druck, die letzten Reste der Demokratie abzuschaffen: Als erste über-

Egon Berger von Waldenegg

249

UMJ/MMS

reichte eine Abordnung des Österreichischen Heimatschutzes unter der Leitung von Landesführer Egon Berger-Waldenegg Landeshauptmann Dienstleder ein Memorandum. Um „auch in der Steiermark dem bisher vielfach sabotierten Wollen des Herrn Bundeskanzlers endlich den Weg freizumachen“, forderte man „1. Auflösung der steirischen Landesregierung. 2. Beistellung eines Beirates, entnommen aus dem Heimatschutz, den Ostmärkischen Sturmscharen und dem Katholischen Bauernbund. 3. Bestellung von Vertrauensmännern aus dem Heimatschutz und den Ostmärkischen Sturmscharen bei jeder Bezirkshauptmannschaft. 4. Schonungsloser Kampf gegen Rot. 5. Entfernung aller roten Parteifunktionäre aus allen Ämtern und Körperschaften. 6. Regierungskommissäre in allen Gemeinden, in welchen politische und wirtschaftliche Staatsfeinde am Ruder sind.

250

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

7.  Rücksichtslose Säuberung in allen öffentlichen und öffentlich-rechtlichen Körperschaften der Steiermark. Außerdem wird gefordert: Zuteilung eines Vertrauensmannes des Heimatschutzes zum Regierungskommissär der Alpine Montangesellschaft, Erweiterung des Wirkungskreises des Regierungskommissärs auf alle Betriebe der Alpine Montangesellschaft und der Graz-Köf lacher Bahn“.97 Dienstleder nahm die Forderungen des Österreichischen Heimatschutzes unter Hinweis auf seinen Eid auf die Bundes- und Landesverfassung zur Kenntnis und sicherte zu, sich wegen der Forderungen mit der Bundesregierung, der Landesregierung sowie dem Landtag in Verbindung zu setzen.98 Eine Stunde später erschien eine Abordnung der Ostmärkischen Sturmscharen unter Führung von Landesleiter Viktor Kollars beim Landeshauptmann, die ebenfalls ihr Forderungsprogramm überreichte: „1. Einsetzung von überparteilichen Ausschüssen aus Mitgliedern vaterlandstreuer Verbände bei allen nach dem Proporz gewählten Körperschaften: Landesregierung, Landtag, Bezirksvertretung, Gemeinden, Landesschulrat, Bezirks- und Ortsschulrat und bei allen Hauptkörperschaften. 2. Diese Ausschüsse haben in allen politischen, Personal- und Disziplinarangelegenheiten das volle Mitbestimmungsrecht. 3. In Fällen, wo diese öffentlichen Körperschaften das Mitbestimmungsrecht durch ihr Verhalten verneinen, ist an deren Stelle ein Regierungskommissär zu setzen. 4. Einstellung eines dem Bundeskommissär für Personalangelegenheiten unterstellten Kommissärs für alle Personal- und Disziplinarangelegenheiten der Länder, welcher die unverzügliche Säuberungsaktion bei allen öffentlichen Angestellten durchzuführen hat. 5. Das Schutzkorps ist zur Gänze aufzubieten zur Unterstützung der notwendigen Säuberungsaktion der Bundesregierung und Durchführung der bereits erlassenen Verordnungen. 6. Säuberung der Hoch- und Mittel-

schulen sowie der gleichgestellten Lehranstalten von staatsfeindlichen Lehrern und Schülern. 7.  Sofortige organisatorische Regelung der vaterländischen Jugenderziehung. 8. Auf lösung aller getarnten, sich vaterlandsfeindlich betätigenden Jugendorganisationen ... beziehungsweise Einsetzung von staatlichen Aufsichtsorganen. 9. Schaffung von wirtschaftlichen Zwangsverbänden in allen Berufszweigen unter Einschluss der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, deren Leitung [sic] die Wirtschaftsführung im vaterländischen Geist zu überwachen haben und für alle sich vaterlandsfeindlich betätigenden Handels- und Gewerbetreibenden den Gewerbeentzug durchzuführen berechtigt sind. 10. Bildung von Arbeitsnachweisen der vaterländischen Organisationen im Rahmen der Vaterländischen Front, die sowohl von öffentlichen als auch von privaten Unternehmungen ausschließlich in Anspruch zu nehmen sind. 11. Durchführung der Kontrolle bei den Industriebetrieben durch Einsetzen von Kommissären. 12. Durchführung der Reform der Sozialversicherung mit besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Bauernstandes. 13. Energische Durchführung der begonnenen Entschuldungsaktion des Bauern- und Beamtenstandes und weitere Herabsetzung des Zinsfußes“.99 Auch die Landesleitung der Vaterländischen Front schloss sich den Forderungen des Heimatschutzes sowie der Ostmärkischen Sturmscharen an. Landesleiter Dr. Alfons Gorbach, der an der Endredaktion der Forderungen der Ostmärkischen Sturmscharen selbst teilgenommen hatte, drückte dies in einem Brief an Bundeskanzler Dollfuß folgendermaßen aus: In Kenntnis der Stimmung der vaterlandstreuen Bevölkerung und unter dem Eindrucke der vielen Resolutionen, die aus den verschiedensten Teilen der Steiermark mir zukommen, bitte ich Eure Exzellenz eindringlichst und nachdrücklichst die Durchführung des Programmes vom 11. September zu beschleunigen. Das restlose Durchgreifen des autoritären Regimes in den Ländern

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

scheitert an den noch bestehenden Länderparlamenten und dem unglückseligen Proporz, der jede Staatsführung schon mit Rücksicht auf die Zusammen­setzung der Landesregierung behindert, ja geradezu sabotiert. Auf allen vaterländischen Kundgebungen und auf allen bisher von mir abgehaltenen Führerappellen fand nichts mehr Resonanz und zustimmendes Echo als die Forderung nach ehebaldiger Auflösung der Parteien. Dies geht so weit, dass aus den Reihen der katholischen Bauernschaft Zuschriften an uns ­gelangen, in denen wohl vaterländische Kundge­bungen gewünscht werden, aber um Gottes willen keine ­Parteiversammlungen mit Abgeordneten als Redner [...].100 Auch eine Delegation des Landbundes und der Nationalständischen Front mit Landesrat Anton Höpf l und Kammerpräsident Karl Hartleb an der Spitze sprach beim Landeshauptmann vor. Die Abordnung wandte sich mit Nachdruck gegen die Forderungen der Wehrverbände und verlangte die strikte Einhaltung der Verfassung. Dienstleder erklärte, „wie er schon den Abordnungen des Heimatschutzes und der Ostmärkischen Sturmscharen geantwortet hatte, dass er als beeideter Landeshauptmann auf dem Boden der Verfassung stehen müsse“.101 Am Abend des 10. Februar 1934 begannen schließlich im Bundeskanzleramt die Verhandlungen der Bundesregierung mit den Landesführern der Wehrverbände sowie der Führung der Vaterländischen Front über die Einführung eines autoritären Systems auch in den Bundesländern. Die Heimwehrführung rechnete mit einem baldigen Abschluss in den Grundsatzfragen, mit den Landeshauptleuten sollte dann nur mehr die konkrete Durchführung besprochen werden.102 Bereits am 8. Februar hatte der Heimwehrführer und in der Bundesregierung für das Sicherheitswesen zuständige Minister Vizekanzler Fey weitere Maßnahmen gesetzt: Größere Teile des freiwilligen Schutzkorps103 wurden aufgeboten und in Gebiete mit „besonders staatsfeindlicher Tätigkeit“ verlegt;104 in der Steiermark waren das etwa 1.500 Mann, davon 1.000

251

Heimatschützer.105 Damit einher gingen Verhaftungen zahlreicher sozialdemokratischer Funktionäre und Hausdurchsuchungen.106 Am 12. Februar setzten sich Linzer Schutzbündler einer Waffensuche zur Wehr. Die Feuergefechte in Linz bewogen den sozialdemokratischen Parteivorstand in Wien, der von den Ereignissen selbst überrascht worden war, schließlich zur Ausrufung des Generalstreiks und zur Alarmierung des Republikanischen Schutzbundes. Die Kampf handlungen, die vor allem von Mitgliedern des Schutzbundes ausgingen, wie auch die Streiks blieben jedoch auf nur wenige Gebiete beschränkt. Neben Wien und Oberösterreich kam es vor allem in Graz und den obersteirischen Industriegebieten zu bewaffneten Auseinandersetzungen.107 Noch am selben Tag verhängte der Sicherheitsdirektor das Standrecht für die Steiermark.108 Zu Mittag des 12. Februar brachen auch in Bruck an der Mur die Kämpfe aus; in mehreren Betrieben traten die Arbeiter in den Streik. Bewaffnete Schutzbündler aus Bruck sowie Orten der Umgebung besetzten die wichtigsten Plätze der Stadt, unter anderem den Schlossberg, und versuchten die Gendarmeriekaserne zu stürmen. Ebenso wurden das Gebäude der Höheren Forstlehranstalt, wo Angehörige von regierungsnahen Wehrverbänden untergebracht waren, sowie das Verwaltungsgebäude der Firma Felten und Guilleaume, wo sich ein Gendarmeriekontingent verschanzt hatte, belagert.109 Koloman Wallisch, der sich als Landesparteisekretär in Graz befand, war, obwohl er keine Leitungsfunktion im Schutzbund hatte, nach Bruck gekommen und hatte die politische Organisation übernommen. Das eigentliche militärische Kommando hatte, da der Brucker Parteisekretär Hermann Lackner seit Mitte Jänner in Frohnleiten im Gefängnis saß,110 Hubert Ruhs (tw. Schreibweise Ruß). Es kam an mehreren Punkten des Stadtgebietes zu blutigen Kämpfen, von Graz anrückendes Bundesheer

252

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

traf bei Pernegg auf Widerstand. Nachdem sich in den Abendstunden Militäreinheiten der völlig im Dunkeln liegenden Stadt – der Strom war aufgrund des Streiks außer im Landeskrankenhaus abgeschaltet worden – genähert hatten, verließen die Schutzbündler am Morgen des 13. Februar ihre Stellungen.111 Auch in Kapfenberg wurde der Gendarmerieposten von Schutzbündlern belagert,112 die sich am Nachmittag des 13. Februar zurückzogen, als es zu Feuergefechten mit starken Heimwehrformationen kam, die aus dem Mürztal herangerückt waren. Viele Schutzbündler wurden – zum Teil auf der Flucht in die Berge und nach Feuergefechten – verhaftet, manche konnten sich eine Zeit lang in der Umgebung versteckt halten. Auch die anfänglich rund 400 Mann starke Gruppe um Koloman Wallisch, die sich durch die Berge nach Süden durchschlagen wollte, zerstreute sich aufgrund der schlechten Witterungsbedingungen allmählich. Einige der Männer, die von der Gendarmerie festgenommen wurden – zum Teil kam es zu Kämpfen –, stellte man sofort vor das Standgericht. So wurden etwa Urban Fluch zu 15, Franz Hauk und Franz Silly zu je zehn Jahren schwerem Kerker verurteilt.113 Von der Verhängung der Todesstrafe sah das Standgericht mit der Begründung ab, dass „der Führer Wallisch, der als Verführer der Leute aufzufassen ist, sich selbst der Strafe durch die Flucht entzogen hat“.114 Für letzteren setzte man ein Kopfgeld von 1.000 Schilling aus, das in der Folge auf 5.000 Schilling erhöht wurde.115 Da das Gefängnis des Bezirksgerichtes Bruck an der Mur sowie die Gendarmeriekaserne mit Gefangenen überfüllt waren, wurden auch das Kinderfreundeheim in der Grabenfeldstraße sowie der Stadtsaal als Behelfsgefängnisse verwendet.116 In den folgenden Wochen wurden über 200 Teilnehmer an den Kämpfen im Raum Bruck verurteilt, der Großteil der Strafen betrug zwischen sechs Monaten und dreieinhalb Jahren.117 Insgesamt kamen während der Feb-

ruarkämpfe im Bezirk Bruck elf Schutzbündler, zwei Gendarmen, ein Soldat, ein Mitglied des Schutzkorps sowie drei Unbeteiligte (insgesamt achtzehn Personen) ums Leben, 40 Menschen wurden schwer verwundet.118 In Graz besetzten nach der Benachrichtigung vom Ausbruch der Kämpfe in Linz Polizeieinheiten die sozialdemokratische Parteizentrale sowie das ehemalige Schutzbundheim. Die Sicherheitsdirektion Steiermark veranlasste die Verhaftung aller prominenten sozialdemokratischen Funktionäre und umfangreiche Hausdurchsuchungen.119 Im Laufe der Woche nahm man mehrere hundert Personen fest, die in das Landesgericht Graz oder in das Anhaltelager Messendorf gebracht wurden. Ab Anfang März stand ein weiteres Lager in Waltendorf zur Verfügung.120 Auch in der Landeshauptstadt zeigte sich rasch, dass dem Aufruf zum Generalstreik nur wenige folgten. Konzertierte Aktionen des Schutzbundes blieben aus, es kam aber zur Erstürmung einiger Wachzimmer der Polizei, wie etwa in der Hackhergasse. Vier Beamte fanden beim Entsatzversuch den Tod.121 Ein weiteres Zentrum war das Gelände um den Frachtenbahnhof, insbesondere das Schienenwalzwerk.122 Heftige Kämpfe entbrannten in einigen umliegenden Gemeinden, insbesondere in Eggenberg, Straßgang und Gösting. Der Eggenberger Gendarmerieposten wurde von Schutzbündlern besetzt, vor allem um das Gebäude des Konsumvereins, das erst nach Artilleriebeschuss von Bundesheereinheiten gestürmt wurde, kam es zu heftigen Feuergefechten.123 Abgesehen von einigen kleineren Schusswechseln waren die Kämpfe im Grazer Raum jedoch am Nachmittag des 13. Februar beendet.124 Am Tag darauf ließ der Sicherheitsdirektor amtlich verlautbaren, dass der Aufruhr niedergekämpft und Ruhe und Ordnung wiederhergestellt seien.125 Dennoch wartete man mit der Auf hebung des Standrechtes zu, da man zuvor noch Koloman Wallisch habhaft werden wollte,

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

um ihn vor ein Standgericht stellen zu können – im Rahmen eines ordentlichen Gerichtsverfahrens wäre kein Todesurteil möglich gewesen.126 Am 17. Februar wurde die Haussperre wieder mit 20 Uhr festgesetzt, die Gasthäuser durften bis 24 Uhr geöffnet haben, der normale Kinound Theaterbetrieb wurde wieder aufgenommen.127 Erst am 21. Februar erfolgte allerdings die gänzliche Auf hebung des Standrechtes.128 Am 14. Februar trat in Graz das erste Standgericht zusammen. Angeklagt waren 14 „aufrührerische Schutzbündler“, die in Straßgang einen Feuerüberfall auf Gendarmen verübt hatten, bei dem es einen Toten und sechs Schwerverletzte gegeben hatte. Der Prozess wurde aber an ein ordentliches Gericht verwiesen, da die Tat vor der Bekanntmachung des Standrechtes begangen worden war.129 Am 17. Februar 1934 stellte man Josef Stanek in Graz vor das Standgericht. Der Sekretär der Kammer für Arbeiter und Angestellte sollte bereits am 12. Februar verhaftet werden, konnte aber entkommen, wobei es zu einer Schießerei kam.130 In der Nacht auf den 13. Februar 1934 hielt er sich im Schienenwalzwerk auf, am nächsten Tag wurde er in seiner Wohnung verhaftet. Aufgrund seines Aufenthaltes im Werk, aus dem zwar geschossen worden war, dem Angeklagten aber keine aktive Teilnahme nachgewiesen werden konnte, verurteilte ihn das Standgericht wegen Aufruhrs zum Tode; ein Mitangeklagter erhielt eine 15-jährige Kerkerstrafe, ein weiterer wurde der ordentlichen Gerichtsbarkeit überwiesen.131 Justizminister Schuschnigg lehnte einen Gnadenantrag ab, weil es sich bei Stanek um einen Führer handelt, und nach einer Mitteilung des Landeshauptmannes in der Steiermark die abschreckende Wirkung noch nicht erreicht sei.132 Am 18. Februar konnte schließlich Koloman Wallisch verhaftet werden.133 Bereits am darauf folgenden Tag stellte man ihn zusammen mit Hubert Ruhs, der den Brucker Schutzbund befehligt hatte, vor das Standgericht in Leoben.

253

Aktenvermerk zur Hinrichtung von Koloman Wallisch, StLA 20. Februar 1934

Beide wurden vom Gericht für schuldig befunden, beim Aufruhr am 12. und 13. Februar 1934 in Bruck/Mur tätig gewesen zu sein, wobei es bei der damals entstandenen Zusammenrottung durch die Widerspenstigkeit gegen die von der Behörde vorausgegangene Abmahnung und durch die Vereinigung wirklich gewaltsamer Mittel soweit gekommen ist, dass zur Herstellung der Ruhe eine außerordentliche Gewalt angewendet werden musste.134 Beide Männer wurden deshalb zum Tode verurteilt. Wallisch wurde kurz vor Mitternacht gehängt, Ruhs zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe begnadigt.135 Wallischs Verurteilung war weniger wegen seiner aktiven Teilnahme am Aufstand erfolgt, sondern in erster Linie wegen seiner Position in der Arbeiterbewegung.136 Ebenfalls zum Tode verurteilt wurde von einem Standgericht in Graz am 26. Februar Friedrich Gollner, der am Überfall auf die Polizeiwachstube in der Hack-

254

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

hergasse beteiligt war. Gollner wurde aber zu zwanzig Jahren schwerem Kerker begnadigt.137 Der Großteil der Verfahren gegen Teilnehmer des Aufstandes fand vor den ordentlichen Gerichten statt. So fanden am Kreisgericht Leoben mit dem 9. März beginnend vier Wochen lang ununterbrochen Verhandlungen statt.138 Am 21. April 1934 standen Paula Wallisch, die beim Ausbruch der Kämpfe mit ihrem Mann nach Bruck an der Mur gefahren war, sowie Maria Fertner, eine Brucker Sozialdemokratin, vor Gericht. Beide hatten sich wegen Hochverrats zu verantworten, da sie während des Schutzbundaufstandes maßgeblich für die Verpf legung der Kämpfenden gesorgt hatten. Das Urteil lautete auf je ein Jahr schweren Kerker, Paula Wallisch bekam jedoch aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes – sie war psychisch und körperlich völlig erschöpft – Strafaufschub, Maria Fertner ebenfalls.139 Noch am 12. Februar hatte die Bundesregierung der Sozialdemokratischen Partei jede Betätigung in Österreich verboten. In der Steiermark mussten 17 Abgeordnete des Landtages sowie vier Mitglieder der Landesregierung ausscheiden.140 Am 26. Februar beschloss der nur noch aus 25 Abgeordneten bestehende Landtag eine den gewandelten politischen Verhältnissen Rechnung tragende Abänderung der Landesverfassung: Die Zahl der Mitglieder der Landes­ regierung wurde auf fünf herabgesetzt, Regierungsbeschlüsse unterlagen dem absoluten Veto des Landeshauptmannes.141 Der Grazer Vizebürgermeister Hans Schmid hatte bereits am 12. Februar von Bürgermeister Vinzenz Muchitsch, der zu diesem Zeitpunkt im Krankenbett lag, die Geschäfte der Stadt übernommen, die sozial­ demokratischen Stadträte wurden abgesetzt.142 Am 24. Februar trat der Grazer Gemeinderat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, um einen neuen Bürgermeister zu wählen sowie eine Änderung der Gemeindeordnung zu beschließen.143 Da die 24 sozialdemokratischen

sowie das nationalsozialistische Mandat unbesetzt waren, fanden sich nur die 15 christlich­ sozialen Gemeinderäte sowie die sieben des nationalen Wirtschaftsblocks ein. Schmid wurde zum Bürgermeister gewählt, bereits am 17. März löste die Landesregierung jedoch den Gemeinderat auf, um die Einführung des ständischautoritären Systems in die Wege zu leiten.144 Nicht nur in Graz setzte man die sozialdemokratischen Mandatare ab, sondern in allen Gemeinden mit sozialdemokratischen Bürgermeistern wurden Regierungskommissäre ernannt. So übernahm etwa in Bruck an der Mur der christlichsoziale Parteisekretär und Funktionär der Ostmärkischen Sturmscharen Dr. Peter Pachler die Amtsgeschäfte der Stadt und traf „zahlreiche Verfügungen zum Neuauf bau. – Vom Rathaus weht wieder die rot-weiß-rote und die weißgrüne Fahne. Die Beamtenschaft der Stadtgemeinde Bruck ist der Vaterländischen Front beigetreten“.145 In der Folge wurden (nicht nur) in Graz Straßen und Plätze mit „sozialdemokratischem Bezug“ umbenannt, wie etwa der Freiheitsplatz wieder in Franzensplatz.146 Neben der Annullierung sämtlicher sozialdemokratischer Mandate und Funktionen löste die Bundesregierung auch die sozialdemokratischen Gewerkschaften, Genossenschaften und Vereine auf.147 In Folge dessen verloren auch die Betriebsräte und Arbeiterkammerfunktionäre ihre Mandate, die Kollektivverträge wurden aufgelöst.148 Als „Ersatz“ schuf man mit Verordnung vom 2. März 1934 den Österreichischen Gewerkschaftsbund. Unbeeindruckt vom Aufstand, offenbar vielmehr bestärkt in der Richtigkeit des „antimarxistischen“ Weges, gab die Bundesleitung der Vaterländischen Front an alle Landes- und Bezirksorganisationen die Weisung aus, am 4. März 1934, dem „Jahrestag der Selbstausschaltung des Parlaments“, große Massenkundgebungen zu veranstalten, „in denen die Bedeutung jenes historischen Augenblicks [...] eingehend gewürdigt werden wird“.149 Mit großem Pomp wurde am

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

5. März von Fürstbischof Ferdinand Pawlikowski ein Kruzifix für das Amtszimmer des Grazer Bürgermeisters geweiht.150 Andererseits bemühte man sich, auf die „Verlierer“ zuzugehen. Am 14. März 1934 erfolgte die Gründung der Landesstelle der Aktion „Volkshilfe – Alwine Dollfuß“ mit einem Spendenaufruf durch die Frau des Bundeskanzlers, Bischof Pawlikowski sowie Landeshauptmann Dienstleder. Letzterer betonte in seiner Rede, dass nach den Februarereignissen nicht Rache und Vergeltung, sondern christliche Menschen- und Nächstenliebe notwendig sei.151 In der Folge bemühten sich verschiedene Institutionen, wie etwa die christlichen Gewerkschaften, die Arbeiterschaft für den neuen Staat zu gewinnen.152 Bundeskanzler Dollfuß bestellte Ernst Karl Winter zum Vizebürgermeister von Wien, der eine Verständigung mit der Arbeiterschaft herbeiführen sollte. Die Aktion scheiterte aber schlussendlich an der „faschistischen Intoleranz und Dummheit der Heimwehrkreise, aber auch jener Regierungsfunktionäre, die eine Integration auf dem Wege einer antimarxistischen Umerziehung der Umworbenen erzielen wollten“.153 Die Identifika­tion der Arbeiterschaft mit der katholisch-ständisch-autoritären Ideologie blieb aus, die Kernschichten blieben dem Gedankengut der Sozialdemokratie treu, wenngleich sich die Mehrheit jeglicher weiterer aktiver politischer Betätigung enthielt. Der Eintritt in „vaterländische Organisationen“ erfolgte oft nur aufgrund der Sorge um den Arbeitsplatz oder um diese zu unterwandern.154 Einige Teile der sozialdemokratischen Arbeiterschaft wandten sich nach den Februarkämpfen den Kommunisten, Teile den Nationalsozialisten zu. Auch in den obersteirischen Industriegebieten konnte der „autoritäre Ständestaat“ in der Folge nur Teile der Bevölkerung ansprechen. So gingen interne Schätzungen der Vaterländischen Front im August 1937 davon aus, dass in den Städten Bruck an der Mur und Kapfenberg mit einer Gesamtbevölkerung von rund 25.000

255

Menschen 7.600 Mitglieder waren, davon 1.900 verlässlich vaterländisch gesinnt. Im Gegensatz dazu wurden in beiden Städten 1.000 Personen als „verlässlich vaterländisch“ „nicht verlässlich vaterländisch“

1900

4300

5700

„scharf braun“ „braun“ „scharf rot“ 6800

1000

„rot“ „neutral“

3700 1600

Diagramm zur Gesinnung der VF-Mitglieder in Bruck an der Mur und Kapfenberg, 1937

scharf braun, 3.700 als braun, 1.600 als scharf rot und 6.800 als rot qualifiziert.155 Die nach dem Ende der Kämpfe wiederaufgenommenen Verhandlungen der Bundesregierung mit den Wehrverbänden führten zur Umbesetzung der Landesregierungen, was nun aufgrund des Ausscheidens der sozialdemokratischen Landesräte natürlich leicht möglich war. In nahezu allen Bundesländern – außer Vorarlberg sowie Wien, wo ein Regierungskommissär eingesetzt wurde – übernahmen Mitglieder des Österreichischen Heimatschutzes, der Ostmärkischen Sturmscharen usw. leitende Funktionen, bestärkt durch ihren Anteil an der Niederschlagung des Aufstandes, den sie lautstark und in oft übertriebener Weise betonten.156 Außerdem verlangte der Heimatschutz, alle nunmehr frei werdenden Stellen im öffentlichen Dienst ausnahmslos mit Mitgliedern der „vaterländischen militanten Formationen“ zu besetzen, „die sich dieses Recht mit dem Blut ihrer Mitglieder erkämpft haben, die sich mit beispiellosem Opfermut den roten Aufrührern entgegenstellten“.157 In der Steiermark kam es wie in Tirol anlässlich der Regierungsumbildung zu Schwierig-

256

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

keiten, da es Streitigkeiten zwischen den einzelnen Wehrverbänden gab, insbesondere zwischen dem Österreichischen Heimatschutz und den Ostmärkischen Sturmscharen,158 die sich zudem beide von den noch amtierenden christlichsozialen Politikern benachteiligt fühlten. Die Landesführer (Egon Berger-Waldenegg – Heimatschutz und Viktor Kollars – Ostmärkische Sturmscharen) protestierten in einem Telegramm an den Bundeskanzler scharf gegen die „widerlichen Packeleien“ sowie das „Gefeilsche um Stellen und Proporz“. Dollfuß wurde aufgefordert, auch in der Steiermark „endlich Ordnung“ zu machen, ansonsten würden die Wehrverbände dies übernehmen.159 Grund für die Erregung war, dass zwar ein Vertreter des Österreichischen Heimatschutzes, aber keiner der Ostmärkischen Sturmscharen (nämlich Kollars selbst) in die Landesregierung aufgenommen werden sollte. Andererseits wurde vom Heimatschutz eine Erhöhung der Anzahl der Landesräte aus „politischen Gründen“ ausdrücklich abgelehnt. Schließlich stimmte man doch einem zusätzlichen Regierungssitz für Kollars zu, nicht aus „politischen“, sondern aus „berufständischen Gründen“.160 Aber auch die Vaterländische Front bestand auf ihrer Funktion als Trägerin der einheitlichen politischen Willensbildung in Österreich. Ihr sollte die bislang durch die Parteien ausgeübte Vermittlung zwischen der Bevölkerung und der Verwaltung, die Besetzung politischer Vertretungskörper, die Ernennung von Regierungskommissären usw. zukommen. Die Vaterländische Front beanspruchte, wie Landesleiter Gorbach betonte, für sich das alleinige Recht, und sie muss es nach dem Willen ihres Führers beanspruchen, von der Behörde gehört und in allen jenen Fällen berücksichtigt zu werden, in denen das Einvernehmen mit den bisherigen politischen Organisationen vorgeschrieben, üblich oder zweckmäßig war.161 Aufgrund dieser Auseinandersetzungen mit den und innerhalb der Wehrverbände162 sah sich der Landtag zu einer neuerlichen Änderung der

Landesverfassung gezwungen. Mit Gesetz vom 15. März 1934 wurde die Landesregierung um einen zweiten Landeshauptmannstellvertreter ergänzt. Zudem kam dem Landtag nur mehr das Wahlrecht des Landeshauptmannes und zweier Landesräte zu, die übrigen drei ernannte der Landeshauptmann selbst!163 Welche beiden Landesräte als Landeshauptmannstellvertreter fungierten, oblag ebenfalls seiner Entscheidung.164 Landeshauptmann Dienstleder ernannte in der Folge Egon Berger-Waldenegg, Viktor Kollars sowie Peter Krenn, der als Vertreter des Freiheitsbundes gewissermaßen die Arbeiterschaft repräsentierte, zu Landesräten.165 In der Landesregierung blieben außerdem noch Josef Hollersbacher (Christlichsoziale Partei) und der Landbündler Anton Höpf l; der christlichsoziale Landesrat Josef Pichler war am 15. März zurückgetreten.166 Als seine Stellvertreter nominierte der Landeshauptmann Berger-Waldenegg sowie Hollersbacher. Berger-Waldenegg wurde nach seiner Ernennung zum Justizminister im Juli 1934 durch Friedrich Pribitzer ersetzt. Nachdem Ende März 1934 auch der neue Stadtrat für die Landeshauptstadt ernannt worden war,167 wurden am Abend des 29. März auf dem Landhaus wie auch dem Rathaus neben der österreichischen und steirischen Fahne auch die Fahnen des Österreichischen Heimatschutzes, der Ostmärkischen Sturmscharen sowie des Freiheitsbundes gehisst, da diese Gruppierungen nunmehr sowohl in der Landes- wie auch der Stadtregierung vertreten waren. Die genannte Aktion wurde unter den Augen zahlreicher Zuseher und dem Aufmarsch von Ehrenkompanien propagandistisch aufgewertet,168 konnte aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung außerhalb des von einer herrschenden Minderheit – sei es zu Recht oder nicht – definierten „Verfassungsbogens“ stand. Solche „vaterländischen Veranstaltungen“ beeindruckten die politischen Gegner, vor allem

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

die Nationalsozialisten, jedoch nur wenig. Nachdem die Nationalsozialisten sich während und nach den Februarereignissen völlig ruhig verhalten hatten, nahm ihre Propagandatätigkeit ab März 1934 wieder zu. Insbesondere anlässlich des Geburtstags Adolf Hitlers am 20. April kam es zu einer förmlichen Agitationswelle.169 So wurden etwa in Graz brennende Hakenkreuze in die Mur geworfen, bei deren Entfernung eine Zille

257

kenterte und ein Polizist ertrank.170 Am 10. Mai 1934 gab es in der Nähe von Knittelfeld ein weiteres Todesopfer: Nationalsozialisten hatten an der Starkstromleitung eine große Hakenkreuzfahne über die Mur gespannt. Zwei Männer des Freiwilligen Schutzkorps, die sie abnehmen wollten, verursachten einen Kurzschluss, einer der Männer kam ums Leben.171

„Das ist mein Österreich ...“172 Die Maiverfassung 1934 Am 11. September 1933 hatte Bundeskanzler Dollfuß in seiner „Trabrennplatzrede“ den grundsätzlichen berufständischen Auf bau des Staates angekündigt.173 Mit der „Maiverfassung“

1934 sollte Österreich nunmehr ein autoritärer Staat auf ständischer Grundlage werden.174 Zu den Verfassungsfeiern in Wien war auch eine italienische Motorradstaffel eingeladen, die al-

Verfassungsfeier am Grazer Franzensplatz (Freiheitsplatz), 1. Mai 1934

UMJ/MMS

258

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

lerdings Schwierigkeiten bei der Anreise hatte. Die rund 150 (manche Quellen sprechen von 170) „faschistischen Motorfahrer“ erreichten ihr Ziel mit großer Verspätung, offiziell aufgrund eines Motordefektes.175 Tatsächlich aber hatten Nationalsozialisten in Kärnten und der Steiermark mehrmals die Straße mit Hufnägeln bestreut.176 Pressemeldungen zufolge wurden die Motorradfahrer „auf der ganzen Strecke von der Bevölkerung umjubelt“,177 das Landesgendarmeriekommando vermerkt allerdings in einem Bericht, dass zwischen Leoben und Niklasdorf von einem unbekannten Radfahrer Nägel gestreut worden waren, ebenso bei Hafendorf, St. Lorenzen und am Semmering, die zum Teil vor der Durchfahrt durch Putzscharen beseitigt werden konnten.178 In der Nähe von Langenwang wurde die Kolonne mit Steinen beworfen. Die Italiener hielten an und schossen wild um sich, wobei ein Unbeteiligter schwer verletzt wurde.179 Auch bei der Rückfahrt gab es Schwierigkeiten, die Kolonne kam mit fünfstündiger Verspätung in Graz an, da man nur auf Nebenstraßen gefahren war. Von Graz ab „mussten die italienischen Faschisten wie Gefangene bis zur Grenze transportiert werden, da man Attentate und Anschläge befürchtete“.180 Bereits am Vorabend der Verkündung der neuen Verfassung fanden zahlreiche Feiern statt, wie etwa im Grazer Stephaniensaal, zu der Vizekanzler Fey eigens mit dem Flugzeug aus Wien angereist war.181 Am Vormittag des 1. Mai folgte eine große Kundgebung der Vaterländischen Front auf dem Franzensplatz, deren Höhepunkt die Übertragung der Rede von Bundeskanzler Dollfuß vom Wiener Jugendtag war. Anschließend erfolgte eine Parade des Bundesheeres sowie der Wehrverbände am Opernring.182 Nicht nur in Graz, sondern auch in vielen anderen steirischen Städten fanden „Verfassungsfeiern“ statt,183 aber auch Gegendemonstrationen von Nationalsozialisten. Bei der Kundgebung der Vaterländischen Front in Le-

oben benahmen sich Schüler des Gymnasiums derart skandalös, dass ihre regierungsfeindliche Einstellung hiedurch offen zutage kam und die Gendarmerie einschreiten musste.184 Während die Wehrverbände wie auch die Vaterländische Front krampf haft versuchten, die Bevölkerung für ihre Sache zu gewinnen,185 nutzten die Nationalsozialisten jede Möglichkeit zur Provokation des Regimes. So musste Ende Mai 1934 von der Bundespolizeidirektion das bereits im Juli 1933 ausgesprochene Verbot des Tragens von Kornblumen (ein altes Symbol der Deutschnationalen seit der Monarchie) in Erinnerung gerufen werden, da diese als Ersatz für die (ebenfalls verbotenen) Parteiabzeichen fungierten.186 Unter anderem riefen die Nationalsozialisten die Bevölkerung zum „Raucherstreik“ auf, um die Staatsfinanzen durch den Einnahmenentgang aus dem Tabakmonopol zu schwächen, „vaterländisch eingestellte“ sowie jüdische Geschäftsleute wurden boykottiert.187 Sprengstoffanschläge gegen Bahnanlagen (vor allem zu Pfingsten, um Touristen abzuschrecken), Telephonleitungen, Elektrizitäts- und Wasserwerke, öffentliche Gebäude, Verbandslokale der Vaterländischen Front, katholische Vereinshäuser und Wohnungen politischer Funktionäre und regierungstreuer Beamter erfolgten zumeist schwerpunktmäßig während mehrerer Tage in einem bestimmten Bundesland. So erfolgten in den letzten beiden Juniwochen zahlreiche Anschläge auf die Bahnlinien Mürzzuschlag–Spielfeld und Bruck an der Mur–Klagenfurt.188 Während die nationalsozialistischen Anschläge in der Steiermark im April 1934 nur einen Sachschaden von rund 1.650 Schilling verursacht hatten, betrug dieser im Mai 20.000 Schilling, im Juni 52.000 Schilling; im Juli und August (Putsch) rund 203.000 Schilling.189 Die Anschläge bedeuteten aber auch eine schwere Störung für den Fremdenverkehr und hatten somit massive Auswirkungen auf die ohnedies bereits schlechte wirtschaftliche Lage im Land.190

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Tragisch endete ein am 23. Juni 1934 verübter Sprengstoffanschlag im Kapfenberger Pfarrhof, bei dem der Stadtkaplan Franz Eibel tödliche Verletzungen erlitt.191 Max Kalcher und Karl Stromberger wurden deshalb am 20. September 1934 in Leoben vom Schwurgericht zum Tode verurteilt, jedoch zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe begnadigt.192 Nationalsozialistische Gewalttaten richteten sich jedoch nicht nur gegen

Monat 1934 Jänner Februar März April Mai Juni Juli+August

angehalten wegen verbotswidriger Tätigkeit 1.151 524 637 1.105 810 748 12.300

Repräsentanten beziehungsweise Sympathisanten des „Systems“; zuweilen kam es auch zu Fememorden an (vermeintlichen) „Verrätern“ innerhalb der Partei. Eine Übersicht über die entsprechenden Einsätze des Landesgendarmeriekommandos Steiermark im ersten Halbjahr 1934 soll die Zunahme der Aktivitäten der Nationalsozialisten verdeutlichen:193

hievon angezeigt

verhaftete Täter in Fällen

599 330 467 687 514 486 360+2600

552 194 170 418 296 262 6.677+2.733

Am 12. Juli fand schließlich die letzte Sitzung des „alten“ Landtages statt. In dieser wurde die sogenannte „lex Hartleb“ beschlossen, mit welcher der Präsident (Karl Hartleb) und der Vizepräsident der Landeskammer für Landund Forstwirtschaft ihrer Ämter enthoben wurden. Diese Funktionen sollten vom Landeshauptmann durch Ernennung nach freiem Er-

259

nicht ausgeforschte Täter in Fällen 1.030 400 740 1.013 670 686 383

messen neu besetzt werden.194 Karl Hartleb, langjähriger Präsident der Kammer, 1927 bis 1929 Vizekanzler, hatte die mangelnde Unterstützung der Bauern kritisiert, was bei Gorbach, dem Landesleiter der Vaterländischen Front, Missfallen erregt haben soll. Außerdem war er ein expliziter Habsburg-Gegner und hatte die Heimwehren mehrmals scharf angegriffen.195

„Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen!“196 Der Juliputsch Am 25. Juli erschütterte ein nationalsozialistischer Putschversuch das Land. SS-Männer in Bundesheeruniformen besetzten das Bundeskanzleramt. Der Bundeskanzler, der als Geisel genommen wurde, erlag dabei seinen tödlichen Verletzungen. Im Ravag-Gebäude kam es ebenfalls zu Kampf handlungen, die Verhaftung

des Bundespräsidenten, der sich in Kärnten auf Urlaub befand, scheiterte jedoch. Anton Rintelen, der die Regierung übernehmen sollte, konnte verhaftet werden.197 Zu zum Teil schweren Kampf handlungen kam es außerdem in Kärnten, Oberösterreich und der Steiermark.198 So schlugen Nationalso-

260

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

In der Nacht vom 26. zum 27. Juli 1934 ausgestreuter StLA NS-Flugzettel

zialisten in der Steiermark bereits am Nachmittag des 25. Juli los, während die Kämpfe in Kärnten und Teilen Oberösterreichs erst einen Tag später ausbrachen. Die am 25. Juli ausgebrochenen Unruhen erfassten relativ weite Teile des Landes, wobei es in Graz fast völlig ruhig blieb. Die aufständischen Nationalsozialisten, unter ihnen eine große Zahl ehemaliger Angehöriger des Steirischen Heimatschutzes, griffen in erster Linie Gendarmerieposten und Mitglieder beziehungsweise Gruppen der Wehrverbände an, wie etwa in Frohnleiten, wo ein Gendarm und zwei Schutzkorpsmänner ums Leben kamen.199 Man versuchte, Gemeindeund Postämter zu besetzen, zuweilen wurden politische Funktionäre festgenommen. Zahlreiche Gefechte fanden etwa in den Bezirken Feldbach und Deutschlandsberg statt; in Stainz, das von den Nationalsozialisten zur Gänze besetzt werden konnte, gab es auf beiden Seiten Tote.200

Ein weiteres Zentrum der Kämpfe war das obere Murtal. Beim Angriff auf den Gendarmerieposten Judenburg kamen einige Männer ums Leben, ähnlich blutig endete der Überfall auf den Posten in Donawitz.201 Leoben war am Abend des 25. Juli von etwa tausend Aufrührern weitgehend umzingelt, die sich mit dem zum Entsatz der Stadt angerückten Bundesheer schwere Gefechte lieferten.202 Am Nachmittag des 26. Juli waren mit Ausnahme von Graz rund zwei Drittel der Steiermark unter der Herrschaft der Putschisten. Die größten Erfolge hatten sie dabei im Ennstal erzielt. Dort beteiligten sich rund 2.000 SA- und SS-Männer sowie etwa 800 Sympathisanten am Putsch.203 Sie konnten – zumindest für kurze Zeit – „nahezu alle Orte im Bezirk Liezen und um Gröbming in ihre Gewalt bringen. In Liezen griffen sie den Gendarmerieposten an und erbeuteten dabei große Mengen an Waffen und Munition; die Bezirkshauptmannschaft, die Gebäude der Bahn und das Postamt wurden besetzt“.204 Schladming, das in der Nacht zum 26. Juli von rund 500 Nationalsozialisten besetzt worden war, konnte am folgenden Tag durch Einheiten der Gendarmerie und des Österreichischen Heimatschutzes wiedererobert werden.205 Ein weiteres Zentrum war das Gebiet um Stainach und Irdning; bei verschiedenen Vorstößen kamen mehrere Mitglieder regierungstreuer Wehrorganisationen ums Leben. So starben bei einem Feuerüberfall auf eine aus Bad Aussee kommende Patrouille fünf Männer.206 Weitere schwere Kämpfe fanden am Pyhrnpass statt, denen auch unbeteiligte Zivilisten zum Opfer fielen.207 Anders als beim Februar-Aufstand konzentrierten sich die Kämpfe vor allem auf ländliche Regionen. Die Niederschlagung des Putsches gelang aber ebenfalls verhältnismäßig rasch, insbesondere aufgrund des effizienten Einsatzes des loyal gebliebenen Bundesheeres.208 Insgesamt waren – im Vergleich – auf beiden Seiten weniger Opfer als im Februar zu beklagen. Die Ab-

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

urteilung der Putschisten erfolgte diesmal aber nicht durch Standgerichte, sondern durch Militärgerichtshöfe.209 Die beiden Rädelsführer im Ennstal, Rudolf Erlbacher und Franz Ebner, wurden in Leoben zum Tode verurteilt und hingerichtet. Zwischen August und Oktober 1934 fanden allein an diesem Gericht gegen über 100 weitere Angeklagte Militärgerichtsverfahren statt.210 Mehrere Todesurteile wandelte man in lebenslange Freiheitsstrafen um.211 Das Misslingen des Putsches lähmte kurzfristig die Aktivität der Nationalsozialisten, das Landesgendarmeriekommando konstatierte aber im September, dass von einer allgemeinen Gesinnungsänderung der Irregeleiteten [...] noch nicht viel zu bemerken sei.212 Zahlreiche Putschisten f lohen, wie bereits zahlreiche andere „Illegale“ vor ihnen, nach Deutschland und traten der Österreichischen Legion bei. So war der illegale Grazer Gauleiter Walther Oberhaidacher bald nach dem Verbot der Partei nach Bayern gegangen, ebenso der Organisationsleiter Fritz Knaus. Die „Legionäre“ wurden in eigenen Lagern zusammengefasst und erhielten dort eine militärische Ausbildung. Ein Teil der Putschisten, unter ihnen Konstantin Kammerhofer und August Meyszner, f loh nach Jugoslawien und wurde dort in eigenen Lagern untergebracht. Der Großteil dieser Flüchtlinge gelangte im November 1934 auf dem Seeweg nach Deutschland.213 Die Befürchtung, die Österreichische Legion könnte von Deutschland aus als geschlossener Verband angreifen, bewahrheitete sich nicht. Auch beim „Anschluss“ wurden reguläre Truppen der deutschen Wehrmacht eingesetzt, die Mitglieder der Legion kamen erst später nach Österreich zurück. Der Prozess gegen Anton Rintelen fand – ebenso wie jener gegen die Drahtzieher des Putsches in Wien – erst im März 1935 statt.214 Er hätte nach dem Sturz der Regierung Dollfuß Kanzler werden sollen; in einem von den Putschisten verfassten Aufruf, den sie im Rundfunk ausstrahlten, wurde dieses als bereits feststehend

261

mitgeteilt. Rintelen, der in einem Wiener Hotel bereit stand, traf am Nachmittag des 25. Juli mit Kurt Schuschnigg und anderen Ministern zusammen, wobei er seine Beteiligung am Putsch abstritt. Als er verhaftet werden sollte, unternahm er einen Selbstmordversuch, von dem er sich lange nicht erholte.215 Rintelen, der sich nicht schuldig bekannt hatte, wurde nach zehn Prozesstagen am 14. März 1935 wegen Hochverrats zu lebenslangem Kerker verurteilt.216 Über Weisung von Justizminister Egon Berger-Waldenegg hatte der Staatsanwalt darauf verzichtet, ein (strafrechtlich mögliches) Todesurteil zu erreichen. Das Militärgericht sprach ihn schuldig, „im Jahre 1934 und insbesondere im Juli des Jahres 1934 in Rom und in Wien den ihm bekannt gewordenen Plan des Anschlages auf das Bundeskanzleramt vom 25. Juli 1934 gebilligt und dadurch gefördert zu haben, dass er sich den Rädelsführern dieses Anschlages für die Bildung einer revolutionären Regierung zur Verfügung stellte. Er hat somit im einverständlichen Zusammenwirken mit anderen etwas unternommen, was auf die Herbeiführung einer Gefahr für den Staat von außen und auf eine Empörung und einen Bürgerkrieg im Innern angelegt war. Er ist bei diesem Unternehmen auf eine entferntere Weise beteiligt gewesen, doch liegt dabei eine besondere Gefährlichkeit des Unternehmens und des Täters vor“.217 Als erschwerend erachtete das Gericht den Bruch seines „besonderen Treueverhältnisses“ in seiner Stellung als Gesandter und bevollmächtigter Minister, sowie, „daß das Unternehmen den Tod des Bundeskanzlers Dr. Dollfuß, des ersten Staatsmannes des Bundesstaates Österreich zur Folge gehabt hat“. Mildernd war, dass Rintelen, „wie zweifellos feststeht, sich hervorragende Verdienste um Steiermark und Österreich erworben hat“, sowie seine bisherige Unbescholtenheit.218 Rintelen wurde aufgrund der nach dem Berchtesgadener Abkommen ausgesprochenen Generalamnestie für wegen NS-Aktivitäten Verurteilte im Februar

262

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

1938 aus dem Gefängnis entlassen. Aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes trat er allerdings vor dem „Anschluss“ nicht weiter in

Erscheinung. Auch in der NS-Zeit nahm er – sieht man von seinem Mandat im Reichstag ab – keine politischen Ämter mehr wahr.

„Hoch vom Dachstein an ...“219 Die Folgen der Maiverfassung für die Steiermark Am 30. Juli 1934 folgte Dr. Kurt Schuschnigg Engelbert Dollfuß als Bundeskanzler nach. Vizekanzler Ernst Rüdiger Starhemberg wurde Bundesführer der Vaterländischen Front.220 Beiden kam die Aufgabe zu, die bislang größtenteils nur auf dem Papier bestehende ständischautoritäre Bundesverfassung zu verwirklichen. Da die Funktionsperiode der „alten“ Landtage am 31. Oktober endete, erließ Landeshauptmann Dienstleder am selben Tag mit einer Verordnung die neue steirische Landesverfassung.221 Dieser Rechtsetzungsakt erfolgte auf Grund von Paragraph 31 des Verfassungsübergangsgesetzes sowie im Vertrauen auf Gott den Allmächtigen und den heiligen Josef, den Schutzpatron des Landes Steiermark.222 Die neue Verfassung lehnte sich eng an die Bundesverfassung an.223 Die Mitglieder des ersten ständisch besetzten Landtages (Legislaturperiode sechs Jahre) wurden von Landeshauptmann Dr. Dienstleder ernannt.224 Sie sollten solange im Amt bleiben, bis die Einrichtung der ständischen Vertretungskörper abgeschlossen war – was bis zum „Anschluss“ im März 1938 nicht der Fall war, wie überhaupt große Teile der Bundes- und Landesverfassung nur auf dem Papier bestanden. Die 36 Mitglieder des Landtages (vorher 48) wurden auf die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen aufgeteilt: 1. Kulturstände – drei Vertreter der anerkannten Religionsgemeinschaften (zwei katholische, ein evangelischer),

– zwei des Schul-, Erziehungs- und Volksbildungswesens, – einer von Wissenschaft und Kunst. 2. Berufstände: entsprechend der Bundesverfassung Unterteilung in sieben Berufsgruppen: – 14 Land- und Forstwirtschaft, – sechs Bergbau, – drei Gewerbe, – drei Handel- und Verkehr, – zwei Geld-, Kredit- und Versicherungs­ wesen, – einer freie Berufe, – einer öffentlicher Dienst.225 Dem Landtag kamen nur eingeschränkte Rechte zu. Er beriet die von der Landesregierung eingebrachten Vorschläge für Gesetze – der Landtag selbst hatte kein solches Recht – in nicht öffentlicher Sitzung vor. Anschließend an diese Begutachtung ging der Entwurf an die Landesregierung zurück, die an etwaige Änderungsvorschläge des Landtages nicht gebunden war. Danach wurde der Gesetzentwurf dem Landtag zur Beschlussfassung vorgelegt. Dieser hatte in öffentlicher Sitzung zu entscheiden, ob er ihn annahm oder ablehnte; inhaltliche Änderungen waren nicht mehr möglich.226 Tatsächlich hatten die Landtage keine wirkliche Entscheidungsbefugnis. Kontroverse Debatten kamen so gut wie nie vor, und wenn doch, so traten Meinungsverschiedenheiten weniger wie vom Verfassungsgeber intendiert zwischen „den

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Ständen“ auf, sondern die Redner bezeichneten sich selbst als Vertreter der Arbeiter-, Bauernschaft usw.227 Auch die Abgeordneten waren sich der mangelnden Legitimität ihres Amtes bewusst. So stellte etwa einer der Abgeordneten Anfang Jänner 1935 in einer (nicht öffentlichen) Sitzung des Landtages fest: Wir sind ernannt worden, haben die große Masse nicht hinter uns, wir genießen das Vertrauen der Bevölkerung nicht.228 Vergleicht man die gesetzgeberische Tätigkeit, so scheint sich – zumindest formell – durch die Änderung der Verfassung keine Auswirkung auf die Tätigkeit des Landtages ergeben zu haben. Durchschnittlich umfasste das steirische Landesgesetzblatt zwischen 1925 und 1933 je 79 Nummern, in den Jahren 1934 bis 1937 betrugen diese 78, 59, 82 und 60.229 Ein Vergleich der Gesetzes- und Verordnungsdichte mit dem Jahr 1932, das mit insgesamt 78 kundgemachten Normen dem Durchschnitt entspricht und in welchem noch „normale“ Verfassungszustände herrschten, zeigt ebenfalls keine extremen Änderungen. Dazu ist jedoch anzumerken, dass die meisten Gesetze von den Abgeordneten nicht wirklich vorberaten und als Ergebnis eines Meinungsbildungsprozesses beschlossen wurden, sondern die Vorlage im „Eilzugstempo“ den vorgeschriebenen Weg ging, sodass den Mandataren oftmals nicht einmal genug Zeit blieb, den Entwurf überhaupt zu lesen. Kurz nach der Promulgation der neuen Landesverfassung kam es auch zu einem Wechsel an der Spitze der Landesregierung. Alois Dienstleder wechselte als Professor für Staatskirchenrecht an die Universität Graz und nahm einen Sitz im Staatsrat ein.230 Ihm folgte Dr. Karl Maria Stepan nach, der seit 19. Februar 1934 Bundesleiter der Vaterländischen Front gewesen war.231 Stepan war mit Dollfuß befreundet gewesen, verstand sich aber mit Schuschnigg nicht, weshalb er von ihm „abgeschoben“ wurde.232 Das Ernennungsdekret des Bundeskanzlers vom 13. Oktober wurde am 2. November wirksam,

263

am 5. November übernahm er die Regierungsgeschäfte, am 8. November leistete er dem Bundespräsidenten den Eid.233 Anlässlich seiner Ernennung lehnte er jede weitere Funktion innerhalb der Vaterländischen Front grundsätzlich ab, da er als Landeshauptmann für alle da zu sein habe.234 Stepan, der deutlich erkannte, dass die wirklichen Gegner Österreichs die Nationalsozialisten seien, erklärte nach dem Juliputsch, den Sozialdemokraten nie zu vergessen, dass sie sich nicht mit den Nationalsozialisten verbündet hatten.235 Stepans Stil als Landeshauptmann kennzeichnete eine „straffe Führung der Regierungsgeschäfte, er entwickelte einen ausgesprochenen Sinn für Repräsentation und erwarb sich als Kulturreferent große Verdienste. Er war dabei den Gedanken des Volksbildners Josef Steinberger verpf lichtet und fand Zugang zu den von Viktor von Geramb vermittelten Ideen der Heimatbewegung und Volkstumspf lege. Er strebte dem Beispiel Erzherzog Johanns nach und versuchte in großen Ständetagen die Bevölkerung zu gewinnen, bei denen Hanns Koren sein Helfer wurde, konnte aber den ihm eigenen elitären Abstand zum Volk nicht stärker verringern. Er war bis ans Ende seiner Amtszeit ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, während er über den Arbeiterkammerpräsidenten Josef Krainer in der sozialen Arbeitsgemeinschaft Kontakte zu den Sozialdemokraten suchte“.236 Am 10. November 1934 stellte Stepan seine Regierungsmannschaft vor.237 Als Landesstatthalter (= erster Landeshauptmannstellvertreter) fungierte Barthold Graf Stürgkh 238, als zweiter Stellvertreter Josef Hollersbacher. Weitere Landesräte waren Dr. Peter Krauland (Landes­ finanzreferent), Viktor Kollars,239 Peter Krenn und Friedrich Pribitzer. Der neue Landtag trat erstmals am 24. November 1934 zusammen. Der „neue Stil“ des christlichen, deutschen Bundesstaates auf ständischer

264

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Grundlage 240 zeigte sich unter anderem daran, dass diese Sitzung mit einer Messe in der alten Landhauskapelle, „die in den letzten Jahren kaum von irgendjemand [sic] betreten worden war“,241 eröffnet wurde. Auf Wunsch des Landeshauptmannes waren die Mitglieder der Landesregierung und die Abgeordneten in der Landestracht erschienen, für Stepan ein Bekenntnis zum Volkstum und zum steirischen Heimatland.242 Auch im Sitzungssaal des Landtages waren einige Veränderungen vorgenommen worden: Die (von 48 auf 36 verringerten) Plätze waren nach Ständen gruppiert, in einer Ecke stand eine Dollfuß-Büste und vor dem Präsidium „brannten neben einem Kruzifix zwei Kerzen“.243 In seiner Eröffnungsrede bekannte sich Stepan zur Abkehr vom Parteienstaat. Der Landeshauptmann wies darauf hin, dass die parteimäßige Organisation des Landtages in der schändlichsten und schmählichsten Weise missbraucht worden war, und ich darf wohl sagen, dass der letzte Landtag, der nach diesem Prinzip zusammengetreten war, in Würdelosigkeit gestorben ist! [...] Sicherlich bestehen auch in diesem Landtage Gegensätze der Meinungen, [...] ich bin aber überzeugt, dass diese Gegensätze [...] ausgeglichen werden können dadurch, dass dieser Landtag hier etwas Gemeinsames hat: Die Liebe zum Heimatlande, die Liebe zum Vaterlande.244

Im Anschluss daran wählte der Landtag den Mürztaler Landwirt Anton Pirchegger zu seinem Präsidenten. Dieser warnte in seiner Antrittsrede davor, dass nicht die Fehler der alten formalistischen Demokratie begangen werden dürften; vielmehr gelte es, wieder Zuversicht in die Bevölkerung zu bringen, auch bei denen, die es heute noch nicht recht glauben wollen.245 Nicht nur die Landesebene musste sich an das neue System anpassen, sondern auch die Gemeinden. Der Grazer Gemeinderat war bereits im März 1934 aufgelöst und ein nach ständischen Grundsätzen zusammengesetzter Stadtrat ernannt worden;246 erst knapp zwei Jahre später, am 10. März 1936, wurde mit dem neuen Stadtrecht das „Provisorium“ des Jahres 1934 beendet.247 Bürgermeister blieb Hans Schmid, zu seinen Stellvertretern wurden Josef Krainer und Ing. Karl Lipp ernannt.248 Die provisorische Ernennung der Gemeindetage in den Ortsgemeinden hatte überhaupt bis zum Ende des „Ständestaates“ Gültigkeit,249 die neue, der Verfassung 1934 angepasste Gemeindeverfassung wurde erst im Februar 1938 kundgemacht.250 Auch die gesetzliche Auf lösung der „Bezirksvertretungen“, einer steirischen Besonderheit im Verwaltungsauf bau, erfolgte erst im März 1938, unmittelbar vor dem „Anschluss“.251

„Ihr Jungen schließt die Reihen gut! Ein Toter führt uns an.“252 Die allgemeine politische Entwicklung 1934 bis 1938 „Eine Dienstreise führte mich in die Steiermark; dort wie in Kärnten pf legen die Gegensätze zumeist noch um etliche Grade schärfer zu sein als in den anderen Ländern“,253 vermerkte Kurt Schuschnigg am 1. Dezember 1934 in seinem Tagebuch. Der Bundeskanzler musste sich nicht nur mit dem Widerstand gegen den neuen Staat von Seiten der Nationalsozialisten

und „Marxisten“ auseinandersetzen, sondern auch um den Frieden innerhalb des eigenen Lagers bemühen. Die in den Februar- beziehungsweise Julikämpfen eingesetzten Wehrverbände, allen voran der Heimatschutz, forderten eine Beteiligung an der Macht, die an ihrer realen Bedeutung teilweise weit vorbeiging. Dies führte zu Spannungen zwischen Schusch-

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

265

Landesappell der Ostmärkischen Sturmscharen in Graz, 6. Oktober 1935. Bundeskanzler Reichsführer Dr. Kurt Aus: 70 Jahre Grazer Volksblatt Schuschnigg und Landesführer Viktor Kollars schreiten die Reihen ab

nigg und Starhemberg, daneben wetteiferten auch die Wehrverbände untereinander um Einf luss und neue Mitglieder. Während sich im Freiheitsbund eher Angehörige der Arbeiterschaft fanden, waren die Ostmärkischen Sturmscharen mehr katholisch, der Heimatschutz national und antiklerikal geprägt.254 Die Konkurrenz artete oft in Neid und gegenseitige Behinderungen aus.255 Die Aufnahme in Betriebe der Österreichischen Alpine Montan-Gesellschaft, aber auch in manche andere, war beispielsweise fast nur möglich, wenn man dem Heimatschutz angehörte. Aus diesem Grund traten viele diesem Verband bei, um so eher einen Arbeitsplatz zu bekommen. Schuschnigg versuchte, den Einf luss der von Italien gestützten Heimwehrfunktionäre zu beschneiden, was ihm aber nur schrittweise gelang. Ein wichtiger Schritt war die Zusammenlegung der einzelnen Wehrverbände zur „Freiwilligen Miliz – Österreichischer

Heimatschutz“ im Dezember 1935, zu deren Führer er Starhemberg ernannte. Während das Jahr 1935 verhältnismäßig ruhig verlief, berichtete Landesstatthalter Stürgkh in der Sitzung der Landesregierung am 29. Jänner 1936, dass sich die politische Lage im Lande merkbar verschärft habe: Eine erhöhte Tätigkeit der Feinde gehe Hand in Hand mit einer gewissen Vergrämung im eigenen Kreise, was zum Teil durch die schlechte Wirtschaftslage bedingt sei.256 So kam es vermehrt zum Streuen von nationalsozialistischen Flugzetteln.257 In der Obersteiermark nahm auch die Propaganda­ tätigkeit durch Sozialdemokraten und Kommunisten, in erster Linie amnestierte Februarkämpfer, zu. Zur weiteren Verschlechterung nicht nur der ökonomischen Lage führte die Aufdeckung des Phönix-Skandals. Die Lebensversicherungsanstalt, bei der viele ärmere Menschen Polizzen besaßen, hatte ein Defizit von

266

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

250 Millionen Schilling. Zahlreiche Politiker und höhere Beamte waren bestochen worden, die Schäden für die betroffenen Versicherungsnehmer wie auch für das politische Klima im allgemeinen waren enorm. Einen gewissen Aufschwung bedeutete dagegen die Fertigstellung einiger großer Bauprojekte. So konnte am 30. Mai 1936 die Packer Höhenstraße eröffnet werden,258 am 1. Juni wurde die Gesäusestraße der Öffentlichkeit übergeben. In einem am 23. Juni 1936 veranstalteten „Steirischen Volkstag“, der als Erinnerungstag an Erzherzog Johann und Peter Rosegger konzipiert war, sollte die Bevölkerung über alle Parteigrenzen hinweg zusammenfinden: Kinderfest und Umzug, Straßensingen und Glockengeläute, Johannissegen und Sonnwendfeuer bilden allerorts den Grundbestand dieses Heimatfestes, das überall der örtlichen Eigenart angeglichen wird und wahres, echtes Volkstum ist, das im neuen Österreich wieder eine Pflegestätte findet.259 Die Bevölkerung nahm den Volkstag zum Teil gut auf, in manchen Teilen des Landes stieß er nur auf wenig Interesse. Die Nationalsozialisten hatten ihre Anhänger aufgefordert, an den Veranstaltungen nicht teilzunehmen, Störaktionen wurden aber unterlassen.260 Eine grundlegende Wende in der österreichischen Außen- und Innenpolitik bedeutete der am 11. Juli 1936 zwischen Österreich und Deutschland vereinbarte „Nichteinmischungspakt“. Nachdem sich Italien infolge der Verbesserung seiner Beziehungen zu Deutschland von Österreich mehr und mehr zurückzog, musste Österreich seinen grundsätzlichen Kurs überdenken. Das sogenannte „Juliabkommen“ enthielt die Anerkennung der österreichischen Unabhängigkeit durch Deutschland und die gegenseitige Verpf lichtung, sich nicht in die jeweiligen inneren Angelegenheiten einzumischen. In einem nicht-öffentlichen Teil verpf lichtete sich Österreich zur Amnestie der inhaftierten Nationalsozialisten, Vertreter der „nationalen Op-

position“ mussten in die Regierung aufgenommen werden. Dafür erfolgte unter anderem die Auf hebung der Tausend-Mark-Sperre.261 Das Abkommen kam überraschend und löste in nationalsozialistischen Kreisen anfänglich Unsicherheit ob des weiteren Vorgehens aus. Letztendlich bedeutete es aber die endgültige Auslieferung an den Nationalsozialismus.262 So berichtete der Landesleiter der Vaterländischen Front für Niederösterreich, Ing. Engelbert Dworschak, im März 1947, dass nach dem Juliabkommen besonders in der Steiermark [...] die nationalsozialistische Propaganda und illegale Arbeit beängstigend [war]. [...] Anlässlich einer Reise in die Steiermark konnte ich feststellen, dass die Funktionäre der Vaterländischen Front durch die Tätigkeit der illegalen nationalsozialistischen Gruppen entmutigt und niedergeschmettert waren.263 Zum Zeitpunkt des Juliabkommens bestanden in der Steiermark insgesamt 1.020 Ortsgruppen der Vaterländischen Front in 51 Bezirken und zehn Gauen.264 Innerhalb des Funktionärskaders („Amtswalterschaft“) war es seit dem Juni 1935 zu starken Veränderungen gekommen. Der Landesführer der Vaterländischen Front, Gorbach, musste selbst zugeben, dass es nicht nur die „üblichen“ Gründe für Personalwechsel gab, sondern es waren auch „Ver­ fehlungen“ vorgekommen, die einen Wechsel erforderlich machten: In einigen Fällen musste die Landesführung auch aus rein politischen Gründen und im Interesse der örtlichen Befriedung eine Neubesetzung der betreffenden Vaterländischen FrontDienststellen vornehmen, die sich, soweit es sich hiebei um Bezirksführungen handelte, zumeist erst nach langwierigen Verhandlungen an Ort und Stelle bewerkstelligen ließ.265 Er betonte jedoch ausdrücklich, dass mit ganz wenigen Ausnahmen [...] den einschlägigen Entscheidungen der Landesführung das erforderliche Verständnis seitens der davon Betroffenen entgegengebracht [wurde], zumal es sich hiebei fast durchwegs um brave, vaterlandstreue ­Amtswalter handelte, die in einsichtsvoller Weise der

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

guten Sache willen ein Opfer zu bringen bereit waren.266 Seit dem Juni 1935 waren in der Steiermark 30.000 Personen der Vaterländischen Front beigetreten, wodurch sich ein Stand von (karteimäßig erfassten) 260.000 Mitgliedern ergab. Darüber hinaus zählte Gorbach zusätzlich die Angehörigen des Bundesheeres, der Wehrformationen, des Österreichischen Gewerkschaftsbundes usw. dazu, sodass die Gesamtzahl der in der Vaterländischen Front beziehungsweise in den „vaterländischen Verbänden“ organisierten Personen rund 350.000 ergab. Die meisten Neubeitritte entfielen auf junge Leute, die den Nachweis der Mitgliedschaft für einen Arbeitsplatz oder für den Eintritt in das Bundesheer benötigten, und auf Angehörige von öffentlich Bediensteten.267 In der Tat wurde die Vaterländische Front nie eine echte Massenorganisation, auch mehr oder weniger sanfter Zwang zum Beitritt (Be-

267

rufsvoraussetzung für den öffentlichen Dienst usw.) nützte nichts. Um zumindest den Eindruck einer Volksbewegung zu erwecken, ernannte man selbst in den kleinsten Ortsgruppen eine Vielzahl von Funktionären und Beiräten, ohne dadurch auch tatsächlich alle Betreffenden für eine Mitarbeit zu motivieren.268 Um die Vaterländische Front mehr zu einer Interessenvertretung der Bevölkerung zu machen, begann man im Frühjahr 1937 mit dem Abhalten von Wunschversammlungen, in denen die Teilnehmer frei diskutieren konnten. Es bestand ein offensichtliches Bedürfnis nach ihnen, und zwar insbesondere nach solchen, in welchen verantwortliche Persönlichkeiten über die Tätigkeit der ständischen, aber auch der politischen Körperschaften eine Art Rechenschaftsbericht legen.269 Hinzu kam, dass die Vaterländische Front zum Teil ein schlechtes Ansehen hatte, da man insbesondere in der Anfangsphase, als ein Mangel an Mitarbeitern herrschte, auch Personen

Bundeskanzler Dr. Kurt Schuschnigg beim Landesappell der Vaterländischen Front in Graz, links Barthold Graf Aus: Österreichische Woche Stürgkh, rechts Dr. Alfons Gorbach, März 1937.

268

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

mit weniger gutem Ruf, zuweilen sogar einem umfangreichen Vorstrafenregister, leitende Positionen übertragen hatte. Um eine Revision des Mitgliederstandes vorzunehmen sowie die Front an sich zu stabilisieren, verfügte Schuschnigg im September 1937 eine Mitgliedersperre, die am 1. November 1937 in Kraft treten sollte. Darauf hin kam es zu einer Zunahme der Beitrittserklärungen, in vielen Fällen jedoch nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus wirtschaftlichen Opportunitätsgründen beziehungsweise um die Front nationalsozialistisch zu unterwandern.270 Ein sehr anschauliches Bild der Lage bieten die monatlichen Berichte der einzelnen Ortsund Bezirksführungen der Vaterländischen Front sowie Berichte über Inspektionen.271 So ergab eine Revision der oststeirischen Bezirke Birkfeld, Fehring, Feldbach und Fürstenfeld, dass die Organisation der Vaterländischen Front je nach der Verschiedenheit der Tauglichkeit der in Frage kommenden Bezirksführer keine (Fehring), verhältnismäßig geringe (Feldbach) oder beachtliche Aktivität (Fürstenfeld und Birkfeld) aufweist, dass aber die Resonanzen dieser Aktivität in der breiten Schichte der Bevölkerung aus verschiedenen [...] Gründen ausbleiben, dass daher der Vaterländischen Front in den genannten Bezirken durchaus nicht aus Verschulden der lokalen Führungsinstanzen nicht der Charakter einer in die Tiefe greifenden Bewegung zukommt.272 Die Motivation zahlreicher „Amtswalter“ ging jedoch aufgrund der ständigen Propagandatätigkeit der Nationalsozialisten mehr und mehr zurück. Die Maßnahmen der Regierung und der Vaterländischen Front erwiesen sich als unzulänglich. So traten etwa im Bezirk Mariazell die Nationalsozialisten mit einer derartigen Frechheit und Sicherheit auf, da sie wissen, dass man ihnen ohnedies nichts anhaben will. Das Tragen von Hakenkreuzen an Halsketten und Armbändern öffentlich ist an der Tagesordnung. Staatsfeindliche Handlungen, welche zur Anzeige kommen, bleiben ungeahndet oder werden mit so ge-

ringen Strafen belegt, dass sich die Behörde dadurch lächerlich macht. Auch die Amtswalterorgane der Vaterländischen Front werden wegen der Schwäche des Systems ausgelacht.273 Der Berichterstatter sah die Gefahr nicht bloß in den „staatsfeindlichen Umtrieben“ an sich, sondern darin, dass die Amtswalter der Vaterländischen Front glauben, dass sie auf verlorenem Posten stehen, weil sie im Kampfe von den oberen Stellen keinerlei Unterstützung erfahren und ihre zahlreichen Eingaben und Warnungen wirkungslos verpuffen. Es ist daher bei vielen ein Zustand passiver Resistenz eingetreten. Sie wollen sich nicht mehr exponieren, weil sie der gefährlichen Meinung sind, dass bei der derzeitigen Kampfführung ohnedies alles zwecklos ist.274 Versuche, insbesondere die Arbeiterschaft in größerem Umfang für das Regime zu gewinnen, scheiterten. Neben der bereits erwähnten Aktion von Ernst Karl Winter erzielte einzig der Österreichische Gewerkschaftsbund gewisse Erfolge. Die Soziale Arbeitsgemeinschaft (SAG), die im März 1935 im Rahmen der Vaterländischen Front eingerichtet wurde, fand bei der Arbeiterschaft dagegen nur wenig Anklang.275 Die regierungsnahen Arbeiterorganisationen hatten zwar nach den Februarkämpfen die meisten Interessenvertretungen der Arbeiter und Angestellten übernommen, nicht aber deren frühere Macht. Die Arbeiterschaft war im Vergleich zu ihrer Bedeutung in den staatlichen Organen unterrepräsentiert, auch die Soziale Arbeitsgemeinschaft war nicht in der Lage, dieses Ungleichgewicht zu ändern.276 Da sich die Organisation bis weit in das Jahr 1937 hinein noch immer im Auf bau befand, erreichte sie keine unfassendere Effizienz. So gab es im Juni 1937 in der Steiermark 22 Bezirks- und 106 Ortsstellen, die SAG verfügte über 132 Vorsitzende, 32 Sozialreferenten, 730 Mitglieder, davon 23 Frauen und ein Jugendlicher.277 Am 28. November 1937 fand in der Kammer für Arbeiter und Angestellte die 2. Landeskonferenz der SAG für Steiermark statt.278 Zu diesem Zeitpunkt war die

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Organisation auf 25 Bezirks- und 152 Ortsstellen mit rund 1.540 Funktionären angewachsen. Die SAG, die an der Basis von „links“ unterwandert wurde, stand zudem in einem eigentümlichen Gegensatz zur „Christlichen Arbeiterbewegung“, deren „selbstverständlicher Führungsanspruch“ erst spät angegriffen wurde.279 Wie bereits angedeutet, gelang es dem Regime bis zuletzt nicht, die Arbeiterschaft auf seine Seite zu ziehen. Die große Zahl der Arbeitslosen konnte auch durch verschiedene Arbeitsförderungsprogramme nicht nachhaltig vermindert werden.280 Diese konzentrierten sich in erster Linie auf Bauprojekte, produktive Investitionen blieben in der Minderzahl. Vielmehr trug die wirtschaftliche Notlage das ihre dazu bei, dass sich mehr und mehr Menschen dem Nationalsozialismus zuwandten, schien doch die wirtschaftliche Lage in Hitler-Deutschland ungleich besser. Die NS-Bewegung zog aber nicht nur Arbeitslose an, auch Unternehmer und Wirtschaftstreibende schlossen sich der (illegalen) Partei an, ebenso wie Intellektuelle.281 Unterdessen war Bundeskanzler Schuschnigg im Oktober 1936 die endgültige Entmachtung der Wehrverbände gelungen. Seit Dezember 1935 in der „Freiwilligen Miliz – Österreichischer Heimatschutz“ unter der Führung Starhembergs vereinigt, wurden sie nun, nachdem ihnen bereits im Mai 1935 das Tragen von Waffen verboten worden war, aufgelöst. Als „Ersatz“ hatte man im Mai 1936 im Rahmen der Vaterländischen Front als bewaffnete Formation die „Frontmiliz“ geschaffen, die ab dem Sommer 1937 militärischer Befehlsgewalt unterstellt wurde.282 Mit der Auf lösung der Wehrverbände dürfte auch der (kurzfristige) Rücktritt von Landesstatthalter Stürgkh und Landesrat Pribitzer Ende 1936 zusammenhängen. In der Literatur finden sich nur wenige Hinweise zu diesem Vorgang. Walter Wiltschegg erwähnt in seiner Studie

269

Bildhauer Gustinus Ambrosi mit seiner Büste des „Heldenkanzlers“ Engelbert Dollfuß, Juli 1937 Aus: Österreichische Woche 

über die Heimwehr bloß, dass neben dem Burgenland die Steiermark das einzige Land war, wo der Heimatschutz aus der Landesregierung ausschied.283 Auch Dieter A. Binder beschränkt sich auf die Bemerkung, dass Stepan „mit verschiedenen Mitgliedern der Landesregierung zunächst heftige Kontroversen hatte, die erst durch Schuschniggs Eingreifen bereinigt wurden“, ohne dies zeitlich oder inhaltlich zu präzisieren.284 Das angekündigte Ausscheiden Landesrat Kollars’ am 28. Dezember 1936 – er wurde im April 1937 durch Gorbach angelöst –, der offenbar weniger Macht besaß, sowie das Fehlen offensichtlicherer Auseinandersetzungen deuten eher darauf hin, dass zumindest Stürgkh zum Rücktritt provoziert wurde, worauf sich Pribitzer anschloss, um so möglicherweise Druck auf den Landeshauptmann auszuüben.285

270

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Beide teilten jedenfalls Stepan am 31. Dezember 1936 schriftlich ihre Demission mit. Das Rücktrittsschreiben des Landesstatthalters hat folgenden Inhalt: Infolge der in der jüngsten Zeit sich abgespielten Vorfälle, die als eine Übergehung der mir in der Verfassung als Mitglied der Landesregierung im allgemeinen und als Landesstatthalter im besonderen zugesicherten Rechte anzusehen sind, sehe ich mich veranlasst, von meiner Funktion als Landesstatthalter zurückzutreten und aus der Steiermärkischen Landesregierung auszuscheiden.286 Pribitzer schloss sich Stürgkh an, da er mit dessen Schritten vollinhaltlich einverstanden war.287 Stepan berief darauf hin den Landtagspräsidenten Anton Pirchegger und Karl Lipp als neue Landesräte. Der Bundeskanzler verweigerte jedoch am folgenden Tag Stepan die Zustimmung und beorderte Stepan, Stürgkh und Pribitzer am 2. Jänner 1937 nach Wien. Am Tag darauf erklärten sich der Landeshauptmann sowie die beiden über Intervention des Bundeskanzlers bereit, die gegebene beziehungsweise angenommene Demission als gegenstandslos zu betrachten.288 Die teilweise geplatzte Regierungsumbildung, deren Hintergründe nicht bekannt gemacht wurden, veranlasste den „Volkswirt“ zu ungewohnter Kritik am autoritären System: Dieses würde häufiger politische Erfolge erringen, „wenn die Vertreter des autoritären Systems darauf Rücksicht nehmen wollten, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit von der Kenntnis der Ursachen und Zusammenhänge autoritärer Entscheidungen die Abtötung des Interesses am öffentlichen Leben bewirkt und Volk und Führung einander fernhält!“289 Währenddessen setzten die Nationalsozialisten unbeirrt ihre Propaganda fort. Kundgebungen wie etwa im September 1936 in Leoben anlässlich der Durchfahrt einer deutschen Autostaffel zählen ebenso dazu wie zahlreiche Schmieraktionen usw.290 Auch zahlreiche Verhaftungen und Beschlagnahmen sowie die zweimalige Aushebung der Kanzlei der SA-Brigade 5 Ende 1936 und erneut im Laufe des

Jahres 1937 konnten der nationalsozialistischen Untergrundbewegung keinen nachhaltigeren Schaden zufügen.291 Alfons Gorbach bezweifelte das bisherige Vorgehen: Mit Versammlungstätigkeit allein werden wir es nicht schaffen können, wenn nicht von der Befriedungsaktion, die sich in keiner Weise bewährt, abgerückt wird; wo Worte und Ermahnungen nichts helfen, muss energisch eingeschritten werden, sonst wird alle bisher geleistete Arbeit wieder zerstört. Er regte deshalb die Schaffung von Ordnertrupps aus den Mitgliedern der aufgelösten Wehrverbände an, die allen Demonstranten die Schneid abkaufen.292 Der Versuch, die nationalsozialistische Anhängerschaft durch die Schaffung eines „Volkspolitischen Referates“ in die Vaterländische Front zu integrieren, scheiterte.293 Bereits im Juni 1937 gegründet, kam es aufgrund gewisser Differenzen erst am 16. Oktober 1937 zur Bestellung der Landesreferenten.294 Für die Steiermark wurde Armin Dadieu ernannt.295 Gleichsam als „Ausgleich“ gründete man für die Legitimisten das „Traditionsreferat“ der Vaterländischen Front. Für die Steiermark wurde Bundeskulturrat Wilhelm Lahousen als Landesreferent eingesetzt.296 Zur Förderung des „Heimatbewusstseins“ veranstaltete man am 23. Juni 1937 den zweiten steirischen Volkstag. Dem Thema „Der Bergmann“ wurde unter anderem dadurch Rechnung getragen, dass Landeshauptmann Stepan am Abend eine Rede am Erzberg hielt, die durch den Rundfunk „live“ übertragen wurde.297 In vielen Gemeinden fanden Festzüge mit Volkstanz- und Gesangsdarbietungen statt. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden zahlreiche Höhenfeuer – ansonsten eine sehr beliebte Darstellungsform bei den Nationalsozialisten – entzündet.298 Wie beim ersten Volkstag ein Jahr zuvor war der Besuch zufriedenstellend; Nationalsozialisten (wie auch Sozialdemokraten und Kommunisten) hielten sich demonstrativ von den Veranstaltungen fern, Störaktionen

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

blieben aber aus.299 Wichtiger Bestandteil der „ständestaatlichen“ Ideologie war der Kult um den „Heldenkanzler“ Engelbert Dollfuß. Wie in den Jahren zuvor fanden deshalb auch 1937 am 24. und 25. Juli zahlreiche Trauerfeiern statt. In Graz erfolgte nach der Feier am Franzensplatz eine Denkmalenthüllung am Dollfuß-, dem früheren beziehungsweise heutigen Opernring.300 All diese Maßnahmen zeitigten jedoch nur äußerst geringe Wirkung. Vielmehr nahm ab Ende Oktober 1937 die nationalsozialistische

271

Anschlussagitation erneut zu.301 Seit dem Winter 1937 schien sich in der breiten Masse der Bevölkerung eine gewisse Gleichgültigkeit ­gegenüber den politischen Ereignissen breit zu machen. Die innenpolitische Lage war jedoch äußerst gespannt, sodass neuerliche Unruhen befürchtet werden mussten. Während der Feiern in Deutschland anlässlich des fünften Jahrestages der Machtergreifung der NSDAP Ende Jänner 1938 blieb es aber ruhig, nur in den Bezirken Fürstenfeld und Hartberg gab es verstärkte NS-Aktionen.302

„Deutschland, Deutschland, über alles ...“303 Der Weg zum „Anschluss“ Am 12. Februar 1938 fuhr Bundeskanzler Kurt Schuschnigg mit dem Staatssekretär für Auswärtige Angelegenheiten, Guido Schmidt-Chiari, nach Berchtesgaden, um sich dort mit Hitler zu treffen. Im „Berchtesgadener Abkommen“ musste er sich den Forderungen Hitlers nach außenpolitischer „Gleichschaltung“ mit Deutschland, freiem Betätigungsrecht des NSDAP innerhalb der Vaterländischen Front und einer Amnestie für gemaßregelte Nationalsozialisten beugen. Weiters sollte Dr. Arthur Seyß-Inquart zum Innen- und Sicherheits­m inister ernannt, der österreichische Generalstabschef Alfred Jansa abgesetzt werden und einiges mehr.304 Die allmähliche Bekanntgabe der Details des Abkommens, vor allem der Amnestie sowie der grundsätzlichen Anerkennung der nationalsozialistischen Ideologie, führte zur Auf bruchstimmung bei den Nationalsozialisten, während sich auf Seite der „Vaterländischen“ Resignation breit machte. So vermerkt etwa der Ende Februar 1938 für den Bezirk Mureck erstellte Werbebericht der Vaterländischen Front: Die Stimmung unter der vaterländischen Bevölkerung ist nach

wie vor gedrückt, weil noch immer kein richtiges Eingreifen gegen das provozierende Verhalten der Nationalsozialisten bemerkbar ist. Die vaterländische Bevölkerung wäre in jeder Hinsicht für einen Frieden und eine Zusammenarbeit mit dem Gegner bereit, doch zeigt letzterer bisher keinerlei Entgegenkommen. Frontfunktionäre werden höchstens verhöhnt und ausgelacht, wenn von der Mitarbeit in der Front gesprochen wird.305 Deshalb sei die eheste Änderung der Lage unerlässlich, damit nicht auch noch die Amtswalter der Front ihren Mut verlieren. Befriedigung [sic] ja, aber nicht derartige Erniedrigung, wie Gefertigter persönlich zu sehen in der Lage war.306 Vor allem seit der Reichstagsrede Hitlers am 20. Februar 1938 kam es zu zahlreichen Kundgebungen, die aber ohne Zwischenfälle abliefen.307 Auch im Bezirk Leoben kam es zu nationalsozialistischen Propagandaaufmärschen, gegen die die Behörden nur mit Abmahnungen einschritten. Dies erweckte – so der Leobener Bezirkshauptmann – in der nicht nationalsozialistisch eingestellten Bevölkerung den Eindruck, dass die Behörden nicht in der Lage seien, sich durchzusetzen. Er stellte in der vaterländischen

272

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Bevölkerung eine starke Depression fest, die hauptsächlich auch in einem Abschwenken ins national­ sozialistische Lager ihren Ausdruck findet,308 vor allem in den Betrieben der Alpine werde starker Druck auf die Arbeiter ausgeübt. Der Bericht schloss deshalb mit der Befürchtung, dass bei einem Andauern dieser Zustände zu erwarten sei, dass in kürzester Zeit der Großteil der Bevölkerung im nationalsozialistischen Lager stehen wird, wie dies in der Stadt Leoben bereits jetzt der Fall ist.309 Tatsächlich bekannten sich bereits manche Funktionäre der Vaterländischen Front ­offen zum Nationalsozialismus, während viele andere Mitglieder durch das laute Hervortreten der Nationalsozialisten eingeschüchtert wurden.310 Schon am 19. Februar 1938 hatte nach einer NS-Kundgebung ein „jugendlicher Fassadenkletterer“ für kurze Zeit auf dem Grazer Rathaus eine Hakenkreuzfahne angebracht.311 Eine am 21. Februar von der Vaterländischen Front abgehaltene Kundgebung wurde von einer am selben Tag stattfindenden NS-Demonstration überlagert, Zusammenstöße konnten jedoch von der Polizei vermieden werden.312 Anlässlich der Rede Schuschniggs vor der Bundesversammlung am 24. Februar, die auch auf dem Grazer Hauptplatz übertragen wurde, kam es zu einem Aufmarsch tausender Nationalsozialisten. Bürgermeister Hans Schmid musste schließlich die förmliche Hissung der Hakenkreuzfahne am Rathaus gestatten.313 Eine für den 27. Februar geplante SA-Kundgebung, zu der 60.000 Nationalsozialisten in Graz erwartet wurden, wurde abgesagt, was die Lage zumindest kurzfristig entspannte.314 Abgesehen davon fanden aber die nationalsozialistischen Demonstrationen kein Ende. Währenddessen verhandelte Armin Dadieu mit Landesrat Peter Krauland über eine Umbildung der Landesregierung. Der „nationalen Opposition“ sollten drei der sieben Sitze in der Regierung überlassen werden.315 Ermutigt durch den großen Erfolg der genannten Veranstaltungen, die Graz zur „Stadt

der Volkserhebung“ machten, kam es auch in anderen Städten zu immer stärkeren nationalsozialistischen Demonstrationen.316 So fanden sich am 25. Februar zu einer Kundgebung der Vaterländischen Front am Leobner Hauptplatz auch rund 4.000 Nationalsozialisten ein und forderten die Hissung der Hakenkreuzfahne am Rathaus. Um die Menge zu beruhigen und den Ablauf der vaterländischen Kundgebung zu gewährleisten, gestattete der Bezirkshauptmann, diese neben der Kruckenkreuzfahne aufzuziehen. Die Veranstaltung verlief in der Folge ruhig, es kam nur beim Abmarsch sowie im Verlauf des Abends zu kleineren Zusammenstößen.317 Aufgrund der massiven nationalsozialistischen Demonstrationen wurden Bundesheereinheiten aus Niederösterreich und Burgenland in die Steiermark, insbesondere nach Graz, verlegt.318 Als sich Seyß-Inquart am 1. März in Graz auf hielt, kam es wiederum – trotz des noch immer bestehenden Versammlungsverbotes – zu einem Massenaufmarsch, bei dem sich der Innen- und Sicherheitsminister offen mit dem (ebenso verbotenen) Hitler-Gruß zeigte!319 In der Folge ließ er das Tragen von nationalsozialistischen Abzeichen sowie den „Deutschen Gruß“ zumindest im privaten Bereich zu.320 Am 3. März wurde Stepan, der ein prononcierter Gegner der Nationalsozialisten war, von Dr. Rolph Trummer als Landeshauptmann abgelöst;321 der bei den Nationalsozialisten extrem unbeliebte Gorbach hatte bereits wenige Tage zuvor die Landesleitung der Vaterländischen Front zurücklegen müssen.322 Er wurde zur besonderen Verwendung nach Wien abberufen, die Geschäftsführung der Landesorganisation übernahm der stellvertretende Generalsekretär der Vaterländischen Front, Staatsrat Ing. Engelbert Dworschak, die formelle Führung Guido Zernatto selbst.323 In vielen öffentlichen Dienststellen wurden Unterschriftenlisten aufgelegt, um diejenigen zu erfassen, die bereit waren, sich innerhalb der Vaterländischen Front zur natio-

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

nalsozialistischen Weltanschauung zu bekennen („Dadieu-Listen“).324 All dies führte aber nicht mehr dazu, die Situation zu beruhigen. Der Situationsbericht eines Wiener Angehörigen des Sturmkorps (dieses sollte die „Elitetruppe“ der Vaterländischen Front werden; der Mannschaftsstand durfte höchstens ein Prozent der Wohnbevölkerung umfassen),325 der sich am Abend des 2. März mit einem Kameraden in Graz aufgehalten hatte, an seine Dienststelle gibt uns ein anschauliches Bild der Verhältnisse: Bei der Ankunft in Graz selbst erblickten wir zum ersten Male eine größere Anzahl von Menschen, die durchwegs das Hakenkreuz in auffälligster Form aufgesteckt hatten. Auf unserem Wege durch die Stadt und auch in den darauf folgenden Tagen erblickten wir nirgends ein rot-weiß-rotes Bändchen. Es kann ohne Übertreibung gesagt werden, dass man froh sein muss, wenn man unter hundert Leuten fünf trifft, die kein Hakenkreuz tragen. Sämtliche Lokale, Gast- und Kaffeehäuser sind von Nationalsozialisten besetzt. Der Gruß „Heil Hitler“ wird in Graz genau so gehandhabt, wie anders wo „Guten Tag“ [...]. Im Opernkaffee, dem ersten Kaffeehaus von Graz, sprangen mehrere Gäste auf, als ein Mann, von dem ich nachträglich erfuhr, dass er ein SS-Führer sei, hereinkam, standen Habt Acht und riefen laut „Heil Hitler“. Der SS-Führer schritt mit erhobener Hand durch die Reihen. Der bedienende Kellner trat auf ihn zu, stand ebenfalls stramm und grüßte mit „Heil Hitler“. In Weinstuben und anderen Lokalen wo Musik ist, hat diese das Horst-WesselLied zu spielen und alle Gäste, ausnahmslos ob sie wollen oder nicht, müssen dabei aufstehen und mit erhobener Hand zuhören und nachher „Heil Hitler“ rufen. Aus der Straßenbahn grüßen die Schaffner mit „Heil Hitler“ heraus. Sogar auf dem Anstandsort auf dem Jakominiplatz wird man von der dort beschäftigten Frau mit dem gleichen Gruß empfangen.326 Der Berichterstatter hatte den Eindruck, es gäbe in Graz nur mehr Nationalsozialisten: Das Merkwürdige ist, dass die Hakenkreuze nicht irgendwie provozierend getragen werden, sondern dass es als selbstverständlich betrachtet wird. Es herrscht allgemein

273

die feste Überzeugung, dass es gar keine Änderung mehr geben kann, sondern dass dies ganz im Gegenteil nur der Anfang ist und dass von Graz aus [...] das Hakenkreuztragen in ganz Österreich selbstverständlich wird. Bezeichnend für die Stimmung unter der Bevölkerung ist, dass nicht nur junge Burschen bei diesen Sachen dabei sind, sondern jede nur irgendwie mögliche Bevölkerungsschichte, groß, klein, jung und alt, Arbeiter, Studenten und vor allem Intelligenzler. Es wurde eine große Anzahl von CV-Mitgliedern notiert, die mit Hakenkreuz gehen und „Heil Hitler“ grüßen. Polizei sieht man sehr wenig außer den Verkehrswachleuten in der Stadt, und wenn irgendwo größere Menschenansammlungen sind, so wird die Ordnung durch SS-Männer aufrecht erhalten.327 Die rasche Absetzung Stepans und Gorbachs hatte in Kreisen der „vaterländischen“ Bevölkerung für Verunsicherung gesorgt. So beschlossen am 3. März 1938 leitende Funktionäre der Sozialen Arbeitsgemeinschaft sowie des Gewerkschaftsbundes einstimmig eine Resolution an den neuen Landeshauptmann. Darin forderten sie zwei Sitze in der Landesregierung sowie die Ersetzung des Grazer Bürgermeisters durch einen Angehörigen der Arbeiterschaft.328 Weiters sollte das offene Verwenden des Hakenkreuzes auf Abzeichen und Fahnen verboten und jene öffentlich Bediensteten, für die ein Eid scheinbar nur eine Geste ist, rücksichtslos beseitigt werden. Die Arbeiterschaft verwahre sich außerdem dagegen, dass man sie mit der Pauschalverdächtigung „Kommunisten“ abzutun versucht, weil sie aus ganzem Herzen österreichisch eingestellt ist und nichts anderes als ihr natürliches Recht, im Kampfe um die Freiheit Österreichs in der ersten Reihe zu stehen, mit dem Herzen, aber auch wenn es sein muss mit der Faust, für sich in Anspruch nimmt. Die Arbeitervertreter in der Vaterländischen Front erklärten, dass die Geduld der Arbeitnehmer zu Ende gehe und man bereit und entschlossen sei, in organisierter Selbsthilfe jene Zustände wieder herzustellen, die den wirklichen Frieden, den Frieden der Arbeit garantieren.329

274

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Am 9. März kündigte schließlich der Bundeskanzler an, vier Tage später eine Volksbefragung „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich“ durchführen zu wollen. Schuschnigg sagte später, er habe die Abhaltung einer Volksbefragung erstmals Ende Februar erwogen, als die nationalsozialistischen Kundgebungen in Graz immer stärker wurden. Den endgültigen Entschluss fasste er wenige Tage später, „als die ersten Anzeichen passiver Resistenz in Grazer Ämtern und Schulen sich zeigten, die Verhandlungen mit der ‚nationalen Opposition‘ aber immer deutlicher im Sande verliefen, weil jedes abgeschlossene Ergebnis binnen 24 Stunden widerrufen wurde, jedes Entgegenkommen eine Lawine neuer, unerfüllbarer Forderungen auslöste“.330 Schuschnigg erhielt „aus allen Ländern mit Ausnahme der Steiermark„ 331 die Zusicherung, dass mit einer Mehrheit zu rechnen sei, vor allem, da sich die Arbeiterschaft zur Unterstützung bereit erklärte. Die Verfahrensvorschriften für die Befragung waren allerdings eher zweifelhaft, sollten aber beitragen, eine Niederlage zu vermeiden.332 So wurde das Alter für die Abstimmungsberechtigung mit 24 Jahren festgelegt, da man annehmen musste, dass ein Großteil der Jugendlichen mit dem Nationalsozialismus zumindest sympathisierte. Der offizielle Abstimmungszettel war nur mit dem Wort „Ja“ bedruckt. Jeder abgegebene Zettel galt als Ja-Stimme, auch dann, wenn das Wort durchgestrichen oder mit einem handgeschriebenen Beisatz versehen oder der Zettel eingerissen war. Auch vollkommen leere Stimmzettel galten als gültige Stimme. – Die­jenigen Personen, die mit „Nein“ zu stimmen wünschen, müssen nach obiger Anordnung einen Zettel in der gleichen Größe mit dem Worte „Nein“ handschriftlich beschreiben. Zettel, die das Wort „Nein“ mit irgend einem Zusatz enthalten, sind ungültig.333 Der Bundeskanzler musste schließlich aufgrund des Drucks Hitlers die Volksbefragung

absagen. Die allgemeine Entwicklung der letzten Wochen führte aber dazu, dass man sich in Deutschland nicht mehr damit zufrieden gab und auf einen Einmarsch hinarbeitete. Zumindest in der Steiermark beherrschten zu diesem Zeitpunkt in den meisten größeren Städten die Nationalsozialisten das Stadtbild, die Exekutive hielt sich zurück beziehungsweise duldete dies zum Teil offen.334 Schuschnigg trat schließlich am Abend des 11. März 1938 zurück, Bundespräsident Miklas ernannte, nach längerem Zögern, Seyß-Inquart zum Kanzler. Vor allem in Graz traten die Nationalsozialisten bereits davor offen als solche auf und beherrschten die Stadt. Es kam laufend zu Zusammenstößen, Polizei und Bundesheer hielten die wichtigsten Punkte der Stadt besetzt.335 Als die Nachricht vom Rücktritt Schuschniggs bekanntgegeben wurde, wurde dies von etwa 70.000 Grazern auf dem Hauptplatz gefeiert.336 In den Abendstunden übernahmen die Nationalsozialisten die wichtigsten öffentlichen Stellen. In der Nacht zum 12. März kam es zur Machtübernahme im Land.337 Der erste nationalsozialistische Landeshauptmann, Ing. Sepp Helfrich, der im Februar 1938 (erneut) mit der Gauleitung der Steiermark betraut worden war, gab rückblickend folgenden Bericht: Ich habe dann am 26. oder 27. Februar meine Tätigkeit in Graz begonnen und bat Uiberreither zu einer Besprechung in meine Wohnung und gab meine Weisungen weiter und bat diesen, sich unbedingt an diese Weisungen zu halten. Es kam dann in der Folge doch zu einem Konflikt zwischen mir und Uiberreither, bei welcher Auseinandersetzung ich von ihm als Weihnachtsmann und Schlappschwanz hingestellt wurde. Der sogenannte „Deutsche Tag“, der für den 6. März 1938 zwecks Aufklärung über den zukünftigen Kurs veranstaltet werden sollte, Uiberreither wollte diesen Tag für eine Großdemonstration der SA benützen, wurde auf meine Initiative hin abgeblasen, da ich eine blutige Auseinandersetzung befürchtete.338 Am Vormittag des 11. März erhielt Helfrich die Nachricht aus Wien, sich für die

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

275

Postkarte mit Poststempeln vom 11. März 1938, die auf die Volksbefragung Bezug StLA nehmen

Ablöse von Landeshauptmann Dr. Rolph Trummer bereitzuhalten. Bei den nachfolgenden Besprechungen mit Dr. Alois Sernetz, Dr. Kaspar, SSSturmbannführer Pinter, Uiberreither und Dadieu im Parkhotel in Graz teilte ich diesen Herren mit, welchen Auftrag ich aus Wien erhalten hatte und wurde mir da von allen Seiten zugeredet, ich solle diesen Auftrag der Bildung der steirischen Landesregierung unbedingt wieder zurücklegen. Zweimal telephonierte ich mit Klausner persönlich, der eine Demission meinerseits nicht zuließ, was ich den Versammelten auch mitteilte, diese glaubten mir aber nicht, schließlich sprach Pinter mit Klausner per Telephon, erhielt aber wieder dieselbe Nachricht mit dem Beifügen, dass eine Opposition innerhalb der Partei gegen meine Bestellung mit Gewalt gebrochen werden würde.339 Weitere Eindrücke vom Machtwechsel in der Steiermark erhalten wir durch den damaligen Landeshauptmann, Dr. Rolph Trummer:340 Kurz nach der Abstoppung der vom Bundeskanzler Dr. Schuschnigg angeordneten Volksbefragung, deren nähere Ursachen mir unbekannt blieben, hatte ich die Möglichkeit, ganz kurz mit ihm von Graz aus telephonisch zu sprechen und ihn zu fragen, was nun weiter ge-

schehen soll. Er sagte mir nur, dass Blutvergießen unbedingt zu verhindern sei, das Nähere würden wir durch das Radio erfahren. In der Folgezeit überstürzten sich die Ereignisse und begab ich mich nach der durch den Bundeskanzler durch das Radio durchgegebenen Erklärung, dass er der Gewalt weiche, von meinem Amtssitz in der Burg in meine Privatwohnung [...]. In der Nacht darauf – glaublich um ca. 2 Uhr – wurde ich vom Oberregierungsrat Dr. Sutter telefonisch verständigt, dass die Herren der NSDAP in der Burg seien und mit mir zu sprechen wünschten. Ich begab mich auf das hin dorthin, nachdem ich vorher [...] Statthalter [= Landeshauptmannstellvertreter] Graf Barthold Stürgkh zu dieser Besprechung abgeholt hatte, um dabei nicht allein zu sein. Als wir den Burghof betraten, wimmelte es dort bereits von SA und SS, da die Burg von der NSDAP bereits besetzt war. Zufällig stieß ich hier gleich auf den Sicherheitsdirektor Dr. Kastner-Pöhr, der mir erklärte, dass er bereits abgesetzt worden sei. Als ich meine Amtsräume in der Burg betrat, waren dort die prominenten Führer der NSDAP schon anwesend und zwar nach meiner Erinnerung Ing. Helferich [sic], Dr. Sernetz, Dr. Kasper [sic] und Dr. Dardieu [sic] – ob

276

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

sonst noch welche führende Persönlichkeiten der NSDAP dabei waren, kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen – wohl aber wimmelte es dort von zahlreichen SS- und SA-Leuten. Nun trat [...] Dr. Kasper [sic] als Wortführer auf und erklärte, dass vom „Bundeskanzleramt“ mitgeteilt worden sei, dass Ing. Helferich [sic] zum Landeshauptmann von Steiermark ernannt worden sei, und verlangte die Übergabe der Agenden. Mit Rücksicht auf den obigen Auftrag des Bundeskanzlers Dr. Kurt Schuschnigg, Blutvergießen unbedingt zu vermeiden, kam ich im Einvernehmen mit dem Statthalter Barthold Graf Stürgkh diesem Verlangen nach, ohne Widerstand zu leisten, zumal ein solcher nach der gegebenen Situation vollkommen zwecklos und unmöglich gewesen wäre. Ich war auch bestrebt, zwecklose Auseinandersetzungen zu vermeiden, und suchte daher die Abwicklung möglichst reibungslos zu gestalten. Bevor ich mich aber mit dem

Landesstatthalter Barthold Graf Stürgkh aus der Burg entfernte, stellte ich an die anwesenden Führer der NSDAP die Frage, was dann zu geschehen habe, wenn die obengenannte seitens des „Bundeskanzleramtes“ an sie erfolgte Mitteilung über die Ernennung des Ing. Helferich [sic] zum Landeshauptmann von Steiermark auf einem Irrtum beruhe; darauf antwortete mir nach meiner Erinnerung Dr. Kasper [sic] (ich kann es aber nicht mit Sicherheit ausschließen, dass es Dr. Sernetz war), dann sei der Übergabsakt nicht als geschehen zu betrachten. Hiezu bemerke ich, dass mir und den übrigen Mitgliedern der damaligen steirischen Landesregierung keine Möglichkeit mehr gegeben war, sich mit Wien in irgendeiner Weise in Verbindung zu setzen, da alle Behörden und Ämter von der NSDAP und deren Formationen bereits besetzt waren [...].341

„Verachtet mir die Meister nicht, und ehrt mir ihre Kunst!“342 Quellenverzeichnis Sonderarchiv Moskau (= CChIDK) Bestände 506 (Ostmärkische Sturmscharen), 514 (Vaterländische Front) und 515 (Bundeskanzleramt) Steiermärkisches Landesarchiv (= StLA) – BKA/GdS 22 (= Bundeskanzleramt/Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit – Bestand Steiermark) – Amt der Landesregierung, Aktenplanabschnitte 6, 9 – KG (= Kreisgericht) Leoben, Vr-Akten – Landeshauptmannschaft (= Amt der Landesregierung ab 1934), Aktenplanabschnitte Präs., 6, 9, 46 – LGS (= Landesgericht für Strafsachen) Graz, VrAkten – Sitzungsprotokolle der Steiermärkischen Landesregierung – Stenographische Protokolle des Steiermärkischen Landtags (nicht öffentliche Sitzungen) – Sammlung 20. Jahrhundert, Karton „Heimwehr 1927–1935“; K. 44, 199, 201 6-Uhr-Blatt [= Abendausgabe des Grazer Volksblattes]

Der Angriff. Kampf blatt der NSDAP für den Bezirk Graz und Umgebung Arbeiterwille Arbeiter-Zeitung. Organ der österreichischen Sozialdemokratie Österreichische Arbeiter-Zeitung Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark Obersteirerblatt Der Panther. Österreichische Heimatschutz-Zeitung Stenographische Protokolle des Steiermärkischen Landtags Grazer Schreib- und Amtskalender Sonntagsbote Tagespost Grazer Volksblatt Der österreichische Volkswirt Obersteirische Volkszeitung Österreichische Woche Alpenländische Wochenschau Kleine Zeitung

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

277

Anmerkungen Dieser Beitrag wurde im Jahr 2008 abgeschlossen. „Kernstock-Hymne“. Verfasst 1920, gesungen zur Melodie der „Kaiser-Hymne“; 1929 bis 1938 offizielle österreichische Nationalhymne. 2 Vgl. dazu für viele: Czerny, Schicksalstag 259ff.; Schönbauer, Ausschaltung des Nationalrates 184ff. Vorarbeiten für diesen Beitrag, insbesondere ein Aufenthalt im Moskauer „Sonderarchiv“ (CChIDK), erfolgten im Rahmen des Forschungsprojektes „Die Steiermark im 20. Jahrhundert“ unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner. Ein Teil der im Folgenden zitierten Akten befindet sich mittlerweile in kopierter Form im Steiermärkischen Landesarchiv. 3 Huemer, Robert Hecht 126. 4 Huemer, Robert Hecht 209. 5 Tagespost (Mittagsausgabe) (6. 3. 1933), 4 sowie Tagespost (Mittagsausgabe) (7. 3. 1933), 3; Staudinger, Juli-Putsch 242 m. w. N. 6 StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 145.808/33; Arbeiterwille (9. 3. 1933), 8. 7 Tagespost (Abendblatt) (11. 3. 1933), 4; Arbeiterwille (12. 3. 1933), 5. – Zur Berichterstattung der steirischen Presse im bearbeiteten Zeitraum allgemein Schmied, Presse und ­Diktatur sowie Aschacher, Presse der Steiermark. 8 StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 145.808/33. 9 Tagespost (Abendblatt) (11. 3. 1933), 4. 10 Dazu siehe StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 15. 3. 1933. 11 Aufgrund der Landtagswahl vom 9. 11. 1930 entfielen je 17 Landtagssitze auf die Sozialdemokratische sowie Christlichsoziale Partei, acht Mandate erhielt die Einheitsliste „Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund“, sechs die unter der Bezeichnung „Heimatblock“ kandidierenden Heimwehren; dazu sowie zu den Nationalratswahlen vom selben Tag siehe den Beitrag von Gernot D. Hasiba in diesem Band sowie Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 487. Da die Sozialdemokraten 9.000 Stimmen mehr als die Christlichsozialen errungen hatten, beanspruchten sie vier Sitze in der Landesregierung, während letztere auf einer Entscheidung durch das Los bestanden. Diese fiel schließlich zugunsten der Sozialdemokratischen Partei aus, die somit vier Landesräte stellte (drei Christlichsoziale Partei, einer Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund, einer Heimatblock); eingehend StBerLT 1930–1934, 3ff. 12 StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 15. 3. 1933; vgl. auch: Arbeiterwille (16. 3. 1933), 2. *

13

1

14

15

16

17 18 19

20

21

22

23

24 25

26

27 28

29

30 31 32

Tagespost (Abendblatt) (15. 3. 1933), 3. Arbeiterwille (16. 3. 1933), 2; Tagespost (Morgenblatt) (16. 3. 1933), 5. StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 133.038 und 133.915/33; Soós, Koloman Wallisch 156. StBerLT 1930–1934, 759. Mehr in der Tagespost (Morgenblatt) (18. 3. 1933), 4 sowie Arbeiterwille (18. und 19. 3. 1933), jeweils 3. Tagespost (Abendblatt) (18. 3. 1933), 4. Tagespost (Morgenblatt) (19. 3. 1933), 6. Arbeiterwille (20. 3. 1933), 2; Tagespost (Morgenblatt) (22. 3. 1933), 11. StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 134.874/33; Soós, Koloman Wallisch 158 m. w. N. 6-Uhr-Blatt [= Abendausgabe des Grazer Volksblattes] (1. 4. 1933), 1. Staudinger, Schutzbund in Graz 161ff.; Soós, Koloman Wallisch 159. Siehe auch die Berichte in Tagespost (Morgenblatt) (7. 4. 1933), 1f., Arbeiterwille (9. 4. 1933), 13 sowie Arbeiterwille (11. 4. 1933), 2 und 5. Rintelen war im Mai 1932 zum Unterrichtsminister ernannt worden, legte aber – im Gegensatz zu seiner erstmaligen Ministerschaft im Jahr 1926 – seine Funktion als Landeshauptmann nicht zurück; dazu StBerLT 1930–1934, 494ff. StBerLT 1930–1934, 711. StBerLT 1930–1934, 711. Zur Sitzung etwa Tagespost (Morgenblatt) (21. 3. 1933), 3ff. StBerLT 1930–1934, 712ff. Letzterer Teil der Anfrage bezog sich auf die Amtsniederlegung des Wiener Polizeipräsidenten Dr. Brandl. StBerLT 1930–1934, 713ff. Der Landbund, der in der Steiermark sechs Mandate innehatte (er hatte gemeinsam mit dem Wirtschaftsblock – zwei Mandate – kandidiert), war ja auf Bundesebene Koalitionspartner der Christlichsozialen Partei. Vizekanzler Franz Winkler hatte ursprünglich sogar ein steirisches Landtagsmandat bekleidet. StBerLT 1930–1934, 751f.; Beschlüsse Nr. 402– 408. StBerLT 1930–1934, Beschluss Nr. 407. StBerLT 1930–1934, Beschluss Nr. 408. StBerLT 1930–1934, Beschluss Nr. 408. Landesrat Zenz übermittelte schließlich am 27. April dem Bundeskanzleramt folgenden Text: Das Amt der Landesregierung beehrt sich mitzuteilen, dass der Steiermärkische Landtag in seiner Sitzung vom 20. März l. J. mit Mehrheit folgenden Beschluss gefasst hat: Der Landtag

278

33 34

35

36 37

38 39

40

41

42

43

44 45 46

47

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

legt schärfste Verwahrung gegen die Art der Geschäftsführung durch die Bundesregierung ein und spricht ihr das Misstrauen aus; ÖStA/ADR, BKA Pr. 6899/1933, zit. nach: Soós, Koloman Wallisch 157. StBerLT 1930–1934, 755ff. Dieser Antrag rief bei der Ankündigung zu Sitzungsbeginn Heiterkeit hervor. Meyszner wurde im Juni 1933 auch als Gendarmeriebeamter pensioniert und leitete ab November 1933 eine SA-Brigade. Er f lüchtete nach dem Juliputsch nach Deutschland und machte dort in der Partei Karriere, 1947 wurde er in Belgrad gehängt; Mitteilung der Sicherheitsdirektion Steiermark vom 19. 11. 1934. In: CChIDK, 515-2-137; Gebhardt, Gendarmerie in der Steiermark 254f.; Preradovich, SS-Führer 122. StBerLT 1930–1934, 769. Abgeordneter Dr. Adolf Enge, StBerLT 1930–1934, 770. StBerLT 1930–1934, 773; Beschluss Nr. 412. Abgedruckt in: Der Panther. Österreichische Heimatschutz-Zeitung (29. 4. 1933), 1; zu den Etappen des Abkommens Pauley, Weg in den Nationalsozialismus 85; siehe auch Staudinger, Juli-Putsch 242f. m. w. N; StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 160.848 und 174.882/33. „1. Kreisführungsrundschreiben“ des Steirischen Heimatschutzes vom 29. 3. 1933, unterzeichnet von C. A. Pajer, an die Führer und Funktionäre des Kreises Graz, in: StLA, Sammlung 20. Jahrhundert, Karton „Heimwehr 1927–1935“. StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 167.876/33 passim. Zu den zahlreichen „politischen Vergehen“ durch Mittelschüler siehe die anschauliche Aufzählung bei Timischl, Beiträge zum steirischen Schulwesen (1991), 301ff. Dazu siehe etwa Arbeiterwille (16. 5. 1933), 1; Beiträge Julirevolte (1934), 20ff.; StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 174.882/33. Eingehend: Otruba, A. Hitler‘s „Tausend-MarkSperre“ und die Folgen für Österreichs Fremdenverkehr. Goldinger/Binder, Geschichte 206. Dazu Reichhold, Kampf um Österreich 94f. Goldinger/Binder, Geschichte 209; Pferschy, Steiermark 957. Zur Organisation der Vaterländischen Front allgemein CChIDK, 514-1-1467. Vgl. den Tätigkeitsbericht des ersten Landesgeschäftsführers, Oberstleutnant Stephan Schromm-Bodenelb, sowie weitere einschlägige Korrespondenz in: CChIDK, 514-1-1708; sowie Rupnik, Dollfuß 171f. Zur Entwicklung der Vaterländischen Front im ersten Jahr siehe auch die Berichte Gorbachs vom 22. 3.

48

49

50

51 52

53

54

55

56

57

58 59

60

und vom 19. 11. 1934. In: CChIDK, 514-1-1708 beziehungsweise 514-1-1416. Eingehend Polaschek, Rechtsentwicklung 100f. m. w. N. StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 24. 5. 1933. So beklagte sich beispielsweise Landeshauptmann Karl Maria Stepan im Juni 1935 über sein schlechtes Einvernehmen mit dem Sicherheitsdirektor, da dieser über den Umfang seiner Kompetenz und über die innere Struktur seiner Stellung einer durchaus irrigen Meinung zu sein scheint; StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 14. 6. 1935. Zu den Sicherheitsdirektoren auch Mähner, Rolle der Polizei 37ff. Gebhardt, Gendarmerie in der Steiermark 257. Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 10 ( Jänner 1936), 3. Dazu siehe etwa StLA, LGS Graz, Vr 1985/33 (Walther Oberhaidacher et al.) sowie StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 172.216 und 172.355/33. BGBl. 240/1933. Die Auf lösung des letztgenannten hatte nichts mit dem Attentat in Krems zu tun, sondern war erfolgt, um „eine unerwünschte Konkurrenz aus dem Felde zu schlagen“; Winkler, Diktatur in Österreich 67. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 38; Gorke, Sturmabteilung 37f.; Lewonig, Die illegale Publizistik 90ff. Zur illegalen Tätigkeit der NSDAP siehe auch die Übersicht der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit. In: CChIDK, 515-2-53 sowie eine Aufstellung der Sicherheitsdirektion über die illegalen SA- und SS-Formationen in der Steiermark im März 1937. In: StLA, Sammlung 20. Jahrhundert, Karton 201. Dazu vgl. etwa den Erlass des Sicherheitsdirektors für Steiermark vom 10. 8. 1933, StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 200.298/33. Siehe etwa die Rede des zweiten Landtagspräsidenten Anton Gföllner am 16. 6. 1933, StBerLT 1930–1934, 805f. sowie des Abgeordneten des Landbundes, Thomas Ferner, ebd., 813. BGBl. 200/1933. StBerLT 1930–1934, 833ff.; LGBl. 56/1933. Vgl. auch die Sitzungen der Landesregierung, StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 4., 10. und 14. 7. 1933; Arbeiterwille (30. 7. 1933, 1f.); Huemer, Robert Hecht 229. Als Verfassungsgesetz musste es mit ZweidrittelMehrheit beschlossen werden, was ohne deren Stimmen nicht möglich war. Die Zustimmung der Sozialdemokraten führte aber auch zu einer Abwendung von Teilen ihrer Anhängerschaft; Hinteregger, Spurensicherung 82.

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär 61 62 63

64

65

66 67 68 69

70

71

72

73 74

75

76

77

StBerLT 1930–1934, 839. StBerLT 1930–1934, 874. StBerLT 1930–1934, 848, 874. Die Auf lösung der Gemeinderäte erfolgte allerdings zuweilen ohne Berechtigung, die Bevölkerung war mit den eingesetzten Regierungskommissären unzufrieden; dazu z. B. StLA, Sitzungsprotokolle der Landesregierung vom 25. 10. und vom 6. 12. 1933. Paragraph 1 Abs. 3 leg cit. Vom Mandatsverlust betroffen war Landesrat (und Landtagsabgeordneter) August Meyszner sowie die Landtagsabgeordneten Viktor Hornik, Franz Kammerhofer, Franz Rottenmanner, Ludwig Schranz und Otto Walcher. Zur „Übernahme“ einiger Bürgermeister, Gemeinderäte, Orts- und Bezirksschulräte durch den Landbund beziehungsweise die Christlichsoziale Partei vgl. den Bestand StLA, Amt der Landesregierung 9 Ma 1/1933, vor allem ab 9 Ma 1/7-1933. StBerLT 1930–1934, 875; LGBl. 66/1933. Text in Anlage A und B des Gesetzes. StBerLT 1930–1934, 835. Arbeiterwille (30. 8. 1933), 1. Dazu auch Binder, Dollfuß und Hitler 260. StBerLT 1930–1934, 893ff. Zu den Vorberatungen bzgl. der Nachfolge Rintelens siehe den Brief Raoul Szigethys an die Bundesleitung der Vaterländischen Front vom 3. 11. 1933. In: CChIDK, 5141-1708. Arbeiterlied. In den Revolutionen 1905 und 1917 wurde es in Russland zur Hymne; zählt zu den meistgesungenen Liedern der Arbeiterbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu siehe etwa den Bericht über eine Heimwehrführertagung Mitte Dezember 1933. In: Der Ruf. Wochenschrift für österreichische Politik (8. 1. 1934). In: StLA, BKA/GdS 22/1934-I (fol. 1478). Tagespost (Morgenblatt) (3. 1. 1934), 5. StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 104.024/34; Uhl, Kammer für Arbeiter und Angestellte 225 m. w. N.; Staudinger, 12. Februar 1934, 114. BGBl. 505/1933. Bei einem einstimmigen Schuldspruch war auf die Todesstrafe zu erkennen, andernfalls war die Causa dem ordentlichen Gericht zuzuweisen. Bei einem Todesurteil war kein Rechtsmittel zulässig, die Hinrichtung hatte binnen drei Stunden zu erfolgen. Einzig eine Begnadigung durch den Bundespräsidenten war möglich. Im ersten Prozess Mitte Dezember 1933 in Wels war der Sohn eines wohlhabenden Bauern, der eine von ihm geschwängerte Dienstmagd ermordet hatte, vom Bundespräsidenten über Antrag Schuschniggs begnadigt worden. StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 103.517/34 passim;

78

79 80

81

82 83

84

85 86

87 88

89 90

91 92

279

Neck, Koloman Wallisch vor dem Stand­gericht 456. Zum Prozess siehe Polaschek, Mühlen der Justiz 399ff. Tagespost (Morgenblatt) (12. 1. 1934), 9. Tagespost (Morgenblatt) (12. 1. 1934), 9. Gegen die Hinrichtung wandten sich mehrere Flugblätter, z.  B. StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 111.499 und 115.588/34. Das Standrecht für diese Delikte blieb auch nach dem Februar- und Juliputsch aufrecht, weshalb es in der Folge mehrmals (auch) zu „unpolitischen“ Standrechtsverfahren kam. So verurteilte ein Standgericht im August 1937 einen 27-jährigen Besitzerssohn aus der Gegend von Vorau zum Tode, der seine Geliebte mit fünf Revolverschüssen niedergestreckt und die Sterbende mit einem Strick erdrosselt hatte; Obersteirerblatt (11. 8. 1937), 5. Mitte September erging ein weiteres Todesurteil, da ein Mann in der Nähe von Arnfels im Auftrag seiner Schwester deren Mann erschossen hatte, der ihr und ihrem Liebhaber im Weg gestanden war; Gebhardt, Gendarmerie in der Steiermark 284. So etwa ein Hinweis in der Tagespost (Abendblatt) (10. 1. 1934), 2, „in Beantwortung vielfacher Anfragen aus unserem Leserkreise“. StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 125.247/34. StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 108.762, 125.247, 138.623/34 et al.; Tagespost (Morgenblatt) (20. 1. 1934), 1 und Tagespost (Morgenblatt) (21. 1. 1934), 4. Zur Tätigkeit der Nationalsozialisten siehe auch Steindl, Faschismus 92ff. StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 120.482/34; Vgl. auch ebd., Zl. 125.247/34 sowie Staudinger, JuliPutsch 245. BGBl. I 20/1934. Dazu siehe beispielsweise den Fall mehrerer Brucker Kauf leute; StLA, BKA/GdS 22/1935, Zl. 301.354/35. Tagespost (Morgenblatt) (26. 1. 1934), 5. StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 207.584/34. Diese unberechtigten Ersatzvorschreibungen waren mit ein Grund dafür, dass Zelburg, der unmittelbar nach dem „Anschluss“ ins KZ gebracht worden war, im Juli 1939 zu acht Jahren Kerker verurteilt wurde. Das Reichsgericht änderte die Strafe im Jänner 1940 auf drei Jahre ab; dazu siehe den Strafakt Zelburgs, StLA, LGS Graz, Vr 1030/38. Gebhardt, Gendarmerie in der Steiermark 259. Siehe die entsprechenden Berichte in den verschiedenen Tageszeitungen Ende Jänner/Anfang Februar 1934. Rabinbach, Vom Roten Wien 177. Vgl. etwa den Bericht von Landeshauptmann Franz

280

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Stumpf an den Bundeskanzler am 3. 2. 1934, abgedruckt in: Jedlicka/Neck, Vom Justizpalast zum Heldenplatz 379ff.; Schober, Geschichte des Tiroler Landtages 432f. 93 Hartlieb, Parole 140ff.; Rabinbach, Vom Roten Wien 181; Wiltschegg, Heimwehr 81f. und 159f.; vgl. auch: Heimatschutz in Österreich (1934), 266f. 94 Reichhold, Kampf um Österreich 361f. 95 Tagespost (Morgenblatt) (7. und 8. 2. 1934), jeweils 3. 96 Tagespost (Abendblatt) (7. 2. 1934), 4. Dazu vgl. auch: Tagespost (Abendblatt) (27. 2. 1934), 4. 97 Tagespost (Abendblatt) (8. 2. 1934), 4. 98 Tagespost (Morgenblatt) (8. 2. 1934), 4. Dazu siehe auch StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 9. 2. 1934. 99 Tagespost (Abendblatt) (8. 2. 1934), 4; Reich, Die Ostmärkischen Sturmscharen 189f. m. w. N. Die „Ostmärkischen Sturmscharen – Land Steiermark“ hatten sich bereits in ihrem Grundsatzprogramm gegen die einseitige Parlamentsherrschaft gewandt, durch welche die Volksgemeinschaft zerrissen und das Staatswohl geschädigt wird; CChIDK, 506-1-5. 100 In: CChIDK, 514-1-1708; eine Abschrift erging auch an Landeshauptmann Dienstleder. In: StLA, Amt der Landesregierung, Präs.-Korrespondenz des Landeshauptmannes, Zl. 417/6-34. Solche Forderungen wurden auch von Teilorganisationen unterstützt; siehe beispielsweise die Resolution der Stadtorganisation Voitsberg der Christlichsozialen Partei vom 8. 2. 1934. In: StLA, Amt der Landesregierung, Präs.-Korrespondenz des Landeshauptmannes, Zl. 416/1-34. 101 Tagespost (Abendblatt) (11. 2. 1934), 5. 102 Tagespost (Morgenblatt) (11. 2. 1934), 2. 103 Dieses war im Sommer 1933 zur Unterstützung der Exekutive geschaffen worden. Es setzte sich aus ­M itgliedern der regierungstreuen Wehrverbände (Österreichischer Heimatschutz, Ostmärkische Sturmscharen, Freiheitsbund, Christlich-deutsche Turner und Bauernwehr) zusammen und fungierte als zusätzlicher Wachkörper zu den staatlichen Exekutiveinheiten; Schutzkorpsverordnung vom 7. 7. 1933, BGBl. 292/1933. Dazu siehe auch die Durchführungsbestimmungen und Richtlinien der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit. Etwa in: CChIDK, 506-1-15 und 506-2-4; sowie Riedler, Ausnahmegesetzgebung 48f.; Gebhardt, Gendarmerie in der Steiermark 257f. 104 Tagespost (Abendblatt) (8. 2. 1934), 2. Zu deren Bewaffnung aus Beständen des Bundesheeres vgl. die Mitteilung der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit. In: CChIDK, 515-2-50.

Heimatschutz in Österreich (1934), 133. Am 9. Jänner 1934 waren 300 Männer aufgeboten (österreichweit 3.450, davon 1.400 in Wien). Davon gehörten 168 dem Österreichischen Heimatschutz, 64 den OSS, 50 dem Freiheitsbund und 18 den Christlichdeutschen Turnern an; CChIDK, 506-1-15. Zur Aufteilung auf die einzelnen Bezirke siehe ebenda. 106 Köck, 12. Februar 1934, 103f. m. w. N. 107 Zum Folgenden vgl. insbesondere Anzenberger/ Polaschek, Widerstand 133ff.; Köck, 12. Februar 1934, 106ff. m. w. N.; Hinteregger, Spurensicherung 88ff. sowie StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 131.013 und 147.296/34. 108 Tagespost (Morgenblatt) (13. 2. 1934), 1 beziehungsweise Tagespost (Abendblatt) (13. 2. 1934), 1. Text der Kundmachung Zelburgs auch in: Um Österreichs Freiheit (1936), 57f. 109 Zechner, Bruck a. d. Mur 29. 110 Mang, Steiermarks Sozialdemokraten 128. 111 Soós, Koloman Wallisch 188. 112 Brandl/Cerov, Kapfenberg 50; Vogl, Kapfenberg 76ff. Zu den Kämpfen in Thörl: Um Österreichs Freiheit (1936), 85f. 113 Köck, Josef Stanek 356; Wallisch, Ein Held stirbt 32. 114 Tagespost (Morgenblatt) (18. 2. 1934), 3. 115 Tagespost (Morgenblatt) (17. 2. 1934), 5. 116 Allein im Stadtsaal befanden sich rund 500 Häftlinge; die Bewachung oblag Mitgliedern des Grazer Heimatschutzes, größtenteils alten k. u. k. Offizieren; Tagespost (Morgenblatt) (8. 3. 1934), 6. 117 Brandl/Cerov, Kapfenberg 52. 118 Die Bilanz der Opfer. In: Koloman Wallisch (1984), 74. Vgl. Köck, 12. Februar 1934, 161 m. w. N. 119 StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 147.296/1934; siehe auch Tagespost (Morgenblatt) (15. 2. 1934), 3. 120 Staudinger, 12. Februar 1934, 125. Der Sicherheitsdirektor hatte Mitte Jänner die Landesregierung ersucht, das Gebäude der Zwangsarbeitsanstalt Messendorf, in der sich 110 „Geistesschwache“ befanden, zur Einrichtung von Notarresten zur Verfügung zu stellen, da sämtliche Bezirksgerichtsgefängnisse überfüllt waren; StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 29. 1. 1934. 121 Staudinger, 12. Februar 1934, 120ff.; Um Österreichs Freiheit (1936), 63ff. 122 Um Österreichs Freiheit (1936), 55f. 123 Staudinger, 12. Februar 1934, 117ff. m. w. N.; Um Österreichs Freiheit (1936), 68f. 124 Staudinger, 12. Februar 1934, 125. 125 Tagespost (Morgenblatt) (14. 2. 1934), 3. 126 Holtmann, Zwischen Unterdrückung und Befriedung 102. 105

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär Tagespost (Morgenblatt) (17. 2. 1934), 5. Tagespost (Abendblatt) (21. 2. 1934), 5. 129 Tagespost (Abendblatt) (14. 2. 1934), 3 bzw. Tagespost (Morgenblatt) (15. 2. 1934), 3. 130 Die diesbezügliche Anklage wegen versuchten Mordes verwies das Standgericht an das ordentliche Gericht. 131 Köck, Josef Stanek 353ff.; Tagespost (Morgenblatt) (18. 2. 1934), 3. 132 ÖStA/AVA, BMJz VI-W/32.080-4/1934; zit. nach: Staudinger, 12. Februar 1934, 126. Ausführlich zum Prozess gegen Stanek: Anzenberger/Polaschek, Widerstand 213ff. 133 Dazu siehe etwa den Bericht in Tagespost (Abendblatt) (19. 2. 1934), 4; Obersteirerblatt (21. 2. 1934), 1ff. sowie Wallisch, Ein Held stirbt, insbesondere 51ff. 134 KG Leoben, Vr 343/34-13, zit. nach: Neck, Koloman Wallisch 1934, 311. 135 Zum Verfahren Wallisch, Ein Held stirbt 187ff.; Soós, Koloman Wallisch 196ff. m. w. N. sowie Neck, Koloman Wallisch vor dem Stand­gericht 460ff. 136 Dazu Holtmann, Politische Tendenzjustiz 50f. m. w. N. 137 Köck, Josef Stanek 356; 6-Uhr-Blatt (26. 2. 1934), 3; Grazer Volksblatt (27. 2. 1934), 4. 138 Zu den weiteren Prozessen: Köck, Josef Stanek 357ff.; Soós, Koloman Wallisch 210 sowie Köck, 12. Februar 1934, 181ff. 139 Tagespost (Abendblatt) (21. 4. 1934), 4 sowie Tagespost (Morgenblatt) (22. 4. 1934), 1; Wallisch, Ein Held stirbt 194ff. 140 Dies betraf die Landesräte Johann Leichin, Reinhard Machold, Ludwig Oberzaucher und Anton Regner sowie die Abgeordneten Hermann Aust, Aloisia Bachner, Viktor Elser, Josef Fohringer, Karl Gföller, Karl Jira, Alois Lindner, Fritz Matzner, Vinzenz Muchitsch, Eduard Pfortner, Alois Rosenwirth, Frieda Roßbacher und Richard Wolf. 141 StBerLT 1930–1934, 958ff.; LGBl. 17/1934. Siehe auch Lipp, Landtag 114. 142 Tagespost (Morgenblatt) (14. 2. 1934), 5; vgl. auch: Tagespost (Morgenblatt) (17. 2. 1934), 5; Gröger, Grazer Bürgermeister 53. Zum Folgenden vor allem Wagner, Entwicklung des Grazer Stadtstatutes 39ff. m. w. N. 143 LGBl. 20 und 21 /1934; Tagespost (Abendblatt) (24. 2. 1934), 2f. sowie Tagespost (Morgenblatt) (25. 2. 1934), 3. 144 Dazu siehe StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 15. 3. 1934 sowie Tagespost (Morgenblatt) (18. 3. 1934), 7. Zur Ernennung der proviso127

128

281

rischen Stadträte Tagespost (Morgenblatt) (25. 3. 1934), 13 sowie (29. 3. 1934), 5. 145 Tagespost (Abendblatt) (17. 2. 1934), 3. 146 Tagespost (Morgenblatt) (15. 3. 1934), 5. 147 Staudinger, 12. Februar 1934, 127f.; vgl. auch: Tagespost (Morgenblatt) (28. 2. 1934), 4. 148 Zu den Folgen für die Betriebsräte vgl. etwa Tagespost (Morgenblatt) (2. 3. 1934), 5. 149 Tagespost (Abendblatt) (1. 3. 1934), 6. Vgl. auch: 6-Uhr-Blatt (5. 3. 1934), 1f. 150 Tagespost (Morgenblatt) (6. 3. 1934), 5. 151 Tagespost (Morgenblatt) (16. 3. 1934), 9; zur Hilfsaktion Kardinal Innitzers siehe Tagespost (Abendblatt) (19. 2. 1934), 5. 152 Siehe beispielsweise Tagespost (Abendblatt) (28. 2. 1934), 3. 153 Goldinger/Binder, Geschichte 226f. 154 Staudinger, 12. Februar 1934, 128. 155 CChIDK, 514-1-597. 156 Winkler, Diktatur in Österreich 90f.; Tagespost (Morgenblatt) (23. 2. 1934), 3; zu den Forderungen der Ostmärkischen Sturmscharen siehe Tagespost (Morgenblatt) (21. 2. 1934), 5f., zu denen des Heimatschutzes siehe Tagespost (Morgenblatt) (28. 2. 1934), 5. 157 Tagespost (Abendblatt) (19. 2. 1934), 5. 158 Goldinger/Binder, Geschichte 228. 159 Grazer Volksblatt (11. 3. 1934), 7; Tagespost (Morgenblatt) (9. 3. 1934), 2. 160 Grazer Volksblatt (15. 3. 1934), 1f.; Tagespost (Abendblatt) (12. 3. 1934), 3. 161 Brief des Landesleiters an Landeshauptmann Dienstleder vom 7. 3. 1934, in: CChIDK, 514-1-1708. 162 Dazu Goldinger/Binder, Geschichte 228. 163 StBerLT 1930–1934, 964ff.; LGBl. 22/1934. – Auch dies war eine Forderung von Heimatschutz und Ostmärkischen Sturmscharen gewesen; Tagespost (Abendblatt) (12. 3. 1934), 3. 164 Bislang war die Wahl der Stellvertreter durch die Landesräte selbst erfolgt, wobei der erste Stellvertreter aus der stärksten, der zweite aus der zweitstärksten Partei gewählt werden musste; Paragraph 31 Landes-Verfassungsgesetz LGBl. 12/1926 aF. 165 Tagespost (Abendblatt) (24. 3. 1934), 3 sowie Tagespost (Morgenblatt) (25. 3. 1934), 3 und 5. Zu deren Antrittsreden im Landtag am 10. 4. 1934 – BergerWaldenegg und Kollars waren übrigens in Uniform erschienen – StBerLT 1930–1934, 970ff.; Tagespost (Morgenblatt) (11. 4. 1934), 3f. 166 Er hatte dies angeblich bereits länger vorgehabt, sich aber immer wieder zum Bleiben überreden lassen; StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 15. 3. 1934; Tagespost (Morgenblatt) (15. 3. 1934), 7.

282

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Dazu Tagespost (Morgenblatt) (29. 3. 1934), 5. Tagespost (Morgenblatt) (30. 3. 1934), 3. 169 StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 177.604/34. 170 Tagespost (Morgenblatt) (22. 4. 1934), 5. Ansonsten finden sich in den zugelassenen Zeitungen nur spärliche Berichte, was der „publicity“ solcher Aktionen wohl keinen Abbruch tat. Im Gegenteil musste sich die Presse durch ihr Schweigen vielmehr unglaubwürdig machen, da solche Geschehnisse wohl die ganze Stadt mitbekam! 171 StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 169.540/34; Tagespost (Abendblatt) (11. 5. 1934), 5. 172 Komponiert von Franz von Suppé. Populäre patriotische Melodie im 19. Jahrhundert, während des „Ständestaates“ inoffizielle Hymne der Vaterländischen Front. 173 Wohnout, Regierungsdiktatur 104ff.; Arbeiterwille (12. 9. 1933), 1; Grazer Volksblatt (12. 9. 1933), 3. 174 Eingehend Polaschek, Rechtsentwicklung 36ff. m. w. N. sowie Hanisch, Der lange Schatten 310ff.; Weitzendorf, Verfassung 97ff. 175 Tagespost (Abendblatt) (2. 5. 1934), 1. Dazu siehe auch die in Brünn gedruckte (und in Österreich verbotene) Arbeiter-Zeitung. Organ der österreichischen Sozialdemokratie vom 6. 5. 1934, 2 sowie vom 13. 5. 1934, 4. 176 Bericht des Landesgendarmeriekommandos vom 24. 5. 1934, StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 177.604/34. 177 Tagespost (Abendblatt) (30. 4. 1934), 7. 178 StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 177.601 und Zl. 204.095/34 sowie Lagebericht der Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Mur an den Sicherheitsdirektor vom 10. 5. 1934, StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. B 22-1934. 179 Pickl/Wresounig, Langenwang 179. 180 Winkler, Diktatur in Österreich 129f. Vgl. auch den sehr zurückhaltenden Bericht der Tagespost (Abendblatt) vom 7. 5. 1934, 4, wonach die Staffel um 23 Uhr Heiligenkreuz erreichte und dort von Berger-Waldenegg sowie Sicherheitsdirektor Zelburg begrüßt wurde. Man traf um 3 Uhr morgens in Graz ein, das man um die Mittagszeit Richtung Kärnten verließ; vgl. auch: Tagespost (Morgenblatt) vom 8. 5. 1934, 3 und vom 9. 5. 1934, 4; sowie Der Angriff. Kampf blatt der NSDAP für den Bezirk Graz und Umgebung vom 10. 6. 1934, 3. 181 Tagespost (Abendblatt) (1. 5. 1934), 5f. sowie Tagespost (Abendblatt) (2. 5. 1934), 5f. 182 Tagespost (Abendblatt) (2. 5. 1934), 5. 183 Dazu siehe etwa Tagespost (Morgenblatt) (3. 5. 1934, 9 sowie Tagespost (Morgenblatt) (4. 5. 1934), 9. 167

168

Bericht des Landesgendarmeriekommandos vom 21. 6. 1934, StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 196.116/34. 185 Beispielsweise durch Propagandafahrten und Werbeversammlungen; vgl. etwa Tagespost (Abendblatt) (22. 5. 1934), 4f. 186 Tagespost (Morgenblatt) (25. 5. 1934), 3. 187 Dazu siehe etwa den Bericht Gorbachs an Bundeskanzler Dollfuß vom 15. 6. 1934. In: CChIDK, 514-1-1708. 188 Beiträge Julirevolte (1934), 14; StLA, BKA/GdS 22/ 1934, Zl. 188.293 und 208.353/34. 26 National­ sozialisten, die am 19. 6. 1934 in Krieglach gegen die Überstellung einiger Gesinnungsgenossen nach Wöllersdorf demonstriert hatten, erhielten in einem Prozess am 20. 3. 1935 in Leoben wegen Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung Haftstrafen zwischen 24 Stunden und 14 Tagen (!), einer wurde freigesprochen; Obersteirische Volkszeitung (21. 3. 1935), 7. 189 StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 195.116, 208.353, 241.200/34. 190 Tagespost (Morgenblatt) (27. 5. 1934), 3. 191 StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 208.353/34; Um Österreichs Freiheit (1936), 119f.; Ober­steirerblatt (27. 6. 1934), 3; Vogl, Kapfenberg 89f. 192 Obersteirerblatt (22. 9. 1934), 9f. 193 Die folgende Tabelle beruht auf StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 157.087, 177.604, 195.116, 208.353 sowie 241.200/34. Die Aufstellung für Juli und August ist nicht vollständig, da die Gendarmerie selbst nicht alle Amtshandlungen aufgrund des Putsches in ihre Aufzählung aufgenommen hatte. 194 StBerLT 1930–1934, 1016ff.; LGBl. 63/1934; Volksblatt (13. 7. 1934), 3. 195 Winkler, Diktatur in Österreich 143f.; vgl. auch: Sonntagsbote (12. 4. 1936), 1. 196 „Horst-Wessel-Lied“; Parteihymne der NSDAP. 197 Eingehend Jagschitz, Putsch 99ff. 198 Jagschitz, Struktur der NSDAP 18f. Zu den Kämpfen in der Steiermark ausführlich Bauer, Elementar-Ereignis 205ff. 199 Etschmann, Kämpfe in Österreich 22; Pauley, Weg in den Nationalsozialismus 131. 200 Beiträge Julirevolte (1934), 102ff.; Gorke, Sturmabteilung 48 sowie Staudinger, Juli-Putsch 239ff. 201 Etschmann, Kämpfe in Österreich 24f.; Jagschitz, Putsch 147f.; Staudinger, Alpine Montangesellschaft 23f. Zum Putsch in Eisenerz und Schladming siehe die Berichte des Deutschen Konsulats in Graz in: Desput, Akten des Deutschen Konsulates 55ff. 202 Etschmann, Kämpfe in Österreich 25f.; Beiträge Julirevolte (1934), 95f. 184

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär Um Österreichs Freiheit (1936), 183ff.; Gorke, Sturmabteilung 51. 204 Etschmann, Kämpfe in Österreich 27. 205 Beiträge Julirevolte (1934). – Zur Ermordung zweier Schutzkorpsmänner in Schladming siehe etwa die Anzeige des dortigen Gendarmeriepostens an die Staatsanwaltschaft Leoben vom 15. 8. 1934, in: StLA, KG Leoben, Vr 734/45 (Strafsache Heinrich Fritzlehner). 206 Etschmann, Kämpfe in Österreich 28. 207 Reich von Rohrwig, Freiheitskampf 211ff.; Um Österreichs Freiheit (1936), 198. 208 Etschmann, Kämpfe in Österreich 48f.; zu den Ursachen des Scheiterns des Putsches auch Jagschitz, Putsch 149f. 209 Diese setzten sich aus einem Berufsrichter als Verhandlungsleiter und drei Bundesheeroffizieren zusammen; vgl. auch: Riedler, Ausnahmegesetzgebung 55f. Es hatte sich nämlich gezeigt, dass zahlreiche „normale“ Prozesse gegen Nationalsozialisten mit Freisprüchen beziehungsweise milden Urteilen geendet hatten, da sowohl Berufs- wie auch Laienrichter in vielen Fällen mit dem Nationalsozialismus sympathisierten; Holtmann, Zwischen „Blutschuld“ und „Befriedung“ 37f. Im Oktober 1934 schätzte die Sicherheitsdirektion für Steiermark, dass rund 40 von 100 namentlich genannten Richtern der NSDAP zumindest nahestanden; StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 263.150/34. Zur steirischen Richterschaft in der NS-Zeit siehe auch Gebhardt, Justiz in Graz 97ff.; Polaschek, Volksgerichte (1998), 22f. und 102ff. 210 Jagschitz, Putsch 173. 211 Etschmann, Kämpfe in Österreich 50; Hartlieb, Parole 268ff. 212 StLA, BKA/GdS 22/1934, Zl. 241.200/34. 213 Nećak, Legion, vor allem 31ff. 214 Jagschitz, Putsch 173; Tagespost (Morgenblatt) (2.  3. 1935), 1 sowie die Ausgaben der folgenden Tage. 215 Gorke, Anton Rintelen (1998), 133f. m. w. N. 216 Tagespost (Morgenblatt) (15. 3. 1935), 1ff. 217 Tagespost (Morgenblatt) (15. 3. 1935), 2. 218 Tagespost (Morgenblatt) (15. 3. 1935), 3. 219 Seit 1929 steirische Landeshymne; Musik von Ludwig Karl Seydler, Text von Jakob Dirnböck. 220 Goldinger/Binder, Geschichte 239. 221 LGBl. 73/1934; zu dieser auch Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 491f.; Olbrich-Krampl, Landtag 11ff. Die Landesregierungssitzung vom 29. 10. 1934, in der die Verfassung offenbar beraten wurde, ist nur im Stenogramm erhalten. Aus dem dem Sitzungsprotokoll beiliegenden Bürstenabzug des Ent203

283

wurfes geht hervor, dass als Alternative ein Gesetzbeschluss durch den Landtag vorgesehen war. Die Erlassung im Verordnungsweg wird aber wohl damit zusammenhängen, dass die Heimwehr (auch) auf Bundesebene eine parlamentarische Beschlussfassung generell ablehnte. Das Stenogramm der Sitzung ist verhältnismäßig kurz und vermittelt nicht den Eindruck, dass über wesentliche Punkte Uneinigkeit herrschte. Zu vorbereitenden Materialien siehe StLA, Landeshauptmannschaft, 9 La 21-1934. 222 Vgl. auch die Präambel zur niederösterreichischen Landesverfassung, LGBl. 189/1934 vom 30. 10. 1934: Heiliger Leopold, Schutzpatron, bitte bei Gott dem Allmächtigen um Segen und Wohlfahrt für das Land Niederösterreich und seine Bewohnerschaft [...]. Der ehemalige Vizekanzler Winkler meinte dazu lakonisch, das neue Österreich falle „in den Vormärz zurück“, es beseitige „die konstitutionellen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts“; Winkler, Diktatur in Österreich 234. 223 Zur Landesverfassung eingehend Polaschek, Föderalismus in der Verfassung 141–178, 156ff. m. w. N. 224 Eine Liste der Abgeordneten findet sich in Lipp, Landtag, Anhang XXVIIIff.; StBerLT 1934–1938, 3; Tagespost (Abendblatt) (2. 11. 1934), 1. Zu späteren Umbesetzungen vgl. StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. La 1/4 und 1/7-1936 sowie La 7/1 und 7/4-1937. Gem. Paragraph 29 Verfassungsübergangsgesetz hatte die Vaterländische Front für die Ernennung der Landtagsmitglieder ein Vorschlagsrecht, dem sie am 17. 10. 1934 nachkam; dazu CChIDK, 514-1-1708 sowie Polaschek, Föderalismus in der Verfassung 157f. 225 Lipp, Landtag 115; die von der Vaterländischen Front vorgeschlagene Aufteilung wich ein wenig davon ab, StLA, Landeshauptmannschaft, 9 La 20/2-1934. Anzahl und Aufteilung hatten am 9. 10. 1934 die Zustimmung von Bundeskanzler Schuschnigg erhalten; StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. B 25/7-1934. 226 Polaschek, Föderalismus in der Verfassung 158. 227 Zur einzigen wirklich gravierenden Auseinandersetzung im Landtag kam es anlässlich der geplanten Einführung der Fahrradabgabe im Dezember 1935; eingehend Polaschek, Funktionierender Parlamentarismus, vor allem 279ff. m. w. N. 228 Max Haider, Angehöriger der Puchwerke und als Vertreter der Industrie und des Bergbaus im Landtag. StBerLT 1934-1938 (nicht öffentliche Sitzungen), 50; dazu auch Polaschek, Föderalismus in der Verfassung 163. 229 Das Landesgesetzblatt 1938 erschien zum letzten Mal am 31. 5. 1938 mit der Nummer 40.

284

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Enderle-Burcel, Mandatare im Ständestaat 55. Auch Dienstleder selbst begründete seinen Rücktritt damit, sich der wissenschaftlichen Lauf bahn widmen zu wollen; Dienstleder, Heimat in Not 18. 231 Dazu Binder, Verlorene Positionen 161–180. Zu Stepans Einbettung in den CV und die daraus resultierenden Verbindungen Leitner, Politik und Hochschule 80ff. 232 Bärnthaler, Vaterländische Front 66f. sowie 212, Anm. 15. Schuschnigg hatte ihm als Alternative den Vorsitz im Bundeswirtschaftsrat angeboten; Binder, Karl Maria Stepan 172. Die Personalrochade fiel umso leichter, als Stepan im Februar ohnehin nur auf sechs Monate bestellt worden war; Binder, Verlorene Positionen 17. 233 Tagespost (Abendblatt) (2. 11. 1934), 2 sowie ausführlich Tagespost (Abendblatt) (5. 11. 1934), 3f. Der Text seiner am selben Abend gehaltenen Rundfunkrede an die Bevölkerung ist abgedruckt in: Tagespost (Morgenblatt) (6. 11. 1934) sowie Grazer Volksblatt (6. 11. 1934), jeweils 1f. 234 Binder, Verlorene Positionen 18. 235 Binder, Karl Maria Stepan 173; Hasiba, Steiermark und der Gesamtstaat 493. 236 Pferschy, Steiermark 957f.; siehe auch Binder, Verlorene Positionen 18f. Josef Krainer fungierte ab 1936 als Vizebürgermeister von Graz und war selbst von 1948 bis 1971 Landeshauptmann der Steiermark. 237 Tagespost (Morgenblatt) (11. 11. 1934), 1. 238 Dieser stellte in der Tagespost vom 11. 11. 1934 als „Gauführer im Österreichischen Heimatschutz“ sein Programm vor. Stürgkh strebte die „Befreiung“ des Volkes „vom roten Straßenterror“ an, allerdings unter Einbeziehung eines „möglichst weiten Kreises von Volksgenossen“; Tagespost (Morgenblatt) (11. 11. 1934), 2. 239 Er wurde 1937 von Alfons Gorbach abgelöst; Grazer Schreib- und Amtskalender 1938, 36; StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 7. 4. 1937. 240 Präambel zur Verfassung 1934, BGBl. II 1/1934. 241 Das letzte „Messopfer“ war 1807 dargebracht worden; Tagespost (Abendblatt) (24. 11. 1934), 4. 242 Stepan in seiner Eröffnungsrede, StBerLT 1934– 1938, 1. 243 Tagespost (Abendblatt) (24. 11. 1934), 4. 244 StBerLT 1934–1938, 1. 245 StBerLT 1934–1938, 4. 246 Beer, Kommunale Politik 88f. 247 LGBl. 28/1936. 248 Beer, Kommunale Politik 91f.; Grazer Schreib- und Amtskalender 1938, 41. 230

Zu diesbezüglichen Problemen vgl. etwa die Beschwerden anlässlich der zweiten Landeskonferenz der SAG für Steiermark. In: CChIDK, 514-1-2846. In vielen Gemeinden waren – vor allem seit dem Februar 1934 – Regierungskommissäre eingesetzt worden. Bei der Ernennung der Gemeindetage bestanden sowohl die Wehrverbände als auch die einzelnen berufständischen Organisationen auf entsprechender Repräsentanz; Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 3/4 ( Juli 1935), 5. Zu den Ernennungen in den einzelnen Gemeinden siehe StLA, Landeshauptmannschaft, Aktenplanabschnitt 46. 250 LGBl. 16/1938. 251 Vgl. dazu Polaschek, Bezirksvertretungen 150ff. m. w. N. 252 „Lied der Jugend“, „Dollfußlied“. Das Lied orientiert sich stark an der Melodie des Horst-WesselLiedes und wurde ab 1936 vom „Ständestaat“ massiv als Propagandalied zum Gedenken an Engelbert Dollfuß eingesetzt. 253 Schuschnigg, Dreimal Österreich 288. Vgl. auch Ludwig Reichhold, der die Steiermark als „das schwächste Glied in der Abwehr des Nationalsozialismus“ bezeichnet; Reichhold, Kampf um Österreich 365. 254 Goldinger/Binder, Geschichte 250f.; Wiltschegg, Heimwehr 325ff. Die Aufnahmen erfolgten wahllos, was dazu führte, dass auch viele Vorbestrafte beitraten, was den Ruf der Verbände nicht gerade verbesserte; dazu bereits im Oktober 1933 bzgl. des Heimatschutzes StLA, BKA/GdS 22/1933, Zl. 243.647/33. 255 Vgl. etwa den Bericht des Landesführers der Vaterländischen Front in der Steiermark, Dr. Alfons Gorbach, vom 19. 11. 1934. In: CChIDK, 514-11416 sowie Carsten, Zwei oder drei faschistische Bewegungen 189; Reich von Rohrwig, Freiheitskampf 313f. Kritisch zu den Wehrverbänden auch das Schreiben Gorbachs an den Generalsekretär der Vaterländischen Front vom 18. 6. 1936. In: CChIDK, 514-1-3205. 256 StLA, Sitzungsprotokoll der Landesregierung vom 29. 1. 1936. 257 Entsprechende Berichte in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936. 258 Pferschy deutet an, die Straße sei möglicherweise über italienischen Wunsch ausgebaut worden, „um Waffentransporte unbehelligt von den sozialdemokratischen Eisenbahnern nach Ungarn bringen zu können“; Pferschy, Steiermark 955. 259 Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 12 (März 1936), 3 und Nr. 15 ( Juni 249

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär 1936), 4. Zu Vorschlägen für das Programm vgl. etwa Grazer Volksblatt (12. 4. 1936), 19f. 260 Dazu siehe die Berichte mehrerer Bezirkshauptmannschaften und Gendarmerieposten, in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. Vo 4-1936 sowie Steindl, Faschismus 131ff. Zahlreiche Berichte aus einzelnen Orten finden sich in: StLA, Sammlung 20. Jahrhundert, Karton 199. 261 Goldinger/Binder, Geschichte 259f. Am 23. 7. 1936 erfolgte deshalb eine umfangreiche Begnadigungsaktion durch Bundespräsident Wilhelm Miklas, die neben nationalsozialistischen auch sozialdemokratischen Häftlingen zu­g ute kam. Insgesamt erfolgten bis Ende 1936 rund 19.000 Amnestierungen; Reichhold, Kampf um Österreich 279. 262 Dazu siehe etwa die monatlichen „Werbeberichte“ der Bezirksleitungen der Vaterländischen Front für den Juli und August 1936, z. B. In: CChIDK, 5141-2231 sowie die Übersicht der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit. In: CChIDK, 515-253. 263 Der Hochverratsprozess gegen Dr. Guido Schmidt (1947), 105. 264 Tätigkeitsbericht des Landesführers der Vaterländischen Front anlässlich des Landesappells am 19. 7. 1936; zu diesem Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 16/17 ( Juli/August 1936), 1ff. Vgl. auch den eingehenden Bericht der Landesleitung Steiermark an das Generalsekretariat der Vaterländischen Front vom 18. 12. 1935, in: CChIDK, 514-1-1435 sowie CChIDK, 514-1-1467. Zum Landesappell vom Juni 1935 Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 3/4 ( Juli 1935), 4ff. 265 Tätigkeitsbericht Gorbachs. In: Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 16/17 ( Juli/August 1936), 3. Eine Aufstellung der Mitglieder der Landesleitung sowie der Bezirksleiter findet sich in: CChIDK, 514-1-1504. Zu den Gauund Bezirksleitern auch CChIDK, 514-1-1731, 5141-1735 und 514-1-1737. 266 Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 16/17 ( Juli/August 1936), 3. 267 Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 16/17 ( Juli/August 1936), 3. Im Juni 1935 hatte der Gesamtstand der Mitglieder rund 267.000 betragen; CChIDK, 514-1-1723. 268 Dazu vgl. etwa die Durchschläge zahlreicher Ernennungsdekrete: In CChIDK, 514-1-1710, 1711, 1712, 1713 und 1714! 269 Lagebericht der Politischen Expositur Bad Aussee an den Landeshauptmann vom 2. 12. 1937, in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936. Dazu siehe

285

auch beispielsweise die Berichte vom April beziehungsweise Juni 1937. In: CChIDK, 514-1-2571 sowie den „Landeswerbebericht“ vom 3. 11. 1937 In: CChIDK, 514-1-2254. – „Amtswalter“ der Vaterländischen Front klagten wiederholt darüber, dass gerade in der Steiermark höhere Funktionäre (Bundeswirtschaftsräte, Mitglieder der Landesregierung usw.) nicht als Versammlungsredner auftreten würden; siehe etwa den „Werbebericht“ für die Steiermark für Juni 1936. In: CChIDK, 514-1-2231 sowie das Protokoll des Landeswerbeleiterappells vom 2. 7. 1936. In: CChIDK, 514-1-2190. 270 Dazu Bärnthaler, Vaterländische Front 146f. 271 Vgl. etwa die Monatsberichte in: CChIDK, 514-1126, 514-1-357a, 514-1-575, 514-1-583, 514-1-592, 514-2365, 514-1-2368 et al. 272 Revisionsbericht vom 12. 1. 1938. In: CChIDK, 514-1-1718. Siehe auch den Bericht über die Bezirke Kirchbach, Mureck, Radkersburg und Stainz vom 22. 12. 1937. In: CChIDK, 514-1-1557. 273 „Bezirks-Werbebericht“ Mariazell vom 12. 6. 1937. In: CChIDK, 514-1-2371. 274 „Bezirks-Werbebericht“ Mariazell vom 12. 6. 1937. In: CChIDK, 514-1-2371. 275 Goldinger/Binder, Geschichte 254f.; dazu vgl. etwa den Bericht über Versammlungen in den Betrieben vom 18. 6. 1937. In: CChIDK, 514-1-2254; sowie den Aufruf der illegalen Freien Gewerkschaften vom Oktober 1937. In: CChIDK, 514-1-2217. 276 Pelinka, Stand oder Klasse 86; Österreichische Arbeiter-Zeitung (9. 10. 1937), 2 und Österreichische Arbeiter-Zeitung (13. 11. 1937), 10. 277 Protokoll über die Sitzung der SAG-Landesstelle am 22. 6. 1937. In: CChIDK, 514-1-2823. Ein Verzeichnis der Mitglieder der Landes-, Bezirks- und Ortsstellen vom Frühjahr 1937 befindet sich in: CChIDK, 514-1-2923; Berichte über die Bezirkskonferenzen zwischen dem 14. und 21. 3. 1937. In: CChIDK, 514-1-2858. 278 Protokoll in: CChIDK, 514-1-2846. Die erste Landeskonferenz hatte am 13. 12. 1936 stattgefunden; dazu CChIDK, 514-1-2858. 279 Pelinka, Stand oder Klasse 124f. m. w. N. 280 So nahm die Zahl der unterstützten Arbeitslosen von 1936 bis Ende 1937 merkbar ab, die Produktion stieg an. Näheres etwa bei Kreissler, Revolution zur Annexion 276ff. sowie Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 211ff. 281 Karner, Grazer Wirtschaft 203ff. 282 Dazu siehe die „Abschiedsbefehle“ Stürgkhs und Kollars’ vom 28. 10. beziehungsweise 4. 11. 1936. In: Um Österreichs Freiheit (1936), 235ff. 283 Wiltschegg, Heimwehr 184.

286

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär

Binder, Verlorene Positionen 18. Zu den Rücktritten siehe auch Arbeiter-Zeitung (20. 1. 1937), 2, derzufolge Stepan die beiden „Heimwehrvertreter“ aufgrund der Auf lösung des Heimatschutzes aus der Regierung haben wollte, Schuschnigg dem aber nicht zustimmte. Stürgkh versuchte offenbar, seine durch die Auf lösung des Heimatschutzes verloren gegangene Macht auf anderem Wege zurückzuerlangen: So beklagte er sich in einem Schreiben an den Landesführer der Vaterländischen Front vom 13. 1. 1937 darüber, als dessen Stellvertreter (formell bereits seit November 1934) nicht die gewünschten eigenen Kompetenzen übertragen bekommen zu haben. In: CChIDK, 5141-796. Siehe auch die Loyalitätserklärung der Heimatschutzführung gegenüber Gorbach vom Okt. 1936, CChIDK, 514-1-818 sowie seinen „Anhang zum Abschiedsbefehl des Landesführers des Österreichischen Heimatschutzes Steiermark“ am 28. 10. 1936, in dem Stürgkh ankündigte, er werde bestrebt sein, „möglichst viele verdiente Kameraden in den Amtswalterapparat der Vaterländischen Front einbauen zu helfen, um so den Kameraden raschestens den gewünschten Einf luss in den verschiedenen Gebietsorganisationen der Vaterländischen Front verschaffen zu können“. In: Um Österreichs Freiheit (1936), 236. 286 StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. Stu 1/3-1936. 287 StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. Pi 3/1-1936. 288 StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. Pi 3/3-1937; Stu 1/4 und 1/5-1937. Dazu vgl. auch: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. Ho 2/2 und 2/3-1936; Tagespost (Abendblatt) (2. 1. 1937), 1 und Tagespost (Morgenblatt) (3. 1. 1937), 1. Zur offiziellen Verlautbarung des Landespressedienstes siehe etwa Alpenländische Wochenschau (9. 1. 1937), 3. 289 Der österreichische Volkswirt (9. 1. 1937), 276. 290 Bericht des Leobner Gauführers der Vaterländischen Front vom 28. 9. sowie der Landesleitung an den Generalsekretär der Vaterländischen Front vom 16. 10. 1936, beide in: CChIDK, 514-1-818. 291 Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 63 m. w. N. 292 Bericht an den Generalsekretär der Vaterländischen Front vom 16. 10. 1936. In: CChIDK, 514-1-818. 293 Zu diesem Bärnthaler, Vaterländische Front 141ff. 294 Reichhold, Kampf um Österreich 290. 295 Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 42. 296 Bärnthaler, Vaterländische Front 139, Anm. 30. 297 Zum Text der Rede Obersteirerblatt (26. 6. 1937), 6. 284 285

Dazu siehe beispielsweise die Aufzählung im Ober­ steirerblatt (26. 6. 1937), 6ff. sowie die Berichte aus einzelnen Orten in: StLA, Sammlung 20. Jahrhundert, Karton 199. 299 Dazu siehe etwa die Abschrift eines nationalsozialistischen Flugblattes. In: CChIDK, 514-1-2350. 300 Siehe den Bericht Gorbachs an das Generalsekretariat der Vaterländischen Front. In: CChIDK, 514-1-2254. Zu Feiern in anderen Gemeinden vgl. etwa Obersteirerblatt (28. 7. 1937), 2f. Zu den „Volkstrauertagen“ und „Gedenkfeiern“ von 1935 und 1936 beispielsweise Bericht der Landesleitung der Vaterländischen Front vom 26. 7. 1935. In: CChIDK, 514-1-2364 sowie Vaterländische Front. Mitteilungsblatt der V. F. Steiermark, Nr. 3/4 ( Juli 1935), 1 und Nr. 16/17 ( Juli/August 1936), 6f. 301 Vgl. die Situationsberichte der Bezirkshauptmannschaften in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936. 302 Dazu siehe die entsprechenden Berichte in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936. 303 Seit 1922 deutsche Nationalhymne; die Melodie von Josef Haydn war ursprünglich die Hymne des Heiligen Römischen Reiches, später des Kaisertums Österreich. 304 Goldinger/Binder, Geschichte 275f. 305 In: CChIDK, 514-1-2383. 306 In: CChIDK, 514-1-2383. 307 Siehe die einzelnen Berichte in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936 und den Bericht der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit über die Teilnahme öffentlicher Angestellter, in: CChIDK, 514-1-754. Weitere Quellen beispielsweise in: Arnberger/Garscha, „Anschluß“ 1938, 174ff. sowie Blatnik, Zeitzeugen 7ff. 308 Bericht der Bezirkshauptmannschaft Leoben vom 1. 3. 1938, in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936. 309 Bericht der Bezirkshauptmannschaft Leoben vom 1. 3. 1938, in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936. 310 Bericht der Bezirkshauptmannschaft Bruck an der Mur vom 28. 2. 1938, in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936. 311 Tagespost (Morgenblatt) (20. 2. 1938), 4; Gorke, Sturmabteilung 69f.; Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 66; Schmidl, „Anschluß“ Österreichs 81. 312 Schmidl, „Anschluß“ Österreichs 82 m. w. N. Gegenaufmärsche der Vaterländischen Front gab es auch in Leoben und Donawitz. Gorbach war es gelungen, auch Teile der „sozialdemokratischen“ Arbeiterschaft für die Teilnahme zu gewinnen; Desput, Politische Anschlußagitation 16. 298

Polaschek / Statt „ständisch-autoritär“ ständig autoritär Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 45; Hochfellner, Der politische Umbruch 89f. Zu Bürgermeister Schmid eingehend Dichand, ­„Hakenkreuz-Schmied“ 76ff. 314 Hochfellner, Der politische Umbruch 90; Hartlieb, Parole 492. 315 Dadieu, Aufzeichnungen 329; Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 71f. 316 Aufzählung bei Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 44f. m. w. N. 317 Bericht der Bezirkshauptmannschaft Leoben vom 1. 3. 1938, in: StLA, Landeshauptmannschaft, Präs. P 1-1936. 318 Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 45f. 319 Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 46f.; Beer, Die angloamerikanische Berichterstattung 31f., unter Heranziehung der englischsprachigen Presse und Literatur. 320 Dazu Hochfellner, Der politische Umbruch 95 sowie Tagespost (Morgenblatt) (3. 3. 1938), 1. 321 Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 425f.; Pferschy, Steiermark 958. 322 Angeblich als „Gegenleistung“ für die Absage des für den 6. März geplanten „Deutschen Tages“; so Schmidl, „Anschluß“ Österreichs 84. 323 Rundschreiben der Landesleitung der Vaterländischen Front vom 27. 2. 1938, in: CChIDK, 514-11467; Tagespost (Abendblatt) (28. 2. 1938), 1. Zur Versetzung Gorbachs siehe auch dessen „Abschiedsbrief “ an die steirischen Amtswalter. In: CChIDK, 514-1-1467. 324 Beer, Kommunale Politik 96. Zu den „Dadieu-Listen“ siehe auch Polaschek, Volksgerichte (2002), 121. 325 Zur Organisation eingehend CChIDK, 514-1-3227, 514-1-3229 et al. 313

287

Bericht eines Sturmkorpsmannes vom 4. 3. 1938 (Unterschrift unleserlich). In: CChIDK, 514-1-452. 327 CChIDK, 514-1-452. – Der Satz über „eine große Anzahl von CV-Mitgliedern“ ist insofern zu relativieren, als zu fragen ist, ob der Beobachter sie persönlich kannte und wenn nein, woran er sie erkannte. Möglicherweise waren es auch Angehörige schlagender Verbindungen. 328 CChIDK, 514-1-742. 329 CChIDK, 514-1-742. 330 Schuschnigg, Requiem in Rot-Weiß-Rot 61. 331 Goldinger/Binder, Geschichte 282. 332 Pauley, Weg in den Nationalsozialismus 199. 333 Dazu siehe das Informationsschreiben für die ­Landes- beziehungsweise Ortsführer der Vaterländischen Front. In: CChIDK, 514-1-455. 334 Gorke, Sturmabteilung 77. 335 Eingehend Schmidl, „Anschluß“ Österreichs 113ff.; Reich von Rohrwig, Freiheitskampf 433ff.; Hochfellner, Der politische Umbruch 103 sowie Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 73. 336 Hochfellner, Der politische Umbruch 103. 337 Zum Machtwechsel in der Justiz vgl. etwa Polaschek, Volksgerichte (2002), 116f. m. w. N. 338 Sepp Helfrich in seiner Vernehmung durch das Volksgericht Graz; StLA, LGS Graz, Vr 4785/4757. 339 StLA, LGS Graz, Vr 4785/47-57. 340 StLA, LGS Graz, Vr 1851/46-52 (Zeugenvernehmung Trummers vom 17. 7. 1946 in der Strafsache gegen Dr. Alois Sernetz). 341 StLA, LGS Graz, Vr 1851/46-52; vgl. auch das Vernehmungsprotokoll Alois Sernetz’ ebenda, OZ 9. 342 Arie des Hans Sachs in: Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg. 326

Martin Moll

Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Einleitung Auch für die Steiermark war der Erste Weltkrieg die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.1 Begonnen hatte dieser Krieg mit Enthusiasmus. Vier Jahre später war die patriotische Begeisterung verf logen, und bei Kriegsende blieb nichts so, wie es gewesen war: Die Monarchie zerbrach in Nachfolgestaaten, das Herrscherhaus trat ab und die Steiermark durchzog quer durch das südliche Drittel ihres Territoriums eine neue Grenze, diesmal nicht zu einem benachbarten Kronland innerhalb Österreichs, sondern eine echte Außengrenze zu einem fremden, wenn nicht gar feindseligen Staat. Und diese Grenze schuf vom ersten Tag ihrer Existenz an eine Fülle gravierender Probleme, ja Bedrohungen.2 Mit dem Ende der Monarchie konnten große Teile der steirischen Bevölkerung leben, und das Auseinanderbrechen des multinationalen Staates wurde als Chance eines neuen Anfangs interpretiert: Schließlich sollte die neue Republik Deutschösterreich mit Deutschland fusioniert werden. Anders war es mit der Grenze, die sich Ende 1918 nur wenige Kilometer südlich von Leibnitz herausbildete. Sie war und blieb – vorerst faktisch, dann geistig – heiß umkämpft, eine „blutende Wunde“ im Körper einer auseinandergerissenen Steiermark und was es an blumigen

Formulierungen mehr gab.3 Mit der Existenz dieser Grenze hat sich die Elite des Landes bis 1945 nicht abgefunden. Erhebliche Teile der steirischen Bevölkerung teilten diese Ansicht, vielfach über 1945 hinaus.4 Die aus dem verständlichen Gefühl erlittenen Unrechts, erfahrener Demütigungen und enttäuschter Hoffnungen auf einen gerechten Frieden gespeisten Revisionsforderungen waren eines der Einfallstore für radikale, in den Nationalsozialismus mündende Bewegungen.5 Diese mentale Verfasstheit stellte eine Triebfeder dar, das Desaster von 1918/19 zu deuten. Wie konnte es zu dieser Grenzziehung kommen? Wer war dafür verantwortlich? Fragen von eminent politischer, nicht bloß wissenschaftlicher Bedeutung! Die Suche nach Antworten hat die steirische Geschichtsforschung und politische Publizistik Generationen hindurch in ihren Bann geschlagen. Umso mehr überrascht die Dürftigkeit der präsentierten Erklärungen. Während die militärischen Auseinandersetzungen hinreichend erforscht sind,6 gilt das Gegenteil für die Hintergründe und Motive der Entscheidungen sowie die diplomatischen Aktivitäten. Der Verlust der eine erhebliche slowenischsprechende Bevölkerung einschließenden Landeseinheit des Herzogtums Steiermark durch

290

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

die im Frieden von Saint-Germain 1919 gezogene Staatsgrenze wurde als ein Diktat der Sieger interpretiert.7 Lautstark beklagt wurde die Nichtabhaltung eines Plebiszits über die Zugehörigkeit der umstrittenen Landesteile analog dem Kärntner Modell und damit die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts, eines seit der Proklamierung der „14 Punkte“ durch US-Präsident Woodrow Wilson im Jänner 1918 in aller Munde stehenden Grundsatzes. Die von den Siegermächten sanktionierte Überlassung mehrerer zehntausend Deutsch-Steirer an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) wurde teils auf deren Unkenntnis lokaler, speziell ethnischer Verhältnisse, mehr noch auf deren zynische machtpolitische Erwägungen zurückgeführt. Unter den Objekten dieses interalliierten „Kuhhandels“ habe Kärnten gewonnen, die Steiermark verloren. Dieses 1919 etablierte Opfersyndrom erhielt durch die Drangsalierung der im SHS-Königreich verbliebenen deutschen Minderheit und deren Vertreibung nach Ende des Zweiten Weltkriegs neue Nahrung. Unter den ausgeblendeten Faktoren sind insbesondere die drei folgenden zu nennen: Die Kriegsniederlage wurde zwar in Deutschösterreich nicht als „Dolchstoß“ einer abtrünnigen Heimat in den Rücken der Armee gedeutet. Doch war es in der Steiermark kein Thema, dass Auf lösungserscheinungen 1917/18 ein verbreitetes Symptom der chronischen Überbeanspruchung der eigenen Ressourcen gewesen waren. Wenn überhaupt, wurde dieser innere Kollaps an einzelnen Gruppen der Bevölkerung festgemacht, in der Steiermark mit Vorliebe an „verräterischen“ Tschechen und Slowenen.8 Noch weniger wissenschaftliche Aufmerksamkeit fand zweitens der behauptete Fatalismus, mit dem das politische Establishment des Landes

den Verlust der Untersteiermark, also der Gebiete südlich der politischen Bezirke Deutschlandsberg, Leibnitz und Radkersburg, hingenommen hatte. Zwar fehlte es in der Zwischenkriegszeit nicht an scharfer Kritik an der vermeintlichen Laxheit der Landesregierung, die sich auf papierne Proteste beschränkt hatte, doch wurde der Mythos einer wie ein Löwe um die Landeseinheit kämpfenden Steiermark nicht ernsthaft in Frage gestellt. Drittens spielte die Einstellung der slowenischen Bevölkerung – bei Kriegsbeginn 1914 mehr als 400.000 – eine bestenfalls marginale Rolle. Im Zentrum stand die These, die verweigerte Volksabstimmung in Teilen der Untersteiermark habe das Selbstbestimmungsrecht verletzt – jenes der Deutsch-Steirer, wie sich versteht. Ein Plebiszit wäre zu Gunsten des Bundeslandes ausgegangen, gerade deswegen sei es von den Siegern verweigert worden. Auffällig ist, dass im Gegensatz zu Kärnten nicht einmal ansatzweise argumentiert wurde, die Mehrheit der steirischen Slowenen hätte den Erhalt der Landeseinheit gewünscht und sei ebenfalls „vergewaltigt“ worden. Man wusste es besser. Dass sich die Slowenen 1918/19 von Graz abgewendet hatten und das Experiment mit dem SHS-Königreich wagten, war damals communis opinio. Daraus wurde jedoch selten die Konsequenz gezogen, dass bei dieser Sachlage der Verlust des größten Teils der Untersteiermark eine ausgemachte Sache war und es hierzu kaum eines Eingreifens der Sieger bedurfte. Noch weniger interessierte, aus welchen Gründen die vor 1914 als loyal gegenüber Österreich geltenden Slowenen diesen Schwenk vollzogen hatten.9 Die Vorgeschichte der Grenzziehung vor dem Eingreifen der Entente-Mächte wurde nie als Forschungsdesiderat wahrgenommen.

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

291

Die Vorgeschichte der neuen Grenze bis Ende 1918 In der Steiermark war der Patriotismus der ersten Kriegswochen von einer gegen die slowenische Bevölkerung gerichteten Verdächtigungsund Verhaftungskampagne begleitet gewesen, die mehrere Hundert Slowenen ins Gefängnis gebracht hatte; nur ein Bruchteil von ihnen wurde tatsächlich verurteilt. Unter den Opfern befanden sich slowenische Spitzenpolitiker und etwa zwei Dutzend katholische Geistliche. Zurück blieb eine tiefe Verbitterung weiter Kreise der slowenischen Bevölkerung, die jederzeit reaktiviert werden konnte.10 So wurde der 1917 amtierende, cisleithanische Ministerpräsident Heinrich Graf Clam-Martinic von den Südslawen abgelehnt, weil er das Unrecht der politischen Verfolgungen weder untersuchen noch gutmachen wollte.11 Wie spätestens Meutereien slowenischer Truppenkörper in der ersten Jahreshälfte 1918 unter Beweis stellten, hatte sich ein national determinierter Krisenherd gebildet. Die Belastungen, die der Krieg mit sich brachte, vertieften die Spannungen zwischen den beiden Volksgruppen. Das Jahr 1917 verkörperte einen Scheitelpunkt dieser Entwicklung: Die Rückkehr zum Verfassungsleben und das erstmalige Zusammentreten des Reichsrates während des Krieges im Mai 1917 eröffneten den slowenischen Vertretern eine Bühne, auf der sie ihre Kritik und ihre Forderungen öffentlichkeitswirksam zur Geltung bringen konnten. Etwa zur gleichen Zeit machte die Bildung einer südslawischen Einheitsfront rasche Fortschritte, sodass die Slowenenfrage stets in einem größeren, über die Steiermark hinausweisenden Rahmen zu sehen ist. Kaiser Karl und die Regierungen in Wien waren nicht abgeneigt, den Wünschen nach Zusammenfassung der von Südslawen bewohnten Kronländer näherzutreten – eine Einbeziehung

von Teilen der Steiermark und Kärntens wurde jedoch nie in Erwägung gezogen. Die Ablehnung der Forderungen loyaler Slowenen trieb diese ins Lager des Jugoslawismus.12 Das Bestreben Wiens, dem Jugoslawismus durch ­Zugeständnisse den Wind aus den Segeln zu nehmen, ohne gleichzeitig die deutschen Bewohner der betroffenen Landesteile auf die Barrikaden zu treiben, glich einer Quadratur des Kreises. Eine Radikalisierung war die unausweichliche Folge. Angefangen hatte es maßvoll, als südslawische Abgeordnete des Reichsrates am 30. Mai 1917 die sogenannte MaiDeklaration verkündeten, in welcher die Zusammenfassung der slowenischen, kroatischen und serbischen Territorien der Monarchie zu einem selbstständigen Staatsorganismus unter dem Zepter Habsburgs gefordert wurde.13 Der Kaiser und seine Regierungen verkannten lange Zeit die Sprengkraft dieses Programms, selbst dann, als der Jugoslawische Reichsratsklub die Mai-Deklaration als Minimum definierte – wobei das Maximum unausgesprochen blieb. Mit dieser Festlegung war jede realistische Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen den nationalpolitischen Wünschen der Slowenen und den Reformplänen Kaiser Karls obsolet geworden; die Slowenen warteten nur mehr auf das Kriegsende und die dadurch eröffneten Chancen einer Neugestaltung. Unter maßgeblicher Beteiligung des steirischen Slowenen Dr. Anton Korošec hatte der Jugoslawische Klub die Weichen für eine Politik gestellt, die auf eine Loslösung aller Südslawen aus der Habsburgermonarchie hinauslaufen musste.14 Die Mai-Deklaration bewegte sich noch im Rahmen der Monarchie. Korošec hatte Karl I. die unwandelbare Treue des slowenisch-kroatischen Volkes versichert.15 Es dauerte nicht lange, bis die maßgebenden Slowenen die moderate Platt-

292

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

form der Mai-Deklaration sehen werde, die auf dem verließen, sich der von ExiWeg zur Adria liegenden Gelantenkreisen aufgestellten, biete würden in ihn gewiss weitaus radikaleren Erklänicht eingeschlossen werrung von Korfu/Kérkyra den.18 Zu einer effizienten Unvom 20. Juli 1917 anschlossen terdrückung der südslawiund die Forderung nach völschen Bestrebungen konnten ligem Selbstbestimmungssich die Behörden nicht aufrecht erhoben. In einer kurz raffen, wenn es auch nicht an vor Weihnachten 1917 verBeschwerden über Schikanen abschiedeten Erklärung kam gegen Unterschriftensammdies zum Ausdruck, als ler fehlte.19 Die GegenmaßTschechen und Südslawen nahmen waren allerdings von die selbstständige Teilnahme Dr. Anton Korošec einer erstaunlichen Zurückan den FriedensverhandlunStLA haltung geprägt.20 Es war gen von Brest-Litowsk urdaher nicht verwunderlich, gierten – ein erster Anlauf innerhalb Österreich-Ungarns zur Internatio- dass die beunruhigte deutsche Bevölkerung der nalisierung des südslawischen Problems der Untersteiermark ihr Heil in der Selbsthilfe suchte und eine Flut von Gegenkundgebungen Doppelmonarchie.16 Die südslawische Bewegung entfaltete in inszenierte. Die deutschen bürgerlichen Parder Untersteiermark eine rege Werbetätigkeit, teien verwahrten sich auf „Volkstagen“ nachwobei anfangs der slowenischen Bevölkerung drücklich gegen alle Pläne zur Teilung des die Konsequenz der neuen Politik wenig bis gar Kronlandes Steiermark, egal ob in der habsnicht bewusst wurde; bei ihr saß die Kaisertreue burgfreundlichen trialistischen oder in der junach wie vor tief. Mittels Agitation in der Ta- goslawischen Version. Im Mai 1918 sprachen gespresse, auf Volksversammlungen und durch rund 100 Bürgermeister deutscher Gemeinden Unterschriftensammlungen – Resultat circa der Untersteiermark bei Kaiser Karl vor, der 300.000 Unterstützungserklärungen17 – wurde ihnen die Wahrung ihres Besitzstandes zusidie nationale Frage in eine staats- und dynastie- cherte.21 Dafür trat auch der deutschnationale feindliche Richtung gedrängt, untermauert von „Schutzverein“ „Südmark“ ein, der schon in einer beachtlichen plebiszitären Rückende- den Jahren vor dem Weltkrieg um die Herckung. Eine Ende März 1918 in Laibach/ stellung einer deutschsprachigen Landbrücke Ljubljana im Kronland Krain abgehaltene Ver- nach Marburg bemüht gewesen war. Zeitgleich begannen die Slowenen mit Voranstaltung „für Jugoslawien“ eröffnete dann die offene Konfrontation. Dort wurden die alpen- bereitungen zur Gründung eines Volksrates, ländischen Deutschen wie der „deutsche Kurs“ eines Organs der künftigen südslawischen der cisleithanischen Regierung Seidler scharf Staatsmacht. Der Gemeinsame Ministerrat attackiert. Seidler ließ, weiter Öl ins Feuer gie- erörterte nach wie vor trialistische und subßend, die Slowenen am 3. Mai 1918 wissen, dass dualistische Lösungen der südslawischen Frage sie in keine Lösung der südslawischen Frage unter Ausschluss der Slowenen. Derartige Koneinbezogen würden. Wie immer ein südslawi- zepte scheiterten schon daran, dass die Slowenen scher Staat innerhalb Österreich-Ungarns aus- niemals eine Lösung, bei der sie unter einer

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

erdrückenden deutschen Übermacht verblieben wären, akzeptieren konnten. Gleichwohl hielten der Kaiser und seine Minister an der Fiktion fest, dass die Slowenen eine Vereinigung mit Kroaten und Serben nicht wirklich wünschten.22 Dabei ist zu beachten, dass die slowenischen Eliten für ihr Ideal eines südslawischen Staates innerhalb Österreich-Ungarns starken Rückhalt in der Bevölkerung fanden, keineswegs jedoch für ihr seit dem Frühjahr 1918 offenkundiges Abrücken von der Habsburgermonarchie.23 Von deutschnationaler Seite wurde der Regierung Verrat an den Interessen des untersteirischen Deutschtums vorgeworfen, da sie durch ihr passives Verhalten die Wühlarbeit der Slowenen fördere.24 Die Serie gegenseitiger Vorwürfe und Beschuldigungen nahm somit kein Ende. Das gestärkte slowenische Selbstbewusstsein äußerte sich in der Auffassung, die deutschen Beamten in der Untersteiermark seien nur infolge einer ungerechten Usurpation auf slowenischem Boden tätig; unverhohlen wurde ihre Abberufung verlangt.25 Die Agitation steigerte sich zu einem Generalangriff auf die deutsch dominierte Verwaltung im Allgemeinen, der neben Drangsalierungen der Slowenen pauschal Unfähigkeit attestiert wurde: Denn in keinem Kronlande arbeitete die politische Behörde mit solcher Rücksichtslosigkeit wie in der Steiermark.26 Selbstredend wurde diese Verdammung durch die Anprangerung von Vorfällen aus der Untersteiermark untermauert.27 Die Behörden waren bereit, taktlose Beamte zu versetzen.28 In ihren Stellungnahmen wiesen jene darauf hin, das eigentliche Problem seien die drückenden Lasten des Krieges: Die Bevölkerung ist reizbar geworden.29 Dennoch bescheinigte die Verwaltung den Slowenen, sie seien in der überwiegenden Mehrheit friedliebend; der Bauer kümmere sich nicht um den nationalen Streit, denn: Die Landbevölkerung hat für einen Parteihader keinen Sinn.30 Man darf jedoch die Wirkung der

293

unauf hörlichen Agitation nicht unterschätzen. Die gehässigen Angriffe auf die jeweils andere Volksgruppe untergruben die Moral langsam, dafür aber umso sicherer. Auf die Versuche der Behörden, der nationalen Hetze durch ein Verbot sämtlicher Versammlungen entgegenzutreten, reagierte die deutsche Seite mit Empörung. Es gehe nicht an, die Versammlungen, welche von den durchaus staatstreuen Organisationen ausgehen, genau so wie die offenkundig hochverräterischen der Südslawen zu untersagen.31 Die Slowenen wiederum waren es leid, als Staatsbürger zweiter Klasse, wenn nicht überhaupt als serbophile Verräter denunziert zu werden. Im Lauf des letzten Kriegsjahres vollzogen die slowenischen Politiker endgültig die Abkehr vom Habsburgerstaat. Eine der maßgebenden Persönlichkeiten war der steirische Landtagsund Reichsratsabgeordnete Anton Korošec, der Anfang 1918 die „Allslowenische Volkspartei“ für die Steiermark, Kärnten, Krain und das Küstenland aktivierte. Es ging nur mehr um die rasche Verwirklichung eines unabhängigen, den Großteil der Südslawen einschließenden jugoslawischen Staates. Da das Südslawen-Problem zu einer internationalen Frage erklärt wurde, die notfalls mit Hilfe der Kriegsgegner zu lösen war, bewegte man sich hart an der Grenze zum Landesverrat. Der Kriegseintritt der USA im April 1917 hatte nicht nur einen Sieg der Mittelmächte unwahrscheinlich gemacht, sondern für die Slowenen – neben Hoffnungen auf eine innere Umgestaltung der Donaumonarchie – eine zweite Option aufgetan: Was war für sie auf der anstehenden Friedenskonferenz diplomatisch erreichbar?32 Mitte August 1918 trat in Laibach eine All­ slawische Tagung zusammen, in deren Verlauf sich alle maßgebenden Parteien der Slowenen zum „Volksrat für Slowenien und Istrien“ unter Leitung Korošecs verbanden. Dieser Rat mit seinen regionalen Sektionen war als ein künftiges Machtorgan konzipiert, das sich parallel zur

294

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

bestehenden österreichischen Verwaltung entwickeln und diese mittelfristig ersetzen sollte; zusätzlich nahm der Rat Propagandaaufgaben wahr. Der organisatorische Rahmen war geschaffen, um im geeigneten Augenblick die slowenischen Gebiete, unter ihnen die Untersteiermark ohne Rücksicht auf die deutschen Sprachinseln, aus der Monarchie zu lösen und in ein zu schaffendes Jugoslawien einzugliedern. Der slowenische Volksrat verstand sich als Etappe auf dem Weg zu einer Dachorganisation für sämtliche Südslawen der Monarchie. Tatsächlich wurde ein „Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben“ am 5. und 6. Oktober 1918 in Agram/Zagreb aus der Taufe gehoben, er wählte Korošec zu seinem Vorsitzenden.33 Zu dieser Entwicklung hatte die Verhärtung auf deutscher Seite, wo 1918 offen über einen Anschluss der Alpenländer an das Deutsche Reich spekuliert wurde34, ebenso beigetragen wie der zunehmende Anklang, den die allslawischen Forderungen in der Untersteiermark fanden.35 Entgegen den noch im Vorjahr vertretenen Anschauungen vom politischen Desinteresse der Landbevölkerung häuften sich nun die Berichte, in denen von einem staatsfeindlichen Stimmungsumschwung der slowenischen Bauern die Rede war.36 Versammlungsverbote und eine Verschärfung der Pressezensur erwiesen sich als untaugliche Mittel, die Wogen zu glätten.37 Es ist müßig darüber zu spekulieren, welchen Rückhalt die südslawischen Ankündigungen unter der slowenischen Bevölkerung fanden – jedenfalls wurde ihnen in der öffentlichen und veröffentlichten Meinung kaum widersprochen.

Es war erneut Korošec, der dieser Entwicklung den Schlussstein einfügte, als er dem Kaiser am 11. Oktober 1918 auf dessen Werben um die Loyalität der Slowenen entgegenhielt, es sei dafür zu spät. Die Slowenen würden sich von Österreich verabschieden und in einen neuen freien Staat eintreten. Kein Wunder, dass der Südslawische Nationalrat das kaiserliche „Völkermanifest“ vom 16. Oktober rundweg ­ablehnte und stattdessen die Vereinigung aller Südslawen ohne Rücksicht auf bestehende Landes- und Staatsgrenzen forderte.38 Zehn Tage später verließ die slowenische politische Elite den Habsburgerstaat, indem in Laibach und Agram der „Staat der Slowenen, Kroaten und Serben“ proklamiert wurde. Was hatte dem die deutsche Seite entgegengesetzt? Wenig, denn sie nahm eine schwankende Haltung ein. So war die Mai-Deklaration anfangs verboten worden. In der Folge erhielten die Unterbehörden jedoch Weisung, gegen die Verbreitung des Manifests nicht mehr vorzugehen.39 Die Verwaltung war zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt: Im Sommer 1918 war die Lebensmittelversorgung zusammengebrochen.40 Ein streikbedingter Stillstand des ohnehin unzulänglichen Transportsystems ließ eine koordinierte Lebensmittelverteilung illusorisch werden.41 Hunger und unablässige Streiks in der Heimat, Rückschläge an den Fronten, Auf lösung der Disziplin bei großen Teilen des Heeres – es war unübersehbar, dass das Ende rasch näherrückte. Angesichts des rasanten Autoritätsverlustes des Staates stellte sich die Frage, ob die Steirer selbst die Initiative ergreifen sollten.42

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

295

Von der Monarchie zur Republik Am 6. November 1918 konstituierten sich je 20 Vertreter der drei großen politischen Lager, der Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Deutschnationalen, als Provisorische Landesversammlung. Als ersten Schritt vereinbarten die Delegierten, das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet des ehemaligen Kronlandes (Herzogtum Steiermark) trete dem neuen Staat Deutschösterreich bei.43 Die im Siedlungsgebiete der slowenischen Nation gelegenen, allein oder überwiegend von Deutschen bewohnten Gebietsteile des ehemaligen Herzogtums Steiermark sollten vorerst im Landtag vertreten bleiben; die endgültige Grenzziehung sei einer späteren völkerrechtlichen Regelung vorzubehalten.44 Diese Formulierung war zwar ehrlich gemeint und wegen des Abrückens der Deutschnationalen von ihrer traditionellen Rhetorik überaus bemerkenswert, indem sie das Selbstbestimmungsrecht der Slowenen anerkannte – vom taktischen Gesichtspunkt aus war die Formel jedoch unklug. Die territoriale Umschreibung fiel unpräzise aus und war leicht so auszulegen, dass die beanspruchten deutschen Landesteile im Siedlungsgebiete der slowenischen Nation gelegen waren, was in der Tat zutraf. Dieser Inselcharakter konterkarierte das zweite Postulat von den allein oder überwiegend von Deutschen bewohnten Gebietsteile[n]. Damit war das Schicksal der weit von der Sprachgrenze entfernt liegenden Inseln, allen voran von Cilli/ Celje, besiegelt.45 Staatskanzler Karl Renner räumte am 12. November 1918 ein, dass die deutsche Siedlungsgrenze in Steiermark außerordentlich umstritten sei.46 Sporadisch wurde von den Zeitgenossen der Fehler erkannt, der aus der restriktiven Definition des Staatsgebiets resultierte. Renners Parteikollege Karl Seitz äußerte schwere Bedenken: Wie sollen wir vor die Friedenskonferenz kommen, wenn wir schon jetzt von vorneherein alles preisgeben, was überhaupt Gegen-

stand der Verhandlungen sein soll?47 Dennoch definierte das am 22. November 1918 verabschiedete „Gesetz über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich“, die Republik umfasse u. a. Kärnten und die Steiermark, mit Ausschluß der geschlossenen jugoslawischen Siedlungsgebiete.48 Eine Erklärung der Provisorischen Nationalversammlung hielt das Schicksal der deutschen Sprachinseln im steirischen Unterland in der Schwebe, denn es hieß dort: Die in den Siedlungsgebieten anderer Nationen eingeschlossenen, allein oder überwiegend von Deutschen bewohnten oder verwalteten Sprachinseln […] bleiben bis zur verfassungs- und völkerrechtlichen Sicherstellung ihrer politischen und nationalen Rechte unter der Hoheit der Republik Deutschösterreich […].49 Zu diesem Zeitpunkt war absehbar, dass derlei fromme Wünsche nicht Realität werden würden. Der am 29. Oktober 1918 gegründete „Staat der Serben, Kroaten und Slowenen“ (SHS) brach umgehend die Beziehungen zur kollabierenden Donaumonarchie ab und beanspruchte das gesamte untersteirische Gebiet mindestens bis zur Mur als sein Territorium – angesichts der Deklarationen der letzten zwei Kriegsjahre war nichts Anderes zu erwarten gewesen.50 Die Existenz des Ende September 1918 in Marburg an der Drau/Maribor konstituierten Slowenischen Volksrates als Teil der allslowenischen Volksratsorganisation konnte keinen Zweifel lassen, welche Vorstellungen von der Ausdehnung eines slowenischen (Teil-) Staates hier zugrunde gelegt wurden. Um jegliche Unsicherheit auszuräumen, erklärte der Slowenische Volksrat einen Tag nach der Proklamation des SHS-Staates die Bezirkshauptmänner in der Untersteiermark für abgesetzt; an ihre Stelle traten slowenische Kommissäre. Die Anerkennung dieses Schrittes durch das in wei-

296

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

te Ferne gerückte „Graz“ nauslaufenden Schritte setzwurde mit der Drohung erten? presst, andernfalls die DurchWie weit verbreitet eine fuhr aus Kroatien stammennur als Fatalismus zu bezeichder Lebensmittel nach Nornende Stimmung bereits den zu blockieren. Spätestens während der letzten Oktomit dem Eingehen auf diesen bertage war, erhellt auch aus Deal hatten die Machtträger einem Schreiben des „Deutin Graz nolens volens die schen Volksvereins für RadAutorität der slowenischen kersburg“ vom 25. Oktober Räte anerkannt. Deren 1918, in welchem der Grazer Selbstbewusstsein und HandBürgermeister gebeten wurlungsmöglichkeiten wurden de, eine rein deutsch-steiridadurch beträchtlich gestärkt sche Nationalversammlung nach – und dies zu einer Zeit, als Graz einzuberufen. Begrünin der Landeshauptstadt geradet wurde dieser Verzicht auf General Rudolf Maister de die Macht oder das, was die Landeseinheit mit der ErWikimedia Commons/ Digitalna knjižnica Slovenije noch von ihr übrig war, vom wägung, daß der slowenische Teil Statthalter in andere Hände der Steiermark dem südslavischen überging. Reiche bestimmt einverleibt wird Ende Oktober herrschte in der Untersteier- […].52 Auch dieser Volksverein, gegründet zur mark bei den habsburgischen Behörden Kon- Vertretung der deutsch-steirischen Interessen, fusion. Bereits einige Tage vor der SHS-Staats- beschränkte diese inzwischen auf die Rettung gründung hatte der Marburger Ableger des der deutschsprachigen Teile des Unterlandes. Slowenischen Nationalrats an die untersteiri- Diese Stimmung herrschte notabene, bevor der schen Bezirkshauptmannschaften (BH) erste südslawische Staat überhaupt proklamiert und die Entente-Mächte irgendeine Ge- und Verbote kommuniziert. Am 26. Ok- bevor tober fragte die BH Gonobitz/Konjice ratlos ­Information über die neuen Grenzen verlautbeim Statthalterei-Präsidium in Graz an, ob der bart hatten. Freilich mochte strittig sein, was Slowenische Volksrat als eine vom Kaiser auto- unter dem slowenischen Teil der Steiermark risierte Behörde anzusehen sei, deren Anord- genau zu verstehen war. Die steirische Seite nungen befolgt werden könnten oder müssten. befand sich jedenfalls im Herbst 1918, vor UnDie BH erbat eine Weisung dahingehend, ob terzeichnung des Waffenstillstands, auf einem sich die Wirksamkeit des gesamtsteirischen ziemlich planlosen Rückzug. Selten wurde – Wohlfahrtsausschusses sowie der Statthalterei anders als in Kärnten – ernsthaft die Bewahrung überhaupt noch auf das Unterland erstrecke! der Landeseinheit als politisches Ziel verkünEine Reaktion aus Graz ist nicht überliefert, am det. Bevor noch die Frage der geltenden Staats3. November wurde die Anfrage ad acta gelegt.51 Wer wollte es den verunsicherten Behör- autorität auf politisch-diplomatischer Ebene den im Unterland verübeln, wenn sie unter aufgegriffen wurde, hatten die Slowenen volldiesen Umständen auf Widerstand verzichteten endete Tatsachen geschaffen. Am 1. November und die Slowenen gewähren ließen, als diese 1918 besetzte Major Rudolf Maister, ein Offiihre ersten, auf eine Usurpation der Macht hi- zier der k. u. k. Armee und Kommandant des

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Landsturm-Bezirkskommandos 26, handstreichartig die militärischen Einrichtungen in Marburg. Ein vom Grazer Militärkommando zur Befehlsübernahme dorthin dirigierter, ranghöherer Offizier musste unverrichteter Dinge umkehren; sonderliche Nervenstärke hat dieser Oberst Maximilian Ullmann in der verbalen Konfrontation mit Maister nicht bewiesen. Als zudem die deutschen Teile des Infanterieregimentes 47 nach Leibnitz zurückgezogen wurden, hatte Maister in Marburg freie Hand. Er begann unverzüglich mit der Rekrutierung und Bewaffnung slowenischer Verbände. Die auf Initiative des deutschnationalen Bürgermeisters Dr. Johann Schmiderer aus den deutschen Bewohnern gebildete Schutzwehr war den Slowenen nicht ebenbürtig und wartete auf Direktiven aus Graz, die nicht kamen. Die Landesverwaltung hoffte auf Lebensmittelzufuhren aus dem Süden, sodass sie jede Provokation des ­potentiellen Lieferanten vermeiden musste. Tatsächlich wurde schon am 7. November 1918 ein Wirtschaftsabkommen zwischen Österreich und dem SHS-Staat abgeschlossen, bei dessen Nichteinhaltung die Blockade jeglicher Transporte aus Kroatien zu befürchten war.53 In dieser ausweglosen Situation hatten die Interessen des ganzen Landes oberste Priorität – den unter­ steirischen Deutschen konnte man auf ihre Hilfeersuchen bloß antworten, sie möchten Verständnis für die hungernden Menschen in der Mittel- und Obersteiermark auf bringen. Unter dem Diktat des leeren Magens wurden die Chancen, Maister aus Marburg zu vertreiben, gar nicht erst getestet – teils aus Kleinmut, teils aus einem bewussten politischen Kalkül heraus. Wohlfeil war später die Ausrede, die Wiener Regierung unter den Sozialdemokraten Karl Renner und Otto Bauer hätte vor Experimenten gewarnt. Dieses Zeitfenster nutzte Maister zur Festigung seiner Position. Als in Graz die Republik proklamiert wurde, saß er so fest im Sattel, dass

297

er ohne massive Gewaltanwendung nicht mehr aus Marburg zu vertreiben war. Da er mit der Draustadt den Zugang zum steirischen Unterland sowie dessen Verkehrs- und Wirtschaftszentrum kontrollierte, war entgegen allen Lippenbekenntnissen im Landtag zu befürchten, dass die Lostrennung der Untersteiermark nur eine Frage der Zeit sein würde.54 Völlig unwahrscheinlich war von Beginn an, dass Maister – wie er zur Beruhigung der Gemüter ausstreuen ließ – die Stadt bald räumen werde. Letzten Endes aber sind alle „was wäre gewesen, wenn …“-Überlegungen müßig. Selbst ein erzwungener oder freiwilliger Rückzug des zum Generalmajor beförderten Slowenen hätte keineswegs automatisch eine andere Grenzziehung als die 1919 vorgenommene zur Folge gehabt. Eine Charakterisierung der Aktion Maisters kann sich nicht in dem Etikett „Handstreich“ erschöpfen, setzte er doch bloß in die Tat um, was slowenische Politiker seit Jahren angekündigt hatten. Maister war gewiss der rechte Mann zur rechten Zeit, gleichwohl wird seine Rolle beim Ausgang des Grenzkonf likts häufig überbewertet. Folgenreich war das von Maister kreierte und bald nachgeahmte Modell für den Verkehr der neuen slowenischen Autoritäten mit ihren Pendants in Graz: eine Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche. Der frischgebackene General inaugurierte jene erfolgreiche Taktik, die einerseits vollendete Tatsachen schuf und vor Gewaltmaßnahmen wie willkürlichen Verhaftungen und Beschlagnahmen nicht zurückschreckte, andererseits aber Verhandlungsbereitschaft signalisierte und in Graz den Anschein erweckte, man könne mit diesem Mann Gentlemen’s Agreements abschließen. Nicht Maister, wohl aber dessen De-facto-Vorgesetzte, die führenden Männer der neuen Nationalregierung in Laibach wie Korošec und der Marburger Gymnasialprofessor Dr. Karl Verstovšek, waren der an die Macht gekommenen Elite in Graz persönlich

298

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

bestens bekannt, man hatte seit vielen Jahren im Landtag und im Reichsrat die Klingen gekreuzt, aber auch im Landesausschuss zusammengearbeitet. Die offenkundige Unterschätzung der Slowenen mag hier eine ihrer Wurzeln gehabt haben. Die in den folgenden Monaten nicht mehr abreißende Serie von Abkommen zwischen Graz und Wien auf der einen, Marburg, Laibach, Agram und Belgrad/Beograd auf der anderen Seite ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Zur ­Debatte standen primär wirtschaftliche und militärische Fragen, zentriert um die Themenkomplexe Waffenstillstand, Demarkationslinien und Truppenstärken. Allein der Umstand, dass ständig neue Abkommen dieselben Gegenstände betreffend abgeschlossen wurden, deutet auf deren Fragilität hin. Sämtliche Übereinkünfte waren für beide Seiten Notlösungen für den Tag, keinesfalls dauerhafte Regelungen. Typisch für die österreichische Seite war das gebetsmühlenhaft wiederholte Postulat, alle Vereinbarungen über ein halbwegs geregeltes Nebeneinanderleben würden die Festlegung der Staatsgrenze nicht präjudizieren, diese werde erst auf der Friedenskonferenz erfolgen. Formell verstand sich dies von selbst, sodass der Stolz der Österreicher über die Aufnahme solcher Klauseln nur verständlich wird, weil mit ihnen auch die Slowenen den provisorischen Charakter der Verhältnisse anerkannten. Überdies musste auch der SHS-Staat an der Aufrecht­erhaltung eines wirtschaftlichen Austauschs ein vitales Interesse haben, sodass kaum von südslawischen Zugeständnissen zu sprechen ist. Weitaus bedeutsamer war, dass die Übereinkünfte Demarkationslinien festlegten, die den Slowenen nicht nur die gesamte traditionelle Untersteiermark überließen, sondern ihnen ­d arüber hinaus ermöglichten, Gemeinden wie Leutschach, Spielfeld und Radkersburg weiter besetzt zu halten, sodass auch die für Truppenverschiebungen wichtige Bahnverbindung von Marburg über Spielfeld

nach Radkersburg in den Händen der Südslawen verblieb.55 In ihrer Zone durften die Besatzer die Bevölkerung entwaffnen, was ­Widerstand illusorisch machen musste. Selbst Rekrutierungen zum südslawischen ­M ilitär waren nicht ausgeschlossen.56 Die Slowenen legten ihre Rechte als Besatzungsmacht exzessiv aus und überschritten nicht selten den legalen Rahmen. Vom ersten Tag der Okkupation durch südslawische Truppen an liefen in Graz Proteste der betroffenen Gemeinden ein. Die Inhalte reichten von Plünderungen über Zwangsrekrutierungen zu Maisters Miliz bis zur Enteignung des deutschen Grundbesitzes entlang der vom SHS-Staat anvisierten Staatsgrenze. Zu Retorsionsmaßnahmen mochte sich die steirische Landesregierung umso weniger bereitfinden, als nur wenig slowenischer Grundbesitz im Bundesland für Vergeltungsschritte zur Verfügung stand.57 Damit blieb die leicht erkennbare slowenische Taktik, jenen DeutschSteirern, die in den vom SHS-Staat beanspruchten Gebieten verblieben waren, das Leben so schwer wie möglich zu machen, ohne adäquate Antwort. Eine Abwanderung von Teilen der deutschsprachigen Bevölkerung nach Norden war die logische Konsequenz. Die Proteste aus dem Grenzland wurden in Graz abgeschrieben, an das Staatsamt für Äußeres gesandt und dann zu den Akten gelegt.58 In dramatischen Fällen wie etwa bei Geiselnahmen wurde von Wien aus Protest eingelegt, dieser blieb fast immer ohne Antwort.59 Die Meldung, der SHS-Staat habe ein Amt für unerlöste jugoslawische Gebiete mit einer Filiale in Graz errichtet, die weitere Besetzungen steirischen Territoriums vorbereiten solle, veranlasste die Landesregierung immerhin zu Nachforschungen.60 Davon abgesehen blieb es beim ebenso monotonen wie fruchtlosen Notenwechsel. Ungeachtet aller Abkommen zur Regelung praktischer Fragen blieb das zentrale Problem der Grenzziehung und damit der Ausübung legiti-

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

mer Staatsgewalt in der Schwebe. Im Mittelpunkt stand die heikle Definition, was unter dem für die Steiermark beanspruchten geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet zu verstehen sei. Einen Tag vor Weihnachten 1918 reklamierte der deutschnationale Landeshauptmann Wilhelm von Kaan die südsteirischen Gemeinden Glanz, Leutschach und Schloßberg als rein deutsch, was einen Protest bei der Nationalregierung SHS wegen der Besetzung der genannten Orte rechtfertigte. Wenig überraschend erhielt er zur Antwort, es handle sich um zum überwiegenden Teil slowenische Gegenden, weshalb sie zum Verwaltungsgebiet des SHS-Staates zählten. Kaan zog sich auf den für das Agieren der von ihm geführten Landesregierung typischen, formalen Standpunkt zurück, eine einzelne Regierung könne eine solche ethnographische Festlegung gar nicht vornehmen – was sein eigenes Argument vom rein deutschen Charakter der drei Gemeinden obsolet machte. Mit seinem Verweis auf den schwer objektiv feststellbaren Wunsch der betroffenen Bevölkerung, bei Österreich zu verbleiben, brachte Kaan als vermeintliche Wunderwaffe das Selbstbestimmungsrecht ins Spiel, selbstredend ohne Auswirkungen in der Praxis. Das im Akt folgende Schriftstück berichtet von der Flucht des Schloßberger Gemeindevorstehers ins benachbarte, unbesetzte Arnfels: In seiner Gemeindekanzlei hatten sich nun die Jugoslawen eingenistet. Eine unbeantwortet gebliebene Beschwerde Kaans über einen ganzen Katalog an Übergriffen seitens der Südslawen beschließt diesen Schriftwechsel.61 Mit Papier allein ließ sich der slowenischen Strategie, in der okkupierten Zone vollendete Tatsachen zu schaffen, nicht kontern. Dies zeigte sich an einem symbolträchtigen Beispiel, als die Südslawen die Abhaltung der für den

299

16.  Februar 1919 anberaumten Wahlen zur deutschösterreichischen Verfassunggebenden Nationalversammlung in den von ihnen besetzten Landesteilen unterbanden. Erneut rächte sich die Verhandlungsposition, alles Wesentliche der Entscheidung der Friedenskonferenz vorzubehalten. Außenstaatssekretär Otto Bauer hatte bereits Ende Jänner nach Laibach mitgeteilt, die deutschösterreichische Regierung werde bis zum Friedensschluss in den von Südslaven verwalteten Gebieten keinerlei staatsrechtliche Hoheitsrechte, somit auch nicht Durchführung von Wahlen, vornehmen.62 Kompliziert wurde die Herbeiführung einer für die Steiermark halbwegs befriedigenden Lösung zum einen dadurch, dass mit den als jugoslawisch bezeichneten Instanzen auf der Gegenseite langsam aber sicher der übliche diplomatische Verkehr aufgenommen wurde, was deren Anerkennung voraussetzte.63 Zum Jahreswechsel 1918/19 bestand gar eine Vertretung der Südslawen für Deutsch-Steiermark in Graz.64 Zum anderen stellte erst ein am 3. Jänner 1919 ergangener Beschluss des Wiener Staatsrates klar, dass die Gerichtsbezirke Mahrenberg/Radlje ob Dravi, Marburg und Pettau/Ptuj, ferner Oberradkersburg/Gornja Radgona im gleichnamigen Gerichtsbezirk sowie alle Gemeinden des Gerichtsbezirks Radkersburg mit Ausnahme von Plippitzberg/Plitvički Vrh, als Teile Deutschösterreichs angesehen wurden – nur um sofort Initiativen auf den Plan zu rufen, aus bahnstrategischen Gründen auch die nördlichsten Teile des Gerichtsbezirks Windischgraz/Slovenj Gradec für die Alpenrepublik zu reklamieren.65 Es lässt sich nicht mehr feststellen, ob die für Ende Jänner 1919 im Unterland avisierte Untersuchungskommission der Entente mit einer klar definierten, durchdachten und konstanten deutschösterreichischen Position konfrontiert wurde.

300

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Die Miles-Mission, der Marburger „Bluttag“ und die Folgen Auf der Agenda der Friedenskonferenz stand ab Anfang 1919 eine Unzahl von Problemen, unter denen territoriale Fragen quer durch Europa nur einen Aspekt unter mehreren darstellten. Anders als man in Österreich glauben wollte, standen die vergleichsweise kleinen umstrittenen Gebiete an der Südgrenze nicht im Mittelpunkt. Es ging um weit Wichtigeres, eine Friedensregelung für das Deutsche Reich zumal. Da die Standpunkte zwischen Siegern und Besiegten, aber auch innerhalb des Lagers der Entente stark divergierten, wurde die Ausarbeitung der Details an Ausschüsse delegiert. Dort sollten Experten tragfähige Lösungen entwickeln und den Spitzen der Siegerstaaten vorlegen, die sich das letzte Wort vorbehalten hatten. Im Vorfeld sollten, auf Initiative der mit den komplexen demographischen Verhältnissen Mitteleuropas kaum vertrauten Amerikaner, fact finding missions vor Ort aktuelle Daten erheben. Solche Missionen waren umso notwendiger, als die ethnographische Zusammensetzung strittiger Gebiete von den beteiligten Parteien höchst unterschiedlich dargestellt wurde und die Volkszählungen aus der Vorkriegszeit oft kein verlässliches Bild ergaben; in der Regel wurden sie von einer Seite für obsolet erklärt.66 Solche Feldforschung betreibenden Expertenkommissionen waren als Instrument der Politikberatung in den USA damals bereits etabliert, in Mitteleuropa stellten sie hingegen ein Novum dar. Geeignete Strategien, derartige Gremien zu Gunsten der eigenen Sache zu beeinf lussen, mussten erst tastend entwickelt werden. Eine zentrale Rolle spielte die von dem amerikanischen Harvard-Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte Archibald Cary Coolidge geleitete und nach ihm benannte Kommission. Coolidge war dem US-State ­Department zugeteilt, er war mithin ein Organ

der USA, nicht der Entente, was die potentielle Wirkung seiner Expertisen von vornherein begrenzte. Inhalt und Umfang seiner Mission blieben in der Schwebe, sie war bestenfalls offiziös. Wohl unter Verkennung dieser Umstände beeilten sich sowohl die Kärntner als auch die steiermärkische Landesregierung, die Kommission um die baldigste Bereisung der strittigen Gebiete zu bitten.67 Der vielbeschäftigte Coolidge kam nicht selber in die Steiermark, wohl aber seine rechte Hand, Oberstleutnant Sherman Miles, mit einem kleinen Stab. Vom 17. Jänner 1919 an verbrachten die Amerikaner einige Tage in Graz, wo sie sich in die Vermittlung eines slowenischkärntnerischen Waffenstillstands einschalteten. Danach ging es am 20. Jänner nach Mureck, Radkersburg und Marburg, stets begleitet von General Maister. Ganz oben auf Miles’ Agenda rangierte eine Visite in Marburg. Wie die Dinge lagen, ließen sich die Fachleute aus dem Ausland am nachhaltigsten beeindrucken, wenn möglichst viele Bewohner der bereisten Zone ihren Wunsch nach staatsrechtlicher Zugehörigkeit zur einen oder anderen Seite artikulierten. Neben der Erhebung von Fakten zum Ist-Zustand von Wirtschaft, Verwaltung und Verkehrswesen stellten menschliche Begegnungen ein erstrangiges Mittel zur Informationsgewinnung dar. Da die Befragung eines repräsentativen Querschnitts der Bevölkerung kaum durchführbar war, eröffneten die vom Prinzip Zufall beherrschten Begegnungen eine Möglichkeit der Geltendmachung des eigenen Standpunkts. „Kundgebungen okkupierter Gemeindeversammlungen und fingierte Volksabstimmungen bildeten wirksame Mittel, um den Siegermächten ein verzerrtes Bild von der Volksstimmung im steirischen Unterland zu vermitteln.“68 Dies blieb den Amerikanern nicht lange verborgen. Kaum in Graz

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

eingetroffen, schrieb Miles an einen Mitarbeiter Coolidges, the people here want to use us for Styrian propaganda.69 Aus steirischer Sicht galt es in erster Linie, den Entente-Vertretern den deutschen Charakter von Marburg zu vermitteln. Dies schien praktikabel, hatten sich doch bei der letzten Volkszählung 1910 rund 80 Prozent der Marburger zur deutschen Umgangssprache bekannt. Selbst wenn bei diesem Resultat Manches manipuliert gewesen sein sollte und selbst wenn ein Teil der deutschsprachigen Stadtbewohner bereits weggezogen war, blieb noch immer eine satte deutsche Mehrheit. Sie galt es zu mobilisieren, im wörtlichen Sinn auf die Straße zu bringen, denn nur so konnte sie mit der MilesKommission in Kontakt treten. Bereits bei der ersten Miles-Visite in Marburg am 20. Jänner hatten die Stadtväter versucht, die von dem

Die „Miles-Mission“ in Radkersburg, 1919

301

­ ffizier an sie gestellten Fragen in ein Plebiszit O umzuwandeln, was erhebliche diplomatische Verstimmung hervorrief; Maister ließ einige der Verantwortlichen kurzerhand verhaften.70 Auf Geheiß ihres Bürgermeisters veranstalteten Tausende Marburger am 27. Jänner 1919, dem Tag des neuerlichen Eintreffens der Kommission, einen Demonstrationszug zum Rathaus. Über das, was dann geschah, gehen die Meinungen bis heute auseinander. Unbestritten ist, dass eine unter dem Kommando Maisters stehende slowenische Militärabteilung auf die Demonstranten feuerte, wobei elf Tote und rund 60 Verwundete zu beklagen waren. Obwohl die bald als „Marburger Bluttag“ apostrophierten Geschehnisse instrumentalisiert wurden, um die Entente vom brutalen, das Selbstbestimmungsrecht niederknüppelnden Vorgehen der Slowenen zu überzeugen, war die Empörung in der

Stadtarchiv Bad Radkersburg

302

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Steiermark echt. Pläne der erbettelte beim Kärntner Landesregierung für ein miLandesbefehlshaber eine litärisches Eingreifen mussten Waffenlieferung, die allerunter der unverändert wirkdings auf Weisung der Grazer samen Drohung der EinstelLandesregierung in Fehring lung der Lebensmittelliefebeschlagnahmt wurde. Erst rungen trotzdem aufgegeben nach langem Hin und Her werden. Ob die Amerikaner gelang es Mikl, sich durch sich durch die blutigen EreigGewalt der Waffen zu benisse beeindrucken ließen, mächtigen.74 Für den Handstreich auf Radkersburg hatte erscheint zweifelhaft. Miles’ der Oberleutnant kaum mehr Bericht zufolge verließ er als 100 Mann zur Verfügung. Marburg unmittelbar nach Den Männern Mikls gelanden Schüssen in dem Glaugen einige Teilerfolge in und ben, es habe nur Verwundete um Radkersburg, sie konnten gegeben. Genauere InformaDr. Willibald Brodmann, 1915 jedoch die slowenische Gartionen einzuholen hielt er Archiv Kulturinitiative Ratschendorf nison nicht ausschalten. Selbst nicht für nötig; darüber hibei einem anderen Ausgang naus rechtfertigte Miles anfangs das harte Vorgehen der Slowenen.71 Coo- dieser Unternehmung, die beide Seiten je neun lidge ärgerte sich über das steirische Ansinnen, Gefallene kostete, hätte sich an der Gesamtlage als Reaktion auf den „Bluttag“ Marburg durch wenig geändert, fehlte der als Signal für eine Entente-Truppen besetzen zu lassen. Zynisch allgemeine Erhebung gedachten Aktion doch hielt er intern fest, what an insignificant affair jede Einordnung in einen größeren ZusammenMarburg is compared with many other demands that hang. Sie kam zeitlich ungelegen, war mitten are being made upon the Allies […].72 Was den im Winter beim miserablen Ausrüstungsstand Steirern der Mittelpunkt der Welt war, erschien der Österreicher kaum erfolgversprechend und den Vertretern der Entente als eines unter vielen drohte den Mitte Jänner in Kärnten abgeschlosProblemen, aber kein wichtiges. Dies alles ist senen Waffenstillstand zu gefährden.75 Abgesejedoch irrelevant, weil die Grenzziehungsvor- hen von der fehlenden ­Rückendeckung aus schläge der Miles-Mission zwar für die Steier- Graz waren sich nicht einmal die in der Region mark günstig ausfielen, aber weder der Öffent- aktiven Verbände über die Sinnhaftigkeit des lichkeit mitgeteilt noch zur Grundlage der Angriffs einig. Der Arzt Dr. Willibald BrodBeratungen auf der Friedenskonferenz gemacht mann, Führer einer am 26.  Jänner in Straden gegründeten und bald in „Untersteirisches Bauwurden.73 In den auf den „Bluttag“ folgenden Tagen ernkommando“ umbenannten Heimwehr, hielt f lammten zwischen Mureck und Radkersburg dem Weltkriegsoffizier Mikl, im Zweiten Weltneuerlich Kämpfe auf, die in einem am 4. Feb- krieg General, vor, dass die einzelnen Heimwehren ruar gestarteten Versuch, Radkersburg zurück- untereinander ohne jede Verbindung waren und eine zuerobern, gipfelten. In der zweiten Jännerhälf- Ortschaft nicht wußte, was die andere tat.76 Mikl te hatten einige der führenden Köpfe der Stadt konterte, ein von Brodmann befehligter Verden aus der Gegend stammenden Oberleutnant band sei nirgendwo bemerkbar gewesen. Wenig Hans Mikl aus Kärnten zurückgerufen. Mikl verwunderlich, dass Mikl nach diesem Rück-

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

schlag resignierte, den Rest seiner Truppe auflöste und deren Waffen Brodmann übergab.77 Somit ging die Initiative auf den Arzt Brodmann über, der den Weltkrieg in frontnahen Lazaretten mitgemacht hatte. Brodmann war in der schlagenden Burschenschaft „Frankonia“ sozialisiert worden, an seiner deutschnationalen und antisemitischen, ja völkischen Einstellung ist nicht zu zweifeln. Er steht prototypisch für jene Deutschnationalen, die sich dem kompromissbereiten Kurs ihrer Gesinnungsgenossen in der steiermärkischen Landesregierung nicht fügen wollten. Brodmann ließ keinen Zweifel daran, dass er nur ihm genehme Anordnungen aus Graz zu befolgen gedachte, und stellte somit das Gewaltmonopol des Staates in Frage, er wurde allerdings nicht konsequent daran gehindert. Hier lag die Wurzel für das gespannte Verhältnis des Bauernkommandos zur Landes-

303

regierung. Brodmanns Truppe war in der Südsteiermark ein nicht zu ignorierender Machtfaktor, den aber weder Kaan noch sein Nachfolger Anton Rintelen in den Himmel wachsen lassen wollten. Kaan distanzierte sich gegenüber Laibach von den Bemühungen zur Verteidigung des Raumes Straden ebenso wie von dem Angriff auf Radkersburg.78 Die mangelnde Unterstützung aus Graz, über die Brodmann klagte, lag an seinen Eigenmächtigkeiten, ganz zu schweigen davon, dass schon die Gründung des Bauernkommandos ohne jedes Zutun der Landesregierung erfolgt war. Diese Friktionen haben die Schlagkraft des Bauernkommandos nicht erhöht. Allein die starke Ortsbindung sowie die Unerfahrenheit der rekrutierten Bauern bewirkten, dass diese für Einsätze „out of area“ nicht verwendbar waren. Gleichwohl erwog das Bauernkommando deren Verwendung

Aushang der SHS-Truppen in Radkersburg über die Festsetzung von zwölf Geiseln aus den Reihen angesehener StLA Bürger, Februar 1919

304

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Lagekarte der Kämpfe im steirisch-slowenischen Grenzraum 1918/19 (Ausschnitt) Aus: Freiheitskämpfe in Deutschösterreich, Skizze 14

in Kärnten. Phantastisch muten Planungen an, das Bauernkommando sogar in Ungarn in den Kampf zu werfen.79 Die Bauernwehren konnten kaum mehr erreichen als ein weiteres Vordringen jugoslawischer Truppen nach Norden aufzuhalten und damit den Verlauf der nördlichen Demarka­ tionslinie im Waffenstillstand vom 13. Februar 1919 zu beeinf lussen. Damit war eine Pattsituation eingetreten: Die Südslawen waren zwar gestoppt, konnten aber aus den von ihnen besetzten Positionen nicht vertrieben werden. Da die Slowenen auf den Angriff auf Radkersburg mit der Festsetzung von 60 Geiseln reagiert hatten, mussten beide Konf liktparteien um ­Deeskalation bemüht sein. Schon zuvor hatte übrigens General Maister persönlich dem US-Emissär Miles

eine von ihm erlassene Order ausgehändigt, in welcher Maister die Niederbrennung jener Ortschaften befahl, die Ziel steirischer Rückeroberungsversuche werden sollten.80 Die am 13. Februar vereinbarte Waffenruhe setzte zwei für die Slowenen günstige Demarkationslinien fest, die praktisch alle von ihnen für den SHS-Staat beanspruchten Gebiete in ihrer Hand beließen. Die Bestimmungen dieses Vertrages wurden zwar von beiden Seiten mehrmals gebrochen, blieben aber de iure bis zur Ratifizierung des Friedensvertrages gültig. Somit hatte sich das halbwegs professionell organisierte, reguläre Militär der Südslawen, gestützt auf die Ressourcen des SHS-Staates, gegen die Amateure der improvisierten Einwohner- und Bauernwehren auf österreichischer

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Seite durchgesetzt, selbst wenn letztere von kriegserfahrenen Offizieren kommandiert und durch einige Dutzend Studenten verstärkt wurden. Damit ließ sich der eklatante Mangel an schweren Waffen und Munition nicht kompensieren, wie überhaupt der beliebte Verweis auf die auf dem Papier beeindruckende Kopfstärke der steirischen Wehren wenig besagt, da es ihnen an der für die Entfaltung militärischer Effizienz erforderlichen Infrastruktur mangelte. Das steirische Volkswehrkommando war nämlich vom Staatssekretär für Heerwesen ange-

305

wiesen worden, den im Kampf mit den Jugoslawen stehenden Wehren keinerlei logistische Unterstützung zukommen zu lassen.81 Außenstaatssekretär Bauer hatte zuvor nach Laibach telegraphiert, die Regierungen in Wien und Graz stünden einem steirischen Aufstand gegen die südslawische Besetzung vollkommen ferne und waren bis zum letzten Augenblicke unentwegt bemüht, die Bevölkerung zu beruhigen […].82 Bauer selbst inter­venierte wie gezeigt bei der SHSRegierung gegen offene Gewaltakte der Südslawen.

Entscheidung auf der Friedenskonferenz Bei dieser Sachlage – die Jugoslawen hatten die von ihnen beanspruchten Gebiete als Faustpfänder in der Hand – verlagerten sich die Hoffnungen auf die in Paris tagende Friedenskonferenz. Bezüglich der Steiermark waren die Erwartungen recht bescheiden, hieß es doch in den Instruktionen für die österreichische Delegation, es sei in erster Linie die Forderung nach Radkersburg und Marburg zu stellen. Darüber hinaus ist mit grosser Entschiedenheit die Frage nach Pettau und der ganzen Draulinie zu vertreten. Mit Pettau werde zugleich über Wien entschieden, die Elektrizitätswerke an der Drau seien eine Lebensfrage für Österreich.83 Auch später kreiste die österreichische Argumentation mehr um die drohende wirtschaftliche Not bei Abtrennung der fruchtbaren Landstriche im Süden als um die Prägung der ökonomischen Strukturen des Unterlandes durch Wien und Graz – ein törichtes Argument, das die Südslawen sofort zur Untermauerung ihrer These von der Unterdrückung und Ausbeutung der Slowenen nutzten.84 Die in Paris weilenden Österreicher, u. a. der Radkersburger Vizebürgermeister Dr. Franz Kamniker, wurden nicht zu den Verhandlungen beigezogen, konnten sich aber schriftlich äu-

ßern.85 So ergoss sich über die Staatsmänner der Entente eine Flut österreichischer Memoranden, die mit wenigen Variationen in der Argumentation und mit Hilfe von Karten, Statistiken usw. den Nachweis zu führen trachteten, erhebliche Teile des vom SHS-Staat okkupierten Gebiets hätten eine deutschsprachige Mehrheit. Die Rahmenbedingungen waren für die Österreicher ausgesprochen ungünstig: Ende Juni 1919 berichtete die Delegation nach Wien, von ihren insgesamt acht Protestnoten wegen jugoslawischer Übergriffe sei lediglich eine beantwortet worden, man habe keinerlei Verbindung mit den alliierten und assoziierten Mächten, sei faktisch interniert und gegenüber den Jugoslawen in der weitaus schlechteren Lage. Letztere könnten die österreichischen Beschwerden leicht als Querulationen darstellen.86 Die Südslawen hatten einen Startvorteil, denn die Gebietskommission der Konferenz hatte noch vor Eintreffen der Österreicher die Grundsätze für die Grenzziehung im Süden der Steiermark fixiert und sich hierbei eng an die jugoslawische Stellungnahme vom 18. Februar angelehnt.87 Von den zahlreichen österreichischen Memoranden war daher wenig Wirkung zu erwar-

306

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

ten. Begleitet wurde die Denkschriftenkampagne durch eine Propagandaoffensive in der Heimat. In immer neuen Broschüren, für welche die Elite der steirischen Landeshistoriker mit Hans Pirchegger an der Spitze zur Feder griff, wurde der deutsche Charakter der umstrittenen Landesteile hervorgehoben.88 Bezeichnend für die defensive Tonlage dieser Publizistik ist ein Pamphlet Kamnikers, das nur mehr Das deutsche Murtal von Spielfeld bis Radkersburg thematisierte.89 Soweit war die steirische Seite zurückgewichen, abgesehen von dem verhandlungstaktisch ungünstigen Umstand, dass bei den Österreichern abweichende Versionen der erstrebten Grenze nebeneinander zirkulierten. Diese Schriften erschienen in der Reihe „Flugblätter für Deutschösterreichs Recht“. Vertieft wurden sie durch Lichtbildervorträge wie jenem, den ­Pirchegger im Mai 1919 in Graz zum Thema Unser steirisches Unterland hielt.90 Obwohl hier moderne Propagandatechniken zum Einsatz kamen, fragt man sich doch, wer eigentlich mit diesen Aktivitäten – sie alle fanden ausschließlich nördlich der Demarkationslinie statt – überzeugt werden sollte. Langfristige Folgen hatten diese Traktate, meist Schnellschüsse von Aktivisten des Grenzlandkampfes, aber durchaus: Die dort entwickelten, zeitbedingten Interpretationsschemata sowie der melodramatische Sprachgebrauch („Deutsches Leid“ u. a.) prägten in der Steiermark die Erinnerung an die Ereignisse von 1918 bis 1920 bis in die 1970er Jahre hinein, wenn nicht noch darüber hinaus.91 Dafür sorgte schon der Umstand, dass die Autoren von 1919 noch jahrzehntelang auf dieses Thema zurückkamen.92 Während in Saint-Germain um die Details des Friedensvertrags gerungen wurde, zirkulierten daheim täglich neue Gerüchte darüber, was die Zukunft bringen werde. Angeheizt wurden sie durch neue Pläne militärischer Vorstöße über die Demarkationslinie nach Süden. Ein weiteres Mal wurden diese unausgegorenen

Ideen durch Interventionen aus Wien bzw. von Seiten der österreichischen Delegation in Paris unterbunden; eine militärische Machbarkeitsstudie war obendrein zu einer negativen Prognose hinsichtlich der Erfolgsaussichten eines solchen Unternehmens gelangt.93 Groß war die Ernüchterung, als am 2. Juni 1919 der erste Vertragsentwurf in die Öffentlichkeit gelangte: Marburg und Radkersburg sollten an den SHS-Staat fallen. Der Schwarze Tag von St. Germain titelte das „Grazer Tagblatt“ zu dieser Meldung und brachte in großer Aufmachung einen einstimmigen Einspruch der steiermärkischen Landesregierung. Der neue christlichsoziale Landeshauptmann Anton Rintelen brachte seine tiefste Erschütterung über die Nichteinhaltung der Prinzipien des US-Präsidenten Wilson zum Ausdruck. Selbstredend hagelte es Proteste gegen die Vergewaltigung unserer Republik und die Abtretung der als rein deutsch deklarierten Gebiete Marburg, Radkersburg und Abstaller Feld/Apaško polje. Mit der Versicherung, die steirische Bevölkerung werde sich stets solidarisch mit ihren Brüdern und Schwestern im Unterland fühlen, endete dieser um dramatische Worte nicht verlegene, gleichwohl realitätsfremde Appell, meinte die Landesregierung doch ernstlich, sie könne gegen einen Beschluss der Friedenskonferenz Einspruch im Sinne eines formellen Vetos erheben.94 Eine gegenüber dem ersten Entwurf geringfügige Verbesserung sollte es für die Steiermark aber geben: Die Ende August 1919 endgültig fixierte Grenze teilte Radkersburg entlang der Mur, beließ also den größeren Teil der Stadt bei Österreich. Auch weitere nördlich des Flusses gelegene, teils slowenischsprachige Dörfer blieben ebenso steirisch wie Spielfeld, Leutschach und ein großer Teil der Soboth, mithin Gebiete, die seit bald einem Jahr von den Südslawen besetzt waren. Das von den Österreichern vehement vertretene Projekt einer Volksabstimmung in einer Zone nördlich der Drau schien

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

im August 1919 kurz vor der Realisierung zu stehen, als die Mehrzahl der alliierten Delegationsführer, mit Ausnahme des französischen, dieser Idee näher trat und Neigung zeigte, das Anfang Juni geschnürte Paket erneut zu öffnen. Massive Schützenhilfe kam von Italien.95 Frankreich hielt dagegen, das Resultat eines Plebiszits sei absehbar: Die Stadt Marburg werde deutsch stimmen, das umliegende Land slowenisch. Ein scharfer Protest der Jugoslawen, die sich allerorten benachteiligt fühlten, verstand sich von selbst. Neuerlich wurden Gutachten eingeholt, ohne dass ein Konsens zustande kam.96 Es wurde deutlich, dass ein Aufrollen dieser bereits entschiedenen Frage nur zu Streit zwischen den Ententemächten führen musste, zumal nicht einmal Einigkeit über die Ausdehnung der Abstimmungszone erzielt werden konnte. Schließlich wurde der Plebiszitplan gegen italienischen Widerspruch fallengelassen.97 Seine Gegner hatten das fadenscheinige Argument vorgebracht, im strittigen Gebiet sei die Zustimmung der Bevölkerung zum Eintritt in den SHS-Staat anzunehmen, weil es dagegen keinen bewaffneten Widerstand gegeben habe. Daran hat sich in der Steiermark der Mythos entzündet, ein Abwehrkampf nach Kärntner Muster hätte zu einem anderen Grenzverlauf geführt. Ein solcher Zusammenhang erscheint indes als wenig wahrscheinlich, musste doch den Entente-Mächten klar sein, dass Widerstand in den von den Südslawen seit Anfang November 1918 besetzten Gebieten illusorisch war. Das genannte Argument war bestenfalls ein Feigenblatt für die politisch gewünschte Gestaltung der Grenze nach Großmachtinteressen.98 In diesem Szenario kam der zeitweiligen Abwesenheit der steirischen Experten von Paris nur marginale Bedeutung zu. Freilich ließ sich daran treff lich ein steirischer Opfermythos aufhängen, der noch in jüngeren Publikationen

307

auftaucht.99 Unbeachtet bleibt hierbei der Tausch- und Kompromisscharakter der Pariser Regelung, die eben – ungeachtet vollmundiger Ankündigungen – nicht ausschließlich das Selbstbestimmungsrecht verwirklichen wollte oder konnte, sondern die Grenzen so ziehen musste, dass neben ethnischen Kriterien auch ein halbwegs tragbarer Zustand für Verwaltung, Wirtschaft und Verkehr Berücksichtigung fand. In Wien hatte man früh erkannt, dass die Entente wegen der Gebietsstreitigkeiten zwischen den Siegern Italien und Jugoslawien gedrängt sein würde, deren gegenseitige Konzessionen durch Einräumung von Zugeständnissen auf Kosten Deutsch-Österreichs zu erreichen.100 Zu Ungunsten der Steiermark schlug aus, dass die deutsch besiedelten Gebiete wie Inseln in einem slowenischen Meer lagen.101 Nur das Abstaller Feld lag, wenn auch südlich der Mur, am Rande des geschlossenen deutschen Sprachgebietes. Aus diesem Grund war in Graz die weit im Süden gelegene Stadt Cilli, eine der drei Bastionen des deutschen „Festungsdreiecks“ im Unterland, abgeschrieben worden. Die Insellage traf jedoch, wenngleich weniger ausgeprägt, selbst auf Marburg und Pettau zu, wie auch die Entente-Vertreter in Paris bemerkten.102 Diese Städte bei Österreich zu belassen, hätte unweigerlich eine beträchtliche slowenische Minderheit in die ­Republik inkorporiert. Eine solche Lösung war bei den gegebenen Machtverhältnissen, mit den Südslawen auf der Seite der siegreichen Entente, schlechthin unrealistisch. Sie war es umso mehr, als die Jugoslawen, anfangs durchaus glaubhaft, zusicherten, sie würden auf Grund ihrer leidvollen Erfahrungen als Minorität im Habsburgerreich die Rechte anderer Minderheiten in ihrem eigenen Staat respektieren, während dies für Deutschösterreich eingedenk der Erfahrungen mit der Donaumonarchie keineswegs gesichert sei.

308

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Zusammenfassung und Würdigung Die Friedensmacher waren, wie oftmals beklagt, nicht nur mit den lokalen Verhältnissen wenig bis gar nicht vertraut – der OsteuropaHistoriker Coolidge konnte noch im Jänner 1919 nicht einmal den Namen der steirischen Landeshauptstadt korrekt zu Papier bringen.103 Und sein Adlatus Miles hielt über eine bloß zweitägige Bereisung des steirischen Unterlandes mit entwaffnender Ehrlichkeit fest, seine Arbeit dort was so general in nature and so short in duration that our conclusions of the final frontier of that province can only be made by analogy from our work in Carinthia.104 Offenkundig spielte aber, über das Unwissen und den Zeitdruck hinaus, eine Erfahrung eine Rolle, welche die Amerikaner bei ihren Bereisungen gemacht hatten: In diesem multiethnischen Grenzland war es tatsächlich so, that names mean nothing, wie Miles am 22. Jänner 1919 sichtlich frustriert festhielt. Aktivisten auf der deutsch-steirischen Seite trugen typisch slawische Namen und umgekehrt, bei dem weit verbreiteten Bilingualismus der Grenzlandbewohner half eine (obendrein zeitraubende) Untersuchung ihres Sprachgebrauchs nicht weiter. Gleiches galt für das Erscheinungsbild der ­Menschen oder das Aussehen der Städte und Gemeinden, ja selbst für deutsche Straßenbezeichnungen, die Miles auf germanisierende Einf lüsse unter den Habsburgern zurückführte. Der Schein, wenn es ihn denn gab, trog allerorten. Da the two peoples so fade into each other, erschien dem amerikanischen Offizier – und vermutlich nicht nur ihm – jeder Versuch räumlicher nationaler Abgrenzungen ebenso aussichtslos wie absurd. Nationale Kriterien trafen auf die vor Ort feststellbaren Verhältnisse nicht oder bestenfalls sehr eingeschränkt zu, mochten auch die Betroffenen bzw. ihre Wortführer lautstark das Gegenteil behaupten.105 Neueste

Forschungen haben Miles’ hellsichtigen Befund der nationalen Indifferenz großer Teile der Grenzlandbewohner bestätigt.106 Wer aber Eindrücke gewann wie Miles, für den musste das Selbstbestimmungsrecht mangels eindeutig bestimmbarer Träger dieses Rechts in den Hintergrund treten. Die Staatsgrenzen konnten, ja mussten dann nach anderen Kriterien festgelegt werden, ohne dass selbst glühende Anhänger der Wilson’schen Prinzipien ein schlechtes Gewissen zu haben brauchten. Genau diese Schlussfolgerung zog auch Miles: Er sprach von der deutsch-slowenischen Sprachgrenze als zone of mixed population through which, it would seem, the only logical frontier would be a geographical, or possibly an economic one.107 Es war Pech für die Steier­ mark, dass dieser nicht-ethnische Ansatz ohne Konsequenzen blieb. Was nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Saint-Germain am 10. September 1919 bis zu seinem Inkrafttreten am 16. Juli des folgenden Jahres noch zu tun blieb, war die Festlegung des Grenzverlaufs in der Natur sowie – aus steirischer Sicht weitaus wichtiger – der Rückzug jugoslawischer Truppen aus den Österreich zugesprochenen Gebieten. Dieser Abzug dauerte nahezu ein Jahr und war erneut mit einer Fülle von Klagen wegen Übergriffen aller Art verbunden. Zurück blieben eine wenn nicht tote, so doch extrem unattraktiv gewordene, wirtschaftlich darnieder liegende Grenzregion, unterbrochene ökonomische und Verkehrsverbindungen108 sowie eine rund 70.000 Köpfe zählende, in der Folge rapid schrumpfende, deutschsprachige Minderheit im SHS-­ Königreich. Diese Dableiber bekamen in den folgenden Jahren die Rechnung für die sture Haltung des Habsburgerstaates gegenüber seinen Slowenen präsentiert.109 Bezieht man die in die Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zu-

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Österreichische und jugoslawische Gendarmen auf der Murbrücke in Radkersburg, 26. Juli 1920

rückreichende Vorgeschichte des konf liktträchtigen Auseinanderlebens von Deutsch-Steirern und Slowenen in die Betrachtung ein, so erscheint die 1919 gezogene Grenze stärker als hausgemacht und als konsequenter Abschluss eines historischen Vorgangs. Unter den Ursachen an erster Stelle zu nennen ist das Desinteresse der tonangebenden Slowenen, bei Österreich zu bleiben. Frustrationen waren lange vor 1914 wegen der Weigerung der deutschsprachigen Mehrheit, der Minorität volle Gleichberechtigung zu gewähren, an der Tagesordnung. Der Krieg hatte die Bewahrung der Landeseinheit für die steirischen Slowenen noch unattraktiver gemacht. Die Trias von chronischem Lebensmittelmangel, willkürlichen Requisitionen und geschickter südslawischer Propaganda drängte die slowenische Bevölkerung seit Anfang 1918 in eine separatistische Richtung. Die habsburgische Verwaltung hatte sichtbar abgewirtschaftet, eine slowenische Schattenverwaltung stand seit Sommer 1918 bereit – schlechter als es war, so mochte es scheinen, konnte es mit ihr nicht werden. Und was sollte die Slowenen 1918/19 in einem Staat hal-

309

StLA

ten, dessen sehnlichster Wunsch darin bestand, in Großdeutschland aufzugehen? Aus slowenischer Sicht bedeutete dies, vom Regen in die Traufe zu kommen. Gegenüber dieser Alternative schien der Zusammenschluss mit Serben und Kroaten weitaus bessere Chancen für das slowenische nationale Programm zu bieten. Enttäuschungen sollten bald folgen, bei Kriegsende und kurz danach waren sie jedoch noch nicht absehbar. Gerade weil aber dem SHSStaat ein großdeutscher Nachbar zu drohen schien, war es nur folgerichtig, dass die Südslawen die Grenze so weit als irgend möglich nach Norden vorzuschieben versuchten. Dies war Realpolitik im besten Wortsinn. Bei deren Vorbereitung spielten die slowenischen Politiker der vormaligen Steiermark als treibende Kraft eine Schlüsselrolle. Ein zweiter Faktor war die Uneinigkeit der Steirer, als es um die Definition der zu reklamierenden Gebiete und die geeignete Taktik zur Erreichung dieses Zieles ging. Wie dargelegt, kursierten hierüber höchst unterschied­ liche Vorstellungen, was die Verhandlungsposition des Landes nachhaltig schwächte. Dem

310

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

slowenischen Lager war unter Führung Korošecs seit Anfang 1918 eine nahezu vollständige Einigung gelungen, bei den Deutsch-Steirern herrschte vor und nach Kriegsende Dissens. In der Literatur ist einmal gar von „Inkonsequenz und Zerfahrenheit der steirischen Politik dem südlichen Nachbarn gegenüber“ die Rede.110 Schon Anfang Dezember 1918 musste die Landesregierung empört Vorwürfe der Christlichsozialen und Deutschnationalen zurückweisen: Diese hatten öffentlich behauptet, die Landesregierung habe mit dem SHS-Staat ein Geheimabkommen geschlossen, welches den Südslawen neben deutschen Teilen der Steiermark sogar Kärntner Gebiete überließ. Daran war kein wahres Wort, es ist aber bezeichnend, dass Derartiges in politischen Kreisen und der Presse ernsthaft erörtert wurde.111 In Wien fielen solche Gerüchte auf fruchtbaren Boden, weil man dort über die zahlreichen außenpolitischen Eigenmächtigkeiten der Steirer alles andere als glücklich war. Im Jänner 1919 konstatierte das Staatsamt für Äußeres, bezüglich der Grenzfrage gebe es in der Steiermark zwei Fraktionen: Die Empörung über das Vorgehen der Südslawen nehme von Süden nach Norden ab; in der Südsteiermark sei die Erregung zur Siedehitze gestiegen, während die Landesregierung eingedenk ihrer Verantwortung für das ganze Land besonnen agiere. Deswegen gerate sie unter Beschuss radikaler Kreise, die sie mit dem ganzen Vokabular der Alldeutschen als Schlappschwänze, Flaumacher etc. titulierten und behaupteten, bewaffneter Widerstand hätte die Okkupation steirischer Gebiete durch die Jugoslawen verhindern bzw. rückgängig machen können. Indigniert stellte das Staatsamt für Äußeres fest, eine einzige serbische Brigade würde das Blatt rasch wenden. Ferner würden die Radikalen die der Steiermark drohenden Repressalien nicht bedenken.112 Ironischerweise erscheint die konsequent ablehnende Haltung der Wiener Zentralstellen gegenüber einem bewaffneten Wi-

derstand an der steirischen Südgrenze als eine der wenigen Konstanten auf österreichischer Seite. Motiviert wurde diese Ablehnung – so Bauer bereits am 3. November 1918 – nicht durch Kleinmut, sondern durch die Sorge, andernfalls den soeben abgeschlossenen Waffenstillstand mit der Entente zu verletzen.113 Auch dies war beste Realpolitik, von der freilich ein Teil der politischen Eliten des Landes nichts hören wollte, weder damals noch später. So war dem Vorwurf des Flaumachens ein langes Leben beschieden, wenngleich der seinerzeitige Eindruck der südsteirischen Bevölkerung, von Wien und Graz stiefmütterlich behandelt zu werden, subjektiv verständlich ist.114 Auf diesem Boden gedieh der Mythos von der durch ignorante Siegermächte oktroyierten Zerreißung der Steiermark, ein Mythos, der weder den nachvollziehbaren Separationswunsch der steirischen Slowenen noch die hausgemachten Fehler und die interne Uneinigkeit der Steirer in Rechnung stellt. Wie dargelegt, hatte die politische Elite der Steiermark im Herbst 1918 große Teile des Unterlandes abgeschrieben. Gegen dieses Fügen in das Unvermeidliche gab es wenig Widerspruch, strittig waren die Details: Sollte die Grenze ein paar Kilometer weiter südlich verlaufen oder nicht? Wie immer die Antwort lautete, eine Teilung der Steiermark war damit allemal verbunden, weshalb spätere Klagen, welche die Zerreißung des Landes überhaupt zum Gegenstand hatten, am Kern des Problems vorbeigehen. Freilich war ein in ethnischer, wirtschaftlicher und verkehrstechnischer Hinsicht günstigerer Grenzverlauf denkbar, eine Zerreißung des Landes hätte auch er bedeutet. Nachdem die Provisorische Landesversammlung im November 1918 die Zugehörigkeit des slowenisch besiedelten Landesteils zum SHS-Staat außer Streit gestellt hatte, war es unwahrscheinlich, dass sich die Sieger mit – aus ihrer Sicht – Marginalien der Grenzziehung lange auf halten würden. In dem Macht-

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

poker auf der Friedenskonferenz hatten die Südslawen die besseren Karten, die sie geschickt auszuspielen verstanden. Es wirkte sich aus, dass sie seit 1917/18 offensiv, die Steirer durchgehend defensiv gehandelt hatten. Für die steirische Landesregierung wurde konstatiert, dass sie „ohne allzu viel diplomatisches Geschick, ohne Gespür für das gerade noch Erreichbare und ohne Ausnützung des vorhandenen Handlungsspielraums“ agierte.115 Bei dieser Sachlage trägt der Vergleich mit Kärnten mitsamt seiner Schlussfolgerung, ein entschlossenes Vorgehen hätte der Steiermark gleich ihrem westlichen Nachbarn einen günstigeren Frieden beschert, nicht weit. Anders als die stark industrialisierte Steiermark war Kärnten kaum auf Lebensmittelzufuhren angewiesen und daher nicht erpressbar. Auch gab es in Kärnten im ersten Halbjahr 1919 keine drohende Gefahr eines kommunistischen Umsturzes – ein Problem, mit dem sich die Landesregierung in Graz sehr wohl auseinandersetzen musste und das ihre Handlungsfähigkeit an der Grenze stark einengte, zumal es die Bereithaltung militärischer Kräfte für diesen Eventualfall erforderte.116 Das politische Leben der Steiermark erschöpfte sich damals keineswegs in der Grenzfrage. In Summe sprach wenig für die Erfolgsaussichten

311

bewaffneten Widerstands, ganz zu schweigen von Versuchen der Rückeroberung besetzter Gebiete. Als hierfür günstige Umstände wurden genannt die Hilfsbereitschaft der kurzlebigen ungarischen Räteregierung, psychologische Unterstützung Italiens und die Chance auf ein Zusammenwirken mit slowenischen Sozialdemokraten, welche angeblich die serbische Dynastie stürzen wollten.117 Solche Hoffnungen als abenteuerlich zu bezeichnen, wäre eine klassische Untertreibung. Allein der Gedanke einer Zusammenarbeit der ungarischen Rätekommunisten mit den deutschnationalen und anti-kommunistischen Heimwehren erscheint mehr als phantastisch.118 Fakt ist, dass von einer Kooperation nichts zu bemerken war, vielmehr musste zum Zweck der Verhinderung eines Übergreifens des Rätekommunismus auf Österreich der Grenzschutz Ost aufgestellt werden.119 Die steiermärkische Landesregierung mag taktische Fehler begangen haben, unter den gegebenen Umständen bewies sie gleichwohl Verantwortungsgefühl und Realitätssinn, was sich nicht zuletzt in der vergleichsweise niedrigen Zahl während der Auseinandersetzung ums Leben gekommener Steirer niederschlug.120 Dank hat die Landesregierung dafür nicht geerntet.

Epilog: Vergangenheit, die nicht vergeht? Im 21. Jahrhundert ist die Untersteiermark, noch in den 1960er Jahren als „unvergessene Heimat“121 beschworen, weitgehend aus der historischen Erinnerung der Steirerinnen und Steirer entschwunden. Die Erlebnisgeneration der zu Kaisers Zeiten im Unterland Geborenen ist mittlerweile ebenso verstorben wie die Abwehrkämpfer von 1919/20, denen die Stadt Radkersburg 1930 und die Landesregierung erst 1960 Erinnerungsmedaillen stifteten (129 bzw.

467 Verleihungen an die zum Zeitpunkt der Stiftungen noch Lebenden, Doppelverleihungen kamen vielfach vor). Um 1970 gab es noch den Verein „Freiheitskämpfer Radkersburg und Umgebung 1919“, welcher zusammen mit den Kameradschaftsverbänden an der Grenze die in Radkersburg, Weitersfeld und auf der Soboth errichteten Mahnmale betreute. Der letzte steirische Abwehrkämpfer starb 1995. Hatte der damalige Landeshauptmann Josef Krainer 1969

312

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Denkmal General Rudolf Maisters auf dem nach ihm benannten Platz (Trg generala Maistra) in Marburg, Foto: Valentina Bevc Varl 2012

noch den 50. Jahrestag des gescheiterten Angriffs auf Radkersburg in einem Festakt gewürdigt, erscheint Derartiges heute kaum mehr vorstellbar.122 Kurz vor Krainers Rede war die Radkersburger Kaserne in „Hans-Mickl-Kaserne“ umbenannt worden; sie wurde mittlerweile vom Bundesheer geschlossen. Nunmehr sind auch die Reihen jener, die 1945 Opfer von Flucht und Vertreibung aus Jugoslawien geworden waren, stark gelichtet. Die jahrzehntelang überaus aktiven Verbände der ehemaligen Untersteirer führen inzwischen eine von der breiten Öffentlichkeit unbeachtete Nischenexistenz. Eine Initiative der 1990er Jahre, Reste der deutschsprachigen „Volksgruppe“ im seit 1991 unabhängigen Slowenien auf-

zuspüren, verlief rasch im Sand.123 Selbst die Tatsache, dass die heutige steirisch-slowenische Grenze noch keine hundert Jahre alt ist, kann mittlerweile nicht mehr als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Der Prozess des Vergessens schreitet schnell voran. Noch hält sich in der Umgangssprache „Marburg“ als Name der Draustadt, auf den Hinweisschildern der steirischen Autobahnen wurde er bereits durch „Maribor“ ersetzt. Eine im Juli 2008 im Grazer Stadtmuseum gezeigte Ausstellung hielt es gar für erforderlich, den Besuchern den Ausdruck „Untersteiermark“ durch den Klammerzusatz „heutiges Slowenien“ zu verdeutlichen. Kurios mutet an, dass das „Dachsteinlied“, die erst 1929 vom Landtag eingeführte steirische Landeshymne, bis zum heutigen Tag unverändert topographische Bezeichnungen aus dem verlorenen Landesteil als der Steirer Land und als ihr liebes teures Heimatland reklamiert. Ob Schulkinder sich beim Lernen des sprachlich und inhaltlich antiquierten Texts etwas unter dem Wendenland am Bett der Sav’ vorzustellen vermögen, darf man bezweifeln.124 Was 1929 als trotziges Lebenszeichen des steirischen Revisionismus gedacht war, erregt heute nicht einmal in Slowenien die Gemüter. Wen wundert es, dass eine im neuen Jahrtausend von der Landesregierung ventilierte Idee, einen Wettbewerb für einen zeitgemäßen Text der Hymne auszuschreiben, rasch wieder in der Versenkung verschwand. So weit wollte man political correctness doch nicht treiben. Anders als in Kärnten, so will es scheinen, birgt die gemeinsame Geschichte keinerlei virulenten steirisch-slowenischen Konf liktstoff, nicht einmal das durch die Grenze von 1919 versinnbildlichte Ende dieser Gemeinsamkeit eignet sich mehr dafür. So erfreulich dies ist, so sollte man sich doch in der Grünen Mark bewusst sein, dass die Erlangung dieser Grenze einen Eckpfeiler der Identität des jungen Staates Slowenien darstellt. Der „Kampf um die Nord-

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

grenze“, schon zu Zeiten Jugoslawiens heroisiert, steht auch heute hoch im Kurs. Nicht zufällig wurde erst 1999 vor dem Marburger Bahnhof eine Reiterstatue Maisters aufgestellt

313

– bereits das zweite Standbild des Generals in einer Stadt, die selbstredend auch einen Maisterplatz, den Trg generala Maistra, ihr Eigen nennt.125

Anmerkungen 1 2

3

4 5 6

7

8

9

10

11 12

13

14

15

16 17

18 19

Hierzu Moll, Historiographie 179–196. Vgl. Moll, German-Slovene Language and State Border 205–227; Suppan, Jugoslawien und Österreich. Etwa Luschin-Ebengreuth, Zerreißung der Steiermark. Analytisch Promitzer, „A bleeding wound“ 107–130. Typisch Straka, Untersteiermark. Vgl. Promitzer, South Slavs 183–215. Vgl. Lechner, Abwehrkämpfe; Knaus, Ringen 70–122; Steinböck, Kämpfe um Radkersburg. Nachweise für den Sprachgebrauch bereits 1919 bei Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 239. Hierzu Moll, Interne Feindbilder 83–101; Überegger, Paradigma 63–122. Zur Vorgeschichte Moll, Volkstumskampf 277–313. Informativ auch zahlreiche Beiträge bei Schober, Vom Leben an der Grenze. Umfassend Moll, Kein Burgfrieden; Čuček/Moll, Duhovniki za rešetkami/Priester hinter Gittern. Lukan, Die slowenische Politik 164. Rumpler, Max Hussarek 79–82 und 87; Pleterski, Slowenen und die Bewegung für eine jugoslawische staatliche Vereinigung 60; Pleterski, Südslawenfrage 126–154. Pisarev, Befreiungsbewegung 188; Hinteregger, Steiermark 1918/19 22; Pleterski, Slowenen und die Bewegung für eine jugoslawische staatliche Vereinigung 59. Lukan, Die slowenische Politik 166–169; Bister, Anton Korošec; Cornwall, Yugoslav Agitation 656–677. StLA, Statth. Präs. A i a Zl. 3475/1916. Korošec an Karl I., 28. 11. 1916. Pisarev, Befreiungsbewegung 188f. Stavbar, Izjave v podporo majniške deklaracije (1992), 357–381, 497–507 und (1993), 99–106; Stavbar, Maribor v letih 1917 in 1918, 292–300. Lukan, Die slowenische Politik 174. Zu den Vorwürfen, die Bezirksvertretung Pettau habe beim Sammeln von Unterschriften einzelne Gemeindevorsteher erpresst, vgl. Stenographische

20 21

22 23 24

25

26

Protokolle des Österreichischen Reichsrates, Anhang 1917/18, XXII. Session, Bd. 1, Anfragebeantwortung Nr. 460. Zu den Vorwürfen, ein Briefträger sei wegen Sammelns von Unterschriften für die Deklaration vom Bezirksgericht Pettau schikaniert worden, ebd. Nr. 485. Pleterski, Trialismus bei den Slowenen 199. Hinteregger, Steiermark 1918/19 22; Pertassek, Pettau 76f. Lukan, Die slowenische Politik 175–177, Zitat 177. Lukan, Die slowenische Politik 177f. Anfrage der Abgeordneten Marckhl und Genossen an den Ministerpräsidenten und den Landesverteidigungsminister betreffend das slawisierende Vorgehen staatlicher Behörden und Anstalten in Steiermark und Krain, 20. 11. 1917. Stenographische Protokolle des Österreichischen Reichsrates, Anhang 1917/18, XXII. Session, Bd. 4, 3831f. Anfrage der Abgeordneten Nagele, Marckhl, Dobernig, Dr. Waldner, Graf Barbo, Dr. Hofmann von Wellenhof, Einspinner, Lutschounig und Genossen an den ­M inisterpräsidenten betreffend die Agitation für die südslawische Deklaration vom 30. 5. 1917, 13. 3. 1918. Stenographische Protokolle des Österreichischen Reichsrates, Anhang 1917/18, XXII. Session, Bd. 6, 6884f. Stenographische Protokolle des Österreichischen Reichsrates, Anhang 1917/18, XXII. Session, Bd. 3, 2627. Anfrage der Abgeordneten Dr. Verstovšek und Genossen an die Gesamtregierung betreffend das Vorgehen der behördlichen Organe gegenüber der slowenischen Bevölkerung Steiermarks und die Amtierung derselben im slowenischen Teile des Landes, 27. 6. 1917. Stenographische Protokolle des Österreichischen Reichsrates, Anhang 1917/18, XXII. Session, Bd. 1, 984f. Anfrage der Abgeordneten Dr. Verstovšek und Genossen an den Innenminister betreffend die Nichterledigung wichtiger Akten durch die k. k. Statthalterei in Graz und die politischen Behörden der Steiermark, 4. 7. 1917. Ebd., Bd. 2, 1468. Hieraus das Zitat. Anfrage der Abgeordneten

314

27

28

29

30

31

32 33

34 35

36

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

Dr. Verstovšek, Brenčič und Genossen an den Innenminister betreffend die Nichterledigung wichtiger, mehrere Jahre anhängiger Akten durch die politischen Behörden Steiermarks, 26. 10. 1917. Ebd., Bd. 3, 3267. Anfrage der Abgeordneten Dr. Benkovič und Genossen an den Landesverteidigungsminister, 11. 10. 1917. Ebd., 2821. Anfrage der Abgeordneten Dr. Ravnihar und Genossen an den Landesverteidigungsminister betreffend das Vorgehen des k. u. k. Oberleutnants August Stoinschegg, Bürgermeisters in Rohitsch-Sauerbrunn/Ragaška Slatina, 13. 11. 1917. Ebd., Bd. 4, 3601f. Anfrage der Abgeordneten Dr. Verstovšek und Genossen an den Innenminister wegen des unerhörten Vorgehens der öffentlichen, von den politischen Behörden bestellten Funktionäre gegenüber der slowenischen Bevölkerung des Landes Steiermark, 5. 12. 1917. Ebd., 4463f. StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 2991/1917. BH Marburg an Statthalterei-Präsidium Graz, 29. 12. 1917. Ebd. BH Marburg an Statthalterei-Präsidium Graz, 22. 4. 1918. StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 1771/1917. BH Gonobitz an Statthalterei-Präsidium Graz, 3. 9. 1917. Ebd. BH Cilli an Statthalterei-Präsidium Graz, 3. 9. 1917. StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 1949/1917. BH Cilli an Statthalterei-Präsidium Graz, 27. 8. 1917. Ebd. BH Gonobitz an Statthalterei-Präsidium Graz, 4. 9. 1917. Ebd. BH Pettau an Statthalterei-Präsidium Graz, 2. 9. 1917. Ebd. BH Rann/Brežice an Statthalterei-Präsidium Graz, 3. 9. 1917. StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 1771/1917. BH Cilli an Statthalterei-Präsidium Graz, 3. 9. 1917. Anfrage der Abgeordneten Wolf, Pacher und Genossen an den Ministerpräsidenten wegen des Verbotes mehrerer Versammlungen in Südsteiermark, 18. 7. 1918. Stenographische Protokolle des Österreichischen Reichsrates, Anhang 1917/18, XXII. Session, Bd. 6, 7434. Lukan, Die slowenische Politik 161. Hierzu Lukan, Die slowenische Politik 178 sowie Rumpler, Max Hussarek 82–86; Pleterski, Slowenen und die Bewegung für eine jugoslawische staatliche Vereinigung 60; Prunk, Die slowenisch-kroatischen Beziehungen 305–326. Hinteregger, Steiermark 1918/19 110–114. Vgl. die Berichte der politischen Behörden in der Untersteiermark in StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 1566/1918. StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 736/1918. Bericht Rittmeister v. Ulrich, 13. 3. 1918. StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 224/1918. Statthalterei Graz an Innenministerium, 7. 2. 1918.

37

38 39

40 41

42 43

44 45

46

47

48 49

50

51

52

53

54

StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 1867/1917. BH Cilli an Innenministerium, 2. 6. 1918. Lukan, Die slowenische Politik 181f. Flooh, Manfred Graf Clary-Aldringen 53f. Kritik an Schikanen gegen Slowenen, die für die Deklaration agitiert hatten, in der Anfrage der Abgeordneten Dr. Benkovič und Genossen an den Landesverteidigungsminister betreffend die politischen Verfolgungen der Angestellten der Trifailer Kohlenbergbaugesellschaft, 22. 10. 1918. Stenographische Protokolle des Österreichischen Reichsrates, Anhang 1917/18, XXII. Session, Bd. 7, 8720. Hinteregger, Steiermark 1918/19 59–65. StLA, Statth. Präs. E 91 Zl. 673/1918. BH Marburg an Statthalterei Graz, 15. 7. 1918. Ebd. Stadtrat Marburg an Statthalterei Graz, 28. 9. 1918. Ebd. BH Marburg an Statthalterei Graz, 30. 9. 1918. Hinteregger, Graz 216f. LGVBl. Nr. 65/1918. Vgl. Hinteregger, Graz 226f.; Hinteregger, Steiermark 1918/19 100f.; Moser, Landtag 15ff. Hinteregger, Steiermark 1918/19 102. Zum Aufgreifen dieses taktischen Fehlers durch die slowenische Seite vgl. Suppan, Prinzip 112–179. Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich. Stenographisches Protokoll zur 3. Sitzung, 12. November 1918. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente I, 133. Staatsrat, Verhandlungsschrift und Beschlußprotokoll zur 41. Sitzung, 21. November 1918. Ebd., 165–170 (hier 168). StGBl. Nr. 40/1918, § 1. Staatserklärung über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich, 22. 11. 1918. StGBl. Nr. 41/1918. Pisarev, Befreiungsbewegung 191; Prunk, Die slowenisch-kroatischen Beziehungen 324f. Zusammenfassend Prunk, Gründung des jugoslawischen Staates 1918, 27–42. StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 2947/1918. BH Gonobitz an Statthalterei Graz, 26. 10. 1918. StLA, Zeitgeschichtliche Sammlung (ZGS), Karton 58. Deutscher Volksverein für Radkersburg an Bürgermeister Graz, 25. 10. 1918. Deutschösterreichisch-südslawisches Übereinkommen zur Regelung verkehrs- und wirtschafts­ politischer Fragen, 7. 11. 1918. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente I, 102–106. Vgl. ein weiteres Abkommen vom 12. 12. 1918. Ebd., 283– 287. Zitzenbacher, Landeschronik Steiermark 296–298; Pertassek, Pettau 76–78; Pleterski, Slowenen und die Bewegung für eine jugoslawische staatliche Ver-

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66 67

68 69

70 71

72

73 74

75

76

einigung 60f.; Karner, Abtrennung der Untersteiermark 267–273. Vgl. Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg; Steinböck, Kämpfe um Radkersburg 14f. Abkommen vom 13. 2. 1919. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente I, 440–445. Vgl. den Schriftverkehr in StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 3346/1918 (Dezember 1918). Als Beispiel Steiermärkischer Landesausschuß an Staatsamt für Äußeres, 5. 12. 1918. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente I, 266. Staatssekretär für Äußeres Bauer an slowenische Nationalregierung (Laibach) und kroatische Nationalregierung (Agram), 2. 1. 1919. Ebd., 345f. StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 949/1919. Landesregierung an Polizeidirektion Graz (Konzept), 24. 3. 1919. StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 3365/1918 (Dezember 1918–März 1919). Telegramm Staatssekretär für Äußeres Bauer an Präsident Pogačnik (Laibach), 22. 1. 1919. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente I, 402. Beispielsweise StLA, Statth. Präs. A 3 a Zl. 1245/1919. Deutsch-Österreichisches Staatsamt für Inneres an Landesregierungen, 12. 4. 1919. StLA, Statth. Präs. A 3 a Zl. 179/1919. Zastopništvo Jugoslovanev na Nemškem Štajerskem an Landesregierung, 8. 1. und 19. 2. 1919. StGBl. Nr. 3/1919. StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 181/1919 ( Jänner 1919). Hierzu Brix, Zur untersteirischen Frage 119–132. Beer/Staudinger, Grenzziehung 133–152. Vgl. Beer, Sherman Miles 309–317. Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 223. Brief Miles’ vom 18. 1. 1919 aus Graz. Beer/Staudinger, Grenzziehung 137f., Zitat 137. Beer/Staudinger, Grenzziehung 135. Miles an Coolidge, 29. 1. 1919. Beer/Staudinger, Grenzziehung 142–145. Coolidge an Miles, 1. 2. 1919. Beer/Staudinger, Grenzziehung 146. Beer/Staudinger, Grenzziehung 135. Steinböck, Kämpfe um Radkersburg 14–16. Zur Biographie Mikls Steinböck, Kämpfe um Radkersburg 43f. 1922 erfolgte eine Namensänderung in „Mickl“. Details bei Steinböck, Kämpfe um Radkersburg 16–21. Bericht über die Gründung und das Wirken des Untersteirischen Bauernkommandos von Dr. Willibald Brodmann, o. D. (vor April 1922). Abdruck bei Schober/Staudinger, Willibald Brodmann 153. Dort auch Details zur Biographie Brodmanns.

77 78 79

80

81

82

83

84 85

86

87 88

89 90

91

92

93 94

95

96

315

Schober/Staudinger, Willibald Brodmann 137. Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 231f. Steinböck, Kämpfe um Radkersburg 28f.; Schober/Staudinger, Willibald Brodmann 141. Miles an Coolidge, 22. 1. 1919. Beer/Staudinger, Grenzziehung 140; Brücke und Bollwerk 20 II/64. Unterstaatssekretär für Heerwesen Deutsch an Staatssekretär für Äußeres Bauer, 10. 2. 1919. Koch/ Rauscher, Außenpolitische Dokumente I, 437. Zu den militärischen Stärkeverhältnissen Steinböck, Kämpfe um Radkersburg 7–11 sowie 48–50. Staatssekretär für Äußeres Bauer an slowenische Nationalregierung (Laibach) und kroatische Nationalregierung (Agram), 4. 2. 1919. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente I, 428. Instruktion Staatsamt für Äußeres für die Delega­ tion zum Pariser Friedenskongreß, Mai 1919. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente II, 163. Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 241, 243. Hierzu Kurahs, Franz Kamniker in St. Germain, 112–122; Kurahs, „Herr Kanzler …“ 41–55. Deutschösterreichische Friedensdelegation an Staatsamt für Äußeres, 28. 6. 1919. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente II, 331. Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 238f. Exemplarisch Pirchegger, Südgrenze Steiermarks und Kärntens; Pirchegger, Die slowenischen Ansprüche; Pirchegger, Das steirische Draugebiet. Kamniker, Das deutsche Murtal. StLA, ZGS, Karton 187. Ankündigung des Lichtbildervortrags Pircheggers für den 12. 5. 1919, veranstaltet vom Deutschen Volksrat. Exemplarisch StLA, ZGS, Karton 58. Gedenkschrift Deutsches Leid in Radkersburg (Sommer 1920). Einige Jahre davor hatte Rudolf Hans Bartsch mit seinem Roman Das deutsche Leid das Motto vorgegeben. Wiederum exemplarisch Pirchegger, Volkstum der untersteirischen Städte und Märkte; Pirchegger, Der deutsche Bevölkerungsanteil. Auffallend knapp und neutral hingegen Pirchegger, Geschichte der Steiermark 289f. Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 230 und 236f. Grazer Tagblatt (3. 6. 1919), 1. StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 1636/1919. (Konzept) Telegramm Steiermärkischer Landesrat an Staatsamt für Äußeres, 3. 6. 1919. Vgl. Altgeld, Jugoslawien und Österreich 125–149. Für das Grenzthema unergiebig Weber, Militär­ delegation 91–102. Einige dieser Gutachten, z.B. vom Akademischen Senat der Universität Graz, von Arnold LuschinEbengreuth, Richard Pfaundler und Robert Sieger

316

Moll / Die „blutende Wunde“ im Süden: Eine neue Grenze entsteht

sind zitiert bei Obersteiner, Teilung der Steiermark, 41. 97 Details bei Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 242–246. 98 Abweichender Ansicht Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 247f. 99 Kurahs, Franz Kamniker in St. Germain; Kurahs, „Herr Kanzler …“. Ihm folgend Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 133. 100 Denkschrift Konsul Hoffinger, 20. 3. 1919. Koch/ Rauscher, Außenpolitische Dokumente II, 56–63 (hier 57f.). 101 Vgl. Staudinger, Von der Mehrheit zur Minderheit 96–110; Staudinger, „Grenzen–Grenzziehungen“ 9–18. 102 Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 239: „Die amerikanische, britische und französische Delegation stellten fest, daß der Bezirk Marburg von einer Einwohnerschaft bewohnt sei, in der das ländliche slowenische Element die Oberhand besitze.“ 103 Vgl. das bei Beer/Staudinger, Grenzziehung 138 edierte Schreiben Coolidges (mehrmals „Gratz“). 104 Miles u. a. an Coolidge, 12. 2. 1919. Beer/Staudinger, Grenzziehung 147f., Zitat 147. 105 Miles an Coolidge, 22. 1. 1919. Beer/Staudinger, Grenzziehung 139–141 (hier 139). 106 Judson, Guardians of the Nation. 107 Miles an Coolidge, 22. 1. 1919. Beer/Staudinger, Grenzziehung 139–141 (hier 139). 108 Vgl. Dienes, „Südbahn“ 153–170; Karner, Abtrennung der Untersteiermark passim. 109 Reimann, Deutsch-Untersteirer als Minderheit. 110 Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 229.

StLA, Statth. Präs. A 5 b Zl. 3187/1918. Steiermärkische Landesregierung an Staatsrat der deutschösterreichischen Republik (Konzept, gezeichnet Kaan), 3. 12. 1918. 112 Konsul Hoffinger an Staatsamt für Äußeres, 25. 1. 1919. Koch/Rauscher, Außenpolitische Dokumente I, 414–418, Zitate 415. 113 Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 222. 114 Selbst der Sozialdemokrat Hinteregger, jeder nationalistischen Neigung abhold, schrieb noch 1975 über die „wankelmütige und versöhnliche Haltung der steirischen Landesregierung sowie deren mangelnde Entschlußkraft“. Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 221. 115 Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 238. 116 Details bei Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 236–238. 117 Hinteregger, Abwehrmaßnahmen 233–235. 118 Schober/Staudinger, Willibald Brodmann 139f. 119 Steinböck, Kämpfe um Radkersburg 31. 120 Steinböck, Kämpfe um Radkersburg 51, verzeichnet 16 Gefallene plus 11 beim „Bluttag“ getötete Zivilisten. 121 Straka, Untersteiermark. 122 Wiedner, Abwehrkämpfe 55–57; Müller, Ehrenmedaille der Stadt Radkersburg 21–27. Zur unveränderten Präsenz der Erinnerungsmedaillen auf der Webpage des Landes Steiermark vgl. URL: www. verwaltung.steiermark.at/cms/ziel/74834989/DE/ (8. 5. 2014). 123 Vgl. Karner, Die deutschsprachige Volksgruppe. 124 Vgl. hierzu Desput, Jakob Dirnböck 151–154. 125 Vgl. hierzu Grdina, Symbole 777–791. 111

Reinhard Reimann

Nachbarschaft wider Willen Die Beziehungen des Bundeslandes Steiermark zu Jugoslawien 1918 bis 1938*

Im Jahre 1921 veröffentlichte der Grazer Rechtshistoriker Arnold Luschin-Ebengreuth, Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ehemaliges Mitglied des Herrenhauses im österreichischen Reichsrat, zwei Denkschriften mit dem Titel „Die Zerreißung der Steiermark“. Darin äußerte er die Auffassung, dass die nach dem Ersten Weltkrieg durch das frühere Kronland Steiermark gezogene Staatsgrenze den Lebensinteressen der Bewohner zu beiden Seiten der Grenze zuwiderlaufe.1 Wenn Luschins Schrift auch vor allem dazu diente nachzuweisen, dass die durch den Vertrag von Saint-Germain zwischen der Republik Österreich und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (slowen. Kraljevina Srbov, Hrvatov in Slovencev, kurz Kraljevina SHS bzw. Königreich SHS) – ab 1929 hieß der Staat offiziell Kraljevina Jugoslavija (Königreich Jugoslawien) – bestimmte Grenze zu weit im Norden liege, drückte sie doch die Hoffnung vieler Zeitgenossen aus, dass die beiden Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie zu einem modus vivendi gelangen würden, um ihre Grenzgebiete nicht verkümmern zu lassen. Nicht freundschaftliches Empfinden zum neuen Nachbarn war es, sondern dringende wirtschaftliche Notwendigkeit, die (Deutsch-)Österreich und den SHS-Staat bereits seit Anfang November 1918 nach Wegen der Zusammenarbeit suchen ließen; das Land Steiermark war davon durch

seine Lage an der neuen Grenze unmittelbar betroffen. Bis Ende November 1921 lag die Steiermark auch an der Staatsgrenze mit Ungarn, ehe Deutsch-Westungarn als Bundesland Burgenland Teil der Republik Österreich wurde. In die Burgenland-Frage war mitunter auch die Steiermark verwickelt: Es gab Bestrebungen, das südliche Deutsch-Westungarn der Steiermark einzugliedern,2 und die gewaltsamen Auseinandersetzungen um die staatliche Zugehörigkeit Westungarns griffen einige Male auf die Steiermark über, andererseits pf legten steirische Politiker und Heimwehrkommandanten bisweilen enge Verbindungen zum östlichen Nachbarstaat.3 Konfrontation und Kooperation zwischen steirischen und südslawischen Stellen abseits der Auseinandersetzungen um die Grenzziehung 1918/19 sind Gegenstand der folgenden Darstellung. Die österreichischen Länder hatten in der Zwischenkriegszeit nur bescheidene Möglichkeiten, ihre außenpolitischen Beziehungen selbst zu gestalten. Das von der Nationalversammlung am 14. März 1919 beschlossene „Gesetz über die Volksvertretung“ (StGBl. 179/1919) bestimmte, dass alle Gegenstände, die bisher der Landesgesetzgebung zustanden, von den Landesversammlungen wahrgenommen werden. Nicht gelöst wurde allerdings das Problem, was unter „bisherige Landesgesetzgebung“ zu verstehen war, denn nirgends wurde festgelegt, ob

318

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

sich dieser Ausdruck auf das „Grundgesetz über die Reichsvertretung“ vom 21. Dezember 1867 (RGBl. 141/1867) oder auf das von der Provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs am 14. November 1918 verabschiedete „Gesetz über die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern“ (StGBl. 24/1918) bezog.4 Die Art und Weise des Überganges von der Monarchie zur Republik in Deutschösterreich ließ den Ländern jedenfalls für einige Wochen wesentlich mehr Spielraum, als diesen durch die Kompetenzaufteilung zwischen dem Gesamtstaat und seinen Provinzen im alten Österreich, welches als dezentralisierter Einheitsstaat charakterisiert werden kann, zugekommen wäre. Die Steiermark bildete hierin keine Ausnahme: Ende Oktober 1918 hatte ein Wohlfahrtsausschuss die faktische politische Macht im Land übernommen und sie Anfang November – in Übereinstimmung mit den Zentralstellen des im Entstehen begriffenen Staates Deutschösterreich – einer provisorischen Landesversammlung bzw. einer Landesregierung übertragen.5 Erst das am 1. Oktober 1920 beschlossene „Bundesverfassungsgesetz“ (B-VG), welches Österreich als zentralisierten Bundesstaat einrichtete, schuf Klarheit, indem es die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern festschrieb. Es bestimmte eine Reihe von Staatsaufgaben, die in Gesetzgebung Bundessache, in der Vollziehung jedoch Landessache waren (beispielsweise Staatsbürgerschafts- und Fremdenpolizeirecht). Gemäß Art. 10, Abs. 1 des B-VG 1920 (und auch in seiner Fassung von 1929) fielen (und fallen) „äußere Angelegenheiten mit Einschluß der politischen und wirtschaftlichen Vertretung gegenüber dem Ausland, insbesondere der Abschluß von Staatsverträgen, in Gesetzgebung und Vollziehung in die Zuständigkeit des Bundes“. Art. 17 B-VG gewährt den Ländern – wie auch dem Bund – uneingeschränkte Zuständigkeit als Träger von Privatrechten; die regionalen Außenbeziehungen der

österreichischen Bundesländer in der Zwischenkriegszeit fußten auf dieser Verfassungsbestimmung und hatten den Charakter privatwirtschaftlicher Verträge. Erst im Zuge der anlaufenden Verhandlungen um einen Beitritt Österreichs zu den Europäischen Gemeinschaften (EG), als die Länder ihre zu erwartenden Kompetenzverluste zu kompensieren trachteten, erhielten die Bundesländer mit einer Verfassungsnovelle des Jahres 1988 das Recht, dass sie „in Angelegenheiten, die in ihren selbständigen Wirkungsbereich fallen, Staatsverträge mit an Österreich angrenzenden Staaten oder deren Teilstaaten abschließen“ (Neufassung des Art. 16, Abs. 1 B-VG, BGBl. 685/1988), wobei dem Bund allerdings nach wie vor umfangreiche Kontrollrechte zukommen.6 Die ständisch-autoritäre Verfassung des Jahres 1934 nannte Österreich einen „Bundesstaat“, „in der Tat scheint diese Bezeichnung jedoch völlig an der Realität vorbeigegangen zu sein“7. Der Fortbestand der Einteilung des Staates in Länder, die Aufteilung der Gesetzgebung auf den Bund und die Länder und die Repräsentation dieser Länder auf Bundesebene im Länderrat waren durchaus bundesstaatliche Merkmale. Auf der anderen Seite ließen die völlige Abhängigkeit der Landesgesetzgebung vom Bundeskanzler – dieser konnte jedes Landesgesetz auf heben – sowie die weitgehenden Ernennungs- und Bestätigungsrechte für eine eigenständige Landespolitik in Gesetzgebung und Vollziehung so gut wie keinen Raum. Eine eigene Verfassungshoheit der Gliedstaaten innerhalb des Bundesstaates, die sich nicht aus der des Oberstaates ableitet, war mit dem autoritären Prinzip auch kaum vereinbar, die Länder fungierten daher nur mehr als „Verwaltungsapparate“. „Als Rechtfertigung für die Zentralisierungsmaßnahmen der Bundesregierung muß aber wohl der Kampf gegen den Nationalsozialismus in Betracht gezogen werden. Vor allem im Bereich des Sicherheitswesens – wie über-

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

haupt in der Beamtenschaft – schien der Gefahr der Unterwanderung durch Nationalsozialisten nur durch ‚regierungstreue‘, weisungsgebunde-

319

ne Bundesbeamte Einhalt geboten werden zu können.“8

Wirtschaftliche Abschottung und Zusammenarbeit in den ersten Nachkriegsjahren Nach der Ausrufung des Staates der Slowenen, Kroaten und Serben (slowen. Država Slovencev, Hrvatov in Srbov, kurz Država SHS bzw. SHSStaat) in Agram/Zagreb bzw. Laibach/Ljubljana am 29. Oktober 1918 und der Proklamation des Staates Deutschösterreich in Wien am darauf folgenden Tag war es ein Gebot der Stunde, die Verbindungen zwischen diesen beiden neuen Staatsgebilden trotz des politischen Auseinanderlebens nicht völlig einzustellen. Daran hatte auch die Steiermark größtes Interesse. Zum einen lag das Land an der von Triest/Trieste über Laibach, Marburg/Maribor und Graz nach Wien führenden Südbahn, über welche ein Großteil des österreichisch-ungarischen Heeres nach dem am 3. November 1918 geschlossenen Waffenstillstand in die Heimat geführt wurde. Zum anderen waren die Mittel- und Obersteiermark, welche vor Kriegsende vornehmlich aus den Ländern der böhmischen Krone, Galizien und Ungarn mit Nahrungsmitteln versorgt worden waren, jetzt von der Lebensmitteleinfuhr aus der nunmehr vom SHS-Staat beherrschten Untersteiermark und von dessen Bereitschaft, alliierte Lieferungen von Triest über die Südbahn nach Graz zuzulassen, abhängig. Bereits am 7. November 1918 kam es daher bei der Steiermärkischen Landesregierung „unter Ausschluß aller nationalen Fragen“ zu wirtschaftlichen und verkehrstechnischen Vereinbarungen zwischen Vertretern des deutschösterreichischen Staates und der Nationalregierung SHS in Laibach (Narodna vlada SHS v Ljubljani). Der Verkehr auf der Südbahn sollte mit

durchgehenden Zügen aufrechterhalten werden, für die Verpf legung der Eisenbahner musste die Laibacher Nationalregierung auf den Streckenabschnitten südlich von Spielfeld (einschließlich dieses Ortes) sorgen, die deutschösterreichische Seite auf den Strecken nördlich davon. Lebensmittel, die von Deutschösterreich nach Jugoslawien oder umgekehrt gesendet wurden, waren von einer Beschlagnahme ausdrücklich ausgeschlossen, die südslawische Seite sicherte ferner zu, aus ihren Kohlenrevieren wie bisher Betriebskohle für die Südbahn zur Verfügung zu stellen. Lebensmittel aller Art, lebendes und totes Vieh, tierische Produkte, Brennstoffe, Papier, Zündhölzer und Lederprodukte wurden als bahnverkehrsfrei erklärt. Die volle Verkehrsfreiheit auf Straßen, Wasserstraßen sowie im Post-, Telegrafen- und Telefonverkehr wurde gegenseitig gewährleistet und insbesondere der Schutz des Briefgeheimnisses anerkannt. Im Rechtsverkehr wurde unbeschränkte Rechtshilfe in Zivil-, Vollstreckungs- und Strafrechtsverfahren vereinbart; die Zuständigkeit der Strafgerichte sollte ohne Rücksicht auf die beiderseitigen Staatsgebiete wie bisher aufrecht bleiben, das heißt, das Marburger Kreisgericht unterstand weiterhin dem Landesgericht und Oberlandesgericht in Graz. Ebenso sollten bis zum Friedensschluss sämtliche altösterreichischen Gesetze in Kraft bleiben, gegenseitiger voller Schutz des Eigentums und der Person wurde gewährleistet. Die Rechtsverhältnisse der Spar- und Vorschusskassen sowie deren Vermögen sollten bis zum Friedensschluss voll-

320

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

kommen unberührt bleiben. In jenen Bezirkshauptmannschaften, die seit 1. November unter slowenischer Leitung standen, waren die Gendarmerieposten der Laibacher Regierung unterstellt; das bedeutete, dass die Narodna vlada mit deutschösterreichischer Zustimmung die volle polizeiliche Gewalt über die gesamte Untersteiermark mit Ausnahme der drei autonomen Städte Marburg, Pettau/Ptuj und Cilli/Celje – in letzterer kontrollierte allerdings bereits eine slowenische Stadtverwaltung die Polizei – übernahm. Der Austausch von Gesandten zwischen beiden Staaten wurde vereinbart; die Entscheidung über die Grenzen blieb ausdrücklich dem Friedenskongress vorbehalten. Die Verlautbarung der Vereinbarung erfolgte in den Amtsblättern in Laibach, Agram und Wien; der Vertrag sollte, vorbehaltlich der Ratifizierung durch die vertragschließenden Regierungen, sofort in Kraft treten (erfolgte keine Ratifizierung, galt der Vertrag mit 15. November als geschlossen). Die Bestimmungen galten als unbefristet, konnten jedoch mit vierzehntägiger Frist gekündigt werden. Das Präsidium des Agramer Nationalrates (Narodno vijeće) stimmte der Ratifizierung des Vertrages, welche der Laibacher Nationalregierung überlassen wurde, allerdings erst nach der Streichung einiger Punkte zu – unter anderem wurde die weitere Gültigkeit der österreichischen Gesetze abgelehnt und die übernommene Verpf lichtung zu Kohlenlieferungen zurückgewiesen.9 Trotz der Vereinbarungen über den freien Güterverkehr kam es südslawischerseits hin und wieder zu Beschlagnahmungen von Waren, die für Deutschösterreich bestimmt waren. Ende November 1918 beispielsweise wurden in Kroatien gekaufte Lebensmittel erst durch die Intervention des deutschösterreichischen Staatssekretärs für Äußeres, Otto Bauer, beim SHSBevollmächtigten in Wien weitergeleitet, und das erst, nachdem Bauer gedroht hatte, die slowenischen Kriegsf lüchtlinge aus der staatlichen

Fürsorge auszuscheiden. Mit 9. Dezember kam es in Laibach zu neuerlichen Verhandlungen zwischen Jugoslawien und einer deutschösterreichischen Delegation, in der auch Vertreter der Steiermark und Kärntens mitwirkten. Die Südslawen sicherten nun Kohlenlieferungen zu und übernahmen die Belieferung der Südbahnheizhäuser von Marburg bis Mürzzuschlag mit Kohle aus Trifail/Trbovlje. Dafür wurde ihnen der freie Warentransport aus der Tschechoslowakei nach Jugoslawien über deutschösterreichisches Gebiet gewährt.10 Die Lieferungen aus dem SHS-Staat reichten nicht aus, die katastrophale Ernährungslage in der Steiermark wesentlich zu bessern, im Gegenteil, Ende 1918 waren die Lebensmittelvorräte im Land zu Ende. Auch die Wiener Zentralstellen konnten die Situation nicht wesentlich verbessern, entscheidende Hilfe konnte daher nur von den Alliierten kommen. Auch das Land Steiermark schickte Hilferufe ins Ausland. Bereits am 6. November 1918 sandten die Wirtschaftskommissäre Viktor Wutte und Arnold Eisler eine Depesche nach Paris, eine Woche später wandte sich Wutte an den Gouverneur Julisch-Venetiens in Triest, Carlo Petitti di Roreto. Die Alliierten selbst hatten aber nicht nur humanitäre Motive, sondern sie trachteten, die Politik der von ihren Lebensmittellieferungen abhängigen Staaten zu beeinf lussen, insbesondere die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern. Sie unterstützten daher gemäßigte Regierungen; freilich wollten sie auch den Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich verhindern. Vor allem Italien war – da es an der adriatischen Ostküste mit dem SHS-Staat einen neuen Rivalen erhalten hatte, der auch in Konfrontation zu seinen nördlichen Nachbarn stand – an einer engen Kooperation mit Deutschösterreich interessiert. Der Steiermark und vor allem Graz kam dabei eine Schlüsselrolle zu: Das Land lag an einer der wichtigsten Bahnverbindungen von Oberitalien in den Donauraum

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

321

Das Kraftwerk Faal westlich von Marburg, 1918 wichtigster steirischer Stromlieferant Aus: Pickl, 800 Jahre Steiermark

und es grenzte unmittelbar an Jugoslawien. Gerade vom Anschluss an das Deutsche Reich erhoffte man sich aber nicht nur in der Steiermark, sondern in ganz Deutschösterreich nicht nur eine Lösung des Ernährungsproblems, sondern auch ein Ende der Abhängigkeit von den Entente-Mächten, welche trotz der Auf hebung der im Krieg eingeführten Blockade Anfang April 1919 die völlige wirtschaftliche Abhängigkeit Deutschösterreichs für ihre politischen Ziele nutzten. Die alliierten Lebensmitteltransporte liefen erst langsam an, bestritten aber im Frühjahr 1919 einen wesentlichen Teil der Versorgung der Steiermark; um die politische Lage im Land zu stabilisieren und den EntenteMächten die verzweifelte Lage der Bevölkerung unmittelbar vor Augen zu führen, setzte sich die Landesregierung sogar für die Stationierung alliierter Truppen in Graz ein.11 Die sogenannten Kompensationsverträge waren ein erster Ausweg aus der Versorgungskrise. Da Geldleistungen eine Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse nicht sicherstellen konnten, beruhten sie auf dem Tauschhandel,

der – im wörtlichen Sinn! – Zug um Zug über Warenverkehrsbüros abgewickelt wurde. Das deutschösterreichische Warenverkehrsbüro schloss am 22. März 1919 in Wien mit der jugoslawischen Zentralverwaltung für Handelsverkehr (Centralna uprava za trgovački promet) einen derartigen Kompensationsvertrag: Das Königreich SHS verpf lichtete sich zur Lieferung von Nahrungsmitteln und Rohstoffen, Deutschösterreich stellte industrielle Halbfertig- und Fertigprodukte zur Verfügung. Im Lauf der Jahre 1919 und 1920 wurde zwischen den beiden Staaten eine Reihe ähnlicher WarenaustauschÜbereinkommen geschlossen, die dem Vertrag vom 22. März 1919 nachempfunden waren.12 Nach zähen Verhandlungen konnte am 27. Juni 1920 in Belgrad/Beograd zwischen Jugoslawien und Österreich ein umfassendes Abkommen über die provisorische Regelung der beiderseitigen Handelsbeziehungen geschlossen werden.13 Die durch den Vertrag von Saint-Germain am 10. September 1919 bestimmte Grenzziehung zwischen der Republik Österreich und dem Königreich SHS bedeutete in der Steier-

322

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

mark das definitive Ende integraler Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem deutschen und dem slowenischen Landesteil. Die größten Herausforderungen, vor die sich das Land Steiermark gestellt sah, bestanden neben der Sicherstellung der Nahrungsmittelversorgung in der Beschaffung ausreichender Energiequellen und im Aufrechterhalten überregionaler Verkehrsverbindungen. Das von der Steiermärkischen Elektrizitäts-Gesellschaft (STEG) vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte und während des Kriegs weitergeführte Konzept sah vor, dass zwei Kraftwerke an der Drau den Großteil des in der Steiermark benötigten Stromes erzeugen. Zum einen war es das am 6. Mai 1918 eröffnete Kraftwerk Faal/Fala, das erste Großkraftwerk des Landes. Die Energieleistung aus Faal hätte ergänzt werden sollen durch ein geplantes Kraftwerk auf der oberhalb von Marburg gelegenen Felberinsel/Mariborski otok, womit die Stromversorgung großer Gebiete der Steiermark (die Untersteiermark eingeschlossen) bis in die Wiener Gegend zumindest mittelfristig sichergestellt worden wäre. In einer vom Direktor der Steirischen Wasserkraft- und Elektrizitäts-AG (STEWEAG), Richard Hof bauer, im Jahre 1923 vorgenommenen Analyse wäre es ohne den Verlust der Untersteiermark und bei Ausführung des Kraftwerksbaus auf der Felberinsel „ein leichtes gewesen, diesen Bedarf voll zu decken“.14 Mit Jahresbeginn 1919 wurde das Kraftwerk Faal aus dem Besitz der STEG herausgelöst und ihr bis zu einer endgültigen Regelung zur treuhändischen Verwaltung übertragen; eine Sequestration durch den jugoslawischen Staat konnte mit Hinweis auf den Schweizer Kapitalanteil verhindert werden. Die STEG trachtete, über Gründung einer eigenen Gesellschaft für Faal die letzten Arbeiten am Kraftwerk fertig zu stellen und an seinen Energieleistungen teilzuhaben. Diese Bestrebungen erwiesen sich schließlich als fruchtlos. Nach dem Abschluss des Vertrages von Saint-Germain,

welcher den endgültigen Verlust des steirischen Drautales für Österreich bedeutete, gründete der jugoslawische Staat 1922 eine eigene Elektrizitätsgesellschaft, die Elektrarna Fala d. d., deren Hauptaktionäre zunächst drei slowenische Banken und eine Schweizer Bankengruppe waren. Allerdings bestimmte das jugoslawische Handels- und Industrieministerium am 21. April 1923, dass die jugoslawische Gruppe 50 Prozent der Aktien erhalten müsse und das Königreich SHS innerhalb von fünf Jahren 25 Prozent des Aktienkapitals käuf lich erwerben könne. Die STEG schied damit 1922 auch als Treuhänder des Kraftwerkes Faal aus. Ihr Schuldenstand bei der Schweizer Bankengruppe wurde zur Gänze auf die Elektrarna Fala übertragen, die ihrerseits eine Tochtergruppe der Schweizer Bankengruppe geworden war.15 Der Verlust des Kraftwerkes Faal zwang das Land Steiermark also zu einer Neuorientierung in der Elektrizitätswirtschaft, die auf zwei Arten verwirklicht wurde: einerseits durch den Ausbau der Wasserkräfte und Kohlengruben in der Mittelsteiermark, andererseits durch Abkommen mit Jugoslawien. Ebenso schmerzhaft wie der Strommangel wurde der Notstand an Kohle empfunden, welcher durch den Verlust der untersteirischen Kohlengruben von HrastniggTrifail/Hrastnik-Trbovlje und Schönstein/ Šoštanj bedingt war. Die steirische Landwirtschaft musste zudem das Fehlen von Düngemitteln verschmerzen, und das trotz einer Großinvestition der Kriegsjahre: In Maria Rast/ Ruše westlich von Marburg war, zur Behebung des durch die alliierten Blockademaßnahmen verursachten Mangels an ausländischem Kunstdünger (vor allem an Chile-Salpeter), von den Österreichischen Stickstoffwerken 1916 ein Betrieb eröffnet worden, welcher aus dem Stickstoff der Luft Düngemittel herstellte. Auch dieses Werk war nun dem Zugriff der Steiermark entzogen.16

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

323

Grenzüberschreitende Verkehrswege Besondere Beachtung wurde den durch die neue Staatsgrenze zerschnittenen Verkehrswegen geschenkt. Bereits Anfang November 1918 errichtete der SHS-Staat (ebenso wie Ungarn) an der Demarkationslinie zu Deutschösterreich eine strenge Pass- und Zollkontrolle; vordringlicher Zweck war es, den Schmuggel von Lebensmitteln zu verhindern.17 Besonders die Bevölkerung unmittelbar an der Grenzlinie wurde durch diese Maßnahmen schwer getroffen, vielen Grundeigentümern wurde es unmöglich gemacht, ihre jenseits dieser Linie gelegenen Besitzungen zu bewirtschaften. Bei der Steiermärkischen Landesregierung langte in den Jahren 1918 bis 1920 eine Vielzahl von Beschwerden über die Behinderungen des Verkehrs durch SHS-Organe ein, auch über die Verweigerung von Visa zur Einreise nach Jugoslawien. Die Stadt Radkersburg war nach der Besetzung durch SHS-Truppen (unter weitgehender Aufrechterhaltung der deutschösterreichischen Zivilverwaltung) am 1. Dezember 1918 zeitweise nahezu von der Außenwelt abgeschnitten, weil die jugoslawischen Behörden den Verkehr Richtung Halbenrain und über die Murbrücke nach Belieben sperrten und frei­ gaben.18 Nach der Festlegung der Staatsgrenze durch den Vertrag von Saint-Germain lag es daher in dringendem steirischen Interesse, dass eine Verständigung über den kleinen Grenzverkehr gefunden wird. Die wichtigsten Anliegen der Grenzbevölkerung waren:19 1. Passieren der Grenze im kleinen Grenzverkehr mit Passierscheinen (ohne Verpf lichtung zum Erwerb von Pass und Visum); 2. Überschreiten der Grenze auf dem eigenen Grundstück für Doppelbesitzer, deren Grundstück von der Grenzlinie durchschnitten ist; 3. Zollfreiheit für die Einfuhr landwirtschaft-

licher Produkte von Doppelbesitzern von SHS nach Österreich; 4. Zugang von österreichischen Geistlichen in das jugoslawische Grenzgebiet, vor allem ins Abstaller Feld/Apaško polje – in diesem südlich der Mur zwischen Mureck und Radkersburg gelegenen, durch die Grenzziehung an Jugoslawien gefallenen Landstrich war die Bevölkerung zum größten Teil deutsch;

Identitätsausweis für den kleinen Grenzverkehr in der Südsteiermark gemäß dem Belgrader Abkommen vom StLA 23. Februar 1922

324

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

5. Zugang von Schülern aus dem westlichen Abstaller Feld in österreichische Schulen (Mureck) und von Bewohnern des westlichen Abstaller Feldes in die Kirche von Mureck; 6. Erhaltung des in Jugoslawien gelegenen Besitzes von mehrheitlich in Österreich liegenden Gebietskörperschaften (Gemeinden) (das betraf vor allem die Stadtgemeinde Radkersburg); 7. tierärztliche Versorgung und technische Betreuung von Wagen und Maschinen im Abstaller Feld von Österreich aus. Am 24. September 1920 wurden in Marburg zwischen Egon Glanz-Eicha, dem Leiter des in Graz ansässigen Länderzentralbüros für den Grenzdienst, und Leonid Pitamic, Staatskommissär des Inneren der Landesregierung für Slowenien (Deželna vlada za Slovenijo), Vereinbarungen über den kleinen Grenzverkehr getroffen. Auf österreichischen Wunsch wurden die bisherigen Provisorien für die Ausstellung von Grenzübertrittsscheinen auf eine beidseitig akzeptierte Grundlage gestellt, Doppelbesitzern wurde die zollfreie Einfuhr ihrer Produkte über die Grenze ermöglicht; andererseits erhielten die südlich der Mur auf SHS-Gebiet gelegenen Papierfabriken in Zierberg/Ceršak und Süßenberg/Sladki Vrh Erleichterungen für Zulieferungen von Rohstoffen und Maschinen über österreichisches Gebiet.20 Diese Vereinbarungen wurden von unteren Organen allerdings nicht immer respektiert, worüber es etliche Beschwerden gab. Daher schlossen Vertreter der Steiermärkischen Landesregierung und der Landesregierung für Slowenien sowie der Zollbehörden beider Staaten in Marburg am 27. Mai 1921 ein neues Übereinkommen über den kleinen Grenzverkehr, wobei die Vereinbarungen vom 24. September 1920 bestätigt wurden. Das Grenzgebiet umfasste auf jeder Seite der Staatsgrenze einen zehn Kilometer breiten Streifen, bei Bedarf konnte

diese Zone ausgedehnt werden. Die Modalitäten der Ausstellung von Grenzübertrittsscheinen wurden festgelegt; die jugoslawischen Vertreter versprachen sich dafür einzusetzen, dass Ausfuhrgenehmigungen für Eigenprodukte aus dem „Überlandbesitz“ von Doppelbesitzern nicht mehr erforderlich sind. Seelsorgern, Ärzten, Tierärzten, Hebammen, nicht ständigem land- und forstwirtschaftlichem Hilfspersonal sowie Handwerkern wurde der Grenzübertritt ohne Pass und Visum (nur mit Übertrittsschein) ermöglicht, letztgenannten, sofern sie ihre Arbeit in der Grenzzone des jeweils anderen Staates verrichten. Beide Vertragsparteien versicherten, für eine entsprechende Überwachung der klaglosen Durchführung zu sorgen. Die jugoslawische Zentralregierung in Belgrad versagte dem Dokument schließlich jedoch ihre Zustimmung.21 Ein Dreivierteljahr später konnte endlich Übereinstimmung über die Modalitäten des grenzüberschreitenden Zusammenlebens im Grenzland gefunden werden: Am 23. Februar 1922 schlossen das Königreich SHS und Österreich in Belgrad ein Abkommen über den kleinen Grenzverkehr. Dieses trat als Zusatzübereinkommen mit dem provisorischen österreichisch-jugoslawischen Handelsvertrag in Kraft. Es bestimmte eine zehn Kilometer breite Zone beiderseits der Staatsgrenze, wo Befreiung von Ein- und Ausfuhrabgaben für bestimmte Waren und Gegenstände bestand. Doppelbesitzer innerhalb der Grenzzone durften die Grenze mit Identitätsausweisen (mit Lichtbild) überschreiten, sich innerhalb der Grenzzone frei bewegen und ihr Arbeitsgerät sowie Familienmitglieder, Gesinde und Landarbeiter ohne Einschränkungen mitnehmen. Ärzte, Tierärzte, Hebammen und Seelsorger durften ihrem Beruf ohne Einschränkung auch in der Grenzzone des jeweils anderen Staates nachgehen. Unterschieden wurde zwischen Doppelbesitzern im engeren Sinne (ihr Grundstück wurde von der Grenzlinie

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

durchschnitten) und Doppelbesitzern im weiteren Sinne (diese hatten in beiden Grenzzonen an einem beliebigen Ort Besitz): Erstere durften direkt über die Grenze gehen, ohne dabei ihren Grund verlassen zu müssen, letztere mussten im Verkehr zwischen ihren Grundstücken Grenzübergänge benutzen. Die Identitätsausweise mussten von einer bestimmten Behörde des jeweils anderen Staates „vidiert“ werden.22 Von 4. bis 15. Oktober 1922 fanden in Graz Verhandlungen über die Durchführung des Belgrader Abkommens vom 23. Februar statt. In den Vorberatungen der österreichischen Delegierten am 3. Oktober traten zwischen den Vertretern der Steiermark und Kärntens Auffassungsunterschiede zutage, wie das Bundeskanzleramt am 20. Oktober 1922 in einem Resümee dem Außenministerium berichtete: Während die steirische Delegation, um die Bewohner des nördlichen Murufers vor dem Untergang zu schützen, alles daransetzt, um die Bringung des auf den südlich der Mur gelegenen Doppelbesitzen geernteten Weines nach Oesterreich zu erzielen, und daher für eine weitgehende Öffnung der Grenze eintrat, wurde deutlich, dass Kärnten des Holzes halber und zur Verhinderung irredentistischer Machenschaften in den von Slowenen bewohnten Landesteilen den Wünschen Jugoslawiens nach möglichster Schliessung der Grenze sehr sympathisch gegenübersteht. Schließlich konnten die Standpunkte der beiden Bundesländer akkordiert und mit der Gegenseite, auf welcher vor allem das Finanzministerium aus zolltechnischen Gründen Bedenken geäußert hatte, in Einklang gebracht werden. Am 15. Oktober wurde das Zusatzübereinkommen unterzeichnet. Es wurde eine Reihe von Übergängen für den kleinen Grenzverkehr bestimmt (auf dem Gebiet des Landes Steiermark 17 Übertrittsstellen, und zwar im Grunde diejenigen kleinen grenzüberschreitenden Straßen, die heute noch bestehen). Doppelbesitzer durften darüber hinaus noch eine Reihe von grenzüberschreitenden Wegen passieren; auch gemeinsame

325

(Staatsgrenze verläuft in der Wegmitte) und durch die Grenze geschnittene Wege wurden für Doppelbesitzer geöffnet. Auch die Güter des zollfreien Verkehrs (einschließlich Transportmittel und Geldverkehr) wurden nochmals näher bestimmt und die Modalitäten für die Ausstellung der Ausweise zum Passieren der Grenze (Identitätsbescheinigung bzw. Izkaznica o istovetnosti, Grenzübertrittsschein bzw. Prolaznica) festgelegt. Ferner wurden Vereinbarungen über Grenzwasserläufe und grenzüberschreitenden Kirchenbesuch getroffen.23 Im Herbst 1922 wurden schließlich von der Steiermärkischen und der Kärntner Landesregierung Vorschläge ausgearbeitet, auch den Alpintourismus in das Abkommen über den kleinen Grenzverkehr einzubeziehen.24 Als besonders schwierig erwiesen sich die österreichisch-jugoslawischen Verhandlungen um ein Übereinkommen für den Eisenbahntransitverkehr. Das Übermurgebiet/Prekmurje – das ist die nach dem Ersten Weltkrieg von Ungarn an das Königreich SHS gefallene, links der Mur gelegene Landschaft Sloweniens – war 1919 vom übrigen Jugoslawien nur über die Radkersburger Murbrücke und kleine Überfuhren erreichbar. Von Luttenberg/Ljutomer in der östlichen Untersteiermark führte eine Eisenbahnlinie über Radkersburg und Spielfeld nach Marburg; die Straßen über die Windischen Büheln/Slovenske gorice waren zu dieser Zeit noch kaum ausgebaut. Die genannte Bahnlinie und die Stadt Radkersburg waren daher für Jugoslawien von erheblicher verkehrspolitischer Bedeutung, und die Besetzung Radkersburgs und der Bahnstrecke Spielfeld–Radkersburg durch SHS-Truppen Anfang Dezember 1918 ist aus wirtschaftlich-verkehrstechnischen Motiven zu erklären. Als der Vertrag von Saint-Germain Radkersburg und Spielfeld Österreich zusprach, hatte Jugoslawien daher großes Interesse, mit dem Nachbarstaat zu einem Übereinkommen über den Bahnverkehr zwischen diesen beiden Orten zu kommen. Der Süden Österreichs hin-

326

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

gegen litt wirtschaftlich an der durch den Zerfall Zisleithaniens bedingten Aufteilung der Südbahn auf drei Staaten. Es lag daher im österreichischen Interesse, den Bahnverkehr auf der überregionalen Strecke von Graz über Spielfeld, Marburg, Unterdrauburg/Dravograd und Bleiburg nach Klagenfurt sowie auf der regionalen Verbindung von Lavamünd über Unterdrauburg nach Bleiburg aufrechtzuerhalten. In den bilateralen Verhandlungen um den kleinen Grenzverkehr stand daher auch der Eisenbahntransit häufig auf der Tagesordnung; der Eisenbahnverkehr selbst wurde – je nach politischer Wetterlage – einmal unterbunden, dann wieder zugelassen, wobei die Bevölkerung des unteren Murtales die Durchfahrt jugoslawischer Züge von Spielfeld nach Radkersburg mehrmals mit Gewalt verhinderte.25 Darüber hinaus wurde auf steirischer Seite versucht, die Frage des Eisenbahntransits mit der Gewinnung des Abstaller Feldes oder zumindest zolltechnischen Erleichterungen für die Abstaller Deutschen zu junktimieren, was sich aber bald als illusorisch herausstellen sollte.26 Nach etlichen provisorischen Übereinkommen konnte im Frühjahr 1921 endlich eine dauerhafte Lösung gefunden werden. Am 9. Mai 1921 wurde in Klagenfurt die „Protokollarvereinbarung betreffend die Regelung des Eisenbahnanschluß-Verkehres zwischen dem Königreiche der Serben, Kroaten und Slowenen und der Republik Österreich“ unterzeichnet. Vereinbart wurde die Aufnahme des Transitverkehrs auf den Strecken Marburg–Spielfeld– Radkersburg–Luttenberg, Lavamünd–Unterdrauburg–Bleiburg und Spielfeld–Marburg– Bleiburg mit 1. Juni 1921, und zwar mit Kurswägen (die Reisenden auf diesen Strecken waren vom Pass- und Visumzwang befreit und benötigten lediglich einen von ihrer Gemeinde, der politischen Bezirks- oder einer Polizeibehörde ausgestellten zweisprachigen Transitschein, durften aber den Transit-Zugteil nicht verlas-

sen), der Zugang für Bewohner des Übermurgebietes zum Bahnhof Radkersburg mit Passierscheinen wurde in Aussicht gestellt (dies war die Bedingung für die jugoslawische Zustimmung zum Transitverkehr Spielfeld–Marburg–Bleiburg). Ferner wurden Vereinbarungen über die Übergabebahnhöfe (für die Strecke Wien–Laibach war das Marburg) und über die Pass- und Zollabfertigung getroffen (auf der Strecke Wien–Laibach österreichische Zollabfertigung in Leibnitz, österreichische Passkontrolle in Spielfeld, jugoslawische Pass- und Zollabfertigung in Marburg). Der Transitverkehr über Spielfeld–Radkersburg sollte folgendermaßen abgewickelt werden: An die jugoslawische Zugsgarnitur Marburg–Luttenburg wird in Spielfeld die (von Graz kommende) österreichische Garnitur angeschlossen und bis Radkersburg mitgeführt. Auf der gesamten Strecke Marburg–Luttenberg fährt der jugoslawische Lokführer; jugoslawische Schaffner fahren von Marburg bis Luttenberg, versehen aber nur auf den Abschnitten Marburg–Spielfeld und Radkersburg–Luttenberg Dienst, während sie auf der Strecke Spielfeld–Radkersburg in den jugoslawischen Transitwaggons sitzen und österreichische Schaffner Dienst versehen. Auf der Strecke Spielfeld–Radkersburg werden die Transitwaggons von österreichischen Zöllnern begleitet, die aber keine Kontrollen durchführen. Dieses komplizierte Verfahren wurde im täglichen Verkehr nicht immer streng eingehalten, sodass es wiederholt zu Missverständnissen zwischen Beamten und Reisenden kam und der Transitverkehr im Lauf der Jahre 1922 und 1923 mehrmals vorübergehend eingestellt wurde.27 Schon bald erübrigte sich das Problem der Transitzüge: Die Südbahn stellte den Transitverkehr mit Schnellzügen auf der Strecke Wien– Graz–Marburg–Klagenfurt–Villach im Februar 1923 aus mangelnder Rentabilität ein,28 1922 fiel mit der Eröffnung der Murbrücke bei

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

327

Eröffnung der Packer Bundesstraße durch ­Bundespräsident Wilhelm Miklas, 1936 UMJ/MMS

Wernsee/Veržej die Monopolstellung Radkersburgs für den Zugang zum Übermurgebiet vom übrigen Slowenien weg, und 1925 wurde Luttenberg mit Friedau/Ormož durch eine Bahnlinie verbunden, womit der Transit über Radkersburg und Spielfeld hinfällig wurde.29 Im Jahr 1927 einigten sich Österreich und Jugoslawien auf gemeinsame Grenzbahnhöfe, wobei innerhalb Österreichs jedoch unterschiedliche Interessenslagen zutage traten: Während Vertreter der südsteirischen Grenzbevölkerung die Ansiedlung der gemeinsamen Abfertigungsstellen in Leibnitz oder Spielfeld befürworteten und sich sogar für den Neubau eines Grenzbahnhofes unmittelbar an der Staatsgrenze ( je

zur Hälfte auf jugoslawischem und österreichischem Gebiet) stark machten, sprachen sich die Bundesbahnen aus Kostengründen und im Einklang mit den jugoslawischen Unterhändlern für Marburg aus (im Klagenfurter Abkommen von 1921 war ausdrücklich Marburg als Übergabebahnhof genannt worden). In den Erörterungen wurden auch Befürchtungen einer drohenden „Slawisierung“ von Leibnitz bzw. einer „Germanisierung“ Marburgs durch die aus dem jeweils anderen Staat stammenden Eisenbahner, Zöllner und Grenzbeamten geäußert. Schließlich wurden am 2. November 1927 als gemeinsame Grenzbahnhöfe Radkersburg und Marburg bestimmt. Die Bevölkerung

328

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

der Südsteiermark stand nun vor der Schwierigkeit, Waren in Marburg verzollen zu müssen, das nicht mehr in der Zehn-Kilometer-Zone für den kleinen Grenzverkehr lag (wohl aber seine südwestlichen Vororte!).30 Für Amtswege in der Draustadt musste also ein Pass erworben und eine Einreisegenehmigung beantragt werden; das am 27. Jänner 1922 in Graz zwischen Österreich, dem Königreich SHS, Ungarn, Italien, Polen, Rumänien und der Tschechoslowakei geschlossene Passabkommen hatte immerhin Dauervisa (während ihrer Gültigkeit konnte die Grenze beliebig oft überschritten werden) und ein vereinfachtes Verfahren zum Visumserwerb eingeführt, die Durchführung seitens Jugoslawiens hatte sich allerdings über Jahre hingezogen.31 In der Steiermark wurden seit Beginn der Zwanzigerjahre Überlegungen angestellt, wie man die an der neuen Staatsgrenze gelegenen Randgebiete des Landes verkehrsmäßig an das übrige Landesgebiet anschließen und die Verkehrswege in das benachbarte Kärnten ausbauen könnte. Vor allem die Bevölkerung auf der Soboth, welche vor der Grenzziehung wirtschaftlich fast ausschließlich ins Drautal ausgerichtet gewesen war, klagte wiederholt, dass die Wege nach Eibiswald und Lavamünd völlig unzureichend seien; noch 1931 erklärte die treudeutsche heimatliebende Bevölkerung der Gemeinde Soboth gegenüber der Landesregierung, nicht länger die Stiefkinder des Landes Steiermark sein zu wollen.32 Die Stadt Graz plädierte in den Zwanzigerjahren für den Bau einer Eisenbahnlinie über die Pack nach Klagenfurt,33 schon bald wurde seitens der Landesregierung jedoch der Bau einer Straße ins Auge gefasst. Im Jahr 1927 beschloss der Steiermärkische Landtag den Bau der Packstraße, die Realisierung wurde jedoch erst im Juli 1930 fixiert und im September desselben Jahres in Angriff genommen. Die neue

Straße hatte eine Gesamtlänge von 81 Kilometern, davon entfielen 63 auf die Steiermark. Die Gesamtkosten betrugen 16,1 Millionen Schilling, wovon 11 Millionen auf den steirischen Teil fielen; das Land Steiermark hatte davon 4,4 Millionen Schilling aufzubringen. Mit dem Bau sollte die drückende Arbeitslosigkeit in der Weststeiermark (vor allem im Raum Köf lach–Voitsberg) bekämpft werden, der Fremdenverkehr sollte neue Impulse erhalten (unter anderem durch Kraftfahrer aus Ungarn). Der Spatenstich erfolgte am 23. September 1930 an der steirisch-kärntnerischen Landesgrenze auf der Höhe des Packsattels. In seiner Ansprache begrüßte der steirische Landeshauptmann Anton Rintelen das Projekt pathetisch als natürliche und moderne Fortsetzung einer „seit einem Jahrtausend in engster geschichtlicher Verbindung stehenden Gemeinschaft“. Am 30. Mai 1936 konnte Bundespräsident Wilhelm Miklas die Packstraße dem Verkehr übergeben.34 Rintelen, der nach seiner Ära als steirischer Landeshauptmann als österreichischer Botschafter in Rom/Roma tätig war und enge Beziehungen zum faschistischen Regime pf legte, behauptete später, den Bau der Packstraße persönlich durchgesetzt und eine moderne Autostraße von Graz nach Ungarn geplant zu haben; ob der Bau der Straße über die Pack italienischen Wünschen entsprach, um Waffentransporte unbehelligt von den sozial­demokratischen Eisenbahnern von Italien nach Ungarn bringen zu können, konnte nicht nachgewiesen werden.35 Mitte der Zwanzigerjahre setzte sich die Steiermärkische Landesregierung in Wien für die Verbesserung der Verkehrsverbindungen zwischen der Steiermark und dem Südburgenland durch den Bau einer Bahnlinie von Fürstenfeld nach Güssing ein;36 aus Kostengründen hatte ein derartiges Projekt jedoch niemals reelle Chancen auf Realisierung.

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

329

Nationalpolitische Angelegenheiten Vor allem in den ersten Jahren nach dem Weltkrieg war die Lage der untersteirischen Deutschen häufig Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen Österreich und Jugoslawien, zunächst verknüpft mit der Frage der Grenzziehung. In den ersten Jahren nach dem Umbruch 1918 optierten zahlreiche Deutsch-Untersteirer für Österreich und übersiedelten in die Steiermark, darüber hinaus trachteten die slowenischen Behörden, die in ihrem Land lebenden Deutschen nach Möglichkeit zum Verlassen des Landes zu zwingen oder ihre gesellschaft­ liche Position entscheidend zu schwächen. 37 Die Steiermärkische Landesregierung stand einerseits vor der Aufgabe, Tausende aus der Untersteiermark gedrängte Deutsche in Wohnungen und auf dem Arbeitsmarkt unterbringen zu müssen, andererseits bemühte sie sich, den im steirischen Unterland verbliebenen Deutschen zur Durchsetzung von Minderheitenrechten zu verhelfen. Dabei wurden mitunter Vergeltungsmaßnahmen gegenüber den im Bundesland Steiermark lebenden Südslawen (vornehmlich Slowenen) angewandt. Erstmals im Mai 1919 ließ die Landesregierung den fremdvölkischen Besitz erheben, in den Jahren 1922/23 erfolgte eine neuerliche Aufnahme von fremd­nationalen Besitzungen.38 Nachdem die jugoslawische Regierung das Vermögen feindlicher Ausländer und einheimischer Deutscher unter Sequester bzw. Staatsaufsicht gestellt hatte, wurden in der Steiermark die Sequestrierung südslawischen Eigentums und der Ausschluss slowenischer Studenten von den Hochschulen erwogen, schließlich aber nicht ausgeführt, allerdings wurden slowenische Vereine in der Steiermark als ­Retorsion für die Untersagung deutscher Vereine in Slowenien behördlich aufgelöst.39 Als Jugoslawien 1925 begann, österreichische Arbeitskräfte kollektiv auszuweisen, wurden in

Österreich adäquate Vergeltungsmaßnahmen gegenüber SHS-Bürgern in Betracht gezogen; in diesem Fall konnte mit der Belgrader Regierung eine Verhandlungslösung gefunden werden, die jegliche Retorsionsmaßnahmen obsolet machte.40 Mitunter wurde die Zahl der Arbeitslosen in Österreich mit jener der ausländischen Beschäftigten hochgerechnet,41 doch wurde in einer Besprechung steirischer Landesbeamter in nationalpolitischen Angelegenheiten beim Radkersburger Bezirkshauptmann Ulberth am 14. Jänner 1926 auch die ambivalente Einstellung der Radkersburger Bevölkerung zu südslawischen Arbeitskräften deutlich: Einerseits wurden diese als billige Arbeitskräfte und wegen ihrer Sprachkenntnisse geschätzt, andererseits wurde geklagt, dass sie Österreichern Arbeitsplätze streitig machten und die Arbeitslosigkeit verschärften. Eine kollektive Ausweisung der Jugoslawen kam nach einhelliger Auffassung nicht in Frage.42 Während die Lage der deutschen Minderheit in der Untersteiermark während der gesamten Zwischenkriegszeit eine ständige Quelle von Konf likten zwischen Österreich und Jugoslawien blieb, waren die im Bundesland Steiermark lebenden Slowenen – im Unterschied zu den Kärntner Slowenen – zu keiner Zeit Gegenstand bilateraler Auseinandersetzungen. Auch die Steiermärkische Landesregierung beschäftigte sich wiederholt mit der Nichteinhaltung der Minderheitenschutzbestimmungen gegenüber den untersteirischen Deutschen,43 und Ende 1921 verlangte sie vom Außenministerium die Eröffnung eines österreichischen Konsulates in Marburg (in Graz bestand seit November 1919 ein Konsulat des Königreiches SHS44), um den Deutsch-Untersteirern stärkeren Rückhalt gewähren zu können. Das Wiener Außenamt wies darauf hin, dass das Konsulat in Laibach ausreiche; freilich

330

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

musste es die Landesregierung darüber hinaus belehren, dass Österreich zwar den diplomatischen Schutz eigener Staatsangehöriger, nicht hingegen jenen von jugoslawischen Staatsbürgern deutscher Nationalität wahrnehmen könne.45 Andererseits gab es in der Steiermark praktisch niemanden, der sich als Minderheitenangehöriger artikuliert hätte,46 und seitens des Landes Steiermark und Jugoslawiens wurde den südsteirischen Slowenen daher kaum Aufmerksamkeit zuteil,47 wenn die Behörden auch aus praktischen Erwägungen in einigen Fällen die slowenische Sprache als Hilfsunterrichtssprache in den unteren Volksschulklassen tolerierten, wie es in Rothwein oberhalb von Eibiswald sowie in Langegg und Großwalz bei Leutschach der Fall war.48 Nach der Unterzeichnung des Vertrages von Saint-Germain am 10. September 1919 und seinem Inkrafttreten am 16. Juli 1920 wurde sowohl auf österreichischer als auch auf jugoslawischer Seite wiederholt der Wunsch nach einer Revision der Grenze geäußert. Jugoslawische Wünsche betrafen vor allem Kärnten, welches nach der Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920 für das Königreich SHS verloren war, und Radkersburg, österreichisches Revisionsziel war in erster Linie das Abstaller Feld. Vielfach entsteht der Eindruck, dass die an der Grenze lebende Bevölkerung den Vertrag von Saint-Germain noch jahrelang als ein Provisorium betrachtete, welches über kurz oder lang gemäß den eigenen Vorstellungen geändert werden müsse. Die Tätigkeit der internationalen Grenzkommission, welche mit der Festsetzung der Grenzlinie im Gelände befasst war und ihre Arbeit im Sommer 1922 abschloss, wurde oftmals behindert, mehrfach wurden Grenzsteine ausgerissen.49 Von privater Seite wurde an die Steiermärkische Landesregierung wiederholt die Forderung nach Rettung des Abstaller Feldes50 und gelegentlich darüber hinaus nach dem Anschluss der nördlichen Untersteiermark

an Österreich herangetragen (die Vertretung der Pettauer in Graz tat sich dabei besonders hervor51), auch die Landesregierung selbst startete mehrere Anläufe, über diplomatische Schritte des Außenministeriums eine Verschiebung der Grenze nach Süden zu erreichen.52 Dabei wurden auch territoriale Kompensationsleistungen erwogen: Am 26. Jänner 1921 richteten acht Gemeindevertretungen aus dem Abstaller Feld an die österreichische Bundesregierung das Ersuchen, in Verhandlungen mit der jugoslawischen Regierung einzutreten, um den Anschluss der Gemeinden an Österreich zu erreichen. Als Kompensation schlugen sie die Abtretung der östlich von Radkersburg gelegenen, mehrheitlich slowenischen Ortschaften Laafeld (teilweise), Sicheldorf, Dedenitz, Zelting und Windisch-Goritz (seit 1924 Goritz bei Radkersburg) von Österreich an Jugoslawien sowie die Gewährung jugoslawischer Transporte auf der Bahnlinie Radkersburg-Spielfeld vor. Schon am 11. September 1920 hatten sich die genannten Gemeinden mit den gleichen Vorschlägen sehr zum nachträglichen Missfallen der Dienststellen in Graz an die jugoslawische Regierung gewandt. Beide Initiativen blieben erfolglos.53 Ende März 1921 legte Landeshauptmann Rintelen anlässlich eines Besuches von Bundeskanzler Michael Mayr in Graz einen Plan für einen trilateralen Gebietstausch vor. Jugoslawien sollte das Abstaller Feld an Österreich abtreten und dafür von Ungarn das südlich von St. Gotthard/Szentgotthárd gelegene, von Slowenen besiedelte Raabgebiet erhalten; Ungarn sollte von Österreich durch einige Gemeinden im Südburgenland entschädigt werden. Mayr leitete die Pläne an die Zentralgrenzkommission und an die Verwaltungsstelle für das Burgenland weiter; beide lehnten Rintelens Plan entschieden ab, die Verwaltungsstelle verfasste zudem einen Protest, in dem sie die Beeinträchtigung der Einheit des Burgenlandes, welches von der Bundesverfassung als selbstständi-

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

ges und gleichberechtigtes Land anerkannt wurde, zurückwies. Ende Juni legte Rintelen sein Tauschprojekt dem neuen Bundeskanzler Johann Schober vor, und das Länderzentralbüro wandte sich an Bundespräsident Michael Hainisch, ein Erfolg blieb aber wiederum aus.54 Ein „Arbeitsausschuss der Grenzbevölkerung der Bezirke Mureck und Radkersburg“ – dieser unter der Obmannschaft des Radkersburger Bürgermeisters Franz Kamniker stehende Ausschuss war Anfang Juli 1921 gegründet worden – richtete am 30. September 1921 an die Landesregierung das Ersuchen, darauf dringen zu wollen, dass anlässlich der bevorstehenden Verhandlungen mit Ungarn um die österreichischungarische Grenze versucht werde, durch einen Dreiertausch das Abstaller Becken für Österreich zu gewinnen. Die in Aussicht genommene Volksabstimmung in Ödenburg/Sopron solle als österreichische Kompensation gegenüber Ungarn dargestellt und dieses dadurch zur Zustimmung veranlasst werden. Als Objekte eines Dreiertausches wurden folgende Gebiete in Betracht gezogen: einige burgenländische Gemeinden – auch über das Ödenburger Abstimmungsgebiet hinausgehend – von Österreich an Ungarn, das slowenische Raabgebiet von Ungarn an Jugoslawien, das Abstaller Feld von Jugoslawien an Österreich. Darüber hinaus wurde steirischerseits auch erwogen, den Jugoslawen als Kompensationen für das Abstaller Becken erweiterte Durchfahrtsrechte auf der Eisenbahn Spielfeld-Radkersburg, den Bau einer Bahn von Radkersburg nach Murska Sobota und – im äußersten Fall – die Abtretung der Gemeinden Sicheldorf und Dedenitz anzubieten. Am 18. November 1921 teilte das Außenministerium jedoch mit, dass derartige Vorstellungen in den Verhandlungen um Ödenburg nicht durchsetzbar gewesen wären und zunächst die Haltung Jugoslawiens erkundet werden müsse. Durch die „Schockerfahrung“ von Trianon kamen für Ungarn jedoch Gebietsabtretungen

331

auch bei entsprechender Kompensation von vornherein nicht in Frage; ob Landeshauptmann Rintelen dies bewusst war, ist freilich fraglich. Die Kärntner Landesregierung war auf ein von der Steiermärkischen Landesregierung ausgearbeitetes Tauschprojekt (das Abstaller Feld an Österreich, das Gebiet um Eisen­kappel an Jugoslawien, steirische Gebiete auf der Soboth oder bei St. Lambrecht an Kärnten) unter Hinweis auf den Ausgang der Volksabstimmung von vornherein nicht eingegangen.55 Noch über ein Jahrzehnt später kam es zu einer neuerlichen Initiative für eine Grenzänderung. Im April 1933 richteten der Bezirksausschuss Radkersburg, der Arbeitsausschuss für den Grenzbezirk Radkersburg, die Radkersburger Bezirkskammer für Land- und Fortwirtschaft, die Stadtgemeinde Radkersburg, die Marktgemeinde Mureck und die Marktgemeinde Straß an die Steiermärkische Landesregierung und die österreichische Bundesregierung die Forderung nach einer Revision der steirischen Südgrenze. Nicht nur die Bevölkerung des zu hundert Prozent von Deutschen bewohnten Abstaller Feldes, auch die Bevölkerung zwischen Mur und Drau wünsche sehnlich, mit Österreich vereinigt zu werden; eine Volksabstimmung in diesem Gebiet wäre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg für Österreich ausgegangen, jetzt, nach den vielen Enttäuschungen im jugoslawischen Staat, würde sie noch günstiger ausfallen. „Hier verkannten wohl die Radkersburger Vertreter die Lage, denn eine Volksabstimmung im Jahre 1933 wäre höchstens im Abstallerfeld zugunsten Österreichs ausgefallen.“ Freilich vermerkte das Außenministerium, dass in der Sache nichts unternommen werden könne, wenn es auch einer für Österreich günstigen Revision des Vertrages von Saint-Germain nicht abgeneigt gewesen wäre.56 Nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Saint-Germain gerieten die in der österreichischen Südsteiermark tätigen slowenischen

332

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

Geistlichen (in Radkersburg, Spielfeld und Leutschach) ebenso unter Druck wie die im Abstaller Feld eingesetzten deutschen Priester.57 Die Pfarren Kappel/Kapla, Heiligengeist/Sv. Duh und Abstall/Apače wurden zwar von der Diözese Lavant (diese hatte seit 1859 ihren Sitz in Marburg) aus administriert, sie gehörten jedoch weiterhin zum Bistum Seckau. Die Diözesangrenzen wurden erst 1964 durch die Konsistorialkongregation in Rom den Staatsgrenzen angepasst, und zwar auf Ersuchen der Bistümer Gurk-Klagenfurt, Graz-Seckau, Marburg und Steinamanger/Szombathely.58 Zu den Wünschen nach Grenzrevision trugen wohl auch die wiederholten Grenzzwischenfälle bei, die auch nach 1920 nicht aufhörten.59 Häufig waren für die Übergriffe in jugoslawischem Grenzdienst stehende russische Soldaten der ehemaligen antikommunistischen Wrangel-Armee verantwortlich; im Februar 1923 sicherte Jugoslawien die Entmilitarisierung der Grenzwache und ihre Überführung in die Finanzwache zu,60 sodass sich die Situation beruhigte, wenn es auch danach noch jedes Jahr zu Zwischenfällen kam, die zumeist in Zusam­

menhang mit Schmuggel standen.61 Zudem fürchtete Jugoslawien, wo die Kommunistische Partei 1921 verboten worden war, das Einsickern kommunistischer Propaganda aus Österreich, ja, es betrachtete Wien sogar als kommunistische Propagandazentrale.62 Am 25. April 1929 wurden die beiden jugoslawischen Kommunisten Djura Djaković und Niko Hečimović bei Heiligengeist südlich von Leutschach beim Versuch, die österreichisch-jugoslawische Grenze illegal zu überschreiten, von jugoslawischen Grenzern erschossen. Die (illegale) kommunistische Broschüre Narodna prosvjeta („Volksbildung“) widmete den beiden Getöteten in ihrer Nummer vom März/April 1929 einen pathetischen Nachruf. Am 22. Mai 1929 wurden der in Wien ansässige österreichische Kommunist Franz Freihaut und der montenegrinische Kommunist Grujo Petrović in Leutschach von der Gendarmerie festgenommen, als Freihaut versuchte, Petrović eine Reihe von Exemplaren der Narodna prosvjeta zum Schmuggel nach Jugoslawien zu übergeben.63 Über viele Jahre zog sich auch das Problem des Grunderwerbs durch Ausländer an der

Jugoslawische Kontrolle in Pfarrsdorf bei Radkersburg, StLA 1920

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

Staatsgrenze. Am 30. Juni 1923 verfügte die jugoslawische Regierung, dass der Ankauf unbeweglicher Güter durch Angehörige fremder Staaten, sofern diese Güter innerhalb einer Zone von 50 Kilometern diesseits der Grenze oder vom Meeresufer gelegen sind, der Genehmigung des Kriegsministeriums und des Ministeriums des Innern bedürfe. Auf dem übrigen Staatsgebiet war der Grunderwerb durch Ausländer nur dann möglich, wenn mit ihrem Herkunftsstaat eine vertragliche Regelung der Gegenseitigkeit im Grunderwerb bestand.64 Da ein derartiger Vertrag zwischen dem Königreich SHS und Österreich nicht bestand, betrachtete die Bundesregierung die Rechtsfähigkeit jugoslawischer Staatsangehöriger im Grundverkehr gemäß § 33 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches als nicht mehr gegeben, österreichische Behörden und Gerichte hätten demnach den Grunderwerb durch Jugoslawen zu unterbinden. Dennoch kam es in nicht wenigen Fällen zu Grundkäufen

333

durch jugoslawische Staatsbürger, weil häufig nicht nach der Staatsbürgerschaft des Käufers gefragt wurde. Die im Königreich SHS geltenden Einschränkungen für den Grunderwerb von Ausländern in der Grenzzone wurden mit Inkrafttreten des jugoslawischen Finanzgesetzes für 1928/29 am 1. April 1928 aufgehoben. Mit diesem Stichtag galt Gegenseitigkeit, sodass auch Angehörige des SHS-Staates in Österreich unbeschränkt Grundbesitz erwerben konnten.65 Durch eine Verordnung des Justizministeriums vom 4. September 1936 beschränkte Jugoslawien jedoch neuerlich den Grunderwerb durch ausländische Staatsbürger (nunmehr war die Vermögensübertragung an die Zustimmung einer Sonderkommission gebunden), und die Banschaftsverwaltung des Drau-Banates/Dravska banovina wies diese Kommissionen in einem vertraulichen Erlass an, die Eigentumserwerbsbeschränkungen auch auf jugoslawische Staatsbürger deutscher Nationalität anzuwenden.66

Zwischenstaatliche Vertragswerke Nach dem Abschluss der Friedensverträge wurden zu Beginn der Zwanzigerjahre, als die Handelsbeziehungen zwischen den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie durch Restriktionen und die Verhinderung von Schmuggel gekennzeichnet waren, erste Abkommen geschlossen, die über provisorische Vereinbarungen hinausgingen. Die Konferenzen von Rom im Mai/Juni 1921 und Portorose/Portorož im Oktober/November desselben Jahres sollten die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Nachfolgestaaten normalisieren und Hegemonialbestrebungen des Deutschen Reiches – dieses war an den Beratungen nicht beteiligt – unterbinden. Die zwischen den Großmächten und den Nachfolgestaaten geschlossenen Abkommen machten den Weg frei: Nach der Kon-

ferenz von Rom konnten multilaterale Verträge über gegenseitigen Rechts- und Urheberrechtsschutz, Aufteilung der Archive, Staatsbürgerschaftsfragen, Fragen der Doppelbesteuerung und Regelung der Pensionen unterzeichnet werden. Die Konferenz von Portorose behandelte Fragen der Wirtschafts- und Verkehrsbeziehungen und führte zum Abschluss einer Reihe von Verträgen über die Normalisierung des Post- und Eisenbahnverkehrs, die Aufteilung des Eisenbahnfuhrparks und über Erleichterungen im Handelsverkehr.67 Anlässlich des Besuches von Bundeskanzler Ignaz Seipel in Belgrad im Februar 1923 wurde der Abschluss einer Reihe von bilateralen Abkommen zwischen dem Königreich SHS und Österreich in Aussicht genommen (ein guter Teil

334

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

davon wurde dann tatsächlich unterschrieben).68 Die Steiermärkische Landesregierung richtete am 26. Februar 1923 an das Bundeskanzleramt die Bitte, gegenüber der jugoslawischen Regierung folgende Dinge zur Sprache zu bringen:69 1. Auf hebung der Sequestrationen österreichischen Eigentums in Jugoslawien; 2. Frage der Schulden in österreichisch-ungarischen Noten; 3. formelles Inkrafttreten des am 23. Februar 1922 in Belgrad geschlossenen Zusatzübereinkommens zum provisorischen Handelsvertrag über den kleinen Grenzverkehr und seines in Graz am 15. Oktober 1922 geschlossenen Durchführungsabkommens; 4. Fortschritte in der Aushandlung eines Sonderübereinkommens über den Grenzverkehr; 5. Beitritt des Königreiches SHS zum Grazer Passübereinkommen vom 27. Jänner 1922; 6. Verwirklichung des Vertrages von SaintGermain und des Klagenfurter Abkommens vom 9. Mai 1921 hinsichtlich des Eisenbahntransitverkehrs; 7. Vereinbarungen über das der Stadtgemeinde Radkersburg durch die Grenzziehung verloren gegangene Vermögen am rechten Murufer; 8. Schutz der deutschen Minderheit in Jugoslawien. Am 28. Februar brachte die Landesregierung noch ein neuntes Anliegen zum Vortrag, nämlich die Wiedergutmachung der anlässlich der jugoslawischen Besetzung südsteirischer Ortschaften zwischen Dezember 1918 und Juli 1920 entstandenen Schäden. Am 13. März 1923 langte eine Telefon­ depesche aus dem Außenministerium ein, in welcher zu den genannten Punkten Stellung genommen wurde:70 1. Die Sequestrationen sollen längstens 15 Tage nach Genehmigung des in Belgrad geschlossenen Abkommens aufgehoben werden, in

2.

3.

4. 5.

6.

7.

8.

Fällen, in denen bereits eine Veräußerung stattgefunden hatte, hatte der Geschädigte Anspruch auf Schadensersatz, der bei jugoslawischen Gerichten geltend gemacht werden musste; in der Frage der Schulden in österreichischungarischen Noten wurde ein Schlüssel gefunden; bezüglich der Grenzverkehrsabkommen hat das Bundesministerium gestern eine auffällige Note an Herrn Regierungsrat abgesandt; detto; bezüglich der Passkonferenz erklärte Jugoslawien, den Beschlüssen nachträglich nachkommen zu wollen; das Klagenfurter Abkommen zum Eisenbahntransit sollte ergänzt bzw. adaptiert werden – dabei ging es um die Frage, ob das Ein- und Aussteigen aus Transitwaggons innerhalb der Grenzzone gestattet werden soll, also etwa für Jugoslawen auf dem Bahnhof Mureck in Transitwaggons Marburg–Luttenberg und für Österreicher in Saldenhofen/Vuzenica in Transitwaggons Spielfeld–Bleiburg; bezüglich der Vermögenschaften der Stadtgemeinde Radkersburg sollte eine Spezialkommission eingesetzt werden, wobei dies das maximal Erreichbare gewesen sei, weil die Jugoslaven in diesem Punkt sehr unzugänglich seien – auf Grund einer Entscheidung des jugoslawischen Justizministeriums vom 15. Februar 1922 wurde das am rechten Murufer gelegene Vermögen der Stadtgemeinde Radkersburg der slowenischen Marktgemeinde Oberradkersburg/Gornja Radgona ins Eigentum übertragen; hinsichtlich des Minderheitenschutzes habe Jugoslawien viele Klagen über die Behandlung der Kärntner Slowenen vorgebracht, und es sei vereinbart worden, dass nach Möglichkeit den kulturellen Bedürfnissen beider Teile entgegengekommen wird;

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

9. ein Ersatz der in den betroffenen südsteirischen Orten entstandenen Schäden sei von Jugoslawien abgelehnt worden. Die Auf hebung der Vermögenssequestrierungen trat schließlich gemäß dem am 24. Februar 1923 in Belgrad geschlossenen jugoslawisch-österreichischen Sequesterabkommen (BGBl. 26/1924) am 5. April 1924 in Kraft.71 Die Stadtgemeinde Radkersburg versuchte noch 1937, sich für ihre durch die Grenzziehung verursachten Vermögensverluste beim österreichischen Staat schadlos zu halten. Sie versuchte seit 1926, ihre missliche finanzielle Lage durch ein Dar­lehen des Finanzministeriums zu verbessern; nachdem das Ministerium wiederholt abgelehnt hatte, trachtete die Stadtgemeinde, auf dem Rechtsweg Entschädigung für ihre verlorenen Liegenschaften zu bekommen. Bundesfinanzminister Rudolf Neumayer gab der Landeshauptmannschaft Steiermark am 7. Juli 1937 bekannt, man rate der Stadtgemeinde von einer Klage gegen den Bundesstaat ab, weil aus internationalen Abkommen Österreich nicht zur Entschädigung der Stadt Radkersburg verpf lichtet sei. Ein knappes Jahr später hatten sich nicht nur die staatsrechtlichen Verhältnisse geändert: Am 25. Mai 1938 erhielt die Stadtgemeinde Radkersburg aus dem Gemeindeausgleichsfonds 7.000 Reichsmark zugewiesen.72 Am 22. November 1923 wurden in Marburg zwischen dem Königreich SHS und der Republik Österreich als Zusatzübereinkommen zu den Belgrader Verträgen vom 23. Februar 1922 sechs Sonderabkommen geschlossen, und zwar über Weideverkehr, über Wege, Straßen, Brücken, Überfuhren, Schifffahrt und Flößerei, über Elektrizitätswerke in der Grenzzone, über die Regulierung der Mur, über Fischerei in den Grenzgewässern und über die Nutzung der Wasserkräfte in der Grenzzone. Ferner wurde die territoriale Ausdehnung der Grenzzone, für die das Belgrader Abkommen vom 23. Februar 1922 über den kleinen Grenzverkehr galt, definitiv

335

festgelegt.73 Über eine Reihe weiterer Verhandlungsgegenstände (Touristenverkehr entlang der Grenze, Schule und Kirche, Post, Telegraph und Telefon, Jagd sowie Volksgesundheit) konnte hingegen keine Einigung erzielt werden.74 Der am 3. September 1925 abgeschlossene jugoslawisch-österreichische Handelsvertrag (BGBl. 246/1926) legte als Grundsätze den freien Handelsverkehr, die Meistbegünstigungsklausel und das paritätische Verfahren fest. In seinen Tarifteil wurde eine große Zahl österreichischer und jugoslawischer Zolltarife aufgenommen; Österreich erhielt beträchtliche Zoll­ ermäßigungen für einen großen Teil seiner industriellen Exportwaren und kam Jugoslawien mit einer Ermäßigung der Importzölle auf landwirtschaftliche Produkte entgegen. Ein Gutteil der vertraglichen Bestimmungen beruhte auf den bisher geschlossenen (und damit in ihrer Wirksamkeit letztlich gar nicht immer provisorischen) Abkommen. Als Zusätze wurden ein Veterinärabkommen unterschrieben und der Vertrag über den kleinen Grenzverkehr adaptiert.75 Seitens steirischer Stellen war besonders darauf gedrungen worden, die den Doppelbesitzern im engeren Sinn (Grenzlinie durchschneidet direkt das Anwesen) gewährten Erleichterungen auch auf Doppelbesitzer im weiteren Sinn (Besitz innerhalb der Zehn-KilometerGrenzzone, aber nicht direkt an der Grenzlinie) auszudehnen. Gefordert wurden auch die zahlenmäßige Erweiterung der Stellen, wo ein Grenzübertritt mit Passierschein möglich ist, und die Anhebung der Zollfreigrenzen für verschiedene landwirtschaftliche und Bedarfsgüter. Die Steiermärkische Landesregierung trat zudem für die Festlegung einer möglichst breiten Grenzzone auf beiden Seiten ein, um der Grenzbevölkerung das wirtschaftliche Leben zu erleichtern, während Kärnten im Gegenzug – aus Furcht vor einer slowenischen Irredenta im Südteil des Landes – die Grenzzone möglichst schmal festgeschrieben wissen wollte.76

336

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

Die mit 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise zwang Österreich, die Einfuhrzölle auf zahlreiche Erzeugnisse zu erhöhen. Da es ihm nicht gelang, Jugoslawien zu einer Revision des Handelsvertrages zu bewegen, drohte mit Auslaufen des bestehenden Vertrags am 20. Juli 1931 ein vertragsloser Zustand, der Österreichs Exportindustrie schwer getroffen hätte. Schließlich wurde am 19. Juli 1931 ein provisorisches Handelsabkommen geschlossen, das freilich restriktiver war als der Vertrag von 1925.77 Die Interessen der südsteirischen Bevölkerung galten dabei vornehmlich dem kleinen Grenzverkehr und den Zöllen auf Vieh. Am 5. März 1931 fand in Mureck eine von der dortigen Marktgemeinde einberufene Versammlung eines „Arbeitsausschusses für die Regelung des Grenzverkehres“ statt. Anwesend waren Delegierte der politischen Bezirke Radkersburg und Leibnitz sowie der Gemeinden Radkersburg, Mureck, Straß, Spielfeld, Ehrenhausen, Gamlitz, Leibnitz, Leutschach, Arnfels und Eibiswald. In Anbetracht der bevorstehenden Verhandlungen

mit Jugoslawien wurden in einer Resolution einige Änderungen im bestehenden Handelsvertrag, insbesondere des dem Vertrag beigegebenen Übereinkommens über den kleinen Grenzverkehr gefordert: Aufwertung der jugoslawischen Zollämter Oberradkersburg und Obermureck/ Gornji Cmurek, Einbeziehung Marburgs in die Zehn-Kilometer-Grenzzone (zur Erleichterung von Behördenwegen der Doppelbesitzer), Einschränkung der Einfuhr von Schlachtvieh aus Jugoslawien zum Schutz der südsteirischen Fleischhauer, andererseits Erweiterung der zollfreien Einfuhr von Lebendvieh und der Ausfuhr von Gewerbegütern.78 In den Jahren zuvor war es immer wieder zu Konf likten zwischen den Murecker Fleischhauern und der Bevölkerung gekommen: Die Murecker kauften – wegen der hohen Fleischpreise in Österreich, welche den Erwerb von Fleisch laut ihrem Vertreter, Rechtsanwalt Hans König, fast unmöglich machten – ihr Fleisch jenseits der Grenze, wurden dabei aber wiederholt von den österreichischen Zollorganen beanstandet.79

Außenpolitische Orientierung und reichsdeutsche Beeinf lussung In seinen wirtschaftlichen Nöten der ersten Nachkriegsjahre war Österreich auf das Wohlwollen der Großmächte dringend angewiesen, sein außenpolitischer Spielraum somit eingeschränkt. Die am 4. Oktober 1922 in Genf/ Genève unterzeichneten Protokolle bescherten Österreich eine ausländische Finanzspritze, unterstellten seine wirtschaftliche Gebarung jedoch der Kontrolle des Völkerbundes und verordneten rigorose Sparmaßnahmen. Immerhin stabilisierte der strenge Sanierungsplan die österreichische Währung, womit ein Ansatz zu Kreditwürdigkeit geschaffen wurde.80 Die Steiermärkische Landesregierung trat 1921 in Verhandlungen mit ausländischen Banken um die

Gewährung einer Anleihe, welche sich bis 1926 hinzogen. Die miserable wirtschaftliche Lage des Landes ließ nach immer neuen, günstigeren Krediten Ausschau halten.81 Am 15. März 1926 wurde schließlich beschlossen, auf das Angebot des US-amerikanischen Bankhauses Baker, Kellogg & Co. einzugehen und eine Anleihe von fünf Millionen Dollar aufzunehmen. Gemäß einem mit dem Geldgeber akkordierten Investitionsplan wurde das Geld verwendet für eine Beteiligung an den Aktienemissionen der STEWEAG, den Bau der Landesbahn Feldbach–Gleichenberg und von Zufahrtsstraßen, Darlehen für Milchwirtschaftsgenossenschaften und landwirtschaftliche Meliorationen, den Bau

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

einer Lungenheilanstalt auf der Stolzalpe, für Darlehen für die Stadt Graz zum Ausbau ihres Elektrizitätswerkes und für übrige Gemeinden zwecks Förderung produktiver Einrichtungen, ferner für den Ausbau der sogenannten LandesIrrenanstalt Feldhof, für Flussregulierungen und den Ankauf von Obligationen.82 Die geplante Investition in einen neuen Flugplatz in St. Peter bei Graz, in der Fischerau bei Gösting oder in Hart bei Straßgang lehnten die Geldgeber ab. Weil die Anleihe bei verschiedenen steirischen Banken angelegt wurde, um Liquiditätsproblemen aus dem Weg zu gehen oder andere Interessen zu befriedigen, und zwar nach den Interessenslagen der Parteien und persön­ lichen Verf lechtungen der Spitzenpolitiker mit diesen Instituten, wanderte ein Teil der ausländischen Gelder auf zweifelhafte Bankkonten.83 Sowohl Österreich als auch Jugoslawien gelang es im Lauf der Zwanzigerjahre, einen Teil der wirtschaftlichen Verf lechtungen aus der Vorkriegszeit wiederherzustellen; freilich handelte es sich nun nicht mehr um einen einheitlichen Wirtschaftsraum (wie in der Donaumonarchie), sondern um Außenwirtschafts­beziehungen. Diese erreichten unter den Nachfolgestaaten zur Mitte des Jahrzehnts ein beachtliches Niveau,84 Österreich war der größte Handelspartner Jugoslawiens, und die benachbarten Länder Steiermark und Slowenien pf legten auf einigen Gebieten einen regen Warenaustausch. In der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre nahm die wechselseitige Bedeutung Österreichs und Jugoslawiens allerdings ab, und für beide Länder wurde ein neuer Handelspartner immer bedeutender, der schließlich auch die politischen Geschicke der beiden Staaten in zunehmendem Maße bestimmen sollte: das Deutsche Reich.85 Die Provisorische Nationalversammlung hatte am 12. November 1918 Deutschösterreich zu einem Bestandteil der Deutschen Republik erklärt, und der Anschluss blieb bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutsch-

337

Propagandaplakat für die (abgesagte) Anschluss-AbstimStLB mung in der Steiermark vom 3. Juli 1921

land 1933 mit unterschiedlicher Intensität erklärtes Ziel aller Parteien (mit Ausnahme der Kommunisten). Nachdem sich der Anschluss kurzfristig als nicht realisierbar erwiesen hatte und von den Siegermächten in den Verträgen von Versailles und Saint-Germain dezidiert untersagt worden war, setzte – da der Zentralregierung in Wien die Hände gebunden waren – auf Länderebene eine Anschlussagitation ein, welche in Tirol und Salzburg in Volksabstimmungen mündete, die überwältigende Mehrheiten für den Anschluss brachten. Die Steiermärkische Landesregierung beschloss am 31. Mai 1921 die Abhaltung einer derartigen Abstimmung auch in der Steiermark und verursachte damit eine Kabinettskrise: Weil sie fürchtete, die Großmächte würden im Fall einer

338

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

neuerlichen Anschlussbekundung Österreich die Gewährung von Krediten des Völkerbundes verweigern, trat die Regierung Michael Mayrs am 1. Juni zurück. Ein politischer „Kuhhandel“ auf bundespolitischer Ebene zwischen Christlichsozialen und Großdeutschen führte schließlich zum „Verzicht“ der steirischen Landespolitik auf die Durchführung der Abstimmung.86 In den Vorstellungen vieler Österreicher war das Deutsche Reich in geradezu kitschiger Weise idealisiert. Anlässlich des Besuches von Bundeskanzler Schober in Radkersburg zur Eröffnung der neuen Murbrücke 1930 wurde dem Regierungschef eine Denkschrift überreicht, in welcher vor einer durch ständige Grundstücksankäufe von Jugoslawen drohenden „Slawisierung“ Radkersburgs gewarnt und betont wurde, der Gefahr könne nur durch einen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich Abhilfe geschaffen werden. Nach dem Anschluss würde Radkersburg einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung erleben und zum „Bremen des Südostens“ (!) aufsteigen.87 In den folgenden Jahren zeigte sich jedoch, dass gerade die prononciertest deutschnationalen Kräfte Österreichs nicht nur im Reich, sondern auch in Jugoslawien (mehr oder weniger offene) Sympathien genossen. Nachdem der Putschversuch des Heimwehr-Bundesführers Walter Pfrimer am 12./13. September 1931 gescheitert war, f lüchtete Pfrimer mit Unterstützung des ihm befreundeten Grafen Barthold Stürgkh bei Mureck über die Grenze und begab sich zu seinen Verwandten in Marburg; von dort reiste er unbehelligt nach München, wo er Verbindung zu Funktionären der NSDAP aufnahm, ehe er sich Mitte Dezember 1931 in Graz einem Hochverratsprozess stellte, in welchem er – wie seine Mitangeklagten – freigesprochen wurde.88 Die erwähnte wirtschaftspolitische Hinwendung zum Deutschen Reich hatte für Österreich wie für Jugoslawien eine zunehmende ökonomische Abhängigkeit und seit der

„Machtergreifung“ Adolf Hitlers eine immer stärkere politisch-ideologische Einf lussnahme zur Folge,89 was sich auch auf die Beziehungen der Steiermark zu Jugoslawien auswirkte. Das seit März 1933 zunehmend autoritär regierende Kabinett Engelbert Dollfuß’ vermutete – nicht zu Unrecht – österreichfeindliche Agitatoren in deutschlandfreundlichen Kreisen Jugoslawiens. Die österreichischen Behörden wurden von ihren Berichterstattern mit Unmengen an Informationen über nationalsozialistische Propagandazentren insbesondere in Slowenien versorgt. Der österreichische Konsul in Laibach, Heinrich Graf Orsini-Rosenberg, ortete die dem Deutschen Reich freundlich gesinnten politischen Kräfte vor allem im liberalen slowenischen Lager und im Schwäbisch-deutschen Kulturbund, während die slowenischen Klerikalen eher zu den Dollfuß-Sympathisanten gezählt wurden.90 Im März 1934 führte der aus Kärnten ausgewiesene NSDAP-Gauleiter, Hans Kothen, mit Wissen des jugoslawischen Innenministeriums und von Rudolf Heß von Tarvis/ Tarvisio aus Geheimverhandlungen über den Anschluss: Jugoslawien sollte den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich unterstützen und dem Reich einen Korridor nach Triest verschaffen, dafür sollte es die ehemalige Abstimmungszone A in Kärnten und diplomatische Unterstützung des Reiches bei der Gewinnung von Fiume/Rijeka bekommen.91 Der nationalsozialistische Putschversuch vom 25. Juli 1934 belastete das österreichischjugoslawische Verhältnis nachhaltig. Nach dem Mord an Bundeskanzler Engelbert Dollfuß erhielt der österreichische Botschafter in Belgrad Beileidskundgebungen von einer Reihe von Diplomaten, aber kein Kondolenzschreiben des jugoslawischen Außenministeriums – angeblich wegen eines formalen Versehens. Die folgenden Monate sollten aber zeigen, dass der „Protokollfehler“ tiefere Wurzeln hatte. Bereits am 26. Juli setzten sich NS-Putschisten über die Radkers-

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

burger Murbrücke nach Jugoslawien ab; die größte Gruppe trat in den frühen Morgenstunden des 30. Juli aus dem Kärntner Lavanttal, einem der Zentren der Kämpfe zwischen Bundesheer und Aufständischen, über Lavamünd auf jugoslawisches Gebiet über.92 Die aus Österreich gef lüchteten Nationalsozialisten – ihre Zahl wird auf über 2.000 geschätzt – wurden zum Großteil in drei Lagern in Slawonien untergebracht, ein Teil kam bei Verwandten oder Bekannten unter. Die jugoslawischen Behörden machten freilich keine Anstalten, die Putschisten an Österreich auszuliefern, im Gegenteil: Zwecks „Beratung“ der Flüchtlinge im Sinne des Regimes im Deutschen Reich wurde der ebenfalls gef lüchtete Konstantin Kammerhofer, ehemaliger Führer des Steirischen Heimatschutzes, am 24. August 1934 als „Zentralleiter“ der Flüchtlingslager eingesetzt. Nach Differenzen mit den Lagerinsassen über seinen Führungsstil wurde Kammerhofer am 21. September von den Flüchtlingen abgesetzt, aber auf Befehl der Parteileitung der NSDAP nach einem Monat wieder mit der Führung betraut.93 Kammerhofer war es schließlich auch, der die Reise der Gef lüchteten nach Deutschland leitete. Am 28. November 1934 wurde der Großteil der Flüchtlinge in Sušak auf zwei reichsdeutsche Dampfer eingeschifft. Über die Adria und das westliche Mittelmeer ging die Reise in den Atlantik und die Nordsee, ehe die Schiffe am 8. Dezember 1934 in Bremerhaven einliefen. Ein Teil der in das Deutsche Reich „heimgekehrten“ Flüchtlinge trat in die Österreichische Legion ein, die beim Einmarsch der Deutschen Wehrmacht im März 1938 eine Vorreiterrolle spielte; Konstantin Kammerhofer erhielt in der Legion eine führende Position.94 Etliche Nachrichten über das außenpolitische Verhalten Jugoslawiens während des gescheiterten Putsches vom Juli 1934 und in den Monaten danach trugen dazu bei, die Stimmung in Österreich gegenüber seinem südöstlichen Nachbarn

339

negativ zu beeinf lussen. Die Bundespolizei­ direktion Wien meldete, der jugoslawische Ministerrat habe am 26. Juli 1934 beschlossen, im Falle des Vorrückens ausländischer Streitkräfte nach Österreich unverzüglich Südkärnten zu besetzen; diese Meldung ist allerdings „fragwürdig“. Belgrad protestierte aber in Paris und in Berlin gegen das Vorrücken italienischer Militäreinheiten an die italienisch-österreichische Grenze. Die Belgrader Zeitung Politika dementierte, dass an der Grenze zu Österreich Truppen zusammengezogen worden seien; die jugoslawische Regierung habe „lediglich der Aufnahme gef lüchteter österreichischer Nationalsozialisten zugestimmt, diese aber nicht bei ihrem Putsch unterstützt“95. Derartigen Beteuerungen standen österreichische Stellen freilich skeptisch gegenüber. Während der gesamten vier Monate des Aufenthaltes der österreichischen NS-Flüchtlinge in Jugoslawien gab es Gerüchte, diese würden einen bewaffneten Einfall in Österreich planen. Auch der Sicherheitsdirektor für Steiermark sandte diesbezügliche Berichte an das Bundeskanzleramt, nämlich am 7. und 26. September sowie am 17. Oktober 1934.96 Trotz der Einparteienherrschaft der Vaterländischen Front wurde das österreichische Staatswesen auch nach dem Juli 1934 nationalsozialistisch unterwandert – durchaus zur Freude Jugoslawiens, das lange Jahre eine Restauration der Habsburger in Österreich gefürchtet und nun für seinen nordwestlichen Nachbarn in erster Linie Verachtung übrig hatte.97 Dass es unter derartigen Umständen weder auf gesamtstaatlicher noch auf regionaler Ebene zu einer engen Zusammenarbeit kam, welche im Abschluss dauerhafter Vertragswerke ihren Ausdruck gefunden hätte, ist nicht weiter verwunderlich, vielmehr beherrschte ein gegenseitiges misstrauisches Beäugen die zwischenstaatliche Politik. „Österreich gehört zu Deutschland, Kärnten gehört zu Jugoslawien“ lautete der Wahlspruch jugoslawischer Revisionisten – spätestens im

340

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

April 1941 sollte er sich allerdings als krasse Fehleinschätzung herausstellen.98 Als Österreich im März 1938 tatsächlich an das Deutsche Reich angeschlossen wurde, wurde diese Entwicklung vom offiziellen Jugoslawien begrüßt, wenn sich auch dessen Hoffnungen auf einen Gewinn Südkärntens nicht erfüllten. Sichtbarer Ausdruck der neuen Nachbarschaft in einer vermeintlich besseren neuen Zeit war ein gemeinsames Defilee von Truppen der Deutschen Wehrmacht und der jugoslawischen Armee auf der Murbrücke in Radkersburg am 22. März 1938.99 In der nun dem Reich einverleibten steirischen Bevölkerung hatte der „Anschluss“

ein gewichtiges psychologisches Moment, das auch mit den Beziehungen zum südlichen Nachbarn zusammenhing. Durch den Zerfall Österreich-Ungarns und die Grenzziehung mitten durch das alte Kronland hatte die deutschsteirische Bevölkerung ein zweifaches Trauma erlebt: Man wurde von einer Großmacht zu einem Kleinstaat, den man für nicht lebensfähig hielt, und zu einem Grenzland. Der „Anschluss“ 1938 überwand – wie in ganz Österreich – das erste Trauma; mit der Angliederung der Untersteiermark 1941 glaubten weite Kreise, auch das zweite bewältigt zu haben, was sich jedoch als fataler Irrtum erweisen sollte.100

Anmerkungen Dieser Beitrag wurde im Jahr 2008 abgeschlossen. Vgl. Luschin-Ebengreuth, Zerreißung der Steiermark 66–69. 2 Der langjährige steirische Landeshauptmann Anton Rintelen behauptete in seinen Erinnerungen, sich für die Aufteilung Deutsch-Westungarns zwischen Niederösterreich und der Steiermark stark gemacht zu haben. Vgl. Rintelen, Erinnerungen 75. 3 Vgl. Desput, Steiermark und der Anschluß des Burgenlandes 425–444; Seedoch, Angliederung des Burgenlandes 603–613; Schlag, Burgenland 1918– 1921; Kerekes, Von St. Germain bis Genf. 4 Vgl. Moser, Landtag 23–27. 5 Vgl. Pernthaler, Staatsgründungsakte 19–33; Hinteregger, Steiermark 1918/19 66–114. 6 Vgl. Moser, Landtag 34–35; Hörting, Föderalismus in Österreich 130f.; Ranacher, Außenpolitik der Steiermark 19f. 7 Polaschek, Föderalismus in der Verfassung 168. 8 Polaschek, Föderalismus in der Verfassung 167. 9 Pokrajinski arhiv Maribor / Regionalarchiv Marburg, Narodni svet za Štajersko / Nationalrat für Steiermark, mapa / Mappe 1, Dok. 180; Marburger Zeitung (10. 11. 1918), 3; vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1088f. 10 Vgl. Karner, Abtrennung der Untersteiermark 273f. 11 Vgl. Weber, Versorgung der Steiermark 118–137. 12 Vgl. Karner, Abtrennung der Untersteiermark 276–278; Karner, Österreichs Handel 195; Karner, *

1

13

14 15 16

17

18

19 20

21

22 23 24

25 26

Steiermark in der österreichischen Wirtschaft 533; Suppan, Jugoslawien und Österreich 1090f. Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1093– 1095. Karner, Wendepunkt 114–116, Zitat 115. Vgl. Karner, Wendepunkt 116f. Vgl. Karner, Steiermark in der österreichischen Wirtschaft 531 und 533. Vgl. Reimann, Deutsch-Untersteirer als Minderheit 187–190. StLA, Statthalterei-Präsidium (Statth.-Präs.), Nationalpolitische Abteilung (Nat.-pol. Abt.), E10316/1919, E103-144/1919, E103-501/1919, A5b2/1919, A5b-8/1919, A5b-13/1919, A5b-57/1919, A5b-116/1920. Die Lage der Stadt Radkersburg und darüber hinaus des unteren Murtales beschreibt äußerst detailreich Kurahs, Entwicklung der Stadt Radkersburg. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-263/1920. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-556/1919, bes. Blatt 141–143. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-556/1919, Blatt 144–149 und 286. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-372/1921. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-372/1921. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-372/1921 und A5b-78/1922. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-556/1919. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-49/1921 und A5b-372/1921.

Reimann / Nachbarschaft wider Willen 27

28 29 30 31 32 33 34 35

36

37

38

39

40

41 42 43 44 45 46 47 48 49

50

51 52

53

54

55

StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-49/1921 und A5b-61/1921. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-40/1923. Vgl. Haberl-Zemljič, Die fünf Dörfer 93. StLA, Landesregierung (LReg), 13 Ba 5/1927. StLA, LReg, 13 Pa 4/1927. StLA, LReg, 13 G 89/1931. Vgl. Dienes, Zäsur 347f. Vgl. Gorke, Anton Rintelen (2002), 126f. Vgl. Rintelen, Erinnerungen 225; Pferschy, Steiermark 955. StLA, LReg, Regierungssitzungsprotokolle, Sitzung vom 23. März 1926. Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 662–667 und 690–700; Suppan, Zur Lage der Deutschen 171–240; Cvirn, Nemci na Slovenskem 53–98 (bes. 62–84); Reimann, Slowenen und ihre deutsche Minderheit 126–151; Ferenc/Repe, Nemška manjšina v Sloveniji 147–160 [Der Beitrag erschien auf 161–176 unter dem Titel „Die deutsche Minderheit in Slowenien in der Zwischenkriegszeit“ in deutscher Übersetzung. Die zum Teil haarsträubenden Übersetzungsfehler lassen jedoch zur Lektüre des slowenischen Ursprungstextes raten]. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-53/1919, A5b-568/1919, A5b, Beilagen I. und II. Teil (1923). StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-149/1919; vgl. Promitzer/Petrowitsch, Slowenen in Graz 201, 204–207. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-52/1925; LReg, 13, A4/1926, G1/1926 und R9/1926. StLA, LReg, 13 L 8/1926. StLA, LReg, 13 Ge 2/1926. StLA, LReg, 13 M 4/1926. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-522/1919. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-15/1924. Vgl. Haberl-Zemljič, Die fünf Dörfer 149. Vgl. Jesih, Odnos 229; Stergar, Odmevi 252. Vgl. Promitzer, Ideal 159–161. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-100/1921, A5b-241/1921; StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., Länder-Zentralbüro, A5b-309/1920. Beispielsweise StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-13/1920. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-15/1921. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., Länder-Zentralbüro, A5b-220/1920, A5b-305/1920. Vgl. Staudinger, Von der Mehrheit zur Minderheit 99f. Staudinger, Von der Mehrheit zur Minderheit 103f. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., Länder-Zen-

56

57

58

59

60

61 62 63

64 65 66

67

68 69 70 71

72 73

74

75

341

tralbüro, A5b-207/1921; vgl. Staudinger, Von der Mehrheit zur Minderheit 104–106. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1009f. (Zitat 1009). StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-349/1920, A5b-140/1924, A10d16-346/1920, A10d16354/1920, A10d16-100/1923; vgl. Haberl-Zemljič, Die fünf Dörfer 107–116; Promitzer, Verlorene Brüder 251–253. Vgl. Staudinger, Von der Mehrheit zur Minderheit 97. Beispielsweise StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-340/1920, A5b-204/1921, A10d16/1922. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A10d16244/1922. StLA, LReg, 13 F 3/1926, Ge5/1934. Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 379–387. StLA, LReg, 13 Ge 5/1934. Der Zwischenfall vom 25. April 1929 wurde nach dem Zweiten Weltkrieg im kommunistischen Jugoslawien zu einer „revo­ lutionären Heldentat“ hochgespielt. Anlässlich der fünfzigsten Wiederkehr des Ereignisses wurde im April 1979 in Heiligengeist ein Gedenkstein für Djaković und Hečimović enthüllt, ein neuer Gebäudekomplex mit Postamt, Gemischtwarenhandlung und Gasthaus wurde eröffnet. Um die Staatsgäste aus Belgrad zum Ort der Feierlichkeiten befördern zu können, musste die Straße aus dem Drautal nach Heiligengeist erweitert werden; der bereits gesundheitlich angegriffene Staatschef Josip Broz Tito konnte aber schließlich nicht kommen. Službene novine / Amtsblatt 146a/1923. StLA, LReg, 13 L 8/1926, D9/1929. Vgl. Cvirn, Nemci na Slovenskem 94 (einschl. Anm. 192); Biber, Nacizem 120–123. Vgl. Rásky, Die außenpolitischen Beziehungen 657f. Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 358–362. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-53/1923. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-53/1923. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-5/1924; vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1104– 1112. StLA, LReg, 13, R1/1937. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-5/1924, A5b-132/1924; vgl. Karner, Sonderabkommen 175–190. StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., A5b-147/1923, A5b-149/1923, A5b-5/1924; StLA, Statth.-Präs., Nat.-pol. Abt., Länder-Zentralbüro, A5b-87/1921. Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1116 und 1122; Lazarević, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit 141f.

342 76 77

78 79 80

81

82

83

84 85

86

87 88

89

Reimann / Nachbarschaft wider Willen

StLA, LReg, 13 Ge 2/1936. Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1123– 1125. StLA, LReg 13 L 21/1931. StLA, LReg 13 M 6/1926. Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 169–171 und 1044–1046. In den Protokollen der Sitzungen der Landesregierung taucht die Debatte um die Anleiheverhandlungen von Oktober 1921 bis Juni 1926 in unregelmäßigen Abständen auf. StLA, LReg, Regierungssitzungsprotokolle, Sitzungen 15. März 1926 und 7. April 1926 (Beilage). Vgl. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 185. Vgl. Karner/Kubin, „Mitteleuropa“ 153–185. Vgl. Lazarević, Die wirtschaftliche Zusammenarbeit 143–146; Karner, Österreichs Handel 197–199. Vgl. Hinteregger, Anschlußagitation 269–273; Desput, Politische An­schlußagitation 15–20; Ableitinger, „Deutschlandkomplex“ 173–198. Vgl. Scala, Wirtschaftskrise 11. Vgl. Hofmann, Pfrimer-Putsch 75f., 83–85, 90; Wiltschegg, Heimwehr 179f.; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 142. Vgl. Karner, Steiermark in der österreichischen Wirtschaft 540f.; Pauley, Hahnenschwanz und Hakenkreuz 152f. und 168. – Vgl. auch: Bauer, Elementarereignis 108: „Am 19. August 1934 hieß es in einer Mitteilung der Polizeiexpositur Spielfeld: ,In Marburg wird noch immer fast täglich ein Bahnwagen mit nationalsozialistischen Flüchtlingen aus Österreich gesammelt und nach Varasdin abgefertig. Diese Leute kommen teils aus Kärnten, teils aus Steiermark und überschreiten die Grenze über Weingärten, Wälder und auch über die Mur. Kommandant des Lagers Varasdin ist angeblich Gend.-

Obstlt. August Meyszner. Die Kosten der Verpf legung werden durch Sammlungen in Jugoslawien und Spenden aus dem Deutschen Reich und aus Österreich aufgebracht. In den Lagern wird täglich exerziert.‘“ Sowie 110: „Ummittelbare Auswirkungen auf die Aufständischen hatte der Erlass Hitlers, die deutsche Grenze gegen Österreich in beiden Richtungen zu sperren, Waffenlieferungen nach Österreich zu unterbinden, Legionäre, die nach Österreich einmarschieren wollten, zu verhaften und aus Österreich kommende nationalsozialistische Flüchtlinge in der Festung Landsberg in ,Ehrenhaft‘ zu nehmen.“ 90 Vgl. Nećak, Legion 13–24; Biber, Nacizem 44, 51f.; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 39 und 482, Anm. 50. 91 Vgl. Jagschitz, Putsch 150. 92 Vgl. Nećak, Legion 25–33; Jagschitz, Putsch 154 und 156. 93 Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 93; Jagschitz, Putsch 156; Nećak, Legion 36, 41, 64 und 95–104; Biber, Nacizem 52; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 158f. 94 Vgl. Nećak, Legion 162–169. 95 Suppan, Jugoslawien und Österreich 207 und 421– 437 (Zitat 207). 96 Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 207, Anm. 175; Jagschitz, Putsch 189; Nećak, Legion 94 (einschl. Anm. 178). 97 Vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 39 und 482. 98 Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 986–990. 99 Vgl. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1215– 1222; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 54. 100 Vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 465f.

Heimo Halbrainer

Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 *

Vorbemerkungen Am 17. Juli 1936 unternahmen die Generäle unter Francisco Franco de Bahamonde von Spanisch-Marokko aus einen Putsch gegen die im Februar 1936 gewählte spanische Volksfront­ regierung,1 der vorerst scheiterte. Erst nach ­einem dreijährigen Bürgerkrieg und mit Unterstützung des faschistischen Italien und des nationalsozialistischen Deutschland gelang es den Putschisten, die republikanischen Truppen, die von über 35.000 Freiwilligen aus über 50 Ländern unterstützt wurden 2 – unter ihnen so bekannte Personen wie George Orwell, Arthur Köstler oder Octavio Paz, – zu besiegen. Eine gemessen an der Einwohnerzahl sehr große Gruppe unter diesen Freiwilligen bildeten die rund 1.350 Österreicher und Österreicherinnen, darunter auch rund 160 Steirer und

zwei Steirerinnen. Damit stellte die Steiermark mit rund 12 Prozent nach Wien, von wo rund die Hälfte aller österreichischen Spanienkämpfer kamen, und Niederösterreich mit zirka 15 Prozent noch vor Oberösterreich die drittgrößte Ländergruppe, die auf der Seite der Republik in Spanien kämpfte.3 Basierend auf den Daten des vom ehemaligen Spanienkämpfer Hans Landauer (in Spanien Hans Operschall) im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) aufgebauten Spanienkämpferarchivs und dem ­Lexikon der Spanienkämpfer4 wird der Frage nachgegangen, wer die steirischen Interbri­ gadisten waren und welche Folgen ihr Einsatz auf Seite der spanischen Republik für sie ­hatte.

Sozialstruktur der steirischen Spanienkämpfer und -kämpferinnen Die soziale Herkunft der steirischen Spanienkämpfer lässt sich – wie schon für Österreich von Hans Safrian festgestellt 5 – dahingehend charakterisieren, dass der überwiegende Teil Arbeiter waren. Einige wenige waren Angestellte, zwei – Hubert Schwarzbeck und Ferdinand Bilger6 – waren Akademiker. Sozialisiert

wurden sie in den Zentren der steirischen Arbeiterbewegung, in Graz und den damaligen Vororten bzw. Umgebungsgemeinden Eggenberg, Gösting, Andritz, Puntigam,7 Kalsdorf, Gratkorn, in den obersteirischen Industrieorten Bruck an der Mur, Kapfenberg, Pernegg, Mürzzuschlag, Knittelfeld, Fohnsdorf, Vordernberg,

344

Halbrainer / Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg

Eisenerz und Leoben, die auch die Schauplätze der Februarkämpfe 1934 waren.8 Soweit Angaben darüber vorliegen, waren die steirischen Spanienkämpfer zumeist Mitglieder in der Sozialdemokratischen Partei bzw. deren Vorfeldorganisationen (Kinderfreunde, Rote Falken, Sozialistische Arbeiterjugend). Einige waren auch Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes gewesen. Nur in ganz wenigen Fällen waren sie vor dem Februar 1934 Mitglied einer anderen Arbeiterpartei bzw. Organisation, wie z. B. dem anarchistischen „Bund herrschaftsloser Sozialisten“,9 dem Hubert Schwarzbeck angehörte, bzw. der Kommunistischen Partei oder dem Kommunistischen Ju-

gendverband (KJV), dessen Mitglied etwa Josef Martin Presterl war. Betrachtet man die Altersstruktur der steirischen Spanienkämpfer, so zeigt sich, dass ein Großteil von ihnen so jung war, dass sie keine militärische Ausbildung haben konnten. Nur zehn Prozent der Steirer waren vor 1900 geboren, was heißt, dass sie möglicherweise als Soldaten am Ersten Weltkrieg teilgenommen haben. Bei Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 waren 72 Prozent unter 30 Jahre alt, acht Prozent davon waren 20 Jahre und jünger. Die größte Gruppe waren die 21–25jährigen ( Jahrgänge 1911–1915) mit 35 Prozent.

Wege nach Spanien Als die Nachricht vom Putsch der Generäle Österreich erreichte, riefen die Vertreter der seit 1933/34 illegalen Arbeiterparteien (Sozial­ demokraten, Revolutionäre Sozialisten bzw. Kommunisten) und der illegalen „Freien Gewerkschaften“ sofort zur Solidarität mit dem republikanischen Spanien auf. Dabei dachten sie vorerst weniger daran, Freiwillige nach Spanien zu schicken, als vielmehr an materielle und propagandistische Unterstützung.10 Doch schon bald wurden die illegalen Parteien von der spontanen Bereitschaft ihrer Mitglieder bzw. Sympathisanten, die der Republik zur Hilfe eilen wollten, „überrollt“, sodass ab Herbst 1936 – am 22. Oktober wurden die Internationalen Brigaden gegründet – über die „Rote Hilfe“ der KPÖ in Wien die Ausreise nach Spanien zentral

geregelt wurde.11 Dabei erhielten die Freiwilligen das nötige Geld für die Bahnkarte nach Paris, eine Kontaktadresse in Basel und eine Meldeadresse in Paris. Wer keinen gültigen Reisepass hatte, wurde illegal über die Grenze gebracht. Durch das Ausheben der zentralen Ausreiseorganisation im März 1937 bzw. der illegalen Grenzübertrittsorganisation bis Ende 1937 kam es zum Erliegen der organisierten Schleusung von Freiwilligen nach Spanien. Bereits im Februar 1937 wurden in Graz mehrere Personen festgenommen, die Freiwillige für Spanien anwarben bzw. die nach Spanien fahren wollten.12 Einige wenige kamen noch 1938 ohne Unterstützung nach Spanien.

Halbrainer / Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg

345

Die ersten Freiwilligen Noch bevor die illegalen österreichischen Arbeiterparteien die Ausreise nach Spanien finanziell und logistisch unterstützten, fuhren zwei Gruppen – Fohnsdorfer und Grazer – im August bzw. September 1936 auf eigene Faust nach Spanien. Zu den Fohnsdorfern gehörten die Bergmänner Otto Blatnik, Heinrich Griesmaier, Josef Kaltenegger, Adolf Moser, Raimund Trolp und Gottfried Vallant. Sie kämpften – da es zu diesem Zeitpunkt noch keine Internationalen Brigaden gab – zuerst in Asturien und, nachdem Irún gefallen war, in Katalonien bei den Regierungstruppen mit. Während Trolp noch 1936 bei der Verteidigung von Madrid fiel und Griesmaier in spanische Gefangenschaft

geriet und 1941 an Typhus starb,13 kehrten Kaltenegger und Blatnik 1937 und Moser 1939 nach Fohnsdorf zurück.14 Teilweise mit dem Fahrrad fuhren von Graz-Puntigam im September 1936 Konrad Antloga, Franz Maizan, Franz Ortner und Wilhelm Oswald über Oberitalien und die französische Mittelmeerküste nach Spanien, wie dies aus einem von der österreichischen Exekutive abgefangenen Brief vom 25. Oktober 1936 an die Eltern Franz Maizans hervorgeht, wo es neben der Todesnachricht heißt: Kleider von Wert sind keine vorhanden, sein Fahrrad steht in Italien Ventimiglia.15

Steirische Februarkämpfer aus der Sowjetunion Rund ein Achtel aller österreichischen Freiwilligen kam aus der Sowjetunion nach Spanien,16 darunter auch 16 Steirer, die nach den Februarkämpfen 1934 in die Sowjetunion gef lohen

waren und in Moskau/Moskwa, Leningrad oder Charkow als Facharbeiter arbeiteten. Einige, wie die Pernegger Brüder Erich und Josef Hubmann, der Kapfenberger Viktor Lenhart und der aus

Die Fliegerabwehrbatterie (Flak) der Internationalen Brigaden, unter anderen die Österreicher Franz Auer, Ferdinand Berger (Steirer), Rudolf Berger, Ferdinand Binder, Josef Dichpol, Otto Fojtik, Franz Frisch, Alfred Hammerl, Leopold Jansa, Paul Jellinek, Hans Junghofer, Karl Klein, Johann Krainz (Steirer), Heinrich Maschek, Franz Rossmann (Steirer), Otto Rusch, Max Suppanz, Josef Wurmbeck, Josef Wewerka, Richard Zdolsek, Hans Lang, Karl Moser, Alfred Klahr Gesellschaft Johann Rührl, Hans Griebaum

346

Halbrainer / Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg

Thörl stammende Franz Berger, waren in den Sommermonaten im Kaukasus-Gebiet führend beim Auf bau der sowjetischen Alpinistik tätig, wo sie Erstbesteigungen durchführten und für den Pik Schutzbundowez namensgebend waren. Die meisten der aus der Sowjetunion kommenden Steirer gelangten erst verhältnismäßig spät – im Frühjahr bzw. Sommer 1937 – nach Spanien, was unter anderem daran lag, dass sich die Sowjetunion längere Zeit an die Spielregeln

der Nichteinmischung hielt. Erst als immer deutlicher wurde, dass neben Deutschland und Italien auch Portugal und amerikanische Öllieferfirmen sich nicht daran hielten, kam auch aus der Sowjetunion Hilfe für die Republik – auch in Form von Freiwilligen. Diese Steirer erhielten – bevor sie über Schwarzmeerhäfen nach Spanien abreisten – eine mehrwöchige militärische Schulung und waren damit mehr oder weniger die einzigen Steirer, die über eine militärische Ausbildung verfügten.

Steirer in Spanien Die ersten noch im Sommer 1936 nach Spanien gekommenen Österreicher, unter ihnen die bereits erwähnten Fohnsdorfer, kämpften vorerst in der in Barcelona vorwiegend von Deutschen gebildete Centuria Thälmann innerhalb der katalanischen UGT-Miliz.17 Nach der offiziellen Gründung der Internationalen Brigaden wurden die in Spanien Ankommenden nach Albacete gebracht, wo sie eine kurze militärische Schulung erhielten und der XI. bzw. der XII. Brigade zugeteilt wurden. Nach einigen Reorganisationen wurden die deutschsprachigen, skandinavischen und holländischen Interbrigadisten in der XI. Brigade gesammelt, die ab Juni 1937 aus vier Bataillonen, darunter dem österreichischen „12. Februar 1934“-Bataillon, bestand, wo auch ein Großteil der steirischen Freiwilligen kämpfte.18 Diese waren 1936 und Anfang 1937 in Madrid, am Jarama-Fluss und bei Guadalajara im Einsatz, wo sie italienische Truppen schlugen und wo unter anderem der am 18. Februar 1934 in Selzthal gemeinsam mit Koloman Wallisch verhaftete Walter Zuleger sein Leben verlor. Die Kampfplätze, auf denen Steirer in den folgenden Monaten zu finden waren, sind jene, wo der Großteil der Österreicher kämpfte: um Brunete, bei der Offensive

auf Turuel und schließlich am Ebro, wo in der Nacht vom 24. auf den 25. Juli 1938 die letzte große Offensive gestartet wurde. Insgesamt verloren bei diesen Kämpfen mindestens 23 Steirer ihr Leben,19 von annähernd gleich vielen ist das weitere Schicksal nicht bekannt. Nachdem am 23. September 1938 der republikanische Ministerpräsident Juan Negrín vor dem Völkerbund den Abzug der Internationalen Brigaden – zu diesem Zeitpunkt über 12.000 Personen – als Vorbedingung dafür verkündet hatte, dass auch Franco auf die Hilfe der faschistischen Verbündeten Deutschland und Italien verzichten würde, wurden die Internationalen Brigaden am 15. November in Barcelona verabschiedet. Während tausende Mitglieder der Interbrigadisten in ihre Herkunftsländer zurückkehrten, war dies etwa für die Österreicher, deren Land seit März 1938 nicht mehr existierte, nicht möglich. Als Franco am 24. Dezember 1938 seine Offensive gegen Katalonien startete, meldeten sich die bereits verabschiedeten Steirer gemeinsam mit anderen – unter ihnen auch Deutsche, Italiener, Polen, Jugoslawen, Ungarn und Tschechen – zum sogenannten „Zweiten Einsatz“.20 In La Bisbal wurden rasch neun Kom-

Halbrainer / Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg

347

Österreichische Lagermusik im Lager Gurs, 1939. 2. Reihe v.l.n.r.: Karl Galbawy, Fritz Zahradka, Otto Linhardt, Fritz Weissenbeck (Steirer), Eduard Buchgraber; 1. Reihe v.l.n.r.: Max Kurnik, Erich und Josef Hubmann (Steirer) DÖW

panien zu je fünfzig Mann zusammengestellt, die am 23. Jänner 1939 in Richtung Barcelona marschierten, wo der Vormarsch der FrancoTruppen jedoch nur mehr ein wenig verzögert werden konnte und wo der Brucker Friedrich

Schweiger als letzter Österreicher Ende Jänner 1939 fiel. Da der Vormarsch nicht mehr gestoppt werden konnte, zogen die restlichen Interbrigadisten zur Grenze, wo sie von den Franzosen in Lager interniert wurden.

Steirerinnen in Spanien Neben den steirischen Interbrigadisten gab es auch zwei Steirerinnen, von denen überliefert ist, dass sie längere Zeit in Spanien auf der Seite der Republik als Krankenschwestern gewirkt haben. Die aus Graz stammende Theresia

Ortner war im Dezember 1936 gemeinsam mit den beiden Kindern Erna und Erwin ihrem bereits seit September 1936 in Spanien kämpfenden Mann Franz Ortner gefolgt. Nach dem Fall der Republik wurde sie mit den Kindern

348

Halbrainer / Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg

unter anderem in den französischen Lagern Saint-Zacharie und Gurs festgehalten, ehe sie 1941 nach Graz zurückkehren konnte.21 Im Mai 1937 fuhr die Grazerin Liselotte „Goldy“ Matthèy,22 die am Zentralröntgen­ institut bzw. dem Hygiene-Institut des Landeskrankenhauses Graz gearbeitet hatte, gemeinsam mit ihrem Cousin, dem Chemiker Dr. Ferdinand Bilger mit der Bahn nach Paris. Über ihren Beschluss, nach Spanien zu gehen, berichtete sie 1984: Mitte 1937 war es ganz klar, dass in Spanien die Entscheidung fallen würde, und die, die gegen den Faschismus waren, mussten dorthin. Ich war zwar nie in einer Partei, aber ich bin mit der kommunistischen Jugend nach Spanien gefahren. Die Internationalen Brigaden, die dort zusammenkamen, waren ja auch so eine Art „Brüdergemeinde“ – es war schon eine Masse, aber jeder mit seinem Einzelschicksal. Das war eine wichtige ­Erfahrung, die man nur damals machen konnte – alle zusammen in internationaler Solidarität. Die ganze Zeit in Spanien war bestimmt durch dieses gute Gefühl, konform mit seinen Idealen zu sein, auf der

richtigen Seite zu stehen und etwas dafür zu tun. Goldy Matthèys Freundin, die Frau von Dr. Ferdinand Bilger, Maria, wollte ebenfalls nach Spanien gehen, doch wurde sie – da sie keine medizinische Ausbildung hatte – abgelehnt. Der Versuch, illegal über die Grenzen zu kommen, scheiterte zweimal.23 Matthèy arbeitete vorerst in Albacete als Röntgenassistentin, wo sie wieder auf ihren Cousin und den aus Graz stammenden und in Wien tätigen Arzt Dr. Walter Fischer traf. Als das zentrale Spital auf Grund des Vormarsches von Francos Truppen geräumt werden musste, übersiedelte sie in die nordspanische Stadt Vic, wo sie bis Ende Februar 1939 blieb, ehe sie nach Frankreich ging. Hier wurde sie – wie auch Therese Ortner – im Lager Saint-Zacharie interniert. Im Mai 1939 konnte sie zu ihrem Bruder, der in der Schweiz lebte, ausreisen, wo sie den aus Graz in die Schweiz gef lohenen Arzt Paul Parin kennen lernte, mit dem sie und ihr Bruder August im September 1944 nach Jugoslawien gingen, um in den Reihen der Partisanen der jugoslawischen Befreiungsarmee gegen die deutschen Besatzer zu kämpfen.24

Nach der Niederlage Ein Teil der aus der Sowjetunion nach Spanien gekommenen Steirer wurde – wie etwa Franz Berger – noch vor der endgültigen Niederlage der spanischen Republik in den ersten Februartagen 1939 wieder in die Sowjetunion ausgef logen. Die anderen kamen gemeinsam mit den vom „Zweiten Einsatz“ Zurückgekehrten vorerst in die Lager Argelès-sur-Mer und SaintCyprien. Hier erhielten auch jene Steirer, die seinerzeit in der Sowjetunion ihre Angehörigen zurückgelassen hatten, bzw. die Schwerkriegsgeschädigten Reisepapiere und konnten in die

Sowjetunion ausreisen. Nach dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Juni 1941 meldeten sich mehrere der aus Spanien zurückgekehrten Steirer für Einsätze als Kundschafter bzw. Partisanen hinter den deutschen Linien. Bei einem solchen Einsatz sprang Franz Berger 1942 in den Tod. Der Kapfenberger Herbert Lenhart, dessen Bruder Viktor in Spanien gefallen war, starb als Partisan in der Slowakei 1944. Am 26. August 1944 starben mehrere Spanienkämpfer, unter ihnen auch der Grazer Ernst Fürbass, beim Versuch, mit dem

Halbrainer / Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg

Flugzeug nach Jugoslawien zu gelangen, um von dort aus in die Steiermark zu gehen. Die anderen in Slowenien gelandeten Spanienkämpfer kämpften ab September 1944 als „Kampfgruppe Steiermark“ auf der Sau- und Koralm bzw. im Kärntner und steirisch-slowenischen Grenzgebiet.25 Dabei fielen zwei Spanier sowie der Brucker Karl Sattler im Kampf, der Wiener Leo Engelmann wurde am 1. April 1945 in St. Oswald in Freiland gemeinsam mit anderen „Koralm-Partisanen“ festgenommen und von RAD-Angehörigen ermordet. Sowohl Sattler als auch Engelmann und die anderen auf der Koralm tätigen Partisanen waren aus dem französischen Lager Le Vernet im November 1941 in das Lager Djelfa am Rande der Sahara verlegt worden, wo sie von den in Nordafrika gelandeten Alliierten befreit wurden. Nachdem sie mehrere Monate in einem britischen Pionierkorps in Algier gedient hatten, gelang ihnen über den sowjetischen Botschafter im November 1943 die Ausreise in die Sowjetunion. Einige wenige Österreicher – zwölf, darunter auch die beiden Steirer Josef Pichler und Erich Klementschitz, dessen Bruder Ernst im März 1938 im spanischen Hinterland gefallen war – konnten im Frühjahr 1939 nach Großbritannien ausreisen, da britische Staatsbürger für sie die Bürgschaft übernahmen. Mehrere, wie der Chemiker Dr. Ferdinand Bilger, der als Forscher am Pasteur-Institut der Universität Bordeaux arbeiten konnte, konnten in Frankreich bleiben. Der Großteil der Steirer landete jedoch in deutschen Konzentrationslagern, vor allem in Dachau. Der erste, der am 10. September 1940 in ein Konzentrationslager kam, allerdings nach Mauthausen, war der Mürzzuschlager Karl Lotter, der in einer französischen Arbeitskompanie beim Vormarsch der Deutschen Wehrmacht am 10. Mai 1940 gefangen genommen worden war.26 Im Laufe des Jahres 1941 sollten dann sowohl die in den französischen Lagern Mont-Louis

349

oder Le Vernet internierten Spanienkämpfer, die sich über Aufforderung der KPÖ zu einer freiwilligen Repatriierung in die Heimat entschieden hatten, um dort wieder politisch tätig zu werden, als auch jene, die im Herbst 1941 aus spanischen Gefangenenlagern den deutschen Sicherheitsbehörden übergeben wurden, ins KZ Dachau eingeliefert werden.27 In Dachau, wohin mehr als 65 steirische Interbrigadisten kamen, von denen ein Teil in andere Konzentrationslager wie Buchenwald, Sachsenhausen, DoraMittelbau, Auschwitz, Mauthausen, Lublin und Ravensbrück überstellt wurden, war die Solidarität mit den Spanienkämpfern sehr groß, was unter anderem dazu geführt hat, dass in Dachau vergleichsweise wenige – insgesamt vier – Steirer starben.28 Ein weiterer, der aus Graz stammende Oswald Wilhelm, wurde im Zuge der Euthanasie ermordet. Er wurde am 3. März 1942 mit einem sogenannten „Invalidentransport“ – den Häftlingen wurde gesagt, Invaliden würden in ein Lager verlegt werden, in dem leichtere Arbeit zu verrichten sei – von Dachau weggebracht und in Hartheim vergast. Insgesamt starben in französischen, spanischen und deutschen Lagern neun steirische Spanienkämpfer. Zwei Steirern gelang es in Spanien, wo sie an der französischen Grenze der Gestapo hätten übergeben werden sollen, zu entkommen. Während Max Stromer f liehen und in Lissabon untertauchen konnte, gab sich der Bärnbacher Josef Kraxner als jugoslawischer Staatsbürger aus und wurde deshalb nicht ausgeliefert. Mit Hilfe der UNRRA kam er nach Casablanca, wo er weitere Spanienkämpfer, unter anderem den aus Voitsberg stammenden Hans Reinisch,29 traf. Sie traten 1943 in den Dienst einer englischen Versorgungseinheit, ehe sie 1944 zu einer im Süden Italiens stationierten US-Truppe überstellt wurden. Gemeinsam mit italienischen Widerstandskämpfern sprangen sie im italienisch-jugoslawisch-österreichischen Grenzgebiet ab und kämpften dort bis zur Befreiung.

350

Halbrainer / Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg

Ehemalige Spanienkämpfer als Aufklärer der amerikanischen OSS. V.r.n.l.: Franz Marx, Siegmund Kanagur, DÖW Josef Kraxner (Steirer)

Einen Tag vor dem Ende der NS-Herrschaft in Dachau starben die letzten beiden Steirer; der Pernegger Erich Hubmann und der Grazer Anton Hackl. Sie waren am 25. April 1945 von Dachauer Widerstandskämpfern mit 20 anderen aus dem KZ Dachau befreit worden.30 Mitte April hatte diese Widerstandsgruppe Pläne geschmiedet, wie die Führung der Nationalsozialisten in Dachau zu entmachten sei, damit nicht noch in letzter Minute die Stadt zum Schauplatz von Kämpfen werde. Als am 28. April 1945 in den frühen Morgenstunden die Meldung Achtung, Achtung! Sie hören den Sender der Freiheitsaktion Bayern. Arbeiter, schützt eure Betriebe gegen Sabotage durch die Nazis. Verwehrt den Funktionären den Zugang zu euren Anlagen. Die Freiheitsaktion Bayern hat heute Nacht die Regierungsgewalt erstritten gesendet wurde – etwas verfrüht –, sah sich die Dachauer Widerstandsgruppe gezwungen, ebenfalls zu handeln. Von dem Aufruf

informiert, marschierten Erich Hubmann und Anton Hackl und die anderen ehemaligen KZHäftlinge nach Dachau, wo sie mit Gewehren ausgestattet das Rathaus und den Rathausplatz besetzten und den nationalsozialistischen Bürgermeister festnahmen. Während wenige Stunden nach dem Aufruf in München die Freiheitsaktion Bayern den Rückzug antreten musste, marschierten in Dachau drei SS-Kompanien mit schweren Waffen Richtung Rathaus. Bei dem Gefecht mit der SS wurden Ernst Hubmann und Anton Hackl tödlich getroffen. 24 Stunden später marschierten amerikanische Truppen in Dachau ein, und die Stadt war befreit.31 Drei Jahre nach der Befreiung sollten die letzten beiden Spanienkämpfer – unter ihnen der Steirer Josef Martin Presterl – am 18. Mai 1948 in Laibach/Ljubljana hingerichtet werden. Presterl war im Oktober auf Einladung nach Jugo-

Halbrainer / Graz–Madrid–Dachau: Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg

slawien gereist, verhaftet und in dem sogenannten „Dachauer-Prozess“ gemeinsam mit jugoslawischen Spitzenfunktionären wegen angeblicher

351

Gestapotätigkeit und Spionage gegen Jugoslawien zum Tode verurteilt worden.32

Anmerkungen Dieser Beitrag wurde im Jahr 2005 abgeschlossen. Vgl. allgemein: Kannonier, Der spanische Bürgerkrieg 175–190; DÖW, Für Spaniens Freiheit. 2 Die Zahlenangaben der Internationalen Brigaden schwanken beträchtlich. Zu den Österreichern siehe auch: Österreicher im Spanischen Bürgerkrieg (1986). 3 Vgl. Safrian, Hintergründe und Motive 91. 4 Vgl. Landauer, Lexikon (2003). Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle Angaben auf das Lexikon. 5 Vgl. Safrian, Hintergründe und Motive 90. Hinweise auf Steirer im Spanischen Bürgerkrieg erhielt ich zudem von Andrea Strutz (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte an der Universität Graz). 6 Dr. Ferdinand Bilger war Chemiker, der bis 1929 am Grazer Institut des Nobelpreisträgers Fritz Pregl und danach bei Professor Halden gearbeitet hat. Vgl. Eisenhut, Ferdinand Bilger 146–157. 7 Die vier Bezirke von Graz (Eggenberg, Gösting, Andritz und Puntigam) waren damals noch eigenständige Gemeinden. 8 Vgl. Anzenberger/Polaschek, Widerstand. 9 Zum „Bund herrschaftsloser Sozialisten“, einer anarchistisch pazifizistischen Organisation siehe: Müller, Der aufrechte Gang 163–195. 10 So wurden etwa Grazer Eisenbahner wegen Geldsammlung für die spanischen Freiheitskämpfer und Verteilung illegaler Schriften zu Arreststrafen verurteilt. Vgl. Mitteilungen des Auslandsbüros Österreichischer Sozialdemokraten (18. 12. 1936). In: DÖW, Für Spaniens Freiheit 37f. 11 Vgl. Landauer, Lexikon (2003), 12. Dabei wurden auch Mitglieder der Revolutionären Sozialisten über diese Organisation nach Spanien geschleust. 12 Anzeige der Bundespolizeidirektion Graz vom 11. 2. 1937 an die Staatsanwaltschaft Graz (DÖW 12.907). 13 Vgl. Schafranek, Spanienkämpfer 99. 14 Gottfried Vallant kehrte 1945 wieder nach Fohnsdorf zurück, nachdem er zwischen 1939 und 1941 in den französischen Lagern Saint-Cyprien, Gurs, Argelès und Mont-Louis und ab 1941 im KZ Dachau festgehalten worden war. 15 Bericht des Sicherheitsdirektors für das Bundesland *

1

16 17

18 19

20 21

22 23 24 25 26 27

28

29

30 31

32

Steiermark an das Bundeskanzleramt vom 16. 12. 1936. Archiv der Republik, NPA, 22 Gen, Karton 690, Akt 356.100. Kopie im Spanienkämpferarchiv im DÖW: Franz Maizan. Vgl. Landauer, Wien–Moskau–Madrid 76–88. Die UGT (Union general del Trabajadores) war die sozialistische Arbeitergewerkschaft. Vgl. Schafranek, Die ersten Freiwilligen 66–79. Landauer, Der Blutzoll der Österreicher 90–98. Neben den bereits genannten Franz Maizan, Raimund Trolp und Walter Zuleger sind dies Rudolf Auerhahn, Max Bader, Johann Bruckner, Otto Cwachowetz, Wilhelm Döring, Karl Ebner, Albert Fekonja, Ernst Klementschitz, Johann Krasser, Viktor Lenhart, Hermann Leodolter, Franz Morawetz, Max Oberreiner, Mathias Oswald, Josef Pansy, Anton Purgstaller, Karl Sobotka, Felix Schicker und Gottfried Wretschko. Vgl. Landauer, La Bisbal 86–103. Theresia Ortner wurde in Graz nicht weiter verfolgt. Nach 1945 stellte sie einen Antrag auf Opferfürsorge, der – da zu diesem Zeitpunkt die französischen Lager nicht als Haftorte anerkannt waren – abgelehnt wurde. Vgl. Strutz, Wieder gut gemacht 197. Schober, Goldy Parin-Matthèy 49–74. Vgl. Eisenhut, Maria Bilger-Biljan 172–183. Parin, Es ist Krieg. Vgl. allgemein dazu: Fleck, Koralmpartisanen. Vgl. Landauer, Wege und Blutzoll 153. Vgl. Landauer, Österreichische Spanienkämpfer 170–180; Schafranek, Spanienkämpfer. Der Grazer Februarkämpfer Ludwig Lackner, der aus der Sowjetunion nach Spanien gekommen war, sowie die Grazer Josef Loibner, Franz Neubauer und Max Roschitz. Reinisch hatte sich nach der Niederlage in Spanien freiwillig zur französischen Fremdenlegion gemeldet. Vgl. Holzhaider, Die Sechs vom Rathausplatz. Vgl. Halbrainer, Erich Hubmann 12. Seit 1946 tragen zwei Straßen in Dachau die Namen der beiden. Vgl. Keller/Landauer, Josef Martin Presterl 107– 112.

Der Reichsgau

Foto Vorderseite: Besuch Adolf Hitlers in Graz während des Balkanfeldzuges. Menschenspalier in der Burggasse, April 1941 StLA

Heimo Halbrainer

NS-Herrschaft in der Steiermark Herrschaft – Ausgrenzung – Verfolgung – Terror*

Als am Morgen des 12. März 1938 deutsche Truppen in Österreich einmarschierten, war das mehr als nur der Übergang von der Diktatur des „austrofaschistischen“ Ständestaats zur totalitären Diktatur des Nationalsozialismus,1 es bedeutete auch das Ende der staatlichen und nationalen Existenz Österreichs oder, wie Ernst Hanisch meint, das Einmünden des österreichischen „Sonderwegs“ „in die großdeutsche Hauptstraße“.2 Auf dieser „Hauptstraße“ herrschte ein sozialdarwinistisch und antisemitisch geprägter Nationalismus, der gegen äußere und innere Feinde gerichtet war. In der Steiermark war er aufgrund der besonderen historischen Konstellation zudem stark antislawisch unterfüttert. 3 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde deren rassistische und menschenverachtende Ideologie zur offiziellen Staatsideologie. Bislang gültige Normen und Rechte – teilweise bereits zwischen 1934 und 1938 aufgeweicht – wurden beseitigt und durch Kategorien wie „Volksgemeinschaft“ und „Rasse“ ersetzt. Eine Abweichung davon wie auch ein Auf lehnen gegen das System wurde sanktioniert und bedeutete für die einzelne Person oder ganze Gruppen Verfolgung, Vertreibung und in vielen Fällen auch Tod. Im rassistischen Denken der Nationalsozialisten sollte es fortan kein Individuum mehr geben, sondern nur mehr die „klassenlose und

egalitäre Volksgemeinschaft“, in die sich jeder einzelne einzufügen hatte. Die Schaffung der „Volksgemeinschaft“ erfolgte in zweifacher Weise. Zum einen durchdrang der Nationalsozialismus sämtliche Lebensbereiche der Bevölkerung. Ein dichtes Netz von Organisationen und Einrichtungen wurde über die Österreicher gelegt. Zum anderen wurde die Integration in die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ aber auch noch ideologisch gefördert durch die Ausgrenzung innerer und äußerer Feinde. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich erfolgte auch ein „Anschluss“ an den Terror gegen politisch Andersdenkende, alle „Nicht-Arier“4 und sonstige „Rassenfeinde“. Mit Hilfe dieses „Freund-Feind-Schemas“ – hier die „Volksgenossen“ und dort die „politischen und rassischen Feinde des Volkes“ – konnten in der Folge seitens des Systems praktischerweise jederzeit Schuldige an den real existierenden Unzulänglichkeiten der „Volksgemeinschaft“ benannt werden. Der Ausschluss und die Verfolgung der „Volksfeinde“ und „Volksschädlinge“ erfolgten – teilweise verzahnt – durch  nationalsozialistische Gesetze und Verordnungen,  die partielle Partizipation am NS-Regime durch Denunziationen,  die NS-Justiz,  den nationalsozialistischen Terrorapparat.

356

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

Im Folgenden werden daher in einem ersten Teil die Träger der NS-Herrschaft in der Steiermark und die Integration in die „Volksgemeinschaft“ skizziert. Der zweite Teil setzt sich mit der Ausgrenzung, den Verfolgungen und dem Terror in der Steiermark auseinander, wo-

bei neben dem spontanen Terror vor allem auf den institutionellen Terror eingegangen wird. Die Ausgrenzung und die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung der Steiermark werden in einem eigenen Beitrag behandelt.5

Nationalsozialistische Herrschaft und Integration6 Die NSDAP in der Steiermark Nachdem der erst am 3. März 1938 zum Landeshauptmann berufene Dr. Rudolph Trummer unmittelbar nach dem Rücktritt der österreichischen Bundesregierung in den Nachtstunden des 12. März 1938 abgedankt hatte, übernahm der bislang illegale Gauleiter für die Steiermark, Dipl.-Ing. Sepp Helfrich, die Macht und ernannte umgehend eine neue Landesregierung, der Dipl.-Ing. Dr. Armin Dadieu als Landesstatthalter, Sepp Hainzl als Landeshauptmannstellvertreter und die Landesräte Josef Graßl, Dr. Heinrich Pagl, Dr. Josef Papesch und Dr. Alois Sernetz angehörten.7 Gleichzeitig enthob er die alten Bezirkshauptmänner und Bürgermeister ihrer Ämter und setzte provisorisch neue Herrschaftsträger ein. Auch in anderen Ämtern und bei Behörden erfolgte in den ersten Tagen und Wochen der NS-Herrschaft eine Neubesetzung mit Nationalsozialisten.8 Die seit 1934 gleichgeschalteten Medien wurden ebenfalls noch in den ersten Stunden „umgeschaltet“, d. h. die Chefredakteure wurden abgesetzt, verhaftet bzw. „beurlaubt“ und die verbliebenen Redakteure auf die neue Blattlinie eingeschworen.9 Während innerhalb der steirischen Verwaltung und Wirtschaft ein planmäßiger Elitenwechsel erfolgte, der oftmals mit Verhaftungen einherging10 – so wurden u. a. der Anfang März 1938 zurückgetretene Landeshauptmann Dr. Karl Maria Stepan, der Landesführer der Va-

terländischen Front Dr. Alfons Gorbach und der ehemalige Sicherheitsdirektor für Steiermark Franz Zelburg verhaftet – und es parallel dazu von der nationalsozialistischen Basis zu spontanen und auf Eigeninitiative basierenden Aktionen wie Misshandlungen politischer Gegner und Juden kam, wurde von Berlin aus die Reorganisation der NSDAP vorbereitet. Dafür, sowie für die Vorbereitung der Volksabstimmung am 10. April 1938, war Joseph Bürckel zuständig.11 Dieser war Gauleiter der Saarpfalz gewesen und hatte bereits 1935 die Saar-Abstimmung mit Erfolg organisiert. Ausgestattet mit Hitlers Auftrag vom 13. März 1938, brachte Bürckel die österreichische NSDAP unter seine Kontrolle. Am 17. März 1938 erließ er in der Tagespost einen Aufruf an die Partei, in dem es u. a. hieß: „1. Jede organisatorische oder sonstige Funktion der Partei ruht bis zum 11. April. 2. Aufnahmen in die Partei nach diesem Termin sowie die personellen Besetzungen der Führerämter in der Partei werden nach diesem Termin entschieden und nicht nur nach der Größe der bisher gebrachten Opfer […].“12 Diese Frist wurde in der Folge bis zum 10. Mai verlängert, wobei diese Zeit, einer Anweisung Bürckels zufolge, zur Erfassung der NSDAP-Mitglieder genutzt werden sollte.13 Mit

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

diesem Schritt sollten – auch um Opportunisten und Karrieristen auszuschalten, die nun ihre Stunde gekommen sahen – all jene erfasst und aufgenommen werden, die vor dem Parteiverbot am 19. Juni 1933 Mitglieder der NSDAP gewesen waren und „jene, die bis 11. März 1938 sich als Nationalsozialisten betätigt haben und durch ihre nationalsozialistische Betätigung mit die Voraussetzung zu der Entwicklung des 11. März geschaffen haben.“14 Während die „Altparteigenossen“ ihre alten Mitgliedsnummern nach der Überprüfung ihrer Gesinnung und aktiven Betätigung während der Zeit der Illegalität zurückerhielten, waren für jene, die nach dem Parteiverbot zur NSDAP gestoßen waren, aber auf Grund der Illegalität nicht ordnungsgemäß Mitglieder der NSDAP hatten werden können, die Mitgliedsnummern 6,100.000 bis 6,600.000 reserviert. Für diese galt einheitlich das symbolische Aufnahmedatum 1. Mai 1938. Da eine niedrige Mitgliedsnummer die Zugehörigkeit zum „Parteiadel“ dokumentierte und auch Privilegien und Posten versprach, versuchten viele durch Intervention als „Illegale“ anerkannt zu werden. Dabei dürften bis zu 40 Prozent der mit Datum 1. Mai 1938 Aufgenommenen erst nachträglich das Attribut „illegal“ erworben haben.15 Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus wurden im Zuge der Registrierung ehemaliger Nationalsozialisten 20.580 „illegale“ NSDAP-Mitglieder, 2.382 SS-, 5.355 SA-, 1.791 NSKK- und 322 NSFK-Mitglieder aus der Steiermark erfasst, was in absoluten Zahlen österreichweit den höchsten und in Relation zur Bevölkerung nach Kärnten den zweithöchsten Anteil an „Illegalen“ bedeutete.16 Eine Besonderheit im Kampf um niedrige Mitgliedsnummern, die zu heftigen Diskussionen führte, spielte sich in der Steiermark im Zusammenhang um die Anerkennung der Mitgliedschaft beim Steirischen Heimatschutz ab, mit dem die NSDAP 1933 in Venedig/Venezia ein Kooperationsabkommen geschlossen hatte.

357

In diesem Abkommen war unter anderem festgehalten worden, dass eine „ständige Mitgliedschaft unter der heutigen Führung für den Heimatschützer als Eintrittsdatum in die NSDAP gerechnet wird“. Aus diesem Grund war etwa der ehemalige Landesführer des Steirischen Heimatschutzes, Konstantin Kammerhofer, bereits 1935, allerdings vergeblich, um die Anerkennung als NSDAP-Mitglied für sich und andere vorstellig geworden. Am 30. Juli 1940 brachte der in der Zwischenzeit zum SS-Oberführer Aufgestiegene an Gaupersonalamtsleiter Anton Rutte und Gauleiter Sigfried Uiberrei­ ther die Bitte vor, mit Rücksicht darauf, dass der überwiegende Teil der ehemaligen Steirischen Heimatschützer in Ihrem Gau nicht nur in der Partei marschiert, sondern auch als politische Leiter und als Männer der Parteigliederungen tätig ist, die rechtmäßig getroffenen Vereinbarungen betreffend Anerkennung der Dienstzeit und Zuteilung von Mitgliedsnummern durchzuführen.17 Ähnlich verhielt es sich auch beim ehemaligen Stabschef des Steirischen Heimatschutzes, Hanns Albin Rauter, bzw. beim ehemaligen Landesleiter August Meyszner. Rauter, der sich weigerte, sich mit Beitrittsdatum 1. Mai 1938 als Mitglied einschreiben zu lassen, wurde – obwohl SS-Gruppenführer, Generalleutnant der Polizei, Generalkommissar für die besetzten Niederlande – nicht als Mitglied der NSDAP anerkannt. Selbst als ihm und Meyszner auf Vorschlag Heinrich Himmlers 1943 das goldene Parteiabzeichen verliehen werden sollte, wurde die Frage seiner Mitgliedschaft „bis nach dem Kriege zurückgestellt“.18 Für jene, die sich in der Folge des „Anschlusses“ 1938 der Partei anschlossen, aber auf Grund der Aufnahmesperre nicht der Partei beitreten konnten, wurde das Stadium des „Parteianwärters“ geschaffen, ehe sie 1939 in die NSDAP als Mitglieder aufgenommen werden konnten. Insgesamt waren rund zehn Prozent der steirischen Bevölkerung NSDAP-Mitglieder. Laut der für die Steiermark für den Zeit-

358

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

raum von Juni 1940 bis Mai 1943 vorliegenden halbjährlichen Listen der Mitgliederstände stieg die Zahl der zahlenden Mitglieder – inklusive Parteimitglieder in der Wehrmacht – von 99.865 (Dezember 1940) auf 107.883 (Mai 1943).19 Die Gauleitung in der Steiermark In den ersten Wochen nach dem „Anschluss“ plante Bürckel mit seinem Stab die Vergabe von Führungspositionen, die auch im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Überlegungen zur Gaueinteilung standen.20 Als letztlich feststand, dass die Steiermark einer von sieben Gauen sein sollte und die personalpolitischen Entscheidungen gefallen waren, ernannte Hitler in Anwesenheit von Bürckel und Rudolf Heß am 23. Mai 1938 Dr. Sigfried Uiberreither zum Gauleiter von Steiermark und Dr. Tobias Portschy, den Gauleiter und Landeshauptmann des Burgenlandes, das am 15. Oktober 1938 aufgelöst wurde, zum stellvertretenden Gauleiter.21 Der seit dem 12. März amtierende Gauleiter und Landeshauptmann, Sepp Helfrich, wurde politisch entmachtet und Leiter der Landesbaudirektion Steiermark.22 Die Tagespost berichtete darüber am 26. Mai 1938: „Der Führer hat nach dem Bericht des Gauleiters Pg. Josef Bürckel über den Auf bau der NSDAP in Österreich den Gauen der Ostmark ihre endgültigen Leiter gegeben. Die vorläufige Organisation der Partei ist zu Ende, die tatsächliche und endgültige besteht. […] Gau Steiermark ist das größte räumliche Gebiet geworden, es grenzt an das vergrößerte Wien, das in seiner Entwicklung zur mächtigsten Metropole an der Donau immerhin eine bedeutungsvolle und im nationalsozialistischen Reich nun auch angenehme Nachbarschaft darstellt. […] Die Zuteilung des Burgenlandes an unseren Gau

erinnert an ein historisches Geschehen, an die Teilnahme der Steirer bei der Besitznahme nach dem Friedensvertrag und entspricht wohl auch den territorialen Anforderungen. Sie macht uns nebenbei auch zu Anrainern des tschechoslowakischen Staates. Der Gau Steiermark ist unter die Führung des SA-Brigadeführers Pg. Dr. Sigfried Uiberreither gestellt. […]“23 Dass hier trotz offizieller Verkündung, die in den folgenden Tagen in der Tagespost mit weiteren Berichten, wie „Bilder aus dem vergrößerten Gau“ und „Grenzgau im Südosten“24 begleitet wurde, noch nicht die „tatsächliche und endgültige“ Einteilung getroffen worden war, sollten die Steirer Anfang Juni 1938 erfahren. Doch vorerst bestellte Bürckel am 28. Mai auf Vorschlag von Gauleiter Uiberreither die Kreisleiter des größten österreichischen Gaues: für Bruck an der Mur Karl Ahorner, für Deutschlandsberg Heinz Reinfuß, für Fürstenfeld Karl Popofsits, für Graz Rudolf Kollik, für Hartberg Florian Groß, für Judenburg Hans Kotz, für Leibnitz Dr. Franz Hradetzky, für Leoben Otto Christandl, für Liezen Hans Seebacher, für Mürzzuschlag Fritz Amreich, für Mureck Hans Schöninger, für Voitsberg Anton Weißensteiner, für Weiz Hans Brandner sowie für die neu hinzugekommenen Kreise Neunkirchen Hans Braun, Bruck an der Leitha Anton Silbernagel, Eisenstadt Edmund Brauner, Oberpullendorf Paul Kitz und Oberwart Eduard Nicka. Noch offen waren zu diesem Zeitpunkt die Kreisleiter von Wiener Neustadt, Graz-Land und Feldbach.25 Nachdem jedoch österreichische Nationalsozialisten gegen diese Gaueinteilung „Sturm“26 liefen und auch Reichsstellen Einwände vorbrachten, wurde die Gauaufteilung im Osten Österreichs am 31. Mai 1938 nochmals umgestoßen, wobei nun zum Gau Steiermark ledig-

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

lich die südburgenländischen Bezirke Oberwart, Güssing und Jennersdorf hinzukamen, die auf die Kreise Oberwart, Feldbach und Fürstenfeld aufgeteilt wurden. Gleichzeitig mit der Bestellung der Kreisleiter wurden auch die Gauamtsleiter – durchwegs SA-Männer – ernannt. Die Gauleitung selbst gliederte sich in mehrere Gauämter bzw. Fachämter, die Gauleiter Sigfried Uiberreither bzw. seinem Stellvertreter Tobias Portschy untergeordnet waren.27 Diese Gauämter waren: Das Gauorganisationsamt, das von SA-Standartenführer Franz Steindl bzw., nachdem er 1941 nach Marburg/Maribor abkommandiert worden war, von SA-Sturmbannführer Otmar Unden vertretungsweise geleitet wurde, führte rein innerparteilich-organisatorische Arbeiten durch. Eine zentrale Funktion innerhalb der Gauleitung hatte das Personalamt inne, das von SA-Sturmführer Anton Rutte geleitet wurde und u. a. die politische Zuverlässigkeit von Parteigenossen und Funktionären der „angeschlossenen Verbände“ begutachtete und wodurch es eine Kontrolle über die Besetzung wichtiger Stellen in der öffentlichen Verwaltung hatte. Das Gauschulungsamt, das bis August 1943 von SA-Obersturmführer Dr. Heinrich Hoffer28 und danach von SA-Sturmbannführer Dr. Fritz Krenn geleitet wurde, war für die Schulung der Parteifunktionäre zuständig. Dies geschah u. a. durch die Herausgabe von Schulungsbriefen oder durch Abhaltung von Lehrgängen.29 Das Gaupropagandaamt war Goebbels’ Ministerium unterstellt. Das von SA-Standartenführer Gustav Fischer geleitete Amt steuerte die gesamte Öffentlichkeitsarbeit, die Kundgebungen der Partei und des Staates, wobei beispielsweise das ehemalige Mitglied der Grazer Sezession, Heinz Reichenfelser, für das „Plakatwesen und die architektonische Gestaltung“ verantwortlich zeichnete. Neben der Gaugeschäftsführung, die von SS-Sturmbannführer Paul Sernetz geleitet wur-

359

de und die für die gesamte Gauleitung die Geschäfte führte, gab es in der Steiermark noch das Gaupresseamt, geleitet von SS-Obersturmführer Gustav Koczor,30 das u. a. den täglichen „NSGaudienst“ herausgab, wo sich jene Meldungen finden, die die Tagespost ident nachdruckte. Während der Wehrmachtsdienstzeit Koczors übernahm Gaupropagandaleiter Fischer auch das Gaupresseamt.31 Das Gaugericht (Leiter Max Pestemer) war u. a. bei Verstößen gegen den „Ehrenkodex“ der Partei bzw. bei Meinungsverschiedenheiten einzelner Parteimitglieder zuständig. Zudem bestand noch ein Gauschatzamt (Leiter bis 1939 SA-Sturmführer Dr. Friedrich Schirk, ab 1940 SA-Standartenführer Max Hruby), ein Gauinspekteur (SS-Sturmbannführer Alfred Fleischmann, ab 1943 NSFK-Oberführer Dr. Richard Koderle), der parteipolitische Beschwerden entgegennahm, ein Gaugrenzlandamt, das von HJ-Bannführer Anton Dorfmeister geleitet wurde und eng mit dem Südostdeutschen Institut unter Dr. Helmut Carstanjen kooperierte,32 sowie Ämter für Kommunalpolitik, Wirtschaft, Agrarpolitik, Rassenpolitik, Volksgesundheit, Erzieher, Beamte, Rechtsfragen, Kriegsopfer, Technik, Volkswohlfahrt und Leibeserziehung. In Summe betrug der Personalstand dieser Ämter 1940 ohne die bei den einzelnen Ämtern angeschlossenen Bünde – Reichsbund Deutscher Beamter, NS-Lehrerbund, NSRechtswahrerbund, NSD-Ärztebund, NS-Bund Deutscher Technik, NSV und NS-Reichsbund für Leibesübungen – 280 Angestellte.33 Betreuung und Kontrolle Nach dem „Anschluss“ verlor die NSDAP, die durch das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien“ und das „Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat“ als Monopolpartei gleichzeitig Körperschaft öffentlichen Rechts und damit zur Trägerin des deutschen Staatsgedankens geworden war, an Dynamik und

360

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

Organigramm „Gauleiter der NSDAP“ Aus: Organi­sationsbuch der NSDAP (1943) / StLB

sukzessive auch an Einf luss und Macht.34 Die NSDAP war – nachdem in der unmittelbaren Nach-„Anschluss“-Zeit die Parteifunktionen und Parteiposten vergeben bzw. gefestigt worden waren – vor allem für die propagandistische Mobilisierung und die Kontrolle der Bevölkerung zuständig.35 Zudem blieb ihr auf allen Ebenen mit dem Instrument der politischen Beurteilung ein Kontrollmittel in der Hand, mit dem sie über die Vergabe von Aufträgen, Wohnungen und Anstellungen entschied.

Der voll ausgebaute Parteiapparat im Gau Steiermark – d. h. inklusive der angeschlossenen südburgenländischen Bezirke Oberwart, Güssing und Jennersdorf – gliederte sich vertikal in 17 Kreise, 293 steirische und 50 burgenländische Ortsgruppen mit 1.557 Zellen und 7.050 Blocks. Dabei konnten in Städten mehrere Ortgruppen – Graz hatte z. B. 14 Ortsgruppen – bestehen, und auf dem Land konnten mehrere Gemeinden eine Ortsgruppe bilden.

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

361

Organigramm „Ortsgruppenleiter der NSDAP“ Aus: Organi­sationsbuch der NSDAP (1943) / StLB

Die 17 Kreise, die mit den staatlichen Bezirken deckungsgleich waren, waren Bruck an der Mur, Deutschlandsberg, Feldbach (mit Teilen des Bezirkes Jennersdorf ), Fürstenfeld (mit Teilen der Gerichtsbezirke Güssing und Jennersdorf ), Graz, Graz-Land, Hartberg, Judenburg, Leibnitz, Leoben, Liezen, Murau, Mürzzuschlag, Oberwart, Radkersburg, Voitsberg und Weiz. Diese Struktur – hierarchisch nach dem Führerprinzip gegliedert – ermöglichte es der Partei, die Bevölkerung intensiv zu „betreuen“

und damit auch politisch zu überwachen.36 Vor allem die Block- und Zellenleiter waren jene, die in relativ engem Kontakt mit den „Volksgenossen“ standen und daher einerseits als „institutionelle Blitzableiter“ auftauchende Unzufriedenheit aufzufangen oder abzuschwächen und Stimmungsberichte bzw. Denunziationen an den Partei- und Staatsapparat weiterzuleiten hatten.37 So heißt es etwa im Organisationsbuch der NSDAP: „Die Verbreiter schädigender Gerüchte hat er [der Blockleiter] feststellen zu

362

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

lassen und sie an die Ortsgruppe zu melden, damit die zuständige staatliche Dienststelle benachrichtigt werden kann.“38 In dem von Joseph Bürckel herausgegebenen Mitteilungsblatt und Schulungsbrief „Der Ostmarkbrief “ wird im August 1938 der Auf bau der Partei und der Hoheitsträger folgenderweise beschrieben: „Das kleinste Hoheitsgebiet der Partei ist der Block, der 20 Haushaltungen zusammenfasst. Der Blockleiter ist der unterste Hoheitsträger. Für seinen Bereich ist er für alle Vorgänge verantwortlich. Er ist nicht nur äußerlich Führer der Parteigenossen, sondern Wegbereiter der Weltanschauung für alle Volksgenossen seines Blocks. […] Die gerechtfertigten Sorgen der anvertrauten Menschen sind seine Sorgen. […] Rat und auch einmal die härtere Hand der Erziehung greifen ein, wo das falsche Verhalten des einzelnen diesem selbst und damit der Gemeinschaft Schaden zufügt. […] Aus 2 bis 4 Blocks setzt sich die Zelle zusammen, das nächsthöhere Hoheitsgebiet der Partei. Dem Zellenleiter ist insbesondere die Überwachung und zweckentsprechende Leitung der den Blocks von den Ortsgruppen übertragenen Aufgaben übertragen. […] Das wichtigste Hoheitsgebiet ist die Ortsgruppe. Sie ist die feste Zusammenfassung der Blocks und Zellen und umfasst, je nach den örtlichen Verhältnissen, bis zu 3000 Haushaltungen.“39 Innerhalb der Ortsgruppen bestanden noch Ämter für die Organisation, die Schulung, das Personalwesen oder die Propaganda, die mit politischen Leitern besetzt wurden. Die NSDAPZellen-, Block- und Ortsgruppenleiter und die in den jeweiligen Ämtern wirkenden Personen waren es aber nicht allein, die der Bevölkerung das Gefühl der Allgegenwart der Partei gaben. Auch die politischen Gliederungen, die Sturm-

abteilung (SA), die Schutzstaffel (SS), das NSKraftfahrerkorps (NSKK),40 das NS-Fliegerkorps (NSFK), die Hitlerjugend (HJ), die NSFrauenschaft, der NS-Studenten bzw. Dozentenbund waren ähnlich wie die NSDAP streng hierarchisch aufgebaut.41 Konnten bei diesen Gliederungen als Träger besonderer nationalsozialistischer Gesinnung nur eine begrenzte Anzahl Mitglieder werden – so war etwa die Höchstzahl an Parteimitgliedern mit 20 Prozent der Gesamtbevölkerung festgelegt, eine Zahl, die nur für die „Ostmark“ galt und nicht erreicht wurde42 –, so standen die angeschlossenen Verbände, wie Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV),43 die Organisationen, die verschiedene Berufsgruppen (Ärzte, Beamte, Juristen, …) in Bünden zusammenfassten und vor allem die Deutsche Arbeitsfront (DAF), allen „Volksgenossen“ offen. Diese angeschlossenen Verbände wurden in Personalunion von Politischen Leitern der Partei geführt und unterstanden damit der Aufsicht und den Richtlinien der Partei. So war etwa der Gauleiterstellvertreter Dr. Tobias Portschy von 1940 bis 1943 Gauobmann der DAF.44 Mittels dieser breiten Streuung von Organisationen, die bis in den Freizeitbereich – z. B. Kraft durch Freude (KdF) – hinein reichten, war es für den nationalsozialistischen Staat ohne großen Aufwand möglich, ein weitgehend lückenloses System der Kontrolle zu entwickeln, in dem ein politisch erfolgreicher Widerstand kaum Spielräume haben konnte. Die nationalsozialistische Herrschaft funktionierte aber nicht nur durch die Durchdringung des Alltags mit NS-Vorfeldorganisationen, sondern auch durch tatsächliche oder vermeintliche Partizipation an der Macht, durch Ausgrenzung äußerer und innerer Feinde sowie durch technischen Fortschritt, Modernisierung und Säkularisierung und letztlich auch durch die Erhöhung des Lebensstandards für die „Volksgenossen“.45

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

363

Die Ausgrenzung – Verfolgung und Terror46 Ausgrenzung und Verfolgung der „Anderen“ erfolgten während der Zeit des Nationalsozialismus durch eine Reihe von politisch und rassistisch motivierten Verordnungen und Gesetzen. Letztlich aber waren der gesetzliche Rahmen und die Justiz im Gesamtkomplex des ­nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungsapparates nur ein wenig gewichtiger Bereich. Das Hauptinstrument für die „Bekämpfung der Gegner“ und zur Durchsetzung der Rassenpolitik war der SS- und Polizeiapparat mit seinen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Das Verfolgungs- und Terrorsystem war aber nicht nur auf das NS-Justizsystem und den Repressionsapparat beschränkt, sondern wurde von „Partei- und Volksgenossen“ zu einem nicht geringen Teil mitgetragen. Viele der Unmutsäußerungen, der kleinen Widersetzlichkeiten, des nonkonformen und oppositionellen Verhaltens und der Menschlichkeit gegenüber den „Anderen“ wurden von Nachbarn, vermeintlichen Freunden, Familienangehörigen und anderen bei den nationalsozialistischen Funktionären, der Gestapo oder staatlichen Stellen denunziert. Während der NS-Staat dadurch bis in das Private eindringen konnte und es öffentlich machte, indem er die „Volksverräter“, „Nörgler“, „Miesmacher“ und „Defätisten“ vielfach der NS-Justiz auslieferte, fürchtete er gleichzeitig ein Überhandnehmen der – auch in seinen Augen – üblen Denunziation. Dies umso mehr, als viele ihre privaten Konf likte mittels politischer Denunziation zu lösen versuchten.47 Vor der näheren Betrachtung des NS-Terrorsystems in der Steiermark muss noch eine Unterscheidung zwischen zwei sich ergänzende und zum Teil ineinander greifende Bereiche des Terrors getroffen werden. Auf der einen Seite

steht der staatliche Terror, der, als er 1938 auch in der Steiermark wirksam wurde, bereits fünf Jahre „Praxis“ in der Beherrschung und Unterdrückung der Bevölkerung in Deutschland hatte. Auf der anderen Seite begegnen wir auch einer anderen Form des NS-Terrors: dem „spontanen“, nicht durch „gesetzliche“ Maßnahmen gedeckten Terror der einheimischen Nationalsozialisten, der SA und anderer nationalsozialistischer Organisationen. Diese Form des Terrors ist speziell während der „Umbruchstage“ im März 1938 und anlässlich des Pogroms im November des gleichen Jahres48 sowie zu Kriegsende in den Monaten April und Mai 1945 bei den Massenmorden an ungarischen Juden feststellbar, als Tausende ­jüdischer Arbeitssklaven, die bis Ende März bei Schanzarbeiten am sogenannten „Südostwall“ entlang der österreichischen Grenze eingesetzt worden waren, auf einen Fußmarsch in das KZ Mauthausen getrieben wurden.49 Diese Evakuierungsmärsche durch die Steiermark gestalteten sich zu einem tödlichen Spießrutenlauf. Die Wacheskorten wechselten und wurden jeweils von lokalen Volkssturmeinheiten jener Gegenden gestellt, durch die die Marschkolonnen getrieben wurden. Jene, die das Marschtempo nicht mehr halten konnten, wurden an Ort und Stelle ermordet. In über 50 steirischen Gemeinden entlang der Route blieben Erschossene und vor Erschöpfung Gestorbene zurück. Darüber hinaus wurden zahlreiche sadistische Exzesse verübt. Den diesbezüglichen Tiefpunkt bildete das Massaker, das am 7. April 1945 von lokalen Volkssturmmännern am Präbichl angerichtet wurde: In einem entfesselten Blutrausch wurde wahllos in die Menge geschossen, und dabei wurden über 200 Menschen getötet.50

364

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

Todesmarsch in Hieflau, April 1945 Sammlung Walter Dall Asen, Landl

Der justizielle Rahmen für die Ausgrenzung Zentral für die Ausgrenzung war der rechtliche Rahmen, den sich das NS-Regime gab. Die Grundlage des nationalsozialistischen Rechtsverständnisses war nicht mehr der Schutz der Einzelperson und die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, sondern die Vorrangigkeit der „Volksgemeinschaft“ und die Pf licht, dieser zu dienen, was auch in dem nationalsozialistischen Grundsatz „Recht ist, was dem Volke nützt“ zusammengefasst wurde. Die zu bewahrenden Rechtsgüter waren Rasse und Erbgut, Ehre und Treue, Wehrhaftigkeit und Arbeitskraft, Zucht und Ordnung. Eigens erlassene Sondergesetze erfassten daher all jene, die außerhalb der „Volksgemeinschaft“ standen. Dies waren neben den politischen Gegnern des Regimes – gegen die bereits im Februar und März 1933 erste Verordnungen und Gesetze51

erlassen worden waren und gegen die während des Krieges neue, so etwa die Kriegssonderstrafrechtsverordnung52 hinzu kamen – vor allem jene, die entsprechend den rassistischen Grundsätzen des Nationalsozialismus als „nichtdeutsch“ und „nicht-arisch“ oder als „minderwertig“ definiert wurden. So wurde durch das am 20. Dezember 1934 in Deutschland erlassene „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform“ das Recht auf freie Meinungsäußerung abgeschafft, da jeder bestraft werden konnte, der „vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen.“53 Im „angeschlossenen“ Österreich erlangte das „Heimtückegesetz“ am 23. Jänner 1939 Rechtskraft. Eine weitere typisch nationalsozialistische Verordnung war jene von Reichspropagandaminister Goebbels initiierte „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ („Rundfunkverordnung“) vom 1. September 1939.54 Mit ihr wurde bei der Überwachung der Gesellschaft auch eine neue Qualität erreicht – die Kontrolle der Privatsphäre. Als Begründung für diese nun ins Wohnzimmer hineinreichende Verordnung wurde angegeben, dass „der Gegner nicht nur mit militärischen Waffen, sondern auch mit Mitteln, die das Volk seelisch beeinf lussen und zermürben sollen“, kämpfe. Neben diesen politischen Gesetzen wurde auch eine Reihe von rassistisch motivierten Verordnungen und Gesetzen erlassen. Den Anfang machten die Sondergesetze gegen Juden, die als „Artfremde“ außerhalb der „Volksgemeinschaft“ gestellt wurden, was im „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre („Blut-

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

schutzgesetz“), die 1935 auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP eingeführt wurden, zum Ausdruck kam. Die als „Nürnberger Rassengesetze“ bekannten Gesetze führten den Blutsgedanken und die daraus abgeleitete Definition des „Reichsbürgers“ als Ausgrenzungskriterium ein. Demnach konnten nur Staatsangehörige mit „deutschem oder artverwandtem Blute“ Reichsbürger sein, während alle anderen zwar Staatsbürger, jedoch nicht Reichsbürger sein konnten und sie deshalb auch keine politischen Rechte besaßen. Damit einhergehend waren Eheschließungen und „außerehelicher Verkehr“ zwischen Juden (Staatsbürgern) und „Reichsbürgern“ nach dem „Blutschutzgesetz“ verboten. Die „Nürnberger Rassengesetze“ von 1935 waren aber nicht der erste Schritt zur Entrechtung der Juden. Bereits mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 zielte die Regierung auf die Ausschaltung „jüdischer und marxistischer Elemente“ aus dem öffentlichen Leben und eröffnete – wie 1938 im „angeschlossenen“ Österreich mit der „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“55 – den „Volksgenossen“ die Möglichkeit, „alte Rechnungen“ zu begleichen und persönliche Vorteile aus den geänderten politischen Verhältnissen zu ziehen. Am 20. Mai 1938 wurden die im Deutschen Reich gegen die Juden erlassenen Gesetze auch im „angeschlossenen“ Österreich wirksam, wovon die Zeitungen ausführlich berichteten.56 NS-Justiz und Terror57 Die Ahndung von „Verfehlungen“ gegen die nationalsozialistischen Gesetze oblag in vielen Fällen Sondergerichten, die in Deutschland 1933 errichtet worden waren. Mit diesen Sondergerichten sollte – wie es im NS-Jargon hieß – „die Bekämpfung jenes Verbrechertums, wel-

365

ches durch sein Treiben die Abwehrkraft des deutschen Volkes gefährdet und seinen Widerstandswillen zu lähmen versucht”58 verfolgt werden. In Österreich wurden mit der Verordnung vom 20. November 1938 bei den Oberlandesgerichten Sondergerichte geschaffen.59 Zwei Sondergerichte gab es in der Steiermark, eines in Graz und eines in Leoben, wo während des Krieges aber nicht mehr nur ausschließlich „politische“ Fälle verhandelt wurden, sondern zunehmend auch strafrechtliche. So wurden etwa kleinere Diebstähle oder Betrügereien als „Verrat am Siegeswillen des Volkes“ ausgelegt und mit härtesten Strafen – u. a. der Todesstrafe – bedroht. Aus einer Aufstellung des Sondergerichts Graz ist ersichtlich, dass dieses Sondergericht nach der am 5. September 1939 erlassenen Verordnung über „Volksschädlinge“ und der Verordnung gegen „Gewaltverbrecher“ sowie der Kriegswirtschaftsverordnung 60 84 Todesurteile verhängte, von denen 65 vollstreckt wurden.61 Der wohl berühmteste und berüchtigtste Gerichtstyp der nationalsozialistischen Justiz war zweifellos der am 24. April 1934 eingerichtete Volksgerichtshof in Berlin, der vor allem für die Aburteilung von „Hoch- und Landesverrat“, aber auch von anderen politischen „Straftaten“ zuständig war. Im Laufe des Krieges wurde der Volksgerichtshof zum obersten politischen Strafgerichtshof.62 In Österreich wurden – nachdem am 20. Juni 1938 die österreichischen Bestimmungen über Hoch- und Landesverrat durch die deutschen ersetzt und die Zuständigkeit des Volksgerichtshofes in Berlin für Österreich bestimmt worden waren63 – am Oberlandesgericht Wien besondere Senate zur Ahndung von Hoch- und Landesverrat eingerichtet, die bis Herbst 1944 auch in Graz tagten. Der Volksgerichtshof konnte sich die österreichischen „Hochverräter“ entweder nach Berlin kommen lassen, wie beispielsweise den Gra-

366

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

Kundmachung der Hinrichtung von sechs wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verurteilten Weststeirern, StLA Oktober 1942

zer Schriftsteller und Lehrer Richard Zach, oder er entsandte umgekehrt seine „Fliegenden Senate“ nach Graz. Der erste Prozess des Volksgerichtshofs in Graz fand am 28. Juli 1942 statt. In den folgenden zwölf Verhandlungen des Volksgerichtshofs Ende Juli/Anfang August 1942 sprach er 24 Todesurteile gegen Angehörige der Landesleitung sowie der Bezirksleitungen der steirischen KPÖ und weitere 19 Todesurteile gegen burgenländische Kommunisten aus.64 Insgesamt verurteilten der Volksgerichtshof und das Oberlandesgericht in der Steiermark zwischen Juli 1942 und März 1945 über 130 Widerstandskämpfer und -kämpferinnen, aber auch Personen, die wegen wehrkraftzersetzender Äußerungen angeklagt worden waren, zum

Tode.65 Die in Graz vom Volksgerichtshof zum Tode Verurteilten wurden bis August 1943 in Wien im Landesgericht I hingerichtet, nachdem sie 100 Tage in der Todeszelle zuwarten hatten müssen. Im Frühjahr 1943 wurde im Südtrakt des Grazer Straf landesgerichtes eine Guillotine aufgestellt, wo zwischen August 1943 und März 1945 156 Menschen hingerichtet wurden, die vom Volksgerichtshof, vom Oberlandesgericht, von den Sondergerichten in Graz, Leoben und Klagenfurt, vom Militärgericht 438, Zweigstelle Graz und vom Sondergericht für politische Straftaten in der Untersteiermark in Marburg zum Tode verurteilt worden waren.66 Nachdem im März 1945 ein Justizbeamter das Fallbeil hatte verschwinden lassen, wurden die Häftlinge im April 1945 von der Gestapo in die SS-Kaserne bzw. nach Maria Grün gebracht und dort erschossen.67 Zur Entlastung des Wiener Oberlandesgerichts und zur schnelleren Erledigung der stark zunehmenden Hoch- und Landesverratsfälle wurde am 1. Oktober 1944 in Graz am Oberlandesgericht ein eigener politischer Senat eingerichtet, der fallweise auch in Leoben und Klagenfurt tagte.68 Vor diesem Grazer Senat wurden neben einigen wenigen Hoch- und Landesverratsachen vor allem Fälle nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung verhandelt. Neben diesen Gerichten gab es in der Steiermark noch ein SS- und Polizeigericht, Militärgerichte und in der Schlussphase der NSHerrschaft auch noch sogenannte Standgerichte und Militärstandgerichte. So wurde etwa in Graz auf Befehl des Befehlshabers des Wehrkreises XVIII am 1. April 1945 ein Militärstandgericht in der Reiterkaserne errichtet, das für Soldaten zuständig war, die sich ab 4. April länger als 24 Stunden unerlaubt von ihrer Truppe entfernt hatten.69 Ähnliche Militärstandgerichte gab es in der Steiermark aber auch noch in anderen Orten, wie z. B. in Göß, Zeltweg oder Hief lau, wo in einem als Verpf legstation

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

getarnten Auffangkommando über 30 Soldaten wegen mangelnder Ausweisleistung standrechtlich erschossen wurden.70 Jenseits der Rechtsprechung – die Gestapo Die NS-Justiz war nur ein Teilbereich im Gesamtkomplex des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Terrorapparates. So wurden beispielsweise rund 5.000 Steirer und Steirerinnen, ohne je vor ein Sondergericht, das Oberlandesgericht oder den Volksgerichtshof gestellt worden zu sein, von der Gestapo in ein Konzentrationslager eingeliefert. Der Hintergrund war, dass der nationalsozialistische Justizapparat, unter anderem auch um der ständigen Kritik des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei Heinrich Himmler nachzukommen, immer größere Zugeständnisse an den Polizeiund SS-Apparat machte. So wurde 1940 zwischen dem Volksgerichtshof und der Gestapo vereinbart, dass jede Person, die freigesprochen oder aus der U-Haft entlassen werde, grundsätzlich der Gestapo zu übergeben sei, was für viele mit einer Einweisung in ein Konzentrationslager endete. Im Jahr 1942 beschlossen Himmler und Reichsjustizminister Otto Thierack zudem die Auslieferung „asozialer Elemente“ – darunter verstanden sie Juden, „Zigeuner“, Russen und Ukrainer – aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur „Vernichtung durch Arbeit“. Beispielsweise wurden wegen verbotenen Umgangs bzw. Geschlechtsverkehrs mit Fremdund Zwangsarbeitern festgenommene Frauen, nachdem sie vielfach mit kahl geschorenem Kopf und einer Tafel um den Hals durch den Ort getrieben worden waren,71 wegen „Rassenschande“ vor Gericht gestellt. Die Fremdund Zwangsarbeiter wurden der Gestapo übergeben, die sie entweder in ein Konzentrationslager einwies oder wegen angeblicher Vergewaltigung hinrichtete.72

367

In Folge des Kompetenzgerangels zwischen Gestapo, SS und Justiz bestand daher – wie Wolfgang Neugebauer festgestellt hat – „im Dritten Reich ein schwer durchschaubares Gemenge von Legalität, Scheinlegalität und gesetzlosem Unrecht“.73 Das wichtigste und effizienteste Instrument des NS-Terror-Gemenges war die Gestapo,74 die durch Misshandlungen und Folter einen Großteil des organisierten Widerstandes zerschlagen hat.75 Die in den 1990er Jahren begonnene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gestapo hat den „Mythos der Gestapo“ als allwissende und allgegenwärtige Institution entzaubert. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass die Vorstellung, dass jeder Schritt beobachtet und jede Äußerung von dem vor der Tür lauernden Gestapobeamten registriert wurde, und ein Netz von Spitzeln über dem Land ausgebreitet war, mit der Realität nichts zu tun hatte und nur von der nationalsozialistischen Presse – „Stapo sieht, hört und weiß alles“76 – propagiert wurde. Die Gestapo reagierte in vielen Fällen erst, weil „Volksgenossen“ ihre Nachbarn denunziert hatten. Dies kommt etwa auch in der Aussage des Grazer Gestapobeamten Pius Edelmaier zum Ausdruck, der 1946 als Zeuge in einem Denunziationsprozess meinte: Außerdem ist es absurd, dass wir von selber gekommen sein sollten. Wir hatten Hals über Kopf zu tun und nicht die Zeit von Haus zu Haus zu gehen und nach Rundfunkverbrechern zu fahnden. Wo wir nichts wussten, konnten wir auch nichts vermuten.77 War die Gestapo in den Fällen privater Opposition und Unmuts auf die Denunzianten aus der Nachbarschaft angewiesen, so griff sie bei der Bekämpfung des organisierten Widerstandes auf den systematischen Einsatz von Konfidenten zurück. Denn erst diese – und nicht der einfache Denunziant, der diesen Gruppen fern stand – ermöglichten es der Gestapo, zielsicher

368

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

in die konspirativen Zellen und Gruppen einzudringen. Dabei bediente sich die Gestapo zumeist ehemaliger politischer Gegner, die verhaftet und um den Preis der Freilassung, des Nichtabschiebens in ein Konzentrationslager und ähnliches mehr wieder freigelassen wurden, um in der illegalen Organisation weiter tätig zu sein und das Nachrichtenreferat der Gestapo mit Informationen zu beliefern.78 Sofort nach dem „Anschluss“ 1938 wurde in Wien im Hotel Metropol die Staatspolizeileitstelle errichtet, die die politisch-polizeilichen Aufgaben der bisherigen Generaldirektion für öffentliche Sicherheit und der Polizei- und Sicherheitsdirektion Wien übertragen erhielt. Gleichzeitig wurde mit dem Runderlass Heinrich Himmlers über die „Organisation der Geheimen Staatspolizei“ die ehemalige Sicherheitsdirektion für Steiermark zur Staatspolizei-

Gestapo-Schutzhaftbefehl betr. Franz Riegler aus Mürzzuschlag, Dezember 1941 Sammlung Halbrainer, Graz

stelle, die einerseits direkt dem Geheimen Staatspolizeiamt Berlin unterstellt war und andererseits von der obersten Polizeibehörde in Wien – der Staatspolizeileitstelle – Weisungen erhalten konnte.79 Verdienstvolle illegale Nationalsozialisten und anpassungsfähige Polizeibeamte bildeten in Graz den über 100 Personen umfassenden Gestapoapparat,80 der beim Paulustor, Parkring 4, seinen Sitz hatte. Erster provisorischer Chef und damit für die ersten Verhaftungen in der Steiermark im März 1938 zuständig war der spätere Gauleiter Sigfried Uiberreither, ehe er vom „Reichsdeutschen“ Erwin Schulz abgelöst wurde. Schulz ließ sofort viele der Verhafteten wieder frei, wobei der bekannteste der Fürstbischof der Diözese Graz-Seckau, Ferdinand Pawlikowski, war.81 Als Leiter der Staatspolizeistelle Graz fungierten nacheinander folgende aus Deutschland kommende Personen: SS-Brigadeführer Erwin Schulz (bis Ende 1939), SS-Sturmbannführer Gustav Noske (bis Herbst 1940), SSSturmbannführer Walther Machule (bis Sommer 1943), SS-Obersturmbannführer Max Grosskopf (bis Dezember 1944) und zuletzt SSObersturmbannführer Josef Stüber. In Graz gliederte sich die Gestapo einer Aufstellung aus dem Jahre 1944 zufolge82 in ein Abwehrreferat, ein im August 1942 geschaffenes Nachrichtenreferat (IV N), in dem das Konfidentenwesen bearbeitet wurde, und in die Referate IV A bis IV C mit jeweils drei Unterabteilungen. Das Referat IV A war zuständig für die „Linksbewegung“, Verstöße gegen das „Rundfunk- und Heimtückegesetz“ und für „Partisanen und Widerstandstätigkeit“. Im Referat IV B wurden die „Rechtsbewegung“, „Religions-, Juden-, Schutzhaft- und KZ-Angelegenheiten“ sowie „Sabotage und Fallschirmspringerangelegenheiten“ bearbeitet. Im Referat IV C wurden schließlich die „Ausländerangelegenheiten“ erledigt. Die Ausländer unterlagen in Strafsachen einer Sonderbehandlung durch das Reichssi-

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

cherheitshauptamt (RSHA) in Berlin. Dabei kam es zu einer Arbeitsteilung zwischen der Gestapo Graz und dem RSHA in Berlin. Demnach war die Gestapo für Verhaftung, Einvernahme und Strafanträge zuständig, während das RSHA in Berlin den Vollzug der in den meisten Fällen beantragten Todesstrafe anordnete. Die Justifizierung fand letztlich wieder in Graz im hinteren Hof des Polizeipräsidiums statt.83 Vor allem in der Endphase der NS-Herrschaft errichtete man in mehreren Bezirkshauptstädten (damals Kreisstädten) Stützpunkte der Gestapo. Zudem wurde in Leoben eine Außendienststelle der Gestapo eingerichtet, die im April 1941 kurzfristig aus Personalmangel – die dort tätigen Beamten wurden nach Jugoslawien abkommandiert – geschlossen und am 20. November 1942 wieder eröffnet wurde.84 Die Gestapo Graz unterhielt auch noch Grenzkommandos in Fürstenfeld, Rechnitz, Heiligenkreuz und Jennersdorf sowie das Lager St. Dionysen. Gegenüber „Volksgenossen“, die staatspolizeilich „auffällig“ geworden waren, besaß die Gestapo eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten. So konnte sie bei leichten „Vergehen“ eine Verwarnung oder eine Geldstrafe, das sogenannte Sicherungsgeld, aussprechen, das eine Kaution war, die auf ein Sperrkonto einbezahlt und bei Wohlverhalten nach zwei oder drei Jahren entweder wieder zurückbezahlt oder der NSV bzw. dem Deutschen Roten Kreuz überwiesen wurde.85 Als weitere, eher leichtere Sanktionsmaßnahmen sind das Redeverbot sowie das Aufenthaltsverbot für bestimmte Regionen zu nennen, von denen vor allem Priester – als bekanntester etwa Johannes Ude, der 1939 des Gaues Steiermark verwiesen wurde und nach Grundlsee, damals „Oberdonau“, ging – betroffen waren.86 Viele politisch Verdächtige wurden in die sogenannte „Schutzhaft“ genommen. Die Schutzhaft war eine polizeiliche Maßnahme,

369

die es der Polizei erlaubte, Personen ohne richterliche Anordnung kurzfristig festzunehmen. Während im Normalfall der Verhaftete binnen 48 Stunden dem Richter vorzuführen ist, war dies während der Zeit der NS-Herrschaft nicht der Fall. Im „Schutzhafterlass“ aus dem Jahr 1939 heißt es dazu: „Die Schutzhaft kann als Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei zur Abwehr aller volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen gegen Personen angeordnet werden, die durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates gefährden.“ Diese war „grundsätzlich in staatlichen Konzentrationslagern zu vollstrecken“.87 Am 24. Oktober 1939 – also bald nach Kriegsbeginn – teilte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich in einem Runderlass mit, dass „Entlassungen von Häftlingen aus der Schutzhaft [...] während des Krieges im allgemeinen nicht“ stattfinden sollten.88 Einweisungen in Konzentrationslager erfolgten auch bei Personen, die zu zeitlich bedingten Freiheitsstrafen verurteilt und nach der Strafverbüßung der Gestapo überstellt worden waren.89 Neben der Einweisung in ein Konzentrationslager konnte die Gestapo auch Einweisungen in ein sogenanntes „Arbeitserziehungslager der Gestapo“ vornehmen, das es u. a. in der Steiermark in St. Dionysen (Gemeinde Oberaich, Bezirk Bruck an der Mur) gab. In der Endphase der NS-Herrschaft wurden einige Häftlinge der Gestapo einer sogenannten „Sonderbehandlung“, einer euphemistischen Umschreibung für Mord, unterzogen. Zwischen 2.  April und 2. Mai 1945 überstellten Kommandos der Grazer Gestapo 49 Gestapo-Häftlinge in die SS-Kaserne nach Wetzelsdorf, wo diese erschossen und am Feliferhof verscharrt wurden.90 In der Zeit zwischen dem Einmarsch deutscher Truppen und dem Kriegsende waren in der Steiermark von der Gestapo sowie anderen Dienststellen insgesamt 46.730 Personen ins

370

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

Diagramm: Zahl der politischen Häftlinge in Graz (Gefangenenhaus)

8000 7060

7000 6000 5000 4000 3702

3000 2000

2135

2052

3230 2695

1422

1840

1000 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 ( ab 13.3.) (bis 8.5.)

Gefangenenhaus beim Paulustor eingeliefert worden. Die einen (rund die Hälfte) wurden nach erfolgter Einvernahme wieder auf freien Fuß gesetzt, die anderen wurden den Gerichten übergeben (8.165) oder in ein KZ (5.416), ein Arbeitslager (2.431), ins Gaukrankenhaus (782) oder ins Sonderkrankenhaus Feldhof (161) eingeliefert bzw. an andere Gefangenenhäuser und Sicherheitsdienststellen übergeben. Unter den Gefangenen befanden sich 24.136 politische Häftlinge, von denen nur 15 Prozent während der NS-Zeit freigelassen wurden.91 Da das Gefangenenhaus zumeist voll belegt war, mussten 1941 sogar im Bezirksgericht Graz/ Paulustorgasse 15, zwei große Zellen angemietet werden. Durch den sprunghaften Anstieg an Verhaftungen 1944 wurden Häftlinge auch in einer Gefängnisbaracke in der Gendarmeriekaserne neben der Polizeidirektion untergebracht – darunter war auch der nachmalige Bundespräsident Dr. Adolf Schärf.

Der Sicherheitsdienst der SS Der Sicherheitsdienst der SS (SD)92 war ein innen- und außenpolitischer Geheimdienst, der sowohl die Bevölkerung als auch die Partei und ihre Gliederungen, die Wehrmacht und andere Institutionen bespitzelte. Er lieferte an das RSHA in Berlin regelmäßig allgemeine Stimmungsberichte aus der Bevölkerung 93 sowie Berichte über vermeintliche Mängel beim Durchgreifen der Gestapo. Der Gauleiter und die Hauptdienststelle der SS in Salzburg erhielten ebenfalls die von den Außendienststellen gewonnenen Informationen. Der Abschnitt Graz des SD war in der Villa Hartenau, Leechgasse 52, untergebracht.94 Der erste Leiter war bis 1939 der nachmalige Leiter der Heil- und Pf legeanstalt „Am Feldhof “, SS-Untersturmführer Dr. Oskar Begusch.95 Diesem folgte SS-Standartenführer Otto Lurker, der im Frühjahr 1941 als Kommandeur der Sicherheitspolizei (Sipo) und des SD für die Untersteiermark nach Marburg ging. In dieser Zeit vertrat ihn SS-Hauptsturmführer Dr. Fritz Clement, der, nachdem Dr. Hans Zeh-

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

lein im Jänner 1944 Leiter des SD Abschnitts Graz geworden war, Stellvertretender Leiter wurde. Dem Leiter unterstand das Referat Personal und Verwaltung, für die „Gegnererfassung, Verwaltung und Recht“ war SS-Untersturmführer Dr. Walter Karnitschnig, für „Volkstum und Ausländerfragen“ Dr. Roland Petrischek, für „Kultur, Kunst, Wissenschaft“ SS-Hauptsturmführer Dr. Georg Bertaloth, für „Wirtschaft“ SS-Obersturmführer Karl Chudziak und für „Kirche, Juden“ SS-Untersturmführer Werner Mirtl zuständig. Diese Referate erhielten von den 16 Außenstellen (aus allen größeren Städten der Steiermark, des der Steiermark angegliederten Südburgenlandes und der Untersteiermark) Informationen, wo etwa 180 „ehrenamtliche Mitarbeiter“ als Spitzel tätig waren. In Graz liest sich die Liste dieser „ehrenamtlichen Mitarbeiter“ übrigens wie ein städtisches „Who is Who“. So finden wir hier u. a. den Direktor der Handelsakademie, Dr. Franz Oberegger, den Rektor und Prorektor der Technischen Hochschule, Prof. Armin Schoklitsch und Dr. Ing. Adolf Härtel, den Leiter der 2. Medizinischen Abteilung am Landeskrankenhaus, Dr. Julius Hartmann, den Direktor der Steweag, Karl Augustin, den Leiter des Landesarbeitsamtes Dr. Brussilowsky, Staatsanwälte und viele andere mehr. Konzentrationslager in der Steiermark Über die hinlänglich bekannte Funktion der Konzentrationslager soll an dieser Stelle nicht mehr viel gesagt werden.96 Nur so viel: Das volle Ausmaß des von der Gestapo und anderen Stellen ausgeübten Terrors wurde erst durch die Errichtung und das Zusammenwirken mit den Konzentrationslagern erreicht. Die Einweisung in ein Konzentrationslager erfolgte dabei auf bloßen Verdacht, ohne Gerichtsverfahren, nur auf Grund eines Schutzhaftbefehls der Gestapo.

371

Ab dem Jahr 1942 kam den Konzentrationslagern auf Grund der auf Hochtouren laufenden Rüstungsanstrengungen einerseits und den durch militärische Rückschläge bedingten Schwierigkeiten bei der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte anderseits im System der Zwangsarbeit eine besondere Rolle zu. Die KZ-Häftlinge waren für das NS-Regime eine der letzten verfügbaren Arbeitskräftereserven, weshalb ab diesem Zeitpunkt die meisten der 40 Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen errichtet wurden. Von den 24.136 politischen Gefangenen im Polizeigefangenenhaus Graz wurden von der Gestapo über 20 Prozent (5.416) direkt in ein Konzentrationslager eingewiesen. Einige hundert Steirer und Steirerinnen kamen über Umwege – Strafanstalt, Arbeitslager oder franzö­ sische Internierungslager – in Konzentrationslager. In der Steiermark gab es insgesamt acht kleinere bis kleinste Außenlager des KZ Mauthausen. Diese sind in mehrere Gruppen einzuteilen:  frühe Lager in Bretstein, St. Lambrecht und Schloss Lind, wobei die beiden letzten Außenlager des KZ Dachaus waren,  Frauenkonzentrationslager, die ursprünglich als Außenlager des KZ Ravensbrück gegründet wurden, in St. Lambrecht und Schloss Lannach,97  Konzentrationslager, die im Umfeld von Rüstungsbetrieben errichtet wurden, in Eisenerz, Peggau und Af lenz bei Leibnitz. Das erste Konzentrationslager in der Steiermark und gleichzeitig eines der ersten Außenlager von Mauthausen überhaupt war jenes in Bretstein,98 das zwischen Juni 1941 und Juni 1943 bestanden hat. Im Bretsteingraben hatte die SS-eigene Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung GmbH 1939/40 Bergbauernhöfe erworben und sie als Versuchsbauernhöfe geführt. Zweck war die Erprobung von

372

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

Häftlinge des Konzentrationslagers St. Lambrecht Archives iconographiques de Mauthausen, Paris

landwirtschaftlichen Arbeitsweisen für sogenannte „Wehrbauernhöfe“ in Osteuropa – neben der Zucht von für das Bergland geeigneten Schaf- und Pferderassen wurde auch biologischdynamische Landwirtschaft betrieben. Für die verkehrstechnische Erschließung der Bauernhöfe und für Arbeiten auf den Höfen wurden KZHäftlinge aus Mauthausen nach Bretstein überstellt, die im Juni 1941 das Lager – vier Häftlingsbaracken und zwei SS-Unterkünfte – aufbauen mussten. Insgesamt waren in diesem Lager mindestens 170 vorwiegend spanische und deutsche Häftlinge inhaftiert. Als Außenlager von Dachau wurden im Mai und Juni 1942 die Lager im aufgelösten Benediktinerstift St. Lambrecht und im zum Stift gehörenden Schloss Lind bei Neumarkt gegründet.99 Die im beschlagnahmten Stift St. Lambrecht internierten rund 80 bis 100 Häftlinge – ursprünglich v. a. Polen sowie einige Jugoslawen, Tschechen, Österreicher und Deutsche – wurden, wie auch jene rund 20 bis 30 im Schloss Lind konzentrierten Häftlinge, vor allem in der Landwirtschaft und bei Bauarbeiten

(Wegebau, Kanalisation, Wasserleitung, Siedlungsbauten) für den Deutschen Reichsverein für Volkspflege und Siedlerhilfe e. V. eingesetzt. Beide Lager wurden im November 1942 dem Konzentrationslager Mauthausen unterstellt, von wo im Juli 1943 im Zuge eines Häftlingsaustausches spanische Häftlinge nach St. Lambrecht kamen. Im Mai 1945 wurden beide Lager befreit. Neben diesen drei bereits sehr früh errichteten Nebenlagern gab es zwei Frauenlager, die 1943 bzw. 1944 als Außenlager des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück gegründet wurden: das Außenlager St. Lambrecht100 und das Außenkommando im Schloss Lannach.101 In diesen beiden sehr kleinen Lagern waren nur Zeuginnen Jehovas interniert, die sogenannte frauenspezifische Tätigkeiten erledigen mussten. So wurden die im Mai 1943 nach St. Lambrecht überstellten 23 Frauen aus Deutschland, Belgien, Österreich und den Niederlanden für jene bislang von den männlichen KZ-Häftlingen getätigten Arbeiten in der Küche, der Gärtnerei bzw. im Reinigungsdienst herangezogen. Dass hierfür ausschließlich „Bibelforscherin-

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

nen“, wie die Zeuginnen Jehovas von den Nationalsozialisten genannt wurden, eingesetzt wurden, hängt u. a. damit zusammen, dass diese auf Grund ihrer Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit bei all den Arbeiten, die nicht im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst standen, wenig bis kein Wach- und Aufsichtspersonal erforderten. So schrieb Heinrich Himmler in einem Brief am 6. Jänner 1943 an SS-Standartenführer Oswald Pohl, den Leiter des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes und damit Herrn über die Arbeitssklaven in den Konzentrationslagern: „Ich ersuche den Einsatz der Bibelforscher und Bibelforscherinnen in der Richtung zu lenken, dass sie alle in Arbeiten kommen – in der Landwirtschaft z. B. –, bei denen sie mit Krieg und allen ihren Tollpunkten nichts zu tun haben. Hierbei kann man sie bei richtigem Einsatz ohne Aufsicht lassen; sie werden nie weglaufen. Man kann ihnen selbständige Aufträge geben, sie werden die besten Verwalter und Arbeiter sein.“102 Zehn Monate nach der Überstellung von „Bibelforscherinnen“ nach St. Lambrecht wurde in Ravensbrück erneut eine Gruppe mit 15 Zeuginnen Jehovas zusammengestellt, die zu Arbeiten auf ein der SS unterstelltes Schloss nach Mittersill103 abkommandiert werden sollte. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Mittersill wurden neun der 15 Frauen weiter nach Lannach in die Steiermark transportiert, wo Ende März 1944 im Schloss Lannach das zweite steirische Frauenlager als Außenstelle von Mittersill errichtet wurde. Auch hier wurden die Frauen für landwirtschaftliche Tätigkeiten aber auch für Arbeiten im Labor im Rahmen des 1943 gegründeten Sven Hedin Instituts für Innerasienforschung eingesetzt. Dieses ab 1943 in Mittersill angesiedelte Institut war eine Abteilung der SSForschungseinrichtung Ahnenerbe, dessen Aufgabe es war, geeignete Pf lanzensorten für den Anbau in eroberten und klimatisch wenig begünstigten Gebieten zu züchten.

373

Beide Frauenkonzentrationslager, die seit dem 15. September 1944 unter der Verwaltung des Konzentrationslagers Mauthausen standen, wurden im Mai 1945 befreit. Die drei größten steirischen Außenlager sind im Zusammenhang mit dem Arbeitskräftemangel und dem Luftkrieg und damit zusammenhängend der Verlagerung kriegswichtiger Produktionsstätten in unterirdische Anlagen zu sehen. So wurde Mitte Juni 1943 in Eisenerz, im Gsollgraben, ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen errichtet.104 Die rund 400 Häftlinge dieses Lagers wurden zum Bau der Präbichl-Straße und am Erzberg, wo bereits rund 5.000 ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im Rahmen der Reichswerke Hermann Göring arbeiteten, eingesetzt. Wegen der – im Vergleich zu den bislang genannten Lagern – sehr harten Arbeits- und Lebensbedingungen gab es in Eisenerz eine hohe Häftlingsf luktuation und zahlreiche Tote. Das Lager wurde Anfang März 1945 aufgelöst, und die verbliebenen 230 Häftlinge wurden in das Konzentrationslager nach Peggau-Hinterberg transportiert, von wo diese gemeinsam mit den dortigen KZ-Häftlingen im April nach Mauthausen überstellt wurden. Die beiden in der näheren Umgebung von Graz gelegenen Konzentrationslager Af lenz bei Leibnitz und Peggau wurden zwecks Verlagerung der Flugmotorenteileproduktion der SteyrDaimler-Puch-AG Graz-Thondorf errichtet.105 Um die Produktionsanlagen vor Bombenangriffen zu schützen, wurde Ende 1943 mit der Suche nach geeigneten Standorten begonnen. Als mit den Stollenanlagen im südlich von Graz gelegenen Römer-Steinbruch die geeignete Stätte – Tarnname „Kalksteinwerke“ – gefunden worden war, wurden im Februar 1944 die ersten 200 Häftlinge nach Af lenz überstellt, die das Lager – vier Unterkunftsbaracken, eine Küche, Wachtürme und zwei SS-Baracken – aufbauen mussten. Für den Stollenbau und später

374

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

Exhumierung im ehem. KZ-Nebenlager Peggau Sammlung Halbrainer, Graz

in der Produktion wurden rund 900 KZ-Häftlinge – vor allem aus der Sowjetunion, Polen, Jugoslawien und dem Deutschen Reich – eingesetzt, wobei der Höchststand im Lager 711 Personen betrug. Anfang April 1945 wurde das Lager aufgelöst, und die zu diesem Zeitpunkt noch im Konzentrationslager befindlichen Häftlinge wurden über Gaberl und Hohentauern ins Konzentrationslager Ebensee getrieben, wobei es in der Nähe von Voitsberg und Judenburg zu Fluchtversuchen kam. Da offenbar ein weiterer Ausbau des Römersteinbruchs in Af lenz nicht möglich war, wurde nördlich von Graz, in Hinterberg bei Peggau, im August 1944 ein weiteres Konzentrationslager errichtet. Rund 600 bis 700 KZHäftlinge mussten zwei Kilometer nördlich vom Lager in der Peggauer Wand in Tag- und Nachtschichten sieben Meter hohe und ebenso breite Stollen für die Steyr-Daimler-Puch-AG in den Berg treiben. Die Stollenanlage mit dem Tarnnamen „Marmor” war bis März 1945 fertig ausgebaut und die Werkzeugmaschinen hierher ausgelagert, sodass über 2.800 Arbeitskräfte aus dem Thondorfer Werk hier beschäftigt hätten werden können. Am 2. April 1945 wurde das Konzentrationslager evakuiert, und die Häftlinge wurden – mit den vom KZ Eisenerz überstellten waren es 872 – in einem Fußmarsch

nach Bruck an der Mur getrieben und dann mit der Eisenbahn ins KZ Mauthausen überstellt. Misshandlungen und teilweise willkürliche Erschießungen durch die ukrainischen Wachmannschaften fanden täglich statt. Allein in den ersten drei Monaten wurden 32 Häftlinge ermordet und ins Krematorium nach Graz überstellt. Das Morden ging weiter bis zuletzt, als anlässlich der Evakuierung alle nicht mehr marschfähigen Häftlinge aus dem Krankenrevier geholt und in der Nähe des Lagers erschossen wurden. Bei Exhumierungen nach der Befreiung fand man in mehreren Gräbern in und um Peggau 77 Leichen, sodass man davon ausgehen kann, dass mindestens 100 Häftlinge des Lagers Peggau in nur sieben Monaten ermordet worden waren. Nachgeschichte Nach der Befreiung versuchte man im Rahmen von Strafverfahren die Verbrechen der Nationalsozialisten zu ahnden.106 So wurden führende steirische Nationalsozialisten vor das Volksgericht Graz bzw. den Senat Leoben gestellt. Während der ehemalige Gauleiter Uiberreither 1947 aus der alliierten Haft entkommen konnte und in der Folge bis zu seinem Tod 1984 als Friedrich Schönharting in Sindelfingen

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

(Deutschland) lebte, wurden die ehemaligen Funktionäre vom Ortsgruppenleiter aufwärts zumeist zu einem Jahr Kerker und mehr verurteilt.107 Die für die NS-Verbrechen und den Terror Verantwortlichen in der Justiz blieben in der Steiermark – mit Ausnahme von Verurteilungen wegen illegaler Mitgliedschaft in der NSDAP – unbehelligt.108 Führende Grazer Gestapo-Beamte, allesamt Deutsche, wurden wegen anderer Verbrechen – v. a. im Rahmen der Einsatzgruppen im Osten – von alliierten Gerichten in Deutschland zum Tode bzw. zu teilweise langen Kerkerstrafen verurteilt. Die steirischen Gestapobeamten wurden wegen Misshandlungen und Verletzung der Menschenwürde zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Der Leiter der Gestapo Leoben, Johann Stelzl, wurde 1947 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Beamte des SD der SS wurden in der Steiermark nur wegen illegaler Mitgliedschaft in der NSDAP verurteilt. Der Leiter des SDAbschnittes Graz, Otto Lurker, starb in der Untersuchungshaft in Ljubljana/Laibach, wohin er wegen seiner Verbrechen als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für die Untersteiermark ausgeliefert worden war. Für die Verbrechen in den steirischen Konzentrationslagern wurde SS-Untersturmführer Fritz Mi-

375

roff, der ab Juni 1944 für das KZ Af lenz und danach auch für das KZ Peggau zuständig gewesen war, in den US-amerikanischen Mauthausenprozessen in Dachau 1948 zum Tode verurteilt. Sein Vorgänger in Af lenz, der spätere Lagerführer von Mauthausen, SS-Obersturmführer Hans Altfuldisch, wurde ebenfalls zum Tode verurteilt.109 Miroffs Nachfolger in Af lenz, Paul Ricken, wurde zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Vom österreichischen Lagerpersonal wurde lediglich der Kommandant der Lagerwache Franz Weber vom Volksgericht Graz 1946 zu 20 Jahren Haft verurteilt; das Urteil wurde 1949 wieder aufgehoben und das Verfahren schließlich 1950 eingestellt.110 Die Verbrechen im Zusammenhang mit den Todesmärschen ungarischer Juden durch die Steiermark wurden sowohl von Britischen Militärgerichten als auch von österreichischen Volksgerichten geahndet. So war der erste Kriegsverbrecherprozess in der Steiermark der „Eisenerz-Prozess“, bei dem im April 1946 17 Angehörige des Volkssturms und der Leobener Kreisleiter vom Britischen Militärgericht angeklagt und zehn der Angeklagten zum Tode verurteilt wurden. Bis Ende 1948 sollten dreizehn weitere britische Militärgerichtsprozesse wegen der Ermordung ungarischer Juden folgen.111

376

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

Anmerkungen Dieser Beitrag wurde im Jahr 2007 abgeschlossen. Der sogenannte „Anschluss“ war nicht nur ein Akt des Einmarsches einer feindlichen Armee, sondern ein mehrstufiger Prozess von Innen und Außen. Vgl. u. a. Botz, „Anschluß“ 3–19; Botz, Eingliederung Österreichs. 2 H anisch, Der lange Schatten 337. 3 Zur Frage des Antisemitismus und der slowenischen Bevölkerung in der Steiermark vgl. u. a. Stenner, Slowenische Steiermark; Rütgen, Antisemitismus. 4 Mit dem „Anschluss“ erfolgte auch die Übernahme der Nürnberger Rassengesetze von 1935. 5 Siehe den Beitrag von Gerald Lamprecht über die Zerstörung der jüdischen Gemeinde von Graz in diesem Band. 6 Vgl. dazu zuletzt: H albrainer/Lampr ­ echt, NSHerrschaft in der Steiermark. 7 Über die Frühphase der NSDAP in der Steiermark bzw. Graz sowie den „Anschluss“ 1938: Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 31–74; Hochfellner, Der politische Umbruch; K arner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 27ff. 8 K arner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 51ff.; Binder, Beobachtungen 109–123. 9 Desput, Presse 353–380. 10 Österreichweit sind in den ersten Tagen der NSHerrschaft zwischen 50.000 und 76.000 Menschen verhaftet worden. Vgl. Stadler, NS-Akten 27; RotWeiß-Rot-Buch (1946), 160. Für die Steiermark: Polaschek, Wehe den Besiegten 107–128. 11 Hüttenberger, Gauleiter 142ff. 12 „Aufruf an die Partei! Parteigenossen und Parteigenossinnen aus Österreich!“: In: Tagespost, Morgenblatt (17. 3. 1938). Dieser Aufruf wurde auch in anderen Medien geschaltet. Vgl. Botz, Wien 193. 13 „Die Erfassung von Mitgliedern der NSDAP“. In: Tagespost, Morgenblatt (1. 5. 1938). 14 Tagespost, Morgenblatt (1. 5. 1938). Dazu findet sich neben der Anordnung Bürckels noch ein Beitrag, der mit „Wie werde ich Nationalsozialist?“ betitelt ist. 15 Botz, Strukturwandlungen 188. 16 Vgl. Stiefel, Entnazifizierung 98f.; K arner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 452. 17 Abschrift des Schreibens von Konstantin Kammerhofer an Gauleiter Dr. Siegfried (!) Uiberreither, 30.  7. 1940, mit zahlreichen Beilagen. StLA, LGS Leoben, Vr 1720/46. 18 Schafranek, Sommerfest 21f. und 30f. 19 Liste mit Mitgliederständen zit. nach: Jagschitz, „Bewegung“ 119. Zur Wohnbevölkerung siehe: Die * 1



20 21



22

23

24



25



26 27



28



29



30 31

32



33

34

35





36

37



38

Bevölkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939, Heft 1, Tabellenteil (1943), I/192ff. Botz, Eingliederung Österreichs 92ff. K arner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 74ff. Zu Tobias Portschy: Mindler, Tobias Portschy 154ff. K arner, Maßgebende Persönlichkeiten 397f. „Gau Steiermark“. In: Tagespost, Morgenblatt (26. 5. 1938). Tagespost, Morgenblatt (29. 5. 1938). „Bestellung der Gau-Amtsleiter und Kreisleiter“. In: Tagespost, Morgenblatt (29. 5. 1938). Botz, Eingliederung Österreichs 88. Organisations- und Geschäftsverteilungsplan der Gauleitung Steiermark der NSDAP 1940. Siehe auch: Adressbuch von Graz 1939, 1940, 1941, 1942, 1943/44. Fabricius, Organisatorischer Auf bau. Bei den jeweiligen Diensträngen wurde – soweit dies möglich war – derjenige genommen, den der Betreffende bei der Ernennung innehatte. Hoffer starb an der Front. Vgl. Nationalsozialistischer Gaudienst, 183/43. Befehlsblatt des Gaues Steiermark der NSDAP, div. Befehlsblätter. Mindler, Presse 96–122. Befehlsblatt des Gaues Steiermark der NSDAP, 3/ März 1944: Gaupropagandaamt: Rundschreiben 3/44. P romitzer, Täterwissenschaft 93–113. Organisations- und Geschäftsverteilungsplan der Gauleitung Steiermark der NSDAP 1940. Von diesen 280 waren 64 Büroangestellte und acht Wagenführer. Botz, Strukturwandlungen 189ff. Vgl. allgemein auch: Hüttenberger, Nationalsozialistische Polykratie 417–442. Jagschitz, „Bewegung“ 88–122. Zur Betreuung und „Menschenführung“ heißt es in der „Anordnung über die Verwaltungsführung in den Landkreisen vom 28. Dezember 1939“, in: RGBl. 1940, I, 45f.: „Die Menschenführung ist ­a llein Aufgabe der Partei und wird in der Kreisstube durch den Kreisleiter wahrgenommen. Er ist den übergeordneten Parteidienststellen verantwortlich für die Stimmung und Haltung der Bevölkerung im Landkreise, insbesondere für die Stärkung der seelischen Kräfte aller Volksgenossen zur Verteidigung des Reichs.“ Botz, Wien 208. Organisationsbuch der NSDAP (1943), 101.

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark „Der Auf bau der Partei“. In: Der Ostmarkbrief (August 1938). 40 Seidler, Kraftfahrkorps 625–636. 41 Organisations- und Geschäftsverteilungsplan der Gauleitung Steiermark der NSDAP 1940. Zu den einzelnen Organisationen vgl. auch: Organisationsbuch der NSDAP (1943), 358ff. 42 Jagschitz, „Bewegung“ 108; Botz, Wien 211. 43 2 Jahre NSV im Gau Steiermark (o. J.); allgemein: Vorländer, NS-Volkswohlfahrt und Winterhilfswerk 341–380. 44 Mindler, Tobias Portschy 185. 45 A ly, Hitlers Volksstaat. 46 Vgl. auch: H albrainer, NS-Terror in der Steiermark 243–266. 47 H albrainer, „Der größte Lump“. 48 Vgl. Salzmann, Graz 147–168; H erzog, Erinnerungen eines Rabbiners; Biró, Die erste Hälfte meines Lebens; Bericht des SD-Unterabschnittes Steiermark an SD-Führer des SS-Oberabschnittes Donau betr. Maßnahmen gegen Juden, 23. 11. 1938; Staudinger, Pogromnacht 42–50. 49 Lappin, Todesmärsche ungarischer Juden 263–289. 50 Halbrainer/Ehetreiber, Todesmarsch Eisenstraße. 51 RGBl. 1933, I, 35–41 („Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933“); RGBl. 1933, I, 83 („Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933“), RGBl. 1933, I, 135 („Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933“); RGBl. 1933, I, 136–138; („Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933“). 52 RGBl. 1939, I, 1455-1457 („Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz (Kriegssonderstrafrechtsverordnung) vom 17. August 1938“). Diese Verordnung wurde bereits im August 1938 beschlossen und am Vorabend des Zweiten Weltkriegs (26. 8. 1939) in Kraft gesetzt. 53 RGBl. 1934, I, 1269-1271 („Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform vom 20. Dezember 1934“). Ebenfalls bestraft wurde, wer „öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP., über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben [...]. Den öffentlichen Äußerungen stehen nichtöffentliche böswillige Äußerungen gleich, 39



54

55



56

57





58 59

60





61



62

63

64

65





66



377

wenn der Täter damit rechnet oder damit rechnen muss, dass die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde.“ RGBl. 1939, I, 1683 („Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939“). Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31. 5. 1938. In: DÖW, „Anschluß“ 616f. Tagespost (26. 5. 1938) („Die Nürnberger Rassengesetze in Österreich“); Der Ostmarkbrief (November 1938) („Blut und Rasse als Lebensgesetze“). Form, Politische NS-Strafjustiz in Österreich und Deutschland 13–34; Form, Politische NS-Strafjustiz in Deutschland und Österreich 9–26; Szecsi/Stad ler, NS-Justiz; Neugebauer, Politische Justiz 169– 209; Gebhardt, Justiz in Graz 97–123. Neugebauer, Politische Justiz 187. RGBl. 1938, I, 1632 („Verordnung über Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte vom 20. November 1938“). RGBl. 1939, I, 1679 („Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939“); RGBl. 1939, I, 2378 („Verordnung gegen Gewaltverbrecher vom 5. Dezember 1939“); RGBl. 1939, I, 1609 („Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939“). Polaschek, Volksgerichte (2002), 105ff. Die Liste der zum Tode Verurteilten ist hier abgedruckt. Vgl. dazu: Brunner, Hinrichtungen und Tötungen 281. Brunner nennt nur 37 Fälle. M arxen, Das Volk und sein Gerichtshof. RGBl. 1938, I, 640–642 („Verordnung über die Einführung der Vorschriften über Hochverrat und Landesverrat im Lande Österreich vom 20. Juni 1938“). Diensttagebuch von Egon Arthur Schmidt, 27. Juli 1942 bis April 1943. (= DÖW 897). Allgemein zum Tagebuch von Egon Arthur Schmidt vgl. Konrad, Widerstand 207ff. und 222ff. Dazu: H albrainer, „In der Gewißheit“ 221; H albrainer, Steirer als Opfer 148–150. Dabei handelt es sich um jene Steirer und Burgenländer, die in Graz zum Tode verurteilt und in Wien hingerichtet wurden oder dort in Haft starben (63), um 15 Begnadigte und 54 in Graz zum Tode Verurteilte und hier Hingerichtete und um jene, die von der SS im April 1945 abgeholt und in der SS-Kaserne in Graz erschossen wurden. Brunner, Hinrichtungen und Tötungen 278. Nach einer Aufstellung des Präsidenten des Landesgerichts für Strafsachen sind hier 90 Personen aus politischen Gründen hingerichtet worden, was nach neuesten Erkenntnissen falsch ist. Die Aburteilung

378



67

68

69



70



71



72



73 74

77 75 76

78



79



80

81



82

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark

erfolgte durch den Volksgerichtshof, das Oberlandesgericht, die Sondergerichte Graz, Leoben und Klagenfurt sowie durch das Marburger Sondergericht für politische Straftaten in der Untersteiermark. Darüber hinaus wurden noch 23 Militärpersonen hingerichtet. Jv 892-30/62-12 (= DÖW 1936); Das „Rot-Weiß-Rot“-Buch zitiert ein Protokoll des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 25. 5. 1946, wo 155 Hinrichtungen in Graz angegeben werden. Brunner, Hinrichtungen und Tötungen 281. Bericht der Generalstaatsanwaltschaft Graz vom 28. 9. 1944 und Bericht des Oberlandesgerichtspräsidenten Meldt vom 30. 11. 1944. In: Form/Uthe, NS-Justiz in Österreich, 184f. Brunner, Hinrichtungen und Tötungen 286. H albrainer, „In der Gewißheit“ 225–227; Ober­ steirisches Tagblatt (2. 6. 1945, 25. 6. 1945); Ober­ steirische Rundschau (9. 2. 1946). Beispielsweise wurden der in Rein im Stift beschäftigten Klosterschwester Helene am 13. 4. 1945 die Haare abgeschnitten und sie wurde mit einer Tafel um den Hals durch den Ort getrieben, auf der stand: „So sieht eine Hure aus, die f lüchtige Kriegsgefangene längere Zeit verborgen hielt.“ Sie hatte zwei notgelandete britische Soldaten versteckt. StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 8582/47. So wurde der Pole Franz Kiec hingerichtet, da er fälschlich denunziert worden war, eine „deutsche Frau“ vergewaltigt zu haben. StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 333/46. Allgemein dazu: Brunner, Hinrichtungen und Tötungen 286f. Neugebauer, Politische Justiz 181. Neugebauer, NS-Terrorapparat 721–743; Paul/ M allmann, Gestapo. Neugebauer, NS-Terrorapparat 732. Johnson/R euband, Gestapo 417–436. Zeugenvernehmung Pius Edelmaier vom 7. 8. 1946, in: StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 1306/46. Schafranek, V-Leute und „Verräter“ 300–349; A lbu/Weisz, Spitzel und Spitzelwesen 169–208. Davy, Geheime Staatspolizei; Weisz, Gestapo in Österreich 443. Allgemein zur personellen Zusammensetzung: Weisz, Gestapo in Österreich. Was Weisz im Titel suggeriert, ist irreführend, worauf bereits Neugebauer, NS-Terrorapparat 729f. hingewiesen hat. Liebmann, Die katholische Kirche in Graz 167–202. Zum Auf bau und der personellen Besetzung StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, 20 Vr 4842/47: Zeugenaussage des Gestapomitarbeiters Alois Nagler. Ein anderer Auf bau der Gestapo ( jedoch ohne Da-

tum) ergibt sich laut einer Legende für die GestapoKartei Graz (Sammlung Halbrainer). 83 Neue Steirische Zeitung (13. 6. 1945) („Wir spielen Auf hängen“); StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 1234/48. 84 Aussage Johann Stelzl in der Hauptverhandlung am 11. 3. 1947, in: StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 1138/46, Hauptverhandlungsprotokoll in der Strafsache gegen Johann Stelzl, 2. 85 Beispielsweise: Volksgericht Graz Vr 2563; Vr 3801/46; Vr 2620/46 in Vr 1703/51. 86 Vgl. Liebmann, „Reichskristallnacht“ 263–272. 87 Schutzhafterlass vom 25. 1. 1939, zit. nach: Broszat, Konzentrationslager 74f. 88 Zit. nach: Broszat, Konzentrationslager 120f. 89 Beispielsweise das Faksimile eines Schutzhaftbefehls gegen Franz Riegler. In: H albrainer, „In der Gewißheit“ 184. 90 Janeschitz, Felieferhof; H albrainer, Terror und Erinnerung. 91 StLA, Nachlass Rudolf Weissmann, Heft 2, 155a –m „Sicherheitsverhältnisse während des zweiten Weltkrieges“; Brunner, Hinrichtungen und Tötungen 279; Jäger, Polizei und Gendarmerie 248. 92 Buchheim, Die SS. 93 Boberach, Meldungen aus dem Reich. 94 Beer, NS-Bespitzelung 389–404; „Ein Netz von Spitzeln über dem ganzen Lande. Organisation und Aufgabe des berüchtigten SD-Dienstes“. In: Neue Steirische Zeitung (10. 6. 1945). 95 Poier, Vergast im Schloss Hartheim 99. 96 Allgemeines zu den österreichischen Konzentrationslagern: Benz/Distel, Ort des Terrors; M aršálek, Mauthausen; R abitsch, Konzentrationslager. 97 H albrainer, Ravensbrück 117–134; Baumgartner, Mauthausen 127ff. 98 Die Darstellung folgt: Perz, Bretstein 351ff. 99 Seiler, SS im Benediktinerstift; Perz, St. Lambrecht (Männer) 431ff.; P erz, Schloss Lind 422f. 100 Farkas, Bibelforscherinnen. 101 Halbrainer, Das „vergessene“ KZ-Außenlager 6; Halbrainer, Schloss Lannach 14–16; Perz, St. Lambrecht (Frauen) 429f. 102 Faksimile des Briefes vom 6. 1. 1943. In: Farkas, Bibelforscherinnen 34f. 103 Dohle/Slupetzky, Zwangsarbeit 221–226. 104 Freund, Eisenerz 360ff.; H albrainer/A nzenberger, Zwischen den Fronten 31ff. 105 Perz, Leibnitz 386ff.; P erz, Peggau 414ff.; Farkas, „Sag mir, wer die Toten sind!“. 106 H albrainer/Polaschek, NS-Gewaltverbrechen 236–250; H albrainer/Polaschek, „Zu Recht erkannt“ 99–136.

Halbrainer / NS-Herrschaft in der Steiermark Polaschek, Volksgerichte (2002), 76ff. und 132ff. Polaschek, Volksgerichte (2002), 123ff. 109 Zu den KZ Mauthausen Prozessen: Sigel, Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 105–107. 110 LG für Strafsachen, Vr 727/62. Verfahren gegen Franz Weber. Im Akt befinden sich auch die Akten Vr 166/45 und Vr 3555/50. 107

108

111

379

Zu den Prozessen allgemein: Lappin, Ahndung von NS-Gewaltverbrechen 32–53. Zu den Prozessen wegen der Morde in und um Eisenerz: H albrainer, „Unsere Pf licht“ 95–134.

Helmut Gebhardt

Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

März 1938 – Umbruch Wie auf fast allen Ebenen der Staatsorganisation kam es auch an der Spitze der steirischen Landesverwaltung nach dem Rücktritt des österreichischen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg und der Bestellung des Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zu seinem Nachfolger am Abend des 11. März 1938 zu entscheidenden personellen Umbrüchen. Der damalige steirische Landeshauptmann Rolph Trummer1, der erst seit 3. März 1938 als Nachfolger des prononcierten NS-Gegners Karl Maria Stepan im Amt war, musste in der Nacht zum 12. März 1938 abdanken. Der bisherige illegale Gauleiter der NSDAP Sepp Helfrich 2 konnte so am 12. März 1938 um 1 Uhr 30 früh sein Amt als kommissarischer Landeshauptmann antreten.3 Eine halbe Stunde später, um 2 Uhr morgens, ernannte Helfrich sogleich eine neue Landesregierung: Armin Dadieu4 wurde Landesstatthalter, der Landwirt Sepp Hainzl5 Landeshauptmannstellvertreter, und die Herren Josef Papesch6 (Kultur), Alois Sernetz7 (Finanzen),

Heinrich Pagl8 (Sozialwesen) und Josef Grassl wurden zu Landesräten bestellt. Neuer Landesregierungsdirektor wurde Dr. Franz Fina, der bis dahin Oberregierungsrat in der Abteilung 7 (Handel, Gewerbe und Industrie) der Landeshauptmannschaft gewesen war.9 Helfrich initiierte umgehend auf allen Ebenen der Verwaltung gewaltige personelle Veränderungen. Fast alle steirischen Verwaltungsbezirke erhielten neue Bezirkshauptleute. Er löste außerdem die damals bestehenden Gemeindevertretungen – die Gemeindetage – auf und enthob die Bürgermeister. Im Einvernehmen mit den Bezirkshauptmännern und den NSDAPKreisleitern wurden in den folgenden Wochen nahezu alle 1.028 Bürgermeisterposten neu besetzt. Dabei kamen in der Regel gemäßigtere Vertrauensleute der NSDAP zum Zug, die auch in der Bevölkerung auf Zuspruch rechnen konnten. Unter den neuernannten Bürgermeistern gab es in der Mehrzahl Pensionisten, Rechtsanwälte, Gewerbetreibende und Bauern.10

382

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

Staatsrechtliche Veränderungen – Neue Landesgrenzen Nach diesen personellen Veränderungen im Bereich der politischen Funktionsträger dominierten bei den neuen Machthabern Überlegungen über die zukünftige verwaltungsorganisatorische Gestaltung des Landes Steiermark. Dazu fielen bereits in den unmittelbaren Tagen nach dem „Anschluss“ in Wien und in Berlin wichtige Vorentscheidungen. Allgemeine Rechtsgrundlage für die nun einsetzenden Planungen war das sogenannte Wiedervereinigungsgesetz11 vom 13. März 1938, das den „Anschluss“ staatsrechtlich absicherte. Darin war nur ganz allgemein festgelegt, dass Österreich als „Land“ in das Deutsche Reich integriert werden sollte. Damit gingen auch alle Hoheitsrechte Österreichs auf das Deutsche Reich über. Gleichzeitig wurde Österreich als Ganzes auf eine Stufe mit den übrigen deutschen Ländern gestellt, wobei die Umsetzung von vornherein nicht so einfach war. Denn das „Land Österreich“ zerfiel ja weiterhin in neun Länder mit eigenen Landesregierungen. Es war also von vornherein klar, dass man um diesbezügliche Strukturbereinigungen nicht herumkam, um die Verwaltungsstrukturen in das Gesamtschema des zentralistischen NS-Staates einzubauen.12 Diese neuen Strukturen in der Verwaltungsorganisation konnten jedoch nicht ad hoc eingeführt werden, sondern erst nach einer gewissen Übergangsphase. Deshalb behalf man sich in diesem ersten Stadium mit Organisations­ regelungen, die noch nicht ganz ins allgemeine Schema passten. Mit Erlass des Führers vom 15.  März 1938 wurde zunächst die österreichische Bundesregierung in „Österreichische Landesregierung“ umbenannt und der „Reichsstatthalter in Österreich“ mit deren Führung betraut.13 Zum Reichsstatthalter hatte Hitler, ebenfalls am 15. März, Arthur Seyß-Inquart ernannt. Der Reichsstatthalter hatte dabei eine

Doppelstellung zu erfüllen; einerseits war er in seiner Eigenschaft als Chef der Landesregierung Landesorgan und andererseits als Reichsstatthalter unmittelbares Reichsorgan.14 Damit war aber noch lange nicht entschieden, ob bzw. in welcher Form die bestehenden österreichischen Bundesländer in den neuen Gesamtstaat eingebaut werden sollten oder konnten. Zunächst ließ man jedenfalls die neun Bundesländer bestehen, wenngleich sich die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen massiv veränderten. Mit Erlass des Führers vom 17. März 1938 wurde auch hier das Gesetz über den Neuauf bau des Reichs vom Jahre 1934 eingeführt, das die Stellung der deutschen Länder regelte. Demnach wurden die bis dahin bestandenen parlamentarischen Organe des autoritären österreichischen „Ständestaates“ – vom Bundestag bis hin zu den Landtagen – ausdrücklich abgeschafft. Und gleichzeitig gingen die Hoheitsrechte der Bundesländer auf das Reich über.15 Die konkrete Wahrnehmung der Hoheitsrechte wurde den Landesbehörden zwar überlassen, allerdings hatten sie dies im Auftrag und im Namen des Reiches zu vollziehen und nur insoweit, als das Reich im Einzelfall nicht von diesen Rechten Gebrauch machte. Die Länder verloren damit ihren Gliedstaatscharakter und wurden zu reinen Verwaltungsbezirken des Reiches.16 Mit Verordnung vom 30. April 1938 erhielten die Landeshauptmänner ein beschränktes Gesetzgebungsrecht. Sie konnten durch Verordnungen in allen jenen Kompetenzbereichen Recht setzen, die bis dahin Landessache waren und bei denen es keine konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit des Reiches gab. Damit wurde aber kein selbstständiges Landesrecht gesetzt, sondern mittelbares, regionales Reichsrecht. An der bis dahin bestandenen Kompe-

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

tenzaufteilung zwischen Bund und Ländern wurde vorläufig festgehalten. Einige Bereiche, die bis dahin in die Landeskompetenz gefallen waren, gehörten allerdings nunmehr zur Gesetzgebung des Reiches, wie zum Beispiel das Theater- und Lichtspielwesen, das Jagdwesen und das Fürsorgerecht.17 Zur endgültigen Gestaltung der Bundesländer im Rahmen des Deutschen Reiches setzten bereits in den Wochen nach dem „Anschluss“ innerhalb der NS-Hierarchien umfassende Diskussionen ein, wobei es verschiedene Denkmodelle gab. Die verwaltungsorganisatorische Gliederung der „Ostmark“ sollte sich letztlich an der Einteilung der NSDAP-Parteigaue anlehnen, wobei man sich an der allgemeinen Zielvorgabe des NS-Staates – nämlich die „Einheit von Partei und Staat“ zu erreichen – zu orientieren hatte.18 Ganz entscheidenden Einf luss auf diesen Fragenkomplex hatte Josef Bürckel19, der bereits am 13. März 1938 zum kommissarischen Leiter der NSDAP in Österreich bestellt und gleichzeitig mit der Organisation der Volksabstimmung über den „Anschluss“ betraut worden war.20 Diese Volksabstimmung, die dann am 10. April 1938 nach einer gut inszenierten Propagandalawine über die Bühne ging und quasi das Selbstbestimmungsrecht wahren sollte, brachte ein für Diktaturen typisches Ergebnis von 99,6 Prozent.21 Nach so guter Erledigung seiner Aufgabe wurde Bürckel unmittelbar danach von Hitler zum „Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ ernannt. Bürckels Entscheidungsbefugnisse erstreckten sich auf Grund dieses Auftrages auf fast alle Behörden und Dienststellen. Bürckel fungierte damit als Leitstelle für den Auf bau der Verwaltung in Österreich und überrundete damit auch die Kompetenzen Seyß-Inquarts. Er konnte selbstständige Anordnungen an die Behörden ausgeben und wies diese sogar an, bei allfälligen Unklarheiten in

383

Bezug auf Zuständigkeiten seine Entscheidung einzuholen.22 Im Einvernehmen mit dem Führer legte Bürckel schließlich am 31. Mai 1938 die Einrichtung von sieben Parteigauen auf dem Gebiet des ehemaligen Österreich fest, wobei vielfache Korrekturen im Vergleich zu den bisherigen Landesgrenzen erfolgten.23 Für die Steiermark brachte dies zum einen den Verlust des Gerichtsbezirkes Aussee, der an den Gau Ober­ donau fiel. Dieser Verlust der steirischen Identität löste unter der dortigen Bevölkerung eine

Dipl.-Ing. Sepp Helfrich. Kommissarischer Landeshauptmann der Steiermark vom 12. 3. 1938 bis 23. 5. 1938 UMJ/MMS

384

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

teilweise große Missstimmung aus.24 Andererseits vergrößerte sich die Steiermark durch die neuen Grenzziehungen um die Gebiete des südlichen Burgenlandes mit den Bezirken Oberwart, Güssing und Jennersdorf. Dies hatte zur Folge, dass der damalige kommissarische Landeshauptmann des Burgenlandes Dr. Tobias Portschy zum stellvertretenden Gauleiter der Steiermark aufrückte und diese Funktion bis Kriegsende behielt.25 Das bereits abgesprochene Vorhaben, den Lungau der Steiermark zuzuteilen, konnte allerdings im letzten Moment auf Grund massiver Widerstände und einer Intervention bei Hermann Göring nicht realisiert werden.26 Diese Gebietskorrekturen galten vor-

erst nur für die Parteiebene und sollten erst im Oktober 1938 von der staatlichen Verwaltungsstruktur übernommen werden.27 Als sich die territoriale Neugestaltung der Steiermark abzeichnete, erfolgte ein personeller Wechsel auf der obersten Ebene des Gaues. Der seit dem „Anschluss“ amtierende Landeshauptmann Helfrich hatte sich letztlich innerhalb der Parteihierarchien der NSDAP nicht behaupten können, da er eher dem gemäßigten Flügel zugerechnet wurde. Deshalb wurde Helfrich am 23. Mai 1938 von Sigfried Uiberreither28 als Gauleiter und Landeshauptmann abgelöst und auf den Posten des Landesbaudirektors abgeschoben.29

„Säuberung“ der Beamtenschaft In der Zwischenzeit hatten sich auf den verschiedenen Verwaltungsebenen in der Steiermark schon gewaltige personelle Umbrüche ergeben, die bereits während der Tage des „Anschlusses“ begonnen hatten. Als erstes Mittel der Aussonderung diente dabei die Vereidigung sämtlicher Beamter auf Adolf Hitler, die am 15. März 1938 angeordnet wurde. Wer den Eid verweigerte, hatte mit sofortiger Entlassung zu rechnen. Juden waren von der Eidesleistung von vornherein kategorisch ausgeschlossen.30 In den Tagen nach dem Einmarsch wurden außerdem jene Beamten von ihren Posten enthoben, entlassen bzw. zwangspensioniert, die besonders aus politischen Gründen den neuen Machthabern als absolut untragbar erschienen. Ansonsten wurden in dieser ersten Phase, die bis in den Mai 1938 hineinreichte, größere personelle Umbrüche weitgehend vermieden. Ausnahmen bedurften der ausdrücklichen Zustimmung von Reichskommissar Bürckel.31 In den folgenden Wochen und Monaten fand eine eingehende Überprüfung und teil-

weise „Säuberung“ der Beamtenschaft statt, die dann durch die „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ vom 31. Mai 1938 rechtlich abgesichert wurde.32 Demnach konnten alle fremdrassigen und politisch unzuverlässigen Beamten entlassen werden, damit ein sauberer, nationalsozialistisch ausgerichteter, dem Führer ergebener und dem Großdeutschen Reiche und Volke verbundener Beamtenkörper geschaffen werden konnte. Dabei konnte man in der Steiermark auf einem soliden Fundament auf bauen, da nach manchen Schätzungen deutlich mehr als die Hälfte der Beamten bereits vor dem „Anschluss“ nationalsozialistisch eingestellt war.33 Bürckel hatte den SS-Standartenführer Otto Wächter mit der Durchführung der Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums betraut. In der Folge musste dann jeder Beamte einen detaillierten Fragebogen ausfüllen und darin vor allem seine bisherige politische Betätigung anführen; aber auch die Abstammung bis zu den Großeltern war genau darzulegen. Dieser „Ariernachweis“ war eine unabdingbare Voraus-

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

385

setzung für den Verbleib in Bürgermeistern im Laufe des einer öffentlichen Dienststelle. Jahres 1939 von ihren Posten Darüber hinaus wurden Meientfernt wurden. Noch vor nungen der NS-Parteistellen dem allgemeinen Wechsel eingeholt, die darüber entder ­politischen Führung der schieden, ob der Betroffene Gemeinden wurden in 45 versetzt, pensioniert – meist Gemeinden 167 Beamte aus mit gekürzten Bezügen – oder dem Dienst entfernt, 80 daentlassen wurde. Die Außervon allein in Graz. Im Bedienststellungen hatten bis 31. reich der mittelbaren BunDezember 1938 zu erfolgen, desverwaltung ergibt sich die übrigen Versetzungen in folgendes Bild: Von zwölf den Ruhestand oder zu andeBezirkshauptleuten der Steiren Dienststellen bis 31. Deermark wurden bis Ende des zember 1939. Eine Berufung Jahres 1938 elf pensioniert; Dr. Otto Müller-Haccius. gegen die Verfügungen war acht davon zwangsweise. Nur Regierungspräsident der Steiermark für die betroffenen Beamten der Bezirkshauptmann von von 1940 bis 1944 UMJ/MMS nicht möglich.34 Hartberg konnte in seinem Aber nicht nur eine dem Amt verbleiben.36 damaligen Herrschaftssystem widersprechende In der unmittelbaren Landesverwaltung politische Einstellung rechtfertigte eine Außer- können auf Grund des Fehlens vieler wichtiger dienststellung, auch rassische Gründe konnten Unterlagen 37 nur lückenhafte Aussagen zu den zu einer Entfernung aus dem aktiven Dienst personellen Veränderungen getroffen werden. führen. Das betraf vor allem Beamte jüdischer Bei den Spitzenbeamten verblieben von den Abstammung. Ein Ruhegenuss wurde ihnen zehn Abteilungsvorständen der Landesregienur nach mindestens zehnjähriger Dienstzeit rung nur drei in leitender Stellung, von denen zuerkannt. Beamte, die mit Juden verheiratet aber nur einer in seiner angestammten Rechtswaren, und ­jüdische Mischlinge konnten nur abteilung weiterarbeiten konnte. Aus dem mit Zustimmung des Stellvertreters des Führers nach­r ückenden vorhandenen Personalstand im Amt verbleiben; und das auch nur dann, wurden vier Beamte der ehemaligen staatlichen wenn sie schon seit 1. August 1914 Beamte Verwaltung und zwei der Landesverwaltung in waren, im Ersten Weltkrieg an der Seite Öster- die freigemachten Stellungen gehievt. Zwei reich-Ungarns gekämpft, oder Väter, Söhne Abteilungen wurden mit zuvor nicht in der oder Ehemänner als Gefallene des Krieges zu Steiermark beschäftigten Beamten besetzt. Bei all dem müssen aber die bald darauf umgebeklagen hatten.35 Mit diesen Rechtsgrundlagen war es also setzten Veränderungen in der Abteilungsgliemöglich, alle Systemgegner und sonstige miss- derung der Landesverwaltung, auf die weiter liebige Personen aus dem Behördenapparat zu unten noch eingegangen wird, berücksichtigt entfernen. Bis in die untersten Ebenen der Ver- werden. 38 In die freigewordenen Stellen rückten zum waltung konnte damit eine linientreue Beamtenschaft aufgebaut werden. In den Landge- einen Nationalsozialisten ein, die in den Jahren meinden trafen die Bestimmungen vor allem 1934 bis 1938 ihr Amt verloren hatten oder in die Gemeindesekretäre, die spätestens mit den den Ruhestand versetzt worden waren. Sie

386

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

konnten in das aktive Dienstverhältnis wieder zurückgeholt werden, wobei Beförderungen auch rückwirkend nachgeholt werden konnten.39 Außerdem wurden Parteigenossen, die zwischen dem Verbot 1933 und dem „Anschluss“ der NSDAP beigetreten waren und auf Verfolgungen durch den „Ständestaat“ verweisen konnten, bei Neueinstellungen besonders bevorzugt.40 Am augenfälligsten für die Bevölkerung war jedoch der Einsatz von Beamten aus dem „Altreich“. Schon kurz nach dem „Anschluss“ rückten Staatsdiener reichsdeutscher Herkunft in einzelne Dienststellen der Verwaltung ein, um in dieser Umbruchsphase die ihnen bereits bekannten nationalsozialistischen Grundsätze im Behördenwesen einzuführen und die Eingliederung in das Deutsche Reich voranzutreiben. Nur ein kleiner Teil der reichsdeutschen Beamten verblieb dann tatsächlich dauerhaft in der Steiermark. In den unteren Beamtenpositionen findet man sie nur ganz vereinzelt; und der einzige wirkliche Spitzenbeamte aus dem „Altreich“ – Regierungspräsident Dr. Otto MüllerHaccius41 aus Niedersachsen – rückte erst 1940 in diese Position ein.42 Zahlenmäßig ergeben die personellen Veränderungen in der Verwaltung folgendes Bild: In den Staats- und Landesverwaltungsbehörden der Steiermark waren im Jahr 1937 rund 1.860 Beamte beschäftigt. Bis März 1940 sank der Stand der pragmatisierten Beamten auf rund 1.500, obwohl zwischen April 1938 und März 1940 an die 180 Vertragsbedienstete pragmatisiert wurden, die meisten noch im Jahre 1938. Eine Reihe von Beamten – vor allem des höheren Verwaltungsdienstes – wurde zeitweise oder auch ständig zu anderen Dienststellen des Reiches zur Verwendung oder zur Schulung zugewiesen. Nach Abschluss der Umbrüche in der Verwaltung, die dann Anfang des Jahres 1940 abgeschlossen werden konnte, kann man festhalten, dass nur mehr rund 55 Prozent der vor

dem „Anschluss“ tätigen Beamten im Dienst waren. Es fehlten also an die 45 Prozent. Wenn man davon den natürlichen Abgang und zu einem ganz kleinen Teil auch punktuelle Personaleinsparungen abzieht, verbleiben nach vorsichtigen Schätzungen mindestens ein Drittel bzw. um die 600 Beamte, die von Zwangspensionierungen und Entlassungen betroffen waren. Nach dem Umbruch 1945, bei dem wieder die politische Zuverlässigkeit geprüft wurde, kann man abschließend festhalten, dass nur mehr 102 Beamte, die Anfang 1938 im Dienst standen, trotz der Veränderungen in der NS-Zeit und nach dem Zweiten Weltkrieg ununterbrochen ihren Dienst versehen konnten. All diese statistischen Zahlen lassen jedoch nur wenig erahnen von dem Leid und den Lebenseinschnitten, die jede einzelne der vielen Entlassungen für den Betroffenen und dessen Familie bedeutete.43 Für den Großteil der unter dem NS-Regime im Dienst verbliebenen Beamten brachte der „Anschluss“ letztlich kaum persönliche Vorteile. Mit 1. Oktober 1938 traten nämlich das Deutsche Beamtengesetz vom Jahre 1937 sowie das Reichsbesoldungsrecht und die Reichsdienststrafordnung in Kraft, die vielfältige Neuerungen brachten.44 Zunächst einmal wurde der bis dahin bestandene Unterschied zwischen Gemeindebediensteten und Landes- bzw. Bundesbeamten beseitigt. Es gab nunmehr nur mehr Reichsbeamte. Diese Vereinheitlichung stellte eine Benachteiligung für die Landes­ beamten dar, die zuvor ein rascheres Beförderungssystem durchlaufen konnten und damit die Möglichkeit hatten, bereits in früheren Lebensjahren höhere Bezüge zu erreichen. An die Stelle der von vielen erhofften Gehaltserhöhungen oder verbesserten Arbeitsbedingungen trat abrupt die Abschaffung alteingeführter Gratifikationen. Außerdem wurde die Arbeitszeit von 41 auf 48 ½ Wochenstunden im Gemeindedienst und auf 51 Wochenstunden überall sonst

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

verlängert. Überstunden wurden nicht mehr bezahlt und die Urlaubszeiten verkürzt. Positiv beim neu eingeführten Besoldungsschema war die Einführung von Kinderzuschlägen, die im Rahmen der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik erfolgte. Hauptmerkmal des deutschen Beamtenrechts war die unbedingte Treuebindung an den Führer, die nicht nur bis zum Ausscheiden des Beamten aus dem Dienst reichte, sondern bis zum Tod. Daher konnten auch pensionierte Beamte wegen schwerer Verfehlungen dienstrechtlich verfolgt werden; und ebenso konnten die Hinterbliebenen, die gegen die Treuepf licht verstießen, ihren Anspruch auf Witwen- und Waisengeld verlieren. Neben

387

dieser Treueverpf lichtung war der Beamte zum unbedingten Gehorsam und zur äußersten Pf lichterfüllung verbunden.45 Nachdem mit 1. Jänner 1939 alle in Österreich bestehenden Berufskörperschaften der öffentlich Bediensteten aufgelöst worden waren, fungierte als einzig zugelassene Interessenvertretung der „Reichsbund der Deutschen Beamten“. Diese Vorfeldorganisation der NSDAP verfolgte das Ziel, die gesamte Beamtenschaft mit dem nationalsozialistischen Gedankengut zu durchdringen. In der Steiermark gab es eine eigene Geschäftsstelle dieser Beamtenvereinigung, die von Peter Strohmayer geführt wurde.46

Umorganisationen in der Landesverwaltung Die „Landeshauptmannschaft Graz“ hatte bis zum „Anschluss“ aus neun Rechtsabteilungen, sechs Fachabteilungen (Kunst und Wissenschaft, Agrartechnik, Forsttechnik, Sanität, Technik, Veterinärwesen), dem Landesbauamt, dem ­A rchiv47, der Landesbuchhaltung, den LandesHilfsämtern, den Landesämtern und Landesanstalten sowie dem Präsidialbüro (insgesamt 21 Hauptabteilungen) bestanden.48 Abt.

Geschäfte

1

Wirtschaft

2 3 4 5 6 7

Gesundheitswesen Armen- und Fürsorgewesen Staatsbürgerschaft und Gemeindewesen Land- und Forstwirtschaft Bergbau, Straßenwesen Handel und Gewerbe

8 9

Sozialrecht Bevölkerungs- und Kultuswesen

Dieser Auf bau wurde bereits in den Wochen nach dem „Anschluss“ verändert, sodass sich ab Sommer 1938 folgende Organisation der Landesverwaltung ergab. Neben dem Büro des Landeshauptmannes und dem Präsidialbüro bestanden folgende Abteilungen:49

Abteilungsvorstand Reg.-Dir. Stv. Dr. Franz Paier; später: ORR Dr. Hans Tomberger HR Dr. Richard Schwarz HR Dr. Felix Kronabetter HR Dr. Emil Krammer HR Dr. Erwin Schleimer ORR Dr. Max Steffan HR Dr. Robert Rattek später: HR Dr. Walter Ulberth LRR Dr. Hans Hiebaum HR Dr. Edmund Koschatzky später: HR Viktor Kastner-Pöhr

388

Abt.

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

Geschäfte

10

Polizei, Melde- und Passwesen

11

Allg. Rechtsangelegenheiten, Landesmuseum, Landesbibliothek, Heimat- und Naturschutz Grenz- und Volkstumsstelle

12

Fachabteilungen Preisüberwachungsstelle Landesgesundheitsamt Veterinärabteilung Forsttechnische Abteilung Technisches Landesamt

Mit 15. Oktober 1938 trat die neue Grenzziehung der Steiermark, die seit Frühjahr bereits für Parteizwecke gegolten hatte, für den staatlichen Organisationsbereich in Kraft.50 Mit den Veränderungen der Landesgrenzen ergaben sich auch weitreichende Neuerungen in der Einteilung der steirischen Verwaltungsbezirke, die dann auf Grund einer Verordnung von Landeshauptmann Uiberreither vom 21. Oktober 1938 angeordnet wurden.51 Auf Grund der Abtretung des Ausseerlandes an Oberösterreich verlor die bisherige Bezirkshauptmannschaft Gröbming ihre Eigenständigkeit und wurde zu einer Politischen Expositur des Bezirkes Liezen degradiert. Noch größere Veränderungen ergaben sich durch den Anschluss des südlichen Burgenlandes an das Land Steiermark. Während die Bezirkshauptmannschaft Oberwart bestehen blieb, verloren die bis dahin bestandenen Bezirke Güssing und Jennersdorf ihre Eigenständigkeit. In dieser Region hatte man sich für eine völlige Neustrukturierung entschieden, die nicht ganz unumstritten war. Die burgenländischen NS-Funktionäre hatten sich dabei insbesondere für die Erhaltung Güssings als Verwaltungssitz

Abteilungsvorstand HR Viktor Kastner-Pöhr später: ORR Dr. Heinrich Kalmann HR Viktor Kastner-Pöhr später: HR Dr. Kurt Pokorny Anton Dorfmeister

Leiter LRR Dr. Robert Schmidl HR Dr. Anton Smola Dr. Josef Hennemann Ing. Artur Schinnerer Ing. Sepp Helfrich

eingesetzt.52 Doch letztlich wurde die Errichtung einer neuen Bezirkshauptmannschaft in Fürstenfeld angeordnet. Dieser neuen Behörde wurden einerseits die Gemeinden des bis dahin dem Bezirk Feldbach unterstandenen Gerichtsbezirkes Fürstenfeld untergeordnet, andererseits fielen an diesen neuen Verwaltungsbezirk der Großteil des Gebietes des bisherigen Bezirkes Güssing sowie einige Gemeinden des aufgelösten Bezirkes Jennersdorf, dessen Großteil allerdings an den Landbezirk Feldbach kam.53 Eine zweite neue Bezirkshauptmannschaft wurde in Radkersburg errichtet. Hier konnte man sich allerdings auf alte Traditionen berufen; schließlich war diese Region erst im Juni 1932 an den Bezirk Leibnitz angeschlossen worden. Größere Veränderungen in den Bezirksgrenzen erfolgten schließlich im Raum Graz. Durch die Schaffung von Groß-Graz fiel eine ganze Reihe von Umgebungsgemeinden, die dem Bezirk Graz-Land unterstanden waren, in das nunmehr erweiterte Stadtgebiet.54 In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass bis zum Jahre 1940 noch einige Änderungen bei den Gemeindegrenzen erfolgten, und zwar im Bereich der Gemeinden Trofaiach,

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

Zeltweg, Kapfenberg, Schladming, Mürzzuschlag, Judenburg und Güssing, wobei durchwegs Eingliederungen von Umgebungsgemein-

389

den erfolgten. Mit Kriegsbeginn wurde allerdings angeordnet, dass weitere Umorganisationen vorläufig zu unterbleiben hatten.55

Die endgültige Einrichtung der Reichsgauverwaltung – Das Ostmarkgesetz Parallel zu den Diskussionen über die Gebietsgliederung hatten auch erste Überlegungen über den endgültigen Einbau der Verwaltungsbehörden in die Reichsverwaltung eingesetzt. Dabei kristallisierte sich bald heraus, dass man entschlossen war, auf dem Gebiet des ehemaligen Österreich nicht einfach die im „Altreich“ bestehenden Strukturen zu übernehmen. Vielmehr strebte man eine neue administrative Organisation an, die den nationalsozialistischen Vorstellungen besser entsprach und letztlich dann in einem zweiten Schritt auch als Vorbild für den Behördenauf bau im gesamten Reich dienen sollte. Österreich wurde also zu einem Experimentierfeld für die sich schon lang hinziehende Reichsreform. Dabei sollte vor allem durch die beabsichtigte Personalunion zwischen dem obersten Landesorgan der Verwaltung und dem Parteiführer auf der Mittelstufe gewährleistet sein, dass der politische Wille der NSDAP auf die gesamte innere Verwaltung durchschlagen konnte. Damit wurde letztlich auch eine ganz wesentliche Zielrichtung der national­ sozialistischen Staatsauffassung verwirklicht, die bereits im Jahre 1933 durch das Gesetz zur ­Sicherung der Einheit von Partei und Staat anvisiert wurde – nämlich eine enge personelle Verf lechtung zwischen der NSDAP und der staatlichen Verwaltung.56 Und schließlich sollte durch die neue Verwaltungsorganisation die Rolle Wiens als Zentrum der „Ostmark“ beseitigt und die einzelnen Länder direkt den obersten Behörden in Berlin unterstellt werden.57

Die diesbezüglichen organisatorischen Vorarbeiten waren im Herbst 1938 schon sehr weit gediehen, wurden aber wegen der „Sudetenkrise“ vorerst zurückgestellt. Nach weiteren Verzögerungen wegen massiver Einsprüche der Reichsministerien gegen die beabsichtigte Vormachtstellung der Partei in der Verwaltung wurde schließlich erst am 14. April 1939 das „Gesetz über den Auf bau der Verwaltung in der Ostmark“ (kurz Ostmarkgesetz) von Hitler erlassen.58 Das Ostmarkgesetz sah die Gliederung Österreich in sieben Reichsgaue vor, deren Grenzen mit den schon bestehenden Bundesländergrenzen identisch waren: Wien, Niederdonau (Verwaltungssitz sollte in Krems sein), Oberdonau (Linz), Salzburg (Salzburg), Tirol (mit Vorarlberg, Verwaltungssitz Innsbruck), Kärnten (Klagenfurt) und Steiermark (Graz). Mit der erstmaligen Einrichtung der Reichsgaue als reichsunmittelbare Territorien sollte ein wesentlicher Schritt zur Errichtung eines zentralistischen Einheitsstaates gesetzt werden, der letztlich im ganzen Reich die noch vorhandenen Reste föderalistischer Strukturen austilgen sollte. Das Ostmarkgesetz ordnete auch die Verwaltung in der Unterstufe neu, wobei die Reichsgaue explizit in Land- und Stadtkreise gegliedert wurden. Bei den Landkreisen als Nachfolger der Bezirkshauptmannschaften stand der Landrat an der Spitze; während die Führung der Stadtkreise, die die bisherigen Städte mit eigenem Statut ablösten, vom Oberbürgermeister wahrgenommen wurde.

390

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

Die Reichsgaue – als Rechtsnachfolger der ehemaligen österreichischen Länder – waren staatliche Verwaltungsbezirke und gleichzeitig Selbstverwaltungskörperschaft unter der einheitlichen Leitung des Reichsstatthalters. Die Vereinigung der Führung der Verwaltung in den beiden Bereichen galt jedoch nur für die Person des Reichsstatthalters. Denn schon im Bereich seiner Vertretung kam es zu einer Trennung zwischen staatlicher Verwaltung (Regierungspräsident) und Gauselbstverwaltung (Gauhauptmann). Der Reichsstatthalter unterstand unmittelbar dem Reichsinnenminister, in fachlichen Angelegenheiten den jeweils zuständigen Reichsministerien. Der Gauhauptmann wurde auf Vorschlag des Reichsstatthalters vom Reichsinnenminister für die Dauer von zwölf Jahren ernannt. Ihm oblag die eigentliche Verwal-

tungsführung der Selbstverwaltung des Reichsgaues. Dem Gauhauptmann unterstellt war der Gaukämmerer, der für alle finanziellen Angelegenheiten im Bereich der Gauselbstverwaltung zuständig war. Zur Beratung des Reichsstatthalters gab es ehrenamtliche Gauräte, die für die Dauer von sechs Jahren vom Stellvertreter des Führers bestellt wurden.59 Ein wesentliches Merkmal der neu geschaffenen Reichsgaue war jedoch die Übereinstimmung der Parteigaue der NSDAP mit den staatlichen Verwaltungsbezirken. Daraus ergab sich die Personalunion zwischen Reichsstatthalter und Gauleiter der NSDAP, die zwar nicht im Ostmarkgesetz normiert, jedoch in der Praxis ausnahmslos verwirklicht wurde. Damit wurde erstmals im Deutschen Reich einem ganz zentralen Grundsatz der nationalsozialistischen

Allgemeiner Aufbau der Behörde des Reichsstatthalters in den Alpen- und Donau-Reichsgauen (gilt nicht für Wien) Aus: Dennewitz, Verwaltung und Verwaltungsrecht

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

Staatslehre – nämlich dem Grundsatz der Einheit von Partei und Staat – Rechnung getragen, wobei dieser Grundsatz allerdings eher auf die Beherrschung des Staates durch die Partei hinauslief. Dies fand letztlich auch darin seinen Ausdruck, dass im Alltag die Anrede „Gauleiter“ gegenüber dem Titel „Reichsstatthalter“ eindeutig dominierte. Dieser „Primat der Partei“ wurde auch von Bürckel und seinen deutschen Mitarbeitern in Wien ständig mit Nachdruck gefordert. Im Unterschied zum „Altreich“, wo sich die Partei bis zuletzt nicht restlos gegen die alteingesessene staatliche Bürokratie durchsetzen konnte, sollten in Österreich die Verhältnisse von vornherein klargestellt werden.60 Die Umsetzung des Ostmarkgesetzes Als Tag des Inkrafttretens des Ostmarkgesetzes wurde der 1. Mai 1939 bestimmt. Mit diesem Tag fiel zunächst die als Zwischeninstanz geschaffene „Österreichische Landesregierung“ unter Seyß-Inquart in Wien weg. Deren Aufgabe hatte ja vor allem darin bestanden, die ehemals bundesstaatlichen Strukturen zu beseitigen, was mit dem Ostmarkgesetz erreicht worden war. Die Kompetenzen dieser Landesregierung gingen einerseits an die Reichsbehörden in Berlin, andererseits an die Reichsstatthalter in den neu geschaffenen Reichsgauen über.61 Abteilung Zentrale Verwaltung Abteilung I – Allgemeine und innere ­A ngelegenheiten Abteilung II – Erziehung, Volksbildung, ­Kultur- und Gemeinschaftspf lege Abteilung III – Volkspf lege Abteilung IV – Landwirtschaft, Wirtschaft und Arbeit Abteilung V – Bauwesen und Wasserwirtschaft

391

Die neuen Reichsgaue traten zwar mit 1. Mai 1939 äußerlich schon ins Leben, aber sie waren noch unvollendet und des weiteren Ausbaues bedürftig. Es musste noch eine Reihe von Übergangsregelungen und Umstellungsschritten gesetzt werden. Laut den Bestimmungen des Ostmarkgesetzes sollte der Neuauf bau der Verwaltung innerhalb eines halben Jahres – mit 30. September 1939 – vollendet sein. Dieser Termin erwies sich dann aber auf Grund des mit 1. September 1939 begonnenen Krieges als nicht durchführbar und wurde durch eine Verordnung des Ministerrates für die Reichsverteidigung vom 9. September 1939 auf unbestimmte Zeit erstreckt.62 Erst durch die „Zehnte Verordnung zur Durchführung des Ostmarkgesetzes“ vom 27. März 1940 – als die Umsetzungsarbeiten praktisch abgeschlossen waren – wurde der 1. April 1940 als der Tag bestimmt, an dem der Auf bau der Verwaltung nach dem Ostmarkgesetz abgeschlossen sein musste.63 Diese Umstellungsphase dauerte also ziemlich genau ein Jahr und brachte schließlich eine völlige Neustrukturierung der Behörde des Reichsstatthalters64 (siehe Tabelle unten). Zur Behörde des Reichsstatthalters gehörten ferner das Landesforstamt für Steiermark, das Landesernährungsamt Südmark, das Oberversicherungsamt sowie die Dienststraf kammer für die Reichsgaue Steiermark und Kärnten. Außerdem gab es noch zwei Behörden, die dem Reichsstatthalter untergeordnet, aber nicht diLeiter Reg.-Präs. Dr. Otto Müller-Haccius65 Reg.-Dir. Dr. Ernst Mayrhofer Reg.-Dir. Dr. Josef Papesch Reg.-Dir. DDr. Julius Strenger Reg.-Dir. Dr. Franz Fina Reg.-Dir. Dipl.-Ing. Josef Helfrich

392

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

rekt in den Apparat der Gaueisenbahnamt, die LandReichsstatthalterei eingebunwirtschaftliche Buchstelle den waren: den Reichstreusowie schließlich Landwirthänder der Arbeit66 mit dem schaftliche Förderungsstellen Gauarbeitsamt sowie die für Obst- und Weinbau, Landesversicherungsanstalt, Pf lanzenbau sowie Tierdie jeweils für die Reichszucht.70 Den internen Behördengaue Kärnten und Steiermark 67 Und ablauf regelte eine im Frühzuständig waren. schließlich unterstand dem jahr 1940 erlassene „GeReichsstatthalter auch das schäftsordnung der Behörde Reichspropagandaamt Steides Reichsstatthalters in der ermark, dem vor allem im Steiermark“.71 Regierungspräsident Müller-Haccius Medien- und Kultursektor stellte in der einleitenden ein ganz entscheidender EinIng. Dr. Armin Dadieu. LandesstattVerfügung fest: Je weiter die f luss zukam. Dabei hatte sich halter und Gauhauptmann Grenzen des Großdeutschen dieses Amt an den Vorgaben der Steiermark 1938 bis 1945 Reiches gezogen werden, je mehr des Reichsministeriums für UMJ/MMS ist die Reichsverwaltung nur Volksauf klärung und Propadann ihrer Aufgabe gewachsen, ganda zu orientieren.68 Mit dem Ostmarkgesetz wurde der Reichs- wenn die Gesetze strenger Arbeitsökonomie beachtet statthalter außerdem zuständig für das allgemei- werden. Deshalb wurde auch an die Beamten ne Polizei- und Sicherheitswesen im Reichsgau appelliert, die anfallenden Akten möglichst – Agenden, die bis dahin vom Staatssekretär für schnell zu erledigen und eine einwandfreie, undas Sicherheitswesen beim Reichsstatthalter gekünstelte Sprache zu gebrauchen. Fremdworte Seyß-Inquart ausgeübt wurden. Er war damit und veraltete Kanzleiausdrücke waren nicht befugt, Polizeiverordnungen für den Reichsgau mehr zu verwenden, und auch Höf lichkeitszu erlassen. Außerdem erhielt er direkten Zu- f loskeln sollten im amtlichen Schriftverkehr griff auf die Polizeiwachen der Gemeinden so- nur mehr sehr eingeschränkt gesetzt werden. wie auf die Gendarmerie. Der Kommandeur Die Neustrukturierung der Behörde war für die der Gendarmerie in der Steiermark hatte dem Beamten jedenfalls mit einem beträchtlichen Reichsstatthalter regelmäßig Bericht zu erstat- Arbeitsaufwand verbunden. Dazu kam noch die ten und seine Befehle einzuholen. Nur ein be- Flut neuer Gesetze und Verordnungen, wobei schränktes Weisungsrecht hatte der Reichsstatt- nur wenige Bereiche von legistischen Anpashalter auf die staatlichen Polizeibehörden in sungen unberührt blieben. Die Mitarbeiter Graz und Leoben.69 stöhnten unter der hohen Arbeitsbelastung, die Daneben gab es für den Bereich der Gau- nach Kriegsbeginn sogar noch verstärkt wurde, selbstverwaltung, die dem Gauhauptmann Ar- als die ersten Beamten zur Wehrmacht eingemin Dadieu untergeordnet war, die Gaukäm- zogen wurden.72 Auf Grund der Streichung der Wiener Zenmerei mit Gaukämmerer Heinrich Pagl an der Spitze. Diesem Amt unterstanden: zwei Dezer- tralbehörden – vor allem der ehemaligen nate, das Rechnungsprüfungsamt, die Ortspla- ­M inisterien – wurden auch viele Ministerialnungsstelle, das Südostdeutsche Institut, das beamte nicht mehr benötigt. Deshalb wurde

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

bereits Anfang 1939 überlegt, rund 80 Beamte aus Wien zum Reichsstatthalter in die Steiermark zu versetzen. Uiberreither war allerdings nicht bereit, diese Wiener Beamten zu übernehmen, und wies vor allem auf Gehaltseinstufungsprobleme und auf Schwierigkeiten mit deren politischer Einstellung hin. Man wollte also auf keinen Fall ehemalige Ministerialbeamte in führende Positionen der steirischen Hoheitsverwaltung übernehmen. Angesichts dieses Widerstandes nahm man von diesen Plänen bald Abstand.73 Mit 1. April 1940 – zwei Jahre nach dem „Anschluss“ – war also die verwaltungsorganisatorische Eingliederung des ehemaligen Österreich in das Deutsche Reich vollendet. Uiberreither war bereits am 15. März 1940 offiziell zum „Reichsstatthalter in der Steiermark“ ernannt worden, obwohl er sich zu diesem Zeitpunkt gar nicht in der Steiermark auf hielt, sondern vorübergehend als Gebirgsjäger im „Kriegseinsatz“ stand. Der diesbezügliche offizielle Erlass wurde allerdings erst am 15. April 1940 an alle Dienststellen der Landesverwaltung übersandt.74 Bereits mit 31. März 1940 hatte Uiberreither endgültig sein Amt als Landeshauptmann verloren. Auch die Funktion der Landesräte gab es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. Aus dem Land Steiermark war ein Reichsgau geworden. Trotzdem dauerte es noch eine geraume Zeitspanne, bis die neue Behördenstruktur und die neuen Amtsbezeichnungen allgemein geläufig und durchgehend verwendet wurden. So fertigte man noch im Juli 1942 einzelne amtliche Schriftstücke mit der nicht mehr zulässigen Bezeichnung „Landeshauptmannschaft Steiermark“ aus.75 Mit 31. März 1940 waren auch die Tätigkeit und das Amt des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, das von Josef Bürckel wahrgenommen wurde, beendet. Damit hörte auch das „Land Österreich“ zu bestehen auf. Der Name

393

„Österreich“, der zu sehr an die ehemalige ­Eigenstaatlichkeit erinnerte, durfte ab 19. Jänner 1942 auf Befehl Hitlers amtlich nicht mehr verwendet werden. Stattdessen sollten in amtlichen Schriftstücken die Reichsgaue einzeln angeführt werden. Da dies nicht immer zweckmäßig war, wurde mit 8. April 1942 die zusammenfassende Bezeichnung „Alpen- und Donau-Reichsgaue“ gestattet.76 Kreise und Gemeinden Paragraph 9 des Ostmarkgesetzes legte fest: Der Reichsgau gliedert sich in Stadt- und Landkreise. An die Stelle der politischen Bezirke traten also die Landkreise. Nach den bereits geschilderten Umorganisationen gab es insgesamt 16 Landkreise in der Steiermark: Bruck an der Mur, Deutschlandsberg, Feldbach, Fürstenfeld, GrazLand, Hartberg, Judenburg, Leibnitz, Leoben, Liezen (mit einer Außenstelle in Gröbming), Murau, Mürzzuschlag, Oberwart, Radkersburg, Voitsberg und Weiz. An der Spitze jedes Landkreises stand nun aber nicht mehr der Bezirkshauptmann, sondern der Landrat, der direkt vom Führer ernannt wurde. Dem Landrat zur Seite gestellt wurden die Kreisräte, die vom Gauleiter auf sechs Jahre bestellt wurden. Diese Kreisräte waren Berater des Landrats und bekleideten dieses Amt als Ehrenamt. Der Landrat fungierte jedoch nicht nur als Chef des Landratsamtes. Er hatte außerdem für stete und engste Zusammenarbeit aller staatlichen Dienststellen zu sorgen und darauf zu achten, dass sich die Arbeit der Behörden nach den für die politische Verwaltung geltenden allgemeinen Gesichtspunkten ausrichtete. Zu diesem Zweck war er von den Dienststellen und öffentlichen Institutionen über alle Fragen, die politischer Natur waren oder sich auf kulturelle, soziale oder wirtschaftliche Belange erstreckten, zu unterrichten.77

394

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

Die Landkreise hatten auf der einen Seite eine große Anzahl von übertragenen staatlichen Agenden zu verwalten. Das reichte beispielsweise vom Bauwesen, über das Gewerbe, das Kraftfahrwesen, den Luftschutz bis hin zu Naturschutz, Sport und Vereinswesen. Andererseits besorgten sie einen großen Bereich in Selbstverwaltung. Vom Gesetz zugewiesene Selbstverwaltungsaufgaben waren etwa die öffentliche Fürsorge und die Jugendwohlfahrtspf lege. Freiwillig konnten unter anderem die Errichtung und Erhaltung eines Kreiskrankenhauses übernommen werden, während die Durchführung des Familienunterhaltes für die Angehörigen der Wehrpf lichtigen und Arbeitsdienstpf lichtigen Auftragsangelegenheit war.78 Die Landratsämter in der Steiermark erhielten mit Runderlass vom 29. August 1941 eine Geschäftsordnung, die den bis dahin noch immer gehandhabten Geschäftsplan der Bezirkshauptmannschaften aus dem Jahre 1923 ersetzte.

Darin wurde eine Teilung der Aufgaben in zwei große Bereiche vorgenommen. Der staatliche Verwaltungsbereich der Landratsämter bestand aus dem Hauptbüro, den Verwaltungsabteilungen sowie den Ämtern für Gesundheit, Veterinärangelegenheiten und dem Schulwesen. Zum Bereich der Kreisselbstverwaltung zählten die allgemeine Abteilung, das Fürsorge- und Jugendamt, das Rechnungs- und Gemeindeprüfungsamt sowie die Kreiskasse. Darüber hinaus waren dem Behördenleiter direkt untergeordnet der Gendarmeriekreisführer79 und der Kreisfeuerwehrführer sowie die Wehrmachts- und Luftschutzangelegenheiten.80 Daneben gab es auf Kreisebene eine Reihe von Sonderverwaltungsbehörden, die nicht direkt dem Landratsamt zugeordnet waren. Dazu zählten zunächst die Forstämter sowie die Jagdbehörde unter Leitung des Kreisjägermeisters; weiters die Agrarbezirksbehörden, Arbeitsämter, Eichämter, Gewerbeaufsichtsämter, Revier-

Selbstverwaltungskörperschaften in den Alpen- und Donaureichsgauen Aus: Dennewitz, Verwaltung und Verwaltungsrecht

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

bergämter und die Vermessungsämter. Ab dem 1. April 1940 gab es außerdem auf bautechnischem Sektor selbstständige Reichsbauämter, Straßenbauämter und Wasserwirtschaftsämter, die jeweils für mehrere Landkreise zuständig waren.81 Auf Kreisebene bestand in der Regel ein enger Kontakt zwischen Kreisleiter, also dem Parteichef auf Kreisebene, und dem Landrat; wenngleich die Zuständigkeitsbereiche klar getrennt waren und es so zu keiner Personalunion wie auf der Gauebene kam. Der Kreisleiter nahm die Verantwortung für die Parteiangelegenheiten wahr, während der Landrat dem Reichsstatthalter sowohl in der Staats- als auch in der Gauselbstverwaltung unterstellt war.82 Den Landratsämtern untergeordnet waren die Gemeinden. Die Organisation der Gemeinden richtete sich generell nach der Deutschen Gemeindeordnung aus dem Jahre 193583, die bereits mit Wirkung vom 1. Oktober 1938 in Österreich eingeführt worden war.84 Die Gemeinden hatten grundsätzlich alle öffentlichen Aufgaben in eigener Verantwortung zu verwalten, soweit sie nicht anderen staatlichen Stellen zugewiesen waren. Dabei unterschied man analog zur Kreisebene zwischen den Zuständigkeiten der Selbstverwaltung und dem übertragenen Wirkungskreis. Beim letzteren Zuständigkeitssektor erledigten die Gemeinden staatliche Aufgaben im Auftrag und unter direkter Kontrolle des Staates. Dazu zählten zum Beispiel die Ortspolizei, die Einrichtung von Standesämtern, die Mitwirkung beim Erfassungswesen und die Unterstützung der Landratsämter bei deren Auftragskompetenzen. Die Selbstverwaltungsangelegenheiten hatten die Gemeinden hingegen unter eigener Verantwortung und nur unter einer allgemeinen Aufsicht des Staates zu vollziehen. Dazu gehörten unter anderem die Versorgung der Gemeindeangehörigen mit Elektrizität und Wasser, die Einrichtung von Verkehrsanlagen, Friedhöfen

395

und Schulen sowie die Verwaltung des Gemeindevermögens.85 Die Bewohner der Gemeinde wurden einerseits in „Bürger“ und andererseits in „Einwohner“ eingeteilt. Das Bürgerrecht erhielt nur, wer deutscher Reichsbürger und älter als 25 Jahre alt war, mindestens ein Jahr in der Gemeinde gewohnt hatte und die bürgerlichen Ehrenrechte im Sinne des Strafrechts besaß. Nur Bürger hatten prinzipiell das Recht, die öffentlichen Einrichtungen der Gemeinde zu benutzen sowie die ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Gemeinde auszuüben.86 Mit der Deutschen Gemeindeordnung wurde auch auf Gemeindeebene das Führerprinzip verwirklicht. An der Spitze der Gemeinde stand der Bürgermeister, der für alle staatlichen Verwaltungsaufgaben zuständig war. Er wurde auf Vorschlag des Ortsgruppenleiters und des Kreisleiters der NSDAP in Abstimmung mit dem Landrat vom Reichsstatthalter ernannt. Das gewichtigste Wort hatte dabei der Kreisleiter, der vor allem die politische Einstellung der Betreffenden zu beurteilen hatte. Der Kreisleiter übte dabei die Funktion des „Beauftragten der NSDAP“ aus, die in der Deutschen Gemeindeordnung ausdrücklich erwähnt wurde und mit der der unmittelbare Einf luss der Partei in den Gemeinden gewahrt werden sollte. Er musste darüber hinaus bei wichtigen Entscheidungen gehört werden, konnte an den Sitzungen der Gemeinderäte teilnehmen und hatte auch ein Zustimmungsrecht bei Verleihung von Ehrenbürgerschaften.87 Neben dem Bürgermeister gab es eine Anzahl von „Beigeordneten“, die einzelne Geschäftsbereiche unter Oberleitung des Bürgermeisters zu betreuen hatten. Der „Erste Beigeordnete“ fungierte gleichzeitig als Stellvertreter des Bürgermeisters. Daneben gab es zur Beratung des Bürgermeisters eine Anzahl von Gemeinderäten, die darüber hinaus auch verpf lichtet waren, im direkten Kontakt mit der

396

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

Bevölkerung für die staatlichen Maßnahmen zu werben. In Gemeinden mit bis zu 10.000 Einwohnern waren sämtliche Funktionen ehrenamtlich auszuüben, wobei die Funktionsdauer sechs Jahre betrug. In den größeren Gemeinden war der Bürgermeister hauptamtlich tätig und konnte für zwölf Jahre in seinem Amt verbleiben.88 Die bisherigen „Städte mit eigenem Statut“ – also im Wesentlichen die größeren Städte – wurden nun als Stadtkreise bezeichnet. Das waren im ehemaligen Österreich insgesamt genau zehn Städte – nämlich Graz, Klagenfurt, Villach, Innsbruck, Salzburg, Linz, Steyr, St. Pölten, Wiener Neustadt und Krems. Auch für die Stadtkreise galten grundsätzlich die bereits skizzierten Bestimmungen der Deutschen Gemeindeordnung, allerdings mit einigen Modifikationen. Während die Gemeinden dem

Landrat unterstanden, fungierte als Aufsichtsbehörde der Stadtkreise direkt der Reichsstatthalter. An der Spitze der staatlichen Verwaltung in den Stadtkreisen stand der Oberbürgermeister, der im Einvernehmen von Gauleiter und Reichsinnenminister bestellt wurde. Der Stellvertreter des Oberbürgermeisters führte die Amtsbezeichnung „Bürgermeister“ und musste die Befähigung zum Richteramt oder zum höheren Verwaltungsdienst haben. Daneben gab es eine Anzahl von Stadträten, die, analog zu den Beigeordneten der übrigen Gemeinden, selbstständige Ressorts unter Aufsicht des Oberbürgermeisters verwalteten. Der für die Finanzen zuständige Stadtrat konnte den Titel „Stadtkämmerer“ führen. Als Beratungsorgane der Stadtverwaltung fungierten schließlich die Ratsherren.89

Kriegsbedingte Veränderungen in der Verwaltung Mitten in die Umstellungsphase der Verwaltung auf Grund des Ostmarkgesetzes fiel am 1. September 1939 der Kriegsbeginn, der ganz allgemein vielfache Veränderungen im Verwaltungsapparat des Großdeutschen Reiches brachte. Bereits mit 28. August 1939 ordnete ein FührerErlass Richtlinien für die Vereinfachung der Verwaltung an.90 Die gesamte Administration war auf die Kriegsverhältnisse auszurichten, wobei insbesondere eine rasche Entscheidungsfindung ermöglicht werden sollte. Dazu wurden eine Abkürzung des Rechtszuges, ein Abbau der mehrstufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie die Unterwerfung der Selbstverwaltungskörper unter ein staatliches Weisungsrecht angeordnet. Darüber hinaus wurden rasche Verwaltungsabläufe dadurch erreicht, dass die Vermutung aufgestellt wurde, dass eine andere Behörde einem Vorschlag zustimmte, wenn sie

nicht binnen einer Woche Widerspruch erhob. Außerdem sollten die mit der Reichsverteidigung zusammenhängenden Aufgaben absoluten Vorrang genießen, während andere Staatsaufgaben überhaupt nur nach Maßgabe der vorhandenen Kräfte fortgeführt werden sollten.91 Tatsächlich wurden dann mit Fortdauer des Krieges viele Verwaltungsbereiche und Tätigkeiten allmählich stillgelegt, wie etwa der Bereich der Namensänderungen, die Planungen für die Nachkriegszeit, die Anfertigung von Statistiken sowie die Versendung von Frage­ bögen. Es gab vereinzelt aber auch Sektoren der Administration, die trotz der völligen Konzentration auf den Kriegseinsatz vorangetrieben wurden. So wurde im Mai 1941 vom Reichsinnenministerium angeordnet, alle amtlichen Schriften, Formulare und Schilder von der bis dahin üblichen deutschen (gotischen) Schrift

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

auf die sogenannte Antiqua-Schrift (Normalschrift) umzustellen. Dies stand im Zusammenhang mit den Bemühungen, auch Ausländern einen erleichterten Zugang zur deutschen Sprache zu eröffnen.92 Auf der anderen Seite brachten die Kriegsjahre aber auch eine Unzahl neuer Aufgaben mit sich, die es zu bewältigen galt. Die Verwaltungsbehörden mussten bei der Erfassung, Musterung und Aushebung von Personal und Sachersatz sowie der Sicherstellung des militärischen Bedarfs auf den verschiedensten Gebieten mitwirken. Weitere wichtige kriegsbedingte Aufgabengebiete der Verwaltung umfassten die Mitwirkung bei der Durchführung des zivilen Luftschutzes, die Gewährung von Familienunterhalt und den Ausgleich von Kriegsschäden.93 Bereits mit Kriegsbeginn erfolgte für jeden Wehrkreis die Einsetzung eines Reichsverteidigungskommissars, wobei die Steiermark – gemeinsam mit den Reichsgauen Tirol-Vorarlberg, Salzburg und Kärnten – dem Wehrkreis XVIII unterstand, für den der Salzburger Reichsstatthalter und Gauleiter Dr. Friedrich Rainer diese Position übernahm.94 Im November 1942 wurde dann allerdings jeder Gauleiter für seinen Gau zum Reichsverteidigungskommissar ernannt.95 Damit war ab diesem Zeitpunkt auch der steirische Gauleiter Uiberreither verpf lichtet, durch eine einheitliche Steuerung aller Verwaltungszweige die inneren Kriegsanstrengungen mit den Belangen der Wehrmacht zu koordinieren. Der Reichsverteidigungskommissar war damit der zivile Gegenspieler des jeweiligen militärischen Wehrkreisbefehlshabers, der verpf lichtet war, ihm jede Anregung und jedes Ersuchen an zivile Behörden vorzulegen sowie ihn laufend über grundsätzliche Reichsverteidigungsmaßnahmen zu unterrichten. Der oberste Partei- und Behördenchef im Gau gewann damit insbesondere maßgeblichen Einf luss auf die Arbeitsmarkt-

397

politik und in weiterer Folge auch auf die Rüstungswirtschaft.96 Erhebliche verwaltungsorganisatorische Veränderungen für den Reichsgau Steiermark brachten dann die Kriegsereignisse im Frühjahr 1941. Nach dem Überfall auf Jugoslawien im April 1941 wurden slowenische Gebiete, die an die Steiermark (Untersteiermark) und Kärnten (Krain und Unterkärnten) angrenzten, den beiden Reichsgauen zugeschlagen. Die Untersteiermark vereinigte dabei im Wesentlichen die 1919 an Jugoslawien abgetretenen Gebiete des ehemaligen Kronlandes Steiermark. Während vier Gemeinden des Übermurgebietes/Prekmurje, die vor allem von Volksdeutschen bewohnt waren, unmittelbar in den Reichsgau Steiermark eingegliedert wurden,97 erfolgte wegen des letztlich noch nicht geklärten völkerrechtlichen Status bis Ende des Krieges keine völlige Integration der Untersteiermark in die Reichsgauverwaltung. Das Gebiet wurde nur dem Reichsstatthalter der Steiermark unterstellt, der als „Chef der Zivilverwaltung (CdZ)“ bezeichnet wurde.98 Reichsstatthalter Uiberreither nahm also in Personalunion die Funktion des Chefs der Zivilverwaltung in der Untersteiermark wahr und wurde dort auch von Regierungspräsident Müller-Haccius vertreten. Es wurden sechs untersteirische Landratsämter in Marburg/Maribor, Cilli/Celje, Pettau/Ptuj, Luttenberg/Ljutomer, Rann/Brežice und Trifail/Trbovlje sowie eine Außendienststelle in Windischgraz/Slovenj Gradec eingerichtet. In Marburg wurde ein ­eigener Behördenapparat für die Untersteiermark etabliert, der aus zunächst 30 – bald aber fast 50 – Unterabteilungen bzw. Beauftragten des Behördenchefs bestand. Ein Teil dieser Beauftragten war allerdings auch in Graz angesiedelt und mit den Dienststellen der Reichsstatthalterei verschränkt. So fungierte etwa der Leiter der Unterabteilung IV d der Reichsstatthalterei, der für die Preisüberwachung zuständig war, auch als „Beauftragter für die Preisbildung

398

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

und Preisüberwachung“ für die Untersteiermark; und Regierungsdirektor Dr. Papesch, Leiter der Abteilung II der Reichsstatthalterei, war gleichzeitig auch „Beauftragter für Kulturfragen“ für die Untersteiermark.99 Diese teilweise Verschränkung der an sich getrennten Verwaltungsorganisationen verstärkte sich mit Fortdauer des Krieges verschiedentlich sogar noch. So wurde ab Mai 1943 angeordnet, dass Erlässe für beide Verwaltungsebenen in einem Arbeitsgang anzufertigen und zu vervielfältigen waren, wobei allerdings im Kopf solcher Erlässe sowohl der Titel „Der Reichsstatthalter in der Steiermark“ als auch die Bezeichnung „Der Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark“ aufzuscheinen hatte.100 Uiberreither musste bald einsehen, dass er durch diesen beträchtlichen Aufgabenzuwachs seine Aufgaben als Reichsstatthalter nicht mehr voll erfüllen konnte, und delegierte deshalb im Juni 1942 einige Agenden an Regierungsdirektor Dr. Ernst Mayrhofer, den Leiter der Abteilung I; davon betroffen waren zum Beispiel die Bereiche Geschäftsverteilung, Kassen- und Rechnungswesen sowie das Ausbildungswesen.101 Die Gauverwaltung war – neben anderen Institutionen – damals auch konfrontiert mit den in Zusammenhang zur geplanten Eindeutschung der Untersteiermark stehenden Maßnahmen der Umsiedlung diverser Bevölkerungsgruppen. Dazu gehörte insbesondere die Ansiedlung der Gottscheer in das „Ranner Dreieck“. Außerdem waren von diesen Maßnahmen auch deutsche Volksgruppen aus Südosteuropa sowie die Südtiroler betroffen. Die Umsiedlung der Südtiroler war Folge eines zwischen Hitler und Mussolini im Oktober 1939 geschlossenen Abkommens, das die Südtiroler vor die Wahl stellte, entweder eine Italianisierung ihrer Heimat in Kauf zu nehmen oder im Rahmen der Option ins Deutsche Reich auszuwandern. Nach Mussolinis Sturz im Juli 1943 und der deutschen Besetzung Norditaliens wur-

den die Auswanderungspläne aus Südtirol allerdings endgültig gestoppt.102 Für den Verwaltungsauf bau in der Untersteiermark wurde außerdem eine erhebliche Anzahl von steirischen Verwaltungsbeamten herangezogen, die teilweise große Lücken im Personalstand hinterließen.103 Aber nicht nur Versetzungen in die Untersteiermark fanden statt, auch innerhalb des Reichsgaues und des Reichsgebietes standen auf Grund der Abordnungen zur Wehrmacht und laufender Umorganisationen innerhalb des Verwaltungsapparates ständige Personalveränderungen auf der Tagesordnung. Immer wieder wurden Beamte aus der Steiermark auch in andere vom Deutschen Reich besetzte Gebiete abgeordnet.104 Zuweilen kam es aber auch vor, dass sich Beamte freiwillig für den Einsatz in den besetzten Gebieten meldeten, um so ihren besonderen Einsatzwillen für den Führer zu dokumentieren.105 Doch bald ergaben sich auf Grund der Abordnungen der Beamten auf allen Verwaltungsebenen teilweise empfindliche personelle Lücken. So waren zum Beispiel zu Ende des Jahres 1941 in der Stadt Kapfenberg von insgesamt 49 Planstellen nur 24 besetzt; und auch bei den Gemeinden im Landkreis Murau musste man nur mehr mit der Hälfte des Personalstandes auskommen – noch dazu teilweise mit nur kurz angelernten Ersatzkräften, zum Großteil Frauen.106 In Anbetracht dieser völlig veränderten Rahmenbedingungen waren bald weitere verwaltungsorganisatorische Maßnahmen nötig. Die zunehmenden Einberufungen von Beamten zum Kriegseinsatz und die veränderten Schwerpunkte in der Verwaltungsarbeit erforderten eine Reihe von Umstellungen. Durch den Führer-Erlass vom 25. Jänner 1942 über die Vereinfachung der Verwaltung107 wurde unter anderem eine weitergehende Konzentration der Einf lussbefugnisse des Reichsstatthalters festgelegt. Die Reichsstatthalter erhielten nämlich die direkte Aufsicht über die Tätigkeit der Dienststellen der

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

399

Reichsministerien in ihrem schutz. Jedes Amt war verBereich sowie die Personalpf lichtet, sein Einsparungsbefugnisse. Daraus resultierte potential auszuloten und zu eine sehr weitreichende Demelden. Die dabei erstellten zentralisierung und letztlich Verzeichnisse mussten nach eine wesentliche MachtverBerlin zur Genehmigung größerung und Unabhängigvorgelegt werden. Dabei keit des Reichsstatthalters handelte es sich um eine aufvon den Berliner Zentralbewändige bürokratische Prohörden. Im Übrigen wurde zedur.109 Angesichts der zunehin diesem Erlass angeordnet, menden personellen Ausdündass alle nur irgendwie entnung war auch die alltägliche behrlichen Beamte für den Verwaltungsarbeit so weit Einsatz der Wehrmacht und Dr. Sig fried Uiberreither. Gauleiter, der Rüstungsindustrie zur Landeshauptmann/Reichsstatthalter der wie möglich zu vereinfachen. Steiermark 1938/1940 bis 1945 Für Massenerledigungen Verfügung zu stellen waren. UMJ/MMS wurden verstärkt Formblätter In die personellen Lücken verwendet, die nur mehr in rückten vor allem ältere männliche Arbeitskräfte sowie Frauen ein. Die knappster Form den Sachverhalt und die ErleVerwaltungstätigkeiten waren auf die kriegs- digung enthielten.110 Auch Telefongespräche wichtigen Aufgaben zu reduzieren und so weit und Fernschreiben waren stets in äußerster Kürals möglich zu vereinfachen; alle anderen nicht ze und ohne Floskeln zu gestalten. Dabei spielso wichtigen Arbeiten vorläufig einzustellen.108 te aber auch die Möglichkeit der Abhörung Ein Jahr später brachte ein neuerlicher Füh- durch den Feind eine Rolle.111 Und im Oktober rer-Erlass eine weitere Generalrevision der ge- 1943 befahl der zum Reichsinnenminister aufsamten Reichsverwaltung. Mit dem Erlass vom gestiegene Heinrich Himmler den Behörden 13. Jänner 1943 „über den umfassenden Einsatz außerdem, bei Entscheidungsbegründungen der arbeitsfähigen Männer und Frauen für Auf- weniger die juristischen als vielmehr die politigaben der Reichsverteidigung“ wurde allen schen, völkischen und wirtschaftlichen Gekriegswichtigen Aufgaben absolute Priorität sichtspunkte in den Vordergrund zu stellen.112 Auch den Bereich des Dienstrechts der Beeingeräumt. Verwaltungsaufgaben, die keine kriegswichtige Bedeutung besaßen, waren un- amten betrafen einschneidende Anordnungen. verzüglich stillzulegen, wobei man auch von Einstellungen, Beförderungen sowie Ausnahentgegenstehenden gesetzlichen Anordnungen men von Ausbildungs- und Lauf bahnvorschrifabweichen konnte. Zu den als besonders kriegs- ten wurden strikt untersagt. Im März 1943 verwichtig eingestuften Verwaltungsagenden ge- kündete Gauleiter Uiberreither in seiner Eihörten insbesondere die kriegswirtschaftlichen genschaft als Reichsverteidigungskommissar Maßnahmen, aber auch die Propaganda, das einen Einstellungsstopp für den öffentlichen Schulwesen und die Tätigkeit der Jugendämter. Dienst. Demnach durfte Personal nur mehr aufAuf der anderen Seite waren folgende Bereiche genommen werden, wenn Dienstkräfte, die von der Stilllegung betroffen: Statistik, Raum- kriegswichtige Aufgaben zu erfüllen hatten, ordnung, Denkmalpf lege, das Wasserrecht, zum Wehrdienst eingezogen wurden und ihre Gewerbewesen sowie der Natur- und Jugend- Aufgaben auch bei Anlegung des strengsten

400

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

Maßstabes von den verbleibenden Beamten nicht erledigt werden konnten.113 Es war allerdings möglich, bereits pensionierte Beamte oder Personen, die im Zusammenhang mit der im Jahre 1938 durchgeführten Neuordnung des Berufsbeamtentums außer Dienst gestellt worden waren, für den öffentlichen Dienst zu reaktivieren. Nach Einholung der Zustimmung der NSDAP fanden sie vor allem im Bereich der Gemeindeverwaltung Verwendung.114 Mit den immer mehr zunehmenden Abkommandierungen der wehrfähigen Beamten zum Kriegseinsatz hatten Bedeutung und Zahl der weiblichen Bediensteten stark zugenommen. Bereits kurz nach Kriegsbeginn wurde diesen Veränderungen deshalb auch nach außen hin Rechnung getragen. So ordnete der Reichsinnenminister bereits im November 1939 an, dass für Frauen unbedingt weibliche Amtsbezeichnungen zu führen waren.115 Gleichzeitig mit der Vereinfachung der Verwaltung im Krieg wurden die Beamtenbezüge vereinheitlicht und nur mehr vierteljährlich ausbezahlt. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde im April 1943 zunächst auf 53 Stunden hinaufgesetzt.116 Im August 1944 wurde die Wochenstundenanzahl sogar auf insgesamt 60 Stunden erhöht. Bei der Behörde des Reichsstatthalters ergaben sich dadurch tägliche Amtsstunden von 7.30 bis 18 Uhr, an Samstagen bis 14 Uhr. Notfalls konnten Beamte aber auch außerhalb dieser Dienststunden und insbesondere auch am Sonntag zur Aufarbeitung der Dienstgeschäfte herangezogen werden.117 Schließlich wurde ab September 1944 eine totale Urlaubssperre für die öffentlich Bediensteten angeordnet.118 In dieser Endphase des Krieges herrschten im Verwaltungsalltag schon längst keine regulären Bedingungen mehr. Bereits seit 1942 waren einzelne Kanzleigebäude der steirischen Gauverwaltung durch Bombentreffer zerstört worden, sodass eine ganze Reihe von Abteilungen in Behelfsquartiere ausweichen musste.

So waren sechs Unterabteilungen in Barackenbauten einquartiert, die im Bereich des Grazer Stadtparks an der Einmündung der Sauraugasse errichtet worden waren.119 Trotz dieser schon äußerst ungünstigen Verhältnisse wurden in der zweiten Jahreshälfte 1944 noch einmal die letzten Reserven mobilisiert. Mit dem Führer-Erlass über den totalen Kriegseinsatz vom 25. Juli 1944 wurde Joseph Goebbels beauftragt, auch im Verwaltungsapparat einschneidende Maßnahmen zu setzen, damit der Reichsverteidigung keine Kräfte entzogen blieben.120 So wurde der schon auf ein Mindestmaß geschrumpfte Personalstand auf Grund der Kriegsereignisse weiter reduziert. Immer mehr öffentlich Bedienstete wurden für kriegswichtige Arbeiten abkommandiert. So konnten Beamte zur Dienstleistung in für die Kriegswirtschaft tätigen Betrieben zwangsverpf lichtet werden.121 Gegen Kriegsende wurden außerdem viele Beamte in der Steiermark zum Bau von Abwehrstellungen herangezogen.122 Insgesamt führten die sich zuspitzende Kriegslage und der Luftkrieg dazu, dass sich auf der einen Seite eine weitgehende Abnabelung der Reichsgaue von den Zentralstellen mit einer Vermehrung der Entscheidungsmöglichkeiten auf Gauebene ergab. Freilich reduzierten sich in der letzten Kriegsphase die Verwaltungstätigkeiten hauptsächlich auf die Aufrechterhaltung der Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern sowie die Betreuung der zunehmenden Flüchtlinge und der durch den Bombenkrieg geschädigten Personen. Auf der anderen Seite gab es in dieser Phase die zunehmende Neigung zur politischen Gewichtsverlagerung von der Verwaltung auf die Parteiorganisation. Die NS-Ideologie mit ihrem totalen Herrschaftsanspruch der Partei bedrohte damit immer mehr die Autorität und Selbstständigkeit der Verwaltungsinstanzen. In der Steiermark kam es auf Grund dieser Tendenzen, die teilweise noch verstärkt wurden durch den absolut

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

autoritären Führungsstil von Gauleiter Uiberreither, zur im Jahre 1944 erfolgten Demission des Regierungspräsidenten Müller-Haccius, dessen Stelle nicht mehr nachbesetzt wurde.123 Tatsächlich wurden dann schrittweise staatliche Kompetenzen zur NSDAP hin verlagert. So gingen etwa die Aufstellung der Selbstschutzkräfte, der Stellungsbau sowie die Organisation des Volkssturms in den Aufgabenbereich der NSDAP über. Außerdem kam es zur ausdrücklichen Einrichtung sogenannter „Ortsdreiecke“ mit dem Ortsgruppenleiter, dem Bürgermeister und dem Ortsbauernführer bzw. dem Obmann der Arbeitsfront, die als Führungsinstanzen auf unterster Ebene agierten.124 Als die heranrückende Front am Beginn des Jahres 1945 ein baldiges Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ankündigte, wurde von Gauleiter Uiberreither der Befehl gegeben, besonders heikle Aktenbestände der Gauverwaltung zu vernichten. Damit wurde ein großer Teil der Dokumente zur Tätigkeit der national-

401

sozialistischen Verwaltung in der Steiermark einfach zerstört, darunter auch die Personalakten der Beamten des Reichsgaues. Kurz vor dem Heranrücken der sowjetischen Einheiten in das Zentrum der Steiermark verließen schließlich viele führende Repräsentanten der NS-Verwaltung ihren Posten. Reichsstatthalter und Gauleiter Uiberreither ergriff am 7. Mai 1945 die Flucht aus Graz. Zuvor hatte er die Regierungs- und Parteigeschäfte an Gauhauptmann Armin Dadieu übergeben, der seinerseits einen Tag später – am 8. Mai 1945 – die Kreis- und Ortsgruppenleiter ihrer Funktionen enthob und noch am selben Tag formell die Regierungsgeschäfte an den Sozialdemokraten Reinhard Machold übertrug. Diesem gelang es dann, eine provisorische Landesregierung unter Einbeziehung der sich in Gründung befindlichen ÖVP sowie der Kommunisten zu bilden. Damit war nach über sieben Jahren ein Schlussstrich unter die nationalsozialistische Verwaltung des Reichsgaues Steiermark gesetzt worden.125

Anmerkungen 1

2

Dr. Rolph Trummer: geb. 1890 in Dietersdorf bei Straden, Jus-Studium in Graz, ab 1922 Rechtsanwalt in Graz, 1934 Mitglied des Staatsrates, ab 1938 Rechtsanwalt in Wien, November 1939 bis Jänner 1940 von der Gestapo in „Schutzhaft“ genommen, nach Kriegsende Mitglied des Verfassungsgerichtshofes, gest. 1954 in Graz. Vgl. Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 425f. Dipl.-Ing. Sepp Helfrich: geb. am 7. 7. 1900 in Lugoj (Banat, heute: Rumänien); der Vater war k. u. k. Unteroffizier und kam 1911 als Schulwart nach Graz, wo Helfrich bis 1918 die Realschule besuchte; nach der Matura als Einjährig-Freiwilliger in Südtirol; Teilnahme an den Kärntner Abwehrkämpfen; Bauingenieur-Studium an der Technischen Hochschule in Graz; zunächst ab 1926 bei der Agrarbezirksbehörde in Leoben tätig; ab 1928 bei der Agrartechnischen Abteilung der Landeshauptmannschaft; ab 1. 5. 1933 NSDAP-Mitglied, ab 1936 illegaler Gauleiter der NSDAP Steiermark; am 19. 3. 1937

3

4

5

verhaftet und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt, behielt aber seine Parteifunktion. Vgl. dazu: Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 397f. Vgl. dazu: Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2005), 215f.; Karner, „... des Reiches Südmark“ 302f.; Schmidl, „Anschluß“ Österreichs 80ff.; Polaschek, Volksgerichte (1998), 83–85; Jontes/ Schilhan, Vom Anschluss bis zum Staatsvertrag 16. Dr. Ing. Armin Dadieu: geb. 1901 in Marburg, evangelisch, seit 1932 Professor an der Technischen Hochschule Graz, ab 1940 Gauhauptmann; 1947 Flucht nach Südamerika; danach Professor für Luftund Raumfahrt in Stuttgart; er starb 1978 in Graz. Vgl. Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 386f.; Jontes/Schilhan, Vom Anschluss bis zum Staatsvertrag 28f. Sepp Hainzl: geb. 1888 in Krieglach, Gau- bzw. Landesbauernführer von Steiermark, ab 12. 3. 1938 Präsident der Landeskammer für Land- und Forst-

402

6

7

8

9

10 11

12

13

14 15

16

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

wirtschaft, 1940–1945 Leiter des Landesernährungsamtes. Gest. 1960 in Oberkurzheim. Vgl. Karner, Stabsbesprechungen 227. Dr. Josef Papesch: geb. 1893 in Marburg, Schulbesuch und Studium in Graz; neben seiner Tätigkeit als Professor an der Kepler-Realschule auch als Schriftsteller tätig; erst 1938 Beitritt zur NSDAP; ab 1940 Regierungsdirektor und Leiter der Kulturabteilung; nach Kriegsende Internierung; gest. 1968 in Graz. Vgl. Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 412f.; Jontes/Schilhan, Vom Anschluss bis zum Staatsvertrag 29f. Dr. Alois Sernetz: seit Herbst 1931 NSDAP-Mitglied; nach seiner Tätigkeit als Landesrat zum Präsidenten der Handwerkskammer bestellt; 1942 aus der NSDAP ausgeschlossen; nach dem Krieg von den Briten interniert und 1947 vom Volksgericht zu zweieinhalb Jahren schweren Kerkers verurteilt. Vgl. Polaschek, Volksgerichte (1998), 85f. Dr. Heinrich Pagl: geb. 1895; Rechtsanwalt, ab 1931 NSDAP-Mitglied; SA-Standartenführer; mehrmals inhaftiert; 8. 5. 1945 Selbstmord. Vgl. Polaschek, Volksgerichte (1998), 86. Franz Fina löste in dieser Funktion Ludwig Koban ab. Vgl. Ämter-Führer von Graz und Steiermark 75ff.; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 49. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 51. Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich. BGBl. Nr. 75/1938; gleichzeitig verlautbart als deutsches Reichsgesetz, RGBl. I S. 237 u. GBl. f. Ö. Nr. 27/1938. Zum Wiedervereinigungsgesetz sei insbesondere verwiesen auf Wiederin, März 1938 237ff.; Kadanik, NS-Verwaltung 64ff.; Stuckart/Schiedermair, Neues Staatsrecht 17ff.; Tálos, Liquidierung 55ff. RGBl. I S. 249. Diese Landesregierung bestand aus den Ressorts Inneres und Kultur (H. Klausner, dann Seyß-Inquart), Justiz (F. Hueber), Wirtschaft, Arbeit, Finanzen (H. Fischböck), Landwirtschaft (A. Reinthaller), Soziale Verwaltung (H. Jury), Sicherheitswesen (E. Kaltenbrunner). Erlass über die Geschäftseinteilung der Österr. Landesregierung v. 30. 5. 1938. GBl. f. Ö. Nr. 154/1938. Vgl. dazu: Kadanik, NS-Verwaltung 67. Zweiter Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Einführung deutscher Reichsgesetze in Österreich v. 17. 3. 1938. RGBl. I S. 255 u. GBl. f. Ö. Nr. 8/1938. Gesetz über den Neuauf bau des Reichs v. 30. 1. 1934, RGBl. I S. 75; Erste Verordnung über den

17

18

19

20 21

22

23

24

25

26 27 28

Neuauf bau des Reichs v. 2. 2. 1934, RGBl. I S. 81. Vgl. dazu: Stuckart, Eingliederung 62f. Verordnung über das Gesetzgebungsrecht im Lande Österreich v. 30. 4. 1938, RGBl. I S. 455. Zu diesen Diskussionen vgl. Botz, Eingliederung Österreichs 73ff.; Ernst, Neugliederung 465–478; Hagspiel, Ostmark 103f. Josef Bürckel (1895–1944), gebürtiger Pfälzer, Lehrer, 1926 Gauleiter der Pfalz, 1930 Mitglied des Reichstages, 1935 Reichskommissar für die Rückgliederung des Saarlandes. Fungierte vom 26. 4. 1938 bis 31. 3. 1940 als Reichskommissar. Zu Bürckel und dessen Vorgehen bezüglich der Steiermark vgl. Mikoletzky, Josef Bürckels Dienststelle 281– 291; Pohanka, Pf lichterfüller 27ff. Pfeifer, Ostmark 22f. Zur Abwicklung der Volksabstimmung in der Steiermark vgl. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2005), 221ff. Vgl. dazu Hüttenberger, Gauleiter 142ff.; Walzl, „Als erster Gau ...“ 85ff.; Dennewitz, Verwaltung der Ostmark 2; Hagspiel, Ostmark 128; Stuckart/ Schiedermair, Neues Staatsrecht 23f. Anordnung des Reichskommissars Gauleiter Bürckel v. 31. 5. 1938. Abgedruckt bei Pfeifer, Ostmark 88f. Vgl. dazu den umfangreichen Akt in StLA, LV 6/1936-45, O 1. Vgl. dazu: Hagspiel, Ostmark 105. Dr. Tobias Portschy: geb. 1905 in Oberschützen, Jus-Studium in Wien, Rechtsanwaltsanwärter in Oberwart, ab 1935 illegaler Gauleiter des Burgenlands, 11. 3. bis 15. 10. 1938 kommissarischer Landeshauptmann des Burgenlands; nach Kriegsende Verurteilung zu 15 Jahren Haft, doch bereits 1951 begnadigt, 1996 verstorben. Vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 488f.; Mindler, „Portschy ist Burgenländer, ich bin Steirer“ 117– 143; Mindler, Tobias Portschy. Hanisch, Nationalsozialistische Herrschaft 72. Dazu vgl. Tálos, Liquidierung 59. Dr. Sigfried Uiberreither: geb. 1908 in Salzburg, Realschule und Matura in Salzburg, Jus-Studium in Graz, 1933 Promotion, neben dem Studium und danach Angestellter der Arbeitsgemeinschaft der Krankenkassen, 1931 SA-Mitglied, 1937 SA-Schulungsleiter, März 1938 kommissarischer Grazer Polizeipräsident, 10. 4. 1938 Mitglied des Deutschen Reichstages. Vgl. Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 428f. Zu seiner Person und den Hintergründen seiner Bestellung vgl. Karner, Steiermark im 20.  Jahrhundert (2005), 224ff.; Moll, NS-Eliten 96f.; Moll, Reichsgau Steiermark 368f.; Jontes/Schilhan, Vom Anschluss bis zum Staatsvertrag 26f.

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945 29

30

31

32

33

34

35

36

37

38 39

40

Helfrich übernahm dann im Jahre 1940 nach dem Behördenumbau die Abteilung V für Bauwesen und Wasserwirtschaft, die er bis 1945 führte. Nach Kriegsende wurde er von den Briten verhaftet und vom Volksgericht Graz zu vier Jahren schwerem Kerker verurteilt. Nach vorzeitiger Haftentlassung im November 1948 wurde er wieder in den Landesdienst aufgenommen und schließlich zum Agraroberbaurat ernannt. Außerdem war er auch für die ÖVP GrazGeidorf tätig. Er verstarb 1963 in Graz. Vgl. dazu: Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 398. Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Vereidigung der Beamten des Landes Österreich v. 15. 3. 1983. RGBl. I S. 245. Zu den personellen Veränderungen in der steirischen Landesverwaltung vgl. Gänser, Kontinuität und Bruch; Schneider, Alltag und Gleichschaltung 326ff. RGBl. I S. 607/1938. Dazu vgl. Seel, Gleichschaltung 391ff.; Stuckart/Schiedermair, Neues Staatsrecht 27ff. In den Publikationen wird teilweise eine Zahl von rund 70 Prozent der Beamten angegeben. Das scheint zumindest im Bereich der Landesverwaltung als zu hoch gegriffen. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 48f.; Gänser, Kontinuität und Bruch 126; Hagspiel, Ostmark 129. Rechtsgrundlage für den Ariernachweis war § 25 des Deutschen Beamtengesetzes vom 26. 1. 1937, RGBl. I S. 39; in Österreich eingeführt durch Verordnung vom 28. 9. 1938, RGBl. I S. 1225. Dazu vgl. Brand, Beamtengesetz 306ff. Verordnung zur Neuordnung des österr. Berufsbeamtentums, § 3. Gänser, Kontinuität und Bruch 129; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 98; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2005), 217. So fehlen z. B. die Personalprotokolle für die Jahre 1936–1938, aber auch entsprechende Unterlagen, wie etwa die Personalakten, aus der NS-Zeit. Dazu vgl. Gänser, Kontinuität und Bruch 129f. Gänser, Kontinuität und Bruch 130. Als Rechtsgrundlage diente in der Folge ein Erlass über die Wiedergutmachung der im Kampfe für die nationalsozialistische Erhebung Österreichs erlittenen Dienststrafen und sonstigen Maßregelungen vom 10. 4. 1938. RGBl. I S. 375. Seyß-Inquart forderte am 7. 7. 1938 die Bekanntgabe freier Dienstposten und wies darauf hin: Es ist Ehrenpflicht des Staates, die verdienten Träger des Kampfes [...] an geeigneten Arbeitsplätzen unterzubringen. StLA,  Präs./1938 Di 5. Vgl. dazu: Hagspiel, Ostmark 118.

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52 53

54

55

403

Dr. Otto Müller-Haccius: geb. 1895 in Nimburg (Niedersachsen), Verwaltungsjurist, Mitglied der NSDAP und SS, 1940–1944 Regierungspräsident in Graz, 1944 Versetzung nach Kattowitz/Katowice; nach dem Krieg CDU-Bundestagsabgeordneter, gest. 1988 in Hameln. Karner, Stabsbesprechungen 226f. Eine Übersicht über die „Abordnung“ deutscher Beamter nach Österreich findet sich in StLA, Präs./1938 Be 12, U 11. Vgl. dazu: Hagspiel, Ostmark 129; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 105. Zu den Zahlen vgl. Gänser, Kontinuität und Bruch 130ff. Eingeführt durch die Verordnung v. 28. 9. 1938. RGBl. I S. 1225. Zum Wesen und zur Entstehung des Gesetzes vgl. Mommsen, Beamtentum 91ff. Gruber, Überführung 116ff.; Bommel, Besoldungsrecht 581ff.; Dennewitz, Verwaltung und Verwaltungsrecht 203ff.; Köttgen, Deutsche Verwaltung 113ff.; Rahn, Staatsrecht 138ff.; Kadanik, NS-Verwaltung 172ff. Ämter-Führer von Graz und Steiermark 127; Warnack, Taschenbuch für Verwaltungsbeamte 320f.; Kadanik, NS-Verwaltung 184f. Zur Entwicklung des Archivs vgl. Obersteiner, „Reichsgauarchiv Steiermark“ 425ff. Österreichischer Amts-Kalender 16 (1937), 546– 549. Ämter-Führer von Graz und Steiermark 75–79; Geschäftseinteilung der Landeshauptmannschaft Steiermark nach dem Stande vom Juli 1938 (= Stmk. Landesbibliothek: 137799 III); Ostmark-Jahrbuch (1940), 123–125. Gesetz über die Gebietsveränderungen im Lande Österreich v. 1. 10. 1938. RGBl. I S. 1338. Vgl. dazu: Dennewitz, Verwaltung der Ostmark 8f.; Pfeifer, Ostmark 90ff. Verordnungsblatt für den Amtsbereich des Landeshauptmannes für Steiermark 11 (1938), 15. Dazu vgl. Posch, Steiermark 70; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 97ff. Vgl. dazu: Hagspiel, Ostmark 104. Zu den geänderten Bezirksgrenzen in der Steiermark und die Zuteilung der Gemeinden vgl. Gemeindeverzeichnis für die Reichsgaue der Ostmark (1940), 123f. Dazu vgl. auch: Mindler, Südburgenland im Gau Steiermark 122f. Zur Situation im Grazer Raum vgl. Marauschek, Schaffung von Groß-Graz 307ff. StLA, LReg 46-Ge125/1941. Kleinere Korrekturen der Gemeindegrenzen sind aber auch noch in den Jahren danach durchgeführt worden. So wurden

404

56

57

58

59

60

61 62

63

64

65

66

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

etwa im Jahre 1942 auf Grund der Errichtung des Puchwerkes Teile der Gemeinde Thondorf in das Grazer Stadtgebiet eingegliedert. StLA, LReg 46 To 18/1941, Entscheidung des Reichsstatthalters v. 15. 8. 1942. Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat vom 1. 12. 1933, RGBl. I S. 1016. Vgl. dazu und zum Folgenden: Rebentisch, Innere Verwaltung 753f.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 240ff.; Scheerbarth, Staatsrecht 89f.; Pfeifer, Ostmark 530ff.; Rahn, Staatsrecht 109f.; Dennewitz, Verwaltung der Ostmark 46ff.; Dennewitz, Verwaltung und Verwaltungsrecht 288ff.; Stuckart/Schiedermair, Neues Staatsrecht 31f.; Kadanik, NS-Verwaltung 99ff. RGBl. I S. 777 v. 14. 4. 1939. Am gleichen Tag wurde auch das „Sudetengesetz“ erlassen, das für den neu geschaffenen Sudetengau beinahe identische Regelungen wie das Ostmarkgesetz enthielt. RGBl. I S. 780 v. 14. 4. 1939. Insgesamt regelten in der Folge zehn Verordnungen die Durchführung des Ostmarkgesetzes. Abgedruckt zusammen mit dem Gesetz bei Pfeifer, Ostmark 533ff. Zu Inhalt und Durchführung des Ostmarkgesetzes vgl. Tálos, Liquidierung 66ff. Dazu vgl. Engfer, Reichsgaue 52ff.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 274f. Vgl. Hüttenberger, Gauleiter 144f.; Scheerbarth, Staatsrecht 90; Hagspiel, Ostmark 133. Zum Verhältnis von Partei und Bürokratie im Reich vgl. Mommsen, Verschränkung 51ff. Vgl. Hagspiel, Ostmark 130. Verordnung zur Ergänzung des Ostmarkgesetzes. RGBl. I S. 1763 v. 9. 9. 1939. RGBl. I S. 548 v. 27. 3. 1940. Dazu vgl. Raith, Überleitung in das Ostmarkgesetz 331ff. Rechtliche Grundlage war die „Dritte Verordnung zur Durchführung des Ostmarkgesetzes“ v. 17. 7. 1939. RGBl. I S. 1270. Dazu vgl. Hoche, Durchführung des Ostmark- und des Sudetengaugesetzes 481ff.; Pfeifer, Ostmark 564ff.; Dennewitz, Verwaltung der Ostmark 49ff. Zum Verwaltungsapparat in der Steiermark vgl. Ostmark-Jahrbuch (1941), 173ff.; Ostmark-Jahrbuch (1942), 222f.; Wiener Zeit- und Wegweiser (1943), 40f.; Warnack, Taschenbuch für Verwaltungsbeamte 134ff. Müller-Haccius fungierte vom 10. 10. 1939 bis zum Jahre 1944 als Regierungspräsident. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 484. Die „Reichstreuhänder der Arbeit“ waren Verwaltungsbehörden, die für die Aufrechterhaltung des Arbeitsfriedens zu sorgen hatten. Boelcke, Arbeit und Soziales 801; Dennewitz, Verwaltung und

67

68

69

70

71

72 73

74

75

76

77

78

79

80

Verwaltungsrecht 228ff.; Mannlicher, Wegweiser 365ff. Erlass des Führers und Reichskanzlers v. 14. 4. 1939. RGBl. I S. 783. Vgl. dazu: Pfeifer, Ostmark 550ff.; Dennewitz, Verwaltung der Ostmark 50f. Errichtet durch Verordnung v. 12. 7. 1938, RGBl. I S. 853. Dazu vgl. Desput, Presse 356f.; Boelcke, Volksauf klärung und Propaganda 951ff.; Dennewitz, Verwaltung und Verwaltungsrecht 277ff. Dieses Weisungsrecht erstreckte sich nur auf allgemeine verwaltungspolizeiliche sowie kriminalpolizeiliche Angelegenheiten. Der Bereich der Geheimen Staatspolizei war hingegen dem Zugriff der inneren Verwaltung fast völlig entzogen. Vgl. dazu: Gebhardt, Gendarmerie in der Steiermark 317f.; Knoll, Grazer Polizei 38ff. Zum Sektor der Selbstverwaltung vgl. Dennewitz, Verwaltung der Ostmark 62ff. StLA, LReg 93 Re 1/1941, K. 143. Vgl. auch den „Entwurf einer Geschäfts-Ordnung der Behörde des Reichsstatthalters in der Steiermark, Graz 1940“ (Stmk. Landesbibliothek: A 145239 III). Vgl. Hagspiel, Ostmark 129. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 104f. Schnellbrief des Reichsministers des Innern v. 12. 4. 1940 betreffend die Ernennung der Reichsstatthalter in den Reichsgauen der Ostmark. Abgedruckt bei: Ardelt/Floimair, Nationalsozialismus und Krieg 188–190. Dazu vgl. auch: Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 205f. StLA, LReg 93 Ko/1941, K. 142, Erlass des Reichsstatthalters v. 19. 7. 1941. Rundschreiben der Reichskanzlei v. 8. 4. 1943. Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 246; Hagspiel, Ostmark 106; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2005), 226. Anordnung über die Verwaltungsführung in den Landkreisen v. 28. 12. 1939, RGBl. I S. 45. StLA, LReg 93 L/1941, Erlass des Reichsstatthalters v. 5. 7. 1941. Vgl. auch zum Folgenden: Rahn, Staatsrecht 135f.; Kadanik, NS-Verwaltung 120f.; Pfeifer, Ostmark 545 u. 606ff. Kadletz, Auf bau der Verwaltung 28; Dennewitz, Verwaltung und Verwaltungsrecht 300; Pfeifer, Ostmark 606ff. Die Gendarmerie war dem Landrat als dem Chef der Ordnungspolizei des Landkreises direkt unterstellt. Dem Gendarmeriekreisführer untergeordnet waren die Gendarmerieabteilungen und Gendarmerieposten. Gebhardt, Gendarmerie in der Steiermark 318–319. StLA, LReg 93 L 1/1941, K. 142 u. LReg 59 Ge 39,

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

81

82

83 84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

H. III, Geschäftsordnung und Aktenplan der Landräte. Dazu vgl. Otto, Landratsamt 205ff. In der Steiermark wurden für die 16 Landkreise je sechs dieser drei genannten Ämter eingerichtet. Pfeifer, Ostmark 463f.; Kadletz, Auf bau 28. Zum Verhältnis Kreisleiter–Landrat im Rahmen des NS-Staates vgl. Diehl-Thiele, Partei und Staat 173ff. RGBl. I S. 49, 30. 1. 1935. RGBl. I S. 1167, 15. 9. 1938. Dazu vgl. Ribitsch, Einführung der Deutschen Gemeindeordnung 721ff. Mannlicher/Petz, Deutsche Gemeindeordnung 34ff.; Dennewitz, Verwaltung und Verwaltungsrecht 191ff.; Rahn, Staatsrecht 119ff.; Köttgen, Deutsche Verwaltung 74ff.; Kadanik, NS-Verwaltung 134ff. Rahn, Staatsrecht 125f.; Mannlicher/Petz, Deutsche Gemeindeordnung 47ff. u. 167ff.; Kadanik, NS-Verwaltung 136f. Mannlicher/Petz, Deutsche Gemeindeordnung 137ff. Zum Führerprinzip auf Gemeindeebene vgl. Bracher, Die deutsche Diktatur 375f. Rahn, Staatsrecht 129f.; Mannlicher/Petz, Deutsche Gemeindeordnung 201ff. Dennewitz, Verwaltung der Ostmark 14f.; Dennewitz, Verwaltung und Verwaltungsrecht 197ff.; Mannlicher/Petz, Deutsche Gemeindeordnung 201ff. Zur Situation der Stadtverwaltung in Graz vgl. Beer, Kommunale Politik 100ff. RGBl. I S. 1535 v. 28. 8. 1939. Vgl. Pfeifer, Ostmark 665ff. Ehrensberger, Vereinfachung der Verwaltung 533ff.; Kadanik, NS-Verwaltung 220; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 143ff. StLA, ZGS, K. 110, Erlass des Reichsinnenministers v. 31. 5. 1941. Kadanik, NS-Verwaltung 221f.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 141. Verordnung über die Bestellung von Reichsverteidigungskommissaren v. 1. 9. 1939. RGBl. I S. 1565. Dazu vgl. Moll, NS-Eliten 112. Verordnung über die Reichsverteidigungskommissare und die Vereinheitlichung der Wirtschaftsverwaltung v. 16. 11. 1942. RGBl. I S. 649. Vgl. Hüttenberger, Gauleiter 152ff.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 132ff.; Rebentisch, Innere Verwaltung 764; Bracher, Die deutsche Diktatur 444–454; Hagspiel, Ostmark 132; Mannlicher, Wegweiser 371; Pfeifer, Ostmark 650ff.; Kadanik, NS-Verwaltung 208ff. Im Übermurgebiet mit den vier Gemeinden Guizenhof/Ocinje, Rotenberg/Serdica, Sinnersdorf/Kra-

405

marovci und Füchselsdorf/Fikšinci lebten damals etwa 1.200 Volksdeutsche. Es gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu Ungarn und fiel dann an den SHS-Staat. Dazu vgl. Sattler, Untersteiermark 15; Desput, Vom Reichsgau zum Bundesland 485. Zur Verwaltung in der Untersteiermark vgl. auch: Moll, Reichsgau Steiermark 372ff. 98 Erlass des Führers über die Verwaltung in der Untersteiermark v. 14. 4. 1941. Abgedruckt bei Moll, „Führer-Erlass“ 165. Dazu vgl. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2005), 230ff.; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 126ff.; Walzl, „Als erster Gau ...“ 231ff.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 305ff. 99 StLA, LReg 93 U 2/1941, K. 143. Zur Tätigkeit der Zivilverwaltung in der Untersteiermark vgl. Karner, Stabsbesprechungen. Dazu vgl. auch: Stromberger, „Wenn Sie wollen ...“ 141ff. 100 StLA, LReg 93 U 3/1941, K. 143, Runderlass v. 6. 5. 1943. 101 StLA, 93 A 1/1941, Erlass d. Reichsstatthalters v. 14. 6. 1942. 102 Dazu vgl. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2005), 228ff.; Stuhlpfarrer, Umsiedlung Südtirol 701ff.; Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik 15f.; Kolp, „Südmark“ im Großdeutschen Reich 23. 103 StLA, ZGS, K. 110, Erlass d. Reichsstatthalters v. 23. 4. 1941. 104 So wurden zum Beispiel im Jahre 1941 drei Bauingenieure der Stadt Graz in den Regierungsbezirk Litzmannstadt/Łódz versetzt. StLA, LReg 46 C 5/1941, Reichsminister des Innern v. 7. 2. 1941. 105 StLA, LReg 46 Fa 14, Landrat Hartberg an Reichsstatthalterei v. 22. 10. 1941. Dazu vgl. Kernert, Einsatz 113ff. 106 StLA, LReg 46 Ge 126/1941, Bürgermeister von Kapfenberg v. 5. 1. 1941; Landrat des Kreises Murau an Reichsstatthalter v. 24. 12. 1941. 107 Dieser Erlass stellt eine Ergänzung des ersten Vereinfachungs-Erlasses vom 28. 8. 1939 (RGBl. I S. 1535) dar und wurde nicht allgemein veröffentlicht. StLA, 93 A 1/1941, „Erlaß des Führers über die weitere Vereinfachung der Verwaltung“ v. 25. 1. 1942. 108 Stuckart, Vereinfachung der Verwaltung 121ff.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 464ff.; Rebentisch, Innere Verwaltung 769; Kadanik, NS-Verwaltung 222f.; Hagspiel, Ostmark 132. 109 StLA, ZGS, K. 110, Schnellbrief des Reichsinnenministers v. 30. 1. 1943; StLA, 10 Sti 1/1944. Vgl. Stuckart, Der totale Krieg und die Verwaltung 1ff.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 476; Hagspiel, Ostmark 130.

406

Gebhardt / Verwaltung im Reichsgau Steiermark 1938 bis 1945

StLA, ZGS, K. 34, Rundverfügung des Reichsstatthalters v. 28. 9. 1944. Dazu vgl. Slapnitschka, Kampf gegen die Papierf lut 501f.; Starcke, Vereinfachung der Verwaltung 321ff. 111 StLA, ZGS, K. 34, Erlass des Reichsstatthalters v. 18. 2. 1944. 112 StLA, ZGS, K. 34, Erlass des Reichsministers des Innern v. 28. 10. 1943; Kadanik, NS-Verwaltung 225; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 505. 113 Verordnungs- und Amtsblatt für den Reichsgau Steiermark, Anordnung des Reichsverteidigungskommissars v. 6. 3. 1943. 114 StLA, ZGS, K. 34, Erlass des Reichsstatthalters v. 16. 4. 1943. Dies wurde bereits durch die Durchführungsverordnung zur Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiet des Beamtenrechts vom 15. 5. 1940, RGBl. I S. 796, ermöglicht. 115 StLA, ZGS, K. 110, Erlass d. Landeshauptmanns v. 9. 11. 1939. 116 Verordnungs- und Amtsblatt für den Reichsgau Steiermark, Anordnung des Reichsverteidigungskommissars v. 14. 4. 1943. 117 StLA, ZGS, K. 34, Erlass des Reichsstatthalters v. 31. 8. 1944. 118 StLA, ZGS, K. 110, Erlass d. Reichsstatthalters v. 6. 9. 1944. Zu den Veränderungen des Dienstrechts der Beamten vgl. Kadanik, NS-Verwaltung 185ff. 110

Es wurde sogar eine neue Straßenbezeichnung („Parkring“) vorgenommen, wobei die Hausnummern 6 bis 44 zugeteilt wurden. StLA, LReg 93 Re 2/1941, K. 143. 120 Führererlass über den totalen Kriegseinsatz v. 25. 7. 1944, RGBl. I S. 161. Vgl. dazu: Fuchs, Totaler Kriegseinsatz 261ff.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 516ff.; Kadanik, NS-Verwaltung 225. 121 Dienstpf licht-Verordnung v. 13. 2. 1939, RGBl. I S. 120. StLA, ZGS, K. 34, Erlass des Reichsstatthalters v. 15. 4. 1943. 122 StLA, ZGS, K. 34, Erlass d. Reichsstatthalters v. 9. 10. 1944. 123 Müller-Haccius wurde über eigenes Ersuchen nach Kattowitz versetzt. Karner, Stabsbesprechungen 226; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 468f. Zum Verhalten Uiberreithers in der Endphase des Krieges vgl. Moll, Reichsgau Steiermark 376. 124 Dazu vgl. Palten, „Partei und Staat“ 209f.; Rebentisch, Innere Verwaltung 763f. u. 772ff.; Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung 525ff.; Kadanik, NS-Verwaltung 226f. 125 Vgl. dazu: Desput, Das Jahr 1945 125f.; Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2005), 306; Tscherne, Steiermark 13ff.; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 421ff.; Binder, Stunde der Pragmatiker 109ff. 119

Gerhard Marauschek

Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz als „Stadt der Volkserhebung“ 1938 bis 1945

„Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung“ Unter diesem Titel legte Prof. Dr. Horst Matzerath (Berlin) 1970 eine umfassende Untersuchung vor, welche zum Gesamturteil kommt, dass die kommunale Selbstverwaltung, nicht zuletzt als „liberalistisch“ verschrieen, durch das „Dritte Reich“ zerstört wurde. Allerdings war dieser Prozess bei Kriegsende noch nicht abgeschlossen.1 Im Sinne der Deutschen Gemeindeordnung 1935, welche im NS-Ministerium des Innern ausgearbeitet wurde, kam dem (Ober-)Bürgermeister, der durch das Vertrauen des Staates und der Partei zu berufen war, nach dem „Führerprinzip“ unter Beachtung der mit „Führung“, „Menschenführung“ und „Durchführung“ schlagartig zu kennzeichnenden Prämissen, die verantwortliche Oberleitung der Gemeinde zu. Ihm wurden „Beigeordnete“ (Bürgermeister, Stadtkämmerer) sowie eine Anzahl von Gemeinderäten (in Stadtkreisen als

„Ratsherren“ bezeichnet) zur Seite gestellt. Anstelle der „freien Gemeinde im freien Staate“, welche durch Wahlen legitimiert worden war, trat nunmehr die Funktion als bloße „politische Verwaltung“ der nachgeordneten Verwaltungsebene. Für die Stadt Graz (nunmehr als „Stadtkreis“ bezeichnet) bedeutete dies, dass sie in fast sämtlichen politisch relevanten Angelegenheiten durch das Amt des Gauleiters und Reichsstatthalters (Landesregierung) bevormundet wurde. Die Rivalität zwischen Gemeinde und Partei (Oberbürgermeister und Kreisleiter) drängte die Bürgermeister in eine Rückzugsposition. Die Politisierung sämtlicher Bereiche und der straffe Zentralismus im Bereich der staatlichen Verwaltung ließen den Gemeinden keinen politischen Spielraum und machten so eine kommunale Selbstverwaltung praktisch unmöglich.

Von der „Volkserhebung“ bis zum „Umbruch“ in Graz Dieser schicksalsträchtige Abschnitt in der Grazer Stadtgeschichte, welcher sich vom 19. Februar 1938 bis zum 12. März 1938 erstreckte, ist bereits mehrfach ausführlich dokumentiert

worden.2 Ausgelöst wurde die offene Rebellion in der Form von mehrfach wiederkehrenden Demonstrationen durch das „Berchtesgadener Abkommen“ zwischen Kurt Schuschnigg und

408

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

Adolf Hitler vom 19. Februar 1938, das die Einrichtung von „Volkspolitischen Referaten innerhalb der Vaterländischen Front“ (Leiter in der Steiermark: Dr. Armin Dadieu) vorsah. Damit war die NSDAP in Österreich zwar noch nicht legalisiert, aber in das Staatswesen des österreichischen „Ständestaates“ eingebunden worden. Gleichzeitig wurde der Nationalsozialist Dr. Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister ernannt. Am 24. Februar 1938 kam es zu einer Großdemonstration am Hauptplatz, in deren Verlauf Bürgermeister Hans Schmid zur Hissung einer Hakenkreuzfahne am Rathaus genötigt wurde. Für den 27. Februar 1938 drohte der spätere Gauleiter Sigfried Uiberreither mit einem „SA-Aufmarsch“, worauf das Bundesheer Einheiten nach Graz verlegte: Hauptplatz und Herrengasse erhielten Absperrungen durch Spanische Reiter, hinter denen Maschinengewehre platziert wurden. Ein Bürgerkrieg drohte.3 Den neuen Innenminister Seyß-Inquart begrüßten vom 1. bis 2. März 20.000 Nationalsozialisten in einer Großkundgebung. Seit damals hatte die

steirische Landesregierung die revolutionäre Entwicklung nicht mehr im Griff. Der amerikanische Journalist George Gedye brachte die Sache auf den Punkt: „Graz gehörte nicht länger zu Österreich – es war bereits zu einer Kolonie Nazideutschlands geworden.“4 Die Ereignisse überschlugen sich: Am 3. März 1938 machte Landeshauptmann Karl Maria Stepan dem neuen Landeshauptmann Rolph Trummer Platz, der dieses Amt nur für zehn Tage bekleiden sollte. Verzweifelt hoffte Bundeskanzler Schuschnigg auf die angekündigte Volksabstimmung, der der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht (Fliegertruppe am Thalerhof ) am 12. März 1938 zuvorkam.5 Als der Rücktritt Schuschniggs unter demselben Datum in Graz bekannt wurde, feierten 60.000 begeisterte Grazerinnen und Grazer am Hauptplatz.6 Zugleich erfolgte am 12. März 1938 der formelle Machtwechsel: Dipl.-Ing. Sepp Helfrich übernahm als kommissarischer Landeshauptmann die Landesregierung und Dr. Julius Kaspar die Grazer Stadtverwaltung.

Graz – „Die Stadt der Volkserhebung“ Die Tatsache, dass in Graz bereits ein Monat vor dem „Umbruch“ die Nationalsozialisten das öffentliche Leben mit ihren ständig wiederkehrenden Demonstrationen beherrschten, ließ Bürgermeister Dr. Julius Kaspar bereits am 26. April 1938 beim Führer den Antrag stellen, der Landeshauptstadt Graz die Bezeichnung „Stadt der Volkserhebung“ zu bewilligen. Der Führer stimmte am 5. Juli 1938 dem Antrag „in Anerkennung der besonderen Verdienste der Steiermark und ihrer Hauptstadt (!) im Kampf um die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ zu.

Gleichzeitig begann die Verfolgung der ­politisch Andersdenkenden: Die führenden ­Regimegegner (Christlichsoziale, Monarchisten, Sozialdemokraten, Kommunisten u. a.) wurden verhaftet und unter Drohungen vorübergehend festgehalten, wenn sie nicht im schlimmsten Falle mit den ersten Transporten aus Österreich in das Konzentrationslager Dachau gebracht wurden. So erging es dem späteren Bundeskanzler Dr. Alfons Gorbach (Vaterländische Front), dem Landeshauptmann Dr. Karl Maria Stepan und dem Sicherheitsdirektor Oberst Franz Zelburg.

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

409

Dekret Adolf Hitlers vom 5. Juli 1938 über die Verleihung der Bezeichnung „Stadt der Volkserhebung“ an die Stadt Graz Aus: Grazer Adressbuch 1939

Die Übernahme der Stadtverwaltung durch die NSDAP Das „nationale Graz“ feierte noch in der Nacht auf den 12. März 1938 die Übernahme der Stadtverwaltung durch den Rechtsanwalt Dr. Julius Kaspar als Bürgermeister.7 Ihm zur Seite gestellt wurden als Bürgermeister-Stellvertreter der Chemiker Dr. August Verdino und als Zweiter Bürgermeister-Stellvertreter der Elektromechaniker Erich Seiz sowie als Stadträte der Stampiglienerzeuger Patritz Dunkler, der Privatbeamte (und NSDAP-Kreisleiter für GrazStadt) Rudolf Kollik und der GKB-Beamte Heinrich Leitl. Am 14. März 1938 wurde der

Gemeindetag aufgelöst, und der Bürgermeister stellte sich den Beamten, Angestellten und ­A rbeitern der „Stadtverwaltung“ vor.8 In der Folge wurden von den Nationalsozialisten 20 „belastete“ Beamte entlassen und 29 pensioniert, bei den Vertragsbediensteten kam es zu sieben Entlassungen.9 Im Gegenzug dazu wurden die 1934 als Sozialdemokraten entlassenen Arbeiter und Angestellten wiedereingestellt. Der Grund für die Personalaufstockung war durch die Schaffung neuer Abteilungen wie Standesamt, Wohnungsamt, Kulturamt, Fremdenverkehrs-

410

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

amt, Luftschutzamt, Steueramt, Stadtbau- und Planungsamt sowie Statistisches Amt begründet. Mit der Volksabstimmung vom 10. April 1938 über die „Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reiche“ (Ergebnis: 99,65 % Zustimmung in Graz) ließ sich Hitler seine Okkupation nachträglich legitimieren. Die am 19. März 1938 über Weisung des Bürgermeisters verordnete neue Geschäftsein-

teilung sah für den (Ober-)Bürgermeister Dr. Kaspar das Magistratspräsidium (die beiden ­Magistratsdirektoren waren Dr. Alexander Braun und Dr. Karl Heidinger) und die Allgemeine Verwaltung, für Bgm. Dr. August Verdino die Gesundheitsaufgaben, für Bgm. Erich Seiz das Jugend- und Sozialwesen, für StR. Heinrich Leitl die städtischen Betriebe, für StR. Patritz Dunkler das Gewerbewesen und für StR. Rudolf Kollik das Stadtbauamt vor.10

Die Einführung der Deutschen Gemeindeordnung 1935 in der Stadt Graz am 15. September 1938 Mit der Einführung der „Deutschen Gemeindeordnung 1935“ war die Stadt Graz plötzlich keine Stadt mit eigenem Statut mehr. Vergessen waren die Stadtprivilegien seit 1281, die Reformen Maria Theresias 1749, Kaiser Josephs II. von 1784, die liberalen Statute von 1850 und 1869 sowie das erst zwei Jahre alte Statut des „Ständestaates“. Graz hatte sich in den neuen deutschen Staat einzufügen und konnte zufrieden sein, wenigstens als „Stadtkreis“ im Sinne des DGO 1935 (§ 33) anerkannt zu werden.11 Laut § 3 Abs. 1 der Kundmachung Nr. 408/1938 des Reichsstatthalters betreffend die Bekanntmachung der Einführung der DGO 1935 im Lande Österreich waren die Gemeinden ermächtigt, die eigenen Angelegenheiten durch (Haupt-)Satzungen zu regeln.12 Anstelle der Bezeichnungen „Ortsgemeinden, Marktgemeinden und Stadtgemeinden“ hatten die Bezeichnungen „Gemeinden, Märkte und Städte“ zu treten (§ 9 DGO). Die systematische Entrechtung der jüdischen Mitbürger war durch die Aberkennung des Gemeindebürgerrechtes für Juden festgeschrieben (§ 19 DGO). Graz wurde gemeinsam mit Innsbruck, Klagenfurt, Krems, Linz, Salzburg, St. Pölten, Steyr, Villach und Wiener Neustadt als „Stadtkreis“ anerkannt (§ 33 DGO).

Als Aufsichtsbehörde für Stadtkreise wurde der Landeshauptmann bestimmt (§ 107 DGO). So weit die Einführungsverordnung. Die „Deutsche Gemeindeordnung vom 30. Jänner 1935“, erlassen vom NS-Ministerium des Innern, war von nationalsozialistischem Gedankengut durchdrungen (RGBl. I S. 49). Als Wirkungsbereiche für die Gemeinden waren wie vorher in der kommunalen Selbstverwaltung ein direkter (öffentlicher) und ein übertragener (staatlicher) Aufgabenbereich vorgesehen (§ 2 DGO). Leiter der Gemeinde war der „Bürgermeister“ (§ 6 DGO), der durch das Vertrauen „von Partei und Staat“ in dieses Amt zu berufen war (in Stadtkreisen der „Oberbürgermeister“). Unter Beachtung des „Führerprinzips“ waren dem („Ober)bürgermeister“ als „Beigeordnete“ ein „Bürgermeister“ und ein „Stadtkämmerer“ zur Seite zu stellen. Die übrigen Beigeordneten hatten die Bezeichnung „Stadträte“ zu führen (§ 34 DGO). Der „Hauptsatzung“ oblag es, die Bestimmung der Anzahl der Gemeinderäte (in Stadtkreisen: 36 „Ratsherren“) festzulegen (§ 48 DGO). Sie waren durch den Beauftragten der NSDAP im Einvernehmen mit dem Bürgermeister auszuwählen (§ 51

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

DGO). Überhaupt war dem Beauftragten der NSDAP großzügig Einf lussnahme auf die kommunalen Angelegenheiten eingeräumt (§ 50 DGO). Während die „Deutsche Gemeindeordnung 1935“ die Stadt dem Zugriff der NSDAP auslieferte, war der im 6. Teil der DGO angeführte Abschnitt über die „Gemeindewirtschaft“ erstaunlich fortschrittlich konzipiert (§ 60 DGO ff.). Gegen Ende 1938 gelang es der NS-Stadtverwaltung allmählich festen Fuß zu fassen, sodass Bgm. Dr. Kaspar im November/Dezember 1938 (ABl. Nr. 9 und 10/1938) eine neue „Geschäftseinteilung für die Stadt Graz“, im Dezernatssystem nach reichsdeutschem Vorbild, vorlegen konnte: Dezernat 1: Allgemeine Verwaltung: Oberbürgermeister Dr. Kaspar a) Vorbehaltene Angelegenheiten b) Wirtschaft, Verkehr und Fremdenverkehr c) Rechtsangelegenheiten d) Personalangelegenheiten

411



e) Sanitäts- und Veterinärangelegenheiten f ) Schulwesen Dem Bgm. sind unmittelbar unterstellt: Der Verwaltungsdirektor mit dem Bürgermeisteramt, der Stadtsyndikus, der Stadtanwalt und der Stadtschulrat Dezernat 2: Stadtkämmerei und Kulturwesen: Bgm. Dr. Verdino Dezernat 3: Bauwesen: Bgm. Seiz Dezernat 4: Gewerbewesen, Versicherungswesen, Militärwesen und Wahlsachen: StR. Dunkler Dezernat 5: Fürsorgewesen: StR. Leitl Dezernat 6: Stadtwerke (Gas- und Elektrizitätswerk, Wasserwerk, Wirtschaftshof ): StR. Ing. Schobert

Die Quellenlage zur NS-Zeit in Graz Die Quellenlage zur Geschichte der NS-Zeit in Graz 1938–1945 ist schlechthin als katastrophal zu bezeichnen. Zu dieser Thematik hat Gernot Fournier 1988 eine einschlägige Arbeit vorgelegt.13 Bei der Stadt Graz wurde die wohl bedeutendste Quelle, die Bürgermeisterkorrespondenz Dr. Kaspars, im Zuge des Zusammenbruches 1945 ebenso vernichtet wie die Korrespondenz von Bgm. Dr. Eduard Speck 1960. Wohl sind die Aktenbestände der Leitungsorgane (Präsidialregistratur) und der meisten Magistratsabteilungen, soweit sie überhaupt bereits abgeliefert wurden, im Stadtarchiv erhalten,

doch ermöglichen diese Quellen nur einen mittelbaren Einblick in die Verwaltungstätigkeit der Stadtverwaltung. Weder bei der Stadt noch beim Land Steiermark haben die Personalakten der für die in der NS-Zeit in Frage kommenden Generationen das Jahr 1945 überlebt. Als einzige bedeutende Quelle sind die „Ratsherrenprotokolle 1939–1944“ im Stadtarchiv überliefert. Diese Protokolle geben bei allen anhaftenden Unzulänglichkeiten (nur sporadische Zusammenkünfte der Ratsherren) noch den besten Einblick in die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz in der NS-Zeit.

412

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

Neben diesen primären Quellen liegt als gedruckte Quelle der XLII. Jahrgang des „Amtsblattes der Landeshauptstadt Graz“, allerdings nur für das Jahr 1938, vor. 1939 wurde das Amtsblatt, wohl aus Gründen der Vertraulichkeit, eingestellt. Das (hektographierte) „Dienst-

vertrauliche amtliche Mitteilungsblatt für den inneren Dienstbetrieb der Verwaltung der Stadt der Volkserhebung Graz“ erschien wohl von 1941 bis 1944, bietet aber absolut keinen Ersatz für das eingestellte Amtsblatt.

Die „Ratsherrenprotokolle“ der Stadt der Volkserhebung Graz Diese liegen in der Form von drei Quartbänden (nach dem Krieg in rotes Leinen gebunden) aus den Jahren 1939 bis 1944 im Stadtarchiv vor und beinhalten in hektographierter bzw. teilweise gedruckter Form den Überblick über die folgend genannten „Ratsherrensitzungen“: 1. Ratsherrenprotokolle Band 1 (1939): 354 gez. Seiten a) Erste Ratsherrensitzung vom 24. Feb. 1939 (Vereidigung der 36 Ratsherren) b) Erste öffentliche Ratsherrensitzung vom 10. Mai 1939 (Bericht des Bürgermeisters über das Jahr 1938) c) Öffentliche Ratsherrensitzung vom 6. Juni 1939 (Bestellung der Beiräte) 2. Ratsherrenprotokolle Band 2 (1940–1941): 194 gez. Seiten a) Öffentliche Ratsherrensitzung vom 8. März 1940 (u. a. Erlassung der Hauptsatzung) b) Öffentliche Ratsherrensitzung vom 12. Juli 1940 (anschließend Festakt Ehrenbürgerschaft Generalleutnant Eduard Dietl) c) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 6. Feb. 1941 (Rechnungsabschluss 1939) d) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 29./30. Juli 1941 (Bericht Obgm. über das 1. Halbjahr 1941) 3. Ratsherrenprotokolle Band 3 (1942–1944): 408 gez. Seiten a) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 2.  Feb. 1942 (Namhaftmachung neuer Beigeordneter)

b) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 20. März 1942 (Rechnungsabschluss 1940) c) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 14.  Juli 1942 (Flächennutzungsplan, Wohnbauten, Ernährungsfragen) d) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 13. Nov. 1942 (Rechnungsabschluss 1941, Luftschutzmaßnahmen) e) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 15. Dez. 1942 (EBR Dr. Hans Kloepfer u. a.) f ) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 16. Juni 1943 (Rechnungsabschluss 1942, Wohnbaumaßnahmen) g) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 10. Jan. 1944 (Haushaltsplan 1944, Luftschutzmaßnahmen) h) Vertrauliche Ratsherrensitzung vom 21. März 1944 (Luftkriegsopfer) i) Öffentliche Ratsherrensitzung vom 7. Juli 1944 (Gedenkstunde für die verst. Ehrenbürger Gen.-Obst. Dietl und Dr. Kloepfer) Die „Ratsherrensitzungen“, welche, um den Schein der Legitimität zu wahren, an die alten „Gemeinderatssitzungen“ anknüpfen sollten, waren nur ein schwacher Abglanz der in Graz von 1850 bis 1934 unter demokratischen Verhältnissen abgeführten Sitzungen des (gewählten) Gemeinderates. In der Praxis kam es nur zur Berichterstattung des Bürgermeisters bzw. seiner Beigeordneten (Dezernenten) an die

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

413

Verleihung der Grazer Ehrenbürgerschaft an Generalleutnant Eduard Dietl im Gemeinderatssitzungssaal des ­Rathauses am 12. Juli 1940. 1. Reihe links Dietl, rechts Gauleiter Sig fried Uiberreither, dazwischen GauhauptUMJ/MMS mann Armin Dadieu

Ratsherren, also eine einseitige Angelegenheit, an die sich die moderaten Wortmeldungen der Ratsherren anschlossen. Das wichtigste Element der (gewählten) Gemeinderäte, ihr „Beschlussrecht“ in kommunalen Themen, war den Ratsherren versagt. Dies entsprach ganz dem „Führerprinzip“, welches auf den Oberbürgermeister anzuwenden war. Seit dem Februar 1941 waren die Zusammenkünfte der Ratsherren, wohl aus

Gründen der Geheimhaltung im Kriege, nicht mehr öffentlich und die Berichte darüber in den Grazer Tageszeitungen gleichgeschaltet bzw. zensuriert.14 Was auffällt ist die Zahl der nur sporadischen Zusammenkünfte der Ratsherren (vor allem 1940 und 1941), wozu es allerdings eine erklärende Wortmeldung des Oberbürgermeisters in einem Rundschreiben anlässlich des Weihnachtsfestes 1941 gibt.15

Die erste Sitzung der „Ratsherren“ der Stadt Graz am 24. Februar 1939 Der Kreisleiter der NSDAP Graz-Stadt Rudolf Kollik hatte im Einvernehmen mit dem Grazer Oberbürgermeister Dr. Julius Kaspar unter Zustimmung des Landeshauptmannes und Gauleiters Dr. Sigfried Uiberreither am 4. Jänner 1939 36 Männer als Ratsherren für die Stadt Graz

berufen, die in der ersten Sitzung am 24. Februar 1939 vereidigt wurden. In derselben Sitzung erhielten auch der Führer Adolf Hitler und der Reichsleiter SS Heinrich Himmler das ­Ehrenbürgerrecht der Stadt Graz verliehen.16

414

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

Die Finanzlage der Stadt Graz 1938–1942 Den „Ratsherrenprotokollen“ ist auch die Finanzlage der Stadt in der NS-Zeit 1938–1942 zu entnehmen: Die Stadt Graz bilanzierte 1938 mit einem großen Abgang von RM 15,000.000,–, welcher durch Subventionen (Reserven) des Reichsministeriums des Innern auf RM 7,800.000,– gedrückt werden konnte. Die christlichsoziale Stadtverwaltung hatte für 1938 an Ausgaben nur RM 13,400.000,– bilanziert. Der Grund dafür lag darin, dass der „Ständestaat“ kaum Investitions- und Ausbaupolitik betrieben hatte, obwohl sich bereits 1937 am Horizont der wirtschaftliche Aufschwung abzeichnete. Die NS-Stadtverwaltung von Graz (Kämmerer Dr. Verdino) konnte stolz darauf verweisen, dass „Graz dank der überragenden Stellung des Reiches in der Lage sein werde, seinen Aufgaben in demselben Umfange zu entsprechen, wie dies in den Städten des Altreiches bereits heute der Fall“ sei.17 Die Steuereinnahmen der Stadt setzten sich aus der Grundsteuer, der Gewerbesteuer und aus der Bürgersteuer (Einkommenssteuer) zusammen. Eine schwere Belastung des Budgets stellte die Rückzahlung der Dollaranleihe 1924 in der Höhe von RM 815.000,– p.a. dar. Folgend die Rechnungsabschlüsse 1938–1942: Rechnungsabschluss (1938) 1939: tatsächlicher Abgang: RM 70.000,– ursprünglicher Abgang: RM 5,400.000,–

außertourliche Zuwendung des RMdI: RM 4,000.000,– Rechnungsabschluss 1940: Einnahmen 1940: RM 34,960.000,– Ausgaben 1940: RM 29,716.000,– Überschuss 1940: RM 5,244.000,– Rechnungsabschluss 1941: Einnahmen 1941: RM 38,319.738,– Ausgaben 1941: RM 38,319.738,– ausgeglichen bilanziert Rechnungsabschluss 1942: Einnahmen 1942: RM 44,605.832,– Ausgaben 1942: RM 44,605,832,– ausgeglichen bilanziert Stadtkämmerer Dr. Verdino konnte noch am 16. Juni 1943 den Ratsherren berichten, „dass die finanzielle Lage der Stadt nach wie vor als günstig zu bezeichnen sei. Überschüsse seien zu erwarten, da sich die Steuereingänge als verhältnismäßig hoch erwiesen hätten“. Mit Erlass des Reichsministeriums des Innern und des Reichsfinanzministeriums war nunmehr ein „Kriegsbeitrag“ zu entrichten, der die Stadt RM 1,875.640,– kosten werde.18

Die Schaffung von Groß-Graz 1938 Die Ereignisse rund um die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten ließ auch für Graz ein Projekt heranreifen, welches schon seit etwa 50 Jahren (1891) betrieben worden war, nämlich der „Stadterweiterung zu Groß-Graz“ im Sinne der (modernen) NS-Raumplanung:19

Der Grund dafür war vornehmlich nicht in der bevorzugten Behandlung von Graz als „Stadt der Volkserhebung“ gelegen, sondern in der Vereinheitlichung mittels der NS-Raumplanung für das Land Österreich, welche auch für Wien, Linz und Salzburg eine Stadterwei-

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

415

„Verordnungsblatt für den Amtsbereich des Landeshauptmannes von Steiermark“, Nr. 6/1938 vom 30. September 1938, betreffend die Schaffung von Groß-Graz Stadtarchiv Graz

terung vorsah. Große Verdienste um die Schaffung von Groß-Graz hatte sich auch der sozialdemokratische Bürgermeister von Graz Vinzenz Muchitsch (1919–1934) erworben, der in voraussehender Weise bereits 1928 anlässlich der 800-Jahr-Feier der Stadt im Landtag den Antrag zur Stadterweiterung unter Vorlage einer Denkschrift gestellt hatte. Damals war die Stadterweiterung noch an der starren Haltung des Landeshauptmannes Dr. Anton Rintelen und seiner Bevorzugung der größtenteils christlichsozial (mit Ausnahme der sozialdemokratischen Gemeinden Eggenberg und Gös-

ting) ­regierten Umgebungsgemeinden gescheitert. Der Verordnungsentwurf des Landeshauptmannes und Gauleiters Dr. Sigfried Uiberreither vom 18. September 1938 sah folgenden Umfang der Stadterweiterung vor: „Der Stadtkreis Graz besteht aus dem bisherigen Stadtbezirk Graz zuzüglich der Gemeinden Andritz, Eggenberg, Engelsdorf, Gösting, Hart bei St. Peter, Liebenau, Messendorf, Murfeld, St. Peter bei Graz, Seiersberg [durchgestrichen], Strassgang, Waltendorf, Wetzelsdorf, der KG Rudersdorf und Wagnitz der OG Feldkirchen, der KG Ragnitz,

416

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

Stifting und Kainbach [letztere ist durchgestrichen], der OG Kainbach sowie der KG Fölling und Wenisbuch der OG Mariatrost.“20 Den tatsächlichen Umfang der Stadterweiterung von Groß-Graz überliefert die Verlautbarung im „Verordnungsblatt für den Amtsbereich des Landeshauptmannes von Steiermark“, Nr. 6/1938 vom 30. September 1938: „Das Gebiet der Stadt Graz wird durch Vereinigung mit den Gemeinden Andritz, Eggenberg, Engelsdorf, Gösting, Liebenau, Murfeld, St. Peter bei Graz, Strassgang, Waltendorf, Wetzelsdorf und Gebietsteilen der Gemeinden Feldkirchen, Hart bei St. Peter, Kainbach, Mariatrost, Messendorf, St. Veit ob Graz und Weinitzen erweitert.“21 Eine Befragung des ehemaligen Leiters des Stadtvermessungsamtes SenR. Dipl.-Ing. Erich Fuchs am 12. November 1979 im Stadtarchiv Graz brachte die technische Abwicklung der Stadterweiterung von Graz im Jahre 1938 zu Tage: Die neuen Grenzziehungen betrafen nicht nur Gemeinde- und Katastralgrenzen, sondern durchschnitten auch ganze Gemeindegebiete, sodass eine „Grenzumschreibung“ des neuen Stadtgebietes vorgenommen werden musste, die vom Leiter des Städtebau- und Planungsamtes Dipl.-Ing. Tassilo von Hüller mit roter Farbe auf einem Stadtplan 1:50.000 markiert wurde. Man orientierte sich dabei lediglich an Besitzgrenzen (Parzellennummern).

Die Stadterweiterung zu Groß-Graz 1938 bedeutete einen Quantensprung für die Entwicklung der Stadt: Mit den Eingemeindungen vergrößerte sich das Stadtgebiet von Graz auf das Fünffache von 2.162 Hektar auf 12.722 Hektar, und die Einwohnerschaft stieg um rund ein Drittel von 152.000 auf 207.747. Damals wurde bei der Stadtbevölkerung erstmals die 200.000er-Marke überschritten. Die am 1. November 1938 vorgenommene Bezirkseinteilung des neuen Graz brachte, unter Zerstörung der historisch gewachsenen Strukturen, die Einteilung in acht neue Bezirke nach dem Vorbild reichsdeutscher Städte, allen voran von Berlin:22 Graz-Mitte (mit den Grenzen an den Gürtelstraßen), Graz-Nord, Graz-Nordost, Graz-Ost, Graz-Südost, Graz-Südwest, Graz-West und Graz-Nordwest. In jedem dieser acht Bezirke kam es zur Einrichtung einer Bezirksdienststelle. Der neue Bürgermeister Dr. Julius Kaspar machte in der Ratsherrensitzung vom 10. Mai 1939 davon Mitteilung, dass er einen begeisterten Brief von Altbürgermeister Vinzenz Muchitsch empfangen habe, der Kaspar zur Schaffung von Groß-Graz gratulierte und beisetzte, „dass Groß-Graz zu einem Politikum gemacht worden sei, und deshalb nicht verwirklicht werden konnte. Erst jetzt könnten solche Fragen in kurzer Zeit gelöst werden.“23

Graz als „Ausbaustadt des Reiches“ Eine weitere wesentliche Bevorzugung, die Graz erlangen konnte, verkörperte der Erlass des Führers und Reichskanzlers vom 17. Februar 1939, mit dem Graz zur „Ausbaustadt des Reiches“ erklärt wurde.24 Zu dieser Thematik ­liegen zwei hervorragende Arbeiten von KarlAlbrecht Kubinzky vor, der sich mit dieser Angelegenheit eingehend beschäftigt hat.25

Grundsätzlich wäre festzustellen, dass autoritäre Systeme über die Architektur und Stadtplanung ihre Selbstdarstellung zu verwirklichen suchen.26 Wäre diese Planung tatsächlich verwirklicht worden, hätte Graz mit seinem durch Großmannssucht verunstalteten Stadtbild niemals „Weltkulturerbe“ werden können, sondern hätte weitgehend seine Identität eingebüßt. We-

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

nige Monate nach dem „Anschluss“ legte der Architekt Dr. Fritz Haas (1890–1968), der am Höhepunkt seiner Karriere von 1938 bis 1942 Rektor der Technischen Universität Wien war, seinen Gesamtplan zur Neugestaltung von Graz vor, der für Groß-Graz mit 250.000 Einwohnern als neues Zentrum für Staat und Partei vom Jakominiplatz ausgehend eine neue Hauptachse nach Süden zu einem Gauzentrum im Gebiet des heutigen Messegeländes (Aufmarschgelände und KdF-Stadt) vorsah.27 Sogar der Uhrturm, der dem Führer dem Vernehmen nach nicht gefiel bzw. den er als Wahrzeichen nicht für würdig erachtete, sollte einem „Südostturm mit einem Führersaal“ weichen.28 Damit ergeben sich Parallelen zur Linzer Stadtplanung, wo anstelle des historischen Linzer Stadtschlosses ein monumentales Führermausoleum vorgesehen war. Die Planungskompetenz kam für Graz nicht dem Oberbürgermeister Dr. Kaspar, sondern dem Gauleiter Dr. Sigfried Uiberreither zu, der mit dem Reichsplanungsbeauftragten von Berlin, Staatsminister Albert

417

Speer, 1940 wegen des Grazer Zukunftsplanes in Kontakt trat, wobei ihm letzterer den Planer für die VW-Stadt Wolfsburg, den prominenten Architekten und Städteplaner Peter Koller, empfahl. Dipl.-Ing. Peter Koller (1907–1996) legte noch 1940/42 seinen umfassenden „Plan für Graz“ vor, der in Verfolgung des Haas-Planes von 1938, von dem Elemente übernommen wurden, neuerlich eine monumentale Gesamtplanung mit einer verlängerten Südachse mit dem Parteizentrum („Kundgebungshalle“ von 1939 verwirklicht) und einem Aufmarschgelände im Gebiet des Messegeländes vorsah. Kollers freiwilliger Abgang zum Militär 1942 verursachte, dass seine Planungen für Graz zum Stillstand kamen. Die Planungsvorgabe von 1941 war für Graz als ein Zentrum des künftig deutsch dominierten Südosten Europas mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 350.000 ausgelegt. Auch die großzügige Anbindung an die neuen Reichsautobahnen war vorgesehen.

Der soziale Wohnbau in Graz Die Stadt Graz hatte zwischen 1919 und 1934 unter Bgm. Vinzenz Muchitsch nach Wiener Vorbild einen bedeutenden Wachstumsschub in Bezug auf den kommunalen Wohnbau mitgemacht, mit dem in der Zeit der Wirtschaftskrise 1934–1938 nicht mehr Schritt gehalten werden konnte.29 Die positiven Anfänge einer starken Wohnbautätigkeit ab 1938 (1939: 8.000 Wohnungssuchende, 1943: 18.000 Wohnungssuchende) wurden durch die Kriegsereignisse wieder zunichte gemacht, wobei in der Schlussphase des Weltkrieges 1944/45 die Bombardierung durch alliierte Luftstreitkräfte die Stadt schwerstens beschädigte: Graz stand in Österreich hinsichtlich der Luftkriegsschäden an

dritter Stelle nach Wien und Wiener Neustadt, dementsprechend groß war die Wohnungsnot. Hingegen stellten die Umsiedlungsaktionen des NS-Staates (Buchenland, Südtiroler, Bessarabiendeutsche u. a.) die Stadt vor Probleme, die sie kaum und nur über Genossenschaften bewältigen konnte und wo die Palette von hervorragend geplanten Siedlungen im Anklang an die Gartenstadtbewegung – Dengenhofsiedlung für Südtiroler durch Architekt Koller für die „Neue Heimat“ (DAF) – bis zu (einfachen) Holzhäusern bzw. Barackensiedlungen (z. B. für die Bessarabiendeutschen) reichte. Neben den Umsiedlern mussten auch die Beamten (Reichspost, Polizei, Eisenbahn), sowie das Militär

418

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

wohnversorgt werden. Nach Helmut Lackner verteilten sich in der übrigen Steiermark vier Fünftel des Wohnbaues auf Arbeiterwohnungen, in Graz hingegen von den insgesamt 2.805 Wohnungen auf Beamte (30 %), Südtiroler (36 %) und nur 34 % auf Volkswohnungen.30 Im Zuge des immer „totaler“ werdenden Krieges erhielten nach 1941 für das Stadtbauamt

und das 1938 neu gegründete Luftschutzamt sowie den Polizeipräsidenten die Planung und Einrichtung von Luftschutzräumen und Luftschutzgräben mit Betonabdeckung sowie die Anlage von Löschteichen eine immer größere Bedeutung.

Die Schaffung von neuen Abteilungen bei der Stadtverwaltung Graz Im Zuge der f lächen- und populationsmäßigen Vergrößerung des Stadtraumes war für eine modernere Stadtverwaltung ein in jeder Hinsicht leistungsfähiger Verwaltungsapparat vonnöten, zumal dieser in der Ära der Bürgermeister Muchitsch (1919–1934) und Schmid (1934– 1938), zuletzt auch vermutlich wegen der Wirtschaftskrise, kaum ausgeweitet worden war.31 Oberbgm. Dr. Kaspar konnte in seinem in der RH-Sitzung vom 10. Mai 1939 vorgebrachten Jahresbericht 1938 von der Schaffung der folgend genannten neuen städtischen Ämter Mitteilung machen: a) Fremdenverkehrsbüro: Übernahme des 1938 liquidierten Österreichischen Verkehrsbüros, untergebracht in den Räumen des ehem. Wiener Bankvereines. Rasanter Anstieg der Fremdenverkehrszahlen.32 Graz als Standort für einen Kongresstourismus. Die überaus hoffnungsvollen Erfolge wurden durch den Krieg und den Lebensmittelmangel wieder zunichte gemacht. b) Kulturamt: Mit 1. Dezember 1938 unter Bezug auf die Deutsche Gemeindeverfassung, die einen Anteil der Gemeinde am Kulturleben der Nation vorschrieb, errichtet. Leiter: Dr. Heliodor Löschnigg, Dr. Hans Guido Sernetz (verst. 1942), Jahresbericht 1941/1942: Dichterabende und Vorlesungen, Konzerte, Stadtmuseum, Stadtbücherei,

Städt. Bühnen, Kunstpreis der Stadt Graz 1942: Dr. Joseph Marx, Karl Mader, die Bühnenbildner Paul Mehnert und Hanns Hamann, sowie Dr. Hans Kloepfer (19. Dezember 1942). Städtepartnerschaft mit Krefeld: Eingeleitet durch ein Schreiben des Oberbgm. von Krefeld, der begeistert über die Vorkommnisse von 1938 Graz ein Freundschaftsverbündnis vorschlug. Jugendaustausch und Stipendien für Krefelder Studenten, die an der alten Grazer Universität studieren wollten.33 c) Standesamt: Eine Einrichtung, welche im Deutschen Reich die Matrikenführung (Geburten, Trauungen, Todesfälle) bereits seit 1871 vornahm, während in Österreich bis 31. Dezember 1938 die staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften die Beurkundungen besorgten. Ansteigen der Ziviltrauungen (1937: 19, 1938/39: 3.602) infolge der Einführung der staatlichen Eheschließung und -scheidung am 8. Juli 1938. Entgegennahme der Kirchenaustritte (1938: 22.000), Beglaubigungen der Ahnenpässe.34 d) Wohnungsamt: Sackstraße 18. Vollziehung des Gesetzes über die Anforderung von Wohnungen und Geschäftsräumen RGBl. Nr.: 588/38. 1938 bereits 8.116 wohnungssuchende Parteien vorgemerkt.35

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

e) Luftschutzamt: Girardigasse 8. Errichtet mit Rücksicht auf die Wertigkeit und besondere Vertraulichkeit des Luftschutzes. Bereits 1937 eine Aufgabe des Stadtbauamtes.36 f ) Mietamt: Aufgrund des § 4 der 2. „VO über die Wahrnehmung der Aufgaben und Befugnisse des Reichskommissars für Preisbildung im Lande Österreich“ vom 1. April 1938 als eigenes Amt zur Überprüfung der Mietzinse (heute Schlichtungsamt) im Rahmen des Wohnungsamtes errichtet.37 g) Statistisches Amt: Im Vergleich zu den reichsdeutschen Städten besaß Graz noch

419

keine eigene Abteilung für das Ziffernmaterial auf allen Gebieten der Bevölkerungspolitik, der Wirtschaft und Preisbildung und mussten diese Daten in den einzelnen Abteilungen erst mühsam herausgesucht werden. Erste Bewährungsprobe: Volkszählung 1939/40.38 h) Stadtbau- und Planungsamt: Hervorgegangen aus dem Stadtbauamt mit dem Auftrag, „sich der organischen Entwicklung der Stadt zu widmen“. Aufgebaut als „Bauberatung“ inklusive der Überprüfung der Einfügung in das Stadt- und Landschaftsbild.39

Im Schatten des Krieges: Die Grazer Stadtverwaltung 1940–1944 Mit Fortschreiten des Krieges wurde auch die Öffentlichkeit der Ratsherrensitzungen ab 6. Februar 1941 abgestellt. Immer öfter hatte der Vorsitzende von gefallenen und auch verstorbenen Gefolgschaftsmitgliedern oder Ratsherren zu berichten. Ein Großteil der Ratsherren war zum Militär eingezogen worden. Das letzte große öffentliche Ereignis, zu dem sich vor dem Rathaus eine riesige Menschenmenge eingefunden hatte, war die Verleihung des Ehrenbürgerrechtes am 12. Juli 1940 an Generalleutnant Dietl, den Sieger von Narvik, der die (österreichischen) Gebirgsjäger befehligt hatte.40 Der Angliederung der Untersteiermark im Zuge des Jugoslawienfeldzuges folgte in der Ratsherrensitzung vom 29./30. Juli 1941 die Abordnung von je zwei gehobenen Beamten in das Generalgouvernement (Krakau/Kraków), zur Zivilverwaltung nach Lothringen sowie von 22 Beamten des Fürsorgewesens (darunter StR Heinrich Leitl) nach Marburg/Maribor, des Stadtsyndikus Dr. Karl Heidinger nach Cilli/Celje und von Bgm. Erich Seiz nach Pettau/Ptuj und von 19 höheren und gehobenen Beamten zu einzelnen Landräten (Bezirkshauptmannschaf-

ten) in der übrigen Steiermark. Das Grazer Kontingent sollte zum Auf bau einer Zivilverwaltung in der Untersteiermark dienen.41 Um den kriegsbedingten Erfordernissen zu entsprechen, musste das Präsidium der Stadtverwaltung am 2. Februar 1942 durch vier neu berufene Beigeordnete, die Stadträte StOVR. Dr. Ivo Hofmann (Allgem. Verwaltung), StAM Karl Pichler (Ernährungsamt), StOVR. Dr. Karl Unterrichter (Präsidium und Personal) und Ing. Heinrich Heyssler (Wohnungsamt) aus dem Beamtenstande ergänzt werden.42 Trotz der tristen Verhältnisse wurde in einer Feierstunde in der Landstube am 19. Dezember 1942 dem Dichterarzt Dr. Hans Kloepfer das Ehrenbürgerrecht verliehen.43 An der letzten Sitzung der Ratsherren vom 7. Juli 1944, die bereits in die Zeit des Bombenkrieges fiel, nahm nur mehr ein Häuf lein von acht Ratsherren teil. Makabrerweise wies die Tagesordnung nur mehr das Trauergedenken an die verstorbenen Ehrenbürger Generaloberst Dietl (mit dem Flugzeug abgestürzt) und Dr. Hans Kloepfer (verst. 27. Juni 1944) auf. Es folgten das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, das mit einer riesigen Ver-

420

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

Übersichtsplan des Schlossberg­ stollens. Polizei-Direktion Graz, Stadtarchiv Graz 10. Mai 1945

haftungswelle endete, und der totale Bombenkrieg der Alliierten, welcher Graz am Allerheiligentag 1944 schwerste Wunden zufügte.44 Als Fluchtort vor dem schrecklichen Bombenkrieg wurde unter Aufsicht des Stadtbauamtes bereits ab 1937/38 (Durchstich Sackstraße–Jahndenkmal) die Schlossberg-Stollenanlage systematisch ausgebaut. Bis Anfang 1943 herrschte wegen der geringen Luftgefahr in Österreich ein Bauverbot für öffentliche Stollenanlagen. Daher konnten erst ab August 1943 bis März 1945 die Ausschachtungen für 6.300

Meter Stollen mit 20 Eingängen vorgenommen werden. Alleine, das Stollensystem blieb unvollendet. Technisch gelöst wurde die Verbringung von 105.000 Kubikmeter Ausbruchsmenge über eine in der Wickenburggasse aufgestellte Feldbahn. Für die Bauarbeiten waren neben den großen Baufirmen (wie Mayreder, Keil, List & Co., Universale, Asdag u. a.) mit ihren Mitarbeitern auch „Ostarbeiter“, Polen und Italiener, Wehrmacht, kriegsgefangene Briten und Sträflinge aus der Karlau dienstverpf lichtet worden. Die nutzbare Bodenf läche der Stollen belief sich

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

auf 12.500 Quadratmeter. Die Baukosten, welche aus Reichsmitteln über den Polizeipräsidenten an das Stadtbauamt bezahlt wurden, betrugen 4,6 Millionen RM. Insgesamt fanden in

421

den Schlossbergstollen während der Zeit der schweren Bombenangriffe 40.000 Menschen – doppelt so viele wie behördlich zugelassen – Schutz und Zuf lucht.

Die dunklen Seiten einer gleichgeschalteten Verwaltung – Schuld hinter einem Vorhang des Schweigens Die Stadtverwaltung kam durch die Vollziehung der Reichsgesetze in erster Instanz in Konf likt mit den Menschenrechten. Die Ratsherren erfuhren in scheinbar belanglosen Nebensätzen oft nur ein Zipfelchen der Wahrheit, da ein Vorhang des Schweigens darüber gebreitet wurde. Jüdische Mitbürger besaßen nach der DGO 1935 kein Gemeindebürgerrecht mehr.45 Folgend der Versuch einer Auf listung der Konf liktpunkte: a) Präsidium: Aberkennung des Ehrenbürgerrechtes für den Außenminister des „Ständestaates“ Baron Egon Berger-Waldenegg und Fürstbischof Dr. Ferdinand Pawlikowski.46 b) Standesamt: Meldung der Kirchenaustritte (1938: 22.000) und Feststellung der jüdischen Vornamen zusätzlich zum Familiennamen. Beglaubigungen der unter grobem Missbrauch der Familienforschung ermittelten Daten in den Ahnenpässen. c) Schulamt: Abmeldung vom Religionsunterricht (1938: nur mehr 51 % der Kinder wollten teilnehmen, 37 % wollten sich abmelden), Abschaffung der Privatschulen (Städt. Mädchen-Lyzeum und der (Landes-)Oberrealschule), Säuberung der Schulbibliotheken von vor 1934 erschienener „marxistischer“ Literatur. Schließung der beiden letzten jüdischen Sonderklassen.47 d) Gewerbeamt: Gewerbelöschungen bei 466 Juden (allerdings nicht die „Arisierung“ der Gewerbe), davon waren 354 Handelsbetriebe. Einvernehmen mit der Vermögensver-

kehrsstelle. „Es wurde genau darauf geachtet, dass die Arisierung jüdischer Betriebe streng im Sinne der gesetzlichen Sicherungsvorschriften erfolgte.“48 e) Wohnungsamt: 10. Mai 1939: „Die ­Judenwohnungen sind zum Teil bereits geräumt und die Juden in Sammelwohnungen untergebracht. Wir hoffen aber noch, auf diesem Wege 200 weitere Wohnungen erfassen zu können.“49 f ) Stadtbauamt: Benennung der wichtigsten Plätze und Ringstraßen nach „Helden der Bewegung“. Umbenennung der „Sonnenfelsgasse“ in „Arnold Luschin Gasse“, der „Judengasse“ in „Emil Ertl Gasse“ und der „Heinrich Heine Straße“ in „Heinrich Lersch Gasse“.50 g) Gesundheitsamt: 1938 wurde in Erweiterung des historischen Stadtphysikates die Einrichtung eines kommunalen Gesundheitsamtes vorgeschrieben: Der Aufgabenbereich des Gesundheitsamtes: 1. Die Gesundheitsaufsicht und der Gesundheitsschutz, 2. Die Erb- und Rassenpf lege (1939: 4.075 Untersuchungen) und 3. Die Gesundheitspf lege.51 h) Jugend- und Fürsorgewesen: Dieses wurde durch die NS-Stadtverwaltung erheblich ausgebaut und im Zusammenhang mit der NSV (NS-Volkswohlfahrt, übernahm das Pf legekinderwesen, die Erziehung und Aufsicht sowie die verwahrloste Jugend) im Sinne der NS-Ideologie gestaltet. Im Zu-

422

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

sammenhang mit der Fürsorge wurde auch die Leistung von verpf lichtender Arbeit (§ 20 der fürsorgerechtlichen Vorschriften) als Erziehungsmaßnahme nicht nur angedacht, sondern auch verwirklicht.52 i) Rechtsamt: Erwerbung des durch Brand schwer geschädigten Amts- und Schulgebäudes der ehemaligen Israelitischen Kultusgemeinde im Anschluss an den (in der Reichskristallnacht) abgebrannten Tempel

mit der Bestimmung zu einem Verwaltungsgebäude der HJ und des BdM.53 In den Ratsherrenprotokollen wird nicht eingegangen auf die frevelhafte Verhüllung der Mariensäule am Eisernen-Tor-Platz mit Fahnen und einer Opferschale („Und ihr habt doch gesiegt“) anlässlich der Jubiläumsfeier zur Erinnerung an den Juliputsch 1934.

Zusammenfassung Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Stadtverwaltung Graz zwar durch die Ereignisse der „Volkserhebung“ 1938 in die Hände der Nationalsozialisten gekommen ist und dadurch auch große Vorteile (Stadterweiterung zu Groß-Graz, Ausbaustadt des Reiches, finanzielle Unterstützungen durch den Reichsminister des Innern, weshalb man fast immer ausgeglichen bilanzierte) erlangt hat, dass sie aber als nachgeordnete Behörde an vielen politisch heiklen Prozessen nur wenig Anteil genommen hat. Politisch brisante Angelegenheiten, wie zum Beispiel die „Arisierungen“, wurden in den politisch vorgesetzten Reichsbehörden (Militär-, Justiz-, Finanz-, SS- und Polizeibehörden) sowie in den Landesbehörden (vor allem durch den allein verantwortlichen Gauleiter der Steiermark Dr. Uiberreither) abgewickelt. Wirklich ernste Verstöße gegen die Menschenrechte gab es bei der Stadt Graz vor allem im Gesundheitswesen (Erb- und Rassenpf lege), im Bereich des Gewerbeamtes (Löschung der zu „arisierenden“ Judengewerbe) sowie im Wohnungsamt (Zwangsdelogierungen von jüdischen Mitbürgern samt dem Hineinpferchen in „Sam-

melwohnungen“). Das städtische Pfandleih- und Versteigerungsamt (Dorotheum) war überdies in den Vermögensentzug, begangen an jüdischen Mitbürgern, verstrickt. Ansonsten war die Stadtverwaltung Graz kompetenzmäßig mittels der vorgeschriebenen Geschäftsverteilung auf die kommunale Verwaltung beschränkt und wurde in ihren Wirkungskreisen vor allem durch das „Amt des Reichsstatthalters“ dominiert. Allenfalls angestrebte und auch tatsächlich erreichte Fortschritte innerhalb der Stadtverwaltung (wie z.  B. im Fremdenverkehr, dem Sozial- und ­Jugendwesen, im sozialen Wohnbau und der Stadtplanung) wurden immer aus dem Blickwinkel der NS-Ideologie betrachtet, welche auf rassistischen und menschenverachtenden Grundlagen beruhte, und letztlich durch den ausufernden totalen Krieg wieder zunichte gemacht.54 Kennzeichnend hiefür wären die Abschiedsworte des 1942 unter Protest und demonstrativ ausgeschiedenen aus Kärnten stammenden Magistratsdirektors Dr. Anton Gratzhofer: „Meine Herren, so kann man nicht Politik machen.“55

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

423

Anhang I Kundmachung:

Der Kreisleiter der NSDAP Graz-Stadt Rudolf Kollik hat im Einvernehmen mit dem comm. Oberbürgermeister Dr. Julius Kaspar unter Zustimmung des Landeshauptmannes und Gauleiters Dr. Sigfried von Uiberreither als Ratsherren für die Stadt der Volkserhebung berufen: am 4. Jänner 1939: Gottfried BAYER, Graz-Ost, Stiftung 99, Absolvent der Forstschule, Abteilungsvorstand in der Landesbauernschaft Südmark, Pg. seit 1931, ehem. Gauleiter und Gauleiterstellvertreter: 10. April 1938 Kreiswahlleiter in Voitsberg, dzt. Ortsgruppenleiter Kainbach. Rudolf BLESSING, Graz, Murgasse (Schön­ augasse 21), kaufmännisch ausgebildet, Abteilungsleiter der Firma Josseck und Oblack, Parteimitglied seit 1932. Seit damals in der SA tätig, als militärischer Ausbildner, SA-Sturmführer, bis zum Umbruch Hoheitsträger und Kreisleiter der Auslandsorganisation von Steiermark 1914–1917 Frontdienstleistung an der Westfront. Reinhard BRANDNER, Graz-West, Annaweg 4, Kaufmann, Leiter der Vermögensverkehrsstelle, seit 1930 Pg. SS-Angehöriger, in der illegalen Zeit Bezirksinspekteur und Kreisleiter. Karl CERHA, Graz, Naglergasse 10, Reichsbahninspektor, Pg. seit 1926. Gewesener Bezirksleiter und Vizebürgermeister in Leoben, In der Verbotszeit besonders als Gauinspektor der Fürsorge tätig. Während des Weltkriegs Leistung von Eisenbahnkriegsdienst.

Karl CINK, Graz, Schubertstraße 26, Gebietsführer bei der HJ, bei dieser seit 1929 tätig, während der gesamten Verbotszeit Bannführer der HJ in der Steiermark. Pg. seit 1932. Richard FELSER, Graz-Waltendorf, Hauptstraße 61, Fahrdienstleiter, Pg. seit 1926. Während der Verbotszeit Gaubetriebszellenleiter. Am 10. April 1938 Ortwahlleiter, Eisenbahndienst im engeren Kriegsgebiet während des Weltkrieges. Josef GLAUBER, Graz, Conrad von Hötzendorfstraße 54, Lackierer bei der Graz-Köf lacher-Bahn, seit 1932 Parteimitglied von 1932 bis März 1938 SA, seither SS. Während der Verbotszeit NSBO-Mann in seinem Betrieb. Rudolf GOTSBACHER, Graz, Wienerstraße 63, Verwaltungsführer, Pg. seit 1931 Angehöriger der SA-Standarte 27. Josef GERETSCHNIG, Graz, Griesplatz 27, Hilfsarbeiter und kommissarischer Verwalter. Pg. seit 1929, SA-Angehöriger seit 1923. SA-Oberscharführer. Bei der Durchführung schwieriger Aufträge während der Verbotszeit oft bewährt. Kriegsdienstleistung von 1916– 1918. Heinrich HAUSEGGER, St. Veit ob Graz, Landwirt, Kreisbauernführer, Pg. seit 1933, ehem. Ortsgruppenleiter St. Veit ob Graz, durch 3 Jahre illegaler Kreisbauernführer. Ing. Raimund HELD, Graz, Michael Steffen Weg 8, Diplomingenieur, Pg. seit 1932.

424

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

Während der illegalen Zeit Bezirksleiter, Kreisleiter und Gauleiter.

SA-Standartenführer. Seit 1926 in der SA tätig.

Adolf HUSSAK, Graz, Rudolfstraße 28, Monteur, in der Kreisamtsleitung der NSV tätig. Seit 1932 Pg. In der Verbotszeit Sprengelleiter, Kreiswohlfahrtsleiter im Flüchtlingshilfswerk.

Franz LANNER, Graz, Anton Füsterweg 5, kaufm. Ausbildung, Sparkassendirektor (Steiermärkische Sparkasse), Pg. seit 1932, in der Verbotszeit in der Gauleitung tätig, insbesondere Fürsorgewesen. Kriegsteilnehmer.

Dr. Franz JOCHER, Graz, Kaiserfeldgasse 1, Arzt, Pg. und Angehöriger der NSKK. 1918 Kriegsdienstleistung im LJR 3. Ludwig KALTENBÖCK, Graz, Krefelderstraße 40, Bahnbeamter, derzeit Reichsbahninspektor, Pg. seit 1928, SA-Obertruppführer, seit 1929 kämpferisch und propagandistisch für die Partei tätig, insbesondere als Gauwerbeleiter der Bauernschaft während der Verbotszeit. Leiter des Gauschulamtes im Reichsbund Deutscher Beamten und Gauredner. Eisenbahnkriegsdienstleistung. Karl KLEINSZIG, Graz-West, Absengerstraße 12, Bulmeabsolvent, Werkmeister i.R. Arbeitsinvalide,. Pg. seit 1922. In der Verbotszeit Zellen- und Ortsgruppenleiter in Eggenberg. Letzteres auch jetzt noch. Franz KOLLER, Graz, Hasnerplatz 2, Spediteur, seit Mai 1923 unter Nr. 50.472 Parteimitglied, SA-Truppenführer, seit 1933 in der Parteileitung und in der SA politisch tätig. Militärdienste anlässlich des Anschlusses des Sudetenlandes geleistet. Heinrich KÖLZ, Graz, Adolf Hitler Platz 11, Kaufmann, NSKK-Oberstaffelführer, Pg. seit 1932. Seit dieser Zeit in der SA und im NSKK tätig. 2 Jahre Felddienstleistung während des Weltkrieges. Robert KOMAREK, Graz, Goethestraße 10, Werkmeister, DAF-Gauwart, Pg. seit 1930,

Wilhelm LEINICH, Graz, Kaiser Josef Platz 4, Zuckerbäcker, Pg. seit 1930. Ab 1932 Sprengelleiter, danach Ortsgruppenleiter Graz II. Ab 1936 Gaufürsorger und zeitweise Gauschatzmeister. Raimund LIETZ, Graz, Eichendorffstraße 6, Geschäftsdiener, SA-Scharführer 16/24. Seit 1923 Angehöriger der Deutschnationalen sozialen Arbeiterpartei. Seit 1927 NSDAP Hitlerbewegung. Gründendes Mitglied der SA Leoben. 1937/38 Subkassier der Polizei in Graz. Frontdienst 1917–1918. Rudolf MAY, Graz-Ost, Ruckerlberggasse 13, SA-Brigadeführer, kaufm. Ausbildung, Beamter, Parteimitglied seit Juli 1919. Mitgliedsnummer 52.963. Seit 1921 SA-Angehöriger. Max PESTEMER, Graz-Andritz, Ursprungweg 2, Städt. Oberrechnungsrat i.R., Vorsitzender des Gaugerichtes, Pg. seit 1932. Seither ununterbrochen im Parteigerichtsdienst tätig. Verteilungsstelle der Flugschriften „Dein Kampf “ an die Ortsgruppen und Sammelstelle von Wohlfahrtsgeldern. August POLTEN, Graz, Heinrichstraße 54, Oberst d.R., 1933 als oberster militärischer Führer des ehem. Steir. Heimatschutzes in der Partei aufgenommen. Frontdienstleistung 1914– 1918. Zuletzt als Bataillonskommandeur JR 76 Oldenburgerhausregiment.

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

Dr. Arnold PÖSCHL, ord. Univ.-Prof., Dekan an der juridischen Fakultät an der Universität Graz, seit 1920 gesinnungsmäßig zur NSDAP gehörig. 1932 Pg. und einziger österr. Unterzeichner eines Bekenntnisses der Hochschülerschaft f.d. Führer. Gaugruppenwalter Gruppe Hochschullehrer. Lektor der parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schriftentums. Anton RAKUSCHA, Graz, Brockmanngasse 106, von Beruf Buchhalter, Reichsangestellter der Fliegerhorstkommandantur Thalerhof, Pg. seit 1931, SA-Obersturmführer. In der Verbotszeit mit der Verteilung von Kampfschriften betraut. Josef RAUNACHER, Graz-Waltendorf, Ruckerlberggasse 46, Major d.R., Pg. seit 1932. In der Verbotszeit OG. Leiter in Waltendorf und Gaugeschäftsführer. 26 Monate Felddienst. Dr. Franz ROTHDEUTSCH, Graz, Herrandgasse 26, Verlagsleiter des Pressvereins in Graz, Pg. seit 1932. Unterscharführer. Juli 1934 Adjutant des Gauleiters, nach Jugoslawien gef lüchtet. Nach Rückkehr illegale Mitarbeit im Gau-Schulungs- und Kulturamt, heute Vertrauensmann der Reichsschrifttumskammer. Ing. Franz RUMPF, Graz, Gartengasse 21, Maschinenbauingenieur, Gauobmann des Nationalsozialistischen Kriegsopferverbandes, Parteimitglied seit 1931, seit dieser Zeit Angehöriger der SA, gegenwärtig SA-Standartenführer. Von Oktober 1933 bis Juni 1934 Führer der Brigade Mittelsteiermark, sonach Legionsdienst.

425

1914 als Leutnant einer Tiroler Landsturmbrigade zugeteilt, russische Kriegsgefangenschaft bis April 1920. Franz RUMPF, Graz, Keplerstraße 85, kaufm. Ausbildung, Lagerhalter, seit 1927 Pg. SA-Scharführer. In der Verbotszeit propagandistisch tätig – Werbeschriftenverteilung. Adolf SAFNER, Graz, Grazbachgasse 13, Bäcker, jetzt Kriminalangestellter. Seit 1933 Parteimitglied, SS-Hauptscharführer. Heinrich SCHMIDT, Graz, Schillerstraße 22, kaufm. Ausbildung, Krankenkassenbeamter, Pg. seit 1926, ehem. Gauleiter in Stmk. und Vertrauensmann der Reichsleitung der NSDAP für Österreich, Frontsoldat. Helmut SCHÖNE, Graz, Goethestraße 50, SS-Oberführer, Pg. seit 1929. Seit 1930 bei der SS, Führer des SS-Abchnittes XXXV. 1933. Angehöriger der Leibstandarte SS „Adolf Hitler“. Markus SEIDLER, Strassgang, Adolf Hitler Straße 17, Kraftwagenlenker, Pg. seit 1932. In der Verbotszeit Ortsgruppenleiter. 1916–1918 Frontdienstleistung an der Südfront. Johann STRANNER, Graz, Hans Sachs Gasse 10/III, Koch, Gaufachabteilungsverwalter für Nahrung und Genuss der DAF. Pg. seit 1933, zuerst SS, seit 1934 Oberscharführer im Stabsturm Friedl Sekanek Terrorgruppenleiter, Sturmgeldverwalter seines Stabssturmes. Helmut WOLF, Rettenbach bei Graz, Josefweg 5, SA-Standartenführer.

426

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

Anhang II Veränderungen bei den Beigeordneten und im Ratsherrenkollegium der Stadt Graz 1940–1944

Eingetreten

Datum

Ausgeschieden

1940 May Rudolf, SA Brigadeführer Schöne Helmut, SS Oberführer 1941 StR StR RH RH RH

Anton Haas Dr. med. Max Lorenzoni Josef Kronberger, Privatangestellter Hans Jäger, Privatangestellter Otto Lurker, SS-Standartenführer

RH Adolf Safner, Kriminalbeamter

1942 RH Edmund Fressel, Prokurist RH Heinz Reichenfelser, Gewerbeschullehrer RH Dr. Arnold Pöschl, o.Univ. Prof. Neuer Verwaltungsdirektor Dr. Alexander Gellen

RH Ludwig Kaltenböck, Rbahn. Insp. RH Johann Stranner, Bau Abtl. Walter (DAF) bisheriger Verwaltungsdirektor Dr. Anton Gratzhofer 1943/44

StR StR StR StR RH RH

Heinrich Heyssler Dr. Ivo Hofmann Karl Pichler Dr. Karl Unterrichter Ernst Jochmann, SA Obersturmführer Peter Ritzinger, SA Hauptsturmführer

Helmut Wolf, SA Standartenführer StR Heinrich Leitl (verstorben)

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

427

Anmerkungen 1

2

3

4 5 6

7

8

9 10

11

12

13 14

Matzerath, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung 433ff.; Matzerath, Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Weitere Literatur: Tálos/Hanisch, NS-Herrschaft in Österreich; Mayerhofer/Schuster, Nationalsozialismus in Linz. Beer, Kommunale Politik 87–105; Wimmer, Damals 1938; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 44–48; Karner, Graz in der NS-Zeit. Dem Vernehmen nach hatten die Grazer Nationalsozialisten in Gewerbebetrieben am Hauptplatz bereits Notaufnahmen für die medizinische Erstversorgung eingerichtet. Zit. nach: Beer, Kommunale Politik 95f. Schmidl, Bundesheer und Wehrmacht 156f. Für Graz werden zum Zeitpunkt 1938 als Parteimitglieder, Sympathisanten und Mitläufer der NSDAP etwa 40 Prozent der Stadtbevölkerung (150.000), also in etwa 60.000 Personen angenommen. Die Kehrseite des nicht enden wollenden Jubels zeigte am 12. 3. 1938 so mancher verzweifelte jüdische Geschäftsmann, der in Kenntnis der reichsdeutschen Verhältnisse („Arisierungen“) mit Tränen in den Augen vor dem Ruin seiner Existenz stand (Binder, Schicksal der Grazer Juden 203–228). Dr. Julius Kaspar (geb. 1888 Wien, evangelisch, ermordet 1945 in St. Veit bei Graz), zuletzt SS-Obersturmbannführer, zählte zum gemäßigten Flügel um Helfrich. Ausführliche Biographien bietet Karner, Persönlichkeiten 381–436 für Mag. Dir. Dr. Alexander Braun, Stadtrat Patritz Dunkler, OBgm. Dr. Julius Kaspar, Stadtrat Rudolf Kollik (Kreisleiter der NSDAP Graz-Stadt), Stadtrat Heinrich Leitl, Bgm. Erich Seiz, StR. Dr. Ing. Heinz Schobert, Bgm. Dr. August Verdino und RH. Helmut Wolf. Die Bezeichnung „Stadtgemeinde“ Graz wurde nach 1938 für unerwünscht erklärt. In der Sprachregelung hatte es „Stadtverwaltung der Stadt der Volkserhebung Graz“ zu lauten. StAG, Ratsherrenprotokolle (RHP), Bd. I, 31f. Amtsblatt (ABl.) der Landeshauptstadt Graz, N. F. 1 (1938), 3f. Gesetzblatt für das Land Österreich Nr. 408/1938. Ebendort vollinhaltlich abgedruckt die „Deutsche Gemeindeordnung vom 30. Jänner 1935“ (RGBl. I, 49). ABl. N. F. 9/10 (1938) Vorläufige Hauptsatzung für die Stadt Graz. Fournier, Bemerkungen 25–29. Dies ergab ein Vergleich mit den Berichten in der

15

16

17 18 19 20

21 22

23

24 25

26

27

28

29

30 31

„Kleinen Zeitung“ vom 30. 7. 1941, Nr. 209 und der „Tagespost“ vom 30. 7. 1941, Nr. 209. 23. 12. 1941: „Die Hast der täglichen Arbeit […] hat es mit sich gebracht, dass der notwendige Kontakt mit den Ratsherren nicht so hergestellt wurde, wie es mein Wunsch war. Wenn der Krieg weiterhin 1942 gesteigerte Ansprüche an uns stellt, so werden wir auch 1942 nicht so oft zusammenkommen, wie es wünschenswert wäre.“ RHP I, 3 Das Verzeichnis der neuen Ratsherren siehe Anhang. RHP I, 183ff., RHP II, 85ff., RHP III, 231, 319. RHP III, 319 bzw. 351. Marauschek, Schaffung von Groß-Graz 307–334. StLA, 6-0/1-1938 (1938/IX/18 Uiberreither an das Ministerium des Innern). Vollinhaltlich abgedruckt im ABl. 7/8 N. F. 1938. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde mit GRB vom 27. 6. 1946 der alte gewachsene Zustand mit den Bezirken I–VI (Alt-Graz) und VII–XVI (heute XVII.) wiederhergestellt. Dazu muss man wissen, dass Altbgm. Muchitsch 1919 zum anschlussfreundlichen Flügel der Sozialdemokratischen Partei zählte und sein bedeutendes Reformwerk nur mit Unterstützung des alten deutschnationalen Beamtenkörpers der Stadt durchführen konnte. Vgl. sein Vorwort zu Popelka, Geschichte der Stadt Graz (1928). Selbstverständlich ist ihm kein Naheverhältnis zum Nationalsozialismus zu unterstellen. Vgl. die Abb. aus RHP I, 139. Kubinzky, Grazer Stadtplanung 335–352; Kubinzky, Stadtplanung für die Gauhauptstadt, 245–256. Das jüngste Beispiel wäre die Umgestaltung von Bukarest/Bucuresti durch den Diktator Ceausescu. Siehe die Abbildung des Haas-Planes von 1938 und des Koller-Planes von 1942 bei Kubinzky, Grazer Stadtplanung 337, 343; RHP III, 69. Kubinzky, Grazer Stadtplanung 346, Anm. 21; Kubinzky, Stadtplanung für die Gauhauptstadt 248ff. Rieser, Wohnbauten 139–161. Eine hervorragende einschlägige Publikation verfasste Lackner, Wohnbau 165–179. Lackner, Wohnbau 167f. So besaß die Stadtgemeinde Graz seit 1928 bzw. 1930 zwar ein Stadtmuseum und ein Stadtarchiv, doch fehlte eine geeignete Kulturverwaltung (Dr. Robert Meeraus war als Mitglied des Wirtschaftsund Verkehrsamtes (MA 3) auch für den Fremdenverkehr zuständig). Das Stadtbau- und Planungsamt,

428

32

33 34 35 36 37 38 39 40

Marauschek / Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz

das sich nach 1934 zu entwickeln begann, war ein Teil des Stadtbauamtes (Dipl.-Ing. Tassilo von Hüller) und kümmerte sich bereits 1937 um den Ausbau des Schlossbergstollens für Luftschutzzwecke. In die Wirtschaftskrise fällt auch die sogenannte „bücherlose Zeit“, d. h. die Protokollführung der Aktenverwaltung wurde 1932 eingestellt und erst wieder 1937 aufgenommen. Die Fremdenverkehrszahlen bringt das Grazer Adressbuch 1939–44: Jg. 1937/38: 93.365 Übernachtungen, 1939: 519.000 Übernachtungen (damit Graz an 13. Stelle aller deutschen Großstädte), Umsatz: 5 Millionen Reichsmark. RHP I, 47–49. RHP I, 79–83. RHP I, 83f. RHP I, 85f. RHP I, 85f. RHP I, 85f. RHP I, 137f. Die Rede von Oberbgm. Dr. Kaspar im RHP II, 77–80. Von diesem Ereignis ist auch die einzige Fotoserie aus dem Kreise der NS-Ratsherren bekannt, für deren Veröffentlichung der Leiterin des Bild- und Tonarchivs am Landesmuseum Joanneum, Frau Dr. Barbara Schaukal, herzlichst gedankt wird.

RHP II, 102f. RHP II, 26f. 43 RHP III, Anhang: Rede von Obgm. Dr. Kaspar. 44 Brunner, Bomben auf Graz. 45 Zu § 19 DGO: „Bürger einer Gemeinde können nur Staatsangehörige sein, die nicht Juden – VO über die Einführung der Nürnberger Rassengesetze im Lande Österreich vom 20. 5. 1938 (RGBl. I, 594) – sind und die das Stimmrecht zur Reichstagswahl vom 10. 4. 1938 besessen haben.“ 46 Für den Fürstbischof wurde am 26. 11. 1953 das Ehrenbürgerrecht wieder erneuert. 47 RHP I, 55f., 57f. 48 RHP I, 325f. 49 RHP I, 84f. 50 RHP I, 27f. 51 RHP II, 11f. und 126ff. Siehe dazu Freidl/Kernbauer, Medizin und Nationalsozialismus 76–78. 52 RHP I, 195–273; RHP II, 130–139. 53 RHP I, 37. 54 Über den Zusammenbruch 1945 und die nachfolgende Zeit siehe Marauschek, Grazer Stadtverwaltung 161–180. 55 Überliefert durch seinen Neffen Pischta 2000 im Stadtarchiv Graz. 41

42

Karl Albrecht Kubinzky

Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung: Alltag, Stadterweiterung, Stadtplanung*

Der folgende Artikel ist als Graz-spezifische Überschau und als Alltagsbild zum Themenbereich „Reichsgau 1938–1945“ in vorliegender Veröffentlichung zu verstehen. Insbesondere sei hier auf Gerhard Marauschek: „Die kommunalpolitische Entwicklung der Stadt Graz als Stadt der Volkserhebung 1938–1945“ in diesem Sammelwerk hingewiesen. Anfang und Ende der nationalsozialistischen Herrschaft sind durch Bände des Historischen Jahrbuches der Stadt Graz dokumentiert.1 Für die Steiermark jener sieben Jahre zwischen 1938 und 1945 sei auf die besonders in den letzten Jahren reichlich erschienene allgemeine und spezielle Literatur verwiesen.2 Hier sollen besonders drei Aspekte der Grazer Stadtgeschichte jener Zeit behandelt werden, die in anderen Beiträgen dieses Bandes wenig oder nicht hervorgehoben wurden. So sind hier besonders ausgewählte Aspekte des Alltags, der Stadterweiterung und der Stadtplanung dargestellt. Dass es trotzdem zu inhaltlichen Überschneidungen, aber auch zu nicht bearbeiteten Stichworten kam, liegt am Charakter solcher Sammelwerke. Die dem Autor vorgegebenen quantitativen Auf lagen zwangen auch zu einer exemplarischen Darstellung.

Nun steht der Stadt Graz eine große Zukunft bevor, schrieb 1938 der Historiker Robert von Baravalle im Vorwort zu einem Stadtführer.3 Nicht viel anders formulierte der Nestor der Grazer Stadtgeschichtsforschung Fritz Popelka in seinen Beiträgen in den Grazer Adressbüchern während der Herrschaft des Nationalsozialismus.4 Auch Hans Kloepfer schien das so gesehen zu haben. Er schrieb 1938: [...] damals hat sich in weltgeschichtlicher Stunde unter hinreißendem Einsatz

Graz den Ehrennamen Stadt der Volkserhebung erworben und sieht nun unter den Augen und der Sorge des Führers einer Zukunft entgegen, die es nach Schicksal, Schönheit und Treue so reich verdient.5 So oder zumindest so ähnlich dachten 1938 viele Grazer. Bei weitem waren es aber nicht alle, wenn auch das massive öffentliche Auftreten von Nationalsozialisten und ihrer Sympathisanten sowie der schnell dem „Anschluss“ folgende politische Druck eine einheitliche Zustimmung vorzutäuschen versuchten. Die Berichte über Festversammlungen, Paraden, militärische, nichtmilitärische und paramilitärische Appelle, Vereidigungen, Weihestunden, Fackelzüge und Betriebsfeiern füllten die lokalen Seiten der Zeitungen. Das „Pfarrblatt für Graz und Umgebung“ titelte am 1. April 1938: „Gott segne unseren Führer Adolf Hitler“. Kurz zuvor war der Führer noch wörtlich Jesus Christus gewesen. Schon 1939 aber erschien das letzte „Pfarrblatt für Graz und Umgebung“. Was aus politischen Gründen bis dahin verboten oder nur geduldet war, wurde nun zur Staatsdoktrin. 1938 endeten Karrieren, andere wurden unterbrochen oder nahmen erst jetzt ihren Anfang.6 Als dritte von sechs regulären Armeen, welche die politische Macht im Graz des 20. Jahrhunderts symbolisierten, marschierte nun die Deutsche Wehrmacht über den Opernring, der nun nicht mehr Dollfuß-Ring, sondern Friedl-Sekanek-Ring genannt wurde.

430

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

Namensgebung für Elke M. (1944). Nur der leicht ge­ neigte Kopf des Vaters (rechts) zeigt im Rahmen des fast militärischen Rituals Emotion Sammlung Kubinzky, Graz

Mit der am 31. Mai 1938 veröffentlichten Aufteilung des Burgenlandes zwischen Steiermark und Niederdonau war Graz nun auch die für das südliche Burgenland zuständige Hauptstadt. Das steirische Salzkammergut gehörte nun allerdings zum Gau Oberdonau. Das Reichsgesetzblatt veröffentlichte jedoch erst am 15. Oktober 1938 eine Verordnung über die Auf lösung des Burgenlandes. Die Bürokratie konnte in jener hektischen Zeit oft nicht der Geschwindigkeit der politischen Entscheidungen folgen. Die 1941 besetzte ehemalige Untersteiermark wurde zwar de jure nicht politisch und ver-

waltungsrechtlich in den Reichsgau Steiermark integriert, de facto war jedoch Graz ihre Hauptstadt. Mit Graz als Zentrum des deutschen, nationalsozialistischen Südosten hatte man Großes vor. Dies beweist u. a. die Stadtplanung, und für diese war wiederum die Stadterweiterung notwendig. Jedoch gehörte Graz 1939 nicht zu den 30 einwohnerreichsten Städten des Deutschen Reiches, das damals eine Bevölkerung von 87 Millionen hatte. Dem Zeitgeist folgend, gab es 1938 und 1939 etliche Umbenennungen von Straßen und Plätzen.7 Zu Namensehren kamen in Graz und in dem 1938 eingemeindeten Stadtrand Personen, die dem Nationalsozialismus nahe standen.8 Wie nicht anders zu erwarten, verschwanden Namen, die mit dem „Ständestaat“ ideologisch in Verbindung standen (Dollfuß, Schuschnigg, Seipel). Zur neuen Namenskultur gehörten auch die neuen Bezirksnamen, die anstelle der traditionellen Bezeichnungen nun nach Himmelsrichtungen benannt wurden, und die Bezeichnung von Graz als „Stadt der Volkserhebung“. Es kann unterstellt werden, dass bei anderer Entwicklung diese der NS-Geschichtsinterpretation entnommene Bezeichnung zum künftigen alleinigen Stadtnamen mutiert wäre.9 In Übernahme von nationalsozialistischem ­Ideengut hatten nun Namensgebungen und ­Begräbnisse ihr besonderes Ritual. Das Julfest sollte Weihnachten konkurrenzieren. Der hohe Anteil von als typisch germanisch empfundenen Vornamen wurde zu einem Merkmal dieser Zeit und ihrer Gesinnung.10 Nun gab es auch in der Steiermark Rechtsverkehr.11 Die Kennzeichentafeln der Grazer Motorfahrzeuge wechselten allmählich vom Buchstaben K für Graz (weiß auf schwarzem Grund) zum St (schwarz auf weißem Grund). „Heil Hitler!“ war nun die dominante Grußformel, auch Briefe endeten meist so. Sich nicht daran zu halten, kam einer politischen Demonstration gleich.

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

431

Alltag im März 193812 Glaubt man Hitlers Sonderbeauftragten für Österreich, Wilhelm Keppler, so sympathisierten im Februar 1938 80 Prozent der Grazer mit dem Nationalsozialismus.13 Die auch für Graz turbulenten Tage bildeten auch lokal einerseits das Ende einer Geschichtsepoche und den Beginn einer neuen Zeit. Andererseits sind die inhaltlichen und personellen Kontinuitäten nicht zu übersehen.14 Eine starke nationalsozialistische Bewegung gab es schon vor dem „Anschluss“, Antisemitismus gab es auch schon zuvor, und trotz aller betonter Erneuerung blieb vieles ­konstant oder wurde jetzt erst offenbar. Die Nr. 23/1938 des Wochenblattes „Der Stürmer“ (Nürnberg im Juni 1938) widmet sich speziell den Juden der „Ostmark“. Das antisemitische Kampf blatt lässt auch im Grazbezug an NS-Gesinnung nichts vermissen.15 Zum Schicksal der Juden und zum Phänomen der Verfolgung und des Widerstandes kann auf gesonderte Beiträge in diesem Band hingewiesen werden. Das weite Spektrum der Verfolgung umfasste auch in Graz viele Personengruppen. Kommunisten, Sozialdemokraten, Christlich-Soziale und Legitimisten waren nun zumindest verdächtig. Religiöse, sexuelle und erst recht etliche der ethnischen Minderheiten waren als Opfer prädisponiert. Wie schnell gerade noch dominante soziale und politische Systeme an Macht verlieren und andere gewinnen können, ist ein interessantes Phänomen der Geschichte und damit auch ihrer Darstellung. Nun, Mitte März 1938, war vordergründig fast alles nationalsozialistisch. Insbesondere die nun noch mehr als zuvor kontrollierten Medien vermittelten diesen Eindruck. Das andere Graz hatte offenkundig seine Stimme verloren. Es war höchstens im kleinen Kreis oder als Opfer von Sanktionen präsent. Ein Meer von Hakenkreuzfahnen und Hitlerbildern überschwemmte Graz. Neben ideologischen Banalitäten zeigten etliche der Grazer

Kinos systemkonforme Propagandafilme (Tonlichtspiele: Schwert des Friedens, Theaterkino: Hitlerjunge Quex, Ringtonkino: Ein Volk – ein Reich – ein Führer, Annenhof: Triumph des Willens). Der neue Geist fand auch sprachlich seinen Niederschlag, die Sprache war nun mitunter nach militärischen Vorbildern ausgerichtet.16 Charakteristisch ist die häufige Verwendung von Abkürzungen, insbesondere im Zusammenhang mit der NSDAP und ihren Teil­ organisationen. Die Zeitung Tagespost bringt in den Tagen zwischen dem „Anschluss“ und der sogenannten Volksabstimmung vom 10. April nicht enden wollende Beiträge über das gegenwärtige Glück, das Deutschtum, die Dankbarkeit und die neue, nun bessere lokale Welt. Ob Leykam oder Moser, die Buchhandlungen wetteiferten im Angebot nationalsozialistischer Veröffentlichungen. Firmen priesen sich als arisch an, Einzelpersonen dementierten in Annoncen mit Klagsdrohung nicht arisch zu sein. Alte Kultur und neue Ideologie wurden zu verbinden versucht.17 Die „neue Ordnung“ sollte nun alles besser machen.18 Die Ernüchterung erfolgte langsam, schrittweise und hatte viel mit persönlichen Erfahrungen zu tun. Besonders der Krieg und insbesondere dessen zunehmend das Leben belastender Verlauf führten zur Ernüchterung und zur Distanz zur Propaganda, die bis in die letzten Tage des „Dritten Reiches“ massiv Einf luss zu nehmen versuchte. Die Übersättigung durch die versuchte Dominanz des Staatssystems, der Verlust an Glaubwürdigkeit dieser Propaganda, die restriktiven Kontrollmechanismen, noch mehr allerdings die persönlichen Probleme und Sorgen immunisierten eine breite Schicht nur mäßig mit dem Nationalsozialismus verbundener Grazer. So entstand eine Parallelwelt, die einerseits von den persönlichen Hoffnungen und Ängsten getragen war, andererseits bewusst von

432

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

den ­politischen Entscheidungsträgern als HeileWelt-Syndrom gefördert wurde. (Der Steirische Heimat-Jahresweiser für 1944, erschienen im NS-Gauverlag Steiermark, lässt fast vergessen, welche Zeit dies war.) So war auch besonders das Kultur- und Unterhaltungsprogramm auf allen Ebenen, abgesehen von der Abwägung der politischen Zweckmäßigkeit, darauf ausgerichtet, die Realität zu überdecken. Tatsächliche und noch mehr aufgebauschte oder erfundene Erfolge in allen Bereichen, sehr bald insbesondere im militärischen Bereich, bauten eine Illusionswelt auf. Radio, Zeitungen, Theater, Konzerte dienten besonders, neben der damals als selbstverständlich eingestuften Propaganda, dem Zweck der Ablenkung und der Erfolgsillusion. Mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Herrschaftssystems kam es zu keinem offenen Widerstand, auch kaum zu einem versteckten gegen die neue Ordnung. Endsieg, Alpenfestung, Wunderwaffe, Werwolf hatten keine Realität. Mit der Formel „im II. Welt-

krieg“ wurde vieles erklärt und entschuldigt.19 Dass in vielen Köpfen und etlichen Organisationen auch in Graz der Geist des „Dritten Reiches“ und seiner Exponenten erhalten blieb und sich sogar auf die nächste Generation übertrug, kann allerdings nicht übersehen werden. Noch nie war zuvor alles so genau und auch sanktionsbeladen geregelt und kontrolliert. Dass sich trotz der Strafandrohungen, die bis ins KZ und in den Tod führen konnten, so viele nicht an die Normen der Staatsmacht und ihrer Kontrollorgane hielten, hängt u. a. gerade mit diesen vielen Vorschriften und den Besonderheiten jener Zeit zusammen. Viele brauchten sich nicht an Regeln halten, andere wollten oder konnten es nicht. Ein Flüsterwitz oder das Anhören eines „Feindsenders“ (insbesondere des Deutschen Dienstes der BBC) oder ein Schwarzmarktgeschäft sowie ein falsch ausgefülltes Formular waren Teile der Alltagskultur, in vielen Fällen auch ein Akt der Zivilcourage bis hin zum Widerstand.20

Die NSDAP Graz und ihre Organisation Der Organisations- und Geschäftsführerplan der Gauleitung Steiermark der NSDAP aus dem Jahr 1940 gibt für diesen Zeitpunkt einen guten Überblick über den Auf bau der Partei. Während die Gauleitung der NSDAP in ihrer de facto Personalunion mit der Landesregierung den Standort mehrheitlich in Burg und Landhaus hatte, befand sich die Kreisleitung GrazStadt am Rudolf-Erlbacher-Platz 5 (Karmeliterplatz). Der Kreisleiter Graz-Stadt war Pg. (Parteigenosse) Rudolf Kollik, als Kreisgeschäftsführer wird 1940 Pg. Erich Hochwald genannt, als Kreiskassenleiter Pg. Oskar Reitter. Als Leiter der Führungsämter fungierten: Kreisorganisationsamt: Pg. Hermann Ragossnig, Kreispersonalamt: Pg. Hans Candussi,

Kreisschulungsamt: Pg. Erich Mörth, Kreispropagandaamt: Pg. Dr. Willbald Herzog, Kreispresseamt: Pg. Egon Figlhuber. Der Kreisleitung gehörten vier Fachberater und neun Beauftragte an, ferner die Führerin der NS-Frauenschaft Graz-Stadt und der Leiter des Kreisgerichts. Andere Einrichtungen und Organisationen der NSDAP waren über das ganze Stadtgebiet verteilt. So befand sich die Kreisleitung Graz-Land in der Belgiergasse 8. Der Funktion als Gauhauptstadt entsprechend waren auch die Reichsorganisationen in Graz vertreten, so der Reichsarbeitsdienst Arbeitsgau XXXVI Südmark in der Grabenstraße 39 und das Stabsamt des Gaujägermeisters Ernst Pichler in der Radetzkystraße 7. Die Gestapo hatte ihren Hauptsitz im

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

Gebäude Parkring 4. Die SA hatte ihre Gruppenführung im Teichhof (Mariatrost), die Standarte Gpi 5 (Graz-Land) in der Mandellstraße 30, die Standarte GJ 27 (Graz-Stadt) in der Grabenstraße 27. Die Führung des SS-Abschnitts XXXV befand sich in der Burg, ebenso wie die Führung der 38. SS-Standarte. Gleichzeitig war die Burg Amtssitz des Gauleiters und Sitz von Gaubehörden. Der SD (Sicherheitsdienst) der SS hatte u. a. im von der katholischen Kirche beschlagnahmten Haus Leechgasse 34 Quartier bezogen.21 Dem Organisationsschema der NSDAP entsprechend gab es in Graz die Gebietsführung der HJ (Hitler-Jugend) und des BDM(Bund Deutscher Mädchen-) Obergaues (Kroisbachgasse 6) und den HJ-Bann 545 und den BDM-Untergau 545, letztere im Gebäude der Jüdischen Kultusgemeinde mit der

433

Adresse Zweiglgasse 1. Das Organisationshandbuch der NSDAP nennt dutzende Partei- oder parteinahe Einrichtungen in Graz und einige hundert dazugehörenden Namen. Trotz der Stadterweiterung von 1938 und damit der Löschung der ehemaligen Vorstadtgemeinden gab es in der Organisation der NSDAP Überschneidungen zwischen Graz-Stadt und Graz-Land. So existierte weiterhin eine Ortsgruppe Andritz, Eggenberg I und II, Gösting, Waltendorf, Wetzelsdorf, Liebenau, St. Peter und Kroisbach im Kreis Graz-Land. Die 14 Ortsgruppen von Graz-Stadt waren nicht nach den neuen Bezirksgrenzen organisiert, sondern nach parteihistorischen Einheiten wie: Auf der Wies, An der Bahn, Schützenhof und Volksgarten. Ein Straßenzuteilungsplan, veröffentlicht im Adressbuch von Graz 1940 (S. 31–35) stellte die Zu-

„Aufmarsch der Formationen der Bewegung“ am 1. Mai 1939 auf dem Trabrennplatz, links die Politischen Leiter, Sammlung Sittinger rechts die SS

434

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

ständigkeit der Ortsgruppen dar. Jede dieser Ortsgruppen wurde von einem Ortsgruppenleiter geführt und hatte eine DAF-Ortsverwaltung, eine NSV-Ortsamtsleitung, eine NSVDienststelle und zumindest einen SA-Sturm. Das Nebeneinander von Reichs-, Gau- und zwei Kreisorganisationen (Graz-Stadt, GrazLand) und die organisatorische Dichte der Partei und ihrer Verwaltung sowie ihre den Alltag bestimmende Bedeutung konnten nur trotz aller organisatorischen Systematisierung Kompetenzprobleme und deren Lösung durch Durchsetzungsvermögen und Führerprinzip mit sich bringen. Als eine weitere Führungs- und Entscheidungsebene sind noch die Deutsche Wehrmacht und ihre Einrichtungen zu nennen. Als Beispiel für den organisatorischen Aufwand und die daraus ableitbaren Probleme sei der Luftschutz angeführt, dessen Bedeutung immer größer wurde. Hier waren Ordnungspolizei, Luftschutzpolizei, Stadtwache, Stollenwache, Wehr-

machtsluftschutz, Technische Nothilfe, Ergänzungs-Instandsetzungsdienst, Wehrmachtshilfskommandos, Deutsches Rotes Kreuz, Luftschutzsanitätsdienst, RAD, SA, SS, NSKK, HJ, Organisation Todt, Verkehrsbetriebe, Reichsbahn, Postschutz, Bahnschutzpolizei, Eisenbahnluftschutz, Reichsluftschutzbund, Bergarbeiter, Deutscher Volkssturm, Werksschutz, Werksluftschutz, Selbstschutz, Erweiterter Selbstschutz, Gaufeuerwehrschule, Kriegsgefangene, Strafgefangene, auswärtige Feuerlöschbereitschaften, Feuerlöschkompanie, Fliegerhorstfeuerwehr, Obdachlosenbetreuung der Stadtverwaltung und vorübergehend auch die Schutzpolizei des Befehlshabers der Ordnungspolizei Serbien aktiv.22 Vermutlich ist diese Liste nicht vollständig, jedenfalls fehlen die freiwilligen und unfreiwilligen Helfer aus der betroffenen Zivilbevölkerung. Es kann auch die allgemeine Zuständigkeit der Stadtverwaltung und ihrer Abteilungen sowie jener des Reichsgaues angenommen werden.23

Graz wird Groß-Graz Zu den für Graz bedeutsamen Ereignissen während der Herrschaft des Nationalsozialismus gehört sicherlich neben anderen viel folgenschwereren Phänomenen auch die Stadterweiterung. Sieben Monate blieben nach der NSMachtergreifung die Stadtrandgemeinden als politische Einheiten erhalten. Die Stadtrandgemeinden standen in ihrem mehrheitlichen nationalsozialistischen Bekenntnis der Stadt nicht nach.24 Wohl aber gab es in der Sozialstruktur schwerwiegende Unterschiede.25 Nicht nur die politische Führung von Graz wurde ausgetauscht, auch die Bürgermeisterposten in den Stadtrandgemeinden wurden im März 1938 neu besetzt.26 Der Bürgermeister von Liebenau und Erzähler von Heimatprosa Georg Gaß verlor beispielsweise nicht nur sein Amt, sondern wur-

de auch Opfer politischer Verfolgung. Im Vorgriff auf die Stadterweiterung wurde mit Wirkung vom 1. August 1938 die unbeliebte Verbrauchsabgabe an der Stadtgrenze, also die antiquierte Binnenmaut, abgeschafft.27 So wie schon bei der ersten Diskussion über die Stadterweiterung 1891 und jedesmal, wenn in den folgenden Jahren darüber verhandelt wurde, gab es auch 1938 trotz aller Gleichschaltung Gegner der Stadterweiterung.28 Noch dazu war nun der Eingemeindungsplan räumlich umfangreicher als je zuvor.29 Mit dem Hinweis auf die landwirtschaftliche Ausrichtung gab es Proteste etlicher Gemeinden, so beispielsweise von Straßgang.30 Insgesamt war die Disziplin jedoch in den betroffenen Gemeinden und bei ihren politischen, nun nationalsozialis-

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

435

Die Stadterweiterung von 1938 (Bezirke VII bis XVII), und die ganz oder teilweise an Graz angeschlossen StadtGraphik: K. Kersten randgemeinden

tischen Vertretern groß genug, der Eingemeindung zuzustimmen. Ein Vorgang, der damals aber rechtlich ohnedies unerheblich war. Auch wenn der Erweiterungsbeschluss als Verordnung des Landeshauptmanns und Gauleiters mit 30. Oktober erfolgt war, so dauerte es noch einige Wochen bis zu seiner bürokratisch nicht einfachen Durchsetzung.31

Bürgermeister Dr. Kaspar schrieb zum Anlass der Stadterweiterung am 23. Oktober 1938 einen Leitartikel in der Tagespost. Dort betonte er weniger den Nutzen für Graz, als den Vorteil für die nun angeschlossenen Stadtrandbereiche. Nicht nur für die zehn gänzlich an Graz angeschlossenen Gemeinden, sondern auch für die durch die neue Grenzziehung geteilten Gemein-

436

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

den (Feldkirchen, Hart bei St. Peter, Kainbach, Mariatrost, St. Veit, Weinitzen und bis 1942 Engelsdorf ) hatte diese Verordnung größte soziale und wirtschaftliche Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Auf kommunaler Ebene war sicherlich die Stadt Graz der Gewinner der Erweiterung. Die de jure und de facto Auf lösung der Vereine und ähnlicher Organisationen führte insbesondere in den sozial stabilen Vorstadtgemeinden zu einem Identitätsbruch, der auch nach den Ereignissen von 1945 nicht mehr ausgeglichen werden konnte. Nach sieben Jahren nationalsozialistischer Herrschaft, Krieg, Kriegsfolgen, Zuzug und sozialem Wandel kam es auch zu keiner Rekonstruktion der sozialen Strukturen von vor 1938. Auch die 1938 ganz oder teilweise zu Graz gekommenen Gemeinden wurden nach dem Ende der NS-Herrschaft nicht rekonstruiert. Anders als in Wien, wo

u. a. wegen der Landesgrenze die Stadt ihre Erweiterungsgebiete wieder abtreten musste, konnte Graz sogar konf liktlos seine Erweiterung behalten.32 Immerhin wurden die traditionellen Gemeindenamen zu einem großen Teil als Bezirksnamen 1946 wieder aktiviert. Die große Stadterweiterung von 1938 vergrößerte das Stadtgebiet auf fast das Sechsfache und die Einwohnerzahl um rund ein Drittel. Die kleine Stadterweiterung von 1942 brachte nochmals über 118 Hektar zu Graz. Es war dies der Nordteil der Gemeinde Thondorf (nun KG Graz-Stadt Thondorf ) und um einen vier Jahre zuvor nicht an Graz gefallenen Teil der Gemeinde Engelsdorf (KG Neudorf ). Die Stadt Graz bzw. ihre Vertreter legten 1942 darauf Wert, dass das neu zu errichtende Rüstungswerk Thondorf der S-D-P (Steyr-DaimlerPuch) AG seinen Standort in Graz erhielt.33

Bauen unter dem Hakenkreuz34 Unter Berücksichtigung, dass das Tausendjährige „Dritte Reich“ in Österreich nur sieben Jahre dauerte, kam es damals zu vielen Neubauten und zu noch mehr unrealisierten Bauprojekten. In den letzten Jahren vor dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft ging die Bautätigkeit aus Kriegsgründen stark zurück. Einen Teil der Neubauten und noch mehr ältere Wohnund insbesondere Fabriksbauten machten die alliierten Bomben zu Ruinen.35 Als Architektur auf Zeit sind der Phylon über der Mariensäule (1938) am Bismarckplatz (Am Eisernen Tor) und die Großkulissen für Parteiveranstaltungen am Trabrennplatz zu verstehen. Eine andere Dimension hatten die Luftschutzbauten, insbesondere das Stollensystem im Schlossberg und der bombensichere Bunker im Rüstungswerk der S-D-P in Thondorf. Der soziale Wohnbau jener Zeit hatte in Graz folgende Trägerorganisation:

Südmärkische Heimstätte, BEWAG (Behördenwohnbau Gesellschaft, Wien), Neue Heimat (DAF), Erste Gemeinnützige Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft Graz-Wetzelsdorf GmbH, Gemeinnützige Wohnbaugesellschaft AlpenDonauland A. G. und der Reichsarbeitsdienst (RAD). Andere Siedlungen entstanden als Postsiedlung, Eisenbahnersiedlung, Holzhaussiedlung Wetzelsdorf, SS-Unterführersiedlung, Werkssiedlung Steyr-Daimler-Puch, Murfeldsiedlung der Steyr-Daimler-Puch (Hausliste: Weihsmann, S. 1071–1072). Aus einer großen und alten Villa (1868) wurde am Beginn der Schubertstraße (nun Sonnenfelsplatz) das Gebäude des NSDStB-Hauses (NS-Reichsstudentenwerk) im zeittypischen Stil errichtet. Ein anderer Baubereich war die Wirtschaft, die zum einen schon bestehende Werksbauten, die aber stillgelegt waren, aktivierte oder Indus-

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

trien neu errichtete. Letzteres trifft insbesondere für das Werk Thondorf der Steyr-Daimler-Puch A. G. zu, das 1942 als Rüstungsbetrieb konzipiert und als solcher auch betrieben wurde.36 Der Reichssender „Alpen“, errichtet 1938–1941 in Dobl bei Graz,37 zeigt wie kein anderer Bau in der Steiermark die Gestaltungsgrundsätze seiner Entstehungszeit. Der Großfunksender gleicht einem NS-Gutshof oder einer NS-Ordensburg. Wiederum ein anderer Schwerpunkt der Bautätigkeit waren die Kasernen am Südwestrand des erweiterten Graz. Die SS-Kaserne Wetzelsdorf (nun Belgierkaserne), die Jägerkaserne (nun Gablenzkaserne) und die Heeresnebenzeug­anstalt (nun Hummelkaserne) waren die großf lächigen Kasernenbauten. In der Qualität weit unter dem Standard der Siedlungen entstanden Lagersied-

437

lungen für unterprivilegierte Bewohner. Die Liste dieser Barackensiedlungen ist zu lange, um vollständig zitiert zu werden. Es gab in Graz Kriegsgefangenenlager, Fremdarbeiterlager, Umsiedlerlager, Strafgefangenenlager, Maidenlager, RAD-Lager usw. Im Herbst 1940 wurde beispielsweise ein Großteil der 10.000 Umsiedler aus dem Buchenland (Bukowina) im Lager V in Liebenau (382 Baracken) untergebracht. Im Herbst 1942 mussten 20.000 Bessarabiendeutsche in fünf Lagern und 320 Baracken wohnversorgt werden.38 Reichsbahn und Reichsautobahn planten auch für den Raum Graz, rechtlich losgelöst von der lokalen Autorität der Stadtpolitik und ihrer Verwaltung. Eine der Varianten für die Streckenführung im Raum Graz war die Nord– Süd-Führung durch das Becken von Thal.

Graz 1940 Das zweite Jahr des Krieges zeigte zwar im Alltag deutliche Spuren, diese wurde aber in den folgenden Jahren erst prägend. Seit dem 28. August 1939 gab es zwar Lebensmittelkarten, vorerst noch ohne Versorgungsprobleme. Schon am 25. August 1939 wurde die Bewirtschaftung von Lebensmitteln erstmals ausgeweitet. 1942 waren die meisten Waren durch Karten bewirtschaftet. Parallel dazu entwickelten sich legale und illegale Tauschgeschäfte und der Schwarzmarkt. Formulare ausfüllen und Schlange stehen wurde nun häufig. Schon Anfang 1940, über ein Jahr vor dem Einmarsch in Jugoslawien, gab es in Graz kriegsbedingte Maßnahmen wie eine Verdunklung.39 Holzspielzeug, Puppen, Spiel­ sachen aus Blech und Figuren aus Elastolin, bevorzugt Soldaten, wurden für Kinder bei Sing, Breineder, Koch und Voglsanger angeboten. Eine deutliche Zunahme gab es auch bei der Sammeltätigkeit. Es war nicht nur das WHW (Winterhilfswerk) mit den nun zu Sammel­

objekten gewordenen kleinen Gegengaben.40 Die „Heimatfront“ zeigte auch durch Spenden und Sammeln ihr Engagement. Es gab so viele rot lackierte Sammelbüchsen, dass sie gegenwärtig noch, allerdings weiß übermalt, bei Straßensammlungen Verwendung finden. Allmählich gab es in Graz nur mehr wenige Männer im wehrpf lichtigen Alter. So es solche noch gab, hatten diese eine besondere Begründung für ihr Fehlen beim Wehrdienst. Frauen wurden nun verstärkt in der Wirtschaft, so auch in der Industrie, in den Verkehrsbetrieben (Schaffnerinnen) und in bisher eher männerdominierten Dienstleistungsbereichen eingesetzt, so als Briefträgerinnen. Buben und Mädchen der HJ und des BDM übernahmen Arbeitsaufgaben. Aber auch die nun große Zahl der Fremdarbeiter, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangenen und Umsiedler wurden zu einem Teil des Alltags. Die katholische Kirche war in den Hintergrund, mitunter sogar in den Untergrund gedrängt.

438

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

Etliche der Klöster, denen Schulen oder Krankenhäuser angeschlossen waren, waren nun aufgelassen, ihre Sozialeinrichtungen wurden nun vom Staat bzw. der Partei übernommen.41 Die gleichgeschaltete Kunstszene hatte nun ihre systemkonforme inhaltliche Orientierung. Typisch war die künstlerische Anpassung beim Maler Franz Köck, der nun von der zuvor von ihm vertretenen Moderne in den NS-Realismus absank.42 Dass es auch nicht angepasste Künstler gab, bewiesen spätestens 2001 eine Ausstellung in der Neuen Galerie und ihr Katalog.43 Die Abteilungen der Reichkulturkammer in der

Mandellstraße 4 (Reichkammer der bildenden Künste, Reichsfilmkammer, Reichsmusikkammer, Reichspressekammer, Reichsschrifttumskammer, Reichstheaterkammer) sorgten für Organisation und die politisch korrekte Ausrichtung in ihren Sparten. Es ist sicher kein Zufall, dass der Gaupropagandaleiter und SAOberführer Gustav Fischer gleichzeitig als Landeskulturwalter den oben genannten Kammern vorstand. In diesem Sinne steht auch die 1940 im Schloss Eggenberg eröffnete Staatliche Hochschule für Musikerziehung größtenteils im Zeichen politischer Arbeit.44

Die großen Pläne der Stadtplanung45 Aus dem Stadtbauamt war ein Neubauamt (Ing. Arnold Hütting, dann Dipl.-Ing. Sepp Heidinger) herausgelöst worden. Schon im Oktober 1938 legte der Architekt Fritz Haas, der bisher besonders durch seine Bauten für die STEWEAG hervorgetreten war, seinen Gesamtplan zur Neugestaltung von Graz vor. 130.000 sollten demnach innerhalb der damals nur rudimentär vorhandenen Gürtelstraßen wohnen, 120.000 im größten Teil des nun neu eingemeindeten Stadtrandes. Im Bereich um den Jakominiplatz war eine völlige Neubebauung vorgesehen. Im Bereich der Messe und ihrem weiteren Umfeld sollten ein Gauforum und eine Sportarena entstehen, und westlich der Conrad-von-Hötzendorf-Straße waren ein Messegelände-Neu und eine KdF-Stadt (Kraft durch Freude, NS-Freizeitorganisation) vorgesehen. Drei Stadtautobahnen führten vom Hauptbahnhof in Richtung Stadtzentrum. Neue Hauptstraßen sollten die damals noch nicht vorhandenen Verkehrsprobleme lösen. Westlich des Hauptbahnhofes gab es eine Nord–Süd-Autobahn. Beim Zugsverkehr war die konsequente Trennung des Güterbahnhofs vom Personenbahnhof vorgesehen. Trotz

einer großzügigen Planung, die Graz grundlegend verändert hätte, erschienen dieser Plan und der Bericht dazu zu sehr zurückhaltend.46 Der Architekt und Stadtplaner Peter Koller, der sich mit seinen Entwürfen für die VW-Stadt Wolfsburg (Stadtname erst 1945) prominent gemacht hatte, betreute als externer Experte ab 1940 die Grazer Stadtplanung. Gauleiter Uiberreither wünschte ein neues, seinen Ansprüchen entsprechendes Graz, und Peter Koller entwarf es im Zeitgeist.47 Nach Vorstudien wurde am 14. Juli 1942 in einer vertraulichen (geheimen) Sitzung der Grazer Ratsherren der neue Flächennutzungsplan Kollers zur Kenntnis gebracht.48 Der Plan von Fritz Haas war nun in seiner Neubaudimension weit übertroffen. Straßenachsen sollen das Stadtbild der Zukunft bestimmen. Das Gauzentrum ist noch monumentaler geplant. Viele Straßen sind nun auf doppelte Breite gebracht, die Kreuzungen großzügig ausgebaut. Ganze Viertel sind zum Abbruch vorgesehen. Dafür ist eine Neubausiedlung Südstadt in Liebenau geplant. Die Realität des Krieges hatte jedoch die Ideenwelt der Stadtplanung längst überholt.49

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

439

1945: Keine Schlacht um Graz Die schweren Bombenangriffe und Versorgungsprobleme formten das Bewusstsein der Grazer spätestens ab Mitte 1944.50 Die Einberufung des Volkssturms im September 1944 lässt fast alle den Ernst der Lage erkennen.51 Je kritischer die militärische Situation für das „Dritte Reich“ wurde, desto radikaler wurden auch in Graz die Argumente und Aktionen der nationalsozialistischen Führung.52 Die besonders von offizieller Seite geschürte Angst vor den Russen und die Hoffnung auf das Ende des Krieges und insbesondere die Luftangriffe prägten die Emotionen der Grazer. Kennzeichnend für die nationalsozialistische Politik der letzten Tage des „Dritten Reiches“ sind u. a. die Schlagzeilen der gleichgeschalteten Medien. Der Führer ist bis zum letzten Atemzug kämp-

fend in Berlin gefallen, meldet die Kleine Zeitung am 2. Mai. Am 5. Mai 1945 brachte die Kleine Zeitung als Schlagzeile eine Rundfunkansprache des Gauleiters und Reichsstatthalters Dr. Sigfried Uiberreither vom Vortag: „Reißt noch einmal alle Kräfte zusammen“. Damals war bereits ein Teil der Bewohner in Richtung britische Armee gef lüchtet. Die Kleinannoncen der Tagespost berichteten am 7. und 8. Mai 1945 von Gefallenen, Geburten, Todesfällen und Eheschließungen, Stellungsgesuchen, offenen Stellen, Ausgaben von Lebensmittelrationen und Tauschgeschäften, so als ob dies durchschnittliche Kriegstage wären. Dass es zu keiner Schlacht um Graz kam, ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass zum Zeitpunkt des Einmarsches der Roten Armee

Stadtplaner Peter Koller (ganz rechts) und Gauleiter Sig fried Uiberreither (2. von rechts) präsentieren 1942 in Berlin Sammlung Kubinzky, Graz Adolf Hitler (Mitte) den Plan zur Neugestaltung von Graz

440

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

der Zweite Weltkrieg schon zu Ende gegangen war. Andererseits war die politische und militärische Lage so unübersichtlich, dass in diesem Zusammenhang auch auf den ausdrücklichen Willen der Grazer und ihrer politischen Vertreter, auf die Flucht der bis kurz zuvor kampfwilligen nationalsozialistischen Funktionäre, rechtzeitige Verhandlungen mit der Roten Armee und auf den fehlenden Willen der Wehrmacht zum verlängerten Kampf hingewiesen werden muss. Jedenfalls wurde Graz auf eine Schlacht um die Stadt vorbereitet, auch wenn diese Vorbereitung im Ernstfall nichts außer Tod und Zerstörung gebracht hätte. Reste von Stellungen sind noch im Nordosten von Graz zu erkennen. Ein noch deutlicheres Signal in Richtung „Festung Graz“ stellten die über 50 Panzersperren rund um die Altstadt dar.53 Ein Zeitzeu-

ge berichtete von dem Plan, die Bäume der Elisabethstraße zu fällen und als Sperre zu verwenden.54 Auch der Schlossbergstollen war in die Überlegungen mit einbezogen. Es ist vorstellbar, dass der Kampf um den Alcazar von Toledo (Spanischer Bürgerkrieg 1936) und der damit verbundene Mythos für die national­sozialistische Führung Vorbildcharakter hatte. Doch es kam anders, am 9. Mai meldete die Kleine Zeitung die Kapitulation des Deutschen Reiches als Londoner Agenturmeldung vom 7. Mai und berichtete von der provisorischen Landesregierung und dem Aufruf von Landeshauptmann Machold vom Vortag. Am Donnerstag, dem 10. Mai 1945, erfuhren die Grazer auch aus der Kleinen Zeitung vom Einmarsch der Roten Armee („Junge kräftige Soldaten in ihren braungrünen Uniformen formten sofort das Stadtleben“).

Anmerkungen * 1

2

3 4 5 6

7

8

Dieser Beitrag wurde im Jahr 2005 abgeschlossen. Das Jahr 1938 im Bd. 17/18 (1988), das Jahr 1945 im Bd. 25 (1994). Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994); Karner, Graz in der NS-Zeit, siehe die dort zitierte Literatur und insbesondere Beiträge und Zitate im Historischen Jahrbuch der Stadt Graz, in der Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark und in den Blättern für Heimatkunde. Baravalle, Neuer Führer durch Graz 16. Grazer Adressbuch 1939, 1940, 1941, 1942, 1943/44. Jaroschka/Dienes, Europa erlesen 139. Ein Beispiel: Am 14. 3. meldete der Landespressedienst, dass die bisherigen Vertreter des Landes im Verwaltungsrat der STEWEAG Stepan, Stürgkh und Krauland abberufen wurden und an ihre Stelle Helfrich, Dadieu und Sernetz getreten waren. Der Zweig Graz des Deutschen Alpenvereins beschloss im März 1938 die Aussichtswarte auf dem Plabutsch nun Adolf-Hitler-Turm zu nennen. Eine geplante Benennung der Universität nach Adolf Hitler kam nur auf Grund einer fehlenden Zustimmung Hitlers nicht zustande. Eine dem Grazer Adressbuch 1941, S. 350, entnommene Auswahl: Franz Ebner, Friedl Sekanek, Immel-

9

10

11

12

13 14

15

mann, August Aßmann, Max Reiner, Rudolf Erlbacher, Josef Kristandl, Hermann Göring, Armin Dadieu, Heinrich Lersch, Horst Wessel, Otto Planetta, Leo Schlageter. Einen Adolf-Hitler-Platz gab es nun in Graz-Stadt, Andritz, Gösting und Mariatrost. „Arisiert“ wurden die Sonnenfelsgasse (Arnold-Luschin-Gasse), die Heinrich-Heine-Straße (HeinrichLersch-Straße) und die Judengasse (Emil-Ertl-Gasse). Gegen Ende des NS-Systems häufte sich, auch in amtlichen Mitteilungen, nur diese Bezeichnung unter Weglassung des Namens Graz. Als Beispiele seien hier vom März 1938 Sieghilda und Adolfine angeführt. Noch am 11. 1. 1940 wurde in der Tagespost dazu aufgefordert, dass auch Fußgänger sich endlich an die Rechts-Geh-Regel halten sollten. Zum Alltagbegriff: Dechmann/Ryffel, Soziologie im Alltag. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 49. Siehe die Ausstellung „Die Fahnen hoch“, Stadtmuseum Graz 2005. Formulierungen wie „der Tuchjud Rendi, der berüchtigtste Gauner der Steiermark“ und „Kastner und Öhler, zwei jüdische Volksausbeuter, Bauernwürger“ usw.

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung 16

17

18

19

20

21

22 23

24

25

26

Tagespost (16. 3. 1938): Im kurzen Beitrag über ein Filmteam finden sich u. a. folgende Worte: Großkampftage, Filmtruppe, Stoßtrupp. Goethes politische Ideen durch Adolf Hitler verwirklicht! Tagespost (20. 3. 1938), 15. Tagespost (22. 3. 1938), 1: „Das Wunder des Nationalsozialismus kommt über Österreich“. Ein Beispiel dafür ist die Gedenktafel am ehem. Kaufmännischen Krankenhaus in Eggenberg für den jüdischen Arzt Dr. Artur Bader. Er sei dem Grauen des 2. Weltkriegs mit persönlichem Engagement gegenübergetreten. Ferner wird trotz seiner Zwangsexilierung behauptet, dass er seinen Beruf trotz politischer Verfolgung in schwerster Zeit ausübte. Der Nationalsozialismus blieb unerwähnt. Eduard Jammernegg, ein Zeitzeuge und Aktivbürger aus Gösting, erzählte 1989 dem Autor beispielsweise, dass trotz schwerster Strafandrohung und zum Schutz bei den weiß gekalkten Kohlenhalden am Köf lacher Bahnhof dauernd Kohlenstücke verschwanden. Besonders Hausfrauen mit Einkaufstaschen waren dort aktiv. Bauernbuben schnitten trotz aller Kontrollen die Klingelgurte aus dem Tramwaywagen und sprangen ab. Ledergurte für das Zaumzeug waren in der Landwirtschaft Mangel­ ware. Im Keller des Hauses wurden 1945 drei sichtlich für Schulungen adaptierte Räume entdeckt. Der eine stellte mit dem entwendeten Inventar der Stiegenkirche eine Kapelle dar, der nächste eine Freimaurerloge und der dritte zeigte eine Fahneninszenierung jener Organisationen, die dem NS-System 1938 kritisch gegenüber gestanden waren; Neue steirische Zeitung (10. 6. 1945). Brunner, Bomben auf Graz 62–79. Als Beispiel für das schwierige Nebeneinander von Willkür, Notstand und Bürokratie kann der Einspruch des Hauptmanns d. R. Ferdinand Haller beim Reichsstatthalter gegen den Bau eines Luftschutz-Deckungsgrabens beim Haus Idlhofgasse 27, seine langwierige Behandlung und schließlich seine Ablehnung im Juni 1944 zitiert werden (Sammlung Kubinzky). So fand nach der Übertragung einer Hitlerrede am 20. 2. 1938 in Gösting eine Versammlung mit 1.000 Teilnehmern statt. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 45. Die Volkszählung 1934 weist für Engelsdorf einen landwirtschaftlich orientierten Bevölkerungsanteil von 56 Prozent, für Eggenberg einen von 2,6 Prozent aus. 14. 3. 1938: Marktgemeinde Gösting: Ortsgruppenleiter der NSDAP Karl Kleinszig, Marktgemeinde

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36 37

38

441

Eggenberg: Oberst i. R. Friedrich Rechl, Marktgemeinde Mariatrost: Pg. Hugo Hartmann, St. Veit: Ortsgruppenleiter der NSDAP Heinrich Hausegger. Amtsblatt der Stadt Graz Nr. 5/6, Juli/August 1938, GZ. 8-131/8. Die Idee, Gemeindebewohner nach ihrem Wunsch zu fragen, ob sie zu Graz gehören wollten oder nicht, kam in der ganzen langen Diskussion zwischen 1891 und 1938 nicht auf. Nur 1849 wurde diese Frage den Bewohnern von Harmsdorf, nun im Bezirk Jakomini, gestellt. Es liegen dazu zwei unterschiedliche Entwürfe vor, einer befindet sich im Grazer Stadtarchiv, ein anderer in der Sammlung Kubinzky. Beide Kartogramme zeigen einen gewünschten Erweiterungsbereich der Stadt, rund doppelt so groß wie der dann letztlich realisierte. Der grundlegende Beitrag zur Stadterweiterung: Marauschek, Schaffung von Groß-Graz 307–331. Die mehrheitlich bescheidenen Archive der betroffenen Umgebungsgemeinden wurden nur teilweise nach Graz übertragen. Weder die einer neuen Zeit entgegensehenden Nationalsozialisten, noch die Exponenten anderer, womöglich in den Akten dokumentierte Meinungen, waren sonderlich an einem vollständigen Aktentransfer interessiert. Siehe dazu: Marauschek, Archivgut der ehemaligen Umgebungsgemeinden. Eduard Jammernegg berichtete 1989 in einem Gespräch von der demonstrativen Übergabe von Hausakten der Marktgemeinde Eggenberg an die Grundstückseigentümer. Kennzeichnend war die Diskussion über den Namen des X. Stadtbezirks. Die Stadtgemeinde Graz wollte diesen Kainbach nennen (Gemeinderatsbeschluss vom 27. 6. 1946). Die Gemeinde Kainbach, welche diesen Teil ihrer Gemeinde 1938 verloren hatte, protestierte. Sie wollte, wenn der Verlust schon nicht rückgängig gemacht werden könnte, wenigstens den Namen nicht mit einem Stadtbezirk teilen. So wurde am 17. 10. 1946 der Name Ries für den Bezirk gewählt. Fournier, Gemeinde Kainbach 197. 1944 hatte dieser Betrieb über 10.000 freiwillige und unfreiwillige Mitarbeiter. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 260. Weihsmann, Bauen unterm Hakenkreuz 1068– 1075. Brunner, Bomben auf Graz; Beer/Karner, Krieg aus der Luft. Karner, Luftrüstung 318–345. Architekt Walther Schmidt, Bauherr: Reichspostdirektion Berlin. Plansammlung Kubinzky.

442 39

40

41

42

43 44

45 46

47

Kubinzky / Groß-Graz, die Stadt der Volkserhebung

Schon 1940 gab es strenge Regeln der nächtlichen Verdunklung, und der Polizeipräsident verfügte, dass auch Taschenlampen abzublenden seien. Diese Verordnung vom Jänner 1940 war mit der üblichen Sanktionsformel versehen: Die Polizeireviere werden angewiesen, gegen jeden Zuwiderhandelnden mit aller Strenge vorzugehen. Tagespostmeldung vom 13. 1. 1940: Bei der Gaustraßensammlung wurden 123 Prozent der letzten derartigen Sammlung erzielt. Elisabethinen, Ursulinen, Lazaristen, Marienbrüder, Jesuiten. Zur Umwidmung des Marieninstituts in der Kirchengasse schrieb die Tagespost am 4. 8. 1938 als „parteiamtliches Organ des Gaues Steiermark der NSDAP“, dass die Jugend nun dort im nationalsozialistischen Geiste erzogen und betreut wird. Siehe seine Arbeiten im Stiegenhaus des ehem. Studentenwerkes, Schubertstraße. Eisenhut/Weibel, Moderne in dunkler Zeit. Die Abteilung Schulmusik soll zur Gestaltung germanisch-deutschen Wesens beitragen. Die Abteilung III soll für die Musikerziehung der HJ dienen. Zit. nach: Brenner, Musik als Waffe 158–161. Kubinzky, Grazer Stadtplanung 335–351. Bericht zum Entwurf für die Neugestaltung der Gauhauptstadt Graz (Manuskript, vermutlich Graz 1938) (Sammlung Kubinzky). Peter Koller (Altensitz Arriach bei Villach) betonte 1987 in einem Gespräch mit dem Autor, dass er damals zu jung gewesen sei, um nein zu sagen. Er sei sich aber damals der zu großen Dimensionierung seiner Planung für Graz bewusst gewesen. Neue breite Straßenachsen durchzogen dort die Stadt. Etliche der alten Straßen wurden durch Abbrüche auf doppelte Breite gebracht. Kreuzungen wurden groß ausgebaut. Allein um den Jakominiplatz standen über 100 Häu-

48

49

50

51

52

53 54

ser auf der Abbruchliste. Das Gauzentrum im Bezirk Jakomini hätte jenes im Entwurf von Fritz Haas an Größe übertroffen. Im Süden der 1938 erweiterten Stadt waren großf lächige Neubausiedlungen geplant. Pläne dazu in der Sammlung Kubinzky. Baudirektor Heidinger betonte damals, dass dieser Plan vom Führer genehmigt ist [...], die innere Stadt derzeit nicht angegriffen wird [...], wir ja für die nächsten 100 Jahre und darüber hinaus denken müssen. StAG, Ratsherrenprotokolle, 1942. In derselben Sitzung der Ratsherren vom 14. 7. 1944 beschwerte sich der Oberbürgermeister Kaspar, dass Graz die schon lange geforderten acht Pferde für die Müllabfuhr noch nicht erhalten habe. StAG, Ratsherrenprotokolle 1942. Literarischer Niederschlag etwa bei Stibil, Atemwege oder bei Zoderer, Das Glück beim Händewaschen. Volkssturm: Wehrpf licht für Männer zwischen 16 und 60, insbesondere Einberufungen von HJ und älteren Jahrgängen, kritische Überprüfung bisher Freigestellter. Noch im April 1945 wurden beim Durchmarsch ungarischer Juden in Graz Teilnehmer ermordet. Auch die 143 Toten vom Feliferhof waren Opfer der letzten Stunde. Typisch für die Zustände jener Zeit war der Bericht des späteren Staatspolizisten Alfred Scheidl, der sich, als er als Gesuchter erkannt wurde, am helllichten Tag in der Waltendorfer Hauptstraße mit einem Gestapomann ein Revolverduell lieferte. Er wurde schwer verletzt und entkam, sein Gegner starb. Brunner, Zur militärischen Situation 89–110. Der Zeitzeuge Alfred Scheidl war 1945 bei der Übergabe von Graz aktiv und berichtete mehrfach mündlich darüber.

Bernhard A. Reismann

Von der Begeisterung zur Ernüchterung Die Jahre 1938 bis 1945 in der Steiermark anhand von Augenzeugenberichten*

Vielfältig sind die Möglichkeiten, etwas von dem zu erfahren, was die Menschen in der Steiermark während der Jahre von 1938 bis 1945 erlebten und erlitten, zahlreiche Bücher könnten damit gefüllt werden. Die folgenden Seiten stellen den Versuch dar, anhand von Augenzeugenberichten die Stimmung im Land von der teilweise vorhandenen Euphorie während der Monate Februar und März 1938 über die bald darauf einsetzenden Ernüchterung bis hin zum dramatischen Ende des „Dritten Reiches“ im Mai 1945 zu schildern. Dabei handelt es sich um Berichte von Steirern ebenso wie von nicht steirischen Zeitgenossen, die im Land während dieser Jahre Außergewöhnliches erlebten. Die Auswahl derer, die hier posthum zu Wort kommen, ist willkürlich, subjektiv und erhebt in keiner Weise den Anspruch auf Vollständigkeit. Das kann und will aufgrund des begrenzten Umfanges dieses Beitrages nicht geleistet werden. Die getroffene Auswahl orientiert sich viel­ mehr am Verlauf der Ereignisse und kommentiert diese, wo dies notwendig erscheint. Zu Wort kommen der steirische Gauhauptmann Armin Dadieu, ein steirischer Landtagspräsident, ein steirischer KPÖ-Vorsitzender, katho-

lische Priester, ein Gymnasialprofessor, ein britischer Journalist und Zeitungskorrespondent und eine Grazer Schriftstellerin, steirische Gendarmeriepostenkommandanten, ein Lehrer, einfache Arbeiter und ein Wehrmachtsoffizier. So wie sich in den Jahren von 1938 bis 1945 Gegner und Befürworter des NS-Regimes in der Steiermark gegenüber standen, so gab und gibt es verschiedenste Blickwinkel auf das Geschehen, die ­„Geschichte“. In diesem Sinn kann der folgende Beitrag auch keinen Anspruch auf „Wissenschaftlichkeit“ im herkömmlichen, akademischen Sinn erheben. Er wird vielmehr von einer Aneinanderreihung stroboskopartiger Blitzlichter auf die Geschehnisse im Land während der „sieben verlorenen Jahre“ Österreichs gebildet, die versucht, abseits von trockenen Zahlen und Fakten das Erleben und die Gefühle von Betroffenen und Berichtenden aus deren eigener Sicht wiederzugeben. Damit wird ganz natürlich auch ein Eindruck der verschiedensten Sichtweisen und persönlichen Wirklichkeiten vermittelt, die durch die Ereignisse zwischen dem 20. Februar 1938 und dem 8. Mai 1945 in der Steiermark entstanden und neben einander existierten.

444

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Februar bis April 1938. „Volkserhebung“ und „Anschluss“ Ein wichtiges Moment wurde von der Geschichtsforschung in der Betrachtung des Jahres 1938 bislang noch viel zu wenig beachtet: Wer jubelte wirklich über den „Anschluss“, wie viele Menschen waren es, die die „Befreiung vom Ständestaat“ gerade durch den Nationalsozialismus tatsächlich uneingeschränkt und vorbehaltlos begrüßten, und wie verhielten sich eingef leischte Kommunisten, Sozialdemokraten und Christlichsoziale tatsächlich während der „Iden des März“, während der Tage des „Anschlusses“? Sind die auf uns gekommenen Bilder der ­jubelnden Massen in Graz und Wien tatsächlich wahrhaftiger Ausdruck der völligen Wirklichkeit und der tatsächlichen Stimmung im ganzen Land oder nur das, was an geschickt gelenkter damaliger NS-Propaganda verbreitet wurde und auch heutige Betrachter über die wahre Situation im Land noch nachhaltig zu täuschen vermag? Wurden wirklich nur die Kundgebungen der Nationalsozialisten in Graz fotografiert, jene der Vaterländischen Front jedoch nicht? War der Jubel tatsächlich ein allgemeiner, wie das Wahlergebnis von 99,81 Prozent in der Steiermark vermitteln will? Bereits Hellmut Andics wies vor über 40 Jahren darauf hin, dass die 30 Prozent Nationalsozialisten in Österreich, rund 1,5 Millionen Wahlberechtigte, durchaus in der Lage waren „den Eindruck zu erwecken, ein ganzes Volk sei in den rasenden Taumel der Anschlusshysterie verfallen“. Weiter führte er aus: „Es wurden damals begreif licherweise aber nur jene photographiert und gefilmt, die eben jubelten. Und niemand sprach von den Tausenden Österreichern, die schon in den ersten Anschlußtagen in die Gefängnisse wanderten.“ Immerhin umfasste die erste Verhaftungswelle in den Märztagen des Jahres 1938 rund 70.000 Menschen, die potentiell als NS-Gegner eingestuft worden

waren, Kommunisten, Sozialisten, Funktionäre des „Ständestaates“,1 unter ihnen auch der steirische Landesleiter der ­Vaterländischen Front und spätere Bundeskanzler Alfons Gorbach oder der steirische Sicherheitsdirektor Franz Zelburg, und natürlich Juden. Nicht zur Abstimmung schritten auch jene dem Nationalsozialismus gegenüber kritischen beziehungsweise ablehnenden Menschen, die unter dem Eindruck des Einmarsches Selbstmord verübt hatten, wie der frühere Wiener Heimwehrkommandant und hohe „Ständestaat“-Funktionär Emil Fey samt seiner Familie oder der Kulturhistoriker Egon Friedell. Eine einzige Gemeinde in Österreich hatte übrigens die von Kanzler Kurt Schuschnigg für den 13. März 1938 festgelegte Abstimmung für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich wie es hieß, durchgeführt: Innervillgraten im Osttiroler Gerichtsbezirk Lienz, durch unglaubliche Schneefälle von der Außenwelt abgeschnitten. Von den 817 Wahlberechtigten, die an diesem Sonntag zur Urne gingen, stimmten dort 95 Prozent für die Forderungen Schuschniggs.2 Ein Stimmungsbericht des Gendarmeriepostens Köf lach vom 28. März 1938 lässt bezüglich der allgemeinen Haltung der Bevölkerung auch für die Steiermark nachdenklich werden. Diesem zufolge verhielten sich die Sozialdemokraten im Überwachungsrayon des Postens nach dem Einmarsch der deutschen Truppen abwartend und wollten zuerst Taten der neuen Machthaber sehen. Die Kommunisten würden zwar, hieß es weiter, das „Hitlerabzeichen“ tragen, sich aber wie bereits in den letzten Monaten innerhalb der Vaterländischen Front extrem antifaschistisch benehmen, und ihnen sei wohl auf keinen Fall zu trauen. Die Christlichsozialen, deren Überzeugung als ehrlich angenommen werden

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

konnte, sind selbstverständlich tief betroffen und gedrückt, schließt der Bericht.3 Was war dem Berichterstatter an dieser Haltung so selbstverständlich, dass es dem heutigen Leser als Kuriosum auffällt? Einige, vielleicht sogar viele, sahen wohl von Beginn an nur zu gut, was sich da mit den Nationalsozialisten als neuen Machthabern auf die Steiermark tatsächlich zuwälzte. Aus der Ortschaft Steinhaus am Semmering ist diesbezüglich ein bezeichnendes Ereignis überliefert.

445

Dort war der christlichsozial orientierte „Ständestaat“-Bürgermeister Karl Haiden noch am 11. März 1938 von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben worden. Ein Jubelzug der Steinhauser Nationalsozialisten formierte sich und zog durch den Ort, ständig skandierend: Jetzt geht’s uns guat, weil der Koarl is fuat. Als dieser Zug die örtliche Tabaktrafik passierte, kommentierte ein alter Bauer die Situation gegenüber der Trafikantin mit den Worten: So wia s’ heit’ schreien, so werd’n s’ no rearn.4

Grazer Ereignisse im Februar und März 1938 Am Obersalzberg bei Berchtesgaden wurde im Februar und März 1938 Geschichte geschrieben. Der Bundeskanzler des außenpolitisch völlig verlassenen Österreich, Kurt Schuschnigg, begab sich am 12. Februar zum folgenschweren Gespräch mit Adolf Hitler, nach welchem der Nationalsozialist Dr. Arthur Seyß-Inquart zum österreichischen Innenminister ernannt wurde. Bekanntlich wurde damals auch die legale Be-

Nationalsozialistische Kundgebung am Grazer Hauptplatz, Februar 1938 NSDAP-Hauptarchiv München / StLB

tätigung der österreichischen Nationalsozialisten im Rahmen der Gesetze vereinbart. Erst drei Tage später, am 15. Februar 1938, wurde eine erste amtliche Verlautbarung über die Unterredung veröffentlicht, die Ergebnisse dieser Verhandlungen selbst drangen in Österreich noch langsamer und nur stückweise zur Öffentlichkeit durch. Bereits am 12. Februar abends war allerdings erstmals von den deutschen

446

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Reichssendern über das Berchtesgadener Treffen selbst berichtet worden. Die Ereignisse in Graz überschlugen sich nun beinahe stündlich. Die Zerstörung von Auslagenscheiben jüdischer Geschäfte in der Nacht zum 14. Februar5 war ebenso ein Fanal der weiteren Entwicklung wie die erste große Massendemonstration der Grazer National­ sozialisten am Abend des 19. Februar, bei der erstmals, wenn auch nur für kurze Zeit, am Grazer Rathaus eine Hakenkreuzfahne aufgezogen wurde. Am 21. Februar 1938 fanden in Graz parallel zwei Großversammlungen der Vaterländischen Front und der Nationalsozialisten statt. Darüber berichtete Franz Schöberl, ein aus Oberösterreich stammender und in Graz wohnhafter pensionierter Gymnasialprofessor an ­einen Freund im oberösterreichischen Wels:6 [...] Nun zur Kundgebung am Hauptplatze des Montags. [...] Am Tage der Kundgebung, Montag, wurden in Reih und Glied 32.000 Nationalsozialisten gezählt, mit den spalierbildenden Teilnehmern 50.000 geschätzt. Bei der VF Kundgebung nahmen teil 3 gepreßte oder bezahlte Musikkapellen, die Schüler, die commandierten Gemeindeangestellten und die christlichen Turner. Es werden mit diesen angegeben mehrere oder „etliche“ 1.000, darunter die communistischen Pülcher („peregrini“), bisher Schutzchor [!],7 diese trugen vor Gorbach paradierend rote Fahnen und grüßten das Dollfußdenkmal sowjetisch mit der Faust. (Das wurde auch in dem Flugblatt erwähnt.) Ob das Gorbach gesehen hat! Aber laut haben die vom Denkmal wegmarschierenden gerufen: „Hitler ver­ recke!“ 8 [...] Tatsächlich paradierten die peregrini vor dem Gorbach unter dem Denkmal des Märtyrerkanzlers mit sowjetischen Emblemen und riefen „Rotfront!“ ohne daß sie gestört wurden. – Augenzeugen berichten mir, daß sie in Treß und mit Fahne, darauf

der Stern mit Sichel, im Stadtpark herumpülcherten, der dazu gehörige Sprechchor, dem meine Frau begegnete, plärrte ununterbrochen: „Hi.... ver­ recke!“ Ich habe daher nicht aufgeschnitten. [...] Der spätere steirische KPÖ-Vorsitzende Willi Gaisch, Jahrgang 1922 und als Tischlerlehrling damals in der Gewerkschaftsjugend aktiv, sah die Ereignisse rund um den 20. Februar 1938 durchaus kritisch. Der Sohn einer ­jüdischen Russin hatte die Übertragung der Hitlerrede ohne Angst am Hauptplatz gehört. Man ist in den Massen verschwunden, ich war ja keine bekannte Persönlichkeit. Anschließend habe ich geholfen, in den Puchwerken Unterschriften für die Unabhängigkeit Österreichs zu sammeln. Die Grazer Großbetriebe waren nicht Träger faschistischen Gedankenguts, in der Arbeiterjugend gab es dafür keine Begeisterung. Anders bei Studenten, im Kleinbürgertum und auch unter Arbeitslosen.9 Bekanntlich hielt der spätere Bundeskanzler und Präsidentschaftskandidat Alfons Gorbach, damals Landesleiter der „Vaterländischen Front“ in der Steiermark, auf der erwähnten Kundgebung der Vaterländischen Front am 21. Februar 1938 in Graz eine äußerst prägnant formulierte Rede gegen den Nationalsozialismus, die seitens der Nationalsozialisten mit der Forderung nach dem sofortigen Rücktritt des Landesleiters der Vaterländischen Front beantwortet wurde. In Franz Schöberls Korrespondenz nach Wels liest sich das folgendermaßen:10 Kroisbach, 22. II. 38. Lieber Volker! Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Und darum möchte ich meinen 2 gestrigen formlosen Karten heute noch einen Abschluß folgen lassen. Also gestern erfolgten 2 Aufmärsche, der VF11 und der NSZ, aufgrund einer Vereinbarung zwischen dem volkspolitischen Referenten und dem zweitmächtigsten VFer des Landes, doch halte ich dafür, daß auch die nationale Kundgebung, bei der der volkspolitische Referent der

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Steiermark sprach, fictiv im Rahmen der VF stattfand. In dem Sinne fasse ich auch das heute in den Tagesblättern verlautbarte Versammlungsverbot auf, das nur Aufmärsche im Rahmen der VF gestattet, somit auch die nationalen, wenn sie im Einverständnis des volkspolitischen Referenten veranstaltet werden. Denn die Nationalen bilden ja eine durch das Berchtesgadner Abkommen gleichgestellte Abteilung der VF. Der moralische Sieg der Nationalen ist schon ersichtlich durch die würdige Disciplin die gerade die Jugend zeigt. So exakt, ja ernst vollziehen sich die Kundgebungen, und doch herrscht Heiterkeit und Fröhlichkeit im Straßenbilde. – [...] Die Kinder der II. Volksschulclasse (2. Schuljahr) in Maria Trost erhoben sich beim Eintritte der Lehrerin mit dem Heil Hitler Gruße. – Die Schüler geistlicher Lehranstalten wurden zum Aufmarsche der Vaterländischen beordert; aber spät Nachts

447

riefen die Gymnasiasten des Kapucinerconvicts in der Mariatrosterstraße im Nachtkleide auf die Straße den Hitlergruß! [...] Am 1. März 1938 erhielt die Bewegung der Nationalsozialisten in Graz durch den Besuch des Innenministers Seyß-Inquart einen neuer­ lichen Motivationsschub. Nachdem der volkspolitische Referent der VF Steiermark, Armin Dadieu, dessen ursprünglich geheime Anwesenheit über die „Tagespost“ verlauten hatte lassen, sammelten sich abends die Grazer Nationalsozialisten neuerlich zu einem Aufmarsch, der vom britischen Journalisten G. E. R. Gedye packend, wenn auch mit journalistischen Stilmitteln „aufgepeppt“ geschildert wurde.12 Als wir den Gehsteig entlang eilten, füllten sich die Straßen mit den SA-Kolonnen. Ich hatte eine große Demonstration von Zivilisten erwartet.

„Anschluss“-Begeisterung nicht nur in Graz: Eine Gruppe von Bauernburschen und Knechten in der weststeirischen Sammlung Anton Jandl, Gößnitz Bergbauerngemeinde Gößnitz, März 1938

448

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Statt dessen fand ich, dass die Spitze des Zuges von 5000 SA-Leuten gebildet wurde, die ihre verbotenen Braunhemden und Uniformen trugen. Graz gehörte nicht länger zu Österreich – es war bereits zu einer Kolonie Nazideutschlands geworden. Während die SA schweigend marschierte, öffneten sich die Fenster der Nazibewohner, die Hakenkreuzfahnen aussteckten. Nun entrollten die Fahnenträger unter den Aufmarschierenden ebenfalls ihre Hakenkreuzbanner. [...] Wagner, der nun auch ungeniert eine Hakenkreuzarmbinde trug, ermöglichte es mir, durch die SS-Leute durchzukommen, die, ineinander eingehängt, um das Haus Dadieus einen Kordon gezogen hatten. Plötzlich erreichte die Spitze des Zuges das Haus. Wie ein Mann ging der Trupp in den Stechschritt über, die Stiefel krachten auf das Straßenpflaster, während aus tausend Kehlen das Nazilied durch die nachtstillen Straßen gebrüllt wurde: ‚Heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt!‘ [...] ‚Achtung! Augen rechts! Heil Hitler!‘ brüllte jetzt der Führer der Spitzenkolonne und der Vorbeimarsch begann. Nahezu zwei Stunden lang beobachtete ich den fast endlosen Zug. [...] ‚Heil Hitler! Heil Seyß-Inquart! Heil Deutschland! Ein Volke, ein Reich, ein Führer!‘. Ohne Unterbrechung wurden diese Schlagworte von den im Stechschritt marschierenden Burschen wiederholt: ein schreckenerregender Zug unkontrollierbarer Fanatiker. Mit ihren angespannt starren oder zuckenden Gesichtsmuskeln, ihren glänzenden Augen und totenblassen Gesichtern erwarteten sie im Vorbeimarschieren, daß Seyß-Inquart sein Versprechen, für Beruhigung zu sorgen, brechen und ihren Hitlergruß erwidern würde. Eine Viertelstunde lang begnügte sich dieser jedoch damit, mit der Hand bloß gelegentlich zurückzuwinken. Dann aber kam eine Kompanie ausgewählter ­SA-Männer von ausgezeichnetem Körperbau, die mit der Disziplin von Gardetruppen vor­ übermarschierten.

‚Halt! Rechts um!‘ brüllte ihr Kommandant, ein langer, höchstens neunzehnjähriger Bursche mit wilden Augen. ‚Horst-Wessel-Lied!‘ ‚Die Fahnen hoch, die Reihen dicht geschlossen‘ – der Gesang aus vollen Kehlen vollendete das Bild einer militanten Reaktion am Sprung zum endgültigen Sieg. Bei den Worten ‚Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen, marschier’n im Geist in unsren Reihen mit!‘ ließ Seyß-Inquart die Maske fallen. Mit einem strammen Schritt an Dadieus Seite tretend, hob der Minister für Österreichs Sicherheit seinen Arm zum verbotenen Gruß, den er nun im Namen des Mannes leistete, dessen Lieblingstraum, Österreichs Unabhängigkeit zu zerstören und das Land seinem Willen zu unterwerfen, sich damit der Erfüllung näherte. Ein ohrenbetäubendes Triumphgeschrei erhob sich unter den Marschierenden und der dichten Menge der Zuschauer. Seyß-Inquart hatte endlich Farbe bekannt. Bis zum Schlusse des Aufmarsches stand er nun mit der zum Hitlergruß erhobenen Rechten stramm da und grüßte so die Armeen der Revolte gegen den Kanzler, dem er Treue schuldete. Graz war gefallen. Die in Graz lebende französischstämmige Schriftstellerin Héléne Grilliet erlebte die nächsten Tage in Graz auf folgende Weise:13 22. Februar. Die Tage fliegen, wie noch nie, und die Leute leben nur mehr auf der Straße, ich kenne Graz nicht mehr, seine Menschen sind wie ausgewechselt. Sind das noch die selben Menschen, die früher so schwer und betrübt neben ihrem eignen Leben herzugehen schienen? Sie haben ­einen anderen Gang, eine andere Haltung, sie nehmen südliches Temperament an, fremde Leute sprechen miteinander, Männer umarmen sich, Kinder, Burschen und Mädchen ziehen singend durch die Straßen, und darüber flimmert die herrliche Sonne, wölbt sich ein seidenblauer Himmel. Die Luft ist leicht wie Champagnerschaum.

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Die kommenden zwei Wochen waren vor allem in Graz geprägt von einer unglaublichen atmosphärischen Spannung. „Es brodelt in der Tiefe“, kommentierte Héléne Grilliet die Situation.14 Im „Nationalen Kataster“ der NSDAP trugen sich während dieser Tage vor allem zahlreiche Beamte und öffentlich Bedienstete ein, und Anfang März 1938 „roch“ es insbesondere in der Beamtenschaft des Landes nach Umwälzung. Die Innsbrucker Rede Schuschniggs mit der Ankündigung seiner Volksabstimmung für den 13. März war eine der Folgen genau dieser Stimmung. Der Einmarsch deutscher Wehrmachtseinheiten in Österreich am 12. März 1938 beendete alle nun auftauchenden wilden Spekulationen. Der „Anschluss“ begann Tatsache zu werden. Im Vorfeld der nationalsozialistischen Anschlussabstimmung am 10. April 1938 kamen

449

auch zahlreiche NS-Größen zu Propagandazwecken in die Steiermark. Am 29. März trat Hermann Göring in Graz auf, und für den 3. April war Adolf Hitler selbst angekündigt. Héléne Grilliet berichtet über die Vorbereitungen auf diesen Tag:15 Sonntag kommt der Führer nach Graz. Fast nirgends bekommt man mehr Fahnenstoff. Ein einziges Warenhaus hat hundert Kilometer davon verkauft. Die Fenster schmücken sich mit Reisig, die kleinsten Läden haben ein Führerbild in der Auslage, das inmitten eines Blumenbeetes steht. Unsere Hausmeisterin macht aus ihrem Kellerfenster die reinste Altarnische. [...] Der slowenische Schuster neben uns hat sich ein Führerbild verschafft und drapiert es in seinem Ladenfenster mit Fahnen, Kerzen und Lampions. Er lacht die ganze Welt an und benützt jede Gelegenheit, den

Begeisterte Menschen beim Besuch von Adolf Hitler in Graz, 3. April 1938 Bayerische Staatsbibliothek München/Hoffmann

450

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Arm hochzu­heben und ‚Heil Hitler‘ zu rufen. Es liegt eine solche Spannung über Graz, dass man fast das Herz der Stadt schlagen hört. Als am 3. April 1938 Adolf Hitler persönlich in Graz eintraf, war natürlich auch Franz Schöberl in der Stadt anwesend. Seine Eindrücke von diesem Ereignis waren Folgende:16

fahren sah, fiel allgemein sein etwas düsterer Blick auf, als ob ihn ein Unwille irritierte. – Man hatte die vorderen Reihen mit feminae gefüllt, die z. T. „geschmückt“ (auch bemalt) und geziert waren, statt wie er es gewohnt, mit viri und Parteigenossen. Über die gefallsüchtigen Grazien haben auch die milites ex imperio und ernste Legionäre ein abfälliges Urteil gefällt [...].17

[...] Eigentlich sollte ich Dir nicht auf derselben Karte meine Freude kundgeben, daß ich gestern, um 18 Uhr, und heute um 9 Uhr auf dem Glacis [...] den Führer gesehen vom Fenster der Wohnung der Witwe Böheims. [...] Als ich den Führer in Graz nach seiner Rede durch die Straßen

Mit der erfolgreichen Anschlussabstimmung am 10. April war das „Dritte Reich“ endgültig etabliert, und nun folgten jene Ereignisse, die von der Begeisterung großer Teile der Bevölkerung in wenigen Jahren zur Ernüchterung führten.

Der Zweite Weltkrieg beginnt Als am 1. September 1939 der von vielen Menschen schon lange vorausgeahnte oder befürchtete Krieg mit Polen ausbrach, herrschte offiziell Hochstimmung. In die Chronik der Volksschule Spital am Semmering trug der Schulleiter anlässlich des Kriegsbeginnes zum Beispiel in kalligraphischer Schrift und voller Überschwang ein:18 [...] Die Zeit ist zu groß, das Geschehen zu gewaltig, als daß man viele Worte verlieren brauchte. Es spricht das deutsche Schwert! Und dies führt zum gewaltigsten Siege der Weltgeschichte! [...] Besonders jener Teile der Bevölkerung, die schon die Jahre von 1914 bis 1918 bewusst miterlebt hatten, und zwar aufseiten jener, die unter den Auswirkungen des Krieges schwer zu leiden gehabt hatten, bemächtigte sich aber sofort ein Gefühl der Unsicherheit bezüglich des Kriegsausganges, und zahlreiche Menschen im Land sahen schon zu Beginn klar, dass ein Krieg vom Deutschen Reich schlussendlich nicht gewonnen

werden könne. Schon am 4. September 1939 meldete zum Beispiel die „Abwehrstelle des Böhlerwerkes in Kapfenberg“ dem dortigen Gendarmerieposten, der Zipserdeutsche Emil Spitzkopf aus Matzdorf/Matejovce im Kreis Poprad habe gegenüber zwei anderen Werksangehörigen geäußert, dass der gegenwärtige Krieg für Deutschland aussichtslos sei, das Kriegführen sei Unsinn, die Leute sollten die Hände gleich hoch heben, dann wäre der Krieg gleich zu Ende und ähnliches.19 Nur wenige Tage später, am 10. September 1939, war es der Zimmermann Josef Holzbauer, der im Gasthaus Neumann in Modriach verlauten ließ: Alle sollen die Waffen sofort wegwerfen, aber unsere Soldaten zuerst. Dann gäbe es keinen Krieg. Holzbauer wurde natürlich sofort wegen staatsgefährdender Äußerungen angezeigt.20 Der Gradner Pfarrer berichtet aus dieser Zeit, nicht ganz ohne Schadenfreude: Nach der Eroberung von Warschau mußten durch 8 Tage je 1 Stunde lang alle Kirchenglocken geläutet werden. (Später auch noch nach dem Fall von Paris, aber bei den weiteren „Siegen“ hat das Glockengeläute aufgehört.) 21

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Besuch Adolf Hitlers in Graz während des Balkanfeldzuges. Menschenspalier in der Burggasse, April 1941

Auch die ersten Kriegserfolge selbst vermochten nicht alle Steirer zu überzeugen. Der Bergarbeiter August Pracher aus Hochtregist im Bezirk Voitsberg gab etwa während des Kukuruzschälens im November 1939 laut Bericht des Gendarmeriepostens Bärnbach zum Besten: Wir brauchen keinen Führer, Hitler kann mich in A---lecken, die Schuschniggregierung wäre mir lieber, er, Hitler, soll Tschechoslowakei und Oesterreich dem Otto oder Schuschnigg übergeben. Weiters habe er, als von mehreren Personen „Heil Hitler“ gerufen wurde, mit „Pfui“ und „Heil Schuschnigg“ geantwortet.22 Im Sommer 1940 glaubten dennoch große Bevölkerungsteile noch fest an ein baldiges Kriegsende.

451

StLA

Gegenwärtig wartet man gespannt auf den Ausgang des Endkampfes mit England. Man fühlt sich sicher, dass England nun endlich unterliegen wird und die Kriegstreiber-Plutokraten der gerechten Strafe zugeführt werden. Alles freut sich schon auf den baldigen Frieden und auf die baldige Heimkehr der Sieger zum Aufbau der Heimat.23 Das wurde zum Beispiel vom Postenkommandanten im weststeirischen St. Martin am Wöllmißberg über die Stimmung der Bevölkerung nach Voitsberg gemeldet. Der Friede ließ aber auf sich warten. Ganz im Gegenteil begann sich das Blatt langsam aber unauf hörlich zu Ungunsten des „Dritten Reiches“ zu wenden. Tatsächlich war es bereits am 6. April 1941, dem Palmsonntag dieses Jahres, als Reaktion

452

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

des SHS-Staates auf den deutschen Einmarsch und den Beginn des Balkanfeldzuges zum ersten Fliegerangriff des Zweiten Weltkrieges auf Graz gekommen, gef logen von einzelnen jugoslawischen Flugzeugen. Bombardiert wurden die Schanzelgasse und der Hauptbahnhof.24 Vom früheren Generalstabsarzt Kugler, den der Grazer Professor Franz Schöberl des Öfteren beim Mittagessen traf, erfuhr letzterer nähere Details über dieses Bombardement, worüber Schöberl am 18. April in einem langen Brief berichtete:25 [...] Kugler teilte mit, daß die palmsonntägigen „serbischen“ Bomben super hanc urbem dejecta sunt von einem 19jährigen Mädchen, nämlich einer Kanadierin – diese transozeanischen feminae scheinen sich diesem Sport zu widmen; eine Kanadierin war ja auch mit einem avis in den Allgäueralpen [!] verunglückt – sie wurde in der Nähe hujus urbis zur Notlandung gezwungen, verletzte sich dabei und liegt nun im Krankenhaus [...]. Der Balkanfeldzug des Jahres 1941 wurde für die deutschen Truppen zu einem rasanten Siegeslauf. Es muss dennoch eine höchst eigenartige Stimmung gewesen sein, die sich der „Stadt der Volkserhebung“ und ihrer Bewohner

im Frühjahr 1941 bemächtigt hatte. So hieß es zu Beginn eines Briefes Franz Schöberls vom 25. April 1941: Heil und Sieg! Griechische Nordarmee kapituliert! [...]. Schon auf der zweiten Seite ­a llerdings berichtet Franz Schöberl über den 20. April, Führers Geburtstag, in Graz, an Freund Grosch: [...] Nachdem Roland26 nach 17h uns verlassen, um den Leobner Zug zu erreichen, mit Ermi in den „Rosenhain“, „städtischer Naturpark“. Wenige Besucher, nur viele Kindswägen. Ältere und schieche feminae folgen dem Appell und werden matres. Denn es herrscht die Tat. Die Häuser festlich beflaggt. Die Straßenpassanten gehen stumm wie Masken einher! Wenn ich in der Zeit meiner Freistädter Abende etwa in diese Straßen versetzt worden wäre, um die mit Wimpeln geschmückten Straßen zu sehen, in denen sich stumme ausdruckslose Gestalten bewegen, mir wäre dies wie ein Spuk erschienen. Das macht die Zeit der reinen Sachlichkeit. O tam pauperes sunt homines facti! [...] Welch ein Gegensatz im Stimmungsbild zum gerade drei Jahre zurückliegenden März und April 1938 in Graz.

Der Kriegsbeginn mit Russland Am 22. Juni 1941 um 3 Uhr 15 begann der von langer Hand vorbereitete Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion ohne vorherige Kriegserklärung. Trotz enormer Anfangserfolge war die Stimmung in der Steiermark durch den Beginn des Krieges im Osten in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht die beste. Der Pibersteiner Bergarbeiter Karl Brunner schleuderte einem Nationalsozialisten im Juni 1941 zum Beispiel während der Arbeit die Sätze ins Gesicht: Ihr mit eure SA.-Anwärter könnt euch ohnehin nicht verlassen, Fett bekommen wir bei den

jetzigen Karte auch schon wieder weniger. Der Hitler diese Drecksau! Im selben Bergbau äußerte sich eine Woche nach dem Kriegsbeginn mit Russland der Bergarbeiter Franz Troger dahingehend, dass Hitler nun wohl an Kopftyphus erkrankt sein müsse, dem Führer der Krieg mit Russland noch „roaten“ machen werde und alle Parteigenossen aufgehängt gehörten. Im nahe gelegenen Niedergößnitz wiederum war es Landarbeiter Johann Muhri, der am Tag des Kriegsausbruches mit der Sowjetunion gegenüber einem Holzknecht

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

die Aussage tätigte: Jetzt werden wir bald Heil Moskau schreien.27 Neben der „Linken“ waren es einmal mehr viele Katholiken, die den Kriegsausbruch mit der Sowjetunion nicht positiv bewerteten. Schon bald nach dem Kriegsbeginn begann der Zustrom in die Gotteshäuser im Land stark anzuwachsen. So kam es zum Beispiel am Maria Lankowitzer Kirchweihfest am ersten Sonntag nach Maria Heimsuchung 1941 zu einem wahren Massenandrang. An die 1.300 Menschen besuchten an diesem Sonntag die Kirche, und nach dem Hochamt wurde eine Prozession abgehalten. Dazu lautet der Bericht des zuständigen Gendarmeriepostens:28 Diese Prozession bewegte sich nicht innerhalb des vorgeschriebenen Rahmens rund um die Kirche, sondern rund um Kirche und Franziskanerkloster, durch die der Verkehr auf dem Gemeindeweg Lankowitz–Kemetberg unterbunden war und auch Flurschäden verursacht wurden, zumal an dieser Prozession rund 1000 Personen mit einer aus 8 Musikanten bestehenden Musikkapelle teilnahmen. [...] Diese Prozession wurde von den nicht daran beteiligten Volksgenossen als propagandistischer Akt über die Stärke der Kirche aufgefaßt und empfunden. So war es wohl auch beabsichtigt. Zweifel am raschen Sieg des „Dritten Reiches“ machten sich Ende 1941 in manchen Bevölkerungskreisen ebenfalls bereits bemerkbar. Interessant ist diesbezüglich eine Eintragung in die Chronik der benachbarten Pfarre Graden, wo es mit den Worten des Pfarrers heißt:

453

Den Wissenden – dank dem Londoner Rundfunk gehörten immer mehr dazu – war es schon klar, daß der Krieg verloren sei. Aber die Propaganda des Dritten Reiches arbeitete noch immer vorzüglich, sodaß die meisten trotz der Rückschläge noch immer an den Sieg glaubten.29 Der Russlandfeldzug war am 10. November 1942 in Stalingrad endgültig ins Stocken geraten, Stalingrad wurde bald darauf eingekesselt, und in der Steiermark litt man in vielen Bereichen bereits schwer unter den Auswirkungen des vierten Kriegsjahres. Professor Franz Schöberl verpackte diese Situation in seiner Postkarte vom 9. Dezember 1942 bereits in offenen Zynismus:30 [...] Als ich heute eine Dame in einem Verkaufsladen sagen hörte, sie bemühe sich vergebens, in Geschäften Spielzeug als Weihnachtsgeschenk für ihre Kinder aufzutreiben, lag es mir auf der Zunge einzuwerfen, man baue eben selbst das Spielzeug, etwa so wie ja auch Mütter die Puppen für den Weihnachtstisch neu gewanden. Infolge der Papiernot erscheinen keine Bücher auf dem Weihnachtsmarkt mit Ausnahme solcher „parteipolitischen“ Inhalts, worunter man nur die der einen Partei versteht, welche die Erfüllung brachte und daher andere überflüssig machte. Denn man kann Rasenflächen umstechen, um auf dem neuen Kulturlande sich seinen Kohl selbst zu bauen, man kann auch sein eigener Handwerker sein und sich seinen Ofen selbst setzen oder wenigstens ­f licken – aber man kann unmöglich sich seine staatspolitischen Bücher selbst schreiben. [...]

454

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Kritische Stimmung nach der Niederlage von Stalingrad Stalingrad leitete zumindest in den Köpfen der vorausblickenden Menschen tatsächlich die Wende des Zweiten Weltkrieges ein. So klärte Franz Schöberl bereits im März 1943 seinen Freund in Wels mittels Postkarte über die eigene triste Einschätzung der Gesamtlage auf:31 [...] Ich bin mit Dir nicht „identisch“ und sage: „si bellum finitur nos pauperes erimus“ et deficientes. Wer wird uns dann etwas geben? Selbst wenn nos als victores hervorgehen! Es ist zu viel destructa, als das für einen victor etwas übrig bleibt. [...] Anfang März 1943 erging aus Graz außerdem bereits die Botschaft nach Wels, dass die Männer in der Stadt Graz schon alle kopf los seien, ihre Nerven würden auslassen, es gäbe keine Handwerker mehr, Schöberl habe wegen einer kleinen Reparatur 14 Tage auf einen Elektriker warten müssen.32 Aus St. Martin am Wöllmißberg berichtete im März 1943 der Gendarmerieposten, die Anordnungen der Partei und deren Veranstaltungen würden vielfach nicht beachtet oder überhaupt ignoriert. An eine Heldengedenkfeier am 21. März 1943 hätten nicht einmal die Angehörigen der Gliederungen geschlossen teilgenommen, von den Jungmädchen des BdM bis zum Reichskriegerbund und den Wehrmachtsurlaubern. Bezeichnend ist die im Gendarmerie­ bericht überlieferte Aussage der Jungmädchenführerin über die Haltung ihrer Mädels: Die Jungmädchen wollen deshalb bei den Appellen nicht mittun, weil sie, wie sie sagen, nicht wissen, wie es wird.33 Nach der Kapitulation der „Heeresgruppe Afrika“ am 12./13. Mai 1943 verschlechterte sich die Stimmung in der steirischen Bevölkerung weiter, was auch damit zusammenhing, dass nun schlagartig alliierte Fliegerangriffe auf die Steiermark einsetzten. Der ehemalige christ-

lichsoziale Bürgermeister Krammer aus St. Martin am Wöllmißberg äußerte sich etwa anlässlich des Arrestbaues in seiner Gemeinde im Mai 1943 folgendermaßen: Für was brauchen wir denn hier einen Arrest, damit wir eventuell noch einmal, so wie beim Umbruch eingesperrt werden sollen? Aber diesmal wird’s anders sein da werden wir die andern einsperren! Wenns nur schon aufhören täten vom Krieg führen. Über Krammer berichtete der zuständige Gendarmerieposten weiters: Er ist ein verbissener Kirchengeher der nur auf das Wort des Pfarrers hört.34 Ende Mai 1943 berichtete die Kainacher Pfarrchronik: Die Flieger über uns werden immer zahlreicher – der Krieg mit seinem Grauen geht über uns hinweg.35 In Salla beobachtete Pfarrer Hysel am 2. November 1943 über 70 amerikanische Bomber auf dem Weg nach Wiener Neustadt. Auf dem Rückweg wurde einer dieser Bomber über Geistthal abgeschossen, neun Besatzungsmitglieder sprangen mit dem Fallschirm ab. In der Zeitung stand laut Pfarrer Hysel von sieben abgeschossenen Bombern zu lesen,36 was ihn jedoch aufgrund der Kenntnis der NS-Propagandamaschinerie weiter nicht mehr wunderte. Drastische Äußerung der immer kritischer werdenden Haltung der Bevölkerung zum herrschenden Regime war auch die Aussage der Keuschlerin Flora Leitner aus Thallein bei Voitsberg, deren Bruder wegen „kommunistischer Umtriebe“ in Straf haft saß. Am 14. August 1943 verlautete sie daß sie es wünscht und nicht mehr erwarten kann, dass eine Revolution kommt, damit sie einigen die Gosche eintreten könne.37 Aus allen Gemeinden des Landes trafen über die Gendarmerieposten mittels Wochenberich-

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

ten ähnliche Stimmungsbilder ein. Der Gendarmeriekreisposten Voitsberg, Reichsgau Steiermark, berichtete am 29. August 1943 an den Voitsberger Landrat:38 Die allgemeine Stimmung der Bevölkerung und insbesondere der bäuerlichen ist gedrückt und wenig vertrauensvoll. Ein Großteil der Bevölkerung hat den Glauben an einen siegreichen Ausgang des Krieges verloren und fürchtet einen schlechten Ausgang des Ringens. Diese schlechte Stimmung und die mangelhafte Zuversicht ist zweifellos auf das Abhören ausländischer, bezw. feindlicher Radiosendungen und auf eine rege versteckte Propaganda des Klerus zurückzuführen. In der letzten Zeit wurde auch vielfach die Beobachtung gemacht, dass viele Parteimitglieder ihr Parteiabzeichen nicht mehr tragen. Dieser Umstand trägt ebenfalls nicht zur Hebung der Zuversicht und zur Stärkung des Willens zum Durchhalten und Erringung des Sieges um jeden Preis bei. Der Zustrom in die Kirchen wurde ab dem Jahr 1943 nicht nur am Land stärker. Auch in den Städten wuchs die Zahl der Kirchenbesucher stark an. Franz Schöberl dazu am 5. Mai 1943 aus Graz:39 [...] Ermine40 hört manchmal abendliche Predigten, es sprechen meist beredte Kanzelredner. Vor einigen Tagen hörte sie den schon einmal von mir erwähnten ehemaligen Schauspieler, einen Dominicaner. Dieser hatte in unserer Pfarrkirche ad Leonhardi durch viele Wochen sehr besuchte Sonntagspredigten gehalten und zwar abends, die großen Zulauf hatten und zwar gerade von Studierten, selbst von Universitätsprofessoren, auch von mit signis in pectore erkenntlichen m2, die zum Teil mitstenographierten.41 Nun hörte sie diesen berühmten Prediger in der Dominikanerkirche in der Maiandacht predigen. Die Besucher waren aber auch nur vulgus, daher die Predigt,

455

deren Fassungsvermögen angepaßt, von den geistvollen Reden in der Leonhards-ecclesia merklich abstach. Letztere waren geschichtsphilosophischen Inhalts und setzten geradezu akademische Bildung voraus: darum auch der Zulauf. Und darum fanden sich auch die significati m2 ein, um zu kontrollieren und protokollieren. Es fragt sich nur, ob diese Herrschaften (und auch Wîber) auch die dazu nötige capacitas aufwiesen. Ego dubito. [...] Mit Jahresende 1943 war einem großen Teil der Bevölkerung bereits klar geworden, dass das „Dritte Reich“ auf eine militärische und menschliche Katastrophe zusteuerte. Im Laufe des Jahres 1944 verdichtete sich dieses Empfinden mehr und mehr. Die Pischelsdorfer Pfarrchronik, verfasst vom dortigen Pfarrer, verdeutlicht anschaulich, wie dieser die Situation im Land während dieser späten Phase des Zweiten Weltkrieges empfand und erlebte:42 Immer mehr Bombergeschwader aus dem Süden kommend brachten Unruhe in die Bevölkerung. Aus verschiedenen Gegenden wie Marburg und Graz waren die Bombenexplosionen gut hörbar, die Fenster klirrten. Des Nachts war der Himmel von Scheinwerfern, Leuchtraketen beleuchtet. Wiederholt fielen Bomben im Pfarrgebiet, ohne aber besonderen Schaden anzurichten. Am 8. 7. kamen zahlreiche Bombergeschwader aus dem Süden. Beim Anflug befand sich gerade ein Leichenzug mit der Geistlichkeit am Friedhof. Auf dem Friedhof entstand fast eine Panik, die meisten Teilnehmer flüchteten in die Friedhofskirche und den Keller derselben, die Geistlichkeit kehrte in den Pfarrhof zurück. [...] Bedrohlich gestalteten sich die von Nordosten kommenden zahlreichen Anflüge auf Graz. Überflogen die Bombengeschwader Pischelsdorf, hörte man ungefähr 10 Minuten darauf die Detonationen von Graz und sah besonders bei Nacht die Scheinwerferbeleuchtung und die Feuerröte der entstandenen Brände.

456

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Die Kriegsmonate vom Spätherbst 1944 bis zum März 1945 Im Spätherbst 1944 war im gesamten Deutschen Reich der „Volkssturm“ aufgeboten worden, wobei sich bereits allgemeine Kriegsmüdigkeit zeigte. Einzig positiv wurde in den Lageberichten der steirischen Gendarmerieposten Ende November 1944 vermerkt, dass die Fronten zum Halten gebracht worden waren. Einen siegreichen Abschluss des Krieges erwartete man zu diesem Zeitpunkt allgemein nur noch durch neue „Wunderwaffen“ von größerer Wirkung als jener der „V2“, die bei der Bevölkerung kaum Eindruck hinterlassen hatte.43 Sehr kritisiert wurde im Land der Einsatz der männlichen Arbeitskräfte bei den Schanzarbeiten am sogenannten „Ostwall“ im Burgenland, da mit diesem Einsatz der Landwirtschaft zusätzlich Arbeitskräfte entzogen wurden.44 Die Auf bietung des Volkssturmes wurde von sehr vielen Menschen als höchst sinnlos ­erachtet. So berichtete der Gendarmerieposten Groß­söding in der Westeiermark am 25. November 1944 über seine Tätigkeit unter anderem:45 Den Besitzer Josef Gschier aus Mooskirchen wegen defaitistischer Aeusserungen – er machte anlässlich der Volkssturmvereidigung verschiedene Aeusserungen über das Salutschiessen der SS Abteilung und über die Wehrkraft des Volkssturmes – der Staatspolizeistelle Graz angezeigt. Im weststeirischen Salla wurde der Volkssturm relativ spät, erst am 24. Dezember 1944, organisiert. Die Volkssturmmänner haben jeden Sonntag Vormittag Übung auf dem Dorfplatz. Das haben wir gerade nötig für den demnächst kommenden Endsieg vermerkte Pfarrer Hysel in seinen Aufzeichnungen dazu nicht ohne Sarkasmus.46 In Pischelsdorf wiederum schrieb der dortige Pfarrer zum Thema „Volkssturm“ Anfang 1945 in der Pfarrchronik nieder:47

Der in Pischelsdorf aufgebotene Volkssturm hat 30 uralte italienische Gewehre, wovon nur 12 brauchbar sind. Damit soll der Ort Pischelsdorf auf das Äusserste verteidigt werden. Auf Vorstellung des Volkssturmführers Hauptmann Kandler, dass mit diesen wenigen alten Leuten und den mangelhaften Waffen nichts zu machen sei, wird ihm vom Kreisleiter von Weiz der Befehl erteilt: „Wenn sie keine anderen Waffen haben, so gehen sie mit dem Küchenmesser gegen den Feind.“ Außerdem wird angeordnet, alle Brücken sprengungsbereit zu halten. Am 5. Februar 1945 sammelte sich um 8 Uhr 30 morgens das erste Aufgebot des Vorauer Volkssturmes vor dem örtlichen Postamt, um mittels Lkw nach Hartberg gebracht zu werden. Bereits um 9 Uhr morgens ersuchte Kompanieführer Richard Rechberger telefonisch um Gendarmerieassistenz, da ein Teil der Volksturmmänner stark betrunken herumschrie. Dabei fielen die Äußerungen Der Ortsgruppenleiter Gerngross und der Bürgermeister Schantzl müssen auch mit, sonst gehen wir nicht und wieso müssen wir gehen, bei der Wirtschaft ist dann fast niemand zu Hause, andere, wo mehr Leute sind, dürfen daheim bleiben. Nachdem die Gendarmerie die Betrunkenen scharf abgemahnt hatte, be­ stiegen diese die Lastkraftwagen und wurden in Richtung Hartberg transportiert. Der Gendarmeriepostenführer vermerkte im entsprechenden Vorfallenheitsbericht noch: Den Volkssturmmännern des I. Aufgebotes ist bekannt, das sie mit SAUniformen eingekleidet werden. Das fürchten viele, und sind der Meinung, wenn sie den Russen gegenüberstehen, dass sie als SA-Männer, somit als Freiwillige angesehen und danach behandelt werden.48 In St. Johann bei Herberstein, wo sich der Volkssturm am selben Tag sammelte, kam es gegen Mittag zu weiteren Zwischenfällen mit betrunkenen Volkssturmmännern, wobei die

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Aussage des Volkssturmmannes Gutmann aus Buchberg: Ich komme ja heute noch zum Kreisleiter zu dem waumperten und grauaugenden Hund noch verhältnismäßig harmlos war. In der Gaststube eines St. Johanner Gasthauses wurde von den Volkssturmmännern ein Plakat zur Werbung für das „Volksopfer“ heruntergerissen, und der betrunkene SA-Führer Brinegg aus Stubenberg, der nochmals vom Lkw herunterstieg, herrsch-

457

te den diensttuenden Postenführer Haindler an: Sie, jetzt möchte ich wissen, ob sie überhaupt berechtigt sind hier Dienst zu machen und die Einberufenen auffordern können, auf das Auto zu steigen, was vom Wagen mit dem zustimmenden Ruf „Hättest ihn niedergeschossen, den Hund!“ quittiert wurde.49 Allem Anschein nach lagen die Nerven der Volkssturmmänner bereits bei der tatsächlichen Einberufung völlig „blank“.

Die Steiermark wird Kampfgebiet In der Oststeiermark rechnete man ab dem März 1945 bereits mit dem Schlimmsten. Der Pischelsdorfer Pfarrer berichtet dazu:50 Im März wird schon der Kanonendonner aus dem Burgenland immer deutlicher gehört. Der Widerstandwille der Bevölkerung wird aufgestachelt durch Plakate, die auf aufgestellten Tafeln angebracht sind und in kurzen Abständen auf allen Straßen zu sehen sind: „Hier wird nicht zurückgegangen“, „Es kommt die Stunde“, „schlagt sie, die rote Mordbestie“ etc. Gewaltige Viehherden aus dem Burgenland werden auf allen Straßen in Richtung Graz getrieben. Viel Vieh geht auf dem Weg zugrunde. So wird die Unruhe des Volkes gesteigert. Dann folgte das schreckliche 48. Bombardement auf Graz am Karsamstag 1945, dem 31.  März, das insgesamt 63 Todesopfer und 25  Verwundete forderte, nachdem schon am Vortag 27 Bombentote in der Stadt zu beklagen gewesen waren.51 105 Gebäude wurden total zerstört, 75 schwer, 37 mittelschwer und 153 leicht. Nach den Aufzeichnungen Rudolf ­Weißmanns warfen etwa 40 bis 50 Flug­ zeuge  275 Sprengbomben und 6.500 Brandbomben ab. Die Alarmierung erfolgte um 19.30 Uhr, Entwarnung wurde um 20.43 Uhr gege-

ben, der Angriff selbst dauerte von 19.58 bis 20.14 Uhr und erfolgte in neun Angriffswellen.52 Der Mooskirchner Pfarrer berichtet in der Pfarrchronik darüber, wie die Bewohner des Pfarrhofes das Bombardement der Stadt Graz am Karsamstag 1945 erlebten:53 In Mooskirchen konnten wir wie im tiefsten Frieden die schöne Auferstehungsfeier halten – und eine Stunde darauf gegen 8 Uhr abends brach das Unheil über Graz herein. Mit tiefer Wehmut und aufrichtiger Trauer beobachteten wir Pfarrhofbewohner vom Balkon den schaurigen Brand der Grazerstadt. Es waren traurige Ostertage und die Leute fragten sich, was mit Graz geschehen werde, wenn die Russen kommen. Sogar im abgeschiedenen oberen Kainachtal wurde dieses Inferno beobachtet. In der Kainacher Pfarrchronik fand es mit den Worten des Pfarrers folgenden Niederschlag:54 Am Karsamstag wurde Graz mit Phosphor angegriffen. Unsere Gegend war dabei hell erleuchtet. Es war ein schauriges Feuerspiel am Himmel. Ostersonntag hörte man die schweren Artillerieeinschläge und konnte man auf der Straße kaum gehen.

458

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Während der letzten Wochen des „Dritten Reiches“ herrschte in der Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation ein seltsamer Zwiespalt zwischen den „Größen“ der NSDAP und der einfachen Bevölkerung im Land. „Gauhauptmann“ und Chef der Gauselbstverwaltung Armin Dadieu berichtet in seinen Aufzeichnungen über die Jahre von 1938 bis 1945 bezüglich der Situation im Bereich der Gauleitung und Verwaltung in den Wochen vor dem Ende des „Dritten Reiches“:55 Während meine Kollegen in Gauleitung und auch Reichsverwaltung die offizielle Linie bis zum Ende durchgezogen haben, habe ich, weil die Gauselbstverwaltung mit ihren Gütern, mit ihrer Kultur und mit ihrer Energiewirtschaft klaglos gelaufen ist und keine radikalen Maßnahmen er-

forderte, mich innerlich auf die Stunde Null, die kommen musste und furchtbar sein würde, vorbereiten können: Als Naturwissenschaftler doch etwas realer denkend, musste ich mir sagen, dass trotz dieser imponierenden und heroischen Haltung der ‚Zusammenbruch‘ kommt, und dann ist im Gegensatz zur offiziellen Propaganda eben nicht das absolute Ende da, es gibt auch dann ein ‚Morgen‘, und es gibt auch dann eine Bevölkerung, die in irgendeiner Form geführt werden muß, um die man sich sorgen muß, und es muß auch, und das schien mir das wichtigste, ein fugenloser Übergang der einen Macht an die andere möglich sein. Wie anders das Bild draußen im Land, abseits von solchen strategischen Überlegungen. Dort herrschten in weiten Kreisen Not und

Während des schweren Bombardements der Stadt Graz am Karsamstag 1945

StLA

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Entbehrung, die Angst um Söhne, Männer und Väter an der Front, die Angst vor Bombardements bis in kleinste Ortschaften und Weiler, die Angst der Schulkinder auf dem Schulweg vor Tieff liegerangriffen und die von der Propaganda geschürte Angst vor den heranrückenden „Bolschewisten“. Das alles war noch nicht schlimm genug. Die Judentransporte durch die Steiermark mit über 600 dokumentierten Opfern alleine innerhalb der Grenzen des heutigen Bundeslandes, und in ihrem ganzen Schrecken kulminierend im Massaker am Präbichl, begangen an 220 Menschen,56 hinterließen bei vielen Augenzeugen ihre tiefen Spuren in Gedächtnis und Gemüt. Der Pischelsdorfer Pfarrer berichtete dazu:57 Am Charfreitag und Charsamstag, 30. und 31. März, wurden die ersten Judentransporte von Ungarn durchgetrieben. Eine fast verhungerte Masse, die noch von der Führung auf das Übelste behandelt wird. Wer diesen Armen einen Apfel oder ein Stück Brot geben will, wird zusammen geschrien und bedroht. Am Charsamstag Abends kam ein solcher Zug in den Ort. Bei der Straßenschleife beim Göllesschmied wurde auf dem Feld der Pfarrpfründe gelagert. Es war empfindlich kalt. Die ganze Nacht brannten die Feuer, keine Freudenfeuer des heraufziehenden Ostersonntags, sondern Sinnbilder des furchtbaren Weltenbrandes, der dem Ende zugeht. Hanns Koren schilderte in seinem Buch „Momentaufnahmen“ im Zusammenhang mit diesen Judentransporten über das Reagieren seiner Mutter:58 Die Umstände haben es nicht erlaubt, die Szene aufzunehmen, und denen, die sie miterlebten, war wohl auch nicht daran gelegen. Es war im Spätwinter des Jahres 1945. Ein Judentransport wurde durch Köflach geführt. Nicht auf der Hauptstraße, sondern den Ortsrand entlang und so auch durch die Griesgasse, in der unser Hei-

459

mathaus steht, zog die Schar der Hoffnungslosen, müde und erschöpft. Alte und Junge, Frauen und Kinder, denen Durst und Verlangen nach Labung aus den stummen Zügen sprach. Unsere Mutter stand am Gartenzaun, als die schweigende Kolonne vorüberzog. Und ihr Engel führte sie in den Keller und half ihr, einen großen Korb mit Äpfeln herauszuholen, und als die bittenden Hände die Last des Korbes abgenommen hatten holte sie wieder einen und wieder einen, bis der Zug, der kein Halten kannte, in Richtung Salla und Obersteiermark verschwunden war. Das ist das Bild, das auf keinem Film und keine Platte festgehalten wurde, aber es bleibt dennoch eines der schönsten und besten, das ich von meiner Mutter besitze. Nicht alle Juden gelangten von Köf lach aus über den Sallagraben und das Gaberl noch bis in die Obersteiermark. Pfarrer Hysel aus Salla berichtet in seinen Aufzeichnungen über diesen Transport, am 9. April 1945 sei eine große Zahl ungarischer Juden wie eine Viehherde durch Salla getrieben worden. Sie hatten tagelang nichts mehr zu essen bekommen als das, was ihnen am Wegrand heimlich zugesteckt wurde. Viele konnten vor Erschöpfung einfach nicht mehr weiter. Einer der Juden starb infolge seiner Entkräftung unterhalb des Gaberls, ein anderer wurde einfach erschossen und auf Höhe des „Wassertrögels“ von Wegarbeitern begraben. Zwei weitere Juden wurden beim „Stübler“ erschossen. Unterwegs sammelten die völlig ausgehungerten Juden Schnecken, rissen am Wegrand Grasbüschel aus, um etwas zu essen. Ein Jude, der am Sallaer Dorf brunnen trinken wollte, wurde von Einheimischen daran gehindert, indem sie ihm mit einem Prügel auf den Kopf schlugen.59 Noch einen ganzen Monat sollte es dauern, bis der Spuk des „Dritten Reiches“ beendet war. Vor der Bevölkerung der Steiermark lagen aber

460

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

noch Angst und direkte Kriegseinwirkungen. Im oststeirischen Birkfeld notierte der Pfarrer:60 13. 4. nachmittags werden alle Glocken geläutet als Alarmsignal dafür, dass die Russen in unmittelbare Nähe herangekommen sind und in Stunden schon der Kampf um Birkfeld losbrechen kann. „Der Iwan“, Bezeichnung für russische Armee, ist in Krennschlag! Diese Schreckenskunde durcheilt den Ort; einer sagt dem andern: was tun? Viele fliehen und verlassen den Ort, gehen zu den höher gelegenen Bauerngehöften. Niedergeschlagenheit, höchste Spannung und Erregung hat sich aller bemächtigt. Geschütze feuern allenthalben in Feindrichtung. [...] Den Russen gelingt es nicht, Birkfeld zu erobern. Sie sind in den Bauernhäusern verschanzt, halten die armen Bewohner in Schach, sie dürfen keine Bewegung machen. Alles ist wie ausgestorben. Allmählich gehen die Gehöfte von Krennschlag in Flammen auf, die einen durch das Beschießen der verschanzten Russen mit „Leuchtspurmunition“ um sie auszuräuchern, die anderen werden von den Russen beim Zurückweichen in Brand gesteckt (nach deutschem Beispiel). [...] Am 17. 4. war die Lage für den Markt als sehr „kritisch“ bezeichnet worden und man befürchtete das Eindringen des Feindes. In diesem Falle wäre der Ort ein Trümmerhaufen geworden, da es der deutschen Artillerie ein leichtes gewesen wäre, dem Feind diesen Stützpunkt zu verleiden durch Beschießung mit schweren Geschützen. Gott sei Dank, es kam anders. Durch Bedrohung aus der Flanke jedenfalls, durch Vordringen von Gebirgsjägern von Krieglach aus wurde der Feind zum Rückzug ins Wechselgebiet gezwungen. Aus dem Feistritzwald aber war er nicht mehr zum herausbringen. Birkfeld atmete wieder auf. Wieder kam der Troß hieher. Hier war Hauptverbandsplatz. Viel schwerer zu leiden hatte unter anderem die nördlich von Birkfeld gelegene Gemeinde Strallegg, wo insgesamt 21 Gebäude ein Raub

der Flammen wurden. Der pensionierte Pfarrer Anton Kohl verfasste im Dezember 1959 eine Erinnerung an diese Geschehnisse. In diesen heißt es unter anderem:61 16. April. Einzug der Russen im Dorf Strallegg. Nach dem die Russen ober dem Dorfe gelagert hatten, rückten sie am Montag, um ½ 8 Uhr hier ein. Viele, viele! Hieher kamen sie über die ­Höhen von den Wetterkreuzen, Toten Mann und vom Kreuzwirt. In Pacher wurde ein Bauer mit seiner Tochter im Freien erschossen. Im Dorfviertel 2 ledige Burschen, auch im Freien. 2 Bauern fielen als Volkssturmmänner in der Nähe ihrer Häuser. 17. bis 19. April. Die Russen bauen ihre Stellungen und Wege aus. Es folgt ein Durchsuchen der Häuser, angeblich nach deutschen Soldaten und Waffen, Radios. Und ein Suchen und Schänden der Frauen und Mädchen. Ganz entgegen der Proklamation des russischen General Tolbuchin ging es her. [...] Das war grauslich! Die bei dieser Gelegenheit Geschwängerten liessen sich die Kinder abtreiben. Hier auch einige! – Ein Arzt aus Fürstenfeld hat gesagt, er habe wohl ein paar Tausend abgetrieben! Drum haben wir hier keine junge Russen. [...] Am Donnerstag, 19. April, wurde an der nervösen Haltung der Russen der kommende Gegenangriff bemerkbar. Es war am Nachmittag wie ein schwüler Sommertag. 20. April. Man weiß im Dorfe ja nichts, was die Deutschen vorbereiten. Ich selber werde zur Kommandantur gerufen. Sie bringen mich auf einen Gefechtstand, sagten sie. Dann wurde ich auf einen Trainwagen gesetzt und in Richtung ­Wetterkreuze verschleppt. Es war die Sorge der Russen, ich könnte ein Spion für Hitler sein. Das war so um 10–11 Uhr. Es ging mitten durch die weichende Front. 2 Stunden später war das Dorf von Russen frei. Die Russen wurden gegen Waldbach-Vorau zurückgeworfen. Hieher kamen sie im Kriege nicht mehr zurück.

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

461

Drei Tage später erlitt der oststeirische Marktf lecken Pischelsdorf, wo damals gerade eine starke deutsche Panzerabteilung stationiert war, den ersten Luftangriff. Der Pfarrer berichtete darüber:62

war gerade bei den Sekreten, der Altar war mit Glassplittern und Mörtelstücken übersät. Die Staubwolke war so stark, dass die Kirchenbesucher, die rückwärts standen, den Altar nicht sehen konnten.

Der 1. schwere Angriff auf den mit Autos vollgepfropften Ort erfolgte am 23. April zwischen 2 und 3 Uhr nachmittags. Durch 20 Minuten prasselten die Bordgeschosse und kleine Bomben auf den Ort nieder. [...] Am Sonntag, den 29. April, erhielt Pischelsdorf zwei Angriffe, den 1. während des Frühgottesdienstes. Die Kirchenbesucher drängten sich unter das Kirchenchor und die Seitengänge zusammen. Ein anwesender Soldat half dem Dechant, die Leute zu beruhigen und sowie es möglich war, die Leute in den Kirchenkeller zu bringen. [...] Während des Spätgottesdienstes brausten die Flieger wieder heran. Bei diesem Angriff wurden die schönen Fenster der Erzengel Gabriel und Michael durchschossen. Der Priester

Sogar stille, abgelegene Talschaften des Landes wurden nun, Anfang Mai, in den Strudel der Ereignisse gerissen. Der Rückzug deutscher Wehrmachtsverbände über die Weststeiermark und das Gaberl in Richtung der „rettenden Engländer“ hinterließ auch im Bezirk Voitsberg seine Spuren. Die Pfarrchronik von Graden vermeldet darüber:63 Anfang Mai war es auf der Salla-Straße fast unmöglich, weiterzukommen, weil dort lange Trainkolonnen, Militär zu Pferd und zu Fuß auf dem Rückzug nach dem Westen war. Alles suchte, den Russen zu entkommen und den langsam durch Kärnten vorrückenden Anglo-Amerikanen sich zu ergeben.

Götterdämmerung In den dramatischen Stunden des 8. Mai trug sich an der nordöstlichen Grenze der Steiermark, am Semmering, das Kriegsende direkt an der Front zu. Am Sonnwendstein war zu diesem Zeitpunkt unter dem Kommando des Landwehr-Oberleutnants Karl Dittrich eine Luftwaffenkompanie bereits seit vier Wochen im Abwehrkampf gegen Sowjettruppen eingesetzt. Dittrich schilderte die letzten Stunden des Zweiten Weltkrieges aus seiner Sicht sehr ausführlich. Am 8. Mai war er um 1 Uhr morgens zu einer Lagebesprechung auf die SemmeringPasshöhe befohlen worden, wo ihm die Tatsache der Kapitulation verkündet wurde. Weiter berichtete Karl Dittrich im Originalwortlaut:64

wie es eben in einer Soldatenschlafstube riecht. Der letzte Mief in diesem Krieg! Da liegen sie, die für heute Nacht abgelöst sind, während die anderen Männer draußen in den Erd- und Felsenlöchern weiter in die Nacht horchen und spähen. [...]

Um 04.00 Uhr kommen wir wieder auf dem Sonnwendstein an. Wir treten ins Haus ein. Es riecht,

Wieder ist die tiefe Stimme des Adjutanten zu hören. – Die Absetzbewegung hat nicht erst heu-

Es ist Zeit genug die Züge von dem neuen Geschehnis zu unterrichten. Eine falsche Reaktion darf nicht zu Unvorsichtigkeiten führen. Ohnehin dürfen die Stellungen erst heute Abend geräumt werden. Rund 70 Männer sind es noch, die mir anvertraut sind. Keiner darf in die Hände der Russen fallen. Als ich noch meine Maßnahmen überlege, schrillt um 05.00 Uhr der Fernsprecher zum zweiten Mal in dieser Nacht, die langsam der Morgendämmerung weicht.

462

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

„Und das war das Ende“ lautet kurz und prägnant der Bildtext unter diesem Foto, entstanden am 8. Mai 1945 StLA in Liezen

te Abend, sondern sofort zu erfolgen. Um 06.00 Uhr sammeln in Steinhaus. Eine Nachhut sei noch in der Stellung zu belassen. Sie haben sich anschließend auf dem schnellsten Weg abzusetzen. [...] Es ist eine Rechnung die nicht aufgeht. Um 06.00 Uhr soll die Kompanie in Steinhaus sein, die sich jetzt um 05.00 Uhr noch in drei Stellungen befindet, die insgesamt 1200 m auseinander liegen. Die Züge geräuschlos herausziehen, Waffen und Munition laut Divisionsbefehl mitnehmen und vor dem Gefechtstand sammeln, kann nicht in wenigen Minuten geschehen. Steinhaus ist selbst im Eilmarsch nicht unter einer Stunde zu erreichen. [...] Um 06.15 stehen meine Männer abmarschbereit. [...] Um 06.30 verlassen wir den Sonnwendstein, den Schicksalsberg einer Luftwaffen-Alarmkompanie. Die Artilleristen sind bereits abgezogen. Die Gebirgsjäger sammeln noch. Kaum einer spricht, als wir absteigen. Jeder ist zu sehr mit sich

selbst beschäftigt und versucht, sein eigenes Schicksal in das neue Geschehen einzuordnen, wobei sicher alle an die Heimat und Familie denken. Die einen aus dem Osten ahnen, dass ihr Land für alle Zeiten verloren sein wird und sie nicht dorthin heimkehren können. Die anderen, die ihre Heimat im Westen haben, bangen im Nichtwissen, was die über deutsches Land hinweg fegende Kriegsfurie alles zerstört hat. In den Fatalismus, der sich in den letzten Wochen mancher Männer bemächtig hat, mischt sich aber heute doch ein Funken Freude. Ein Aufatmen geht durch die Brust eines jeden. Keiner muß mehr in die Löcher. [...] Nach 20 Minuten erreichen wir die Hubertushütte. Sie ist leer. Kein Verbindungsmann wartet auf uns. Nur einige Nachzügler unserer Nachbarkompanie schließen sich uns an. Ich hatte schon gehofft, daß das Absetzen vom Feind nicht bemerkt worden ist. [...] Wir sind noch 100 m von der Enzianhütte entfernt als nochmals starkes Artilleriefeuer aus allen Rohren der im Raum Gloggnitz und Kirchberg liegenden Russen losgeht und den Semmeringsattel zum Ziel hat. Ich leite meine Kompanie auf einen kürzeren, aber schwierigeren Weg direkt nach Steinhaus, am Semmering vorbei. Kurz vor Steinhaus erhalten wir aus Richtung Dürrgraben Gewehrfeuer. Wir gehen hinter dem Bahndamm in Deckung, in dessen Schutz wir den Bahnhof erreichen. Überall nur Nachzügler. Kein Stab, kein Troß, kein Melder mehr da. Mit dem Troß war auch die Verpflegung fort. Unser Gepäck, das hier seit dem 8. April aufbewahrt war, liegt ausgeplündert herum. [...] Ausgehungert und ausgefroren stehen wir am Bahnhof Steinhaus. Hier wartet aber das große Glück auf die letzten Männer der Kampfgruppe. Hier steht noch ein Zug mit den letzten Personenund Güterwagen, an der Spitze eine Lokomotive, dem Feind abgekehrt, dazu noch einige Eisenbahner, die alles aufladen, was noch daher kommt. Auch die Kompanie vom Sonnwendstein.

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Endzeitstimmung herrschte während dieser Stunden auch in der Grazer Burg. Unter dem 7.  Mai notierte Gauhauptmann Armin Dadieu:65 Ich schlug Ui66 vor, nun doch eine provisorische Landesregierung für die Steiermark vorzubereiten, und dazu die Verbindung mit den ehemaligen sozialdemokratischen und christlichsozialen Funktionären aufzunehmen. Der Oberbürgermeister Dr. Kaspar67 war mit einigen Leuten persönlich bekannt. Ui war einverstanden. [...] Schließlich kam die Besprechung bei Ui mit Kaspar. Sie war nur kurz, und er wurde gebeten, mit Machold, Rückl und Dienstleder Verbindung aufzunehmen. Die Herren mögen sich bemühen, eine provisorische Landesregierung zu bilden und uns Mitteilung machen, wenn diese gelungen war. Wir saßen noch eine Stunde beisammen, dann kam die alarmierende Nachricht durch, welche die Lawine auch in der Steiermark ins Rollen brachte; genau 24 Stunden war es her: Gesamtkapitulation und Mitteilung dieser Kapitulation an die Heimatverbände sowie an die an der steirischen Ostfront kämpfenden Truppen. [...] Als ich am Morgen des 8. Mai erwachte, war mir klar dass nun die Krisenstunde nahte. [...] Ui war nach diesen entsetzlichen Wochen und der Verantwortung, die er trug, am Ende seiner Kräfte. Auch lastete der Zusammenbruch, dessen bloße Vorstellung er sicher die schwere Zeit hindurch mit brutaler Kraft unterdrücken musste, nun so auf ihm, dass er schon in der letzten Nacht fast apathisch schien. [...] Nicht auszuhalten und quälend war das schöne Wetter. Eine Perlenkette wunderbarer Frühlingstage war dahingegangen, und auch heute flutete die Sonne durch die dicken weißen Blütenbäume unseres Gartens. Die Vögel schmetterten ihren Frühlingsjubel in die laue Luft, und ein blanker

463

blauer Himmel spannte sich über die Stadt. Ich brach auf zur Burg. Dort betrat ich das Zimmer des Gauleiters, ihn zu fragen, was er vorhabe. [...] Ich sagte, auf der Liste der Geiselerschießungen stand so und so oft gezeichnet Uiberreither. ‚Wenn ich dir als Freund etwas sagen kann‘, sagte ich weiter ‚hast du zwei Möglichkeiten. Die eine ist die, dir an diesem Schreibtisch eine Kugel durch den Kopf zu schießen, und die zweite ist, dich auf den letzten Lkw der abziehenden Waffen-SS zu setzen und möglichst bald aus dem Gau Steiermark hinauszugehen; schon in Kärnten kennt dich kein Mensch mehr von Angesicht zu Angesicht.‘ Er hat sich dann bereit erklärt, sich in den letzten Lkw der Waffen-SS zu setzen und ist an diesem Morgen, es dürfte meines Erachtens ½ 11 Uhr gewesen sein, aus Graz abgefahren. Sodann habe ich die vorbereitete Rede durch den Rundfunk gehalten, der sie jede Viertelstunde durchgegeben hat. [...] Andere große und kleine steirische Funktionäre der NSDAP wählten am 8. Mai 1945 im Gegensatz zur Flucht des Gauleiters sehr wohl die Kugel, den Strick oder das Gift. Genaue Untersuchungen und Zahlen über diese Selbstmordwelle im Land liegen bislang noch nicht vor, es dürfte sich aber vorsichtig geschätzt wohl um hunderte Personen gehandelt haben, die am Ende des „Dritten Reiches“ am 8. und 9. Mai 1945 alleine in der Steiermark den Freitod wählten oder von ihren nationalsozialistischen Eltern mit in den Tod gerissen wurden. Selbstmorde von Hitlergegnern standen am Beginn des „Dritten Reiches“ in Österreich, Selbstmorde von Hitlerbefürwortern am Ende dieser dunklen Geschichtsperiode. Dazwischen trugen sich über eine Million größtenteils namenlose Einzelschicksale zu, von der Begeisterung bis zur Ernüchterung.

464

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung

Anmerkungen Dieser Beitrag wurde im Jahr 2008 abgeschlossen. Andics, Staat 288. 2 Tomkowitz/Wagner, „Anschluss“ 328. 3 StLA, BH Voitsberg, K. 205, Gr. 14/1938, Akte 14 LA 38, Bericht des Gendarmeriepostens Köf lach an den Landrat, 28. 3. 1938. 4 Erinnerungen der ehemaligen Trafikantin Anna Handler, Steinhaus am Semmering, dem Verfasser mitgeteilt im Rahmen eines Interviews am 13. 12. 1985. 5 Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 31–74 (bes. 65). 6 Reismann, Briefverkehr 263–318 (Briefe vom 26. und 28. 2. 1938). 7 Schutzcorps, Arbeiter-Wehrverband der Vaterländischen Front. 8 Diese Grazer Beobachtung wird auch für andere Teile der Steiermark bestätigt. So kam es laut den Akten der Gruppe 14 der Bezirkshauptmannschaft Voitsberg (Expositur der BH Graz) um den 20. 2. 1938 in Voitsberg und Köf lach zu ganz ähnlichen Aufmärschen und Szenen. Die in Graz lebende Französin Héléne Grilliet wiederum berichtete am 1. 3. 1938: Bei einer nationalen Kundgebung auf dem Hauptplatz habe ich eine Schar von Halbwüchsigen mit dem Sowjetstern gesehen. Wenn es so weiter geht, kommt es, fürchte ich, zu schweren Zusammenstößen. Aus: Grilliet, Tagebuchblätter 24. 9 Höller, Nazi-Avantgarde 5f. 10 Reismann, Briefverkehr 263–318 (Postkarte vom 22. 2. 1938). 11 Abkürzung für „Vaterländische Front“ und „Nationalsozialisten“. 12 Gedye, Bastionen 245f. 13 Grilliet, Tagebuchblätter 20. Héléne Grilliet, später verehelichte Haluschka, wurde am 10. 12. 1892 im französischen Montbéliard geboren, kam 1909 zur Ausbildung in der deutschen Sprache nach Graz und ehelichte hier den Rechtsanwalt und ­Fotopionier Dr. Hugo Haluschka. Sie verfasste zahlreiche Romane, Novellen und Essays und führte nach 1945 mit ihren Töchtern einen Salon, in dem sich Nationen und Konfessionen versöhnend begegneten. Häufig vertreten waren dort Weihbischof Leo Pietsch und der Grazer evangelische Pfarrer Sepp Meier. Die Autorin, 1959 mit dem Peter-RoseggerLiteraturpreis des Landes Steiermark ausgezeichnet, verstarb am 18. 12. 1974 in Graz. Zum Vergleich: Brunner, Stadtlexikon 183. 14 Grilliet, Tagebuchblätter 24. *

15

1

16

17

18

19

20

21 22

23

24 25

26

Grilliet, Tagebuchblätter 59. Reismann, Briefverkehr 263–318 (Postkarte vom 4. 4. 1938, Postkarte vom 19. 5. 1938). Hitler begann am 3. 4. 1938 in Graz seine Städte­tour durch Österreich. Der von Franz Schöberl geschilderte düstere Blick Adolf Hitlers dürfte allerdings nicht so sehr auf die Begebenheit mit den Grazer Frauen zurückzuführen sein, sondern hauptsächlich auf die Tatsache, dass in Graz massive ­Attentatsangst herrschte. Morddrohungen gegen Adolf Hitler waren laut geworden. Zum Vergleich: Schöpfer, Das Jahr 1938, 81. – Interessant ist im Vergleich mit Schöberls Wahrnehmung die Textpassage bei Grilliet, Tagebuchblätter 64. Dort heißt es: Seine Blässe fällt mir auf, die Züge sind wie aus weißem Marmor gemeißelt, aber einem Marmor, den ein inneres Licht durchschimmert. Schwerer Ernst, fast Wehmut liegt in diesem Antlitz [...]. Mich dünkt, der Führer wäre, hätte er im Mittelalter gelebt, der Magie angeklagt worden. Interessant ist weiters, dass ein anderer Zeitzeuge des 3. 4. 1938, der gebürtige Grazer Hans Dichand, für Hitlers Benehmen und Haltung ganz ähnliche Worte fand. Er schrieb darüber: Seine marmorne Blässe fällt mir auf und sein scharfer Blick. Ein unheimlicher Ernst umgibt diesen Mann, der sich ganz offensichtlich dazu auserwählt fühlt, in die Geschichte einzutreten. Wie ein Magier wirkt er – vielleicht hätte man im gottnahen Mittelalter das Dämonische an ihm früher erkannt [...]. Aus: Dichand, HakenkreuzSchmied 85. – Die frappierenden Ähnlichkeiten mit dem um 49 Jahre älteren Text Héléne Grilliets sind wohl „völlig zufällig und sicher nicht beabsichtigt“. Chronik der Volksschule Spital am Semmering, 1939. StLA, BH Bruck an der Mur, K. 249, Gr. 14, Akte 14 – V1-1939, Bericht des Gendarmeriepostens Kapfenberg vom 5. 9. 1939. StLA, BH Voitsberg, Gr. 14, K. 252, Akte 14Sa12/39. DAG, Pfarrchronik Graden, 352. StLA, BH Voitsberg, Gr. 14, K. 252, Gr. 14 R–St/1939, Bericht des Gendarmeriepostens Bärnbach vom 20. 11. 1939. StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gr. 14/1941 Wi, Bericht des Postens St. Martin am Wöllmißberg, 20. 8. 1940. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 391. Reismann, Briefverkehr 263–318 (Brief vom 25. 4. 1941). Dr. Roland Berger, Jurist, ein Freund der Familie Schöberl.

Reismann / Von der Begeisterung zur Ernüchterung 27

28

29 30

31

32

33

34

35 36 37

38

39

40 41

StLA, BH Voitsberg, K. 205, Gr. 14, Wi 41, Bericht des Gendarmeriepostens Maria Lankowitz an den Landrat Voitsberg, 23. 7. 1941. StLA, BH Voitsberg, K. 204, Gr. 14, Wi 41, Bericht des Gendarmeriepostens Maria Lankowitz an den Landrat Voitsberg, 23. 7. 1941. DAG, Pfarrchronik Graden, 356. Reismann, Briefverkehr 263–318 (Postkarte Nr. 764 vom 9. 12. 1942). Reismann, Briefverkehr 263–318 (Postkarte Nr. 838 vom 16. 3. 1943). Reismann, Briefverkehr 263–318 (Postkarte Nr. 852 vom 7. 4. 1943). StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gr. 14, Wi 41, Bericht des Gendarmeriepostens St. Martin am Wöllmißberg an den Landrat Voitsberg, 24. 3. 1943. StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gr. 14, Wi 41, Bericht des Gendarmeriepostens St. Martin am Wöllmißberg an den Landrat Voitsberg, 24. 5. 1943. DAG, Pfarrchronik Kainach, 1943. Leitner, Pfarrchronik Salla 133. StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gr. 14, Wi 41, Bericht des Gendarmeriekreispostens Voitsberg an den Landrat Voitsberg, 29. 8. 1943. StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gr. 14, Wi 41, Bericht des Gendarmeriekreispostens Voitsberg an den Landrat Voitsberg, 29. 8. 1943. Reismann, Briefverkehr 263–318 (Postkarte Nr. 877 vom 5. 5. 1943). Franz Schöberls Ehefrau namens Hermine. Als m 2 bezeichnete Franz Schöberl seit Sommer 1943 in seinen postalischen Nachrichten verschlüsselt je nach Bedarf die Nationalsozialisten oder auch die NSDAP. Beim erwähnten Prediger handelte es sich mit ziemlicher Sicherheit um Monsignore Josef Schneiber, der am 7. 1. 1908 in Weißenbach an der Enns geboren worden war. Nach seinem Theologiestudium wurde er während des Zweiten Weltkrieges zum Leiter des Bischöf lichen Seelsorge­werkes und des Katholischen Studentenhauses in der Leechgasse sowie später des Bildungshauses Mariatrost und

42 43

44

45

46 47 48

49

50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61

62 63 64 65 66 67

465

schließlich Regens des Grazer Priester­seminars. Erfüllt vom Geist der Neulandbewegung wurde Schneiber auch zum bedeutenden Volksbildner und zum Förderer der zeitgenössischen ­Sakralkunst. Er verstarb am 16. 1. 1964 in Graz. DAG, Pfarrchronik Pischelsdorf, 1944. StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gr. 14, Wi-1/1940, Bericht des Gendarmeriepostens Stallhofen, 27. 11. 1944. StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gr. 14, Wi-1/1940, Bericht des Gendarmeriepostens Ligist, 27. 11. 1944. StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gr. 14, Wi-1/1940, Bericht des Gendarmeriepostens Ligist, 25. 11. 1944. Leitner, Pfarrchronik Salla 134. DAG, Pfarrchronik Pischelsdorf, 1945. StLA, BH Hartberg, Gr. 14, Akte 14-V1/1945, Bericht des Gendarmeriepostens Vorau, 5. 2. 1945. StLA, BH Hartberg, Gr. 14, Akte 14-V1/1945, Bericht des Gendarmeriepostens St. Johann bei Herberstein, 9. 2. 1945. DAG, Pfarrchronik Pischelsdorf, 1945. Brunner, Die Bombentoten von Graz 103–239. Brunner, Bomben auf Graz 374f. DAG, Pfarrchronik Mooskirchen, Band 3, 41. DAG, Pfarrchronik Kainach 1945. Dadieu, Aufzeichnungen 323–341. Halbrainer, Todesmarsch Eisenstraße. DAG, Pfarrchronik Pischelsdorf, 1945. Koren, Hanns Koren Gesamtausgabe 63. Leitner, Pfarrchronik Salla 145. DAG, Pfarrchronik Birkfeld, 119. DAG, Pfarrchronik Strallegg, Bericht vom 16. 12. 1959. DAG, Pfarrchronik Pischelsdorf, 1945. DAG, Pfarrchronik Graden, 360. Brettner, Semmering-Gebiet 99f. Dadieu, Aufzeichnungen. Gemeint ist damit Gauleiter Sigfried Uiberreither. Der Grazer Oberbürgermeister Dr. Julius Kaspar.

Elke Hammer-Luza

Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit*

Die deutsche Frau – Wunschbild und Wirklichkeit Auch wenn das nationalsozialistische Frauenbild in vielem uneinheitlich ist und vor allem während der Kriegsjahre einige Veränderungen durchlief, stand das Ideal der Frau als Mutter und „Hüterin der Familie“ über allem. Unmiss­ verständlich wurde den Mädchen in den Schulen und Jugendorganisationen schon früh klargemacht, was man von ihnen erwartete.1 Joseph Goebbels formulierte es 1933 folgendermaßen: „Den ersten, besten und ihr gemäßesten Platz hat die Frau in der Familie, und die wunderbarste Aufgabe, die sie erfüllen kann, ist die, ihrem Land und Volk Kinder zu schenken.“2 Der Förderung von „rassisch wertvollen“ Eheschließungen und damit zu erwartendem Kindersegen diente unter anderem die Einführung des Ehestandsdarlehens, bei dem für die Geburt jedes Kindes ein Viertel der Darlehenssumme erlassen wurde.3 Sogenannte Bräute- und Mütterschulen, der „Mütterdienst“ der NS-Frauenschaft sowie das Hilfswerk „Mutter und Kind“ der NS-Volkswohlfahrt taten das Ihre, die Frauen auf ihre Rolle vorzubereiten und sie darin nach Kräften zu unterstützen.4 Ihr äußeres Zeichen fand die Überhöhung der Mutterschaft in der Verleihung von Ehrenkreuzen an Frauen, die mehr als vier Kinder geboren hatten. In Graz wurde diese Auszeichnung erstmals im

Oktober 1939 vorgenommen; rund 2.000 Steirerinnen erhielten das sogenannte Mutterkreuz.5 Mit dieser Ideologie ging eine teilweise Verdrängung der Frau aus gewissen Bereichen des öffentlichen Wirtschafts- und Arbeitslebens einher. Höhere, ein gewisses Maß an Intellektualität erfordernde Berufspositionen fand man mit dem Wesen der Frau unvereinbar, statt dessen forcierte man ihre Verwendung in der Land- und Hauswirtschaft sowie im Pf legeund Sozialdienst. Ein genereller Verzicht auf die – vergleichsweise billige – weibliche Arbeitskraft war aber in keinem Fall möglich.6 Der Beginn des Zweiten Weltkrieges machte es notwendig, das propagierte Frauenbild an die realen Gegebenheiten anzupassen. Mit dem Kriegseinsatz vieler Männer mussten ihre Stellen im Arbeits- und Berufsleben nun von Frauen ausgefüllt werden. Das bedeutete, dass sie auch in Bereichen tätig waren, die ehedem als höchst unweiblich galten. Voll Stolz berichteten die steirischen Zeitungen plötzlich von Schaffnerinnen, Rauchfangkehrerinnen und „Werkfrauen“.7 Gleichzeitig warb man um weibliche Arbeitskräfte für die Industrie. Doch die Ehegattinnen von Wehrmachtsangehörigen, die eine relativ hohe Unterstützung vom Staat er-

468

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

Propagandaplakat zum „Einsatz der deutschen Frau im StLA Krieg“, 1942

hielten, zeigten sich nicht sehr motiviert, neben den Belas­t ungen durch Haushalt und Familie in das zunehmend unattraktiver werdende außerhäusliche Erwerbsleben einzusteigen. Auf die Arbeiterinnen warteten schließlich in erster Linie unqualifizierte, unterbezahlte Tätigkeiten. Auch ein eigens eingerichteter „Hausarbeitstag“, der werktätigen Frauen alle vier Wochen gewährt werden sollte, konnte daran nichts ändern. Die Voraussetzungen für eine allgemeine Dienstverpf lichtung der Frauen waren zwar schon seit 1938 gegeben, diese wurde aber letztlich nicht exekutiert. Zwang übte man vor allem bei Angehörigen unterer sozialer Schichten aus, die schon vor Kriegsausbruch berufstätig gewesen waren, während es Frauen aus begüterten Kreisen in der Regel gelang, sich ihrer

Verantwortung zu entziehen.8 Den Bäuerinnen am Land blieb freilich keine Wahl, sie mussten – im bes­ten Fall unterstützt durch eine junge Hilfskraft oder einen Fremdarbeiter – schwerste körperliche Arbeit verrichten. Wie Erzählungen oststeirischer Landarbeiterinnen belegen, blieb dabei von den einstigen hohen Ansprüchen der NS-Ideologie in Bezug auf den Wert der Mutterschaft und des Kindeswohls nicht mehr viel übrig.9 Im Laufe der Kriegsjahre erwies sich der Einsatz der Frauen in den Rüstungsbetrieben als immer dringlicher. Der Reichs­arbeitsdienst der weiblichen Jugend wurde kurzerhand um den Kriegshilfsdienst verlängert, den die „Arbeitsmaiden“ statt in der Haus- und Landwirtschaft mehr und mehr in den Fabriken abzuleisten hatten.10 1943 erließ man eine Meldepf lichtverordnung, nach der sich Frauen zwischen 17 und 45 Jahren nach einem Aufruf bei ihrem Arbeitsamt zu melden hatten, im Jahr darauf sollten sogar die bis zu 50-Jährigen erfasst werden: „Lange hat die Reichsregierung mit der Heraufsetzung der Altersgrenze gezögert. Stets ist es das Ideal des Führers gewesen, die Frauen und Mütter schonend zu behandeln. Aber ein so lange und erbitterter Krieg hat ­seine eigenen Bedingungen.“11 In der Grazer „Tagespost“ kannte man nun keine Zurückhaltung mehr: „Frauen aller Berufe in der Anlernwerkstatt“ oder „Modistin als Vorarbeiterin an der Metallpresse“ hieß es in den Schlag­zeilen.12 Zwischen Theorie und Praxis klaffte freilich eine Lücke, die man sich nicht gerne eingestand. Nur ein geringer Teil der tatsächlich verpf lichtet gewesenen Frauen kam ihrer Schuldigkeit auch nach. Selbst die national­sozialistische Staatsräson stieß hier an ihre Grenzen.

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

469

Die Mühen der Haushaltsführung Der Hausfrau kam in der nationalsozialistischen Propaganda eine überaus wichtige Rolle zu, die im Kriegsverlauf noch zunahm; man sprach ­geradezu von einem „Kampfabschnitt Haushalt“.13 Die Mädchen hatten sich auf ihre zukünftige Lebensaufgabe entsprechend vorzubereiten: Für die Erlernung eines Berufes bzw. für ein Studium war die Absolvierung eines „Pf lichtjahres“ bzw. eines „hauswirtschaftlichen Jahres“ vorgeschrieben. In weiterführenden Kursen und Schulungen sollte die Hausfrau und Mutter lernen, ihre Leistungen in der häuslichen Arbeit zu steigern und zu perfektionieren. Der Kriegsalltag stellte die Frauen allerdings vor Anforderungen, denen sie trotz aller guten Ratschläge nicht gewachsen waren und bei denen auch die Hilfsdienste der NS-Frauen­ schaft keine wirkliche Entlastung bringen konnten.14 In der Steiermark überwog damals noch die Großfamilie, fast die Hälfte der Bevölkerung lebte 1939 in Haushalten, die aus fünf oder mehr Personen bestanden.15 Die Frauen hatten nach der Einziehung der wehrfähigen Männer zum Kriegsdienst die Verantwortung des Hauswesens meist allein zu tragen. Durch den Bombenkrieg war vor allem in den Industriestädten und in Graz ab 1943 an keinen geordneten Tagesablauf mehr zu denken, bei einem Alarm mussten alle Tätigkeiten unterbrochen und die Wohnung verlassen werden.16 Eine der größten Schwierigkeiten, mit denen sich die Frauen im Haushalt konfrontiert sahen, war die unzureichende Energieversorgung. Davon waren in erster Linie die Städte betroffen, allen voran Graz. Aufgrund des Kohlenmangels mussten hier schon im Winter 1942 eine Reihe von öffentlichen Einrichtungen, Gaststätten und Läden vorübergehend geschlossen werden. Hausbrandkohle gab es nur auf Be-

zugsschein, wobei sparsamster Verbrauch der immer kleiner werdenden Zuweisungen eingefordert wurde. Im Juli 1944 hieß es dazu mehr als deutlich: „Wer seine Kohle nicht so einteilt, dass er bis 1. April 1945 das Auslangen findet, muss frieren.“17 In Beratungsstellen der NSFrauenschaft widmete man sich ausführlich dem Thema. Die Vorteile einer kalten Raumluft – insbesondere beim Schlafen – wurden herausgestrichen und die Verwendung spezieller energiesparender Kochtechniken, etwa der Gebrauch der „Kochkiste“, erläutert.18 Man kochte dabei das Essen am Herd nur an und stellte es anschließend in gut verschließbaren Gefäßen in

Plakat mit Anweisungen zum Sparen von Waschmittel StLA und Wäsche („Wäscheweiser Nr. 5“), 1943

470

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

eine Kiste, die mit Matratzen bzw. Holzwolle ausgepolstert war. Hier sollten die Speisen nach einigen Stunden von selbst gar werden.19 Zu Jahresende 1944 brach auch die Versorgung mit Strom und Gas zusammen. Für den Großraum Graz wurden 50-prozentige Gas- und 20-prozentige Elektrizitätseinschränkungen angeordnet, am Vormittag und am Nachmittag wurde der Strom gebietsweise für einige Stunden abgeschaltet. Gleichzeitig verbot man elektrische Zusatzheizungen und wies die Hausfrauen an, auf das Bügeln der Wäsche vorderhand zu verzichten.20 Die täglichen Arbeiten im Haushalt stießen auf immer mehr Hindernisse. Gestaltete sich das händische Waschen und Säubern der Wäsche mit Waschkessel und Waschrumpel schon mühsam genug, so fehlte es nun auch an Seife und Reinigungsmitteln. Man forderte die Haus­ frauen im Gegenzug auf, Knochen zu sammeln, denn „für 5,5 kg abgelieferte Sammelknochen gibt es Seifenbezugsmarken für 1 Stk. Kernseife“.21 Als Alternative zur Seife sollte auch Schlemmkreide dienen, der man ausgezeichnete Eigenschaften attestierte: „Wenn man gezwun-

gen ist, aus der Not eine Tugend zu machen, kommt man nicht selten zu einem gleich guten, manchmal sogar besseren Ergebnis als früher.“22 Fazit blieb, dass trotz vermehrter körperlicher Anstrengung – kräftiges Rumpeln, Schlagen und Bürsten mussten die fehlenden schmutzlösenden Mittel ersetzen – bisherige Standards an Sauberkeit nicht eingehalten werden konnten. Bedingt durch die Kriegswirtschaft waren zudem Gebrauchsgüter, seien es nun Möbel, Küchengeräte oder Geschirr, immer schwerer zu bekommen.23 Um keine falschen Erwartungen zu wecken, wurde 1944 schließlich verfügt, in den Schaufenstern nur mehr jene Waren zu präsentieren, die es tatsächlich zu kaufen gab.24 Als Folge musste das Vorhandene so lange wie möglich verwendet und gegebenenfalls repariert werden. Man beschwor dafür den „technischen Ehrgeiz“ der Frau, für die der Umgang mit dem Werkzeug genauso selbstverständlich werden sollte wie jener mit dem Kochlöffel. Darüber hinaus wollte man die Frauen dazu anregen, kreativ tätig zu werden und fehlenden Hausrat „aus Maisstroh, Holz und Fleckkiste“ ganz einfach selbst herzustellen.25

Sonderfall Ernährung Aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges heraus wussten die Nationalsozialisten sehr gut um die Wichtigkeit der Ernährungssicherung der Bevölkerung. Schon in den dreißiger Jahren hatten sie daher ein Lebensmittelversorgungs­ system entwickelt, das auf mehreren Standbeinen ruhte. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, nämlich am 28. August 1939, wurden die Grundnahrungsmittel rationiert. Die zugestandenen Abgabemengen differierten je nach Altersklasse und körperlicher Arbeitsleistung, in jedem Fall waren sie jedoch geringer bemessen als der bisherige Verbrauch in Frie-

denszeiten. Die Lebensmittelkarten galten in der Regel für jeweils vier Wochen und umfassten anfangs nur einige Produkte; Kartoffeln, Mehl, Obst und Gemüse wurden bis 1941 noch frei verkauft. Im Laufe der Jahre sollten schließlich fast alle Lebensmittel bewirtschaftet werden.26 Ende 1939 erhielt ein Normalverbraucher für vier Wochen zwei Kilogramm Fleisch, etwas über ein Kilogramm Fett, ein Viertel Kilogramm Käse, fünf Eier, fast zehn Kilogramm Brot, ein Kilogramm Zucker und jeweils rund ein halbes Kilogramm Nährmittel sowie Marmelade zugeteilt.27 Der Bevölkerung fiel es al-

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

lerdings nicht leicht, mit den oft diffizilen Bestimmungen der Lebensmittelzuteilungen zurechtzukommen. In der Grazer „Tagespost“ wurden regelmäßig Erklärungen zur Verwendung der Lebensmittelkarten abgedruckt.28 Insbesondere die Handhabung von verschiedenen Zusatzkarten sowie von Marken im Reise- und Gaststättenverkehr machte Schwierigkeiten. Parallel dazu instruierten nationalsozialistische Institutionen, allen voran die NS-Frauenschaft/Deutsches Frauenwerk mit ihrer Abteilung „Volkswirtschaft-Hauswirtschaft“, die steirischen Hausfrauen, wie sie mit dem Gebotenen das bestmögliche Auslangen finden könnten. Die Schlagworte hießen hier: Verbrauchslenkung, Sachwerterhaltung und Sparsamkeit. Durch Beratungsstellen sowie in Form von Kochkursen, Probeessen und Schaukochen sollten die Frauen dazu bewegt werden, vorhandene Lebensmittel optimal zu verwerten und zuzubereiten, ungewohnte Speisen bzw. Ersatzmittel kennen zu lernen sowie saisonal anfallende Produkte schonend und dauerhaft zu konservieren.29 Waren diese Einrichtungen noch Angebote, die freiwillig in Anspruch genommen werden konnten, gab es seitens der natio-

471

nalsozialistischen Regierung auch direkte Eingriffe in die Ernährungsgewohnheiten. Man ordnete feststehende f leischlose Tage an, außerdem wurde jeder zweite Sonntag der Monate Oktober bis März zum „Eintopf-Sonntag“ erklärt. Dieses als typisch deutsch empfundene Gericht stieß in der „Ostmark“ allerdings auf wenig Gegenliebe. Die NS-Volkswohlfahrt kontrollierte die Durchführung der Maßnahmen und kassierte zugleich von den Haushalten die damit ersparten Geldbeträge.30 Bedingt durch diese Strategien, vor allem aber durch die gleichzeitige Intensivierung der heimischen Landwirtschaft sowie durch zahlreiche Importe von Lebensmitteln aus den besetzten Ostgebieten gelang es, die Ernährung der Bevölkerung in den Kriegsjahren weitgehend sicherzustellen. Zu einem ersten Einbruch kam es Anfang 1942, als Herabsetzungen der Lebensmittelrationen um 20 bis 25 Prozent hingenommen werden mussten. Normalverbraucher erhielten für vier Wochen nur noch 1,2 kg Fleisch, 825 g Fett, 125 g Käse und 8,5 kg Brot.31 In den nächsten Jahren wurden selbst diese Rationen weiter gekürzt bzw. die Zuteilungsperioden verlängert. Obwohl die Ernäh-

Falscher Schlagrahm:

Wildgemüseeintopf:

Zutaten: ½ l Wasser, 10 dkg Zucker, 1 Prise Salz, 1 Stückerl Zitronenschale, 4 dkg Grieß, Saft von 1 Zitrone. Wasser, Zucker, Salz und Zitronensaft auf kochen, unter Rühren langsam den Grieß einkochen. Dann die Masse in eine Schüssel geben, den Zitronensaft dazu und mit der Schneerute so lange schlagen, bis sie schneeweiß und locker wie Schnee ist. (Deutsches Frauenwerk, Abt. Volks-Hauswirtschaft)

20 dkg Gerstengrütze oder Hirse, ½ kg Bocksbart oder Brennessel oder anderes Wildgemüse. Die Grütze wird in Fett ­angedünstet, dann füllt man mit Wasser auf und läßt sie halb gar kochen. Dazu gibt man die würfelig geschnittenen Kartoffeln und etwas später das gehackte Wildgemüse, von dem man einen Teil zurückbehält. Kurz vor dem Anrichten gibt man den Rest dazu.

Küchenzettel. In: Tagespost vom 2. Nov. 1941, 4.

Wildgemüse ist gesunde Nahrung. In: Kleine Zeitung vom 30. April 1945, 4.

472

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

rungssituation in der Steiermark schon 1944 überaus angespannt war, blieb zumindest bis Kriegsende eine Minimalversorgung gewährleistet. Am schlimmsten traf der Mangel an Lebensmitteln natürlich die Bewohner der Städte und Industriegebiete, während sich die Landbevölkerung teilweise selbst versorgen konnte. Die Hausfrauen mussten vielfach großen Erfindungsgeist beweisen, um ihren Familien täglich ein sättigendes Mahl vorsetzen zu können.32 Statt Fleisch behalfen sie sich etwa mit Innereien oder sie griffen auf pf lanzliche Nahrungsmittel zurück. Besonders propagiert wurden dabei Pilze, das „Fleisch des Waldes“.33 Überhaupt setzte man große Hoffnung auf bisher ungenützte Ressourcen „aus dem deutschen Wald“. Um den schwindenden Fettreserven zu begegnen, wurde etwa die Buchecker als Ölfrucht entdeckt. Ein Aufruf in der „Tagespost“ versprach, dass jeder Sammler abgesehen vom Preis von 50 Pfennig pro Kilo außerdem noch 200 g Margarine oder Öl erhalten sollte.34 Kritisch war auch die Versorgung mit Eiern. Ersatz

boten einerseits sogenannte Ei-Austauschmittel wie „Milei“, andererseits spezielle Rezepte, in denen jeweils ausgedrückte Semmeln, rohe Kartoffeln oder Milch das Fehlende substituieren sollten.35 Zu einem wichtigen Bestandteil der Ernährung wurde die Kartoffel, bis sie letztendlich ihrerseits durch die Rübe immer mehr ersetzt werden musste. Dementsprechend gab es die Rübe plötzlich in allen nur erdenklichen Zubereitungsarten: Eingesäuert, als Salat zubereitet oder als unvermeidlicher „Rüben-Eintopf “ mit „Grütze“.36 Waren keine Gartengemüse mehr zu haben, lautete die Devise: „Wildgemüse“. Als solches dienten Brennnesseln, Brunnenkresse, Breit- und Spitzwegerich, Schafgarbe oder Huf lattich, um nur einige zu nennen.37 Einziger eingeräumter Nachteil der von der NS-Ideologie hoch gepriesenen vi­ taminreichen Pf lanzen: „Sie sind alle etwas streng im Geschmack, so dass wir unseren zivilisierten Gaumen erst wieder daran gewöhnen müssen.“38

Kleidung und Mode Das nationalsozialistische Idealbild der deutschen Frau verband sich auch mit bestimmten Vorstellungen ihres Äußeren. Man propagierte in erster Linie Natürlichkeit und Schlichtheit. Übermäßiger Schmuck war verpönt; eine Frau hatte sich nicht zu schminken, sondern durch sonnengebräunte Haut und gesundes Aussehen zu gefallen. Ähnliches galt für die Haartracht, bei der man sich Zöpfe, Gretchenfrisur oder Dutt wünschte.39 Sogar der Gauleiter der Steiermark, Sigfried Uiberreither, mischte sich in diese Diskussion, indem er Frauen kurzerhand das Tragen von Dauerwellen verbieten wollte.40 Dieses Bild einer verordneten Biederkeit kontrastierte allerdings beträchtlich mit jenen ele-

ganten, ja mondänen Erscheinungen, die das Publikum gleichzeitig in den steirischen Kinos bewundern konnte – und die nicht zuletzt führende NS-Größen umgaben. Tatsächlich gingen die meisten Frauen nur bedingt auf die nationalsozialistischen Forderungen ein.41 Das zeigte sich auch in der Kleidung: Während die Förderung der Volkstracht in der Steiermark nicht zuletzt aufgrund der bestehenden Traditionen auf weite Zustimmung stieß, gab es gegenüber dem ebenfalls forcierten Tragen von Uniformen und uniformähnlichen Kleidungsstücken starke Vorbehalte.42 Auch die Ablehnung von engen Röcken und Schuhen mit hohen Absätzen wurde nicht durchgehalten.

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

Die 1938 entwickelte Modelinie sollte sich bedingt durch den Krieg fast ein Jahrzehnt lang halten. Praktische und einfache Kleidung war gefragt: In der Damenmode überwogen schlichte Kostüme und Kleider mit breiten Schultern und Röcken, die gerade noch das Knie bedeckten. Falten- und Glockenröcke verschwanden aufgrund der Stoffnot immer mehr, auch auf Verzierungen und Dekors musste zunehmend verzichtet werden. Dunkle und gedeckte Farben waren vorherrschend, auffallend ist daneben die häufige Zweifarbigkeit von Kleidern und Ensembles. Sie entstand durch die notwendig gewordene Kombination und Umarbeitung von alten Bekleidungsteilen zu neuen Kleidungsstücken. In der Garderobe vieler Frauen, die körperlich schwere Arbeit leisteten, wurde nun die Hose unentbehrlich. Als Kopf bede­ ckung diente nach wie vor der Hut, vereinzelt aber auch der Turban, mit dem man zugleich aller Sorgen um die Haarmode enthoben war.43 In Ermangelung von Strümpfen wurden Söckchen getragen, selbst zu eleganten Kostümen und Kleidern. Eine Alternative dazu bot der „Strumpfzauber“, eine durchsichtige braune Flüssigkeit, mit der die Beine gebräunt wurden, um einen Strumpf vorzutäuschen. Die modebewusste Frau balancierte dazu auf Plateausohlen aus Holz oder Kork oder aber man wählte f laches und bequemes Schuhwerk. Wenige Tage vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurde der Erwerb von „lebenswichtigen“ Kleidungsstücken und Schuhen bezugsscheinpf lichtig und damit an den behördlichen Nachweis des entsprechenden Bedarfes gebunden. Im Dezember 1939 löste die „Kleiderkarte“ das Bezugsscheinsystem weitgehend ab. Jede Karte enthielt anfangs 100 Punkte, mit denen man ein Jahr lang auskommen musste. Je nach der Wertigkeit eines Kleidungsstückes wurde eine unterschiedlich hohe Anzahl von Punkten abgezogen, allein für einen Anzug benötigte man 60 Punkte, für ein Kostüm 45

473

Werbeplakat für „Berson-Palma Gummibesohlung“ StLA 1940

Punkte. Die Bevölkerung konnte damit bei weitem nicht das Auslangen finden. Im Laufe der Kriegsjahre wurden die Bestimmungen noch weiter verschärft, die Bewirtschaftung wurde auf vorher ausgenommene Bereiche wie etwa Säuglingswäsche und Säuglingskleidung ausgeweitet, parallel dazu sank die verfügbare Punkteanzahl pro Jahr. Überdies waren viele Artikel nicht mehr erhältlich. Immer wieder unterlagen Waren der Kleiderkarte einer vorübergehenden Sperre.44 Auch an Schuhen herrschte Mangel. Man musste daher andere Möglichkeiten finden, um dringend benötigte Kleidungsstücke zu beschaffen. Das Deutsche Frauenwerk setzte auf den Tauschhandel und richtete ab 1940 sogenannte Schuhumtauschstellen für Kinder und

474

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

Kranke ein. Für den Großraum Graz befand sich eine solche Stelle in der Beethovenstraße, hier wurden in knapp zwei Jahren über 7.000 Paar Schuhe umgetauscht.45 Um beschädigte Kleidungsstücke wieder verwertbar zu machen, überlegte man außerdem die Einrichtung eigener Reparaturbetriebe.46 Vor allem aber appellierte man an die Kreativität der steirischen Frauen, um aus alten, abgelegten Kleidungsstücken neue „zaubern“ zu können. Zur Unterstützung wurden Nähkurse mit dem Grundsatz

„Aus Alt mach Neu“ abgehalten und eigene Beratungsstellen eingerichtet.47 Nichts sollte weggeworfen werden, denn Improvisation war alles: Ein alter Filzhut bot nach Anleitung das Material für ein Paar Kinderhausschuhe oder für warme Einlegsohlen, Schuhsohlen sollten bei Bedarf selbst gef lochten werden.48 Gleichzeitig wurde von der Hausfrau freilich wiederum verlangt, vorderhand nicht verwendete Kleidung einer der zahlreichen „Spinnstoffsammlungen“ zukommen zu lassen.

Freizeit und Unterhaltung Der Nationalsozialismus setzte sich zum Ziel, alle Lebensbereiche des Menschen zu durchdringen. Die Freizeit war davon nicht ausgenommen, ganz im Gegenteil. Robert Ley, der Reichsleiter der Deutschen Arbeitsfront, meinte schon 1933: „Es gilt, in Zukunft auch die Organisation der Freizeit durchzuführen, dass sich alle Arbeitsmenschen nach ihrer Werkarbeit wohl fühlen und Stunden der Erholung und Erbauung finden.“49 Demgemäß setzte man bereits bei der Jugend an und versuchte, sie abseits der Schule an sich zu binden. Die Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend (HJ) war für alle Mädchen und Jungen ab dem 10. Lebensjahr verpf lichtend. Dieser Anspruch konnte allerdings in der Steiermark, vor allem auf dem Land, nicht durchgehalten werden. Es war vorgesehen, dass sich die Kinder und Jugendlichen regelmäßig zu Heimabenden und Sportnachmittagen trafen und Lagerfahrten unternahmen. An diese Jugendverbände schlossen nahtlos die entsprechenden Organisationen für die Erwachsenen an, für die Frauen waren es insbesondere die NS-Frauenschaft/Deutsches Frauenwerk.50 Wesentliche Kontrolle der Freizeitkultur übte auch die Einrichtung „Kraft durch Freude“ aus, deren Angebot von organisierten Gruppenreisen

über Volkssport bis hin zur Erwachsenenbildung reichte. Anlässlich der Werbung für die Volksabstimmung 1938 fanden die ersten, propagandistisch weidlich ausgenutzten KdF-Fahrten für Tausende von Steirerinnen und Steirern nach Deutschland statt.51 Gemäß dem nationalsozialistischen Ideal lag ein besonderes Augenmerk auf der körperlichen Ertüchtigung der Bevölkerung. Nicht alle Sportarten empfand man aber für Frauen geeignet. Als typisch weiblich galten jedenfalls Gymnastik, Boden- und Geräteturnen oder Tanz. Auch nach Kriegsausbruch gab es anfangs noch Zeit und Gelegenheit für Sportveranstaltungen. In verschiedenen Disziplinen wurden sogenannte Kriegsmeisterschaften abgehalten, bei denen Wettbewerbe in kürzester Zeit, oft mit verminderter Teilnehmerzahl, stattfanden. Trotzdem konnten sie beträchtliche Publikumsmengen anziehen, war man doch dankbar für jede Art von Ablenkung.52 Im Winter spielte das Skifahren eine große Rolle. Hier stieß man Ende 1941 aber auf erste Hindernisse. Eine Zeitzeugin aus der Obersteiermark erinnert sich: Dieser Tage erfolgte auch noch der Aufruf, Ski für die Soldaten abzugeben. Außerdem sollte die Bahn nicht für Freizeitaktivitäten genützt werden. Beides schien aber auf

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

475

Ankündigung eines Fußballmeisterschaftsspieles (Sportgemeinschaft Cilli/Celje gegen Postsportverein Graz), April 1943 StLA

die Sportbegeisterten keinen sonderlichen Eindruck zu machen: Aber am 27. 12. war es am Bahnhof zu Stainach bummvoll mit Skifahrern, die der Planai oder der Tauplitz zustrebten.53 Doch die Mobilität der Menschen nahm während der Kriegsjahre sukzessive ab, auch die verfügbare Freizeit wurde immer knapper. Ausweitung der täglichen Arbeitszeiten, Anstieg der Tätigkeiten für Haus und Familie und Heranziehung zu immer neuen Diensten schränkten die Freiheiten der Menschen ein. In den Städten und größeren Orten versuchte man, dem Alltag wenigstens für ein paar Stunden im Kino zu entf liehen.54 Tatsächlich war der Film ein wichtiges nationalsozialistisches Propagandamittel, das von der Führung gezielt verwendet wurde. Mit zunehmender Dauer des

Krieges setzte man vermehrt auf Unterhaltungsfilme. Komödien ohne Tiefgang und prächtig ausgestattete Revuen sollten helfen, die Stimmung der Bevölkerung zu heben. 1944 musste der Betrieb der meisten Lichtspieltheater aufgrund der Kriegsereignisse aufgegeben werden. Mit dem „totalen Kriegseinsatz“ wurden auch die wenigen, noch verbleibenden Unterhaltungsstätten geschlossen, Opern- und Theateraufführungen gab es nicht mehr. Was noch blieb, war das Radio. Die Devise des Programms hieß auch hier: „Gute Laune“. Rund 80 Prozent der Sendezeit widmete man Musiksendungen, umrahmt von Propaganda und humoristischen Beiträgen. Den meisten Steirerinnen und Steirern war dazumal das Lachen freilich schon vergangen.

476

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit

Anmerkungen Dieser Beitrag wurde im Jahr 2006 abgeschlossen und danach nur mehr durch einige Literaturhinweise ergänzt. 1 Vgl. Kather, Mädchenerziehung 27–34; Auer, Bildungsmöglichkeiten; Käfer, Berufs- und Ausbildungssituation. – Zur Umsetzung in der Steiermark vgl.: Schmidlechner/Halbrainer, Aus dem Blickfeld. – Als Überblick über den Stand der Forschung zum Thema Frauen im Nationalsozialismus in der Steiermark vgl.: Schmidlechner, Aspekte einer Geschlechtergeschichte 523–534. 2 Rede von Joseph Goebbels anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Die Frau“ in Berlin. Zit. nach: Schmidt, Frauen unterm Hakenkreuz 74. Vgl. dazu auch u. a.: Wiggershaus, Frauen unterm Nationalsozialismus 15–34. 3 Vgl. Kompisch, Täterinnen 19–27. StLA, ZGS, K.  368: Ehestandsdarlehen und Kinderbeihilfen. Aus der Rede des Staatssekretärs im Reichsfinanzministerium Berlin, Fritz Reinhardt, gehalten in Wien am 30. 3. 1938. 4 Vgl. Dammer, Kinder, Küche, Kriegsarbeit 215– 245; Windeln, NS-Frauenorganisationen 157–169; Schneider, Alltag und Gleichschaltung 312–315. 5 Wir sind stolz auf Euch, Frauen und Mütter. In: Tagespost (2. 10. 1939), 2. 6 Vgl. Tröger, Frau im wesensgemäßen Einsatz 246– 272; Winkler, Frauenarbeit 42–65; Thalmann, Frausein im Dritten Reich 94–104; Kompisch, Täterinnen 34–47; Einöder, Handlungsräume 32–62. 7 Vgl. z. B. Frau Schaffnerin hoch in Form. In: Tagespost (9. 10. 1939), 5. 8 Vgl. Schmidlechner, Frauenbild der NS-Zeit 441– 454; Winkler, Frauenarbeit 102–121; Popelka, Frau im Krieg 18f.; Berger, Zwischen Eintopf und Fließband 68–100; Berger, Militarisierung und Ausbeutung 141–162; Bab, Zwischen Arbeitsschutz und Arbeitszwang 170–181. 9 Kern, Gutenberger Lebensgeschichten 68, 113, 172. 10 Arbeitsmaiden neu dienstverpf lichtet. In: Tagespost (8. 10. 1944), 4. 11 Verstärkter Arbeitseinsatz der Frauen. In: Tagespost (31. 7. 1944), 1. Vgl. Winkler, Frauenarbeit 134– 153. 12 Frauen aller Berufe in der Anlernwerkstatt. In: Tagespost (8. 11. 1944), 4; Modistin als Vorarbeiterin an der Metallpresse. In: Tagespost (1. 12. 1944), 4. 13 Vgl. Hagemeyer, Frau und Mutter 284; Berger, Zwischen Eintopf und Fließband 37f. *

14

15

16

17

18

19

20

21

22 23

24

25

26 27 28

29

30 31

32

Z. B.: Abteilung Hilfsdienst der NS-Frauenschaft/ Deutsches Frauenwerk mit Nachbarschaftshilfe, Nähstubenarbeit oder Flickbeutelaktion. Vgl. dazu: Tidl, Frau im Nationalsozialismus 147–157. Steirische Statistiken. Zusammenleben unter einem Dach. Haushalte, Familien und Wohnungen in der Steiermark von 1800–2050 (1/2000), 20. Vgl. dazu z. B.: Schöpfer, Das Jahr 1945, 668; Schmidlechner, Frauenleben in Männerwelten 17. Einschränkung des Kohlenverbrauches in Graz. In: Tagespost (1. 2. 1942), 7; Sparsamer Verbrauch von Kohle. In: Tagespost (30. 7. 1944), 4. Papier gegen kalte Füße. In: Tagespost (7. 12. 1941), 6; Kalt schlafen. In: Tagepost (1. 2. 1942), 10; Beratungsstelle für Heizungsfragen. In: Tagespost (26. 9. 1944), 4; Seid sparsam mit der Hausbrandkohle. In: Tagespost (6. 10. 1944), 4. Gassparen in der Kochkiste. In: Tagespost (7. 12. 1944), 4. Gas und Strom sparen. In: Tagespost (26. 11. 1944), 4; Änderung der Stromabschaltzeiten. In: Tagespost (21. 1. 1945), 4; So kann man im Haushalt Strom sparen. In: Tagespost (1. 12. 1944), 4. Vom Knochen zur Seife. In: Tagespost (10. 9. 1944), 3. Mit Schlemmkreide? In: Tagespost (1. 2. 1942), 10. Vgl. z. B.: StLA, ZGS, K. 182: Leopold Blaimauer (1873–1947), Meine Erlebnisse in 70 Jahren, 200f. Schaufenster ohne Illusion. In: Tagespost (13. 8. 1944), 4. Die Axt im Haus ... In: Tagespost (11. 1. 1942), 6; Haushaltsgegenstände selbst hergestellt. In: Tagespost (7. 1. 1945), 3; Tidl, Frau im Nationalsozialismus 144f. Verhovsek, System 379f. Schneider, Frauen unterm Hakenkreuz 79. Was man von der Lebensmittelkarte wissen muß. In: Tagespost (8. 10. 1939, 4); Vereinfachungen der Lebensmittelmarken. In: Tagespost (12. 7. 1944), 3. Tidl, Frau im Nationalsozialismus 78–81; Berger, Zwischen Eintopf und Fließband 38–41; Kochberatung des Deutschen ­Frauenwerks. In: Tagespost (19. 8. 1944), 3; Kostproben in der Beratungsstelle. In: Tagespost (20. 10. 1944), 4. Verhovsek, System 375. Vgl. Schneider, Frauen unterm Hakenkreuz 111, 124f.; StLA, ZGS, K. 210: Aigner Margarethe, Tagebuchauszug, Liezen, 1938–1945. Vgl. Hammer-Luza, Alltagsleben in Graz 413– 435.

Hammer-Luza / Alltags- und Frauenleben in der NS-Zeit StLA, ZGS, K. 184: Unsere Pilze. Werkblätter für Kultur-, Bau- und Heimatpf lege im Reichsgau Steiermark. 2. Blatt, 10. 3. 1942; 4. Blatt, 1. 7. 1942; Wir schließen Bekanntschaft mit Pilzen. In: Tagespost (6. 10. 1944), 4. 34 Das Sammeln von Bucheckern. In: Tagespost (27. 10. 1944), 4. 35 Es geht auch ohne. In: Tagespost (9. 11. 1941), 4. 36 Jetzt weiße Rüben für die Vorratswirtschaft. In: Kleine Zeitung (28. 11. 1944), 7; Jetzt weiße Rüben auf Vorrat einlegen. In: Tagespost (26. 11. 1944), 4. 37 Wildgemüse ist gesunde Nahrung. In: Kleine Zeitung (30. 4. 1945), 4. 38 Alles verwerten. Ernährungs-Dienst. Bearbeitet vom Reichsnährstand unter Mitwirkung der Reichsarbeitsgemeinschaft für Volksernährung und dem Deutschen Frauenwerk, Abteilung VolkswirtschaftHauswirtschaft. Folge 26 (1940), 17. 39 Vgl. Baumgartner, Körperbild 39f. 40 Vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 486. 41 Vgl. Scheidgen, Frauenbilder 259–284. 42 Vgl. Sultano, Mode unterm Hakenkreuz 54–64; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 486. 43 Vgl. Sultano, Mode unterm Hakenkreuz 18–24. 33

44

45

46

47

48

49

50

51

52 53

54

477

Die fünfte Reichskleiderkarte. In: Tagespost (4. 7. 1944), 6; Bezug von Wintermänteln, Anzügen und Schuhen. In: Tagespost (10. 7. 1944), 3. Siebentausend Paar Schuhe umgetauscht. In: Tagespost (10. 12. 1941), 4. Zerrissene Strümpfe werden wieder neu. In: Tagespost (5. 7. 1944), 3. Tidl, Frau im Nationalsozialismus 143f.; Besuch in der Nähstube des BDM. In: Tagespost (23. 7. 1944), 4; Vom Knopf bis zum selbstgeschneiderten Kleid. In: Tagespost (27. 7. 1944), 4. Filzhut – verwandelt. In: Tagespost (19. 10. 1941), 4; Die warme Einlegsohle. In: Tagespost (21. 12. 1941), 6; Selbstgef lochtene Sohlen. In: Tagespost (15. 2. 1942), 6. Zit. nach: Schneider, Frauen unterm Hakenkreuz 39. Vgl. zu diesen Organisationen u. a.: Benz/Graml, Enzyklopädie des Nationalsozialismus. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 266f. Jaritz, Leibesübungen 152f. StLA, ZGS, K. 210: Aigner Margarethe, Tagebuchauszug, Liezen, 1938–1945. Jeder Grazer war 15mal im Kino. In: Tagespost (18. 1. 1942), 5.

Elisabeth Schöggl-Ernst

Das Ende der persönlichen Freiheit: Zwangsarbeit und Kriegsgefangenschaft*

Zwangsarbeiter Die Steiermark wurde von der deutschen Wirtschaft als wichtiges Industriegebiet betrachtet, besonders im Hinblick auf die Rüstungswirtschaft. Überschüsse in der landwirtschaftlichen Produktion, Rohstoffe, allen voran das Eisen vom Erzberg, aber auch Talk, Magnesit und Holz sowie die Funktion als Landbrücke nach Südosteuropa weckten das Interesse an der Steiermark. Mit Kriegsbeginn wurden 82 Firmen in Rüstungsbetriebe umgewandelt und ihre Produktion angekurbelt. Dadurch wurde der Einsatz von vielen Arbeitskräften notwendig, der nicht vom heimischen Arbeitsmarkt gedeckt werden konnte. Der Einsatz von Fremdarbeitern war erforderlich, allen voran Zwangsarbeiter, die sich aus Kriegsgefangenen, zivilen Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen zusammensetzten. 1944 beschäftigte die steirische Rüstungsindustrie mit den Zulieferungsbetrieben rund 130.000 Menschen; davon waren mehr als ein Drittel KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.1 Hierarchie der Zwangsarbeiter nach rassistischen Vorstellungen Für die Behandlung von Zwangsarbeitern war nicht ihr rechtlicher Status, je nachdem, ob sie

als Kriegsgefangene, als Zwangsverpf lichtete oder als „Freiwillige“ Arbeitsdienst im Reich versahen, sondern ihre geografische Herkunft maßgeblich. An oberster Stelle der Hierarchie standen sogenannte „Westarbeiter“ „germanischer Abstammung“. Dazu zählte man etwa Holländer, Flamen, Dänen und Norweger. Zu den „Westarbeitern“ nicht germanischer Abstammung wurden Franzosen, Elsässer, Lothringer und Luxemburger, aber auch Esten, Letten und ­Litauer gerechnet. Zivile Franzosen kamen entweder freiwillig ins Reich oder infolge von Massenverhaftungen und -deportationen. Dazu kam noch die Gruppe der französischen Kriegsgefangenen. Eine ähnliche Stellung nahmen Fremdarbeiter aus befreundeten Staaten wie Spanien bzw. verbündeten Staaten wie Italien, der Slowakei und Kroatien ein. Entgegen allen rassistischen Vorstellungen vom slawischen Untermenschen, wurden also Kroaten und Slowaken sowie die für „eindeutschungsfähig“ gehaltenen Slowenen aus der der Steiermark angegliederten Untersteiermark nicht als minderwertig betrachtet – auch aus wirtschaftlichen Gründen, weil man z. B. aus Kroatien Rohstoffe bezog. Tschechen aus dem

480

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

Protektorat Böhmen und Mähren erfuhren eine ähnliche Behandlung. Obwohl auch sie Angehörige der slawischen Volksgruppe sind, wurden sie aufgrund ihrer engen Bindung mit der ehemaligen Habsburgermonarchie wie die ­Slowenen als „eindeutschungsfähig“ eingestuft und daher nicht als Untermenschen betrachtet. Bulgaren und Mazedoniern wurden als Kriegsverbündete bessere Arbeitsbedingungen und Kost zugestanden. In all diesen Fällen siegte also die politische und wirtschaftliche Realität über die nationalsozialistische Rassentheorie. Mit dem Sturz Benito Mussolinis verschlechterte sich die Situation der Italiener, wonach diese Nationalität gleich wie die Griechen den Status von Militärinternierten einnahm, der sie der Behandlung sowjetischen Kriegsgefangenen gleichsetzte. 1944 wurde ihre Stellung allerdings wiederum in Zivilarbeiter umgewandelt. Zu den „minderwertigen“ Völkern hingegen zählten die Polen. Ebenfalls als „Ostarbeiter“ galten jene Gruppen, die aus Russland, aus der Ukraine, aus dem Generalkommissariat Westruthenien oder aus den östlich daran angrenzenden Gebieten stammten, mit Ausnahme der ehemaligen Staaten Litauen, Lettland, Estland sowie der Gebiete Bialystok und Lemberg.2 An unterster Stelle der Hierarchie standen Juden, Roma und Sinti, für welche ein Arbeitseinsatz in der Öffentlichkeit nicht erwünscht war.3 Rekrutierung von Zwangsarbeitern Mit Ausnahme von Polen verliefen die ersten Anwerbungen von vorerst freiwilligen ausländischen Arbeitskräften über Werbekommissionen des Reichsarbeitsministeriums vor Ort, so etwa in Frankreich 1940. Nach dem Blitzsieg Deutschlands gegen Frankreich wurden im Rahmen der Aktion „Reléve“ zivile Arbeitskräfte gegen französische Kriegsgefangene in deutscher Hand ausgetauscht. Motive für den

freiwilligen Arbeitseinsatz bildeten versprochene höhere Löhne in Zeiten der Arbeitslosigkeit, Prämien und die Aussicht auf eine Facharbeiterausbildung – Hoffnungen, die nicht erfüllt wurden. Ab 1942 erfolgte schließlich die Zwangsrekrutierung ganzer Jahrgänge im Rahmen einer Arbeitsdienstpf licht für Männer und Frauen. Die Zahlen der französischen Zwangsarbeiter differieren. Insgesamt dürften zwischen 753.000 bis 900.000 französische Zwangsarbeiter ins Reich gekommen sein, 65.000 davon nach Österreich. In der Steiermark kamen sie sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie, wie etwa in der Papierfabrik Pöls, zum Einsatz. Die Steiermark verzeichnete aber wesentlich mehr Kriegsgefangene Franzosen als französische Zwangsarbeiter.4 Obwohl die Arbeit bezahlt wurde, wobei, bedingt durch die Rassentheorie, ein starkes West-Ost-Gefälle bei der Entlohnung herrschte, ist auch die erste Phase der Anwerbungen als Zwangsarbeit zu bezeichnen, da die persön­ lichen Einschränkungen vor Ort, die diskriminierenden arbeitsrechtlichen Sonderbedingungen sowie das Anhalten zur Arbeit unter Androhung von Strafe als Zwangsmaßnahmen zu verstehen sind. Ähnlich den Franzosen meldeten sich Italiener aufgrund der herrschenden Arbeitslosigkeit zuerst freiwillig zur Arbeit im Deutschen Reich. Sie wurden vorwiegend in der Landwirtschaft eingesetzt. Der Freiwilligkeit folgten Zwangsmaßnahmen und schließlich nach dem Abschluss des Waffenstillstands mit den Alliierten die Gefangennahme italienischer Soldaten und deren Arbeitseinsatz im Status von Militär­ internierten.5 Als erste Zwangsarbeiter kamen Polen nach dem Überfall 1939 ins Reich und auch in die Steiermark. In Razzien wurden junge Polen gefangen genommen und zur Zwangsarbeit deportiert. Nur einige Zehntausend kamen freiwillig ins Land. Von den im Rahmen des

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

Kennkarte der ukrainischen Zwangsarbeiterin Maria Kowal, im Arbeitseinsatz im Bezirk Judenburg

Polenfeldzuges zu hunderttausenden gefangen genommenen polnischen Soldaten wurde 1940 der Großteil bis auf eine Gruppe von 37.000 in Zivilarbeiter umgewandelt, um die Bestimmungen der Genfer Konvention zu umgehen. Obwohl es sich nach der NS-Rassentheorie um ein „minderwertiges“ Volk handelte, sah man angesichts der fehlenden Arbeitskräfte darüber hinweg und setzte sie als billigen Ersatz ein. 90 Prozent der Polen wurden zu Arbeiten in der Landwirtschaft verpf lichtet. Weil man in ihnen eine Gefahr für die Blutreinheit des deutschen Volkes sah, wurden rigorose Maßnahmen über sie verhängt. Gauleiter Sigfried Uiberreither verordnete am 8. April 1940 über die Behandlung der im Reichsgau Steiermark eingesetzten polnischen Arbeiter, dass sie in der Zeit vom 1. Ok-

481

StLA

tober bis 31. März von 20 bis sechs Uhr ihre Unterkünfte nicht verlassen durften. Der Besuch von Gaststätten wurde ihnen untersagt, ebenso wie die Teilnahme an deutschen kulturellen, geselligen oder kirchlichen Veranstaltungen. In den sogenannten Polenerlässen vom 8. März 1940 wurde zudem ihre Kennzeichnung mit einem sichtbar zu tragenden „P“-Abzeichen und somit einer öffentlichen Diskriminierung verankert. Mit 30. September 1944 befanden sich 30.791 polnische Zwangsarbeiter in der Steiermark und in Kärnten.6 Obwohl sowjetische Arbeiter ursprünglich als „Untermenschen“ nicht in der deutschen Wirtschaft hätten eingesetzt werden sollen, ­nötigte der zunehmende Arbeitskräftemangel zu Zwangsrekrutierungen von „Ostarbeitern“,

482

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

welche als „Sklaven der Deutschen“ die schweren Arbeiten verrichten und vor allem die deutschen Frauen in der Industrie und auch in der Landwirtschaft entlasten sollten. Bereits Ende 1941 begann man daher mit Werbeaktionen in Weißruthenien, allerdings ohne den gewünschten mengenmäßigen Erfolg zu erzielen. Am 21. März 1942 bestellte Adolf Hitler Ernst Friedrich Christoph Sauckel zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz mit dem Auftrag, die Rekrutierungen beträchtlich zu erhöhen und die geforderten Anwerbequoten zu erfüllen, wofür er uneingeschränkte Vollmacht erhielt. In vier „Sauckel-Programmen“ kam es zu Massendeportationen von Arbeitskräften aus dem Norden und Westen, aber vor allem aus dem Osten. Bereits Ende Juli teilte Sauckel Hitler in einem Schreiben mit, dass er die Rekrutierung der geforderten 1,6 Millionen Arbeiter erfüllt hatte, 1942 waren es bereits 2,7 Millionen. In den ersten neun Monaten seines Dienstes wurden 1,480.000 „Ostarbeiter“ ins Deutsche Reich gebracht. Für das Jahr 1943 verlangte Hitler die Rekrutierung von 1,6 Millionen fremdländischer Arbeitskräfte, eine Forderung, die Sauckel in seinem dritten Programm nicht mehr ganz erfüllen konnte. Hitlers Weisung vom 4. Jänner 1944, mindestens vier Millionen Arbeitskräfte zu beschaffen, konnte Sauckel trotz bester Vorsätze nicht erreichen. In diesem Jahr gelang es ihm, „nur“ mehr 1,6 Millionen Arbeitskräfte ins Reich zu holen.7 Die meisten „Ostarbeiter“ wurden unvorbereitet aus dem Kreis der Familie gerissen, aus Schulen verschleppt, mit Waffengewalt und Hundeeinsatz zu Bahnhöfen gebracht, dort in Güterwaggons „verladen“ und vorerst nach ­Polen gebracht, wo man sie desinfizierte. Von da ging es weiter in den Westen ohne ausreichende Verpf legung. Eine Reihe von Deportierten überlebte die Fahrt nicht.8

Arbeitseinsatz Am Zielort angekommen, wurden vom Landrat ihre Daten erfasst und Karteikarten mit Fingerabdrücken und der Angabe ihres Einsatzortes angelegt. Bei einem Einsatz in der Landwirtschaft wurden die Zwangsarbeiter vor die örtliche Bauernschaft geführt, die sich am ­A rbeitsmarkt um einen Fremdarbeiter beworben hatte, und dort zur Schau gestellt und von den Bauern wie auf einem Sklavenmarkt ausgesucht. Mädchen kamen hauptsächlich in die Landwirtschaft, während männliche Arbeitskräfte auf Industriebetriebe und landwirtschaftliche Betriebe aufgeteilt wurden. Ein ­polnischer Landarbeiter mit Familie erhielt einen Monatslohn von 30 Reichsmark samt Verpf legung, eine weibliche Zwangsarbeiterin wurde mit 20 Reichs­mark entlohnt. Nicht ­selten erhielten in der Landwirtschaft eingesetzte Zwangsarbeiter keinen Lohn, da dieser durch Unterkunft und Verpf legung des Arbeitgebers aufging. Beim Landrat Murau waren im Juli 1943 2.295 ausländische Arbeitskräfte gemeldet, darunter 387 Polen, 397 Ukrainer aus dem Generalgouvernement, 1.246 Ukrainer aus dem altsowjetischen Gebiet, weiters Personen aus Ägypten, Frankreich, Italien, Kroatien, den Niederlanden, Rumänien, der Slowakei, der Schweiz, Ungarn, Slowenien sowie Staatenlose.9 In der Region Aichfeld waren 243 Zwangsarbeiter aus der Ukraine beschäftigt. Allein in St. Marein bei Knittelfeld, eine Gemeinde, die damals 1.298 Personen einheimischer Bevölkerung zählte, waren 434 Ausländer verzeichnet, von denen 266 in der Landwirtschaft arbeiteten. Die größte Gruppe darunter bildeten die „Ostarbeiter“, gefolgt von Volksdeutschen aus dem Banat, weiters Polen und Rumänen, außerdem einer geringen Anzahl von Ungarn, Franzosen, Kroaten, Serben, Mazedoniern, Jugoslawen, Slowenen und Staatenlosen.10

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

Polnische Zwangsarbeiter kamen bereits 1939 zum Arbeitseinsatz am Erzberg. Den vorerst 300 freiwilligen Arbeitern folgten rasch Zwangsarbeiter.11 In der Lapp-Finze AG im Süden von Graz waren von den 820 Beschäftigten 89 „Ostarbeiter“ eingestellt, darunter 60 Prozent Frauen. Ihre Unterkunft bildeten Baracken, die mit Stacheldrahtzaun umgeben und bewacht waren. Die Entlohnung war so gering, dass nach Abzug von Unterkunft und Verpf legung kaum etwas übrig blieb. Dieser Rest wurde hauptsächlich in Seife und Nähzeug investiert. „Ostarbeitern“ war es allerdings nicht erlaubt, in regulären Geschäften einzukaufen.12 „Ostarbeiter“ fanden auch im Kohlenbergwerk in Fohnsdorf, im Gussstahlwerk Judenburg, wo auch slowenische, italienische, französische und holländische Zwangsarbeiter beschäftigt waren, bei den Austria Vereinigten Emailwerken Knittelfeld, hier ebenfalls gemeinsam mit italienischen, jugoslawischen, tschechischen und belgischen Zwangsarbeitern, Einsatz.13 Reglementierung des Lebens Nach den Ostarbeitererlässen vom 2. Februar 1942 sollten „Ostarbeiter“ so wenig als möglich mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt kommen. Nach dem Befehl des Gendarmeriekommandanten der Steiermark vom 20. August 1942 in Vollzug des Befehls Heinrich Himmlers sollten Arbeitskräfte aus altsowjetischen Gebieten streng von der deutschen Bevölkerung, von ausländischen Arbeitskräften und Kriegsgefangenen getrennt werden. In Betrieben waren sie grundsätzlich nur in geschlossenen Gruppen einzusetzen. Ausgenommen davon waren landwirtschaftliche Betriebe. „Ostarbeiter“ mussten sowohl bei der Arbeit als auch in den Lagern bewacht werden und durften außer zur Verrichtung der Arbeit das Lager nicht ver-

483

lassen. In Ausnahmefällen und zur Belohnung waren ihnen Ausf lüge unter Bewachung erlaubt. Sie hatten zudem das Abzeichen „Ost“ mit weißer Schrift auf blauem Grund auf der rechten Brustseite der Kleidung zu tragen. Nach einem Erlass Sauckels von 1943 wurde das Tragen des Zeichens „Ost“ am linken Oberarm als Auszeichnung betrachtet. Im Juli 1944 regelte ein Erlass des Chefs der Sicherheitspolizei, Ernst Kaltenbrunner, dass „Ostarbeiter“, die sich durch besonderen Fleiß und Haltung auszeichneten, ein Volkstumszeichen, nämlich den Dreizack für ukrainische, das Andreaskreuz für russische und Ähre und Zahnrad für weißruthenische Arbeitskräfte, tragen durften. Straf bare Handlungen, wozu auch das Nicht-Tragen dieses Abzeichens zählte, ahndete die Gestapo. Häufige Straftaten, die in der Steiermark zur Anzeige kamen, waren unerlaubtes Entfernen vom Arbeitsplatz oder Lager, Arbeitsverweigerungen oder Teilnahme an einer Veranstaltung, die nur der einheimischen Bevölkerung erlaubt war. So wurde ein polnischer Hausknecht in Zeltweg, der 1941 eine Zirkusveranstaltung besucht hatte, zu einer Strafe von zehn Reichsmark oder 48 Stunden Arrest verurteilt. Bei anhaltenden Beschwerden des Arbeitgebers erfolgte die Versetzung an einen anderen Dienstort.14 Da die eigene Kleidung verschliss, mussten sich Zwangsarbeiter mit anderer Kleidung eindecken, sei es, dass Zwangsarbeiterinnen sich Stoff besorgten und selbst nähten oder von der Bevölkerung Kleidung erhielten. So kam es vor, dass sie auch in traditionell steirischer Tracht erschienen, sehr zum Missfallen der Behörden. Daher erging am 19. Oktober 1942 die Polizeiverordnung des Reichsstatthalters der Steiermark, in welcher Ausländern das unbefugte Tragen von Steirertracht verboten wurde, um den Gefahren der Tarnung entgegen zu wirken. Den Steirern wurde ebenfalls untersagt, Ausländern Trachtenkleidung abzugeben. Über-

484

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

tretungen wurden mit bis zu sechs Wochen Haft und Einziehung der Kleidungsstücke bestraft.15 Die Verpf legung war karg und eintönig, für schwere Arbeiten unzureichend. Den „Ostarbeitern“, die bei der Lapp-Finze AG in Kalsdorf bei Graz eingesetzt waren, wurde hauptsächlich Krautsuppe und Tee gereicht. Neidisch blickten sie auf die französischen Zwangsarbeiter und britischen Kriegsgefangenen, die mit Lebensmittelpaketen vom Roten Kreuz versorgt wurden und ausreichend zu essen hatten. Die Kalsdorfer Bevölkerung zeigte Mitleid mit den „Ostarbeitern“. Immer wieder steckte sie ihnen heimlich auf eigenes Risiko Lebensmittel zu.16 Anders, in der Regel besser, erging es jenen Zwangsarbeitern, die in der Landwirtschaft eingesetzt waren. Sie lebten nicht nur mit der einheimischen Bevölkerung, hatten ihre Schlafstätte nicht selten in der Stube, sondern aßen auch am Tisch des Bauern, obwohl dies nicht erlaubt war.17

Um der Unerträglichkeit der Umstände zu entgehen, wurden immer wieder Fluchtversuche unternommen, die nur sehr selten erfolgreich verliefen. Viele Gef lüchtete wurden wegen ihrer Unkenntnis der Gegend rasch gefasst. Erfolglose Fluchtversuche von „Ostarbeitern“ endeten bis 1942 grundsätzlich mit Hinrichtung. Erst ab Februar 1942 wurde die Strafe in eine Haftstrafe umgewandelt, um die Arbeitskraft zu erhalten. Heimaturlaub war theoretisch anfangs möglich, wurde aber nicht mehr gewährt, als viele nicht mehr zurückkamen. Mit Ende des Krieges wurden auch die Zwangsarbeiter befreit und in die Heimat rückgeführt. Für „Ostarbeiter“ bedeuteten diese Repatriierungen erneuten Lageraufenthalt und Zwangsarbeit, da die sowjetischen Behörden in ihnen Kollaborateure und Vaterlandsverräter sahen. Viele von ihnen wurden nach Sibirien verschleppt. Ihnen wurde doppeltes Unrecht angetan.

Kriegsgefangene Organisation des Kriegsgefangenenwesens Schon seit der Zeit der Auf klärung beschäftigte man sich mit der Frage der Behandlung von Kriegsgefangenen, die nicht beliebig sein sollte. 1899 und 1907 erfolgte die Bündelung dieses Entwicklungsprozesses mit der Unterzeichnung der „Haager Landkriegsordnung“, die nach den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges durch das „Genfer Abkommen zur Behandlung der Kriegsgefangenen“ von 1929 ergänzt wurde. Neben der schon 1907 geforderten menschlichen Behandlung von Kriegsgefangenen, deren Arbeitseinsatz (mit Ausnahme von Offizieren), deren Unterstützung durch Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz traten das Verbot von Repressalien, die Entfernung der Kriegsgefan-

genen aus dem Kriegsgebiet, die Regelung der Bestrafung, die Verbesserung der Lager und die Kontrolle durch Schutzmächte. All diese Bestimmungen galten für die unterzeichneten Staaten. Die Sowjetunion hatte allerdings weder die Haager Landkriegsordnung anerkannt, noch das Genfer Abkommen ratifiziert, wodurch die sowjetischen Kriegsgefangenen der völligen Rechtlosigkeit preisgegeben waren – ein Manko, das von der NSPropaganda aufgegriffen und für Massenverbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen ausgenutzt wurde.18 Schon vor Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde vom Deutschen Reich der künftige Einsatz von Kriegsgefangenen in der Wirtschaft geplant und die Organisation dem Oberkommando

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

der Wehrmacht (OKW) zugedacht. Mit Kriegsbeginn bis 1942 unterstand das Kriegsgefangenenwesen dem Allgemeinen Wehrmachtsamt des OKW. Mit Zunahme der Zahl von Kriegsgefangenen wurde im Februar 1941 das Amt des Kommandeurs der Kriegsgefangenen im Wehrkreis als dem OKW untergeordnete Dienststelle für die Leitung und Überwachung des Kriegsgefangenenwesens inklusive Bewachung und Arbeitseinsatz im Wehrkreis geschaffen. Anfang 1942 erfolgte eine Umorganisation mit der Einrichtung des Amtes eines Chefs des Kriegsgefangenenwesens im OKW, dem die Allgemeine Abteilung für das Kriegsgefangenenwesen im OKW sowie die Organisationsabteilung unterstanden. Im Juli 1943 wurde die dem OKW unmittelbar untergeordnete Stelle des Generalinspekteurs für das Kriegsgefangenenwesen der Wehrmacht installiert, die den Kriegsgefangeneneinsatz und die Einrichtungen zu kontrollie-

485

ren sowie die Fluchtverhinderungen und den Arbeitseinsatz zu überwachen hatte. Die letzte Umorganisation erfolgte im Herbst 1944, als der Reichsführer SS Heinrich Himmler zum neuen Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt wurde und damit auch das Kommando über den Chef des Kriegsgefangenen­ wesens erhielt. Zugleich übernahm das Reichs­ sicherheitshauptamt die Aufsicht über die Verhinderung der Flucht von Kriegsgefangenen. Hierarchische Gliederung der Kriegsgefangenen So wie die Zwangsarbeiter waren auch die Kriegsgefangenen den rassischen Einstufungen unterworfen. An oberster Stelle standen die Briten und später auch die Amerikaner. Hitler hatte die Briten lange Zeit als germanische Verbündete angesehen und auf ein Einlenken Großbritanniens gehofft. Bei ihnen wurden die Be-

Italienische Militärinternierte bei Aufräumarbeiten in Graz-Lend, 1. November 1944

StLA

486

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

stimmungen der Genfer Konvention eingehalten. An zweiter Stelle standen die Franzosen, Belgier, Holländer und Norweger, danach kamen Griechen, Serben und Kroaten, welche nur ein Drittel der Entlohnung bei Arbeitseinsatz im Vergleich zu den westlichen Kriegsgefangenen erhielten. Vor dem Einmarsch in die Sowjetunion standen die Polen an der untersten Stelle, nach diesem Zeitpunkt waren es sowjetische Kriegsgefangene. Knapp vor ihnen rangierten italienische Militärinternierte. Diese beiden Gruppen wiesen im letzten Kriegsjahr die höchste Todesrate auf. Am schlechtesten wurden sowjetische Juden behandelt. Für sie war eine umgehende Hinrichtung vorgesehen.19 Kriegsgefangenenlager Die Steiermark zählte gemeinsam mit den Reichsgauen Kärnten, Tirol-Vorarlberg und Salzburg zum Wehrkreis XVIII. Hier wurden bereits im Oktober 1939 drei Kriegsgefangenenlager errichtet. Allerdings handelte es sich dabei ausschließlich um Offizierslager (Of lag), nämlich Of lag XVIII A Lienz, Of lag XVIII B Wolfsberg und Of lag XVIII C Spittal an der Drau. Dies missfiel sehr bald der Rüstungsinspektion, da man Kriegsgefangene für den Arbeitseinsatz benötigte, Offiziere jedoch nicht zu Arbeiten herangezogen werden durften. Im März 1941 wurden daher die Of lags XVIII B in C in Mannschaftsstammlager (Stalag) A (Wolfsberg) und B (Spittal an der Drau) umgewandelt. Ein weiteres Lager, das Stalag XVIII C, wurde im Markt Pongau errichtet, mit einem Zweiglager in Landeck. Das Lager im Kärntner Wolfsberg hatte schon im Ersten Weltkrieg als Kriegsgefangenenlager gedient. Bei der Umwandlung des Of lag in ein Stalag wurden die dort stationierten Offiziere teilweise nach Lienz umgesiedelt. Das Stalag Wolfsberg wurde vom Stalag Kaisersteinbruch besiedelt. In Unterpremstätten entstand ein Zweiglager, das man im Juni 1943 auf löste.

Wie in nahezu jedem Lager der „Ostmark“ bestand der Hauptteil der Lagerinsassen aus Franzosen, gefolgt von den Briten, welche die zweitstärkste Nation bildeten.20 Während die Offiziere im Lager untergebracht waren, wohnten die meisten Kriegsgefangenen des Stalag nicht im Lager selbst, sondern waren als Arbeitskommandos jeweils vor Ort einquartiert. Mit dem Heranrücken der Roten Armee im April 1945 wurden Kriegsgefangenenkompanien des Stalag Wolfsberg, die in Voitsberg, Gleisdorf, Leibnitz, Fürstenfeld und Graz stationiert waren, nach Salzburg evakuiert. Das Stalag Wolfsberg wurde am 8. Mai 1945 von der Luft aus befreit.21 Das Lager Wagna diente ebenfalls bereits im Ersten Weltkrieg in solcher Eigenschaft. Im September 1942 wurde das Stalag XVIII B Spittal an der Drau hierher verlegt. Zuvor dürfte das Lager für die Unterbringung von Arbeitskommandos gedient haben. Zugleich wurden Kriegsgefangene aus dem Lager Marburg/Maribor in Wagna untergebracht. Das Lager bestand aus sieben Kriegsgefangenenbaracken, einer Baracke, die als Kantine diente, sowie einem Versammlungs- und Theatersaal. Bereits am 1. März 1943 wurde das Lager Wagna nach Pupping in Oberösterreich verlegt. Die Arbeitskommandos, die bisher von Wagna aus verwaltet worden waren, wurden nun wieder dem Kommando in Wolfsberg unterstellt. Das aufgelassene Stalag Wagna wurde ab August 1943 in das Of lag XVIII A umfunktioniert und die Offiziere von Lienz nach Wagna verlegt. Die Insassen – hauptsächlich französische Offiziere – wurden bereits Ende 1944 abgezogen. Im Frühjahr 1941 wurde in einer ehemaligen desolaten Kaserne in Marburg an der Drau das Stalag XVIII D als Zweiglager von Spittal an der Drau eingerichtet. Bereits im November 1942 erfolgte die Verlegung des Lagers Marburg nach Pupping. Die Kriegsgefangenen in Marburg stammten zu zwei Drittel aus Frankreich und zu

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

Ausgebrannte Baracke des Lagers Murfeld, 26. Juli 1944

einem Drittel aus Großbritannien, ab dem Spätherbst 1941 auch aus der Sowjetunion. Die meisten Kriegsgefangenen waren in Arbeitskommandos untergebracht, die hygienischen Lagerbedingungen waren äußerst unzureichend. Im Spätherbst 1942 wurde das Lager Marburg schließlich aufgelöst und nach Wagna trans­feriert.22 Für die Bewachung der Kriegsgefangenenlager wurden zuerst Landesschützenbataillons eingeteilt, die sich aus älteren und nicht mehr fronttauglichen Jahrgängen rekrutierten. Mit zunehmender Kriegsdauer wurden ab 1942 auch Einsparungen bei den Wachmannschaften notwendig. Man setzte zu diesem Zweck zivile Hilfswachmannschaften ein. Um Fluchtversuche schon im Keim zu ersticken, erfolgte eine totale Kontrolle im Lager. Die Lagerpolizei wurde aus den Reihen der Kriegsgefangenen gebildet. Ihnen oblagen nicht nur Kontroll-, sondern auch Verteilungsaufgaben. Sie bildeten die Verbindungs- und Vertrauensleute und wa-

487

StLA

ren Mittler zwischen den Kriegsgefangenen und der Lagerkommandantur. Als Erkennungszeichen trugen sie eine rote Armschleife. Die Kleidung der Kriegsgefangenen bestand ursprünglich aus der eigenen Uniform und ­einem roten, später schwarzen aufgenähten Stoffstück mit der Kennzeichnung als Kriegsgefangener. Mit der Zeit verschliss die eigene Kleidung und Beuteuniformen konnten nur mehr bunt gemischt getragen werden. Erleichterung schufen die von Internationalen Roten Kreuz zur Verfügung gestellten Uniformen. Das Schuhwerk bestand zum Großteil aus Holzschuhen. In den Stalags des Wehrkreises XVIII wurden Lagerlazarette für die Gesundheitsversorgung eingerichtet, bei der wiederum sowjetische Kriegsgefangene benachteiligt werden, wenn nicht sogar ohne Behandlung bleiben sollten. Neben dem Lager Wolfsberg wurde auch im steirischen Lager Wagna ein Lagerlaza-

488

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

rett eingerichtet, das vornehmlich von gefangenen Ärzten geführt wurde. Für die Freizeitgestaltung, sofern diese nicht durch den Arbeitseinsatz auf ein Minimum reduziert war, wurden in den Lagern vor allem für Offiziere neben der Möglichkeit zu sportlichen Betätigungen sowie der Publikation von Lagerzeitungen auch Theater- und Musikaufführungen organisiert.23 Arbeitseinsatz Eine grundlegende Stütze für das Funktionieren der deutschen Kriegswirtschaft war der massive Einsatz von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Häftlingen aus Konzentrationslagern. In der Steiermark erfolgte der Einsatz von Kriegsgefangenen in allen Sektoren der Wirtschaft ab Dezember 1939. Bis Kriegsende war die Zahl der beschäftigten Kriegsgefangenen auf rund 100.000 angestiegen. Obwohl Kriegsgefangene nach den Bestimmungen der Genfer Konvention nicht in der Rüstungsindustrie zum Einsatz kommen hätten dürfen, wurde dies vielfach ignoriert. Mit Stand vom Juni 1942 waren in der Steiermark und in Kärnten 21.191 französische, 4.274 sowjetische, 6.050 britische, 588 belgische, 21 polnische, also insgesamt 32.124 Kriegsgefangene untergebracht. Die Zahl der sowjetischen Kriegsgefangenen stieg in den folgenden Jahren rasch an. Im Wehrkreis XVIII waren am 1. Dezember 1944 27.089 Franzosen, 15.582 Sowjets, 11.232 Briten und 4.808 Serben in Kriegsgefangenschaft. Der Rest verteilte sich auf Polen, Holländer, Belgier Italiener und Amerikaner. In Summe zählte man 61.877 Kriegsgefangene. Davon gehörten 50.064 einem Arbeitskommando an.24 Das Reichsarbeitsamt und in weiterer Folge die Landesarbeitsämter waren für die Vermittlung von Kriegsgefangenen für heimische Betriebe verantwortlich.

Der Schwerpunkt des Einsatzes von Arbeitskommandos im Bereich der Industrie lag in der Steiermark in der Mur-Mürz-Furche. Die Böhlerwerke in Kapfenberg erhielten im Juni 1940 300 belgische Kriegsgefangene zugewiesen, die für die Produktion dringend notwendig geworden waren.25 Der Anteil aller ausländischen Arbeitskräfte (Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene) in der Rüstungsindustrie betrug 1944 bei WaagnerBiró in Graz über 36 Prozent. Von insgesamt 950 Beschäftigten waren 344 Ausländer. Die Simmering-Graz-Pauker AG Graz zählte zur selben Zeit bei einer Beschäftigtenanzahl von gesamt 1.707 Personen einen Ausländeranteil von 618 Arbeitern, also 36,3 Prozent. Den höchsten Anteil von ausländischen Arbeitskräften innerhalb der steirischen Industrie verzeichnete man mit 44 Prozent in der Holz verarbeitenden Industrie, gefolgt von der Bauindustrie mit 43 Prozent. Im Industriezweig der Gießerei waren 39 Prozent, im Druckereigewerbe 35 Prozent und in der Eisen verarbeitenden Industrie 33 Prozent Ausländer beschäftigt.26 Der steirische Erzberg stand gleich nach dem „Anschluss“ im Mittelpunkt des Interesses für die Rüstungsindustrie. Die Erzgewinnung sollte nach Planung Hermann Görings verdreifacht werden. Das Personal dafür wurde durch den Einsatz von Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und Häftlingen aus Konzentrationslagern gedeckt. Den Anfang machten polnische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene. Von den angeforderten 1.500 polnischen Arbeitern kamen bis Dezember 1939 300 nach Eisenerz. Der Ausländeranteil in Eisenerz betrug im März 1945 37,6 Prozent, wobei die rund 2.000 sowjetischen Kriegsgefangenen die größte Gruppe umfassten.27 Vom Stalag XVII A/Kaisersteinbruch wurden bereits 1940 französische Kriegsgefangene für den Einsatz in den Reichswerken „Hermann Göring“ nach Trofaiach entsandt, wo man 13

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

Baracken für etwa 500 Kriegsgefangene errichtet hatte. Ein Teil von ihnen kam auch in der Landwirtschaft zum Einsatz. Eine geringere Anzahl von britischen und kanadischen Kriegsgefangenen wurden vom Stalag Wolfsberg nach Trofaiach geschickt, wo sie das Arbeitskommando „59 GW Trofaiach“ bildeten. Sie fanden im Quarzbergbau in Rötz Einsatz. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion kamen auch sowjetische Kriegsgefangene dazu.28 In den 82 steirischen Betrieben der Rüstungsindustrie verwendete man insbesondere französische Kriegsgefangene, ab Herbst 1941 sowjetische Kriegsgefangene und ab Sommer 1943 italienische Militärinternierte. Auch britische Kriegsgefangene wurden in der Rüstungsindustrie eingesetzt, so etwa im Werk Dynamit Nobel in St. Lambrecht, bei der Lapp-Finze Eisenwarenfabrik AG in Kalsdorf, in der Schmidhütte Liezen, in der Rottenmanner ­Eisenwerke AG, im Werk Wasendorf der Rottenmanner Eisenwerke AG in Fohnsdorf sowie in den VDM Luftfahrtwerke GmbH in Marburg.29 Auch bei der Firma Vogel & Noot AG in Wartberg arbeiteten ab 1941 französische Kriegsgefangene. Für sie wurden Baracken im Scheibsgraben errichtet. Ab dem Winter 1942 folgten sowjetische Kriegsgefangene, für welche die Barackenanlage im Scheibsgraben erweitert wurde. Ende 1943 kamen auch italienische Militärinternierte hier zum Einsatz, die im sogenannten Porrlager in Mitterdorf-Lutschaun untergebracht waren.30 Weitere Verwendung fanden Kriegsgefangene beim Bau der Reichsautobahn, der Reichsbahn und bei Straßen- und Tunnelbauten. Insassen des Stalag Wolfsberg leisteten Schwerarbeit im steirischen Kohlebergbau. Gegen Kriegsende wurden Kriegsgefangene vermehrt zu Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen und zur Errichtung von Luftschutzbauten herangezogen. So führten britische Kriegsgefangene Aufräumarbeiten am Grazer Hauptbahnhof nach einem

489

Luftangriff durch, beim Bau des Schlossbergstollens in den Abschnitten Süd, Ost und Nordwest waren zwischen 29. April und 13. Mai 1944 100 Kriegsgefangene im Einsatz.31 Neben den Industriebetrieben in der Obersteiermark war auch in Graz eine Reihe von Kriegsgefangenen für den Arbeitseinsatz in den Grazer Industrie- und Gewerbebetrieben in Arbeitslagern untergebracht. Die Holzbaracken wurden nach dem Vorbild der Reichsarbeitsdienstlager mit den Ausmaßen von 8,14 Meter Breite und 2,8 bis 3 Meter Höhe errichtet. Für die Versorgung kranker oder verletzter Kriegsgefangener wurde zudem ein Reservelazarett eingerichtet. Die etwa 800 sowjetischen Kriegsgefangenen, die bei den Firmen Steyr-DaimlerPuch und Treiber eingesetzt waren, wurden zum Teil im Lager Süd in der Alten Poststraße untergebracht. Das Lager beherbergte auch britische Gefangene. Britische Kriegsgefangene, die ebenfalls in der Firma Steyr-Daimler-Puch beschäftigt waren, fanden außerdem im Lager Liebenau in der Ulrich-von-Liechtenstein-Gasse Unterkunft. Steyr-Daimler-Puch hatte mit der Erzeugung von Flugmotoren auf Rüstungsproduktion umgestellt und das Werk Thondorf um zwei große Fertigungshallen erweitert. Da der heimische Arbeitsmarkt die für die Produktion notwendigen Arbeitskräfte nie hätte stellen können, wurden verstärkt Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und vor allem auch Häftlinge aus Konzentrationslagern eingesetzt. Ein Teil dieser Arbeitskräfte war neben den bereits erwähnten Lagern in den Lagern Murfeld I und II untergebracht. Ähnlich Steyr-Daimler-Puch produzierte auch die Firma Treiber für die kriegswirtschaftliche Flugzeugindustrie, hatte das Unternehmen ausgeweitet und benötigte ebenfalls Fremd­ arbeiter für den Betrieb, darunter auch Kriegsgefangene, für die neben dem bereits genannten Lager ein eigenes sogenanntes „Treiberlager“ in der Puntigamer Straße errichtet wurde.

490

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

Britische Kriegsgefangene fanden im „Roseggerlager“ in der Roseggerstraße Unterkunft. Für den Arbeitseinsatz in der Glasfabrik Eggenberg entstand ein Kriegsgefangenenlager in Graz-Eggenberg. Ein weiteres Lager zur Unterbringung von Arbeitskommandos bestand in der Andritzer Reichsstraße. Für 80 bis 100 sowjetische Kriegsgefangene, die hauptsächlich zu Verladearbeiten am Grazer Hauptbahnhof e­ ingesetzt wurden, richtete man in der Schwitzermühle in der Körösistraße 17 ein Lager ein.32 Kam 1942 noch die Mehrzahl von Arbeitskommandos in der gewerblichen Wirtschaft, und hier vor allem im Baugewerbe, zum Einsatz, so veränderte sich das Verhältnis 1944 zugunsten der Landwirtschaft. Die Arbeit in landwirtschaftlichen Betrieben war bei den Kriegsgefangenen wegen der besseren Verpf legung und größeren Bewegungsfreiheit auch viel beliebter. Arbeitssituation Arbeitgeber bevorzugten Kriegsgefangene, da sie billige Arbeitskräfte darstellten und die Wehrmacht für deren Unterbringung und Bewachung aufzukommen hatte. Ihre Arbeitsleistung wurde je nach Nationalität unterschiedlich eingestuft. So gestand man Franzosen und Belgiern eine Arbeitsleistung von 80 bis 100 Prozent zu, polnischen Kriegsgefangenen jedoch nur 60 bis 80 Prozent, jene von italienischen Militärinternierten wurde nur mit etwa 65 Prozent bewertet. Die Arbeitszeit in Betrieben betrug in der Regel 72 Stunden. Maßgeblich für die Arbeitsleistung war die Ernährung, die sich in den Lagern der Arbeitskommandos als sehr eintönig und unzureichend erwies. Die Verpf legung war vom Arbeitgeber zu stellen, hochwertige Lebensmittel waren den Truppen und der Zivilbevölkerung vorbehalten und durften den Kriegsgefangenen nicht verabreicht werden. Hauptnahrungsmittel waren Kartoffel, Rüben und Kraut. Bei der Zuteilung der

Lebensmittelration unterschied man den gewöhnlichen Arbeiter vom Nachtarbeiter, dem Schwerarbeiter, dem Schwerstarbeiter und dem Minenarbeiter, deren Ration gestaffelt höher ausfiel. Die Verpf legung war dennoch unzu­reichend, Lebensmitteldiebstahl oft zum Überleben notwendig. Eine wesentliche Versorgungsquelle bildeten die Lebensmittelpakete des amerikanischen und britischen Roten Kreuzes für alliierte Kriegsgefangene mit Ausnahme der sowjetischen. Bis zum Frühjahr 1944 galten für sowjetische Kriegsgefangene eigene Verpf legsätze, die weit unter jenen der anderen Nationalitäten lagen. Dies, der schwere Arbeitseinsatz, die allgemein schlechte Behandlung und die fehlende medizinische Versorgung waren Ursachen für die hohe Sterblichkeitsrate unter den sowjetischen Kriegsgefangenen. Das Massensterben sowjetischer Kriegsgefangener erreichte im Winter 1941 den Höhepunkt durch die Kälte und die Kürzung der Essensration. Da die Arbeitskräfte zunehmend gebraucht wurden, vor allem für die schwere Arbeit in Industriebetrieben, galt es nun auch die sowjetischen Arbeitskräfte zu erhalten. Daher wurden ihnen ab diesem Zeitpunkt höhere Verpf legsätze zugestanden. Die in der Landwirtschaft eingesetzten Kriegsgefangenen erhielten in der Regel die gleiche Verpf legung wie der Arbeitgeber. Obwohl es nicht erlaubt war, aß die Familie des Bauern oft am selben Tisch mit den Kriegsgefangenen nach dem Motto „Wir arbeiten miteinander, wir essen auch miteinander“. Allerdings wurden die Bauern in der Einhaltung der strengen Vorschriften im Umgang mit Kriegsgefangenen immer wieder von NSDAP-Organen kontrolliert.33 Kontakt mit der Bevölkerung Der Kontakt zwischen den Kriegsgefangenen und der einheimischen Bevölkerung durfte über das Arbeitsverhältnis nicht hinausgehen.

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

Man befürchtete Sabotageakte und politische Beeinf lussung der Bevölkerung. Daher verbot man insbesondere die Aufnahme von Beziehungen zwischen deutschen Frauen und Mädchen zu Kriegsgefangenen, das Geschäftemachen mit ihnen sowie den Austausch von Geschenken, Lebens- und Genussmitteln. Trotz Merkblättern und Verordnungen gestaltete sich die Beziehung zwischen der Bevölkerung und den Kriegsgefangenen mit dem weiteren Kriegsverlauf als zunehmend verständnisvoll. Vor allem zu den in der Landwirtschaft im Einsatz befindlichen Kriegsgefangenen entwickelte sich ein Naheverhältnis, eine Freundschaft, die oft Jahrzehnte lang anhielt. In einigen Fällen entwickelten sich Liebesbeziehungen, die mitunter sogar in Ehen endeten. Laut Erlass von 1939 sollten Kriegsgefangene, die eine sexuelle Beziehung mit einem einheimischen Mädchen begonnen hatten, zum Tode verurteilt werden, ab 1940 wurde das Ur-

491

teil gemildert auf eine Gefängnisstrafe bis zu zehn Jahren und nur gegebenenfalls die Todesstrafe verhängt. Frauen sollten in Konzentrationslager eingeliefert werden. Zudem wurden ihnen als Zeichen der Schande die Haare abgeschnitten. Die begehrteste Nationalität bei den einheimischen Frauen waren mit Abstand die Franzosen. Mehr als 90 Prozent der Verurteilung von Frauen erfolgten wegen „verbotenen Umgangs“ mit Franzosen. Der „verbotene Umgang“ mit sowjetischen Kriegsgefangenen blieb bis Ende des Krieges ein schwerwiegendes Verbrechen.34 Heimkehr Die Heimkehr wurde den Kriegsgefangenen leichter gemacht als den Zwangsarbeitern, da ihnen der Makel der „Freiwilligkeit“ nicht anhaftete. Sie hatten daher in der Heimat mit keinen Repressalien zu rechnen.

Anmerkungen *

1 2

3

4

5

6 7

Dieser Beitrag wurde im Jahr 2006 abgeschlossen und danach nur mehr durch einige Literaturhinweise ergänzt. Karner, Kriegswirtschaft und Rüstung 47−64. Befehl des Chefs der Gendarmerie beim Reichsstatthalter Steiermark über die Begriffsbestimmung „Ostarbeiter“ vom 20. 8. 1942, ediert in: Karner, Ostarbeiter 104−109. Ruggenthaler, „Ein Geschenk für den Führer“ 19−34; Ruggenthaler, NS-Hierarchie 26−43; Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Steiermark 267–298. Karner/Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft 199−209. Karner/Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft 213−221. Ruggenthaler, NS-Hierarchie 34−36. Freund/Perz, Zwangsarbeit 644–695. Knat’ko, Verschleppung 6−23; Ruggenthaler, „Ein Geschenk für den Führer“ 43−47. Freund/Perz, Zahlenentwicklung 7–273.

8

9 10

11 12 13

14 15

16 17

Karner/Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft 90−134. Obersteiner, Quellen 571. Ruggenthaler, „Ein Geschenk für den Führer“ 59−63; Karner/Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft 371−389. Halbrainer, Das totalitäre Regime 30. Knoll, Zwangsarbeit 115−121, 142f. Ruggenthaler, „Ein Geschenk für den Führer“ 102−112. Obersteiner, Quellen 563−576. Befehl des Chefs der Gendarmerie beim Reichsstatthalter Steiermark über die Begriffsbestimmung „Ostarbeiter“ vom 20. 8. 1942 sowie Polizeiverordnung des Reichsstatthalters der Steiermark über das unbefugte Tragen von Steirertracht durch Ausländer vom 19. 10. 1942, ediert in: Karner, Ostarbeiter 104−113. Knoll, Zwangsarbeit 131−136. Karner/Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft 391f.

492 18

19

20

21 22

23

24

25

Schöggl-Ernst / Das Ende der persönlichen Freiheit

Speckner, In der Gewalt des Feindes 9−14; Polian, Deportiert nach Hause 27−33. Petschnigg, Von der Front aufs Feld 24−28; Polian, Sowjetische Juden 488−505. Mit Stichtag vom 31. 3. 1941 zählte man 25.668 französische Kriegsgefangene im Lager Wolfsberg. Die meisten Briten verzeichnete man am 1. 1. 1944 mit 10.998 Mann. Sowjetische Kriegsgefangene nahmen sukzessive zu, am 1. 12. 1944 waren es 8.573. Speckner, In der Gewalt des Feindes 276. Speckner, In der Gewalt des Feindes 275−295. Speckner, In der Gewalt des Feindes 318−321, 325f. Stelzl-Marx, Zwischen Fiktion und Zeitzeugenschaft 65−87. Speckner, In der Gewalt des Feindes 33 und Petschnigg, Von der Front aufs Feld 55. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 335–342.

26

27 28 29 30 31

32 33

34

StLA, ZGS, K. 40: Arbeitskräfteeinsatz in der Rüstungsindustrie 1944; Frauen-, Facharbeiter- und Ausländeranteil in den Wirtschaftsbetrieben, Stand: 30. April 1944. Halbrainer, Das totalitäre Regime 23−33. Halbrainer, Kriegsgefangenenlager 50−54. Petschnigg, Von der Front aufs Feld 70f. StLA, ZGS, K. 43. Speckner, Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen 310f.; StA Graz: Bauakten: Wochenbericht des Straßenund Brückenbauamtes, Stollenbau, 13. 5. 1944. Für diesen Hinweis danke ich Herrn Peter Laukhardt. Vgl. Petschnigg, Von der Front aufs Feld 126−128. Stelzl, Lager in Graz 353−369. Speckner, In der Gewalt des Feindes 47−54; Petschnigg, Von der Front aufs Feld 129−152. Speckner, In der Gewalt des Feindes 154−173; Petschnigg, Von der Front aufs Feld 200−237.

Heimo Halbrainer

Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945*

Am 10. Mai 1946 schrieb der steirische Landeshauptmann Anton Pirchegger in einem Bericht an das Bundeskanzleramt zusammenfassend, dass der Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime, der bald nach der Okkupation in ganz Steier­mark zu bemerken war, schon bei Beginn des Krieges die ersten Anzeichen organisatorischer Tätigkeit zeigte. Zu größerer Bedeutung und vor allem zu einem organisatorischen Zusammenschluss aller Gegner des Nationalsozialismus konnte es [...] nicht kommen. Trotzdem verdankt die Steiermark den im ganzen Lande verteilten und zersplitterten Widerstandsnestern, unterstützt von dem Großteil der Bevölkerung, die Erhaltung vieler Menschenleben und wertvoller Güter, die andernfalls sicher der entmenschten Wut unverantwortlicher landfremder Diktatoren und Parteigrößen zum Opfer gefallen wären.1 Pirchegger unternahm mit seinem siebzehnseitigen Schreiben den ersten Versuch, Aussagen zu Widerstand und Verfolgung in der Steiermark zu treffen. Der mit einer Reihe von Dokumenten

als Beilage versehene Bericht war die Antwort auf eine Anfrage des Bundeskanzleramts, das Unterlagen, Dokumente und Informationen für ein Buch – das „Rot-Weiß-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich! Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs (nach amtlichen Quellen)“2 – sammelte, worin der Nachweis angetreten werden sollte, dass Österreich, wie von den Alliierten in Moskau/Moskwa am 1. November 1943 gefordert, einen eigenen Beitrag zu seiner Befreiung geleistet habe. Drei von Pirchegger genannte Aspekte – die Kontinuität des unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 einsetzenden Widerstands, die Aufsplitterung des Widerstands in einzelne Gruppen und die Gewichtung des Widerstands – sind es, die im Kontext des österreichischen Widerstands und der gesamtdeutschen Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten im Folgenden beleuchtet werden.

Vorbemerkungen Als am Morgen des 12. März 1938 deutsche Truppen in Österreich einmarschierten, war das mehr als nur der Übergang von einer Diktatur in eine andere. Der qualitative Sprung vom „austrofaschistischen“3 Ständestaat zur totalitä-

ren Diktatur des deutschen Nationalsozialismus bedeutete auch das Ende der staatlichen und nationalen Existenz Österreichs. Der Nationalsozialismus stützte sich aber nicht nur auf die deutsche Fremdherrschaft, sondern wurde auch

494

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

von einer halben Million Österreicher und Österreicherinnen getragen und war in allen Bevölkerungsschichten verwurzelt. Den überzeugten Nationalsozialisten sowie den Mitläufern stand eine kleine Gruppe von Personen gegenüber, die für ein freies und unabhängiges Österreich eintraten und Widerstand leisteten. Diese Personen waren aber von Anfang an mit äußerst schlechten Bedingungen konfrontiert. Dies lag nicht nur am Ausmaß des Terrors, der unmittelbar nach dem Rücktritt Schuschniggs einsetzte, der Bespitzelung und der Verhängung strengster Strafen – dies war auch in anderen von den Nationalsozialisten besetzten Ländern zum Teil in noch schärferer Form wirksam –, sondern vor allem daran, dass es in Österreich kein klares Feindbild gab. Denn im Gegensatz zu Ländern, wo der Widerstand eine nationale Angelegenheit war, mussten österreichische NS-Gegner in einer ihnen zumeist feindlich gesinnten und von fanatischen Regimeanhängern durchsetzten Umwelt wirken. Widerstand wurde und wird daher vielfach als „Kampf gegen die eigenen“, als Bürgerkrieg Österreicher gegen Österreicher empfunden.4 Die Frage, was nun als Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu bezeichnen ist, ist nicht unumstritten.5 Die Antworten reich(t)en von der sehr engen Definition, wie sie ursprünglich das Opferfürsorgegesetz festgeschrieben hatte – Widerstandskämpfer seien „Personen, die um ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewusstes Österreich […] mit der Waffe in der Hand gekämpft und sich rückhaltlos in Wort und Tat eingesetzt haben“ – über jene, wie sie der USamerikanische Historiker Radomir Luža verwendet – Widerstand sei „jede politisch bewusste, vornehmlich konspirative organisierte Aktivität“, die vom NS-System als feindlich empfunden und für illegal erklärt wird6 – bis hin zur Definition von Karl Stadler, der angesichts des totalen Gehorsamkeitsanspruches der

Machthaber „jegliche Opposition im Dritten Reich als Widerstandshandlung“ wertet, auch wenn es sich lediglich um den „vereinzelten Versuch handelt, anständig zu bleiben“.7 Gerhard Botz8 differenziert diesen breiten Ansatz nach dem den einzelnen Widerstandsformen zu Grunde liegenden Bewusstsein und Zielen in einen „politischen Widerstand“ (Flugblatt- und Schmieraktion, Anschläge und Attentate, Putschversuche, organisierte Streiks, Unterschriftenaktionen, Hirtenbriefe, Nachrichtenübermittlung, Konspiration, Sabotage, Partisanentätigkeit), in „sozialen Protest“ (bloßes Kontakthalten, Hilfsaktionen, Arbeitsbummelei, Gehorsamsverweigerung, Denkschriften, Predigten, Führerwitze, Regimekritik, spontane Streiks, Amtsniederlegungen, Emigration, demonstrative Kirchenbesuche, Verweigerung des Hitlergrußes, Gerüchte-Verbreiten, Umgang mit regimefeindlichen Gruppen, Schwarzhören) und in „abweichendes Verhalten“ (von Schwarzschlachten bis hin zum Randalieren von Jugendlichen). Wenn im Folgenden ein Bild des Widerstands in der Steiermark skizziert wird, so sind zwei Aspekte zu bedenken. Zum einen waren etwa die im Folgenden vorgestellten steirischen Widerstandsgruppen der „Antifaschistischen Freiheitsbewegung Österreichs“ auf der einen und jene der KPÖ auf der anderen Seite des politischen Spektrums keine „nur“ steirischen, sondern Teile eines teilweise österreichweit organisierten Widerstandsnetzes. Zum anderen muss das Bild des steirischen Widerstands ein in vielerlei Hinsicht unvollständiges bleiben. Zahlreiche Aktivitäten des organisierten Widerstandes blieben im Dunkeln, da Geheimhaltung das oberste Gebot war und nichts schriftlich fixiert wurde. „Aktenkundig werden“ hieß Verfolgung und oft auch Tod. Viele Formen des sozialen Protests und des abweichenden Verhaltens – oder, wie es Bruno Frei nannte: „Der kleine Widerstand“9 –, sind darü-

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

ber hinaus mit Polizei- und Gerichtsakten quellenmäßig nur schwer fassbar. Dennoch sind diese Herrschaftsakten zumeist die einzigen Quellen über Widerstandshandlungen. Dabei ist aber Vorsicht geboten, da

495

die Behörden sehr oft dazu neigten, die Gefährlichkeit der politischen Gegner zu übertreiben, oft auch nur um zu beweisen, wie wirksam sie gegen diese vorgingen.10

Politisch organisierter Widerstand Der politisch organisierte Widerstand in Österreich lässt sich der historisch-politischen Situation in Österreich entsprechend in zwei Gruppen unterteilen – das katholisch-bürgerliche Lager und das der organisierten Arbeiterbewegung. Zwischen diesen beiden großen Lagern gab es – bedingt auch durch die Erfahrungen der Jahre 1934 bis 1938 – kaum Kontakte, weshalb es, wie Landeshauptmann Pirchegger 1946 feststellte, zu keinem organisatorischen Zusammenschluss des Widerstands gekommen ist. Lediglich in der letzten Phase des NS-Regimes gab es über die Lagergrenzen hinweg gemeinsame Aktionen, um sinnlose Zerstörungen durch abziehende NS-Eliten zu verhindern und die Städte und Orte vor vernichtenden Kampfhandlungen zu bewahren. Der Widerstand des bürgerlichen Lagers – die Verfolgung des christlichsozialen und monarchistischen Widerstands Zu den ersten Verhafteten im März 1938 zählten in der Steiermark vor allem die politischen Vertreter des „Ständestaates“ und der Staatspartei, der Vaterländischen Front, bzw. jene, die zwischen 1934 und 1938 als Exekutivbeamte, Richter und Staatsanwälte gewirkt hatten. Diese waren – wenn dies hier auch nicht ausführlicher behandelt werden kann – im Rahmen des staatlichen Machtapparats zwischen 1934 und 1938 gegen den „Anschluss“ Österreichs tätig gewesen und hatten bei der Verfolgung von

österreichischen Nationalsozialisten, speziell im Zusammenhang mit dem Juliputsch 1934, mitgewirkt. Die Verfolgung dieser Personen konnte teilweise auf Grund der Listen erfolgen, die das Deutsche Konsulat in Graz bis März 1938 zusammengestellt hatte und die sie regelmäßig an das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin sandte. Nach der Machtübernahme wurden diese „auf kurzem Weg der Gestapo in Graz übergeben“.11 So wurden u. a. der ehemalige Landesleiter der Vaterländischen Front, Alfons Gorbach, und der ehemalige Sicherheitsdirektor und Landesgendarmeriekommandant Franz Zelburg bereits am 1. April 1938 mit dem ersten Transport ins KZ Dachau überstellt. Gegen mehrere hohe Funktionäre wurden zudem Gerichtsverfahren eingeleitet.12 Dabei wurde etwa der ehemalige Heimwehrführer des Bezirkes Murau, Karl Brunner, 1939 wegen seiner Rolle bei der ­Niederschlagung des Juli-Putsches 1934 wegen Anstiftung zum Mord und schwerer Körperverletzung zu lebenslangem schweren Kerker verurteilt.13 Von den Nationalsozialisten verboten und der politischen Führer beraubt, existierte die Vaterländische Front von einem Tag zum anderen nicht mehr. In den ersten Monaten nach dem „Anschluss“ traten in der Steiermark noch einige Personen im Namen der Vaterländischen Front bzw. der Nebenorganisationen auf. Diese wurden jedoch sehr bald entdeckt und verhaftet.

496

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

So begann bereits unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten eine vom Grazer Maler und Schriftsteller Anselm Grand geleitete Gruppe von Schuschniggs ehemaliger paramilitärischer Frontmiliz, die sich „Steirische Freiheitslegion“ nannte, Waffendepots anzulegen und Kontaktstellen in den anderen Bundesländern und in Jugoslawien zu schaffen. Die Verhaftung der führenden Personen Ende September 1938 beendete diese vorbereitenden Tätigkeiten für eine größer angelegte Widerstandstätigkeit aber bald.14 Dennoch blieben Teile dieser lose verbundenen Widerstandsgruppe unentdeckt. Eine um Fritz Hohl gebildete Zelle f loh nach Windischfeistritz/Slovenska Bistrica und weiter nach Agram/Zagreb, wo sie immer mehr zu einer österreichischen Flüchtlingshilfsstelle wurde. Gleichzeitig versuchte sie, analog zu den Überlegungen in den USA und in Frankreich, eine „Österreichische Legion“ in Agram als erste reguläre österreichische Truppe aufzubauen. Nachdem Hohl Anfang 1939 in Agram festgenommen worden war, übernahm der Grazer Dr. Wolfgang MayerGutenau seine Stelle. Er wurde jedoch beim Versuch, bei Pößnitz (Gemeinde Glanz) illegal die Grenze zu überschreiten, von der Gestapo angeschossen und festgenommen. Zwei seiner Gefährten, der slowenische Priester Anton Zupanic und der Münchner Pater Riegler, wurden erschossen. Gemeinsam mit seinem Mitstreiter, dem Grazer Gerhard Resseguier de Miremont, wurde Mayer-Gutenau im August 1941 zum Tode verurteilt und in Berlin hingerichtet. Mit der Verurteilung weiterer Mitglieder zu zeit­ lichen Freiheitsstrafen wurde das Widerstandsnetz endgültig zerstört.15 Anfang 1939 trat eine Gruppe Jugendlicher in Graz in Erscheinung, die an verschiedenen Stellen der Stadt Kruckenkreuze malte und Flugzettel mit Texten wie „Niemals Hitler“ und „Freiheit Österreich“ streute. Diese Gruppe, die sich „Österreichisches Freikorps“ nannte, wur-

de im März 1939 entdeckt, ihre Mitglieder wurden verhaftet.16 Nach der Zerschlagung dieser Gruppe trat erst wieder Anfang 1942 eine Gruppe mit monarchistisch-christlichen Zielen in der Steiermark in Erscheinung, die aber auch andere – wie etwa ehemalige Mitglieder der Heimwehr, Wehrmachtssoldaten und Arbeiterkreise in Bruck an der Mur – ansprach. In dieser Gruppe, die sich „Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreichs“ (AFÖ) nannte und in Flugblättern zum Widerstand gegen den ­Nationalsozialismus aufrief 17 und neben Klagenfurt, Wien, Innsbruck, Lienz, Salzburg, Berlin, München und Slowenien auch in Feldbach und Graz Stützpunkte hatte, waren Steirer zum Teil führend tätig. Zwei Theologen aus der Steiermark, die beiden Franziskanerpatres DDDr. Kapistran Pieller, der lange Jahre in Graz gewirkt hatte, und Dr. Angelus Steinwender aus Maria Lankowitz, der bis 1933 in Graz Stadtpfarrer und Leiter des Franziskanerklosters gewesen war, wurden, nachdem im Juni bzw. Juli 1943 diese Gruppe von der Gestapo entdeckt wurde, mit fünf weiteren Personen am 11. August 1944 zum Tode verurteilt und am 15. April 1945 von der SS in Stein ermordet.18 Drei weitere Steirer aus Feldbach und Graz wurden im April 1944 zu geringen Freiheitsstrafen verurteilt, da sie nach der Kontaktaufnahme mit der Leitung nicht aktiv geworden waren.19 Fast zur gleichen Zeit wurde eine andere Gruppe von Monarchisten aus Graz um Wilhelm Ritter von Fritsch, Harald Kern und Kurt Grabenhofer20 wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Kriegsverrat zum Tode verurteilt, da sie seit Dezember 1942 an der Errichtung bewaffneter Widerstandsgruppen arbeiteten, die nach dem von ihnen vorausgesagten Ende der nationalsozialistischen Herrschaft durch „bewaffnete Gruppen“ die österreichische Monarchie wiederherstellen sollten.21

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

Darüber hinaus gab es eine Vielzahl von katholisch-konservativen Gruppen, die, ohne dass sie organisatorische Strukturen errichteten, sich zu Diskussionen trafen, Pläne für die Zeit nach der Befreiung schmiedeten und in der Endphase auch Kontakt zur Widerstandsgruppe O5 in Wien herstellten. Eine jener Gruppen war die unter dem Einf luss der katholischen Studentenverbindung Carolina stehende, die sich regelmäßig in der Barbarakapelle des Domes traf und dort, in der Leechkirche und in Privatwohnungen Vorträge und Diskussionen abhielt. Nach dem Fall Stalingrads sägten im April 1943 drei Carolinen die sechs Meter hohe HitlerEiche am Grazer Opernring um.22 Die Verfolgung der katholischen Kirche Die katholische – wie auch die evangelische – Kirche23 sah sich ab Herbst 1938 zunehmend Repressionen bzw. Einschränkungen ausgesetzt. Besitztümer der Kirche wurden eingezogen, kirchliche Vereinigungen und Stiftungen aufgelöst, die katholische Presse von den Nationalsozialisten übernommen und katholische wie evangelische Schulen geschlossen. Ein Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Nationalsozialisten und der Kirche war 1940/41 erreicht, ehe es zu einer gewissen Aussöhnung kam, zumal es der Kirche weithin gelang – vor allem am Land –, ihren Einf luss auf die Gläubigen zu wahren und sie zum Besuch religiöser Veranstaltungen zu bewegen. Um einen Einblick in das Leben der Pfarren zu erlangen, meldeten lokale Behörden regelmäßig über den mit Fortdauer des Krieges verstärkten Kirchenbesuch.24 Auch schickten die nationalsozialistischen Behörden immer wieder Konfidenten in die Pfarren, die Berichte über die Predigten verfassten. So wurde beispielsweise der in Kaindorf wirkende Kaplan Josef Hartinger von einer Konfidentin wegen seiner am 4. Juli 1943 gehaltenen Predigt angezeigt, da er – wie es in der

497

Anzeige heißt – u. a. gesagt haben soll, dass der Heiland am liebsten die Armen gehabt hat. An zweiter Stelle seiner Lieblinge seien die Sünder gestanden, da er auf die Welt gekommen sei, um diese zu erlösen. Christus habe keinen verstoßen, sondern allen verziehen, damit sie die Möglichkeit hätten, ein besseres Leben zu führen. Heute, da ist das ganz anders. Da wird jedem, der nur eine Kleinigkeit begeht, alles schwarz angekreidet und er wird zum Tode verurteilt, ehe er überhaupt schuldig ist. Diese Worte schrie er mit lauter Stimme heraus.25 Hartinger wurde deshalb am 2. Dezember 1943 verhaftet und ins KZ Dachau eingeliefert, wo er bis zum Ende der NS-Herrschaft verblieb.26 Obwohl die katholische Kirche als Institution nicht zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus aufrief, arbeitete eine Reihe von Priestern und Mitgliedern religiöser Orden im Widerstand bzw. leistete Widerstand. Von den fünfzehn während der Zeit des Nationalsozialismus hingerichteten österreichischen Priestern waren neben den beiden bereits genannten Franziskanern vier weitere – Anton Granig, Jakob Gapp, Paulus Wörndl und Max Josef Metzger – vor 1938 zumindest vorübergehend in der Steiermark tätig gewesen.27 Zwei weitere steirische Priester wurden kurz vor dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft als politische Gegner ermordet. Dabei handelte es sich um den in St. Georgen am Schwarzenbach bei Obdach wirkenden Pfarrer Heinrich Dalla Rosa, der nach einer Denunziation wegen „Wehrkraftzersetzung“ am 24. Jänner 1945 hingerichtet wurde,28 und um den Pfarrer von Gasen, Johann Grahsl. Dieser war bereits 1941 wegen seiner Einstellung und Haltung den Nationalsozialisten gegenüber gemaßregelt worden. Unmittelbar vor der Befreiung wurde Grahsl in der Nacht des 5. April 1945 von Nationalsozialisten festgenommen und ohne Urteil erschossen. Zwei Mitglieder der Laienbruderschaft „Christkönigsgesellschaft vom Weißen Kreuz“, die von dem am 17. April 1944 in Berlin hinge-

498

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

Gedenktafel für Dr. Max Josef Metzger am Haus des „Weltfriedenswerkes vom Weißen Kreuz“ in Graz, Foto: Neuhold/Sonntagsblatt Karmeliterplatz 6

richteten Max Josef Metzger in Graz gegründet wurde und ihren Sitz in Graz-Ulrichsbrunn hatte, der Allgäuer Michael Lerpscher und der aus Württemberg stammende Josef Ruf, wurden 1940 wegen Wehrdienstverweigerung verhaftet, zum Tode verurteilt und im Herbst 1940 in Berlin-Görden hingerichtet.29 Daneben wurden 158 Priester aus der Steiermark – zum Teil kurzzeitig – inhaftiert, 14 von ihnen wurden in ein KZ überstellt. Andere wurden gemaßregelt, aus dem Kreis bzw. dem Gau vertrieben oder wegen Vergehens nach dem sogenannten „Heimtückegesetz“ bzw. dem „Kanzelparagraphen“ verurteilt.30 Zu den mit Gauverbot belegten Priestern gehörte auch der Professor für spekulative Dogmatik Johannes Ude, der als Einziger anlässlich des Novemberpogroms 1938 in Graz gegen die Verfolgung der Juden beim Gauleiter Uiberreither Protest eingelegt hatte.31

belforscher-Vereinigung fort.32 Da sie sich als Mitglieder des Reiches Jehovas sahen, fühlten sie sich nicht dem nationalsozialistischen Staat zur Treue verpf lichtet. Sie verweigerten den Hitlergruß, da es ihnen unmöglich war, einem Menschen das nach biblischem Verständnis allein Gott vorbehaltene „Heil“ zuzusprechen.33 Sie unterließen deshalb auch Ehrenbezeugungen gegenüber der Fahne, verweigerten den Militärdienst sowie die Tätigkeit in Rüstungsbetrieben, was vor allem kriegsdienstverpf lichtete Frauen taten. Stattdessen trafen sie sich in Geheimzirkeln, wo Bibelgespräche geführt wurden. Daneben widmeten sie sich der Verbreitung der religiösen Botschaft u. a. durch Verbreitung ihrer vor allem aus der Schweiz eingeschmuggelten Literatur, wie der Zeitschrift „Der Wachtturm“. Nachdem bereits am 17. August 1938 das Gesetz erlassen wurde, das mit dem Mobilmachungstag am 26. August 1939 in Kraft trat, wonach die Verweigerung des Wehrdienstes bzw. die Anstiftung dazu mit dem Tode zu be-

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas Völlig unbeeindruckt von den historischen Ereignissen setzte die in Österreich bereits seit 1935 (in Deutschland seit 1933) verbotene religiöse Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ihre Tätigkeit im Rahmen der Internationalen Bi-

Die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Zeugen Jehovas setzten im Herbst 1939 ein Archiv der Zeugen Jehovas

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

499

strafen sei, waren vor allem die Männer dieser in Österreich knapp mehr als 500 Personen zählenden Gruppe der ständigen Verfolgung und Verurteilung ausgesetzt. Dies umso mehr, als sie durch die am 25. November 1939 erlassene Verordnung zum Schutz der Wehrkraft des deutschen Volkes als „wehrfeindliche Verbindung“ bezeichnet wurden. Eine erste Verhaftungswelle in der Steiermark, die auch mit mehreren Todesurteilen endete, setzte bereits im August 1939 ein. Aber auch in den folgenden Jahren wurden steirische Zeugen Jehovas immer wieder wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ zum Tode oder zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt bzw. in ein KZ eingeliefert. Die Bilanz dieser gegen sie gerichteten Maßnahmen ist erschreckend: Von den rund 500 österreichischen Zeugen Jehovas wurden 154 von den Nationalsozialisten ermordet.34 Allein aus der Steiermark sind 36 Zeugen Jehovas entweder von Militärgerichten wegen Desertion bzw. Kriegsdienstverweigerung zum Tode verurteilt worden oder im KZ umgekommen. Darüber hinaus waren über 70 steirische Zeugen Jehovas zu zeitlich bedingten Freiheitsstrafen verurteilt worden. Als weitere Maßnahme wurde den Eltern, die ihre Kinder nicht in die Hitlerjugend gaben, das Sorgerecht entzogen und die Kinder zu Pf legeeltern gegeben.

1933 mit der Ausschaltung des Parlaments ihren Ausgang nahm und in die Februarkämpfe 1934 mündete, wurden die Arbeiterorganisationen und Parteien verboten. An die Stelle der großen Sozialdemokratischen Partei (SDAP) trat bald nach den Februarkämpfen 1934 eine neue – ­illegale – sozialistische Partei, die Revolutionären Sozialisten. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der ehemaligen Mitglieder der SDAP schloss sich der seit 1933 verbotenen Kommunistischen Partei an. Zwischen beiden Parteien, die seit 1934 gegen die österreichische Variante des Faschismus ankämpften mit dem Ziel, ein sozialistisches Österreich zu erreichen, gab es unter den Bedingungen der Illegalität immer wieder Kontakte und lokal auch gemeinsame Aktionen.35 In den Betrieben unterwanderten sie teilweise den vom „Ständestaat“ geschaffenen Gewerkschaftsapparat – die Einheitsgewerkschaft – und wirkten so in den legalen Organisationen mit.36 Obwohl diese illegalen Kader der Arbeiterschaft reiche konspirative Erfahrungen in den vier Jahren des „Austrofaschismus“ gewonnen hatten, war der März 1938 ein tiefer Einschnitt für die weitere Art und Ausrichtung des Widerstandes, worauf mit zwei unterschiedlichen Strategien reagiert wurde.

Der Widerstand der Arbeiterbewegung

Die Nachfolgeorganisation der seit 1934 verbotenen Sozialdemokratischen Partei, die Revolutionären Sozialisten, gaben vorerst die Losung aus, alle Aktivitäten für drei Monate einzustellen, und trat nach dem grundsätzlichen Artikel in der aus dem Pariser Exil stammenden Zeitschrift „Sozialistischer Kampf “ vom Juli 1938 als Organisation nicht mehr in Erscheinung. In dem genannten Aufruf hieß es unter anderem:

Sieht man sich die Akten der nationalsozialistischen Behörden durch, so kann man feststellen, dass die organisierte Arbeiterbewegung die zahlenmäßig größte Gruppe des Widerstandes darstellte. Diese Gruppen – sozialistische, kommunistische und Betriebszellen als gemeinsame Widerstandsgruppen – waren aber nicht erst im oder nach dem Jahr 1938 entstanden. Im Zusammenhang mit der von der Regierung Dollfuß betriebenen Zerstörung der parlamentarischen Demokratie, die im März

Sozialistischer Widerstand

Es darf heute keine Zeitungen, keine Flugblätter, keine regelmäßigen Mitteilungsblätter und Broschüren geben. [...] Die bisherigen Organisationen

500

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

sind erledigt. Die neuen müssen ohne Anknüpfung an die bisherigen Formen aufgebaut werden. Die Träger der neuen Organisationsgebilde können zunächst nur Menschen sein, die wegen geringerer bisheriger Aktivität oder absoluter Deckung in der bisherigen Arbeit nicht belastet sind.37 Mit dieser Anleitung sowie der Flucht führender Aktivisten bzw. den Verhaftungen – wie etwa der des steirischen Landesleiters der Revolutionären Sozialisten, Andreas Stampler38 – war der Niedergang der Partei als Widerstandsorganisation besiegelt. Nicht wenige ehemalige „Revolutionäre Sozialisten“ schlossen sich den Widerstandsgruppen der KPÖ bzw. deren Hilfsorganisation, der „Roten Hilfe“, an oder bildeten gemeinsam mit Kommunisten Betriebszellen, wie etwa die vom Sozialisten Lorenz Poketz geleitete „Rote Gewerkschaft“39. Poketz gelang es 1940, in mehreren Grazer Betrieben Zellen aufzubauen, die vorerst Gelder für Familienangehörige von Verhafteten sammelten. Die Zellen um Poketz, Josef Strasser, Franz Strohmeier und Hans Stelzer produzierten auch – nachdem die Leitung der KPÖ in Graz um Karl Drews, Josef Neuhold und Dr. Franz Weiß im Februar 1941 verhaftet worden war und sie von ihr keine Flugschriften mehr erhielten – im Frühjahr 1942 eigene Flugschriften, die den Titel „Der Rote Sturm“ trugen und entweder als „Informations- und Nachrichtenblatt der Roten Gewerkschaft“ oder als „Kampfschrift der KP in Steiermark“ betitelt waren. Im Frühsommer 1942 kam die Gestapo diesen Betriebszellen auf die Spur. Führende Mitglieder wurden im August 1942 verhaftet; 84 wurden schließlich angeklagt, wovon 16 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden. Einer der zum Tode Verurteilten wurde begnadigt. Ein tragisches Ende nahm die Widerstandsgruppe um den ehemaligen Gewerkschafts­ sekretär Fritz Matzner40, der selbst im August

1944 zu den jugoslawischen Partisanen gef lohen war. Diese Gruppe, die u. a. Bombardierungspläne für alliierte Luftstreitkräfte anfertigte und diese über die jugoslawischen Partisanen den Alliierten zukommen ließ, wurde im März 1945 entdeckt. Führende Mitglieder der Gruppe – wie Fritz Marsch und Dr. Julia Pongracic – wurden am 3. April 1945 in der SS-Kaserne in Wetzelsdorf ohne Urteil erschossen und am Feliferhof,41 der Grazer Militärschießstätte, begraben. Andere Mitglieder dieser Gruppe – wie der wieder enthaftete ehemalige Führer des Republikanischen Schutzbundes von Eggenberg (Graz), Alois Rosenwirth – waren in den letzten Stunden des NS-Regimes in Graz die ersten, die das Machtvakuum zu besetzen trachteten. Gemeinsam mit weiteren Sozialdemokraten und Vertretern der Christlichsozialen sowie Kommunisten bildeten sie noch vor dem Einmarsch der Roten Armee eine Übergangsverwaltung in Graz und im Land Steiermark.42 Kommunistischer Widerstand Der Widerstand der Kommunisten war, wenn man die vorhandenen Gestapo- und Gerichtsakten heranzieht, der zahlenmäßig bedeutsamste. Über 80 Prozent aller vor dem Volksgerichtshof bzw. den Oberlandesgerichten durchgeführten Verfahren betrafen Kommunisten bzw. wegen kommunistischer Tätigkeit Festgenommene. Auch bei den illegalen Druckwerken – Zeitungen und Flugblättern – sind 90 Prozent kommunistischer Herkunft.43 Die KPÖ war bereits seit 26. Mai 1933 verboten. Es gelang ihr – vor allem, nachdem viele Sozialdemokraten nach den Februarkämpfen 1934 zu ihr gestoßen waren – in der Illegalität eine beachtliche Organisation aufzubauen. Galt ihr Widerstand vorerst dem Kampf gegen die „Dollfuß-/Schuschnigg-Diktatur“, so richtete die Kommunistische Partei ab 1937 ihre gesamte politische Tätigkeit auf die Verhinderung

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

der drohenden Annexion Österreichs durch Deutschland aus. Bei dem dabei verfolgten Konzept einer nationalen Volksfront sollten ­katholische Arbeiter und Bauern mit einer geeinten Arbeiterschaft gegen den drohenden ­Nationalsozialismus kämpfen.44 Daher wurde unmittelbar nach dem Rücktritt Schuschniggs noch am 12. März 1938 im Unterschied zu den Revolutionären Sozialisten die Parole des aktiven Widerstandes für die Wiederherstellung der österreichischen Unabhängigkeit ausgegeben.45 Dabei trat die KPÖ unter Sistierung klassenkämpferischer Ziele für ein Zusammengehen aller Anti-Hitler-Kräfte im Kampf für die Wiederherstellung eines freien, demokratischen Österreich ein, was in Form der „Österreichischen Freiheitsfront“ (ÖFF) ab 1943 teilweise auch organisatorisch umgesetzt wurde.46 1944/45 trat die unter der Führung der KPÖ stehende ÖFF in der Steiermark unter anderem im obersteirischen Industriegebiet um Leoben-Donawitz-Eisenerz und Judenburg auch bewaffnet in Erscheinung.47 Der Widerstand der KPÖ in der Steiermark lässt sich in mehrere Phasen unterteilen. Bereits unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 rief die Führung der KPÖ aus dem Prager Exil zum Kampf um die Befreiung Österreichs von der Fremdherrschaft auf.48 Die vom Zentralkomitee der KPÖ formulierten Aufgaben des österreichischen Volkes, der österreichischen Arbeiterklasse und der KPÖ seien der Kampf gegen die Fremdherrschaft und für die Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des österreichischen Volkes, der Kampf für die demokratischen Rechte des Volkes, der Kampf gegen die wirtschaftliche Ausplünderung des Landes, der Kampf gegen die Kriegspolitik des deutschen Faschismus und der Kampf gegen die Kulturbarbarei und den Antisemitismus, gegen Verhetzung und Verrohung. Diesem Programm und den seit März 1938 veröffentlichten Aufrufen entsprechend leistete die KPÖ ab Frühjahr 1938 einen zentral orga-

501

Gestapo-Bericht zur Zerschlagung des Kommunistischen Jugendverbands der Obersteiermark, August 1939 Alfred Klahr Gesellschaft

nisierten Widerstand, wobei in der Steiermark zumeist zwei geographisch getrennte Leitungen – eine für Graz, die Süd-, West- und Oststeiermark und eine für die Obersteiermark – existierten. Zu den Widerstandshandlungen gehörten neben den nach „innen“ gerichteten Aktivitäten (Aufrechterhaltung einer illegalen Parteistruktur, politische Schulungen, Solidaritätsaktionen im Rahmen der „Roten Hilfe“, u. a. m.) die nach „außen“ gerichteten Aktivitäten, die zu einer Mobilisierung gegen den Nationalsozialismus führen sollten und zu denen neben Sabotage und Anschlägen (ab 1941) und Partisanenaktivitäten (ab 1943) vor allem die Durchbrechung des nationalsozialistischen Meinungsmonopols gehörte. Zu diesem Zweck produzierten und verteilten Widerstandszellen der KPÖ eine Reihe von selbst verfassten politi-

502

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

schen Flugschriften und aus dem Ausland ins Inland geschmuggelte illegale Zeitungen und Zeitschriften. Diese Widerstandshandlungen setzten in der Steiermark schon bald nach dem „Anschluss“ 1938 ein, nachdem es innerhalb der illegalen KPÖ zu einer Reorganisation gekommen war, wobei polizeibekannte Kommunisten beauftragt wurden, sich ruhig zu verhalten und neue, bislang nicht in Erscheinung getretene bzw. aus der Sozialdemokratischen Partei kommende Kader ab April bzw. Mai 1938 an den Auf bau der neuen Parteistrukturen schritten. In Graz gelang es dem Kesselschmied August Pirker – wie auch nationalsozialistische Quellen festhielten49 –, innerhalb kürzester Zeit ein weitverzweigtes Netz von illegalen Zellen in den wichtigsten und größten Betrieben in Graz, in der Ost- und der Weststeiermark aufzubauen sowie eine Kontaktstelle zur Auslandsleitung und somit zum Zentralkomitee der KPÖ in Marburg/Maribor herzustellen. Diese hierarchisch von oben nach unten bis in die Zellen organisierten Gruppen produzierten bereits ab Herbst 1938 eine Reihe von Flugschriften, die – wie etwa jenes der zentralen Leitung in Graz – auf die „Nazikultur“ anlässlich des Pogroms im November 1938 eingingen, wo es hieß: Wollen wir das? Dass der letzte Rest von Freiheit des österreichischen Volkes vom Dritten Reich vollständig vernichtet wird? Dass der Lebensstandard des Arbeiters durch schamlose Abzüge und erpresste Spenden immer tiefer sinkt? Dass das Anhaltelager in Wöllersdorf verbrannt wurde, um Dutzende Konzentrationslager zu errichten, in denen deutsche Arbeiter dahinsiechen und zu Tode gefoltert werden? […] Dass der innere Friede in Deutschland so aussieht, dass im Auftrage der braunen Unterdrücker Menschen grauenvoll misshandelt und Kulturstätten niedergebrannt werden, nachdem man sie vorher beraubt hat? Dass die

deutsche Kultur Formen annimmt, deren man sich im Mittelalter geschämt hätte? Wollen wir das?50 Durch einen Spitzel verraten, wurden ab Jänner 1939 fast alle Widerstandszellen enttarnt, deren Mitglieder verhaftet und in der Folge zu zeitlich begrenzten Freiheitsstrafen verurteilt.51 Auch in den Industriegebieten der Obersteiermark kam es bereits wenige Wochen nach dem „Anschluss“ zu einem Neuauf bau der Zellen des Kommunistischen Jugendverbands (KJV) und der KPÖ. Ebenso rasch hatte auch hier die Gestapo die Gruppen enttarnt, und bereits im Mai und Juni 1939 waren über 40 Aktivisten des von Alois Lew aufgebauten KJV Knittelfeld mit Verbindungen nach Judenburg, Pöls, Leoben und Mürzzuschlag festgenommen.52 Ebenfalls sehr früh schon wurde in Kapfenberg eine große Organisation der KPÖ um den 26-jährigen Elektrotechniker Anton Buchalka aufgebaut.53 Buchalka gelang es innerhalb relativ kurzer Zeit, ein Netz von Widerstandszellen über die Obersteiermark zu legen, das bis nach Mürzzuschlag auf der einen und Leoben auf der anderen Seite reichte. Diese Zellen wurden bis zur Verhaftung Buchalkas am 30. Jänner 1940 mit Flugschriften in der Auf lage von 500 Stück beliefert, die sich unter anderem ausführlich mit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt auseinander setzten. Bis Oktober 1940 sollten rund 250 Personen aus dieser Widerstandsgruppe verhaftet und angeklagt werden. Buchalka wurde zum Tode verurteilt und am 10. Juli 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet, die Mitangeklagten erhielten lange Zuchthausstrafen. Dieser erste Schlag gegen den zentral ausgerichteten kommunistischen Widerstand führte unter anderem auch dazu, dass die Verbindungen mit dem Ausland (zunächst Paris, später Moskau), wo die Führung der KPÖ saß, abgebrochen wurden. Um die Verbindungen zwischen den im Land aktiven Gruppen und der Auslandsleitung wiederherzustellen, wurde zu

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

503

Weihnachten 1939 bei einem und Weststeiermark und in Treffen der führenden Funkeinige Gemeinden der Umtionäre in Split beschlossen, gebung von Graz auf, wo ein Kuriere nach Österreich zu Reihe von kommunistischen schicken. So fuhren im FrühZellen bestand. Gleichzeitig jahr 1940 die Architektinnen verfasste die Grazer Gruppe Margarete Schütte-Lihotzweitere, von Gertrude Heinky54 und Ines Viktoria Maier zel vervielfältigte und später sowie der steirische Architekt bei ihr gefundene FlugschrifHerbert Eichholzer55 von ten. In einem Flugblatt beAnkara nach Österreich. richteten WiderstandskämpIn Graz hatte in der Zwifer ausführlich über die Euschenzeit Karl Drews gethanasie in Steinhof (Wien) meinsam mit Dr. Franz Weiß, und Feldhof (Graz).57 Durch Kurt Koppel verJosef Neuhold und Anton raten, f log Ende Jänner 1941 Kröpf l begonnen, eine neue Herbert Eichholzer das komplette WiderstandsLeitung der KPÖ aufzubauSammlung Halbrainer, Graz netz der KPÖ von Wien bis en. Diese Gruppe fand Herin die Steiermark auf. Da es bert Eichholzer vor, als er mit dem Auftrag, in Graz die kommunistische Or- der Gruppe um Drews gelungen war, Kontakte ganisation zu ermitteln oder aufzubauen, die in mehrere Bezirks- und Industriestädte aufVerbindung zwischen dieser Organisation und zubauen und diese u. a. mit illegaler Literatur dem Auslandsapparat herzustellen und die in und Flugblättern zu versorgen, waren die FolWien bestehenden einzelnen selbstständigen gen verheerend. In Graz, den UmgebungsgeGruppen zu einer einheitlichen Organisation meinden Frohnleiten und Übelbach, in Fohnszusammenzufassen, in die Steiermark zurück- dorf und den weststeirischen Industrieorten wurden im Frühjahr 1941 einige hundert Pergekehrt war. In der Folge stellte Eichholzer den Kontakt sonen verhaftet, wobei mehr als 20 zum Tode mit Wien her, wobei er zwischen Mai und verurteilt und hingerichtet wurden. Zur glei­Oktober 1940 selbst mehrmals nach Wien fuhr chen Zeit – ab Herbst 1940 – trat in Graz eine und sich dort mit führenden Funktionären der vom 21-jährigen Schriftsteller und Lehrer RiKPÖ traf. Aus Wien brachte Eichholzer auch chard Zach geleitete Gruppe von jugendlichen mehrere Druckschriften mit, die er Gertrude Kommunisten mit Flugschriften an die ÖffentHeinzel, der Lebensgefährtin von Karl Drews, lichkeit. Diese Flugschriften unter dem Titel gab, die diese vervielfältigte.56 Bei einem der „Der Rote Stoßtrupp“ gelangten über Josef Treffen in Wien begegnete Eichholzer Kurt Neuhold, den Vater eines Gruppenmitgliedes Koppel („Ossi“), der, wie sich später heraus- der Gruppe um Zach, auch nach Fohnsdorf stellen sollte, ein Spitzel der Gestapo war. Wäh- bzw. in die Weststeiermark. Im Zusammenhang rend Herbert Eichholzer im Oktober 1940 sich mit der Verhaftung der Landesleitung wurde freiwillig zur Wehrmacht meldete, um auch auch diese Gruppe verhaftet und Richard Zach dort gegen das nationalsozialistische System zu zum Tode verurteilt.58 Nach diesem Schlag gegen die steirische wirken, baute die Gruppe um Drews, Neuhold, Kröpf l und Weiß Verbindungen in die Ober- Leitung der KPÖ unternahm der Gendarmerie-

504

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

Hauptwachtmeister Franz Hiebler aus St. Oswald bei Graz im Frühjahr einen letzten Versuch, eine zentrale Leitung der KPÖ in der Steiermark aufzubauen.59 Diese letzte Landesleitung, der neben ihm noch der Kapfenberger Arbeiter Karl Prazak, der Grazer Angestellte Wilhelm Maurer und der Dreher Johann Pölzhofer aus Kindberg angehörten, nahm in den folgenden Wochen mit Widerstandskämpfern in Bruck an der Mur, Judenburg und Weiz Kontakt auf. Hiebler ging im Frühjahr 1942 auch daran, mit der Grazer Gruppe um Poketz in Verbindung zu treten, was diese aber ablehnte.60 Die „Gruppe Hiebler“ übte einerseits im Rahmen der „Roten Hilfe“ Solidarität mit den Angehörigen der von der Gestapo verhafteten Personen. Andererseits verfassten (vor allem Hiebler) und vervielfältigten sie zahlreiche Flugblätter, die an die Bauern und Arbeiter der Steiermark gerichtet waren. Die Überschriften einiger dieser Flugschriften lauteten: „Was hat Euch der ­Faschismus versprochen?“, „Erinnerungen an Hitlers Erzählungen und Versprechen“, „Wie verhalte ich mich im Kampfe gegen das faschistische Terror- und Versklavungs­ system?“, „Wie kann ich trotz Gestapoterror eine Organisation auf bauen und führen?“, „Mein Kampf oder unser Kampf “. Über diese Flugblätter stellte das Volksgericht später fest: Sie greifen in niedriger und gehässiger Weise den Führer an, schieben ihm völlige Knechtung der Arbeiter und Bauern zu, die er rechtlos machen und unterdrücken wolle, werfen ihm vor, dass er Österreich mit dem Reich nur vereinigt habe, um die wirtschaftliche und militärische Stärke des Reiches für den beabsichtigten Eroberungskrieg zu heben, künden an, dass er Millionen Not und Kummer bringen werde und beschuldigen ihn, trotz seines Versprechens keine territorialen Ansprüche zu erheben, die Tschechoslowakei, Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Jugoslawien, Griechenland und schließlich die Sowjet-

union überfallen zu haben und an dem Krieg schuld zu sein.61 Nachdem am 4. August 1942 die führenden Köpfe dieser Gruppe, Franz und Adolf Hiebler, Gottfried Raschl, Josefine Fellinger und Wilhelm Maurer verhaftet worden waren, begann das Aufrollen der Widerstandsgruppen in Kapfen­berg, Graz, Mürzzuschlag, Judenburg, Bruck an der Mur und Weiz, an dessen Ende nach Angaben der Gestapo rund 250 Personen festgenommen wurden.62 Nach der Zerschlagung dieses Netzes konnte der zentrale, von Graz aus operierende Widerstand nicht mehr reorganisiert werden. In der Folge galt die Parole der KPÖ „Du bist die Partei“. Kleine, unabhängig voneinander operierende Betriebszellen prägten für die letzten beiden Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft das Bild des kommunistischen Widerstands. Arbeiterwiderstand in den Betrieben Neben den zentral organisierten Widerstandsgruppen gab es in fast allen großen Betrieben der Steiermark sogenannte Betriebszellen, die die ungebrochene sozialistische Tradition aus der Ersten Republik, die auch unter dem „Ständestaat“ nicht aufgelöst werden konnte, fortsetzten. Zumeist von kommunistischen Kadern initiiert und geleitet, haben diese Zellen zum einen den gesinnungsmäßigen Zusammenhalt gewahrt und zum anderen Solidarität mit den Familien von inhaftierten, verfolgten und ermordeten Arbeitskollegen geübt, indem sie Gelder für die „Rote Hilfe“ sammelten. Diese Hilfe wurde von den nationalsozialistischen Gerichten, obwohl primär aus solidarischen Gründen erfolgt, jedoch zumeist als Beitragsleistung für eine verbotene Partei ausgelegt, weshalb es vor allem nach dem Kriegsbeginn

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

mit der Sowjetunion zu drakonischen Strafen auch für geringe Spendenleistungen kam.63 Mit Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 kam es aber auch seitens der Betriebszellen – vor allem bei der Deutschen Reichsbahn – zu einer Radikalisierung. So wusste die Gestapo zu vermelden, dass zwischen 17. Juni und 13. November 1941 in der Steiermark und Kärnten mehr als 200 Sabotageakte, meist an Wehrmachtsgarnituren auf zahlreichen Rangierbahnhöfen in der Steiermark, entdeckt worden seien. Im September 1941 wurden deshalb 25 Eisenbahner verhaftet, die bereits 1939 Widerstandszellen in den Bahnhöfen in Leoben und Bruck an der Mur gegründet hatten und die nach dem Kriegsbeginn gegen die Sowjetunion mit Sabotageakten begannen, indem sie Bremsund Kupplungsschläuche zerstörten, Sand und Steine in Ölbehälter leerten oder, wie am 22.  August 1941 in Selzthal, ein Knäuel brennender Putzwolle in einen mit Munition be­ ladenen Waggon warfen.64 Eine Reihe von Todesurteilen war die Folge. Ebenfalls Vorbereitungen für größer angelegte Sabotageaktionen unternahm eine Gruppe von Eisenerzer und Vordernberger Bergarbeitern, die ein Lager mit gestohlenem Sprengstoff anlegten und planten, die wichtige Verkehrsverbindung zwischen Leoben und Linz in die Hermann-Göring-Werke zu unterbinden. Auch diese Gruppe wurde rasch entdeckt. Bereits im November 1941 waren 14 Mitglieder verhaftet worden, wobei elf von ihnen vom Kreisgericht Berlin 1942 zum Tode verurteilt wurden. Bei einer Neuverhandlung vor dem Volksgerichtshof 1943 wurden die Urteile aufgehoben und der Kopf der Gruppe, Martin Michelli, und drei weitere zum Tode verurteilt und hingerichtet.65 In den Bahnhöfen Bruck an der Mur, ­Leoben, Mixnitz, Frohnleiten, St. Michael bzw. in der Hauptwerkstätte Knittelfeld bildeten sich

505

Ab 1944 kämpfte die ÖFF (Österreichische FreiheitsDÖW front) in den Bergen der Steiermark

bis 1945 wiederholt Widerstandszellen, die ab 1943 auch eine in der Obersteiermark gegründete Partisanengruppe unterstützten. Immer wieder wurden Mitglieder dieser Gruppen verhaftet, angeklagt und verurteilt. Über 30 bezahlten mit ihrem Leben. Partisanen in der Steiermark Einen Wendepunkt für den kommunistischen Widerstand auch in der Steiermark stellte angesichts der oben dargelegten Probleme – den Verhaftungswellen gegen große Widerstandsnetze und der geopolitischen Lage – die Umorientierung auf kleine voneinander unabhängige Gruppen nach dem Motto „Du bist die Partei“ dar. Darüber hinaus strahlte der Sender „Freies Österreich“ am 22. und 23. Oktober 1942 einen Auf-

506

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

ruf aus Moskau aus, der alle Österreicherinnen und Österreicher aufforderte, sich in der „Österreichischen Freiheitsfront“ (ÖFF) zu vereinen.66 So kam es in Leoben im Juli 1942 zum Wiederauf bau der KPÖ, die den Grundstein für die später hier gegründete ÖFF bilden sollte. Kommunistische Kader, die bislang nicht tätig geworden waren, sammelten sich um den Schlosser Sepp Filz, den Uhrmacher Ferdinand Andrejowitsch, den Kriegsversehrten Max Muchitsch, den gerade erst aus der Haft entlassenen Anton Wagner und den ehemaligen Gewerkschaftssekretär Simon Trevisani.67 Es gelang ihnen, in der Obersteiermark ein Netz von Widerstandsgruppen bzw. Hilfsgruppen aufzubauen und Kontakte zu den slowenischen Partisanen nach Jesenice zu knüpfen. Dorthin mussten Filz und Wagner im April 1943 auch f liehen, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Nach mehrmonatigem Aufenthalt beim Pokljuka-Bataillon68 kehrten sie im Herbst 1943 nach Leoben zurück und schritten an den Auf bau einer organisatorischen Basis für einen Partisanenkampf. Es gelang ihnen, verschiedene öffentliche Stellen (Gemeindeämter, Eisenbahn, Telegrafenamt, Bezirksbehörden usw.), aber auch das örtliche Militärkommando zu infiltrieren und eine sogenannte Bodenorganisation zu schaffen. Diese Organisation bestand aus Männern und Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Zugehörigkeit, die die Partisanen mit Informationen und Lebensmitteln versorgte sowie ihnen Quartier gaben.69 Nachdem diese logistischen Schritte gesetzt worden waren, wurde im Herbst 1943 in der Nähe von Trofaiach eine Landesleitung der ÖFF gebildet, der neben den im Bezirk Leoben Tätigen auch Vertreter von Widerstandsgruppen aus Judenburg, Villach, Graz und Wien angehörten. Dabei wurde beschlossen, im Frühjahr 1944 mit dem bewaffneten Kampf zu beginnen. Gleichzeitig wurde unter dem Namen

ÖFF ab April 1944 in der Obersteiermark eine Reihe von Flugschriften zur Verteilung gebracht. Während im Frühjahr und Sommer 1944 im Bezirk Leoben und Bruck an der Mur erste Aktionen gesetzt wurden, begannen in Judenburg Bruno Rauch und Johann Schleich ebenfalls mit dem Auf bau einer Partisanengruppe, die mit der Leobener Gruppe in enger Verbindung stehen sollte.70 Die militanten Anschläge auf Eisenbahnanlagen in Kapfenberg, Leoben und St. Michael sowie die Überfälle auf lokale Nationalsozialisten führten zu massiven Verfolgungsmaßnahmen seitens der Gestapo unter Führung des von Graz nach Leoben versetzten Chef des Kommunistenreferates Johann Stelzl. Wegen ihrer Unvorsichtigkeit konnten im August 1944 zwei führende Partisanen verhaftet werden, was in der Folge zur Aufdeckung des gesamten illegalen Netzes führte. Mehrere hundert Personen wurden verhaftet und zum Teil in Konzentrationslager überstellt, wo in der Folge 44 Männer und Frauen aus der Bodenorganisation der ÖFF ermordet wurden.71 Für die in den Bergen lebenden Partisanen bedeutete dieser Schlag gegen die Organisa­ tion, dass sie bis kurz vor Kriegsende vom ­„sicheren“ Hinterland – den Unterstützern – abgeschnitten waren und sich in kleinen Gruppen in die unwegsamen Berge zurückziehen mussten. Eine Gruppe wurde dennoch am 1.  Dezember 1944 in einem Bergbunker entdeckt. Ein Partisan, Heinrich Kohnhauser, wurde getötet, ein weiterer, Sepp Filz, lebensgefährlich verletzt. Während die Gruppe um Filz die restlichen Monate bis Kriegsende überstand und im Frühjahr daran ging, Vorbereitungen für die Zeit danach zu treffen – so waren sie im Mai 1945 u. a. dafür verantwortlich, dass die Industrieanlagen der Alpine Montangesellschaft in Donawitz nicht zerstört wurden –, wurde die Judenburger Gruppe, nachdem diese bereits Bunker angelegt hatte,

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

noch vor Aufnahme der ersten militanten Anschläge Ende April 1944 durch einen Spitzel verraten und verhaftet. Eine andere, aus 24 Personen bestehende Partisanengruppe, die „Kampfgruppe Avantgarde“, die unter dem Namen „Koralmpartisanen“ bekannt wurde, war im Sommer 1944 mit Flugzeugen aus der Sowjetunion in das befreite Gebiet um Črnomelj in Slowenien gekommen und von dort in Richtung Saualpe und später Koralm aufgebrochen. Diese kleine im Grenzgebiet zu Slowenien operierende Gruppe hatte in den ersten Monaten in der „Ostmark“ schwere Verluste erlitten, weshalb sie zeitweilig im Rahmen der Lackov-Einheit der Osvobodilna Fronta, der slowenischen Befreiungsfront kämpften. In den letzten Wochen des Krieges trennten sie sich von den slowenischen Partisanen und nahmen viele Deserteure auf, sodass sie bis zum Kriegsende zu einer mächtigen Gruppe aufsteigen konnten, die ab April 1945 Teile des Koralmgebiets kontrollierte und am 7./8. Mai 1945 in den weststeirischen Orten Schwanberg und Deutschlandsberg die Macht übernahm.72 Ab Herbst 1944 schlossen sich im Bezirk Hartberg Deserteure aus der Wehrmacht, später auch Volkssturmangehörige der Widerstandsbewegung um Gustav Pfeiler an. Diese nahm am 18. März 1945 den bewaffneten Kampf auf. Teilweise spektakuläre Aktionen, wie die Sprengung von drei außerhalb von Penzendorf abgestellte Flugzeuge oder der Versuch, den Ortsgruppenleiter von Hartberg, Erich Heumann, am 8. April in Staudach, wohin er seine Familie evakuieren hat lassen, festzunehmen, führten dazu, dass sich einerseits immer mehr Personen den Partisanen anschlossen – Pfeiler spricht von 280 –, dass aber andererseits immer mehr SS-Männer zur Verfolgung des Widerstands eingesetzt wurden. Ab dem 26. April wurden zahlreiche Bauern aus Staudach, Pongrazen und Grafendorf ver-

507

haftet, da sie u. a. beschuldigt wurden, beim Versuch beteiligt gewesen zu sein, Heumann am 8. April in Staudach zu verhaften, wobei dieser schwer verletzt und seine Angehörigen erschossen wurden, bzw. die Partisanen zu unterstützen. 13 Personen wurden am 4. Mai 1945 im Hartberger Stadtpark erschossen bzw. am Hauptplatz gehenkt, weitere Unterstützer von den sich zurückziehenden SS-Einheiten mitgenommen und unterwegs erschossen.73 Widerstand in der Endphase Im Spätherbst 1944 konstituierte sich rund um den Kommunisten Ferdinand Kosmus und um Hans Müller, den Sohn des Besitzers des Kaufhauses „Moden Müller“, im Keller des Geschäftslokals in der Murgasse in Graz die „Steirische Kampfgemeinschaft“74. Dieser Gruppe gelang es bis ins Frühjahr 1945 einerseits eine Reihe von Verbindungen in die großen Grazer Betriebe herzustellen und andererseits wichtige Verbindungen ins Polizeirevier und zum Wehrbezirkskommando aufzubauen, von wo auch Ausweispapiere organisiert wurden, mit denen Fahnenf lüchtige versorgt werden konnten. Diese Gruppe produzierte im April und Mai 1945 mehrere Flugblätter, die sich an die Zivilbevölkerung, aber auch an die Soldaten und Volkssturmmänner richteten und sie aufforderten, nicht mehr an die Front zu gehen und sich stattdessen der „Kampfgemeinschaft“ anzuschließen. Die Gruppe war auch dafür verantwortlich, dass die Brücken über die Mur nicht, wie vorgesehen, vor der näherrückenden Roten Armee gesprengt wurden.75 Bedeutung kam der Kampfgemeinschaft zudem in den ersten Stunden der neuen Freiheit zu, als sie, unterstützt durch 30 bewaffnete griechische Fremdarbeiter, die noch einsitzenden politischen Häftlinge befreite und sich in den Dienst einer ersten Polizei stellte. Gleichzeitig übernahmen Mitglieder dieser Gruppe in ver-

508

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

schiedenen Grazer Betrieben kurz vor Kriegsende die Macht und sicherten die Anlagen vor Zerstörungen. Mitglieder dieser Gruppe waren auch dabei, als in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 Parlamentäre zu den auf der Ries bei Graz liegenden Sowjets fuhren und über eine gewaltlose Übergabe der Stadt Graz Verhandlungen führten. Ähnliche, zumeist erst in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 gegründete Gruppen, deren zentrale Rolle vor allem darin lag, sinnlose Zerstörungen zu verhindern, gab es auch in anderen Orten, wobei vor allem der Widerstandsgruppe im Ausseer Gebiet über die Stei-

ermark hinaus Bedeutung zukam. Im damals zum Gau „Oberdonau“ gehörenden Salzkammergut hatte sich im Herbst 1943 um den ehemaligen Spanienkämpfer Sepp Plieseis eine Partisanengruppe, die Gruppe „Willy/Fred“, gebildet. Dieser in den steirisch-oberösterreichischen Bergen lebenden Gruppe kam im Mai 1945 gemeinsam mit Salinenarbeitern aus Aussee große Bedeutung zu, auf die auch Landeshauptmann Pirchegger in seinem Bericht einging – sie retteten nämlich die im Stollen des Salzberges gelagerten Kunstschätze, die von den Nationalsozialisten im Zuge der „verbrannten Erde“ zerstört hätten werden sollen.76

Individueller Widerstand – oppositionelles Verhalten Neben dem politisch organisierten Widerstand gab es – wie schon einleitend festgestellt – eine breite Palette von oppositionellen Handlungen und Meinungen, die vom nationalsozialistischen Staat verfolgt wurden, da sie das Informationsmonopol ebenso in Frage stellten wie konkrete Formen der Herrschaftsausübung. Normalität und Menschlichkeit wurden im NS-Regime kriminalisiert, alltägliche Äußerungen und Wertungen durften plötzlich nicht mehr gedacht und ausgesprochen werden. Die vielfach durch „Volksgenossen“, durch vermeintliche Freunde und Nachbarn, denunzierten individuellen Widerstandshandlungen77 waren etwa das „Schwarzhören“, d. h. das verbotene Abhören ausländischer Radiosender, sowie die Weiter­ gabe der gehörten Nachrichten, oder die „heimtückischen“ bzw. wehrkraftzersetzenden Äußerungen, die von harmlosen Unmutsäußerungen, da Versprechungen nicht erfüllt worden waren, über politische Witze bis hin zum Zweifel am „Endsieg“ reichten. Diese „kleinen“ Widerstandshandlungen und oppositionellen Haltungen, die in ihren

Folgen alles andere als klein und gering waren, nahmen nach den Jahren der geradezu euphorischen Zustimmung der Bevölkerung zu den Maßnahmen des NS-Systems78 ab dem Jahr 1943 merklich zu, da mit den Niederlagen an den Fronten, den Luftangriffen im „Hinterland“ und einer spürbar werdenden Versorgungskrise es zu Spannungen in der Gesellschaft und zu einem Schwinden des Vertrauens in die NS-Führung kam. Immer öfter wurden Steirer und Steirerinnen nun vor Sonder­gerichte gestellt, wie etwa die Grazerin Angela Friedl, die im August 1943 gegenüber der Blockleiterin der NSV angesichts einer Spendensammlung geäußert hatte: Was wollen Sie schon wieder da, wollt Ihr noch länger Krieg führen, habt Ihr noch nicht genug Blut vergossen; und Ihr glaubt noch an einen Sieg? Lächerlich, seid doch nicht so blöd, unsere Soldaten wollen ja nicht mehr kämpfen, ein jeder hat schon genug, aber Ihr gebt nicht nach.79 Angela Friedl wurde deshalb zu einem Jahr Kerker verurteilt, da sie, wie es im Urteil heißt,

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

Urteilsbegründung des Oberlandesgerichtes Wien in der Strafsache gegen Angela Friedl, Februar 1944

509

StLA

510

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

den Willen des deutschen Volkes zur wehrhaften Selbstbehauptung zu lähmen und zu zersetzen suchte.80 Obwohl in der Urteilsbegründung festgestellt wurde, dass bloß ein minder schwerer Fall der Wehrkraftzersetzung vorliege, wurde sie nach der Haftverbüßung ins KZ Ravensbrück überstellt, wo sie am 22. Jänner 1945 starb. Als im Sommer 1944 eine Erhöhung der Fleischrationen für die folgende Kartenperiode um 10 Dekagramm angekündigt wurde – eine Maßnahme, die im krassen Gegensatz zu der schon dem Zusammenbruch nahen Kriegswirtschaft stand –, erzählte man sich im ganzen Land folgenden, vielfach auch denunzierten Witz.81 Jetzt bekommen wir um 30 dkg Fleisch mehr, und zwar 10 dkg von dem Esel, der den Mussolini befreit hat, 10 dkg von dem Ochsen, der noch an den Sieg glaubt und 10 dkg von dem Bock, den wir im Jahre 1938 geschossen haben.

Einen qualitativen Unterschied zum Hören von BBC London bzw. Radio Moskau oder zu den „heimtückischen“ bzw. defätistischen Äußerungen gibt es bei jenen Formen des „kleinen“ Widerstands, wo Steirer und Steirerinnen bewusst Hilfe für Verfolgte – Juden, Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene – leisteten. Dies reichte vom Zustecken von Lebensmitteln und Zigaretten über das gemeinsame Essen und Feiern nach Einbringen der Ernte bis hin zum Verstecken von Juden. Dass diese Akte der Menschlichkeit streng bestraft wurden, zeigen die Verfahren gegen Steirerinnen und Steirer wegen verbotenen Umgangs mit Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen bzw. wegen Hilfe für Juden.82 Unter Einsatz ihres Lebens haben einige Steirer und Steirerinnen etwa im April 1945 ungarische Juden gerettet und bei sich versteckt, die auf sogenannten „Todesmärschen“ quer durch die Steiermark nach Mauthausen getrieben wurden.83

Nachsatz Wenn abschließend Angaben über die Größenordnung und Bedeutung des steirischen Widerstands versucht werden, so ist dies – was die Größenordnung betrifft – beim derzeitigen Forschungsstand mehr als problematisch. Sicher ist, dass keinesfalls die Mehrheit der Bevölkerung – wie Pirchegger 1946 meinte – hinter den Widerstandsgruppen stand. Ebenso sicher ist, dass mehrere hundert Widerstandskämpfer in Graz, in Wien84 und Berlin hingerichtet wurden.85 Kennt man zumindest von einem Großteil der Hingerichteten die Namen, so gibt es über die in den Konzentrationslagern ermordeten Widerstandskämpfer keine genaueren Angaben. Walter Brunner hat 22.788 politische Häftlinge eruiert, die in der Zeit zwischen dem Einmarsch deutscher Truppen und Kriegsende

von der Gestapo und anderen Dienststellen beim Paulustor – dem Gefangenenhaus in Graz – eingeliefert und von dort entweder dem Volksgerichtshof bzw. den Sondergerichten übergeben oder in ein Konzentrationslager oder an andere Gefangenenhäuser und Sicherheitsdienststellen abgegeben worden sind.86 Auch wenn der Widerstand nur von Teilen der Bevölkerung getragen wurde und er das nationalsozialistische Regime nie wirklich gefährden bzw., was Absicht der Partisanengruppen war, dessen Kriegsmaschinerie ernsthaft schädigen konnte, so heißt das aber keineswegs, dass die Bedeutung dieses Widerstandes gering zu schätzen ist. In der Zweiten Republik kam dem Widerstand mehrfach Bedeutung zu. So wurde etwa in Hinblick auf die Bemühungen

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

um den Staatsvertrag immer wieder auf den Widerstand verwiesen, wie ihn die Alliierten 1943 in der Moskauer Deklaration gefordert hatten. Daneben hatte der Widerstand aber auch eine national- und sozialintegrative Tendenz. Das durch Verfolgung, Emigration und Wider-

511

stand gewachsene gemeinsame Bekenntnis zur Nation Österreich und damit die Abkehr vom „großdeutschen Traum“, der sieben Jahre Realität war, wurde somit zu einer wesentlichen geistig-politischen Grundlage der Zweiten ­Republik.

Anmerkungen Dieser Beitrag wurde im Jahr 2005 abgeschlossen. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW), Mappe „Unveröffentlichte Unter­ lagen für das Rot-Weiß-Rot-Buch“ 8342. Anton Pirchegger an das Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten, 10. 5. 1946. 2 Rot-Weiß-Rot-Buch (1946). 3 Vgl. Tálos/Neugebauer, „Austrofaschismus“. 4 Vgl. Neugebauer, Widerstand und Opposition (2000), 187–212; Weinzierl, Widerstand 411–445; Halbrainer, „In der Gewißheit“. 5 Neugebauer, Was ist Widerstand 61–71, und die dort genannte und z. T. kritisierte Literatur. 6 Luža, Widerstand 25f. 7 Stadler, NS-Akten 12. 8 Botz, Methoden- und Theorieprobleme 137–151. 9 Frei, Der kleine Widerstand. 10 Zur Quellenkritik: Konrad, Widerstand 211ff. 11 Desput, Das Dritte Reich 25. 12 Polaschek, Wehe den Besiegten 107–128. 13 Wieland, Murau 101f. Das Urteil wurde 1940 auf 15 Jahre herabgesetzt. Brunner kam nach dem Bombenangriff auf das Zuchthaus Karlau am 19. 4. 1945 frei und spielte eine entscheidende Rolle bei der Befreiung der Stadt. 14 12 Vr 2230/39: Vernehmungsprotokoll Anselm Grand u. a. (= DÖW 11.178); Grand, „Turm A ohne Neuigkeit!“; Luža, Widerstand 71. 15 Vgl. Frank, Ritter, Tod und Teufel. 16 2 Vr 1208/39: Urteil gegen Alois Guggenberg, Oswald Hobisch, Johann Neuhuber, Gerhard Ozimic; 6 Vr 1226/ 39: Urteil gegen Alfred Wurzinger, Stefanie Ozimic (= DÖW11.174). 17 Vgl. Liebmann, „Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreichs“ 255–281; Liebmann, Planung und Aktionen 108–138. 18 Zarusky/Mehringer, Widerstand als „Hochverrat“ 1933–1945. Mikrofiche-Edition der Anklagen und Urteile: 7 J 208/43: Anklage und Urteil gegen Eduard Pumpernig, Dr. Anton Granig, Wenzel *

1

19

20

21

22

23 24

25

26 27 28

29 30

31 32

33

Primosch, Franz Stoppacher, Ernst Ortner, Karl Krumpl, Dr. Eduard Steinwender, Dr. Wilhelm Pieller. (Im Folgenden werden, so nicht anders angegeben, nur die Gerichtszahlen mit den Angeklagten und Verurteilen genannt.) 5 J 209/43 g: Anklage und Urteil gegen Wilhelm Hierländer, Markus Leyrer, Emil Ertl, Dr. Friedrich Lovretz. RKG 1. Sen. 15/44: Feldurteil gegen Kurt Grabenhofer, Karl Manninger, Harald Kern, Artur Fender, Johann Schnabl, Josef Gammer. 7 J 27/44: Anklage gegen Wilhelm von Fritsch, Dr. Alfred Ofenheimer, Gertrude Zwirn, Karla Braun­ egger, Maria Rostohar, Ferdinand Ivancic; Urteil gegen Wilhelm von Fritsch und Gertrude Zwirn. Hartmann, Im Gestern bewährt 404; Stepantschitz, Am nächsten Tag 390ff. Kronthaler, Die evangelische Kirche 231–244. StLA, BH Voitsberg, K. 294, Gruppe 14, Wa–Wi 1/1940, Bericht des Gendarmeriepostens Voitsberg an den Landrat des Kreises Voitsberg, 25. 2. 1944. StLA, Landesgericht für Strafsachen Graz, Volksgericht Graz, Vr 5699/47 Abschrift des Briefes der Geheimen Staatspolizei, IV B 1.1204/43 an den Gendarmerieposten Kaindorf bei Hartberg vom 12. 8. 1943. Halbrainer, „Der größte Lump“ 77ff. Vgl. Liebmann/Kronthaler, Bedrängte Kirche. 3 J 680/44: Anklage und Urteil gegen Heinrich Dalla Rosa. Kronthaler, Heinrich Dalla Rosa 38–47; DÖW 2039 (Briefe, Abschriften aus Murtaler Volkszeitung). Mader/Knab, Das Lächeln des Esels. Veselsky, Bischof und Klerus 339ff.; Gelitten für Österreich (1988). Liebmann, „Reichskristallnacht“ 263–272. Garbe, Der lila Winkel 3–31; DÖW, Zeugen Jehovas. 3 Vr 1001/40: Urteil des Landesgerichts Graz gegen Anna Schwarz und Johann Sauer vom 23. 10. 1940

512

34

35 36 37 38 39

40 41

42 43

44 45

46

47 48

49

50

51

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

(DÖW 12.262). Hier heißt es, dass sie den HitlerGruß ablehnt und auch sich weigert, der Partei oder einer ihrer Gliederungen beizutreten, weil in der Bibel stünde, dass man nicht parteiisch sein solle und sie deshalb nicht mit Heil Hitler grüße, weil es in der Bibel steht, man soll keinem Menschen Heil zurufen, denn das Heil komme von Gott. Unterlagen über die verfolgten steirischen Zeugen Jehovas wurden mir von Frau Heidi Gsell vom Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas Österreich zur Verfügung gestellt, wofür ich mich an dieser Stelle recht herzlich bedanken möchte. West, Die Linke im Ständestaat. Hindels, Österreichs Gewerkschaften. Richter, Kampf bedingungen 53f. Mang, Steiermarks Sozialdemokraten 289ff. 7 J 205/43: Urteil gegen Lorenz Poketz, Franz Strohmeier, Johann Stelzer, Johann Strasser, Johann Bilek (= DÖW 19793/138); Vernehmungsprotokolle und Niederschriften zum Akt 7 J 205/43 (= DÖW 4788, 4790). Vgl. zur Gruppe um Poketz: Knoll, Gruppe 211ff. Muchitsch, Widerstand 47ff. Janeschitz, Felieferhof; Halbrainer, Terror und Erinnerung. Binder, Stunde der Pragmatiker 109ff. Neugebauer, Widerstand und Opposition (1988), 541. Steiner, Kommunistische Partei Österreichs 77ff. Zum Widerstand der KPÖ siehe u. a.: Luža, Widerstand 117–182; Konrad, Widerstand; Mitteräcker, Kampf und Opfer. Zur ÖFF: „Aufruf zur Bildung der Freiheitsfront“ im Sender „Freies Österreich“ am 22. und 23. 10. 1942. In: Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit (1978), 133–138. Muchitsch, Partisanengruppe Leoben-Donawitz. Aufrufe und Reden. In: Kommunistische Partei zur nationalen Frage (1945); Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit (1978). Die Ermittlungen der hiesigen Staatspolizeistelle ließen mit erschreckender Deutlichkeit erkennen, in welcher kurzen Zeit sich der Aufbau einer schlagkräftigen und aktionsbereiten illegalen Organisation ermöglichen läßt, wenn eine politische Krise eintritt, deren Ausgang dem Reiche Nachteile zuzufügen droht. Abschlußbericht der Gestapo Graz, 23. 3. 1939 (= DÖW 1571). Ojs 53/40: Anklageschrift gegen Elisabeth Sinic (= DÖW 682). 7 J 268/39: Anklage und Urteil des VGH gegen August Pirker, Johann Janeschitz, Nikolaus Wenky; Halbrainer, Widerstand und Verfolgung in Weiz 127–133.

52

53

54

55 56

57

58 59

60

61

62

63

64

65

66

67

68 69

Lew, Erinnerungen; Halbrainer, „In der Gewißheit“ 36. 2 J 103/40 g: Anklage und Urteil gegen Anton Buchalka u. a.; 2 J 36/41g: Anklage und Urteil gegen Rudolf Hermann, Christine Buchalka u. a. 7 J 181/42: Urteil gegen Erwin Puschmann, Margarete Schütte u. a., 22. 9. 1942; Schütte-Lihotzky, Erinnerungen aus dem Widerstand. Halbrainer, Herbert Eichholzer. 7 J 276/42 Anklage gegen Gertrude Heinzel vom 25. 8. 1942 (= DÖW 3378) Halbrainer, „Dasselbe erfahren wir vom Feldhof in Graz“ 335–344. Hawle, „Gelebt habe ich doch“. 7 J 599/42: Urteil gegen Franz Hiebler, 5. 4. 1943 (= DÖW 361). Hiebler war seit 1919 Mitglied der sozialdemokratischen „Freien Gewerkschaft“ und seit 1927 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. 7 J 599/42: Urteil gegen Wilhelm Maurer, Adolf Hiebler, Josefine Fellinger, 5. 4. 1943 (= DÖW 404). 7 J 599/42: Urteil gegen Franz Hiebler, 5. 4. 1943 (= DÖW 361). Bericht der Gestapo Graz, Herbst 1942 (= DÖW 1448 a, b). „Wegen einer Spende von 5 RM hingerichtet. Wie die steirischen Nazi ihre politischen Gegner beseitigten“. In: Neue Steirische Zeitung (17. 7. 1945). 7 J 392/42: Anklage und Urteil gegen Franz Goldmann u. a.; Vgl. Vogl, Österreichs Eisenbahner 145ff. 2 RKG 96/42: Urteil gegen Martin Michelli u. a. (= DÖW 3398); 7 J 169/43: Urteil gegen Martin Michelli u. a. (= DÖW 1956); Muchitsch, Rote Stafette 232ff. „Aufruf zur Bildung der Freiheitsfront“, Sender „Freies Österreich“, 22./23. 10. 1942. In: Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit (1978), 133ff. Viele davon waren bereits in der Ersten Republik bzw. zur Zeit des „Ständestaates“ innerhalb der KPÖ führend aktiv. Dazu: Halbrainer, Sepp Filz. Pavlin, Vorgeschichte 23–28. Neben der bereits genannten Literatur neuerdings auch die im Militärhistorischen Archiv in Prag/ Praha liegenden Akten: Haftbefehle, Vernehmungsniederschriften der Gestapo Leoben, Anklageverfügungen, RKG StPL 4. Sen. 113/44: Anklage und Urteil gegen Johann Bachler, Peter Kapper, Georg Winzig, Herman Pischelsberger, Anna Schweiger; RKG StPL 4. Sen. 6/45: Anklage und Urteil gegen Franz Haslinger, Johann Fürst,

Halbrainer / Widerstand und Opposition in der Steiermark 1938 bis 1945

70

71

72

73 74

75

Rupert Heindler. In diesen Akten finden sich auch Abschriften von Flugblättern und das Programm der ÖFF. 10 J 212/44: Urteil gegen Bruno Rauch, Johann Schleich u. a. (= DÖW 19793/145). Liste der in den Konzentrationslagern umgekommenen Mitgliedern der ÖFF Bodenorganisation bei Muchitsch, Rote Stafette 486f. Fleck, Koralmpartisanen; Wachs, Kampfgruppe Steiermark. Vgl. Posch, Hartberg 116–145. „Die letzten braunen Tage in der Steiermark“. In: Wahrheit (8. 5. 1946); Interview mit Walter Kosmus 4. 5. 1995 und 14. 11. 1997. Der letzte Kommandant von Graz, Oberst Leonhard, der Schwager einer führenden Widerstandskämpferin der „Steirischen Kampfgemeinschaft“, konnte von den Mitgliedern der Gruppe überzeugt werden, die Brücken nicht zu sprengen. Spreitzhofer, „Herr General, machen Sie Schluß mit dem Krieg“.

76

77 78 79 80

81

82 83

84 85

86

513

Vgl. Plieseis, Vom Ebro zum Dachstein; Gaiswinkler, Sprung in die Freiheit; Hummer, Region und Widerstand 111–179. Vgl. Halbrainer, „Der größte Lump“. Bukey, Hitlers Österreich 228f. StLA, Volksgericht Graz, Vr 325/46. 7 OJs 7/44, Urteil gegen Angela Friedl, in: StLA, Volksgericht Graz, Vr 325/46. Beispielsweise: StLA, Volksgericht Graz, Vr 2968/46, Vr 5353/47, Vr 7729/47, Vr 9443/47; Volksgericht Leoben, Vr 1285/46. Halbrainer, „Der größte Lump“ 115–127. Halbrainer, „Wer ein Menschenleben rettet“ 203– 206. Halbrainer, Steirer als Opfer 148–150. Die von Karner genannte Zahl (etwa 8.000 Stei­ rerInnen sollen aus politischen Gründen hingerichtet worden sein) ist mit Sicherheit viel zu hoch gegriffen. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 475. Brunner, Hinrichtungen und Tötungen 277–292.

Gerald Lamprecht

„… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“. Von der Zerstörung der jüdischen Gemeinde von Graz*

Bereits vor dem „Anschluss“ im März 1938 kam es in Graz zu Demonstrationen der National­ sozialisten, die von antisemitischen Tönen begleitet waren und in weiterer Folge durchwegs das Bild der „Stadt der Volkserhebung“ prägten. Dementsprechend und der antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten folgend waren unmittelbar nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Schuschnigg nicht nur die Repräsentanten des „Ständestaates“ und bekannte Oppositionelle, sondern auch führende Vertreter der jüdischen Gemeinde sowie der jüdischen Vereine und Organisationen von der ersten Verhaftungswelle betroffen.1 Unter den Verhafteten waren unter anderen der Nobelpreisträger Otto Loewi und Landesrabbiner David Herzog als prominente Vertreter der jüdischen Gemeinde.2 Abseits der ersten Verhaftungen kam es bereits in den Februar- und Märztagen zudem zu Störungen der Geschäftstätigkeit von Juden, indem vor Geschäften mit jüdischen Eigentümern Posten der Nationalsozialisten aufgestellt wurden, die die Menschen am Einkaufen hindern und die Geschäftsgrundlage der jüdischen Gewerbetreibenden stören sollten.3 Aber auch Beschlagnahmungen – beispielsweise von Personenwagen und Motorrädern – durch Dienststellen der NSDAP und andere NS-Organisationen fanden in diesen Tagen statt.

Allgemein ist festzuhalten, dass sich Graz nicht zuletzt in diesen Wochen des Jahres 1938 durch die Radikalität und Vehemenz der Grazer resp. steirischen Nationalsozialisten den Ruf einer „Hochburg des Nationalsozialismus“ und in weiterer Folge ab Juli 1938 den Titel „Stadt der Volkserhebung“ erworben hat. Graz, das sich seit den 1880er und 1890er Jahren als die „deutscheste Stadt“4 der Monarchie positionierte, stand damit in einer Reihe mit nationalsozialistischen Städten wie Nürnberg (Stadt der Reichsparteitage) oder München (Hauptstadt der Bewegung).5 Nicht zuletzt kann an den Ereignissen des Februar und März 1938 abgelesen werden, dass der „Anschluss“ zwar einen fundamentalen Systembruch darstellte, die ideologischen und mentalen Grundlagen für die folgenden Ereignisse ihre Wurzeln jedoch in den Jahren und Jahrzehnten davor hatten. Der Nationalsozialismus griff demnach auf den in Teilen der Bevölkerung tief verwurzelten Antisemitismus zurück und ließ die bis dahin in medialen Diskursen von Antisemiten ventilierten Forderungen nach Vertreibung der Juden aus dem öffentlichen Leben, aus der Gesellschaft zur brutalen Realität werden.

516

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

Vom „Anschluss“ zur Abstimmung Der „Anschluss“ und die unmittelbar folgenden Aktionen waren der Auftakt für die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Gleichzeitig wurde diese erste Zeit nach dem 12. März 1938 mit all den Erfahrungen und Qualen, denen Jüdinnen und Juden in den kommenden Jahren ausgesetzt sein sollten, als relativ ruhig beschrieben. So berichtete im April 1946 beispielsweise der erste Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde nach 1945, Isidor Preminger, an die Landeshauptmannschaft, dass bis zur Abstimmung vom 10. April 1938, wofür von Adolf Eichmann als Sühneleistung für die finanzielle Unterstüt-

zung der geplanten „Schuschnigg-Abstimmung“ ein Betrag von 300.000 Schilling von der jüdischen Gemeinde abgepresst wurde,6 und darüber hinaus bis zum Herbst die Situation in Graz für Juden als relativ ruhig eingestuft werden könne. Preminger: Dennoch waren in Graz während der Zeit bis in die Nacht vom 9. auf den 10. November keinerlei terroristische Belästigungen individueller Natur zu verzeichnen. […] Erst in dieser Nacht sind die SA und SS Banden auf Befehl gegen die Juden vorgegangen. Sie zerrten sie aus den Betten, prügelten sie und trieben sie stundenlang in der Nacht oft nur mit einem Nachthemd bekleidet durch die Straßen von Graz.7 Ludwig Biró beschreibt in seiner Autobiographie jene Zeit durchaus ähnlich, wobei er betont, dass die fehlende Exzessivität der ersten Monate nicht darüber hinwegtäuschen solle, dass Juden seit dem März aus der Gesellschaft, der nun entstehenden „Volksgemeinschaft“, ausgeschlossen wurden. „Um die Juden legte sich, wie um Aussätzige im Mittelalter, eine undurchdringliche Sphäre der Abstoßung, in allen Variationen, vom unbeherrschten, tödlichen Hass bis zum ohnmächtigen angstverzerrten Mitleid. Zu direkten Attacken des Publikums kam es selten, selbst die uniformierten Horden bewahrten eine ‚technische Disziplin‘, die dem wohlbegründeten Bewusstsein entsprang, dass die ‚Lösung der Judenfrage‘ in bewährten Händen lag, mit deren Sachkenntnis und Gründlichkeit man nicht zu konkurrieren brauchte.“8

NS-Posten vor dem Tuchhaus Rendi am Joanneumring UMJ/MMS in Graz, 1938

Führte also Preminger für diese erste Zeit keine persönlichen Übergriffe an, so verwies

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

Biró darauf, dass auch ohne individuelle physische Gewalt bereits unmittelbar nach dem „Anschluss“ und spätestens seit dem 10. April 1938 – die Nationalsozialisten waren sich in der ersten Zeit bis zum April ihres Rückhalts in der Bevölkerung nicht vollkommen sicher und versuchten daher zunächst zurückhaltend vorzugehen – die systematische Ausgrenzung, Diskriminierung, Vertreibung und Beraubung der jüdischen Bevölkerung einsetzte. Dieser Prozess betraf nicht nur die Bereiche des wirtschaftlichen Alltags, sondern erfasste die Jüdinnen und Juden in all ihren Lebensbereichen. Berufsverbote, Geschäftsschließungen, Schulverweise, die Entfernung aus den Wohnungen, die Einschränkung der religiösen und rituellen Handlungen und letztlich auch die Zerstörung der jüdischen kulturellen und religiösen Infrastruk-

517

tur, der Vereine und Einrichtungen der Kultusgemeinde. All diese Maßnahmen wurden in Österreich – nun „Ostmark“ und Exerzierfeld der nationalsozialistischen „Judenpolitik“ unter der Führung Adolf Eichmanns – im Gegensatz zum sogenannten „Altreich“ in einer ungeheuren Geschwindigkeit umgesetzt. Zunächst zielten diese Maßnahmen auf die vollständige Beraubung und mittellose Vertreibung der Jüdinnen und Juden ab. Doch spätestens ab September 1939 änderte sich die Zielrichtung, und an die Stelle der Emigration trat die Deportation in die eroberten östlichen Gebiete Polens.9 Mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 ging das Regime schließlich zum Völkermord über, dessen Opfer auch viele jüdische Steirerinnen und Steirer wurden.10

Zerstörung des Alltags Unternimmt man in der nachträglichen Analyse der systematischen Diskriminierung, Vertreibung, Beraubung und Vernichtung der ­jüdischen Bevölkerung den Versuch einer Unterteilung in unterschiedliche Phasen und Bereiche, so muss dabei bedacht werden, dass die einzelnen nationalsozialistischen Maßnahmen und Gewaltakte miteinander eng verwoben waren und in einer Gleichzeitigkeit vonstatten gingen. Jüdinnen und Juden waren demnach nicht nur von einer einzigen Gewaltmaßnahme betroffen, sondern in der Regel von einem ganzen Bündel, was abseits der materiellen Verluste und physischen Qualen bei vielen Opfern bereits vor der Emigration oder Deportation zu existentiellen Sinnkrisen führte und nicht ­wenige in den Selbstmord trieb. Als einer der ersten Schritte neben den Verhaftungen führender politischer, religiöser und wirtschaftlicher Mitglieder der jüdischen Ge-

meinde kann die systematische Entrechtung, die Zerstörung des Alltags und der wirtschaftlichen Lebensgrundlagen gesehen werden. Den Einschränkungen der wirtschaftlichen Aktivitäten folgten die ersten Verordnungen, die auch ein öffentliches und letztlich religiöses, rituelles Leben unmöglich machen sollten.11 So wurde beispielsweise bereits am 16. März 1938 in der Grazer Tagespost das generelle Schächtverbot in Graz verlautbart.12 Und am Tag zuvor wurde berichtet: „Keine Juden in der Rechtspf lege“, womit die Entlassung aller jüdischen Richter und Staatsanwälte wie auch die Sperre der Aufnahme von Juden in Rechtsanwaltskanzleien oder Notariaten bekannt gegeben wurde.13 Auch kam es zu Einschränkungen der individuellen Bewegungsfreiheit der jüdischen Bevölkerung durch Ausgehverbote und zunehmende Aussperrungen aus Geschäften, Kaffeehäusern, Kinos sowie Parkanlagen.14

518

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

Mit Beginn des neuen Schuljahres wurden alle israelitischen Schüler in zwei Sonderklassen zusammengezogen und in der israelitischen Schule untergebracht. Mit Rücksicht auf die Auswanderung der Juden aus Graz konnten diese Sonderklassen geschlossen und nach dem Brand des Tempels nicht mehr geöffnet werden.17

Otto Loewi

UMJ/MMS

Von diesen ersten Maßnahmen waren nicht nur Erwachsene betroffen, sondern auch die jüdischen Kinder. Zwar konnten die jüdischen Schülerinnen und Schüler das Schuljahr 1937/38 im Gegensatz zu jüdischen Lehrerinnen und Lehrern noch beenden. Doch im darauf folgenden Jahr war kein Kind jüdischen Glaubens mehr an öffentlichen Schulen zu finden. Vielmehr wurde ein „schulisches Ghetto mit gleichzeitiger Dequalifikation“ aufgebaut. Für die ­jüdischen Schülerinnen und Schüler wurde eine gesonderte Schule nach einem eigenen Lehrplan – Allgemeinwissen und handwerkliche Befähigungen –, der auf die bevorstehende Auswanderung und das Leben in Palästina vorbereiten sollte, eingerichtet.15 Der Grazer Oberbürgermeister Dr. Julius Kaspar16 berichtete diesbezüglich im Mai 1939 in der 1. ordentlichen Sitzung der Ratsherren:

Auch an der Universität kam es zu „Säuberungsaktionen“, die zu Entlassungen aus rassistischen oder politischen Gründen führten. ­Jüdischen Studentinnen und Studenten wurde die Weiterführung ihres Studiums, sofern sie bis zum Ende des Studienjahres 1937/38 einen ­Abschluss erlangen konnten, gestattet. Ihre Promotion erfolgte allerdings nicht mehr öffentlich, sondern nur unter einer Anzahl von Auflagen – darunter Verzicht auf die Berufsausübung im Reichsgebiet – im Geheimen. Letztlich wurden die jüdischen Studierenden ab dem Herbst 1938 vollständig von den Universitäten ausgeschlossen.18 Den jüdischen Dozenten entzog man an der Karl-Franzens-Universität bereits Anfang April die Lehrbefugnis, ehe sie Ende des Monats aus dem Dienst entlassen wurden.19 Als Grundlage diente dabei die Vereidigung aller Universitätsangehörigen auf Adolf Hitler, wovon Jüdinnen und Juden explizit ausgeschlossen waren.20 Die wohl prominentesten jüdischen Opfer sind Nobelpreisträger Otto Loewi, dem unter Abpressung des Nobelpreisgeldes die Emigration in die USA gelang, und Rabbiner David Herzog.21 Als weiterer Schritt der organisierten Beraubung und des Entzugs der Lebensgrundlage der jüdischen Gemeindemitglieder wurde am 26. April 1938 in Graz, als Zweigstelle von Wien, die Vermögensverkehrsstelle zur Überwachung und Durchführung der „Arisierung“ der jüdischen Betriebe eingerichtet.22 „Jüdisches“ Gewerbe, allgemein „jüdisches“ Vermögen, musste nach der „Verordnung über die Anmeldung der Vermögen von Juden“ vom 26. April 1938 ge-

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

meldet und in weiterer Folge zu geringen Preisen verkauft werden. Zudem wurden auch Wohnungen beschlagnahmt und Mietrechte entzogen.23 Ziel der „Arisierung“ war, unter dem Deckmantel der „Rechtmäßigkeit“ und „Legalität“ das gesamte jüdische Eigentum in nichtjüdische Hände zu bringen. Dabei ging es einerseits darum, ehemalige „illegale“ Nationalsozialisten mit jüdischem Eigentum zu „entschädigen“ resp. zu belohnen, und andererseits stellte die „Arisierung“ auch ein Instrument der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik dar. Die massenhafte Liquidierung von Kleinbetrieben wurde als Teil der Rationalisierung der „ostmärkischen“ Ökonomie gesehen und war damit auch Strategie für die direkte Einf lussnahme auf die Wirtschaft.24 Gleichzeitig war die potentielle Möglichkeit, durch Entrechtung und Enteignung eines Teiles der Gesellschaft auf einfachem und günstigem Wege zu „Eigentum“ zu kommen, für viele Nichtjuden die Gelegenheit, ihre Skrupellosigkeit und Raffgier unter Beweis zu stellen. Wie aus den Akten der Vermögensverkehrsstelle vielfach hervorgeht, waren es illegale Nationalsozialisten, gescheiterte Persönlichkeiten, erfolgreiche Geschäftsleute, einfache Bürger, Männer und Frauen, die plötzlich die Chance gekommen

519

sahen, sich zu bereichern oder „beruf lich zu verändern“. Sie „bewarben“ sich bei mehrfacher Betonung ihrer aufrichtigen und langjährigen nationalsozialistischen Gesinnung um Eigentum von Jüdinnen und Juden. Aber auch die Aufgaben der „kommissarischen Verwalter“ – meist „illegale“ Nationalsozialisten, die durch die Verwaltertätigkeit für ihre Aktivitäten während der Zeit des „Austrofaschismus“ entschädigt werden sollten – sowie der Gutachter und schließlich der Abwickler boten Baumeistern und Rechtsanwälten vielfache Gelegenheiten, am Unglück der jüdischen Bevölkerung durch Honorare und sich „zufällig“ ergebende Geschäfte gut zu verdienen. Möglich war dies in der Steiermark in zumindest 1.600 „Arisierungsfällen“, die in der Zeit zwischen 1938 und 1945 von der Vermögensverkehrstelle Graz und ihren Nachfolgeorganisationen durchgeführt wurden.25 Derart stellte vor allem der Prozess der „Arisierung“, der neben den Gewerben, Industriebeteiligungen und Liegenschaften auch Schmuck, Geschirr, Möbel – Gegenstände des Alltags – betraf, wohl jenen Teil nationalsozialistischer Herrschaft dar, der am tiefsten in die Gesellschaft wirkte und sicherlich mit dazu beitrug, diese im Sinne des Nationalsozialismus zu korrumpieren.

Erfassung der Opfer Damit die antijüdischen Maßnahmen ihre systematische Breite erlangen konnten, bedurfte es vorab der nationalsozialistischen Definition von „jüdisch“ und in weiterer Folge der Instrumentarien der Erfassung. Ersteres erfolgte durch die Übernahme der „Nürnberger Rassengesetze“ – „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ – am 20. Mai 1938 für das Gebiet Österreichs. Damit wurde die Gruppe der Auszusondernden, die bislang dis-

kursiv durch den Antisemitismus erkennbar gemacht worden waren, klar umrissen – Jüdinnen und Juden wurden zähl- und letztlich selektierbar. Geht man von den „Nürnberger Rassengesetzen“ aus, so waren in der Steiermark zwischen 2.900 und 3.000 Menschen von den staatlichen wie individuellen Repressions- und ­Demütigungsaktionen im Jahr 1938 betroffen.26 Für Österreich wird eine Zahl von 206.000

520

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

a­ ngenommen, wovon rund 167.000 in Wien lebten.27 Für die einzelnen Personen konnte die Einführung der „Rassengesetze“ bedeuten, dass Menschen, die sich selbst nie als Juden verstanden, da sie oder ihre Eltern die jüdische Gemeinde verlassen hatten, nun plötzlich zu Juden und aus ihrer „scheinbar“ sicheren Welt herausgerissen wurden. Jüdinnen und Juden wiederum, die aufgrund von familiären oder religiösen Beweggründen zum Judentum konvertiert waren, wurden nun vom Regime unter massiven Druck gesetzt, ihre Partner und das Judentum zu verlassen.28 Dementsprechend ist für 1938 und 1939 eine Austrittswelle aus der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) zu verzeichnen. Aber auch nichtjüdische Ehepartner wurden dazu gedrängt, sich von ihren jüdischen Partnern scheiden zu lassen, wobei sich nachträglich herausstellen sollte, dass sie damit ihre Partner der unumschränkten Verfolgung preisgaben, genossen doch Jüdinnen und Juden in sogenannten „Mischehen“ noch lange Zeit einen gewissen Schutz.29 Ein weiterer Beweggrund das Judentum zu verlassen bestand in der Hoffnung, dadurch leichter Einreisepapiere zu bekommen oder bessere Überlebensmöglichkeiten im Exil zu haben. So schrieb beispielsweise Robert St. im Dezember 1938 einen Brief an Rabbiner Herzog, in dem er seine Beweggründe darzulegen versuchte: Nachdem ich aus Österreich emigrierte und unter größter Anstrengung nach Jugoslawien gelangte, wurde mir hier zur Kenntnis gebracht, dass ich als Jude unmöglich irgendwelche Chancen hätte und bin ich nun leider gezwungen, mit Einverständnis meines Vormundes […] Ihnen meinen Austritt aus dem jüdischen Glauben bekannt zu geben. Seien Sie versichert, dass dieser Schritt nur unter Druck der katastrophalen Verhältnisse von mir

gemacht wird, denn es ist mir unmöglich in ein anderes Land zu gelangen und so muß ich hier alles tun, was notwendig ist, um mir eine Existenz zu gründen. Daß ich im Inneren immer derselbe Mensch sein werde, der ich bis heute war, erachte ich nicht einmal als erwähnenswert. Mit dem aufrichtigsten Wunsche, sehr geehrter Herr Professor, dass Ihnen noch „angenehmere Tage“ beschert sein mögen als gegenwärtig verbleibe ich ergebenst Ihr ehemaliger Schüler Robert St.30 Welche Bedeutung die Frage der Erfassung, der Zähl- und Selektierbarkeit der Jüdinnen und Juden für die Nationalsozialisten hatte, zeigt sich nicht zuletzt auch an der großen Bedeutung, die der Übernahme und Sammlung der Akten der jüdischen Vereine und der Kultusgemeinde geschenkt wurde. Besonders die Standes- und Mitgliederverzeichnisse wurden „für Zwecke der Sippenforschung“ zu begehrten Objekten nationalsozialistischer Gruppierungen (z. B. SD, Gestapo) ehe sie schließlich im März 1939 von der Stadtverwaltung Graz zur weiteren Verwendung übernommen wurden.31 Aber auch die nicht durch Vandalismus zerstörten Akten der IKG und der Vereine wurden durch die Gestapo und den Sicherheitsdienst der SS beschlagnahmt und im Reichsicherheitshauptamt in Berlin durch ein eigenes „Österreich Auswertungskommando“ (ÖAK) bearbeitet und nach nachrichtendienstlichen Kriterien analysiert.32 Ebenso wurden die im Zuge der Reichspogromnacht beschlagnahmten Unterlagen sogleich den entsprechenden Stellen übergeben; so beispielsweise die Steuerlisten an die Steuer- und Devisenfahndungsstellen.33 Welche Bedeutung all diesen Unterlagen für die „Judenpolitik“ zugemessen wurde, zeigt sich auch in einem SD-Bericht vom 23. November 1938. Darin wird besonders darauf hingewiesen, dass durch die vielfältigen Zer-

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

störungen im Rahmen des Pogroms „manche Grundlagen für die Auswanderung der Juden

521

vernichtet wurden, die nun erst wieder mühsam beschafft werden müssen“.34

Zerstörung der Infrastruktur Mit dem „Anschluss“ begann nicht nur die systematische Verfolgung der Jüdinnen und Juden als Individuen, sondern damit einhergehend hatten es die Nationalsozialisten auch auf die Zerschlagung der jüdischen Einrichtungen – Gemeinden, Synagogen, Vereine – abgesehen. In einem ersten Schritt wurden neben den Vertretern der Kultusgemeinde auch die einzelnen Vereinsfunktionäre (laut Ludwig Biró an die 20 bis 30 Personen) für ein bis zwei Wochen inhaftiert: „Man hatte schon eine ganze Reihe von Juden verhaftet, alle, die irgendwie im jüdischen öffentlichen Leben eine Rolle spielten; in Ermangelung besserer Informationen sperrte man alle Juden ein, die im polizeilichen Vereinsregister als Funktionäre aufschienen. Neben dem Präsidenten und dem Kassier der B’nai B’rith Loge wanderten so auch die Funktionäre der Chevra Kaddischa (der Beerdigungsgesellschaft), der zionistischen Organisationen, der Wohltätigkeitsvereine, aber auch des Sportklubs und des Schachklubs ins Polizeigefängnis, wo sie zusammen in einem adaptierten Keller des alten Gemäuers, das einen Teil des ,Paulustores‘ bildete, untergebracht waren.“35 Mit der ersten Verhaftungswelle wurde das gesamte organisierte jüdische Leben zum Erliegen gebracht und sollte im Bereich der meisten jüdischen Vereine, im Gegensatz zur jüdischen Gemeinde, die nach dem Willen der Nationalsozialisten noch Funktionen im Bereich der Auswanderung und Beraubung der jüdischen

Bevölkerung zu übernehmen hatte, auch nicht wieder in Gang kommen. So machte man sich bereits ab dem März 1938 an die Auf lösung der heterogenen jüdischen Vereinslandschaft und damit des vielfältigen kulturellen jüdischen Lebens. Die Auflösung der Vereine Auf der Basis des Gesetzes über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden36 vom 17. Mai 1938 wurde das seit 1867 gültige liberale Vereinsgesetz aus den Angeln gehoben. Der nationalsozialistische Staat hatte damit direkten Zugriff auf unterschiedlichste Gesellschaftsgruppen und verschiedenste Orte eigenständigen kulturellen, geistigen und religiösen Lebens. Ziel war es, über die Funktion des Stillhaltekommissars für Vereine, Organisationen und Verbände, seit 18. März 1938 Albert Hoffmann, einerseits eine Gleichschaltung im Sinne der NS-Ideologie zu erlangen und andererseits sich große Vermögenswerte anzueignen.37 Als die Stillhaltekommission mit Dezember 1939 ihre Tätigkeit einstellte, war ihr „die totale Erfassung und Kontrolle aller Vereine und Organisationen, der Raub großer Vermögens­ bestände und die ideologische Ausrichtung der übrig gebliebenen Vereine nach den Vorgaben der NSDAP [gelungen]. Von den ca. 70.000 Vereinen und Organisationen in Österreich existierten nach Abschluss der Arbeit des Stillhaltekommissars noch etwa 28.000, die unter der Aufsicht der NSDAP standen. Und den NS-Verbänden, der Partei, den Ländern und Gemeinden war

522

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

durch die Tätigkeit des Stillhaltekommissars ein Riesenvermögen zugef lossen.“38 Von der Tätigkeit der Stillhaltekommission waren auch die jüdischen Vereine in der Steiermark betroffen. Sie wurden durch den Stillhaltekommissar aufgelöst, und ihr Vereinsvermögen, soweit es bis dahin noch nicht von der Gestapo beschlagnahmt worden war, wurde in andere Organisationen übergeführt oder direkt von der Stillhaltekommission eingezogen. Insgesamt waren in Graz davon 19 jüdische Vereine mit je unterschiedlich großen Vermögen betroffen. Diese stellten laut den Akten der Stillhaltekommission durchwegs ihre Vereinstätigkeit auf Geheiß der Gestapo bereits im März 1938 ein. Die tatsächliche Auf lösung erfolgte jedoch erst im Laufe der Jahre 1938 und 1939, da die Abwicklung der Vereine zentral über Wien organisiert wurde. Auflösung der jüdischen Gemeinde Während die jüdischen Vereine ihre Tätigkeit schlagartig mit dem März 1938 einstellen mussten, zog sich die Auf lösung der jüdischen Gemeinde in mehreren Schritten bis 1941 hin. Nach der Verhaftung der Gemeindevertreter im März gab es bis Anfang Mai zunächst eine Zeit der Stagnation, in der die jüdischen Institutionen geschlossen waren. Als nächstes kam es zur Wiedereröffnung der Israelitischen Kultusgemeinde unter der Bedingung der forcierten Auswanderung und unter der Kontrolle der Gestapo und anderer NS-Stellen.39 Schließlich wurde die Grazer Gemeinde, wie alle übrigen Provinzgemeinden Österreichs, der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde unterstellt, die als einzige jüdische Gemeinde Österreichs unter der Aufsicht der Zentralstelle für Jüdische Auswanderung durch die ganze NS-Zeit hindurch weiter bestand. Im April 1940 kam es schließlich auf Basis des Israelitengesetzes von 1890 zum Ende der Provinzgemeinden Österreichs.40 In einem

Schreiben des Ministeriums für Inneres und kulturelle Angelegenheiten an die staatliche Verwaltung des Reichsgaues Wien heißt es: Da infolge der Auswanderung der Juden aus der Ostmark die noch nicht aufgelösten jüdischen Kultusgemeinden in Ostmark nicht mehr in der Lage sind, sich gesetz- oder statutenmäßig zu verwalten und sich nach außen hin auch nicht rechtmäßig vertreten können, löse ich im Sinne des § 30 des Gesetzes vom 21. März 1890, RGBl. Nr. 57 die bisher bestandenen Vertretungskörper der noch nicht aufgelösten israelitischen Kultusgemeinden in der Ostmark, ausgenommen die israelitische Kultusgemeinde Wien auf. Gleichzeitig bestelle ich den Leiter der israelitischen Kultusgemeinde in Wien Dr. Josef Israel Löwenherz zum Vertreter sämtlicher, in der Ostmark bestehenden, noch nicht aufgelösten israelitischen Kultusgemeinden. Diese Vertretung tritt mit 15. April 1940 in Wirksamkeit. Hievon sind sämtliche, noch nicht aufgelösten israelitischen Kultusgemeinden Ihres Verwaltungsgebietes umgehend, allenfalls unter Anwendung des § 29 des A. V. G, BGBl. Nr. 274/1925 zu verständigen. Ich ersuche Sie, dem Dr. Josef Israel Löwenherz ein förmliches Bestellungsdekret umgehend auszustellen und einhändigen zu lassen. Im Auftrag gez. Krüger Von der rechtlichen Auf lösung nicht betroffen war neben der IKG Wien vorläufig auch die IKG Graz, auch wenn es seit dem Oktober 1939 in der Steiermark de facto keine jüdische Bevölkerung mehr gab.41 Der Grund für das formale Weiterbestehen der Grazer Gemeinde lag darin, dass es für die NS-Bürokratie noch vermögensrechtliche Probleme zu lösen gab. Denn die IKG Graz besaß zum Zeitpunkt der geplanten Auf lösung noch einzelne Liegenschaften, die nach den Vorstellungen der lokalen Nationalsozialisten den hiesigen Stellen zu erhalten, d. h. kostenlos einzuweisen seien.42 Nachdem

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

auch diese Fragen geklärt waren, wurde die IKG Graz mit Erlass des Reichsstatthalters und Gauleiters Sigfried Uiberreither vom 8. September 1941 endgültig aufgelöst.43 Durch die Ereignisse im Jahr 1938 kam es neben den organisatorischen auch zu personellen Umstellungen innerhalb der Gemeinde, die allerdings nur zum Teil aus der dürftigen ­A ktenlage rekonstruierbar sind. Viele Jüdinnen und Juden, die auch in dieser schwierigen Zeit unter Einsatz ihres Lebens für die Gemeinschaft arbeiteten, können daher nicht benannt werden. Nachdem der langjährige Präsident Robert Sonnenwald (1926–1938) am 15. September 1938 nach Palästina emigrieren konnte, wurde in der folgenden Sitzung des Kultusrates vom 30. September 1938 Elias Grünschlag zum neuen Präsidenten gewählt. Als Ersatzmitglieder wurden Max Trater und Martin Fleischmann bestellt.44 Nach der Emigration von Elias Grünschlag wird Albert Weinberger als Präsident angeführt und mit März 1939 Ing. Dr. Ernst Wechsler seitens der Gestapo Graz zum stellvertretenden Leiter ernannt.45 Wechsler blieb dies bis zum Sommer 1939, ehe auch er nach Palästina emigrieren konnte und die jüdische Gemeinde in Graz zu existieren auf hörte. Als letzter offizieller Vertreter der Gemeinde, die seit Oktober 1939 von Wien aus geleitet wurde, wird in einem Bericht der Gestapo-Staatspolizeistelle Graz an den Reichsstatthalter schließlich Albert Weiss genannt, der im Oktober 1939 nach Wien übersiedelt sei.46 Als Rabbiner fungierte bis zu seiner Emigration David Herzog. Rechtsanwalt Siegmund Strassmann wurde, nachdem David Herzog sein Amt am 2. Jänner 1939 niedergelegt hatte, zum Matrikenführer und Rabbiner bestellt, ehe er nach Wien übersiedelt und schließlich nach Theresienstadt/Terezín deportiert wurde.47

523

Beraubung der jüdischen Gemeinde Bevor die Provinzgemeinden und damit auch die IKG Graz von den Nationalsozialisten aufgelöst wurden, mussten sie für die NS-Machthaber noch wichtige Aufgaben erfüllen und wurden in die Vertreibung und Beraubung der jüdischen Bevölkerung miteinbezogen. Adolf Eichmann sah demnach als Verantwortlicher für die jüdischen Gemeinden und Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung vor, dass die jüdischen Gemeinden wie auch einige zionistische Vereinigungen Wiens (z. B. Palästinaamt) zunächst weiter bestehen und zentral an der Auswanderung der jüdischen Bevölkerung wie auch an der Abwicklung der Ver­ mögenswerte beteiligt sein sollten.48 Die NSMachthaber spekulierten in dieser Phase damit, die seit den 1930er Jahren selbst organisierte Auswanderung der Zionisten nach Palästina für ihre Ziele einsetzen zu können. Aus diesem Grund wurden der Israelitischen Kultusgemeinde Graz, der in ihrem Besitz stehenden Bernhard-Wieder-Altersversorgungsstiftung und dem Beerdigungs- und Krankenbesuchsverein Chewra Kadischa nach der Phase der Stagnation die im März beschlagnahmten Vermögenswerte Anfang Juni 1938 unter Vorbehalt wieder zurückgegeben. Ziel war es, dass die jüdischen Einrichtungen die jüdische Bevölkerung versorgen sollten, damit die öffentlichen Stellen durch die Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung aus dem Wirtschaftsleben mit der nun folgenden Verarmung, wie auch durch die forcierte Flucht finanziell nicht belastet würden.49 Um die Umsetzung dieser Ziele auch zu gewährleisten, konnten weder die BernhardWieder-Altersversorgungsstiftung50 noch die IKG und die Chewra Kadischa forthin eigenständig operieren. Sie wurden unter Aufsicht der Gestapo oder unter kommissarische Verwaltung gestellt und nach Erfüllung ihrer Aufgaben – der völligen Vertreibung der jüdischen

524

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

Bevölkerung aus der Steiermark – aufgelöst. So wurde die Bernhard-Wieder-Altersversorgungsstiftung schließlich im August 1939 liquidiert und ihr Vermögen der „Auf baufonds“Vermögensverwertungs-Gesellschaft m. b. H.51 einverleibt.52 Das Geldvermögen der übrigen Vereine wurde bereits im März 1938 konfisziert und vor der endgültigen Einverleibung durch die Stillhaltekommission in der Hauptkasse der Polizeidirektion (Verwahrungsstelle) deponiert.53 Andere Vermögenswerte, wie beispielsweise das Inventar des Vereinsheimes der jüdisch akademischen Vereinigung und des jüdisch akademischen Verbands „Charitas“ in der Schiffgasse 2, wurden am 13. März vom SA-Res. Sturm 1/27 gestohlen und in das SA-Heim in der Oberen Bahnstraße 53 gebracht.54 In das Heim des ­Israelitischen Humanitätsvereines B’nai B’rith in der Keesgasse 9 zog die SA-Brigade 94 ein und übernahm auch das gesamte Inventar. Den letzten Akt der Beraubung stellte die „Arisierung“ der Liegenschaften der IKG dar. Diese blieben, auch wenn es keine Verfügungsgewalt mehr gab, bis zuletzt im grundbücher­ lichen Eigentum der IKG. Dies vor allem auch aus dem Grund, da nach den Vorstellungen Hermann Görings im Zuge der Vertreibung jüdische Liegenschaften für „Sammelwohnungen“ zur Verfügung stehen und die potentiellen „Arisierungserlöse“ für die Vertreibung reserviert sein sollten.55 Über die gesamte Beraubung der jüdischen Gemeinde gibt schließlich ein Gestapobericht vom Oktober 1939, der vom Oberbürgermeister der Stadt Graz an die Landeshauptmannschaft gegeben wurde, Auskunft: Die Israelitische Kultusgemeinde besteht faktisch nicht mehr, da keine Mitglieder vorhanden sind. Die letzten verlegten ihren Wohnsitz nach Wien und werden von der Kultusgemeinde Wien betreut. Hier wohnen nur noch Juden, welche mit

Ariern verheiratet sind. Das Vermögen der Israelitischen Kultusgemeinde besteht derzeit nur mehr in Liegenschaften, da das ganze Vermögen für Zwecke der Auswanderung verwendet wurde. Den Verkauf der Liegenschaften, welche beim dortigen Bürgermeisteramt bekannt sind, führt der Stillhaltekommissar in Wien, da der Erlös derselben dem Wiederaufbaufond in der Ostmark (Büro Bürckel) eingewiesen werden wird. Ein Teilbetrag ist noch für jüdische Auswanderung bestimmt. Kultusgeräte wurden, soweit sie beim Tempelbrand nicht zugrunde gegangen sind, dem Joanneum überwiesen. Die Bibliothek, soweit sie noch erhalten ist, wurde an die Nationalbibliothek in Wien abgetreten. Ein rechtlicher Vertreter für die Grazer Kultusgemeinde besteht nicht. Wie schon erwähnt, hat über die Reste des Vermögens der Stillhaltekommissar zu verfügen.56 Weiters führt Oberbürgermeister Kaspar aus: Hiezu wird bemerkt, daß die Stadtverwaltung Graz zur Zeit Verhandlungen wegen Ankaufs der der israel. Kultusgemeinde Graz gehörigen Liegenschaften u. zw. des Tempels samt Amtsgebäude und des israel. Friedhofes führt. Sollte auch die Erfassung der sonstigen judeneigenen Liegenschaften benötigt werden, möge eventuell mit der Vermögensverkehrsstelle Graz, Schmiedgasse 34 da. [dortamts] unmittelbar Fühlung genommen werden.57 Nachdem also alle Jüdinnen und Juden, die nicht in geschützten Ehen mit Nichtjuden lebten, die Steiermark verlassen hatten, ging es nur noch um die Abwicklung des noch vorhandenen Vermögens. Dabei waren besonders der Staat (Auf baufonds, Stadt Graz), staatseigene Organisationen ( Joanneum, Nationalbibliothek) wie auch ausgewählte Privatpersonen die Nutznießer. Zu beobachten ist, dass, wie im Prozess der „Arisierung“ mehrfach vorkommend, die zukünftigen Eigentümer danach

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

Schematische Darstellung der „Arisierung“ durch die Vermögensverkehrsstelle Wien Ausstellung „Die Entjudung der Wirtschaft in der Ostmark“, Wien o.J.

525

526

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

trachteten, die zu „arisierenden“ Vermögenswerte, besonders Liegenschaften und Gewerbe zu äußerst günstigen Konditionen zu erhalten. Das bedeutete, dass die „Ariseure“ die Objekte der Begierde im Vorfeld der „Erwerbung“ weitgehend entwerten mussten. Eine häufig angewandte Methode im Bereich der Liegenschaften und Gewerbe war es, jüdische Gewerbetreibende oder Arbeitgeber plötzlich mit hohen Geldstrafen und Nachzahlungen zu konfrontieren. Diese hätten sich, so die Argumentation, auf Grund angeblich nicht bezahlter Steuern oder Sozialversicherungsbeiträge ergeben, und da diese „Schulden“ und die damit einhergehenden „Strafen“ aufgrund der Erwerbslosigkeit und Beraubung nicht bezahlt werden konnten, wurden sie durch die Liegenschaften besichert oder vom Verkehrswert eines Gewerbes abgezogen. Damit ergab sich häufig der Fall, dass ein potentieller „Käufer“ dem ­Eigentümer eigentlich nichts mehr zu bezahlen hatte, da er die festgehaltenen Lasten übernahm und diese sich mit dem fiktiven Kaufpreis weitgehend deckten. So erhielt beispielsweise die Israelitische Kultusgemeinde Graz im August 1938 von der Arbeiterkrankenkasse wegen angeblich verspäteter Versicherungsmeldung für ihre beiden Angestellten eine Buße von 20.800,– RM.58 Diese wurde schließlich bei den Liegenschaften der IKG im Grundbuch im C-Blatt vermerkt, womit die bis zum März 1938 lastenfreien Grundstücke für die jüdische Gemeinde einen um die Strafe verringerten Wert hatten.59 Allgemein handelte es sich bei diesen Transaktionen weitgehend um Scheingeschäfte, die das Ziel verfolgten, dass die jüdischen Eigen­ tümer letztlich keinen „Verkaufserlös“ erhalten sollten, der Staat aber trotzdem an den Verkäufen partizipieren konnte. Diese Partizipation erfolgte entweder durch die Einverleibung der Liegenschaften oder eben durch die von jedem „Ariseur“ zu bezahlende „Arisierungstaxe“,

resp. „Arisierungsauf lage“, die von der Vermögensverkehrsstelle festgelegt wurde. Eine weitere Art der Beraubung erfolgte durch eine Anzahl an für Juden erfundenen Steuern (Reichsf luchtsteuer, Sühneabgabe).60 Um die tatsächliche Begleichung der Steuern zu sichern, wurden die Jüdinnen und Juden dazu gezwungen, vor einer etwaigen Ausreise eine Steuerunbedenklichkeitsbescheinigung vorzuweisen. Um diese zu erhalten, mussten verschiedene Behördenwege absolviert werden, die nicht zuletzt kostbare, überlebensnotwendige Zeit forderten. Oft scheiterten die Opfer an eben diesem „Spießrutenlauf der Erniedrigungen“ und konnten das Reichsgebiet nicht mehr rechtzeitig verlassen.61 Auch in den Fällen, in denen der Staat oder die Gemeinden nicht selbst zu „Ariseuren“ wurden, profitierte der nationalsozialistische Staat, wurden die „Erlöse“ doch auf Sperrkonten hinterlegt, zu denen lediglich die Vermögensverkehrsstelle Zugang hatte. Gemeinsam war all diesen unterschiedlichen Prozessen des Vermögensentzugs, dass die vormaligen jüdischen Eigentümer von den Geldern der „Arisierung“ nichts zur freien Verfügung bekamen. Sie mussten fortan als Bittsteller bei den Sachbearbeitern der Vermögensverkehrsstelle um Mittel für das Überleben oder die Emigration vorstellig werden. Für die „Ariseure“ wurde trotzdem der Schein eines „legalen“ Geschäftsvorganges gewahrt, indem ja auf Basis gültiger Gesetze, gestützt auf Gutachten, Bilanzen und Verkaufsverträge, Eigentum „erworben“ wurde. All diese geschilderten Vorgänge des Vermögensentzugs sind auch im Bereich der jüdischen Gemeinde von Graz zu beobachten. Insgesamt wurden von den im Besitz der IKG (inkl. Bernhard-Wieder-Altersversorgungsstiftung) befindlichen Liegenschaften fünf durch Privatpersonen und vier durch die Stadtgemeinde Graz „arisiert“.62 Darunter befanden sich die

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

jüdischen Friedhöfe in Graz, Knittelfeld, Bad Gleichenberg und Fohnsdorf, sowie das Amts-

527

gebäude, das Synagogengrundstück und Wohnhäuser in Graz.63

Reichspogromnacht Einen mehrfachen Kulminationspunkt der Gewalt und einen gleichzeitigen Wendepunkt in der Verfolgungsgeschichte der jüdischen Gemeinde bildete die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, die Reichspogromnacht, die von den Nationalsozialisten euphemistisch als „Reichskristallnacht“ bezeichnet wurde.64 In dieser Nacht gingen in Graz die Synagoge und die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof in Flammen auf. Auch in Leoben, Knittelfeld, Judenburg und Bad Gleichenberg kam es zur Schändung jüdischer Sakralbauten und zur Zerstörung jüdischer Einrichtungen und Geschäfte. In Graz wurden zudem jüdische Geschäfte und Wohnungen verwüstet sowie Personen misshandelt. Zudem beschlagnahmten Sicherheitsdienst und SS in der Synagoge und im Amtshaus die nicht zerstörten Aktenbestände und die noch vorhandenen Vermögenswerte der Israelitischen Kultusgemeinde. Schließlich wurden nach dem Brand die übrig gebliebenen Ruinen gesprengt und die Liegenschaften der IKG durch die Gestapo beschlagnahmt. In das Amtsgebäude zog nach Um- resp. Instandsetzungsarbeiten schließlich die Gauführung der Hitlerjugend ein. Somit konnte die Tagespost am 11. November resümierend feststellen: „Die Synagoge aus dem Grazer Stadtbild verschwunden.“65 Der Ablauf des Pogroms Sind die Ergebnisse der Pogromnacht offensichtlich und gut dokumentiert, so gibt es zum genauen Hergang in Graz unterschiedliche Darstellungen. Beispielsweise berichtet Moshe Karl

Schwarz, bis 1938 ein führendes Mitglied der IKG, in seinen Lebenserinnerungen: „Am Nachmittag des 9. November kam der Gauleiterstellvertreter Herr Brunner in die Kanzlei der Gemeinde u. zw. begleitet von einem anderen Funktionär und verlangte in den Tempel geführt zu werden. Ich führte die Herren in den Tempel und Herr Brunner wollte insbesondere wissen, ob der Tempel völlig frei stehe. In derselben Nacht wurde der Tempel von unbekannten Tätern in Brand gesteckt. Seltsamerweise kam aber die Feuerwehr auf den Brandplatz noch bevor der Brand begann. Und seltsamerweise war die jubelnde Menge des deutschen Volkes rechtzeitig am Platz, um das herrliche Schauspiel mitanzusehen. Und zur selben Stunde wurde die neu erbaute Kuppelhalle des Friedhofes in Brand gesetzt, die Friedhofmauer vernichtet, die Gräber geschändet.“66 Ludwig Biró, der sich im November 1938 mit seiner Familie bereits auf der Flucht in Marburg/Maribor auf hielt, beschrieb auf der Basis von Berichten von Freunden und Bekannten die Ereignisse der Nacht folgendermaßen: „Inzwischen hörten wir immer grauenhaftere Details über die ;Nacht der Messer‘ vom 9. auf den 10. November. Mitten in der Nacht drangen bewaffnete SS- und SAHorden in die Wohnungen und holten die Juden an Hand von sorgfältig zusammengestellten Listen aus den Betten. In vielen Fällen wurden die Männer geschlagen und

528

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

gelegentlich so schwer verletzt, dass sie ins Spital geschafft werden mussten. Das hatte aber seine Schwierigkeit, denn die öffent­ lichen Spitäler weigerten sich, Juden aufzunehmen, und in der Regel konnten keine Ärzte aufgetrieben werden. Der Möbelhändler Pichler beispielsweise – der führende Mann in seiner Branche und ein Dorn im Auge seiner Konkurrenz – wurde derart geschlagen, dass er blutüberströmt zusammenfiel; das eine Auge hing heraus, sein Gesicht war eine einzige blutige Masse. Schließlich nahm ihn das Spital der Elisabethinerinnen auf. Die katholischen Spitäler und Organisationen waren überhaupt die einzigen, die in diesen Tagen den Mut und die Menschlichkeit auf brachten, den Juden zu helfen. Versucht wurde es auch sehr oft von arischen Freunden und Nachbarn, aber diese mussten solche Versuche sehr bald aufgeben, wenn ihnen ihr eigenes Leben lieb

war! Der Landesrabbiner Professor Herzog gehörte zu den Misshandelten und noch eine ganze Reihe von bekannten jüdischen Persönlichkeiten. Für manche erwiesen sich diese Misshandlungen als Glück: sie waren transportunfähig und entkamen auf diese Weise dem Konzentrationslager; denn wer nicht am 10. oder 11. abtransportiert wurde, der blieb zu Hause.“67 Der von Biró bereits erwähnte Rabbiner David Herzog beschrieb die Ereignisse der Nacht ebenfalls in seinen Lebenserinnerungen. Als sicherlich bekannteste Persönlichkeit der Grazer Gemeinde wurde er von den Nationalsozialisten besonders arg misshandelt. Herzog, der 1938 bereits 69 Jahre alt war, wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November aus seiner Wohnung gezerrt, immer wieder geschlagen und gedemütigt und mehrfach mit dem Umbringen bedroht, ehe er schließlich schwer ver-

Brennendes Amtsgebäude der Israelitischen Kultusgemeinde Graz, 9. November 1938 StLA

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

letzt auf einer Wiese vor Graz zurückgelassen wurde.68 Stellten die Ereignisse der Pogromnacht für die jüdische Bevölkerung einen bislang in Graz nicht gekannten Gewaltexzess dar, so wurde er aus Sicht der Nationalsozialisten durchaus als für ihre Zwecke „erfolgreiche“ Aktion gesehen, auch wenn interne Rivalitäten zwischen SA und SS zu mehrfachen Spannungen führten. Für die Nationalsozialisten waren in der Folge des 9. November besonders die Reaktionen der Bevölkerung von Bedeutung, sollte der Pogrom doch einerseits die Stimmung gegen die jüdische Bevölkerung radikalisieren und andererseits die Menschen durch zu ostentative Gewaltanwendung nicht abstoßen. So berichtete beispielsweise der Sicherheitsdienst der SS Ende November resümierend: Die Aktionen wurden in den Kreisen der ländlichen Bevölkerung und der Jugend zustimmend aufgenommen. Immerhin fanden sie einige Kritik. Ursache hiefür sind die körperlichen Züchtigungen und insbesondere das Niederbrennen der Zeremonienhalle. Seitens der hiesigen Dienststelle muß bemerkt werden, daß das Unterbleiben der Aktionen sowohl stimmungsmäßig als auch sachlich im Gebiet der Steiermark sicher besser gewesen wäre als ihre Durchführung. Die gesetzlichen Maßnahmen gegen die Juden haben jedenfalls ein viel besseres Echo gefunden als die Zerstörungen. Ferner muß ausdrücklich noch einmal festgestellt werden, daß sowohl der SD als die Geheime Staatspolizei zu spät in Kenntnis gesetzt wurden von der Absicht solcher Demonstrationen, daß andere Parteidienststellen zuverläßlich früher davon Kenntnis hatten. Sehr ungünstig machte sich auch bei solchen Gelegenheiten der Einsatz der SA bemerkbar, der anscheinend auf gewisse ­Rivalität zurückzuführen ist, aber dafür meist um so störender wirkt.69 Federführend an der Organisation und Durchführung des Pogroms war demnach nicht

529

die örtliche SS oder der SD, sondern die SA, die bereits am Vormittag des 9. November mit den Vorbereitungen des „spontanen Volkszornes“ begonnen und alle nötigen Vorkehrungen getroffen hatte. Diese bestanden einerseits in der Bereitstellung von Benzinfässern und Papier für die Brandstiftung, wie auch der Koordination mit der Feuerwehr, um die umliegenden ­Gebäude zu schützen. Weiters mussten auch Absperrungen geplant werden, damit es zu keinerlei Störungen durch Zuseher komme. Auskunft darüber gibt der 1946 und 1947 geführte Prozess vor dem Volksgericht, der sich auf die Suche nach den Verantwortlichen für den ­Synagogenbrand machte, jedoch keine fand.70 Verbunden mit den Zerstörungen war auch eine Verhaftungswelle, die in Graz rund 300 Personen und außerhalb von Graz rund 50 Personen betraf.71 Die Verhafteten – alles Männer – wurden in das Polizeigefängnis in der Paulustorgasse gebracht und, nachdem sie auf Transporttauglichkeit untersucht worden waren, nach Dachau verschickt. Davon berichtet ebenfalls Ludwig Biró in seinen noch während des Krieges geschriebenen Erinnerungen: „Die in den Gefängnissen zusammengepferchten Juden wurden auf Lastwagen zum Bahnhof gebracht und in Sonderzügen verstaut. Das Publikum, soweit es Gelegenheit hatte, diesen Transport zu beobachten, verhielt sich stumm. […] Die Frauen und Kinder blieben allein und verzweifelt zurück. Die wenigsten hatten noch Gelegenheit gehabt, ihre Männer und Söhne auch nur noch einmal zu sehen; keiner wusste, wohin die Leute verfrachtet wurden. Die gepeinigten Frauen stürmten die Gemeindekanzlei: dort saß der alte Grünschlag, der Vorsteher der Gemeinde und Leiter der Auswanderung, mit ein paar Männern und Kindern. Er hatte diesen Ansturm auszuhalten, zu trösten, zu beruhigen,

530

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

zu helfen. Es war eine übermenschliche Aufgabe, die er da zu lösen hatte und auch tatsächlich mit Hilfe seiner opferwilligen Frau löste. Er war von der Gestapo zurückgelassen worden, um die Juden offiziell zu vertreten und vor allem, um sie schnellstens aus dem Lande zu bringen. […] In diesen Zeiten ruhig und unerschrocken zu bleiben, mit den Leuten von der Gestapo täglich und stündlich zu verhandeln, ihnen die Opfer sozusagen einzeln aus den Fängen reißen, Visa zu besorgen, mit der halben Welt zu telegraphieren, mit den Konsulaten zu verhandeln, die halb wahnsinnigen Frauen zu beruhigen (dabei Äußerungen des Neides und des Vorwurfs zu überhören!), die Versorgung der Leute in Dachau zu organisieren und gelegentlich Urnen den

Angehörigen zuzustellen, das war gewiss eine Arbeit, die die Kräfte auch eines starken Mannes zu übersteigen vermochte! Und doch gelang es Grünschlag, die Grazer ­Juden unter den ersten aus Dachau zurückzubringen, […].“72 Wie von Ludwig Biró beschrieben, bemühte sich also Elias Grünschlag in den folgenden Tagen und Wochen darum, alle nach Dachau verschickten Grazer wieder frei zu bekommen. Grünschlag und seine Kollegen konnten sich allerdings nicht mehr auf die alte Gemeinde­ infrastruktur, die durch den Brand zerstört worden war, stützen, sondern führten die Geschäfte der „Liquidationsgemeinde“ vom neuen, provisorischen Amtssitz im Haus Entenplatz Nr. 9 aus.73

Synagoge und Amtshaus der Israelitischen Kultusgemeinde Graz nach dem Brand, 10. November 1938

UMJ/MMS

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

Für die in Graz noch verbliebenen rund 900 Jüdinnen und Juden – meist Frauen und Kinder – stellten die Ereignisse der Reichspogromnacht, wie an der Frage der Freilassung der Männer aus Dachau zu sehen, eine enorme Verschärfung der Maßnahmen zur Vertreibung und weitere Einschränkung der Lebensmöglichkeiten dar. Spätestens mit dem Pogrom war auch dem Letzten klar geworden, dass es in der Steiermark, dem Deutschen Reich, keine Zukunft mehr gab und die Flucht zur Überlebensfrage

531

wurde. In weiterer Folge wurden nun auch die letzten jüdischen Geschäfte und Liegenschaften „arisiert“. Zu all dem musste die jüdische Bevölkerung auch für die im Zuge des Pogroms entstandenen Schäden auf Basis eines Geheimerlasses des Reichsministeriums für kirchliche Angelegenheiten selbst auf kommen. So wurde beispielsweise die Beseitigung der Schuttreste der ­Synagoge durch die Stadt Graz der IKG in Rechnung gestellt.74

Flucht – Vertreibung – Deportation Vor der endgültigen Zwangsübersiedlung nach Wien im Frühjahr 1940 dürfte die Zahl der noch in Graz lebenden Jüdinnen und Juden rund 305 betragen haben. In der gesamten Steiermark waren es der nationalsozialistischen Gesetzgebung entsprechend noch knapp 600.75 Diesen Zahlen zufolge hatte die jüdische Gemeinde in zwei Jahren beinahe 75 Prozent ihrer Mitglieder verloren, wobei ein Großteil emigrieren konnte. Eine genaue Zahlenangabe ist jedoch nur unter Vorbehalt möglich, da ­einerseits die Aktenlage sehr schlecht und andererseits auch widersprüchlich ist. Zudem ist es nach dem bisherigen Stand der Forschung oft schwer, Opfer des Nationalsozialismus eindeutig der Steiermark zuzuordnen, da nicht wenige Steirerinnen und Steirer von Wien aus in die Vernichtungslager verschickt wurden und somit in den Todeslisten ihr letzter Aufenthaltsort mit Wien vermerkt ist. Dies berücksichtigend ergaben erste Forschungen zur Steiermark, dass von einer Opferzahl von zumindest 750 ausgegangen werden kann.76 Die Emigrationsländer und ersten Fluchtziele waren neben den Nachbarstaaten (v. a. Schweiz, Jugoslawien und Ungarn), die häufig nur Zwischenstationen waren,77 Großbritan-

nien, Belgien, Polen, Frankreich, die Niederlande, die Staaten Nord- und Südamerikas, China und natürlich Palästina. Dass die Emigration nicht kontinuierlich vor sich ging, zeigt sich an einem SD-Bericht, der für den Zeitraum von März bis Anfang November 1938 417 abgewanderte Grazerinnen und Grazer angibt.78 Mit dem Novemberpogrom stieg nun der Druck zur Auswanderung, doch gleichzeitig ergaben sich ab diesem Zeitpunkt auch immer mehr Schwierigkeiten.79 Diese resultierten vor allem aus der Tatsache, dass einzelne Länder, bedingt durch die enorme Flüchtlingszahl oder durch politisches Kalkül, weder Ein- noch Durchreisegenehmigungen erteilten. Diese Probleme veranlassten einzelne Jüdinnen und Juden unter anderem dazu, Scheinehen mit Italienern, Tschechen und Jugoslawen einzugehen.80 Aber auch unter den verschiedenen NS-Stellen kam es in dieser Phase zu Differenzen, was die forcierte Auswanderung verzögerte.81 Dass die gezielte Emigration in der Zeit von 1938 bis 1940, vor allem jedoch im Jahr 1938 trotzdem weitgehend funktionierte, lag nicht zuletzt am Einsatz einzelner Personen wie auch an der guten Zusammenarbeit der Grazer und der Wiener Kultusgemeinde. Dabei ist beson-

532

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

ders zu berücksichtigen, dass die Grazer Gemeinde ab dem November 1938 unter besonders großem Druck stand, da die politische Führung der „Stadt der Volkserhebung“ bis zum Ende des Jahres 1938 alle Juden aus der Stadt entfernt haben wollte.82 Eine Frist, die nach den Ereignissen der Reichspogromnacht bis zum Frühjahr 1939 verlängert wurde. Der verschärfte Druck, die Steiermark und letztlich das Reichsgebiet zu verlassen, führte dazu, dass sich einzelne Mitglieder der Gemeinde rund um Elias Grünschlag und Alfred Klein nun mit allem Einsatz um die Organisation der Auswanderung kümmerten. Nachdem alle erwachsenen männlichen Juden verhaftet und zum Großteil – alle Transportfähigen – nach Dachau transportiert worden waren, traten Grünschlag und Klein mit der Grazer Gestapo in Kontakt, um die Deportierten wieder frei zu bekommen. Nach langen Verhandlungen erreichte Grünschlag schließlich die Zusage, dass alle Juden aus Dachau frei kommen würden, wenn er sich persönlich dafür verbürge, dass diese binnen 24 Stunden das Reichsgebiet verlassen würden.83 Was nun folgte, waren vielfältige Versuche, gültige Aus- und Einreise­ dokumente sowie Plätze in „illegalen“ Palästinatransporten für die aus Dachau Zurückkehrenden zu organisieren. Derart gelang es schließlich, dass bis Jahresende beinahe alle Grazer Juden aus Dachau frei gekommen waren. Eine zentrale Rolle bei der gezielten Auswanderung/Vertreibung sollte laut Eichmann, dem ersten Leiter der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien“,84 die Wiener Kultusgemeinde einnehmen, weshalb im Februar 1939 in Wien in der Marc-Aurel-Straße 5 unter dem Dach des Palästinaamtes ein Provinzreferat unter der Leitung von Alfred Klein für die Grazer Gemeinde eingerichtet wurde. Dieses sollte sich intensiv um die Emigration der Grazer Juden und Jüdinnen kümmern. Klein, der Ende des Jahres 1938 mit seiner Familie von Graz nach

Wien übersiedeln musste, machte sich sogleich an die Organisation von Palästinatransporten. Dabei gab es jedoch innerhalb der verschiedenen jüdischen und zionistischen Organisationen differierende Anschauungen, ob die Einwanderung nach Palästina geregelt oder ungeregelt, sprich „illegal“, vor sich gehen sollte.85 Das war von besonderer Bedeutung, da sich die britische Mandatsmacht den Einreisewilligen gegenüber zunehmend restriktiv verhielt und somit häufig nur noch „illegale“ Transporte zur Rettung werden konnten. Als Mitinitiator eines solchen „illegalen“ Transportes, des sogenannten LislTransports, der zahlenmäßig für die Steiermark am bedeutendsten war, konnte Alfred Klein über 200 Grazer Jüdinnen und Juden die ­Emigration ermöglichen. Unter Aufsicht der Gestapo wurden im Frühjahr 1939 212 steirische Jüdinnen und Juden zunächst mit der Bahn von Graz nach Wien transportiert, ehe sie mittels Schiff über die Donau die Reise nach Palästina antreten konnten.86 Neben den „illegalen“ Transporten über die Donau, der Organisation von Ein- und Ausreisepapieren, kümmerten sich die Gemeindevertreter zudem um „illegale“ Grenzübertritte an der steirisch-jugoslawischen Grenze. Dabei erlangte der Grazer Kaufmann und Schlepper Josef Schleich einige Bedeutung, da er gegen Bezahlung in Absprache mit der Gestapo in Graz von 1938 an jüdische Flüchtlinge illegal über die Grenze brachte, ehe die Aktion auff log und die daran beteiligten Personen verhaftet wurden; unter ihnen auch Alfred Klein.87 Schleich, der 1902 in Graz geboren wurde, war bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren mehrfach wegen Schmuggels verurteilt und inhaftiert worden, organisierte 1938 zunächst für die Emigration notwendige Landwirtschaftskurse für Jüdinnen und Juden und stieg schließlich in Verbindung mit jüdischen Organisationen und NS-Stellen groß in das Schlepperwesen ein. Bis 1940/41 konnte er seine umfangreichen Tätigkeiten un-

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

ter weitgehender Duldung und zum Teil auch mit klarem Auftrag der Gestapo durchführen. Als schließlich die NS-Politik von der Vertreibung zur Vernichtung überging, wurde Schleich im März 1941 selbst verhaftet und wegen Devisenvergehen im Zusammenhang mit Menschenschmuggel verurteilt.88 Für all jene jedoch, die weder aus eigenen Mitteln noch durch die Unterstützung der IKG den Weg in die Emigration schafften, kam mit 1939 die Zusammenlegung in Sammelwohnun-

533

gen und bis spätestens Frühjahr 1940 die Zwangsübersiedlung nach Wien, von wo aus die Deportationen in die Lager erfolgten. Mit dem Inkrafttreten der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941,89 nach der alle nicht mehr auf Reichsgebiet lebenden Jüdinnen und Juden die Staatsbürgerschaft verloren, wurde auf legistischem Wege die vollständige Beraubung besiegelt, bedingte doch die Ausbürgerung zugleich auch den Vermögensverfall zu Gunsten des Reiches.

Schluss Mit dem Vermögensverfall wurden auch die letzten noch bestehenden Sperrkonten zu Gunsten des Reiches eingezogen. Der Entzug der Staatsbürgerschaft war der Schlusspunkt einer Entwicklung, die bereits 1938 mit der Unterscheidung zwischen Reichs- und Staatsbürgern begonnen hatte. Waren bis dahin Jüdinnen und Juden noch Bürgerinnen und Bürger zweiter Klasse, wurden sie fortan physisch und rechtlich vollständig aus dem Staatsgefüge, der Gesellschaft getilgt. Dieser rechtlichen und identitären

Ausscheidung, die als Schlusspunkt des seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sich vollziehenden Emanzipationsprozesses gesehen werden kann, folgte ab 1941 die physische Vernichtung durch die Einsatztruppen und in den Lagern. Die reale Existenz jüdischen Lebens sollte demnach der Vergangenheit angehören. Juden, als den paradigmatischen „Anderen“ des Nationalsozialismus, wurde in eigens gegründeten Museen ein neuer, symbolischer, für die Nationalsozialisten identitätsstiftender Platz zugewiesen.90

Anmerkungen *

1

2 3

4

Dieser Beitrag wurde im Jahr 2007 abgeschlossen. Er ist Teil des Projektes „Vermögensentzug 1938– 1945 in der Steiermark“, das vom Nationalfonds der Republik Österreich, der Stadt Graz (Kulturamt) und der Steiermärkischen Landesregierung (Abt. Wissenschaft und Forschung) gefördert wurde. Vgl. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 215f.; Zu den Märztagen vgl. auch: Biró, Die erste Hälfte meines Lebens 127ff. Vgl. Herzog, Erinnerungen eines Rabbiners. Vgl. Rendi, Geschichte der Juden 162; Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 65. Graz als „deutscheste Stadt“ der Monarchie geht auf einen Ausspruch von Heinrich von Treitschke zu-

5

6 7

8 9

10

rück und wurde besonders im Jahr 1938 immer wieder in das öffentliche Bewusstsein gehoben. Vgl. u. a. Graz. Stadt der Volkserhebung. In: Grazer Volksblatt (5. 11. 1938), 9. Vgl. Staudinger, Nationalsozialismus in Graz 64– 74. Rosenkranz, „Reichskristallnacht“ 12. Isidor Preminger an die Landeshauptmannschaft, am 29. 4. 1946. DÖW Nr. 8342. Biró, Die erste Hälfte meines Lebens 141. Lichtblau, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn 521. Zur Vernichtung der europäischen Juden vgl. u. a. Hilberg, Vernichtung der europäischen Juden; Aly,

534

11

12

13

14 15 16

17

18 19

20 21

22

23

24 25

26

27 28

29

30 31 32

33

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

„Endlösung“; Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden. Dabei handelt es sich um das Verbot, Schwimmbäder oder Kaffeehäuser zu besuchen und ähnliche Verordnungen. Verbot des Schächtens. In: Tagespost (16. 3. 1938), 8. Keine Juden in der Rechtspf lege. In: Tagespost, Nr. 73 (15. 3. 1938), 4. Vgl. Staudinger, Pogromnacht 48. Vgl. Scheipl, Schulwesen in Graz 142. Dr. Julius Kaspar war Grazer Bürgermeister (Oberbürgermeister) vom 12. 3. 1938 bis zum 7. 4. 1945. Vgl. Kaspar, Julius, Dr. In: Brunner, Stadtlexikon 244f. Tätigkeitsbericht vorgetragen von Herrn Oberbürgermeister Dr. Kaspar in der 1. ordentlichen Sitzung der Ratsherren am 10. 5. 1939, 22. Vgl. Binder, Schicksal der Grazer Juden 219. Vgl. Höflechner, Geschichte der Karl-FranzensUniversität Graz (2006), 194–203. Vgl. Kernbauer, Der lange Marsch 187. Zur Universität 1938 vgl. allgemein: Brünner/ Konrad, Die Universität und 1938. Vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1986), 170. Vgl. Staudinger, „Ich bitte die Vermögensverkehrsstelle um baldige Entscheidung“ 209–222. Vgl. Felber/Melichar, Ökonomie der Arisierung. Vgl. dazu die „Arisierungsakten“ im Steiermärkischen Landesarchiv (StLA, LReg. Arisierungsakten). Vgl. Lamprecht, Verfolgung der jüdischen Bevölkerung 321–323. Vgl. Moser, Demographie 29. Zur generellen Frage der Austritte aus der IKG im Zeitraum zwischen 1877 und 1939 vgl. Ziegerhofer, „Laßt Haß der Feinde den Amboß sein“ 77–90; vgl. auch: Moser, Wallenbergs Lauf bursche. Juden und Jüdinnen in Mischehen waren beispielsweise von der Ausweisung aus ihren Wohnungen und der Zusammenfassung in Sammelwohnungen, die letztlich als Vorstufe zur Deportation zu sehen ist, ausgenommen. StLA, Archiv Graz-Stadt, K. 109, H. 695. StLA, LReg. 357 Allg. 18/1940. Vgl. u. a. den „Abschlussbericht über das in Graz beschlagnahmte Material jüd. Organisationen“ vom 29. 10. 1938. RGWA, 500-1-617. Vgl. Bericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark, an den SD-Führer des SSOberabschnitts Donau betreffend den Novemberpogrom in Graz, 15. 11. 1938. DÖW 1780.

34

35 36

37

38

39

40 41 42 43

44

45

46 47

48

49 50

51

52 53 54 55

Erfahrungsbericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark, an den SD-Führer des SS-Oberabschnitts Donau über „Protestaktionen gegen die Juden“, 23. 11. 1938, DÖW 1780. Biró, Die erste Hälfte meines Lebens 164f. GBlÖ 44/1938, Gesetz über die Überleitung und Eingliederung von Vereinen, Organisationen und Verbänden, v. 17. 5. 1938. Vgl. Pawlowsky/Leisch-Prost, Vereine im Nationalsozialismus. Pawlowsky/Leisch-Prost, Vereine im National­ sozialismus 14f. Vgl. dazu: Duisend-Jensen, Jüdische Gemeinden 85f. Vgl. StLA, LReg. 357 J6 1939. Vgl. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. Die Auf lösung fiel in die Zuständigkeit Uiberreithers. Im Hintergrund wurden die Fäden jedoch von der Zentralstelle für jüdische Auswanderung gezogen, die im Mai 1941 Uiberreither zur Auf lösung aufforderte. Im Interesse einer beschleunigten Liquidierung des Judentums in der Ostmark bitte ich um Auflösung der noch bestehenden Israelitischen Kultusgemeinde Graz als eine öffentliche rechtliche Körperschaft. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. IKG an Landeshauptmannschaft am 30. 9. 1938. StLA, LReg. 357 G11/1938. Legitimation des Ernst Wechsler durch die Gestapo Graz. Sammlung Prof. Otto Günther Klein. Vgl. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. Rabbinat an die Landeshauptmannschaft Steiermark am 27. 12. 1938. StLA, LReg. 357 Allg. 6/1938. Zur Zentralstelle für jüdische Auswanderung vgl. Anderl/Rupnow, Zentralstelle; Safrian, Eichmann-Männer. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko, 31-T-8. Verwalter der Stiftung war Rudolf Vogeltanz aus Graz. StLA, LReg. 357 J6/1939. Die „Auf baufonds“-Vermögensverwaltungs-Gesellschaft m.b.H. war die Nachfolgeorganisation (gegründet am 17. 1. 1939) des Stillhaltekommissars, die die Abwicklung der ehemaligen Dienststelle übernommen hatte. Die Stillhaltekommission wurde am 31. 12. 1939 aufgelöst. Vgl. Pawlowsky/LeischProst, Vereine im Nationalsozialismus 36–41. Vgl. StLA, LReg. 357 J6/1939. Vgl. ÖStA, AdR, Stiko, 31-T-8. ÖStA, AdR, Stiko, 31-T-8. Göring teilt diese Vorgangsweise am 28. 12. 1938 mit. Dort heißt es: a) Der Mieterschutz für Juden ist generell nicht aufzuheben, dagegen ist es erwünscht, in Einzelfällen nach Möglichkeit so zu verfahren, dass Juden

Lamprecht / „… das herrliche Schauspiel mitanzusehen“

56 57 58 59 60

61 62 63

64

65

66

67 68

69

70

71

in einem Haus zusammengelegt werden, soweit die Mietverhältnisse dies gestatten. b) Aus diesem Grund ist die Arisierung des Hausbesitzes an das Ende der Gesamtarisierung zu stellen, d. h. es soll vorläufig nur dort der Hausbesitz arisiert werden, wo in Einzelfällen zwingende Gründe dafür vorliegen. Vordringlich ist die Arisierung der Betriebe und Geschäfte, des landwirtschaftlichen Grundbesitzes, der Forsten u. a. Geheimer Schnellbrief von Göring am 28. 12. 1938. StLA, LReg. Arisierungen. Allg. Akten. StLA, LReg. 357 J6/1939. StLA, LReg. 357 J6/1939. Vgl. ÖStA, AVA, N-Kultus, D3 Stmk. Vgl. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. Zur Vermögensverkehrsstelle vgl. Felber/Melichar, Ökonomie der Arisierung 81–105. Rabinovici, Suche nach dem Ausweg 105. Vgl. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. Vgl. StLA, LReg. Arisierungen LG 8101, StLA, LReg. Arisierungen. Vermögensanmeldungen 15/V. Allgemein zur Pogromnacht vgl. u. a. Pehle, Judenpogrom 1938. Die Synagoge aus dem Grazer Stadtbild verschwunden. In: Tagespost (11. 11. 1938), 5. Auszug aus den Schriften von Moshe K. Schwarz (o. J.). Schwarz wurde 1885 geboren. Biró, Die erste Hälfte meines Lebens 293f. Vgl. Herzog, Erinnerungen eines Rabbiners 46– 50. Erfahrungsbericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark, an den SD-Führer des SS-Oberabschnitts Donau über „Protestaktionen gegen die Juden“, 23. 11. 1938, DÖW 1780. StLA, LGS-Graz Vr. 8361/47 (Vr 303/1946 liegt bei). Bericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark, an den SD-Führer des SSOberabschnitts Donau betreffend den Novemberpogrom in Graz, 15. 11. 1938. DÖW 1780.

72 73 74

75

76

77

78

79 80 81 82 83 84 85 86

87 88

89

90

535

Biró, Die erste Hälfte meines Lebens 295. Vgl. Salzmann, Graz 157. Vgl. Duisend-Jensen, Jüdische Gemeinden; Bericht des Provinzreferates bei der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, 26. 8. 1940. StLA. LReg. 357 Allg. 21/1940. Vgl. Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung 194. Vgl. Lamprecht, Verfolgung der jüdischen Bevölkerung 323. Jugoslawien erlangte als erstes Fluchtziel große Bedeutung. Allerdings wurden die jüdischen Flüchtlinge mit dem Überfall auf Jugoslawien im April 1941 vom Krieg und den Nationalsozialisten eingeholt. Vgl. Anderl/Manoschek, Gescheiterte Flucht. Bericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark, an den SD-Führer des SSOberabschnitts Donau betreffend den Novemberpogrom in Graz, 15. 11. 1938. DÖW 1780. Vgl. Rendi, Geschichte der Juden 163. Vgl. Rendi, Geschichte der Juden 165. Vgl. Staudinger, Pogromnacht 49. Vgl. Binder, Schicksal der Grazer Juden 219. Anderl, Porträts 229f. Vgl. Anderl/Rupnow, Zentralstelle. Anderl, Porträts 231. Schreiben von Prof. Otto Günter Klein an Dr. Herbert Rosenkranz vom 23. 11. 1984 (Privatbesitz Prof. Klein). Zum Lisl-Transport vgl. auch: Anderl, Emigration und Vertreibung 282–284. Anderl, Porträts 232f. Brunner, Juden in Graz 345–349; Brunner, Josef Schleich 589–599. Vgl. Burger/Wendelin, Vertreibung, Rückkehr und Staatsbürgerschaft 296–306. Vgl. Rupnow, Täter – Gedächtnis – Opfer.

Gerald Lamprecht

„Arisierung“ in der Steiermark*

Aspekte des Vermögensentzuges 1938 bis 19451

Anfang März 1939 titelt die Obersteirische Volkszeitung „Arisierung bedeutet Säuberung v. ­jüdischem Geist“.2 Im folgenden Text wird eine Rede von Reichskommissar und Gauleiter von Wien, Josef Bürckel3, referiert, die dieser anlässlich der Bekanntgabe von staatlich geregelten Handelsspannen für Textilien, Kleider und Schuhe hielt. Demnach sei für Bürckel bei der Machtübernahme im März 1938 „die Befreiung Wiens von seinen 300.000 Juden“ eine der größten Sorgen gewesen. Nun, nach einem Jahr aber, sei Wien und seine Wirtschaft vollkommen „arisiert“, wobei Bürckel anmerkt, dass dies im Sinne nationalsozialistischer Ideologie jedoch nicht bedeute, dass Wien und die Wirtschaft auch „entjudet“ seien. Denn „Arisierung“4 bedeute nicht nur reinen Vermögenstransfer von jüdische in „arische“ Hände, sondern letztlich auch, dass das „völkische Gesetz der Gemeinschaft“ auch für die Wirtschaft gelte. Dies bedeute zum einen, dass all jene Geschäftspraktiken, die als „jüdisch“ diffamiert wurden, durch die „Arisierung“ zu verschwinden hätten, und zum anderen, dass der Preis nicht geregelt werde von „Angebot und Nachfrage, wie es die Juden lehren“, sondern die Preisgestaltung „eine

Gemeinschaftsfunktion und deshalb eine Gesinnungsangelegenheit“ sei. Wirtschaftspolitik solle staatlich gelenkt und die individuelle Freiheit des einzelnen Gewerbe- und Handeltreibenden im Sinne eines völkischen Ganzen eingeengt werden. Und schließlich: „Dem ehrbaren deutschen Kaufmann in Wien gilt unser Bündnis, dem verjudeten Schädling unser Kampf bis aufs Messer.“5 Bürckel sprach in seiner Rede, deren Bedeutung über Wien hinaus durch die Berichterstattung in der obersteirischen Regionalzeitung untermauert wurde, zentrale Aspekte des nationalsozialistischen Vermögensentzuges aus Sicht des NS-Staates an. Nämlich zum einen, dass die Verfolgung, Beraubung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus dem Wirtschafts- und Erwerbsleben, aus der Gesellschaft unmittelbar mit März 1938 einsetzte und zentrales Ziel der Nationalsozialisten war. Zum anderen legte er die mit der „Arisierung“ einhergehenden wirtschaftspolitischen Bestrebungen offen. Und darüber hinaus machte er auch den ideologischen Überbau, der sich um die Begriffe „Arisierung“, „Entjudung“ und „Volksgemeinschaft“6 gruppiert, sichtbar. Denn „Ari-

538

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

sierung“ reduziert sich nicht bloß auf die Frage von individuellem und staatlich organisiertem Raub, sondern geht mit der zumindest propagierten Schaffung der „Volksgemeinschaft“ einher. Jenem Prozess also, der auf soziale ­Inklusion durch Gleichheitsversprechen, ökonomische Bereicherung und symbolische Anerkennung für all jene abzielte, die den rassistischen Kriterien der Nationalsozialisten genügten, den „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“.7 „Volksgemeinschaft“ bedeutete somit zugleich auch die Exklusion all jener, die als „Nichtarier“ den Heilsversprechen im Wege standen und durch deren Beraubung eine Teilfinanzierung der neuen Gemeinschaft erfolgen sollte. „Volksgemeinschaft“ war nicht nur egalitäre Utopie, die für viele der Inbegriff der Einheit, Stärke, Geschlossenheit und Macht mit dem Versprechen der sozialer Geborgenheit, Zugehörigkeit und Sicherheit war, sondern auch diktatorischer Zwang, Konzentrationslager und Geheime Staatspolizei.8 Mit dem Prinzip der Lockung und des Zwangs wurden viele Menschen in unterschiedlichen Graden des Mitmachens zu Stützen des

Regimes, zu Akteuren und Komplizen nationalsozialistischer Beraubungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik. Die Idee der „Volksgemeinschaft“ und ihre Umsetzung stellte dabei die verbindende Klammer zwischen Opfer, Tätern, Zusehern und Komplizen dar. Besonders sichtbar wird dieser Umstand beim gesamten Komplex des nationalsozialistischen Vermögensentzuges, der „Arisierung“. Denn beim Vermögensentzug geht es nicht nur um die Vertreibung der durch die „Nürnberger Rassengesetze“9 als Juden Bezeichneten aus ihren Berufen oder von ihren Besitztümern, sondern immer auch um die Verwertung und Verteilung des geraubten Gutes. Die Geschichten der „Arisierungen“ erzählen nicht nur von den jüdischen Opfern, sondern in weit größerem Ausmaße von den „arischen“ ­Tätern, den Profiteuren und Nutznießern. Die Opfer treten, zumindest in den die „Arisierungen“ dokumentierenden Akten, in den Hintergrund, sie verschwinden in der Emigration, den Lagern, während die Täter sich ihr Hab und Gut und ihre Erinnerung aneignen und sich ihrer Taten rühmen, wie anhand einer Vielzahl an Zeitungsinseraten gut ablesbar ist.

„Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozess Akteure und Profiteure der „Arisierung“ waren Mitglieder der sich formierenden „Volksgemeinschaft“, die den nationalsozialistischen Staat wie auch die NSDAP und ihre Gliederungen umfasste. Dabei gliedert Frank Bajohr die „Ariseure“ je nach ihren Handlungsoptionen in zumindest drei Kategorien: jene der skrupellosen Profiteure, die über die gesetzlichen Rahmenbedingungen hinaus persönlich die Initiative ergreifen, um sich einen persönlichen Vorteil zu verschaffen; weiters die Gruppe der „stillen Teilhaber“, die an einer „korrekten“ Eigentumsübertragung interessiert waren und

ihren Gewinn durch die Minderbewertung der jüdischen Geschäfte machten. Diese Gruppe übte zwar keinen Druck aus, war jedoch trotzdem durch die Zwangssituation, in der sich die jüdischen Geschäftsinhaber befanden, am persönlichen Gewinn interessiert. Schließlich noch die Gruppe der gutwilligen und verständnisvollen Geschäftsleute, die jüdische Geschäftsleute angemessen zu entschädigen versuchten. Letztere hatten häufig schon vor der NS-Zeit guten persönlichen Kontakt zu den jüdischen Geschäftsinhabern. Auf Hamburg bezogen, gibt Bajohr eine ungefähre prozentuelle Verteilung

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

von je 40 Prozent für die ersten beiden Gruppen und 20 Prozent für die letzte Gruppe an.10 Auch wenn es für die Steiermark bislang noch nicht möglich ist, eine ungefähre Verteilung der „Ariseursgruppen“ (nach Bajohr) vorzunehmen, so zeigen Untersuchungen der „Arisierung“ in der Steiermark11, dass es vor allem ein starkes Übergewicht bei den ersten beiden Gruppen gab. So waren es neben Parteimitgliedern besonders die sogenannten „Alten Kämpfer“, die „Illegalen“, die einerseits selbst initiativ wurden und die andererseits nach den Vorstellungen des NS-Regimes mit dem geraubten Vermögen oder durch Funktionen und Ämter im „Arisierungsprozess“ materiell für ihre NS-Gesinnung und Mitgliedschaft während der Verbotszeit im „Ständestaat“ 1934–38 „entschädigt“ resp. belohnt wurden. So schrieb beispielsweise, stellvertretend für eine Vielzahl vergleichbarer Fälle, Georg Perner aus Graz Ende Mai 1938 an die Kanzlei des Führers und bewarb sich um die Stelle des kommissarischen Verwalters in einem „jüdischen“ Betrieb. In seinem Brief, den er mit „Mein Führer!“ beginnen ließ, zeichnete er ausführlich seine nationalsozialistische Vergangenheit und verdienstvolle Tätigkeit beim Auf bau der örtlichen NSDAP während der „Verbotszeit“ in St. Georgen an der Stiefing im Bezirk Leibnitz nach und führte sein wirtschaftliches Scheitern in den Jahren bis 1938 auf die Repressionsmaßnahmen seitens des „Austrofaschismus“, die er auf Grund seines Festhaltens an der NSDAP zu erleiden hatte, zurück. Ich wurde auch verhaftet. Als ich vom Arrest nach Hause kam, musste ich zu meinem größten Entsetzen feststellen, dass meine Mutter sehr schwer nervenleidend geworden war. Diese Volksverräter hatten ihr gedroht, wegen meiner illegalen Tätigkeit meiner Mutter die Trafik zu entziehen. [sic!] Zwei Jahre dauerte es, bis Mutter wieder halbwegs von ihrem Verfolgungswahn geheilt war. Ich

539

glaubte selbst verzweifeln zu müssen, aber der Glaube an meinen Führer war stärker als alles Leid. Als Mutter merkte, dass ich trotz des großen Unglücks welches wir hatten, noch immer Nationalsozialist bin, musste ich (1937) von meiner Heimat fort. Die Mutter kaufte mir in Graz, da kein Posten zu bekommen war, ein kleines ­L ebensmittelgeschäft. Da ich hier aber meist mit Arbeitslosen zu tun hatte, muss ich das Geschäft wieder aufgeben. Nun stehe ich fast mittellos da. Ich bitte vielmals um eine kommissarische Leitung in einem Geschäft.12 Perners Ansuchen, das Adolf Hitler persönlich zwar nie erreichte, wurde der für die „Arisierungen“ zuständigen Vermögensverkehrsstelle Graz übergeben. Diese bedachte ihn, trotz seiner mangelnden beruf lichen Qualifikation, von Juni bis Dezember 1938 mit der kommissarischen Leitung der Ledergroßhandlung Bonyhady in der Annenstraße,13 womit er an Stelle des Eigentümers die Leitung des Betriebes übernahm und für seine Tätigkeit aus dem Firmenkapital entlohnt wurde.14 Wurde Perner offiziell durch die dafür zuständige NS-Behörde als kommissarischer Verwalter der Ledergroßhandlung Bonyhady eingesetzt, so war das sogenannte „KommissarsUnwesen“ in den ersten Wochen und Monaten nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich das Hauptfeld willkürlicher Bereicherung, vor allem durch Parteimitglieder und skrupellose Profiteure. Denn entgegen den verbreiteten Vorstellungen eines durchorganisierten, bürokratischen NS-Regimes war die „Arisierung“ unmittelbar nach dem „Anschluss“ im März 1938 weder staatlich organisiert noch strukturiert. Mit dem „Anschluss“ war es vor allem die antisemitisch motivierte Habsucht und Gier und Gewalttätigkeit einzelner Nationalsozialisten oder NS-Formationen, die sich in pogromartigen Zuständen, in „wilden Arisie-

540

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

rungen“ durch selbsternannte kommissarische Verwalter und Beschlagnahmungen durch Parteistellen, der SS, SA und Gestapo manifestierten.15 „Gesetzliche“ Rahmenbedingungen gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine, und diese mussten daher erst geschaffen werden. Nicht die gezielten systematischen Aktionen der neuen Machteliten prägten somit die gewaltsame Aneignung von jüdischem Eigentum in den ersten Tagen und Wochen des NS-Regimes, sondern die spontanen Aktionen der „einfachen“ Bürgerinnen und Bürger, der einzelnen Parteiformationen, die in einem Prozess der Selbstermächtigung die Demütigung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung übernahmen. Das bedeutet somit auch, dass sich die „Arisierung“, der Prozess der Beraubung, Entrechtung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, trotz der in den folgenden Monaten geschaffenen Strukturen für einen scheinlegalen Vermögenstransfer nicht hinter geschlossenen Bürotüren vollzog, sondern im gesellschaft­ lichen Raum, in aller Öffentlichkeit, durchgeführt wurde. Die Beraubung der jüdischen Bevölkerung war somit keine nur von oben nach unten dirigierte Maßnahme, sondern sie wurde in einem Wechselspiel der politischen Akteure mit der Bevölkerung vollzogen und von dieser ideologisch mitgetragen. Die „Arisierung“ als politisch-gesellschaftlicher Prozess wäre ohne die direkte oder indirekte Beteiligung der Bevölkerung in der Form daher nicht möglich gewesen. Gerade am Beispiel der „Arisierung“ zeigt sich, dass die „nationalsozialistische Herrschaft nicht bloße Diktatur von oben nach unten war, sondern auch als soziale Praxis begriffen werden sollte, an der die deutsche resp. österreichische Gesellschaft in vielfältiger Weise beteiligt war.“16 Betrachtet man die umfangreiche Praxis sowie die gesamtgesellschaftliche Dimension, so kann sie neben der systematischen materiellen Ausbeutung der im Laufe des Krieges eroberten

Länder als Beleg für die Interpretation des Nationalsozialismus als „Gefälligkeitsdiktatur“, wie sie Götz Aly17 beschrieben hat, oder nach Frank Bajohr als „Zustimmungsdiktatur“18 gelten. Durch die Umverteilung des der jüdischen Bevölkerung geraubten Vermögens in „arische“ Hände wurden zum einen Teile der Bevölkerung vom Regime „belohnt“, und zum anderen machten sich viele Menschen durch die direkte oder indirekte Bereicherung an den Verbrechen der Nationalsozialisten mitschuldig. Dieser Umstand gewinnt an Bedeutung, bedenkt man, dass die „Arisierung“ nicht nur große Industrieanlagen, Geschäfte oder Immobilien, deren Besitzerwechsel auch im Verborgenen vonstatten gehen konnten, betraf. Vielmehr noch wechselten massenhaft Gegenstände des Alltags mit teils geringem materiellen Wert ihre Besitzer.19 Teppiche, Möbel, Bilder, Geschirr etc., all das wurde Jüdinnen und Juden geraubt und an Nichtjuden, „einfache“ Bürgerinnen und Bürger, zu günstigen Preisen verkauft, gratis verteilt oder von diesen einfach gestohlen.20 Auch in der Steiermark, und hier besonders in Graz, kam es zur breiten „Umverteilung“ alltäglicher Gebrauchsgüter in Form von Umzugsgut. Involviert in diese Aktionen waren vor allem Grazer Speditionen, die gegen Entlohnung für den Transport der Umzugsgüter der auswandernden Jüdinnen und Juden sorgen sollten und diese bis zur Erlangung der nötigen Papiere in Lagerhallen in Graz und Triest/ Trieste auf bewahrten.21 So waren beispielsweise bei der Speditionsfirma Pötsch & Rössler zwischen 1938 und 1939 insgesamt 500 Ladungen Umzugsgüter jüdischer Auswanderer eingelagert. Viele Ladungen konnten jedoch aufgrund der vielfältigen Schwierigkeiten, die sich für die Jüdinnen und Juden bei der Emigration ergaben – keine Einreisepapiere, kein Geld für den Transport nach der völligen Beraubung etc. – nicht versandt werden und wurden schließlich im Sommer 1940 nach einem Erlass des Reichs-

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

541

Annonce eines „arisierten“ Betriebes in Graz. Tagespost, 14. August 1938 StLA

sicherheitshauptamtes (RSHA) durch die Gestapo beschlagnahmt und nach der Durchführung der Ausbürgerungsverfahren der Eigen­ tümer zu Gunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Gleichzeitig wurde in Übereinkunft zwischen der Vermögensverkehrsstelle als „Arisierungsbehörde“, der Gestapo und dem Oberfinanzpräsidenten der Grazer Rechtsanwalt Dr. Franz Löschnig mit der Durchführung der Abverkäufe dieser Güter wie auch der Abwicklung der zugleich eingezogenen „Auswandererkonti“ beauftragt.22 Löschnig ließ die bei den Speditionen lagernden Güter in zwei Grazer Lagerhallen bringen, wo sie an den Mann und die Frau gebracht wurden.23 Neben den Speditionen, die sich all ihre Dienste „fürstlich“ entlohnen ließen, profitierten somit auch die Erwerber der „gestrandeten“ Güter, wurden letztere doch zumeist zu günstigen Preisen verkauft und stellten vor allem in Hinblick auf die Kriegssituation außerordentliche „Schnäppchen“ dar.24 Über den Ablauf der Versteigerungen berichtete Löschnig in einem 1946 gegen ihn angestrengten Volksgerichtsverfahren:

[…] soweit es sich um verkäufliche Gebrauchsgegenstände handelt [durften diese] nur an Minderbemittelte, oder an Leute mit kleinen Einkommen abgegeben werden. […] Dieser Standpunkt ließ sich aber nicht vollends aufrecht erhalten, weil die Leute mit kleinen Einkommen keinen Teppich, oder wertvollere Möbelstücke kaufen konnten. Größere Teppiche durften überhaupt nur an die, als Kaufwerber aufgetretenen Dienststellen, wie Stadtverwaltung, Reichsstatthalterei, Gauselbstverwaltung abgegeben werden. Eine große Auswahl von Büchern wurde von der Universitätsbibliothek erworben. Die einzelnen Sachen durften nur zu einem von einem gerichtlich beeideten Schätzmann, bestimmten Schätzwert abgegeben werden. Schätzmeister waren Michael Petschnik, Graz, Lendplatz, für Musikinstrumente ein gewisser Herr Schmetterer, für Bilder und Teppiche wurde noch ein Schätzmeister beigezogen, dessen Name mir aber gegenwärtig nicht in Erinnerung ist. Die beiden letzten Verkaufstage im Juli 1941 waren allgemein zugänglich und war der Verkauf in der Zeitung ausgeschrieben.25

„Arisierung“ in der Steiermark Die ideologische Auf bereitung der „Arisierung“ basierte auch in der Steiermark vorrangig auf dem Antisemitismus der gewerblichen Mittelschicht. Neben den christlich und rassistisch motivierten Anfeindungen wurden jüdische Gewerbetreibende vor allem als unliebsame Konkurrenten verfolgt. Bereits in der Ersten

Republik und während der „Ständestaat“-Diktatur wurde daher auf antisemitischen Argumentationsmustern auf bauend immer wieder die Vertreibung der jüdischen Geschäftsinhaber oder deren wirtschaftlicher Boykott postuliert.26 Exemplarisch sei hier auf einen Entwurf eines „jüdischen Katasters“ des Gerichtsbezirkes Le-

542

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

oben aus dem Jahr 1924 verwiesen, in dem eine Liste von „jüdischen“ Geschäften aufgelistet wurde, mit der Aufforderung, diese zu boykottieren.27 Im März 1938 waren die ideologischen Fundierungen für den Vermögensentzug bereits vorhanden, während die organisatorischen und gesetzlichen Rahmenbedingungen für dessen Umsetzung erst in den nachfolgenden Monaten geschaffen wurden. Dabei durchlief die „Arisierung“ auch in der Steiermark mehrere Phasen und wurde von wechselnden Akteuren mit unterschiedlichen Motivationen getragen. Unverändert blieb von Anbeginn an immer die Zielsetzung: die f lächendeckende Transferierung „jüdischen“ Eigentums in nichtjüdische Hände. Nach der ersten Phase der „wilden Arisierung“28 im März 1938, den ersten Beschlagnahmungen seitens unterschiedlicher nationalsozialistischer Formationen, folgte die Phase der schrittweisen „Legalisierung“, die gesetzliche und organisatorische Regelung, die schließlich in die Schaffung der Vermögensverkehrsstelle (VVSt) als „Arisierungsbehörde“ mündete. Mit der Reichspogromnacht und den nachkom-

menden Verordnungen setzte die beschleunigte „Zwangsarisierung“29 ein. Den Schlusspunkt bildete schließlich die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941.30 Damit verloren alle Jüdinnen und Juden, die das Reichsgebiet verlassen hatten, die deutsche Staatsbürgerschaft, und zugleich verfiel ihr gesamtes Vermögen zu Gunsten des Reiches. Mit der Erweiterung dieser Verordnung auf die in die besetzten Gebiete, in Ghettos und Konzentrationslager deportierten Jüdinnen und Juden gelangte die Beraubung spätestens 1941 zu ihrem legistischen Abschluss.31 Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang zudem, dass sich die „Arisierung“ in Österreich, der „Ostmark“, 1938 von jener im „Altreich“ vehement unterschied. So wurde in Österreich ein Großteil der jüdischen Betriebe ohne gesetzliche Grundlage in enormer Geschwindigkeit unmittelbar nach dem „Anschluss“ unter Verwaltung genommen, ein Akt, der zwar nachträglich legitimiert wurde, für das übrige Deutschland aufgrund ihres pogromartigen Charakters jedoch als Abschreckung diente und die Schaffung von scheinlegalen Rahmenbedingungen beschleunigte.32

„Wilde“ Arisierungen Das Agieren der selbsternannten kommissarischen Verwalter in der Phase der „wilden Arisierung“ sowie die sich daraus ergebenden wirtschaftspolitischen Risiken durch Überschwemmung der Märkte mit geraubten ­Gütern waren auf gesamtstaatlicher Ebene Auslöser für die Bemühungen zur Strukturierung des Vermögensentzugs. In der Steiermark selbst geschah diese erste Phase der „wilden Arisierung“ in enger Zusammenarbeit von einzelnen Nationalsozialisten mit den örtlichen Kaufmannschaften und dem Gauwirtschaftsamt. So über-

nahm es in der ersten Zeit Parteimitglied und SA-Truppführer Richard Ranner33 in Absprache mit der Kaufmannschaft Graz und dem Gauwirtschaftsamt als sogenannter Beauftragter der kommissarischen Verwalter, in den einzelnen jüdischen Betrieben kommissarische Verwalter einzuführen. Dies geschah in der Regel derart, dass Ranner in Begleitung des jeweiligen Kommissars und weiterer Personen das Geschäft aufsuchte, die Inhaber dazu zwang, die Schlüssel und alle weiteren Wertgegenstände wie Kassen zu übergeben und sie an-

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

schließend des Geschäftes verwies. Häufig geschah dies unter massiver Gewaltandrohung.34 Des Weiteren agierten die Kommissare nach Gutdünken und bereicherten sich am Firmenkapital. Diese im Gegensatz zu einer gesamtstaatlichen Organisation stehende, unkoordinierte und unkontrollierte Inbesitznahme jüdischen Eigentums stand zudem in krassem Gegensatz zur Absicht, die „Arisierung“ in die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik einzubeziehen. Ebenso missfiel es führenden Nationalsozialisten, wie beispielsweise Reichskommissar Josef Bürckel, dass auf Grund ihrer finanziellen Situation zunächst zumeist nur dem „Austrofaschismus“ gegenüber loyale Gewerbetreibende zur Übernahme der jüdischen Betriebe in der Lage waren. All dies verlangte danach, die „Arisierung“ zu planen und zu koordinieren, Schautafel „Die Planung der Entjudung und Stillegung“ Sammlung Lamprecht, Graz

543

wie Josef Bürckel, auf die Wiener Situation Bezug nehmend, am 29. April 1938 in einem Brief an den Beauftragten für den Vierjahresplan, Hermann Göring, festhielt: Es muss deshalb die ganze Arisierung von einer bestimmten Planung beherrscht werden. Dabei muss Ziel sein, dass die Leistungsfähigkeit und die Höhenlage des Geschäftslebens in Wien nicht verschlechtert, sondern verbessert wird, dass aber gleichzeitig nur charakterlich wertvolle, womöglich um die Bewegung verdiente Männer bei der Arisierung zum Zuge kommen. Diese Planung der Auslese setzt aber auch eine Planung in der ­Kapitalbereitstellung voraus, wobei ich sicherlich mit Ihnen in der Auffassung einig bin, dass eine Zusammenballung von Betrieben in den Händen von neuen Syndikaten oder Finanzgruppen vermieden werden soll.35

544

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

Nach den Vorstellungen Bürckels sollten sowohl die Interessen der NS-Wirtschaftspolitik als auch jene der Partei berücksichtigt werden – zwei Aspekte, die sich in der gesetzlichen und praktischen Umsetzung auch niederschlugen. Letzteres wurde unter anderem dadurch gewährleistet, dass die „Arisierungswerber“ politische Gutachten seitens der NSDAP benötigten, womit der Einf luss der Partei sichergestellt werden konnte und der gewünschte „Entschädigungscharakter“ aufrecht blieb. Auch wurden für mittellose Parteigänger eigene „Arisierungskredite“, die sich durch die „Arisierung“ selbst finanzierten, bereitgestellt.36 Ersteres fand derart Berücksichtigung, dass die jeweiligen Kreis- und Gauwirtschaftsberater wie auch die Kaufmannschaft zu Stellungnahmen über die wirtschaftspolitische Bedeutung der „jüdischen“ Geschäfte eingeladen wurden. Sie gaben Empfehlungen ab, ob jüdische Geschäfte „arisiert“ oder liquidiert werden sollte. Die „Entjudung“ in Form der massenhaften Liquidierung von Kleinbetrieben war somit Teil der Rationalisierung der österreichischen (ostmärkischen) Wirtschaft und Steuerungselement nationalsozialistischer Wirtschafts- und Industriepolitik.37 Ein Befund, der auch in der Selbstdarstellung des „Arisierungsprozesses“ durch die Vermögensverkehrsstelle Wien in einer Ausstellung im Jahr 1939 auf einer eigenen Schautafel dargestellt und kommentiert wurde. Absicht war es, im Rahmen der „Arisierungen“ in allen Wirtschaftsbereichen mit Ausnahme der Industrie eine Strukturbereinigung durchzuführen. „Ungesunde Konkurrenz“ sollte abgeschafft werden. So auch in der Steiermark, wie aus einer statistischen Aufstellung vom ­Jänner 1941 hervorgeht. Von 513 Betrieben im Bereich „Handel und Gewerbe“ wurden demnach 88 „arisiert“ und 413 liquidiert.38 Weitere zwölf standen zum Berichtszeitpunkt noch unter kommissarischer Verwaltung. In der Kategorie „Industrie“ wurden von 52 Betrieben 45 „arisiert“,

zwei liquidiert und fünf noch verwaltet. „Jüdisches“ Geldinstitut gab es laut dieser Aufstellung eines, das ebenfalls liquidiert wurde. Vervollständigt wird diese Aufstellung noch durch die Kategorie „Liegenschaften“. Demnach ergab der erst ab dem Dezember 1938 systematisch erfasste „jüdische“ Liegenschaftsbesitz eine Summe von 536 Liegenschaften, wovon bis zum Jänner 1941 291 „arisiert“ worden waren und 245 noch zur „Arisierung“ anstanden. Betreut wurden diese von einem durch die Vermögensverkehrsstelle Graz aufgestellten Verwalter.39 Neben den wirtschafts- und parteipolitischen Überlegungen bestand ein zentraler Grund für den beschleunigten Auf bau der Vermögensentzugsstrukturen darin, des unkontrollierten und willkürlichen Agierens der kommissarischen Verwalter Herr zu werden. Dieses Ziel anstrebend, wurden mit April 1938 auch die ersten gesetzlichen Regelungen, die das Kommissarsunwesen40 eindämmen sollten, erlassen. Das Gesetz über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen vom 13. April 1938 stellte den Anfang dar. Der mit der Umsetzung des Gesetzes betraute Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Dipl.-Ing. Walter Rafelsberger41, begnügte sich jedoch weitgehend mit der „Legalisierung“ des vorherrschenden Zustandes, womit die „wilden Arisierungen“ de facto anerkannt wurden und ihre Praxis eher bestätigt denn beendet wurde. Erst mit der Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938, die eine Kontrolle der vorhandenen Vermögenswerte brachte, in Kombination mit „Streifendiensten“ der SS in Wien, einem energischen Auftreten Bürckels sowie der Anordnung über kommissarische Verwalter in der Privatwirtschaft vom 2. Juli 1938, konnte dem Kommissarsunwesen Einhalt geboten und der „Vermögensentzug“ unter behördliche Kontrolle gebracht werden.42

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

Kommissarische Verwalter mussten ab diesem Zeitpunkt ihre Tätigkeit der Vermögensverkehrsstelle melden, und in einem weiteren Schritt wurde deren Bestellung zeitlich auf den 1. Oktober 1938 beschränkt.43 Gleichzeitig stellte man die „Arisierung“ an der Vermögensverkehrsstelle vorbei unter Strafe und richtete mit Anfang Juli 1938 eine eigene Prüfstelle für die Überwachung der kommissarischen Verwalter ein.44 Diese Prüfstelle wurde allerdings erst zu einem Zeitpunkt geschaffen, als die kommissarischen Verwalter schon monatelang unkontrolliert die von ihnen „betreuten“ Betriebe finanziell stark geschädigt hatten. Zudem war auf Grund von Liquidationen und Geschäftsauf lösungen nur noch ein geringer Teil der kommissarischen Verwalter aktiv.45 Weiters wurden für kommissarische Aufsichtspersonen – sie wurden den Betriebsleitern als Kontrolle zur Seite gestellt – und kommissarische Verwalter – diese führten die Betriebe an Stelle der Betriebsleiter – Dienstanweisungen erlassen. Kommissarische Aufsichtsperson wie auch Verwalter hatten sich damit den Bestimmungen des Handelsgesetzbuches unterzuordnen. Dienstlich unterstanden sie in letzter Instanz dem Gauwirtschaftsberater, und ihre Bestellung hing maßgeblich von den Parteidienststellen und den Wirtschaftsberatern ab.46 Laut einer internen Aufstellung der Prüfstelle für kommissarische Verwalter der Vermögensverkehrsstelle Graz vom 20. September 1938 wurden in der Steiermark und im südlichen Burgenland zum Berichtszeitpunkt 156 Geschäfte kommissarisch verwaltet.47 Bis Ende November 1938 steigerte sich diese Zahl auf 167 Betriebe, die von 152 kommissarischen Verwaltern geleitet wurden. Davon waren 90 im

545

Bereich Handel, elf im Handwerk, elf in der Industrie, 20 in der Land- und Forstwirtschaft und 20 in den Freien Berufen tätig. Am 1. Februar 1939 waren es dann nur noch 29 kommissarische Verwalter (13 Industrie und 7 Handel, 9 Verkauf und freie Berufe), die ebensoviele Betriebe zu verwalten hatten. Und bis zum 30. Oktober 1939 reduzierte sich die Anzahl der Kommissarischen Verwalter auf vier (1 Industrie, 3 Verkauf und freie Berufe) mit drei verwalteten Betrieben,48 womit die „Arisierung“ in den aufgelisteten Bereichen in der Steiermark und im südlichen Burgenland bis zum Jahresende 1939 weitgehend abgeschlossen war. Vom Selbstverständnis der kommissarischen Verwalter zeugen nicht nur die ihre Tätigkeit dokumentierenden „Arisierungsakten“, sondern auch ein Schreiben von 29 kommissarischen Verwaltern an den Landesstatthalter und Gauwirtschaftsberater Dr. Armin Dadieu vom 1. Februar 1939. Darin fordern sie Dadieu dazu auf, dass er den aufgrund der erfolgten Liquidation der jüdischen Betriebe mit 31. Jänner 1939 abberufenen Verwaltern bei der Erlangung einer ihren Kenntnissen entsprechenden Stellung behilflich sei. Denn die Tätigkeit der Kommissare war durch die notwendige Eile der Durchführung eine derartige, dass der einzelne nicht in der Lage war, sich rechtzeitig eine Existenz zu sichern, bzw. Umschau nach einer entsprechenden Stellung zu halten. Tatsache aber ist, dass jeder der Unterzeichneten heute vor dem Nichts steht, weder Krankenkassa noch Arbeitslose – Fürsorge als Rückendeckung hat. Nicht unerwähnt wollen wir lassen, dass sich in unseren Reihen Pg. befinden, welche in der Systemzeit ihre Familie, Vermögen und Existenz für die Ideale der Partei und den Glauben an den Führer geopfert haben.49

546

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

Die Vermögensverkehrsstelle Das zentrale Element zur Eindämmung der „wilden Arisierungen“ wie auch der weiteren Durchführung der „Arisierung“ war die bereits erwähnte Vermögensverkehrsstelle. Sie wurde offiziell, auch wenn sie bereits seit Ende April 1938 tätig war,50 durch die Kundmachung des Reichsstatthalters Arthur Seyß-Inquart vom 18. Mai 1938 im Bereich des Ministeriums für Handel und Verkehr (später Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit) in Wien eingerichtet. Zu ihrem Leiter wurde Dipl.-Ing. Walter Rafelsberger ernannt, der neben Josef Bürckel und dem Minister für Wirtschaft und Arbeit Hans Fischböck maßgeblich an der Entwicklung des später für das gesamte Deutsche Reich gültigen „Wiener Modells“ der „Arisierung“ beteiligt war.51 In das Tätigkeitsfeld der VVSt fiel die durch die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 193852 bedingte Entgegennahme und Bearbeitung der Vermögensanmeldungen. Weiters die Planung der Stilllegungen oder „Arisierungen“ „jüdischer“ Betriebe, die Anwendung des Gesetzes über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und Überwachungspersonen, die Verwaltung der „Arisierungserlöse“ sowie die Erteilung von Ausnahmegenehmigungen nach dem am 14. April 1938 erlassenen Gesetz zum Schutz der österreichischen Wirtschaft, demzufolge die Übernahme österreichischer Firmen sowie die Errichtung von Betriebsstätten in Österreich durch deutsche Firmen an Sondergenehmigungen gebunden waren.53 Das bedeutet konkret, dass von den einzelnen Mitarbeitern der VVSt „Arisierungsanträge“ und -werber überprüft, Genehmigungen oder Absagen erteilt und Auf lagen berechnet werden mussten.

Bei all diesen Vorgängen agierte die VVSt allerdings nicht autonom, sondern es waren verschiedene Parteistellen und Verwaltungsbehörden in die Entscheidungsprozesse eingebunden. Neben Walter Rafelsberger und seinen Mitarbeitern waren noch der Minister für Wirtschaft und Arbeit Dr. Hans Fischböck, Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart, Reichskommissar Josef Bürckel sowie die unter der Leitung von Adolf Eichmann stehende Zentralstelle für ­jüdische Auswanderung54, die Kontrollbank und die Devisenstelle Wien maßgeblich für die Beraubung der jüdischen Bevölkerung verantwortlich. All diesen Stellen übergeordnet entschieden letztlich Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan wie auch der Reichsminister für Inneres Wilhelm Frick, wobei es sich keineswegs um einen von oben nach unten dirigierten Vorgang handelte.55 Das Ziel der genannten Personen und Institutionen war zunächst (bis 1940/41) noch nicht die Vernichtung, sondern die vollständige Ausschaltung der jüdischen Bevölkerung aus dem Wirtschafts-leben verbunden mit ihrer Auswanderung resp. Vertreibung, bei gleichzeitiger Vermögensein-ziehung.56 Mit leichten Modifikationen, die vor allem die Einteilung der Abteilungen betrafen, existierte die VVSt bis zu ihrer formellen Auf lösung im Rahmen der Verankerung des „Ostmarkgesetzes“57 bis Mitte November 1939 und beschäftigte in Wien bis zu 300 Mitarbeiter. Bis dahin war die „Arisierung“ im handwerklichen, kleinbetrieblichen und distributiven Sektor weitgehend abgeschlossen. Alle noch nicht abgeschlossenen Bereiche wurden von Dienststellen innerhalb der einzelnen Reichsgaue weitergeführt.58

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

547

Vermögensverkehrsstelle, Zweigstelle Graz In Graz wurde am 15. August 1938 eine Zweigstelle der Vermögensverkehrsstelle Wien eingerichtet. Deren Leitung hatte bis zum 30. Juni 1939 Reinhard Brandner inne.59 Ab Juli 1939 übernahm Dr. Josef Seak60 die Leitung der VVSt, die mit 15. November 1939 offiziell aufgelöst und die noch verbleibenden Aktivitäten in den Wirkungsbereich des Reichsstatthalters Dr. Sigfried Uiberreither verlegt wurden.61 Die Leitung der Abwicklungsstelle der VVSt hatte bis zu deren Auf lösung im September 1943 ebenfalls Dr. Seak inne.62 Vor der offiziellen Gründung der Zweigstelle wurden die Agenden der „Arisierungen“ in der Steiermark unter der Leitung von Dr. Kalmann im Gauwirtschaftsamt unter der Aufsicht des Gauhauptmannes und Gauwirtschaftsberaters Prof. Dr. Ing. Armin Dadieu erledigt.63 Die Aufgaben und Ziele der VVSt bei der Übernahme im August 1938 beschrieb Reinhard Brandner, der sich entgegen anderer Berichte nach 1945 lediglich als Geschäftsführer darstellte,64 in einer Vernehmung Anfang November 1946 wie folgt: Das war ungefähr im Juli oder August 1938 [Übernahme der Leitung des VVSt, Anm. G. L.]. Ich habe dann diese Vermögensverkehrsstelle bis zum Feber 1939 als Geschäftsführer geführt, während der eigentliche Leiter Dadieu war. Ich habe meine Aufgabe darin gesehen, dass ich den ganzen Apparat streng von der Partei getrennt habe. Ich bin aus den Räumen, wo sie untergebracht war, nämlich beim Gauwirtschaftsberater, sofort ausgezogen, habe vom Personal nur einen geringen Teil übernommen und bin in die Schmiedgasse 34 gezogen. Die Hauptübergriffe und Schwierigkeiten, die mich damals zur Äußerung gegenüber Fleischmann veranlassten 65, be-

standen darin, dass von den einzelnen Parteifunktionären jeder machte, was er wollte, jeder Ortgruppenleiter hatte einen Kommissar eingesetzt, und die Leute waren vollkommen ohne Kontrolle. Ich habe in diese zerrütteten Verhältnisse, so rasch wie möglich Ordnung gebracht. Meine Funktion hat praktisch darin bestanden einmal dieses Kontrollsystem aufzubauen, dann eine Prüfstelle für Kom. Verwalter zu errichten und [ich] habe vor allem auch darauf gesehen, dass nichts mehr ohne Zustimmung eines gerichtl. beeideten Sachverständigen verkauft wurde.66 Brandner richtete damit die Tätigkeiten der Zweigstelle in Graz nach den Wiener Vorgaben aus, indem er versuchte, die bis dahin auch in der Steiermark betriebene „wilde Arisierung“ durch eine Formalisierung des Vorganges zu unterbinden resp. zu legalisieren. Einen genaueren Einblick in die konkrete Arbeit der VVSt gibt die Aussage von Dr. Robert Ulcar, der innerhalb der VVSt für „jüdische“ Liegenschaften zuständig war.67 Normalerweise war der Geschäftsverkehr in der Dienststelle so, dass der gewöhnliche schriftliche Verkehr von den einzelnen Referenten geführt wurde, während Schriftstücke, die praktisch rechtsbegründende Geschäfte darstellten, der Gegenzeichnung des Besch. [Brandner, Anm. G. L.] bedurften. […] Die Tätigkeit der Zweigstelle bestand praktisch darin, dass sie die nötigen Vorarbeiten für die Hauptstelle Wien geleistet hat, damit bei Vorliegen mehrerer Arisierungsansuchen für ein Objekt die Hauptstelle Wien eine leichtere Auswahl unter den Bewerbern vornehmen konnte.68 Zur strukturierten Erledigung der Arbeiten unterteilte sich die VVSt nach dem Wiener Vor-

548

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

bild69 in mehrere Abteilungen. Die Abteilung „Handel und Gewerbe“ wurde von Dr. Anton Kleinoscheg geleitet.70 Dr. Josef Seak war bis zur Übernahme der Leitung der Abwicklungsstelle der VVSt für die Abteilung „Liegenschaften und Industrie“ zuständig. Den Bereich der ­„Liquidationen“ hatte Karl Weichsel71 über, während Dr. Robert Ulcar72 Referent für „jüdische“ Liegenschaften und für die Geschäfte außerhalb von Graz war. Als weitere eigenständige Abteilung gab es noch die Prüfstelle für kommissarische Verwalter,73 die von Ing. Andreas Berger geleitete wurde,74 und schließlich einen eigenen Hausverwalter für „jüdische Liegenschaften“ in der Person von Oberstleutnant i. R. Franz von Morari.75 Über all diesen Abteilungen stand Reinhard Brandner, der wiederum der VVSt Wien unterstellt war. Über den konkreten Ablauf einer „Arisierung“ gibt die von Brandner verfasste „Belehrung für die Überleitung jüdischer Firmen jeglicher Art, jüdischer Industrie und jüdischen Haus- und Grundbesitzes“, die den Mitarbeitern der VVSt vorgelegt wurde, Auskunft.76 Darin skizzierte Brandner gleichsam aus seiner Sicht den idealtypischen „Arisierungsfall“. Der arische Käufer sucht mit einem in meiner Dienststelle erhältlichen grünen Vordruck, betreffend „Ansuchen um Genehmigung der Erwerbung“ um die Genehmigung der Einleitung von Verhandlungen mit dem jeweiligen jüdischen Inhaber an. Diesem Ansuchen ist nach Möglichkeit eine Bestätigung des Kaufswerbers über seine Zugehörigkeit zur NSDAP sogleich beizuschließen. Der grüne ausgefüllte Vordruck wird hierauf in der Dienststelle, Einlaufstelle (Schmiedgasse 34/2) abgegeben. Der Kaufswerber erhält dann, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, entweder eine zustimmende oder ablehnende Erklärung zu seinem Ansuchen. Die Zustimmung zum Ansuchen wird immer dann gegeben, wenn kein anderer Kaufswerber vorhanden ist und er selbst

parteimäßig, soweit bei einer raschen Durchsicht festgestellt werden kann, in Ordnung ist. Die Zurückstellung erhält der Kaufwerber dann, wenn entweder schon Verkaufsverhandlungen eingeleitet sind oder ein anderer Kaufwerber ihm vorgezogen wird. Wenn die gegenständliche jüdische Firma usw. nicht aufrechterhalten werden soll, bekommt der Kaufwerber eine endgültige Ablehnung auf sein Ansuchen. Bei Genehmigung der Verkaufsverhandlungen kann der genehmigte Kaufswerber innerhalb einer Frist von 14 Tagen verhandeln und hat innerhalb dieser Frist einen beide Teile bindenden Vertrag der Vermögensverkehrsstelle Wien, Zweigstelle Graz, vorzulegen. Sollten sich Käufer und Verkäufer über die Kaufpreisbedingungen nicht einigen, so kann der Vertrag die Bestimmung enthalten, dass der Verkaufspreis von der Vermögensverkehrsstelle festgelegt wird. Der Vertrag hat unter allen Umständen die Bestimmung zu enthalten, dass derselbe erst nach Genehmigung von Seiten der Vermögensverkehrsstelle rechtswirksam wird. Dem Kaufvertrag ist weiters von Seiten des Kaufwerbers, wenn er Parteigenosse ist, eine eidesstattliche Erklärung dahingehend, dass er nach den Nürnberger-Gesetzen arischer Abstammung ist und dieselbe durch Dokumente, falls nötig beweist, beizulegen. Weiters ist dem Kaufvertrag vom Kaufwerber, der Parteigenosse ist, eine Bestätigung der Ortsgruppe, enthaltend die Dauer seiner Zugehörigkeit zur NSDAP, seine allfällige Tätigkeit beizulegen, die von der zuständigen Kreisleitung zu begutachten und mit einem Stempel zu versehen ist. Ist der Kaufswerber nicht Parteigenosse, so muß er statt der eidesstattlichen Erklärung, den Nachweis seiner arischen Abstammung durch die Vorlage der 4 Taufscheine der Großeltern in beglaubigter Abschrift erbringen. Diese Vorlage kann sich der Volksgenosse durch die Beibringung einer Bestätigung von Seiten des Gausippenamtes,

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

dahingehend, dass er arischer Abstammung ist, ersparen. Nach Vorlage des Vertrages wird der Vertrag von meinen Facharbeitern geprüft und über den Kaufswerber die notwenigen Erkundigungen eingeholt. Grundsätzlich angefragt wird bei der DAF-Kreisleitung, NSDAP-Kreisleitung und bei der Kaufmannschaft oder jeweiligen Zunft, bezw. beim Industriellenbund über die fachliche Eignung des Kaufwerbers, sowie über die Frage, ob der gegenständliche Betrieb aufrechterhalten werden soll oder ob er aufgelöst und abgewickelt wird. (Liquidierung) Nachdem der Vertrag überdies vom Rechtsberater durchgesehen wurde, wird er der Vermögensverkehrsstelle Wien, mit den notwendigen Unterlagen und meiner Stellungnahme, Vorlagebericht, vorgelegt. Die Vermögensverkehrsstelle Wien erteilt auf Grund meines Berichtes hierauf dem Vertrag die Zustimmung oder Ablehnung.77 Wird dem Vertrag zugestimmt, so ergeht an den Kaufswerber die Vorgenehmigung. Diese gestattet dem Kaufswerber auf seine Rechnung und Gefahr den Betrieb zu führen und ordnet gleichzeitig an, dass der vorgenehmigte Kaufswerber im Einvernehmen mit dem kommissarischen Verwalter, der in diesem Falle nur mehr kommissarische Aufsichtperson ist, geführt werden darf. Es ist aber notwendig, dass in den jeweiligen Vorlagebericht auch der Name des kommissarischen Verwalters samt seiner Heimatanschrift enthalten ist, wird der Betrieb ohne kom. Verwalter geführt, so muß im Vorlagebericht die Bestellung eines kommissarischen Verwalters beantragt werden. Nach Erteilung der Vorgenehmigung ist im Einvernehmen mit der kom. Aufsichtsperson eine sofortige Inventur und genaue Bestandsaufnahme durchzuführen. Es wird weiters eine genaue Schätzung des Geschäftes, des vorhandenen Warenlagers, bzw. bei Liegenschaften des Grundstückes usw. durch einen von Seiten der Vermögensverkehrsstelle zu bestellenden Schätzmeister angeordnet. Dieser Schätzer und allfällige Wirt-

549

schaftsprüfer stellen den Wert des Unternehmens fest. Auf Grund dieser Schätzung erfolgt die endgültige Feststellung des Kaufpreises. Der Kaufwerber wird vor Ausfolgung der Endgenehmigung veranlasst, eine Ausgleichstaxe zu bezahlen. Diese Ausgleichstaxe gleicht die Preisspanne zwischen Kaufpreis und festgestelltem Wert aus, (Verkaufswert der Firma) u. zw. bis zu einer Höhe von 85–90% des Verkaufswertes. Von der Höhe dieser Ausgleichstaxe kann jedoch herabgegangen werden, wenn es sich um verdiente Parteigenossen, die bewährte Kämpfer waren, handelt. Ist der Vertrag endgenehmigt, so ist der arische Kaufswerber endgültig Besitzer der jüdischen Firma oder dergl. Zur Erteilung der Vorgenehmigung muß außer dem Vorlagebericht, der beide Teile bindende Vertrag, die Bestätigung der Kreisleitung über die politische Eignung des Kaufwerbers und das Gutachten der Kaufmannschaft, bzw. Zunft und ­Industriellenbund, betref. Aufrechterhaltung des Betriebes vorgelegt werden. Bei Auflösung und Abwicklung (Liquidation) einer jüdischen Firma ist selbstverständlich die Einhebung einer Ausgleichstaxe nötig.78 In diesen von Brandner idealtypisch dargestellten „Arisierungsvorgängen“ wird jedoch eine Anzahl von Fakten der realen Arisierungspraxis nicht angesprochen. So beispielsweise, dass der „Verkaufserlös“, der in der Regel weit unter dem tatsächlichen Verkehrswert lag,79 nicht an den „Verkäufer“, sondern auf ein Sperrkonto mit dem Namen des „Verkäufers“ überwiesen werden musste. Auf diese Konten hatte lediglich die Vermögensverkehrsstelle Zugriff und Gelder wurden nur auf Verlangen und Bitten der jüdischen Eigentümer für den Lebensunterhalt und eine etwaige Emigration freigegeben. Häufig kam es dabei zur völligen Herabwürdigung der Jüdinnen und Juden, die nun als

550

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

Annoncen „arisierter“ Betriebe in Graz. Kleine Zeitung, StLA 13. Oktober 1938

mittellose Bittsteller um kleine Geldbeträge vorstellig werden mussten. Ebenfalls nur angedeutet wird von Brandner das weitere Schicksal der aus wirtschaftspolitischen Überlegungen zu liquidierenden Betriebe. Für diese wurden eigene Abwickler – zumeist verdiente NS-Rechtsanwälte, die mehrere Firmen über hatten – bestellt. Diese trieben in der Folge die Außenstände ein, machten Lagerabverkäufe und hinterlegten die „Erlöse“ nach Abzug ihrer eigenen Auslagen und Honorare ebenfalls auf Sperrkonten zu Gunsten der VVSt. In einem Aktenvermerk der VVSt Graz vom 26. September 1938 wurde deren Aufgabe nochmals präzisiert: Die Liquidation bedeutet, wie schon das Wort sagt, Flüssigmachung des Vermögens und damit Beendigung des Unternehmens.80 Dabei galt für die Abwickler, dass alle im Zuge der Abwicklung notwendigen Maßnahmen […] grundsätzlich so durchzuführen [sind], dass die Abwicklung in erster Linie möglichst schnell beendet wird. Der Abwickler hat mit der Sorg falt eines ordentlichen Kaufmannes für die bestmögliche Verwertung der ihm anvertrauten Vermögenswerte mit den geringstmöglichen Kosten zu sorgen.81 Den ehemaligen Firmeninhabern konnten dabei Lebens-

unterhaltskosten, Schiffskarten und Kosten für den Versand des Umzugsgutes ausbezahlt werden. Dies allerdings nur, soweit es der Vermögensstand erlaubt.82 Damit wurde den Abwicklern, die gegenüber der Abteilung „Abwicklung“ im Ministerium für Arbeit und Wirtschaft berichtspf lichtig waren, ein großer Ermessensspielraum zugestanden, den diese, wie aus den Akten hervorgeht, auch unterschiedlich nutzten, zumal sie ohne die Zustimmung der jüdischen Eigentümer mit deren Besitz verfahren konnten, wie sie wollten. Ein weiterer Themenkomplex, der in der „Belehrung“ nur wenig Beachtung findet, bezieht sich auf die Fragen der „Arisierung“ von Liegenschaften. Da diese erst mit der Verordnung vom 3. Dezember 193883 nur noch mit Genehmigung der VVSt veräußert werden durften, suchte die Zweigstelle Graz bereits in den Monaten zuvor nach Wegen, den „jüdischen“ Liegenschaftsbesitz vollständig zu erfassen. So wurde von Dr. Ulcar auf Basis der Vermögensanmeldungen, wie auch der Meldungen der einzelnen Bezirkshauptmannschaften84 eine eigene Kartei erstellt. Jedes Karteiblatt beinhaltete den Namen, die Anschrift, die Art des Vermögens, ob es bereits kommissarisch verwaltet wurde sowie die sonstigen Vermögenswerte und die Abstammung der Eigentümer. Weiters wurden etwaige Rentenzahlungen für den Lebensunterhalt vermerkt.85 Um nun Liegenschaftsverkäufe an der VVSt vorbei zu verhindern, wurde mit Oberlandesgerichtspräsident Dr. Fritz Meldt vereinbart, dass alle Vorgänge um Liegenschaftsveräußerungen von den einzelnen Bezirksgerichten der VVSt gemeldet werden sollten und eine grundbücherliche Übertragung ohne Genehmigung der VVSt nicht möglich sei. Weiters wurden eigene Verwalter aufgestellt.86 Generell galt für den Liegenschaftsbesitz ab Dezember 1938 die Richtlinie von Hermann Göring, wonach die Arisierung des Hausbesitzes

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

an das Ende der Gesamtarisierung zu stellen [sei], d. h. es soll vorläufig nur dort der Hausbesitz arisiert werden, wo in Einzelfällen zwingende Gründe dafür vorliegen. Vordringlich ist die Arisierung der Betriebe und Geschäfte, des landwirtschaftlichen Grundbesitzes, der Forste u. a.87 Als Begründung für das Hintanstellen der „Arisierung“ der Liegenschaften wurde angegeben, dass der Erlös der Liegenschaften einerseits die jüdischen Fürsorgeeinrichtungen und andererseits die Kosten für die Zwangsemigration tragen sollte.88 Demnach stellten die Liegenschaften auch den Abschluss des „Arisierungsprozesses“ in der Steiermark dar. Denn während bis 1941 beinahe alle „jüdischen“ Gewerbe, Handelsbetriebe und Industrieanlagen oder -beteiligungen „arisiert“ oder liquidiert worden waren, zog sich die „Arisierung“ der Liegenschaften noch bis 1945 hin. Weiters geht die „Belehrung“ nicht darauf ein, dass es in den meisten „Arisierungsfällen“ zu verschiedensten Interventionen und Streitigkeiten zwischen den „Kaufwerbern“ und ihren

551

Protektoren kam. Als ein in dieser Hinsicht beispielhafter Fall kann die „Arisierung“ des Stampigliengeschäftes Brücklmeier in Graz gelten. Brücklmeier, der die „Andreas Brücklmeier u. Co. Präge und Gravieranstalt“ betrieb, wurde zum Verkauf gezwungen, wobei unter anderem der Grazer Ratsherr und Stampiglienerzeuger Dunkler sein Interesse an einem Kauf oder der Liquidation bekundete und alles daran setzte, seinen Zielen zum Durchbruch zu verhelfen. Da der Betrieb jedoch auf Grund von Standortfragen nicht liquidiert werden sollte und Dunkler als unmittelbarer Konkurrent und nach der Liquidierung von Brücklmeier möglicher Monopolist in Graz nicht als „Ariseur“ in Frage kam, gab es in der Folge eine Vielzahl an Interventionen, die sowohl Parteistellen in Graz wie auch in Wien betrafen. Sichtbar wurde dabei neben dem unerbittlichen „Arisierungswillen“ einzelner Akteure und dem von Korruption und „Freunderlwirtschaft“ durchzogenen „Arisierungsprozess“ vor allem auch der nur geringe Handlungsspielraum der Opfer.89

Zusammenfassung Neben den für die Dynamik der „Arisierung“ so bedeutenden Initiativen einzelner Nationalsozialisten, sich Eigentum von Jüdinnen und Juden anzueignen oder von deren Vertreibung und Beraubung zu profitieren, gab es staatliche Bemühungen den Vermögensentzug zu strukturieren und in ein scheinlegales Korsett zu zwängen. Dabei ist jedoch festzustellen, dass schematische Darstellungen, wie jene aus der NS-Zeit selbst, auch mit Blick auf die Opfer zu kurz greifen. Denn der Umstand, dass Vermögensentzug, „Arisierung“ nicht als staatlich organisierte und verordnete Maßnahme zu sehen ist, sondern seine Dynamik weitgehend aus dem eigenständigen Handeln von Kommissaren und

weiteren Akteuren der „Arisierung“ bezog, führt dazu, dass eine Annäherung an den Prozess der „Arisierung“ unter Miteinbeziehung der jüdischen Opfer zumeist nur exemplarisch als sinnvoll erscheint. Ebenso wie bei der Struktur der Beraubung verhält es sich auch bei der Frage der Vermögensbewertung der „arisierten“ Güter. Ihr Wert lässt sich auf Grund einer Vielzahl von Parametern mehr als 60 Jahre nach dem Ende des NSRegimes nur noch sehr schwer, oder gar nicht ermitteln.90 Abseits der ideellen Werte der geraubten und zerstörten Güter bieten auch die „fiktiven“ Kaufsummen in den „Arisierungsakten“ häufig keine realen Anhaltspunkte. Zum

552

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

einen, da vor dem Abschluss der „Kaufverträge“ die Werte der Immobilien und Geschäfte durch Boykotte, Zwangsverkäufe und Geschäftsschließungen massiv geschmälert wurden, und zum anderen durch Fragen der Bemessung von Firmenwerten, die nicht nur die Aktiva und Passiva betreffen, sondern auch Fragen der Marktposition, Produktpalette, des Kundenstammes, der Geschäftsbeziehungen, Absatzwege und des allgemeinen Ansehens einer Firma. In der Regel wurden die Faktoren des sogenannten „Goodwill“ bei den Bewertungen der „arisierten“ Betriebe nicht berücksichtigt, sondern lediglich Lagerbestände, Inventar und betriebliche Anlagen unter enormen Abschlägen in die Bewertung einbezogen, wobei nicht selten die politische und persönliche Nähe der „Ariseure“ zu höheren NS-Funktionären oder Beamten der Vermögensverkehrsstelle den „Kaufpreis“ noch zusätzlich senken konnte.91 Versucht man dennoch eine Dimension des Vermögensentzuges in der Steiermark zu skizzieren, so kann man auf interne Aufstellungen der Vermögensverkehrsstelle zurückgreifen. Demnach waren in der Steiermark 513 Betriebe im Bereich Handel und Gewerbe, 52 im Bereich Industrie, ein Geldinstitut und 536 Liegenschaften von der „Arisierung“ betroffen.92 Aus einem Bericht des Staatskommissars in der Privatwirtschaft, Walter Rafelsberger, vom 1. Februar 1939 mit dem Titel „Entjudung in der Ostmark“93, der auf den Vermögensanmeldungen vom 27. April 1938 basierte, geht für die Steiermark ein Gesamtwert der zu „arisierenden“ Vermögen (Land- und Forstwirtschaft, Grundvermögen, Betriebsvermögen, Sonstiges Vermögen abzüglich der Außenstände) von 39,521.000 RM hervor. Dies entspricht laut der Währungskonvertierung der Oesterreichischen Nationalbank (1 RM im Jahr 1939 = 4,51 € im Jahr 2007) einem Wert von 178,239.710 €.94 Zu erwähnen ist dabei zudem, dass diese Aufstellung eine Momentaufnahme Anfang des Jahres

1939 bildete und lediglich die Vermögensanmeldungen berücksichtigte. Außerdem war die wertmäßige Erfassung von mehreren Faktoren beeinf lusst. So kann auf jeden Fall davon ausgegangen werden, dass neben den bereits erwähnten Aspekten, die nicht in die Bewertung einf lossen, die Jüdinnen und Juden bei den Vermögensanmeldungen möglichst niedrige Werte angaben. Weiters ist zu berücksichtigen, dass die Basis dieser Aufstellung die Vermögensanmeldungen waren und die Zahl der Betriebe mit späteren Zahlenangaben nicht übereinstimmt, was vor allem darauf zurückgeführt werden kann, dass der Informationsf luss zwischen Wien und Graz nicht einwandfrei funktioniert haben dürfte. Nichtsdestotrotz kann man aus diesen Angaben eine erste Größenordnung ablesen, wobei die Werte eher als untere Grenzen anzusetzen sind. Abschließend ist nochmals festzuhalten, dass die ideologischen Wurzeln und Plausibilitätsstrukturen, auf denen die „Arisierung“ fußte, bereits in den Jahrzehnten vor dem „Anschluss“ geschaffen wurden. „Arisierung“ als Begriff entstammt dem Umfeld des völkischen Antisemitismus, der bereits seit den 1920er Jahren die Forderung nach einer „Arisierung“ der Wirtschaft, bzw. einer „arischen Wirtschaftsordnung“ erhoben hat. Im Laufe des Jahres 1938 wurden diese schließlich in scheinlegale Organisationsstrukturen überführt und damit für die NS-Bürokratie verwalt- und steuerbar gemacht. Der Vermögensentzug war somit kein allein von „oben“ nach „unten“ dirigierter Prozess, sondern vollzog sich als stetes Wechselspiel von unkontrollierter antisemitischer Gier und obrigkeitlichem Rigorismus. Auf die Phase der „wilden Arisierungen“, in der „einfache“ Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten wie auch verschiedene Parteiformationen willkürlich jüdisches Eigentum raubten, folgten die ersten Schritte der legistischen Fassung und Organisation. Neben Verordnungen wurden

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

einzelne Organisationseinheiten wie die Vermögensverkehrsstelle geschaffen. Diese organisierten bei gleichzeitiger Berücksichtigung unterschiedlichster Partei- und Wirtschaftsinteressen fortan den Raub. Zielte die „Arisierungspolitik“ zunächst noch auf die völlige Verdrängung der jüdischen Bevölkerung aus der Wirtschaft und allen gesellschaftlichen Bereichen ab, so gingen die Nationalsozialisten mit Kriegs-

553

beginn von der Vertreibungs- zur Vernichtungspolitik über. Das anvisierte Ziel wurde trotz der sich verändernden politischen und militärischen Lage jedoch niemals aus den Augen verloren und führte bis 1940 zunächst zur vollständigen Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus der Steiermark und mit einer zeitlichen Verzögerung auch zu deren völligen Beraubung.

Anmerkungen * 1

2 3 4

5 6

7 8

Dieser Beitrag wurde im Jahr 2010 abgeschlossen. Vorliegender Text ist eine erweiterte und grundlegend überarbeitete Fassung des Textes: Lamprecht, „Auf diese Art und Weise“ 351–383. Obersteirische Volkszeitung (4. 3. 1939), 1. Vgl. Höffkes, Hitlers politische Generale 40–45. Unter „Arisierung“ ist zunächst die teilweise oder vollständige Verdrängung von Juden aus dem Wirtschaftsleben zu verstehen. Fasst man den Begriff, für den es keine exakte nationalsozialistische Definition gibt, weiter, so geht er über den Aspekt der wirtschaftlichen Verdrängung hinaus und zielt auf die völlige Existenzvernichtung der jüdischen Bevölkerung ab. Neben der Enteignung inkludiert „Arisierung“ zugleich auch die Aneignung. Ein Umstand, der ab März 1939 das Reichswirtschaftsministerium dazu veranlasst, statt „Arisierung“ den Begriff „Entjudung“ zu verwenden. Als Ursache für diese Umbenennung des Vorganges gelten die Erfahrungen mit der durch die Nationalsozialisten als typisch jüdisch bezeichneten und nun von den „Ariern“ zu Hauf an den Tag gelegten Raffgier und Habsucht. Vgl. Bajohr, „Arisierung“ 15; Botz, Arisierungen in Österreich 29–31. Obersteirische Volkszeitung (4. 3. 1939), 1. Der Begriff der „Volksgemeinschaft“ wurde seitens der Nationalsozialisten ideologisch aufgeladen. Die Volksgemeinschaft stand im Gegensatz zur als undeutsch gesehenen Gesellschaft, weshalb die Transformation von der Gesellschaft zur „Volksgemeinschaft“ ein Prozess der Vertreibung und Vernichtung der „undeutschen“ Elemente der Gesellschaft war. Somit stand die Schaffung der „Volksgemeinschaft“ in enger Beziehung zur „Arisierung“. Vgl. u. a. Haibl, Volksgemeinschaft 786. Wildt, Volksgemeinschaft 12. Thamer, Nation als Volksgemeinschaft 112.

9

10 11

12

13

14

15

Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. 9. 1935. Reichsgesetzblatt 1935 I, S. 1146–1147. Vgl. Bajohr, Verfolgung 645f. Vgl. u. a. Staudinger, „Ich bitte die Vermögensverkehrsstelle um baldige Entscheidung“ 209–222. Georg Perner an die Kanzlei des Führers am 22. 5. 1938. StLA, LReg. Arisierung HG 1126. Die Firma Bonyhady meldete mit 31. 5. 1938 ihr Gewerbe als ruhend und stellte somit offiziell den Geschäftsbetrieb ein. Das Geschäft selbst wurde liquidiert, da sich die Kaufmannschaft des Landes Steiermark dafür aussprach. Einer der Gründe für die Liquidation lag darin, dass zugleich die Lederhandlung Schwarz am Griesplatz „arisiert“ wurde und daher in den Augen der Kaufmannschaft kein Bedarf an einer weiteren Lederhandlung zu bestehen schien. Nichtsdestotrotz bemühte sich Eduard Bonyhady, der nach dem Tod des Bruders und ­Eigentümers Salomon Bonyhady das Geschäft übernahm, noch bis Oktober 1938 um die Weiterführung des Geschäftes. Er konnte laut Aktenvermerk vom 17. 4. 1939 f liehen, worauf hin sein Geschäft geschlossen wurde. Eduard Bonyhady konnte gemeinsam mit seiner Frau nach Palästina emigrieren. Vgl. StLA, LReg. Arisierung HG 1126. Allgemein ist festzuhalten, dass die Lohnhöhe der kommissarischen Verwalter variabel war und oft willkürlich festgelegt wurde. Nicht selten kam es vor, dass sich die kommissarischen Verwalter in den von ihnen verwalteten Geschäften aus den Firmenkassen selbst bedienten oder durch den Abverkauf von Lagerbeständen und durch manipulierte Inventuren bereicherten. Vgl. Botz, Arisierungen in Österreich 31; Safrian/ Witek, Und keiner war dabei, bes. 23–60.

554 16 17 18 19

20

21

22

23

24

25

26

27

28 29

30

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

Bajohr, „Arisierung“ 17. Aly, Hitlers Volksstaat. Bajohr, Zustimmungsdiktatur 69–121. Vor allem bei den Gegenständen mit geringem materiellen Wert ist zu berücksichtigen, dass häufig die Gegenstände des Alltages für die Opfer hohe symbolische Bedeutung hatten und ihr Verlust daher besonders schmerzhaft war, verdeutlichte er doch auch die „Arisierung“ der Erinnerung und den Raub der Identität. Vgl. Triendl/Wahl, Spuren des Verlustes 251–428. Als Beispiel vergleiche die Versteigerung von Umzugsgut jüdischer Emigrantinnen und Emigranten in Bremen. Betscher/Friedrichs, „Identitätsausrüstung unterm Hammer“ 95–107. Vgl. Anderl/Blaschitz, Arisierung von Mobilien 173–181. Vgl. Anderl/Blaschitz, Arisierung von Mobilien 175. Lagerraum der Fa. Kloiber, Riedel & Schrott in der Baumgasse 17, sowie Reininghaus-Pavillon im Industriehallenpark. Vgl. Anderl/Blaschitz, Arisierung von Mobilien 176. Aufgrund der geringen materiellen Werte der einzelnen Güter sowie der umfangreichen Aktenvernichtung gegen Kriegsende finden sich zur „Arisierung“ der Alltagsgegenstände nur wenige Akten. In Bezug auf die Grazer Situation gibt vor allem ein Akt über ein Volksgerichtsverfahren im Jahr 1946 Auskunft. Franz Löschnig, als für den Verkauf der Güter Zuständiger, zeigte zwei Grazer Speditionen wegen überhöhter Lagergebühren während des Krieges an. Nach 1945 wurde Löschnig deshalb von Grazer Spediteuren der Denunziation beschuldigt. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 6785/46. Zeugenvernehmung Franz Löschnig, 12. 12. 1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz, Vr 6785/1946. Zum Antisemitismus in der Steiermark vgl. u. a. Rütgen, Antisemitismus; Halbrainer/Hainzl, „Ersuche um Mitteilung“ (2000), 48–50. Vgl. Entwurf eines jüdischen Katasters für den Gerichtsbezirk Leoben, 1924. Steiermärkische Landesbibliothek, Kapsel-Sammlung. Vgl. Weber, Arisierung in Österreich 65–81. „Zwangsarisierung“ bezieht sich darauf, dass es bis November 1938 entgegen der Praxis keine rechtliche Anbotsverpf lichtung jüdischer Besitzer gab. Mit der Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben vom 12. 11. 1938 mussten Unternehmen zum Kauf angeboten werden bzw. konnten auf Betreiben der Vermögensverkehrsstelle liquidiert werden. Vgl. Ebda, 93. Zuständig für die Einziehung des Vermögens war

31

32 33

34

35

36 37 38

39

40

41

der Oberfinanzpräsident in enger Zusammenarbeit mit der Gestapo. Vgl. Schöggl-Ernst, Arisierungsakten 357–361. Vgl. Burger/Wendelin, Vertreibung, Rückkehr und Staatsbürgerschaft 296–306. Rappl, Unter der Flagge der Arisierung 25. Richard Ranner, geb. 4. 8. 1886, war in Graz Schneidermeister und Geschäftsmann. Seit 1930 Mitglied der NSDAP und seit 1931 Mitglied der SA. In seinem Geschäft in der Neutorgasse trafen sich vor 1933 die lokalen NSDAP-Mitglieder. Ranner wurde Ende 1933 aufgrund seiner Parteitätigkeit verhaftet, f loh 1934 nach Jugoslawien und später nach Berlin, wo er Mitglied der österreichischen Legion wurde. Sein Geschäft wurde vom „Ständestaat“ geschlossen. 1938 kehrte Ranner nach Graz zurück, war einige Zeit für die Einführung der kommissarischen Verwalter zuständig, bis er Mitte 1938 das Kauf haus Zilz in der Annenstraße „arisierte“. Nach 1945 wurde Ranner vom Volksgericht angeklagt und wegen Vergehen gegen §11 VG und §6 KVG zu 2 ½ Jahren Kerker verurteilt. Vgl. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr. 5904/46; StLA, LReg. Arisierung HG 1686. Vergleiche dazu diverse Zeugenaussagen aus dem Volksgerichtsprozess gegen Ranner. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr. 5904/46. Bürckel an Göring, am 29. 4. 1938, zit. nach: Botz, Arisierungen in Österreich 41. Botz, Arisierungen in Österreich 41f. Weber, Einleitung 21. In den Akten wird die Summe mit 523 angegeben und nicht mit 513, wie sich aus den Teilsummen ergeben würde. Statistische Aufstellung über die VVSt Graz vom 16. 1. 1941. StLA, LReg. Arisierungen, Diverse Akten 1937ff. Statistische Aufstellung über die VVSt Graz vom 16.  1. 1941. StLA, LReg. Arisierungen, Diverse Akten 1937ff. Die genaue Zahl von kommissarischen Verwaltern in dieser ersten Phase der „wilden Arisierungen“ lässt sich nur schwer eruieren. Es wird aber angenommen, dass es an die 20.000 bis 30.000 Kommissare waren. Vgl. Weber, Arisierung in Österreich 65. Dipl.-Ing. Walter Rafelsberger wurde am 4. 8. 1899 in Wien geboren. Er studierte an der TU Wien und arbeitete bis 1930 bei der Szalonaker Bergbau AG im Burgenland. Daran anschließend wechselte er in das Gussstahlwerk Judenburg (Betriebsleiter im Edelstahlwerk und Abteilungsleiter der Überwachungsstelle für Eisen und Stahl). Er engagierte sich beim Deutschen Turnerbund und war seit 1933 Mitglied der NSDAP, seit April 1934 zudem Mitglied

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

42 43

44 45 46 47

48

49

50 51

52

der SS. Innerhalb der NSDAP war er zunächst Propaganda- und Bezirksleiter von Judenburg, später Kreisleiter. Er beteiligte sich am Juliputsch und wurde auch als Haupträdelsführer gesucht. Sein weiterer Aufstieg in der Partei führte ihn zum Gauleiter der Steiermark bis Juli 1935 und Geschäftsführer der illegalen NSDAP in Österreich. Nach kurzfristigen Aufenthalten im Ausland wurde er Mitte 1935 in Österreich verhaftet und erst mit der Amnestie 1936 wieder auf freien Fuß gesetzt. Von 1936 bis 1938 lebte und arbeitete er in Berlin. 1938 wurde Rafelsberger von Seyß-Inquart nach Wien berufen und in der Dienststelle des Reichskommissars für die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich mit der Leitung des Referates IIA, das für wirtschaftliche Fragen, insbesondere für Personal­ sachen und den Auf bau der gewerblichen Wirtschaft, zuständig war, betraut. In diesem Rahmen war er auch für die Vermögensverkehrsstelle zuständig. Bis Mitte 1939 blieb Rafelsberger für die Agenden der VVSt zuständig. Auch abseits der VVSt bekleidete Rafelsberger bis 1945 eine Anzahl wirtschaftspolitisch bedeutender Stellen. Nach 1945 konnte er untertauchen und lebte bis in die 1970er Jahre in Südtirol. Vgl. Fuchs, Vermögensverkehrsstelle 79f.; Keller, Walter Rafelsberger 23–37. Vgl. Weber, Arisierung in Österreich 68–70. Die Bestellungsfrist beim 1. 10. 1938 wurde in der Folge auf den 1. 4. 1939 ausgedehnt. Vgl. Gesetz, womit das Gesetz über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen, GBl. Nr. 80/1938, geändert wird, vom 24. 10. 1938 (GBl. F. Ö. Nr. 518/1938). Vgl. Weber, Arisierung in Österreich 68–75. Vgl. Fuchs, Vermögensverkehrsstelle 46. StLA, LReg. Arisierungen, Diverse Akten 1937ff. Im Juni 1938 meldet Dadieu an Rafelsberger eine Zahl von 103 Kommissarischen Verwaltern aus der Steiermark und zusätzlich noch 30 die zur Bestätigung durch Rafelsberger anstehen würden. Vgl. StLA, LReg. Arisierungen. Vermögensverkehr, ­Diverser Schriftverkehr 1938–1945. Bericht des Staatskommissars in der Privatwirtschaft an Reichskommissar Bürckel am 6. 11. 1939. ÖStA, AdR, 04, Bürckel Materie 2160/2 K. 90. StLA, LReg. Arisierung, Vermögensverkehr Aktenvermerke, Komm. verwaltete Geschäfte, Kontrollstelle. Vgl. Fuchs, Vermögensverkehrsstelle 32. Vgl. Aly/Heim, Vordenker der Vernichtung, bes. 25–27 und 33–49; Safrian, Beschleunigung 61–89. Durch diese Verordnung mussten Juden ihr gesamtes in- und ausländisches Vermögen mit einem Wert

53 54 55 56

57

58

59

60

61

62

555

über 5.000,– RM anmelden. Vgl. Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. 4. 1938. In: Reichsgesetzblatt, Jg. 1938, Teil I, 414–415. Vgl. Weber, Arisierung in Österreich 81. Vgl. Anderl/Rupnow, Zentralstelle. Vgl. Fuchs, Vermögensverkehrsstelle 34. Um die Vermögenseinziehung soweit als möglich rechtlich zu decken, wurden fiktive Steuer- und Abgabenschulden schlagend wie auch neue Steuern und Abgaben eingeführt. Zu nennen sind hier die Reichsf luchtsteuer, wie auch die Sühneabgabe oder Judenvermögensabgabe. Letztere betrug zwischen 20 und 30 Prozent des angemeldeten Vermögens. Vgl. Weber, Arisierung in Österreich 95. Gesetz über den Auf bau der Verwaltung in der Ostmark vom 14. 4. 1939, GBlÖ Nr. 500/1939 vom 21. 4. 1939. Vgl. Weber, Arisierung in Österreich 95–104; Fuchs, Vermögensverkehrsstelle 187–203. Reinhard Brandner, geb. 18. 9. 1905 in Stankovic (Böhmen) war Kaufmann in Graz. Seit 1931 war er Mitglied der NSDAP. Von 1934 weg lebte er in der ČSR und dann in Berlin. Seit März 1938 wieder in Graz. 1934 wurde Brandner wegen seiner nationalsozialistischen Tätigkeit zu sechs Monaten Arrest im Anhaltelager Messendorf verurteilt. Brandner f loh aus dem Anhaltelager. Seit Dezember 1938 war er Mitglied der SS und von Anfang 1939 bis 1945 Ratsherr der Stadt Graz. Nach 1945 wurde Brandner zunächst interniert und schließlich wegen seiner „illegalen“ Tätigkeit, wie auch der Funktionen während der NS-Zeit und wegen der „Arisierung“ des Schotterwerkes Peggau vom Volksgericht nach dem Verbotsgesetz und Kriegsverbrechergesetz angeklagt und verurteilt. Das Urteil wurde schließlich vom Obersten Gerichtshof aufgehoben, Brandner freigesprochen. Vgl. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Dr. Josef Seak wurde am 13. 2. 1889 in Marburg/ Maribor geboren. Weltkriegsteilnehmer, promovierte 1928 zum Doktor der Rechts- und Staatswissenschaften, betrieb von 1929 bis 1938 das Reisebüro Nord-Süd in Graz. War offiziell seit Mai 1938 Mitglied der NSDAP. Seit 1933 Mitglied des Steirischen Heimatschutzes und eventuell auch SAund NSDAP-Mitglied seit 1933. Beide Angaben lassen sich nicht verifizieren. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5084/46. Aus der statistischen Aufstellung über die VVSt Graz vom 16. 1. 1941. StLA, LReg. Arisierungen, Diverse Akten 1937ff. Die Geschäfte der Abwicklungsstelle der Vermö-

556

63

64

65

66

67 68

69

70

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

gensverkehrsstelle wurden mit 25. September 1943 in die zentrale Verwaltung des Reichsstatthalters eingegliedert. Zuständig war ab diesem Zeitpunkt Dr. Karl Mohr. Vgl. StLA, LReg. Arisierung, Vermögensverkehr, Diverser Schriftverkehr 1938– 1945. Armin Dadieu war Landesstatthalter und Gauhauptmann. Zudem war er bis 1941 Gauwirtschaftsberater der NSDAP und Leiter der Kammer für Handel, Gewerbe und Industrie. Vgl. dazu unter Berücksichtigung einer mangelnden kritischen Distanz der Autorin: Schaffler, Armin Dadieu 315–317; im selben Band auch die biographischen Aufzeichnungen von Armin Dadieu: Dadieu, Aufzeichnungen 323–341; Karner, Steiermark im Dritten Reich (1986), u. a. 99–106; Vgl. StLA, LReg. Arisierung, Diverse Akten 1937 -. Sowohl in Berichten während der NS-Zeit wie auch in den Vernehmungen anderer Mitarbeiter der VVSt wurde Brandner als verantwortlicher Leiter der VVSt dargestellt. Vgl. u. a. Vernehmung von Dr. Seak am Landesgericht für Strafsachen Graz, am 5.  12. 1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Brandner gab in der Vernehmung an, dass er eher durch Zufall die Leitung der VVSt übertragen bekommen habe. Ich wollte mir nun in Graz eine Existenz gründen und da kam mir im gewissen Sinne der Zufall insofern zu Hilfe, als ich den Gauinspektor Fleischmann traf, den ich auf die Missstände, die bei den Arisierungen vorkommen aufmerksam machte und auf dessen Frage ich erklärte, ich glaube schon, dass ich das besser machen könnte. Ein paar Tage später wurde ich dann zum Gauleiter berufen, der mir den Auftrag gab, die Vermögensverkehrsstelle als Geschäftsführer zu übernehmen. Ich war damals zwar etwas überrascht, habe aber dann doch zugestimmt. Vernehmung von Reinhard Brandner am 6. 11. 1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Vernehmung des Reinhard Brandner am Landesgericht für Strafsachen Graz, am 6. 11. 1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Vernehmung von Dr. Seak am Landesgericht für Strafsachen Graz, am 5. 12. 1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Aufgrund der vielfach größeren Zahl an „Arisierungsfällen“ gab es in der Vermögensverkehrsstelle Wien eine etwas größere Anzahl an Abteilungen. Vgl. Fuchs, Vermögensverkehrsstelle 42. Dr. Anton Kleinoscheg, geb. 11. 4. 1911 in Gösting bei Graz, war seit 1932 NSDAP- und seit 1933 SAMitglied (Obersturmführer). Kleinoscheg studierte

71

72

73

74

75

an der Universität Graz und war innerhalb der NSDAP-Ortgruppe Gösting aktiv. Von Juli 1938 bis März 1939 war er Mitarbeiter der VVSt. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5038/46. Karl Weichsel, geb. 21. 2. 1893, war Kleiderfabrikant in Graz, Herrengasse Nr. 13/II. Vernehmung von Dr. Seak am Landesgericht für Strafsachen Graz, am 5. 12. 1946. StLA. LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Gegen Weichsel wurde ein Verfahren vor dem Volksgericht geführt, doch ist der betreffende Akt verschollen. Dr. Robert Ulcar, geb. 30. 5. 1910 in Triest, war von Mai 1938 bis 1943 Mitglied der NSDAP. 1943 wurde er wegen Wehrkraftzersetzung und Schädigung des Ansehens der NSDAP aus dieser ausgeschlossen. Zudem war er SA-Mitglied im Range eines Rottenführers. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5411/46. Die Prüfstelle für kommissarische Verwalter gehörte nicht der Vermögensverkehrsstelle an, sondern war direkt Staatskommissar Rafelsberger unterstellt. Rundschreiben an alle Abteilungsleiter von Rafelsberger, am 1. 9. 1938. StLA, LReg. Arisierungen, Diverse Akten 1937ff. Ing. Andreas Berger, geb. 20. 1. 1884 in Kolbnitz (bei Spittal an der Drau), war von März 1931 bis Mai 1945 Mitglied der NSDAP. Im Juni 1938 war er Berater für Bauwirtschaft im Gauwirtschaftsamt in Graz und ab August 1938 Leiter der Prüfstelle für kommissarische Verwalter. Vgl. Polizeidirektion Graz an die Staatsanwaltschaft Graz, am 19. 9. 1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2875/49. Seine Tätigkeit beschrieb er folgendermaßen: Ich bin glaublich im August 1938 auf Vorschlag des Beschuldigten [Brandner] vom Gauwirtschaftsamt in die Vermögensverkehrsstelle gekommen. Meine Tätigkeit im Gauwirtschaftsamt bestand darin, die eingesetzten komm. Verwalter hins. ihrer Geschäftsführung zu überprüfen, weil einige Unregelmäßigkeiten vorgekommen waren. Diese Tätigkeit habe ich auch in der Vermögensverkehrsstelle beibehalten. Offiziell hieß mein Referat Prüfstelle für komm. Verwalter. Zeugenvernehmung Andreas Berger am Landesgericht für Strafsachen Graz, am 7. 1. 1947. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Franz v. Morari, Oberstl. i.R., geb. 1. 3. 1883 in Zadar/Zara (Dalmatien), trat der NSDAP 1936 bei. War von 1921 bis 1922 Herausgeber der nationalsozialistischen Zeitschrift „Sturmfahne“, Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP und der Ostmarkmedaille. 1941 war er Hauptabteilungsleiter beim „Reichskommissariat zur Festigung des Deutschen Volkstums“ in Marburg und dort mit der Verwaltung des beschlagnahmten Hausbesitzes und

Lamprecht / „Arisierung“ in der Steiermark

76

77

78

79

80

81

82 83

84

der Mobilien befasst. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 1834/47. Belehrung für die Überleitung jüdischer Firmen jeglicher Art, jüdischer Industrie und jüdischen Haus- und Grundbesitzes. StLA, LReg. Arisierung, Diverse Akten. Ab einem Jahresumsatz der zu „arisierenden“ Firma von 50.000 RM wurde zusätzlich die Kontrollbank in das Verfahren einbezogen. Diese sollte die finanziellen Grundlagen der „Kaufverträge“ prüfen. Bürorundschreiben Nr. 8. StLA, LReg. Arisierungen, Diverse Akten 1937ff. Belehrung für die Überleitung jüdischer Firmen jeglicher Art, jüdischer Industrie und jüdischen Haus- und Grundbesitzes. StLA, LReg. Arisierung, Diverse Akten. Dieser Umstand führte schließlich dazu, dass mit Juni 1940 die Nachprüfung aller „Arisierungen“ per Verordnung verfügt wurde. Vgl. Verordnung über die Nachprüfung von Endjudungsgeschäften vom 10. 6. 1949 (RGBl. I S. 891). Aktenvermerk vom 26. 9. 1938. StLA, LReg. Arisierung, Diverse Akten 1937ff. Anleitung für Abwickler. StLA, LReg. Arisierungen, Vermögensverkehr. StLA, LReg. Arisierungen, Vermögensverkehr. Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, wodurch die Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens vom 3. 12. 1938 bekannt gemacht wird. Gesetzblatt für das Land Österreich v. 6. 12. 1938. Die Bezirkshauptmannschaften wurden in der Presse zur Meldung der „jüdischen“ Liegenschaften aufgefordert. Zeugeneinvernahme Dr. Ulcar, am 28. 8. 1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5038/46.

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

557

Zeugeneinvernahme Ulcar, am 28. 8. 1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5038/46 In einer Aufstellung der VVSt ohne genaues Datum werden für die Steiermark 40 Hausverwalter genannt, die insgesamt 174 Häuser verwalteten. Vgl. StLA, LReg. Arisierung, Diverse Akten 1937ff. Schnellbrief von Hermann Göring vom 28. 12. 1938. StLA, LReg. Arisierungen, Diverse Akten 1937ff. Liegenschaftserlöse wurden beispielsweise im Rahmen der „Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark“ zur Finanzierung der Emigration verwendet. Vgl. StLA, LReg. Arisierung. Diverse Befehle und Akten Bd. 2, 1939. Vgl. StLA, LReg. Arisierungen, HG 372/I–II; Lamprecht, Frauen 57–92. Zur Frage der Bewertung vgl. u. a. Junz/Rathkolb, Vermögen der jüdischen Bevölkerung. Das Entgegenkommen nationalsozialistischer Kader bei der Preisgestaltung gegenüber verdienten Parteigenossen wie auch die Frage der Korruption spiegelt sich in viele Akten der VVSt wieder. Vgl. zur Korruption allgemein: Bajohr, Parvenüs und Profiteure. Aufstellung der VVSt Graz vom Jänner 1941. StLA, LReg. Arisierungen, Diverse Akten 1937ff. Ich möchte mich beim Archiv der IKG Wien für die Überlassung der Statistik von Walter Rafelsberger bedanken. Das Original befindet sich im ÖStA im Bestand der Vermögensverkehrsstelle, Rafelsberger, Statistik. Vgl. Anmerkungen zur statistischen Auswertung der Vermögensanmeldungen durch die Vermögensverkehrsstelle, 1939 („Rafelsberger-Statistik“), Archiv der IKG Wien.

Karin Leitner-Ruhe

„Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“ Kunstraub während der NS-Zeit in der Steiermark*

Bei der Beschlagnahme staatsfeindlichen, im besonderen auch jüdischen Vermögens in Österreich sind u. a. auch Bilder und sonstige Kunstwerke von hohem Wert beschlagnahmt worden. Der Führer wünscht, daß diese zum großen Teil aus jüdischen Händen stammenden Kunstwerke weder zur Ausstattung von Diensträumen der Behörden oder Dienstwohnungen leitender Beamter verwendet, noch von leitenden Persönlichkeiten des Staates und der Partei erworben werden. Der Führer beabsichtigt, nach Einziehung der beschlagnahmten Vermögensgegenstände die Entscheidung über ihre Verwendung persönlich zu treffen. Er erwägt dabei, Kunstwerke in erster Linie den kleineren Städten in Österreich für ihre Sammlungen zur

Verfügung zu stellen.1 So formulierte Adolf Hitler am 18. Juni 1938 sein Recht auf die Erstauswahl aus zu diesem Zeitpunkt bereits umfangreich vorhandenen beschlagnahmten Sammlungen aus verschiedenen Privathaushalten. Seit jeher war Hitler kunstinteressiert und hatte selbst versucht, an der Wiener Kunstakademie aufgenommen zu werden – was ihm jedoch nicht gelang. So nutzte er seine politische Lauf bahn zu einer anderen Form des Kunstzuganges: Er raffte alles an sich, was in der Kunst Rang und Namen hatte, und unterstellte es seiner Idee, die u. a. mit der Auslöschung des jüdischen Volkes einherging.

Sicherstellungen und Beschlagnahmungen Als „Staatsfeinde“ eingestufte Personen, Randgruppen und vor allem Juden erfuhren mit der politischen Umwälzung ab 1933 in Deutschland gesetzlich festgelegte Einschränkungen. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Österreich im März 1938 betraf dies auch die österreichischen Juden. Ein Verbot nach dem anderen drängte die jüdischen Mitbürger aus dem Alltagsleben der Stadt Graz. Im Mai 1938 verhängte man das Schulverbot für jüdische Kinder. Es folgten Berufsverbote für jüdische Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer etc.

Im Frühjahr 1940 erklärte sich Graz „judenfrei“.2 Bis Juni 1938 mussten Juden eine Vermögenserklärung abgeben, in welcher laut Formular land- und forstwirtschaftliches Vermögen, Grund und Boden, Betriebsvermögen und Sonstiges, insbesondere Kapitalvermögen angegeben werden mussten. Unter Sonstiges waren Wertpapiere, Spareinlagen, Rentenrechte etc. einzutragen. Zwei eigene Punkte betrafen Gegenstände aus edlem Metall, Schmuck- und Luxusgegenstände, Kunstgegenstände und Sammlungen.

560

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

Edelmetalle, Edelsteine und Perlen.3 Letztere wurden bei einer höheren Anzahl auf eigenen Listen in den Formularbogen eingelegt. Diese Listen waren eine geeignete Grundlage für die Er­fassung vermögender Juden und einer daraus resultierenden systematischen Plünderung bzw. Beschlagnahmung deren Haushalte. Mit Ende des Jahres 1938 war es Juden verboten, Juwelen und Kunstgegenstände im Wert von über RM  1.000,– zu erwerben und zu verkaufen. Dadurch fielen die Preise auf dem Kunstmarkt in den Keller und viele Objekte gingen aufgrund der Zwangslage der Verfolgten weit unter ihrem Wert über den Ladentisch. Große Sammler, die zeit ihres Lebens bemüht waren, ihre Sammlung zusammenzuhalten und diese mühsam systematisch erweiterten, mussten nun entweder hilf los einer Beschlagnahme zusehen oder diese Objekte einzeln veräußern. Hatten es manche Personen noch geschafft, Österreich zu verlassen und sodann versucht vom Ausland

einen Transport ihrer Sammlung zu organisieren, scheiterten sie an der Raffgier der NS-Beauftragten. Ausfuhrgenehmigungen wurden nicht erteilt und ganze Transporte gestoppt und „sichergestellt“. Diese amtliche Sicherstellung bedeutete eine „staatliche Sicherungsmaßnahme“ und sollte das Eigentumsrecht nicht verändern. Für das NS-Regime galt dies jedoch nicht. Auch sichergestellte Kunstwerke wurden letztendlich an öffentliche Institutionen verteilt. Vor allem die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 war im Zusammenhang mit Eingriffen in Eigentumsrechte besonders perfide: Darin wird festgehalten, dass 1. ein Jude, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, nicht deutscher Staatsbürger sein kann; 2. er durch die Deportation die deutsche Staatsbürgerschaft verliert; und 3. sein Vermögen durch den Verlust der deutschen Staatsbürgerschaft dem Deutschen Reich verfällt.4

Erwerbungen aus den Wiener Sammlungen für das ehemalige Landesmuseum Joanneum5 Am 18. Juni 1938 wurde der in der Einleitung zitierte sogenannte „Führervorbehalt“ erstmals an die Behörden mitgeteilt. Diese Formulierung wurde am 25. August 1939 nochmals erweitert: [...] der Führer [hat] angeordnet, dass nicht nur die beschlagnahmten, sondern auch die lediglich sichergestellten Bilder und sonstigen Kunstwerke seiner Verfügung unterliegen. Der Führer will über diese sichergestellten Gegenstände ebenso wie über die beschlagnahmten Gegenstände ausschließlich selbst entscheiden.6 Hitler plante in Linz das sogenannte „Führermuseum“7, das in Konkurrenz zu den großen europäischen Museen wie Louvre oder Prado alles Bisherige überbieten sollte. Dafür suchte er sich als erster in den bedeutenden jüdischen Sammlungen wie jener der berühmten Bankiersfamilie Rothschild, des Wiener Zu-

ckerindustriellen Oskar Bondy u. a. geeignete Objekte aus. Er beziehungsweise die von ihm eingesetzten Fachleute, wie Hans Posse, Direktor der Dresdener Gemäldegalerie, und dessen Nachfolger Hermann Voß, konnten aus höchster Qualität aussuchen. Nach dem Beiseitestellen der hochrangigsten Werke wurden die Leiter der 21 bedeutendsten österreichischen Museen und Sammlungen eingeladen, sich die Bestände in Wien anzusehen und ihre Erwerbungswünsche zu hinterlegen. Diese Liste beginnt mit dem Kunsthistorischen Museum und zählt neben den verschiedenen Landesmuseen auch die Nationalbibliothek auf. Das darauf angeführte „Landesmuseum Graz“ erhielt die römische Zahl „XV“, welche bei verschiedenen Listen oft als Kürzel für die Institution zu finden ist.

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

Die Organisationsstruktur des Joanneums und die Bezeichnungen der einzelnen Abteilungen wurden zwischen 1938 und 1945 häufig geändert.8 Der Museumsdirektor wurde für kurze Zeit zum Sekretär degradiert, erhielt schließlich aber doch wieder den Status eines Direktors. Hierarchisch war das Museum der Unterabteilung II d des Reichsstatthalters für Steiermark untergeordnet. Während der nationalsozialistischen Zeit führte Wilfried Teppner, zuvor Leiter der Geologischen Abteilung des Museums, das Joanneum als Direktor. Wegen Personalmangels musste er zeitweise auch die Leitung einzelner Abteilungen übernehmen, wie z. B. die der Landesbildergalerie. Deren eigentlicher Leiter Karl Garzarolli-Thurnlackh war von März 1939 bis Ende Februar 1940 aus politischen Gründen seines Amtes, das er schon seit 1923 innehatte, enthoben worden.9 Ab 1941, dem Jahr, in welchem die Landesbildergalerie in Alte und Neue Galerie geteilt wurde, wurde Garzarolli mit der Leitung der Alten Galerie betraut, dies umfasste die Sammlungsbestände Malerei, Skulptur und Graphik vom Mittelalter bis ca. 1800. Hans Riehl wurde am 20. Mai 1939 als wissenschaftlicher Assistent in der Landesbildergalerie angestellt. Er forcierte die Trennung dieser Abteilung in eine Alte und eine Neue Galerie, übernahm ab 1941 die Leitung der Neuen Galerie und bekleidete das Amt bis zu seiner Pensionierung Ende 1956. Hans Riehl agierte ganz im Sinne der nationalsozialistischen Kulturpolitik und war während der NS-Zeit mit den Aufgaben eines Museumspf legers betraut. Dies beinhaltete die Einrichtung und Betreuung von vielen kleinen Museen innerhalb der Steiermark. Zum Teil nahm Hans Riehl eine Bewertung der eigenen Haussammlungen vor, um qualitativ „schlechtere“ Objekte außerhalb von Graz den Heimatmuseen zu präsentieren. Als Galeriedirektor nutzte er die günstigen Zeitumstände, um die Sammlungen der Neuen

561

Lodovico Cardi da Cigoli (1559–1613) zugeschrieben, hl. Petrus, Feder in Bister, laviert, 18,5 x 12,3 cm, Inv.-Nr. HZ 295, Alte Galerie, Universalmuseum ­Joanneum. 1943 von der Gestapo angekauft.

UMJ/MMS

Galerie wissentlich aus beschlagnahmtem Besitz umfangreich zu erweitern. Hans Riehl war – wie seine Frau Hanna Riehl – NSDAP-Mitglied, wurde aber nach 1945 als Minderbelasteter eingestuft.10 Die Erwerbungen aus den Beschlagnahmungen und Sicherstellungen bereicherten die Sammlungen des Joanneums und halfen Riehl beim Auf bau seiner neuen Abteilung Neue Galerie. Zahlreiche Wunschlisten gingen von Graz nach Wien, so zum Beispiel am 9. Dezember 1940: Karl Garzarolli listete 34 Gemälde, Zeichnungen und Plastiken aus zwölf verschiedenen Wiener Sammlungen auf und fügte hin-

562

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

zu: Ich habe anlässlich meiner Dienstreise zwecks Auswahl von Kunstwerken jüdischer Herkunft aus der zweiten Ausstellung in der Orangerie des Unteren Belvederes in Wien dem Institute für Denkmalpflege in Wien nachfolgende Vorschläge unterbreitet, die diesem durch die Reichsstatthalterei Steiermark neuerdings schriftlich und in aller Form vorzulegen sind. [...] Dort wo Preisanbote vermerkt sind, müssen die Objekte gekauft werden. Die von mir gemachten Anbote erfolgen unverbindlich und setzen die Zustimmung der Reichsstatthalterei Steiermark voraus. Ich würde jedoch raten diese aufrecht zu erhalten, da die Anbote ungemein niedrig erstellt sind und durch Verkauf eines Stückes die übrigen kostenlos in den Besitz der Sammlung gelangen könnten.11 Nicht jeder Wunsch wurde erfüllt, und über manche Objekte stritten sich mehrere Institutionen. So hielt Garzarolli immer wieder seine Unzufriedenheit auch schriftlich fest. In einem Schreiben an das Institut für Denkmalpf lege merkte er zwar an, dass er sich der Entscheidung des Institutes in allen jenen Fällen unterordne, bei denen eine Interessenkollision auch anderer Museen an Objekten vorliegt, er klagte aber auf derselben Seite, dass

das Ferdinandeum in Innsbruck bisher unvergleichlich besser abgeschnitten hat wie wir.12 Georg Wolf bauer13, 193514 bis 1945 Leiter des Kulturhistorischen und Kunstgewerbemuseums, orientierte seine Wünsche an Aufträgen, die an ihn herangetragen worden waren bzw. an den Fehlbeständen seiner Abteilung. So argumentierte er sein Interesse an Gebrauchsteppichen aus der Sammlung Alphonse Rothschild gegenüber dem Institut für Denkmalpf lege damit, dass er die Aufgabe habe, für das Barockmuseum Schloss Eggenberg, für 26 grosse Räume, die Teppiche zu besorgen. In unserem Barockmuseum befindet sich zwar die alte Einrichtung, doch steht sie auf einem weichen Bretterboden, der einmal mit Teppichen belegt war. [...] Ich bitte also bei der Verteilung dieser Teppiche, für die zum Beispiel das Staatliche Kunstgewerbemuseum für seine Sammlung sowieso kein Interesse hat, an uns zu denken. Wie ich schon Gelegenheit hatte Ihnen zu erzählen fehlt uns in Graz besonders Porzellan. Sollten daher bei der Aufteilung irgend welche Stücke übrig bleiben, so bitte ich um Zuteilung.15

Enteignung anhand des Beispiels der Wiener Sammlung Rothschild16 Schon einige Zeit vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 12. März 1938 wurden die ersten Beschlagnahmungen von ­jüdischen Haushalten in Österreich geplant. Denn noch am selben Tag wurde ein Mitglied der wohl berühmtesten Familie in Wien an seiner Ausreise gehindert: Louis Rothschild. Seine Brüder hatten sich, durch die Ereignisse in Deutschland vorgewarnt, bereits außer Landes begeben: Eugène hielt sich in Paris auf und Alphonse war in die Schweiz gereist. Als Louis Rothschild am 12. März nach Italien f liegen wollte, nahm man ihm kurzerhand seinen Rei-

sepass ab. Am darauffolgenden Tag wurde er offiziell festgenommen und über ein Jahr nur aufgrund seiner Religionszugehörigkeit zum Judentum eingesperrt. Im Mai 1939 wurde er freigelassen und konnte aus Österreich ausreisen – nachdem er sich bereit erklärt hatte, sein gesamtes Vermögen und das seiner Brüder dem neuen Staat zu überlassen. Die Möglichkeit, auf das Vermögen der Familie Rothschild zugreifen zu können, war natürlich eine willkommene Bereicherung für das neue Regime. Bereits am 14. März 1938 waren die beiden Wiener Palais von Louis und Alphonse Roth-

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

Straußenpokal, Silber, teilweise vergoldet, Augsburger Arbeit, 1. Hälfte 17. Jahrhundert, ehem. Inv.Nr. 25.768, Kulturhistorische Sammlung/Museum im ­Palais, Universalmuseum Joanneum. „Erpresste“ ­Widmung der Baronin Clarisse de Rothschild. UMJ/MMS ­Restitution 2000.

563

schild von der Gestapo versiegelt worden. In der Neuen Burg war vom Kunsthistorischen Museum ein eigenes Zentraldepot für beschlagnahmte Kunstwerke eingerichtet worden. Im September 1938 erfolgte die schriftliche Bestätigung durch die Sicherheitspolizei zur Errichtung des Zentraldepots: [...] der Herr Reichsminister und Chef der Reichskanzlei hat sich mit dem Vorschlag des Reichsführers SS. und Chef der Deutschen Polizei, alle in Österreich beschlagnahmten und eingezogenen Kunstwerke im Interesse einer sachverständlichen Behandlung und Wartung in Wien der neuen Hofburg (Kunsthistorisches Museum) zu sammeln, zu verwahren und zu katalogisieren, einverstanden erklärt [...].17 Bereits im Mai 1938 wurden die Kunstsammlungen der beiden Brüder Alphonse und Louis Rothschild in dieses Zentraldepot gebracht und neu inventarisiert – ein Jahr bevor Louis Rothschild überhaupt die erzwungene Einwilligung zur Veränderung der Besitzverhältnisse seines Gesamtvermögens (Immobilien, Kunstwerke, Bankvermögen etc.) und das seiner Brüder gab. Die Kunstsammlung Louis Rothschild umfasste laut einer Inventarliste insgesamt 919 Objekte, darunter 262 Gemälde, sowie Möbel, antike Waffen, Teppiche und zahlreiche kunstgewerbliche Werke. Aus der Sammlung Alphonse Rothschild wurden insgesamt 3.444 Objekte abtransportiert und neu geordnet. Nachdem Hitler beziehungsweise der Fachmann Hans Posse 122 Gemälde aus den Sammlungen Rothschild für den „Sonderauftrag Linz“ reserviert hatte, waren die verschiedenen Museen aufgerufen, sich das Beutegut anzusehen und Wunschlisten für ihre Häuser zusammenzustellen. Auch drei Abteilungen des Joanneums erhielten Objekte aus den Sammlungen Rothschild: Alte und Neue Galerie sowie die Kulturhistorische Sammlung.18 Am 1. Oktober 1940 bestätigte Karl Garzarolli als Leiter der sogenannten Landesbildergalerie des Joanneums den Erhalt von drei Bildern aus der Sammlung Louis

564

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

Rothschild und zwei aus der Sammlung Al­ phonse Rothschild.19 Am 20. Juni 1944 übernahm Garzarolli nochmals elf Bilder aus der Sammlung Louis Rothschild und zwölf aus der Sammlung Alphonse Rothschild.20 Zwei Bilder, die auf dieser Liste ohne Nummern und Herkunft geführt werden, konnten nach dem Krieg aus den Sammlungen Louis und Alphonse Rothschild identifiziert werden. Bereits zehn Tage später wurden die Gemälde in ein Luftschutzdepot in Wildalpen ausgelagert. Interessanterweise behielten die Werke die vom Denkmalamt in Wien vergebenen Listennummern LR (für Louis) und AR (für Alphonse Rothschild). Nur ein Teil der Bilder erhielt die fortlaufende Inventarnummer des Joanneums. Die Kulturhistorische Sammlung übernahm 1941 und 1944 insgesamt 654 Objekte aus den Sammlungen Louis und Alphonse Rothschild: u. a. Standuhren, Leuchter, Vasen, Tassen, Flakons. Die Neue Galerie hat 1944 fünf Gemälde aus dem Bestand von Louis Rothschild übernommen, sowie ein weiteres Gemälde, drei Zeichnungen und ein Aquarell aus dem Besitz der Brüder.

Neben den Beschlagnahmungen in den bekannten großen Wiener Kunstsammlungen gab es aber auch Hausplünderungen durch die Gestapo bzw. Vugesta, der „Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Geheimen Staatspolizei“.21 Beide arbeiteten teilweise eng mit dem Dorotheum zusammen, sodass auch auf diesem Weg Kunstwerke in die öffentlichen Museen gelangten. Ebenso sind direkte Ankäufe von der Vugesta und Gestapo in den Inventarbüchern, beispielsweise des Joanneums, eingetragen. In diesen Jahren wurden zahlreiche Dienstreisen von Graz nach Wien unternommen. Das Material aus den beschlagnahmten Sammlungen war so umfangreich, dass in Wien im 13. Bezirk vom Museum eigens eine Wohnung angemietet werden musste. Diese diente zur Deposition von Gemälden, von aus Judenbesitz erworbenen Kunstwerken, zur Unterbringung des Verpackungsmaterials nicht nur während Transportsperren, sondern ständig, [...] im Dachgeschoß 2 Mansardenzimmer mit Vorraum, davon eines als Schlafraum für Grazer Museumsbeamte, die bei Dienstreisen in Wien weilen.22

Die finanzielle Situation in der Steiermark 23 Der Judenkredit Eine Sondereinrichtung im Landesbudget während der Kriegszeit war der sogenannte Judenkredit. Dieser jährlich wiederkehrende, aber in der Höhe nicht festgesetzte Kredit des Landes (bzw. Gaus) Steiermark sollte sich auf die Aktion der Verwertung des beschlagnahmten jüdischen Kunstbesitzes beschränken.24 Es wurde jedoch auch zulässig, den wohldotierten Kredit für andere Ankäufe zu verwenden, und so erhielt Garzarolli vom Reichsstatthalter der Steiermark die offizielle Erlaubnis den vorgesehenen Betrag [...]

nicht nur zur Erwerbung eines jüdischen Kunstbesitzes, sondern [auch] zum Ankauf von mittelalterlichen Plastiken zu verwenden.25 Erstmals wurde dieser Kredit 1941 an die Abteilungen Alte Galerie, Neue Galerie und Kunstgewerbe mit der Aufforderung genehmigt, aus dem beschlagnahmten jüdischen Kunstbesitze in Wien für Ihre Abteilung geeignete Stücke, die gegen eine von den zuständigen Stellen festgesetzte Entschädigung abgegeben werden, für das steierm. Landesmuseum zu erwerben.26 Die Kunstabteilungen erhielten in diesem Jahr jeweils einen Rahmen von RM 60.000,–, die Kunstgewerbliche Abteilung RM 40.000,–.

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

Letztere wurde gebeten, mit dem festgesetzten Betrag auch Objekte für das Volkskundemuseum – nach vorheriger Absprache – zu erwerben. Der wohldotierte Kredit eröffnete Ankaufsmöglichkeiten, die manchmal von Seiten des Museums nicht einmal ausgeschöpft werden konnten. So schreibt Garzarolli am 31. Jänner 1942 an Franz Kieslinger, dass er diesen besuchen möchte, umso mehr, als ich einen Kredit von RM 100.000,– zum Ankauf von Kunstwerken aus jüdischem Besitz offen habe, den ich in Wien aufzubrauchen absolut nicht imstande bin. Ich weiss sehr wohl, dass nach der Auswahl der Objekte für das Führermuseum in Linz für die übrigen Provinz­ museen [...] kaum mehr als ein bescheidener Rest übrig bleiben wird. Aber da ich von Wien so gut wie nichts nach Hause zu bringen imstande war, bitte ich Sie herzlich um Ihre Unterstützung.27 Im Antrag für den Haushaltsplan 1943 werden die Wiener jüdischen Sammlungen mehrmals als Ankaufsgrund genannt: Garzarolli bat u. a. für einmalige Ausgaben für 1943 um RM 80.000,– für den Ankauf von Kunstwerken aus Wiener jüdischem Privatbesitz. Er verwies darauf, daß der Abverkauf von Restbeständen aus den Sammlungen Rothschild, Gutmann u. a. durch das Institut

565

für Denkmalpflege in Wien erst 1943 beschlossen wird.28 In demselben Schreiben, welches der Direktor des Museums an die Unterabteilung II  d weiterleitete, beantragte das Kunstgewerbemuseum RM 15.000,– für Ankäufe aus Wiener Judenbesitz und die Neue Galerie einen Kredit zur Anschaffung von Kunstwerken aus ehemaligem Judenbesitz RM 100.000,–. Zu letzterem wurde eine Erklärung nachgereicht, welche die Denkweise eines Abteilungs- bzw. Museumsleiters zu dieser Zeit sehr gut widerspiegelt: Der rasche Aufbau der „Neuen Galerie“ war nur dadurch möglich, dass die einmalige Gelegenheit, Kunstwerke aus ehemals jüdischem Besitze billigst zu erwerben, in weitestem Maße ausgenützt wurde. Eine Reihe äusserst günstiger Möglichkeiten konnte ergriffen werden. Im abgelaufenen Jahr 1942/43 erfolgte jedoch dadurch eine Einschränkung, dass der Judenkredit nicht voll zur Ausschüttung gelangte. Die Liquidierung der offiziell beschlagnahmten grossen Judensammlungen (Rothschild, Guttmann usf.) steht aber noch aus. Wird jetzt nicht nochmals ein grosszügiger Einkauf ermöglicht, so versäumt die Steiermark nie wiederkehrende Gelegenheiten und muss die bedeutendsten Stücke aus dem ehemals jüdischen Besitz immerhin den anderen Gauen überlassen.29

Gegenstände aus den Synagogen – Plünderung 1938 und Rückgabe 1946 Die Israelitische Kultusgemeinde in Graz umfasste vor 1938 nicht nur jüdische Gemeindemitglieder in der Steiermark sondern auch in Kärnten und Krain. 1910 zählte die Gemeinde insgesamt 1.971 Mitglieder. Die Zahl war ­jedoch nach dem Ersten Weltkrieg wegen Überalterung, Geburtenrückgang und Auswanderung – wohl wegen der Zunahme des Antisemitismus in Österreich – rückläufig. Am Grieskai standen eine große Synagoge und ein eigenes Amtsge-

bäude. Schulausbildung und ein eigener, äußerst erfolgreicher Fußballclub ergänzten die Infrastruktur.30 Graz hatte 1938 von Hitler den ­Ehrentitel „Stadt der Volkserhebung“ erhalten. Gab es bereits seit Anfang der 30er Jahre Ausschreitungen und Schikanen gegen Juden in Graz, so setzte die Judenverfolgung auch hier unmittelbar nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten vehement ein. Wie in vielen Städten Deutschlands brannte die Syna-

566

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

goge von Graz in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 vollkommen aus. Nur anhand von Übergabelisten an die ­Israelitische Kultusgemeinde in Graz in der Nachkriegszeit ist bekannt, dass nach den Plünderungen der Synagogen liturgische und Ausstattungsgegenstände ins Joanneum gelangten. Aus der Grazer Synagoge waren dies insgesamt 54 Objekte, die in das Inventarbuch der Kulturhistorischen Sammlung eingetragen wurden. Darunter befanden sich silberne Thorabekrönungen, Zeigestäbe, Gesetzestafeln, Leuchter, Becher, zwei Thorarollen und vieles mehr. Im Jänner 1946 hatte sich die Israelitische Kultusgemeinde Graz neu gegründet, nachdem ein paar wenige Grazer jüdischen Glaubens in die Stadt zurückgekehrt waren. Am 26. Juli 1946 wurde ein Teil der Objekte der Israelitischen Kultusgemeinde zurückgegeben. Am 10. Mai 1947 verständigte Gertrude Smola, Mitarbeiterin im Kulturhistorischen und Kunstgewerbemuseum seit 1940 und spätere Leiterin dieser Abteilung, die Israelitische Kultusgemeinde nochmals: Nach langer Frist haben sich endlich wenigstens die restlichen Textilien, die wir Ihnen aus den sichergestellten Gegenständen noch schulden doch gefunden; die Ampel freilich harrt noch der Wiederauffindung.31 Die vorgenannte kleine Messing­ ampel wurde am 25. August 1947 zurückgegeben. Dabei erfährt man, dass das Museum bzw. Einzelpersonen in der Nachkriegszeit durchaus um gute Kommunikation bemüht waren, da das Kulturhistorische und Kunstgewerbemuseum der Kultusgemeinde als Ersatz für die Ampel bis zu ihrer Auffindung ein Glasgefäß zur Verfügung gestellt hatte. Gleichzeitig mit den Gegenständen aus der Grazer Synagoge wurden der Israelitischen Kultusgemeinde am 26. Juli 1946 auch Objekte aus der Synagoge in Güssing übergeben. 14 Gegenstände waren 1939 über die Gestapo Wien in die Kulturhistorische Sammlung gelangt und dort inventarisiert worden. Auch darunter be-

fanden sich hauptsächlich Textilien wie Thoravorhänge und Thoraüberzüge, sowie zwei Zeigestäbe und ein sechseckiger Stern.32 Noch bevor die Synagoge in Güssing geplündert und zerstört worden war, beschlagnahmte man zahlreiche jüdische Haushalte im Ort. Am 20. Oktober 1938 erging ein Bericht der Landeshauptmannschaft Niederdonau, Abwicklungsstelle Eisenstadt an die Landeshauptmannschaft Steiermark in Graz: In Befolgung des Erlasses des Amtes des Reichsstatthalters vom 28. Juni 1938, Zl. 5482-Pr, wurden von den burgenländischen Verwaltungsbehörden die Berichte über die Beschlagnahme staatsfeindlichen Vermögens ha. vorgelegt. In der Anlage werden nun die Berichte der Bezirkshauptmannschaft Oberwart, Güssing und Jennersdorf zur weiteren Bearbeitung übersendet.33 Diesem Schreiben liegt ein Verzeichnis von zwölf beschlagnahmten Kunstwerken jüdischer Privathaushalte in Güssing bei.34 Friedrich Pock von der Landesbibliothek in Graz wurde im Jänner 1939 nach Güssing gesandt, um die Kunstschätze aufzunehmen und die Bibliothek des Franziskanerkonvents zu begutachten. Am 24. Oktober 1940 wurde die Übernahme von insgesamt 17 Objekten aus Güssing bestätigt. Dabei wurde noch festgehalten, dass fast alle Gemälde und alle Rahmen infolge mehrfacher Veränderung des Aufbewahrungsortes in Güssing schwer verletzt sind.35 Der Großteil der „Neuerwerbungen“ des Joanneums kam aus den umfangreichen Wiener Sammlungen nach Graz. Aber auch innerhalb des Landes Steiermark bzw. in Graz selbst wurden Haushalte durch die Gestapo geplündert. So befinden sich heute noch in der Neuen Galerie und in der Kulturhistorischen Sammlung Objekte, die eindeutig aus jüdischem Besitz in Graz stammen. Da diese aber anonym ins Haus gekommen sind, konnten sie bis heute keinem Eigentümer zugewiesen werden. Es finden sich lediglich in den Inventarbüchern Hinweise wie

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

567

„J. Graz“, welche sich analog zu schwerte sich Wolf bauer in einem anderen Eintragungen wie Schreiben an die Abteilung 11 „J.  Wien Samml. Robert der Devisenfahndungsstelle, Pollak“ als jüdisch identinun erfahren zu haben, dass fizieren lassen.36 Ebenso Objekte aus der Kunstkamen 1941 aus einem handlung Kiesel an eine Sammellager auf dem Privatperson verkauft Gelände der ehemaligen worden waren. Er bat die Firma Wechsler in der Abteilung 11 bei den zuLagergasse aus Grazer Juständigen Stellen nochmals denbesitz 38 Objekte in die zu deponieren, dass von Seiten Kulturhistorische Sammlung, des Kunstgewerbemuseums ein von welchen jedoch vordringliches Interesse für durch Kriegsschäden 27 diese Objekte besteht und Maria Theresia (1740–1780), Zwei Dukaten Werke verloren gingen. dass bei einem allfälligen 1765, Kremnitz, ehem. Inv.-Nr. 8.828, Elf Objekte, darunter Verkauf wir rechtzeitig zu Münzkabinett, Universalmuseum Joanneum. Aus dem beschlagnahmten Kunst- und AntiquiGläser, Porzellan und verständigen wären.38 Im tätenhandel Samuel Kiesel in Judenburg. Arisierungsakt von drei Elfenbeinreliefs, UMJ/MMS ­Restitution 2006. Samuel Kiesel befindet befinden sich heute noch sich ein Schreiben vom in der Abteilung.37 Neben den Privathaushalten betrafen diese 9. Februar 1939 der Zollfahndungsstelle Graz an Plünderungen natürlich auch jüdische Kunst- die Vermögensverkehrsstelle Graz, dass sie dahändler und Antiquariate. Als Beispiel dafür sei mit einverstanden ist, daß das Kulturhistorischedie Beschlagnahmung des Kunsthandels Samu- und Kunstgewerbemuseum in Graz die dem Samuel el Kiesel in Judenburg genannt. Georg Wolf- Kiesel, früher Judenburg, jetzt Wien II, Karmeliterbauer, Leiter des Kulturhistorischen und Kunst- platz 1/18, gehörenden Gegenstände erwirbt, sofern gewerbemuseums, erfuhr 1938 über das Steier- die VV Graz ihre Zustimmung gibt und der Kaufmärkische Landeskonservatorat, dass in Juden- preis auf ein zu Gunsten der Zollfahndungsstelle burg bei einem jüdischen Antiquitätenhändler Graz gesperrtes Konto, lautend auf „Samson Kiesel“ gotische Mörser und Zinngefäße von der De- bei einer Devisenbank erlegt wird.39 Danach brevisenfahndungsstelle beschlagnahmt worden chen die Informationen für die Kriegszeit ab waren. Diese Gegenstände wurden zum Teil bei und es sind keine Gegenstände aus dem Kunstder Bezirkshauptmannschaft und zum Teil bei handel Kiesel für die Kulturhistorische Sammder Fahndungskasse Judenburg in Verwahrung lung nachvollziehbar eingelangt. Interessantergenommen. Im September 1938 hatte Wolf bau- weise erfährt man erst aus der Korrespondenz er die Bezirkshauptmannschaft Judenburg ge- der Nachkriegszeit, dass während der NS-Zeit beten, bei einem allfälligen Verkauf dieser Ge- zwei Goldmünzen aus dem Bestand Kiesel für genstände das Kunstgewerbemuseum in Graz das Münzkabinett des Joanneums angekauft zu verständigen. Am 22. Dezember 1938 be- worden waren.40

568

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

Die Aufteilung des Burgenländischen Landesmuseums Im Zuge der politischen Neustrukturierung des Landes gab es auch die Möglichkeit, ein anderes Museum aufzuteilen und sich wichtige Bestände zu sichern, bzw. diese Vorgänge zumindest anzudenken und zu diskutieren. So wurde das burgenländische Landesmuseum in Eisenstadt auf die Gaue Niederdonau und Steiermark aufgeteilt und erhielt den neuen Namen „Burgenländisches Landschaftsmuseum“. Am 7. Februar 1940 schrieb der Reichsstatthalter der Steiermark an die Unterabteilung II e: Im Zuge der finanziellen Auseinandersetzungen mit dem Reichsgau Niederdonau anlässlich der Aufteilung des ehemaligen Burgenlandes habe ich erreicht, dass der Leiter des Eisenstädter-Museums angewiesen wurde, Fachleute des Reichsgaues Steiermark zu empfangen und ihnen die erforderlichen Aufschlüsse über die Bestände dieses Museums zu geben. Ich ersuche nunmehr die in Betracht kommenden Museumsvorstände nach Eisenstadt zu entsenden und sie zu beauftragen: 1.)  Die Museumsbestände nach dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob sich unter ihnen nicht solche befinden, die von besonderer Bedeutung für den Reichsgau ­Steiermark und den an diesen Reichsgau angegliederten südlichen Teil des ehemaligen Burgenlandes sind. 2.) Ersuche ich, die zu entsendenden Museumsvorstände zu veranlassen, vertraulich eine beiläufige Gesamtbewertung der Museumsbestände vorzunehmen, damit ich bei finanziellen Auseinandersetzungen den Wert dieser Bestände entsprechend in Anrechnung bringen kann.41 Im Juni 1940 berichtete die Unterabteilung an den Reichsstatthalter der Steier-

mark, dass zwar eine Besichtigung durch fünf Museumsvorstände stattgefunden hat, dass [aber] Altar und Kunstgegenstände der jüdischen Kultusgemeinde in Rechnitz, welche 1938/39 ins burgenländische Landesmuseum nach Eisenstadt verbracht worden sind und vom hiesigen Landesmuseum für Steiermark reklamiert werden, anscheinend auch zu jenen Dingen zählen, welche unseren Fachleuten bei der Besichtigung in Eisenstadt nicht zugängig waren.42 Danach gibt es keine weiteren Belege, dass Kunstgegenstände aus dem burgenländischen Landesmuseum nach Graz gelangt sind. Im Frühjahr 1941 kam es zu einem sogenannten „Burgenland-Übereinkommen“ zwischen den Reichsgauen Niederdonau und Steiermark. ­Unter Punkt VI. Museum, Bücherei und Archiv wurde festgehalten: Das Landesmuseum in Eisenstadt und die Landesbücherei in Eisenstadt sind ­Eigentum des Reichsgaues Niederdonau. Museumsbestände, die aus Funden aus dem mit Steiermark vereinigten Teil des Burgenlandes stammen, werden auf Anforderung Steiermarks samt Protokollen und Fundberichten dem Reichsgau Steiermark überlassen, der den Abtransport besorgen wird.43 Am 24. Februar 1943 wurde vom Reichsstatthalter der Steiermark festgehalten, dass bisher nur die Naturhistorischen Objekte (Mastodonfunde von Wolfau) an Steiermark übergeben [wurden]; die Übergabe der kunsthistorischen und vorgeschichtlichen Abteilung zukommenden Objekte aus dem südlichen Burgenland wurde auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.44

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

569

Beschlagnahmungen aus kirchlichem und klösterlichem Besitz Neben jüdischen Kunstsammlungen waren vor allem Kirchen und Klöster von Plünderungen und Beschlagnahmungen durch die Nationalsozialisten betroffen. Kirchliche Vereinigungen fielen einerseits unter das „Gesetz über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen“ und andererseits unter die „Verordnung über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens im Lande Österreich“ vom 18. November 1938. So bekamen die meisten Klöster einen neuernannten Verwalter bzw. Treuhänder, der nicht der Kirche angehörte. Ihr Vermögen wurde vom Staat eingezogen. 1939 beauftragte das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten die Zentralstelle für Denkmalschutz mit einer Art Inventarisierung des klösterlichen Kunstbesitzes. Wie bei der Sicherstellung privater Sammlungen sollte die neue Inventarisierung die Besitzverhältnisse und den Standort der Objekte nicht verändern. Das NSRegime benutzte jedoch diese Informationen für planmäßige Beschlagnahmungen. Zuvor hatten noch in der Steiermark durch Aktionen von SS und HJ oft unkontrollierte und nicht mehr nachvollziehbare Verschleppungen stattgefunden.45 Am stärksten davon betroffen waren die Stifte St. Lambrecht und Admont. Das Stift St. Lambrecht wurde bereits am 17. März

1938 von 138 SA- und SS-Männern durchsucht. Die von Abt Viktorin Weyer eingereichte Beschwerde bei der Gestapo bewirkte nur eine neuerliche Hausdurchsuchung am 25. März durch 120 Männer. Am 11. Mai 1938 erfolgte die Beschlagnahmung des gesamten Grundbesitzes des Stiftes, acht Tage später wurde das Vermögen des Stiftes eingezogen.46 Die umfangreiche Bibliothek des Stiftes St. Lambrecht musste an die Landesbibliothek und das Joanneum übergeben werden, der kunsthistorische Besitz und die Münzensammlung gingen ebenfalls an das Joanneum. Das Naturhistorische Museum und das Volkskundemuseum des Stiftes verblieben zum Teil am Ort oder wurden unbekannt verschleppt. St. Lambrecht scheint wie ein Exempel für die anderen Klöster gewesen zu sein: Es folgten Admont, Seckau, Vorau, Rein und auch kleinere Orden in Graz wie die Marienbrüder, die Salvatorianer, Kapuziner etc.47 25 Kirchen und Kapellen wurden in der Steiermark unter der NS-Herrschaft konfisziert und profaniert, indem sie als Depots und Magazine genutzt wurden. Traditionelle Klosterschulen wurden aufgehoben und stattdessen Parteischulen eingerichtet, einige Klöster später wiederum als Bergungsorte für Kunstschätze verwendet.48

Bergungen und Luftschutzdepots49 Oft konnten die vom Joanneum neu erworbenen Objekte aber nicht einmal der Öffentlichkeit präsentiert werden. Das Bewusstsein eines drohenden Luft­angriffes machte Planungen und ab 1941 die Durchführung für die Bergung der musealen Bestände notwendig. Gesucht wurden Bergungsorte, die einerseits klimatisch für zum

Teil empfindliche Objekte geeignet waren und die andererseits nicht das Interesse für eine Bombardierung erweckten. Dafür kamen Schlösser, aufgelassene Stifte und Pfarrhöfe, aber auch Gasthöfe in Frage. Zum Teil erhielten die Eigentümer Entschädigungszahlungen für die Abgabe eines Raumes, anderen wurde die

570

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

Reparatur von Fenster und Türen versprochen, während andere wieder durch Sicherstellung bzw. Beschlagnahmung gezwungen wurden, Räumlichkeiten als Depots zur Verfügung zu stellen.50 So wurden für die Kunstschätze der Alten Galerie u. a. das Schloss Gutenberg, die Prälatur der Propstei in Af lenz, der Pfarrhof Wildalpen, die Propstei Zeiring und Schloss Thal verwendet. Die Geologische Abteilung verlagerte ca. 250 Kisten nach Schloss Waldstein bei Peggau, die Mineralogie brachte ihre Schausammlung ebenfalls in Hunderten von Kisten in die Keller des Schlosses Rabenstein bei Frohnleiten. Allein die Kulturhistorische

Sammlung verbrachte ihren Bestand an 14 verschiedene Orte in der Steiermark.51 Die Rückführung der Objekte nach Graz dauerte nach Kriegsende noch bis 1946 an. Am 15. März 1946 teilte Leo Bokh der Abteilung Monuments Fine Arts and Archives Branch der britischen Militärregierung des Landes Steiermark die Auf bewahrungsorte der verschiedenen Objekte aus der Sammlung Louis Rothschild mit. Dabei zählte er zwei Gemälde als in Graz ausgestellt auf, eines befand sich zu diesem Zeitpunkt noch im Depot Af lenz, ein weiteres im Depot Zeiring, und zehn Bilder waren im Depot Wildalpen auf bewahrt.52

Restitution 1945 bis 1955 am Joanneum53 Nach Kriegsende im Mai 1945 war für die alliierten Stellen und die österreichischen Beamten neben vielen anderen Aufgaben auch die Klärung der Besitzverhältnisse für Kunstobjekte eine wichtige Arbeit. Das erste Rückstellungsgesetz trat am 26. Juli 1946 in Kraft. Zahlreiche Novellierungen und Ergänzungen führten bis zum siebenten Rückstellungsgesetz am 14. Juli 1949. Die im Ausland lebenden Besitzer beziehungsweise Erben mussten von sich aus aktiv werden und um eine Rückgabe ihrer Objekte selbst oder durch einen Rechtsanwalt per Rückstellungsantrag ansuchen. Diese mussten wiederum von sich aus recherchieren, welche Museen Erwerbungen aus beschlagnahmten Sammlungen während der Kriegszeit erhalten hatten. Die Zusammenführung einzelner jüdischer Sammlungen, die vormals aus mehreren hundert Objekten bestand und nun auf verschiedene Orte in Österreich verteilt war, stellte eine eigene Herausforderung dar. Die Frist zur Anmeldung um Restitution wurde immer wieder verlängert und dauerte schließlich bis 31. Juli 1956. Bis 1966 wurden in Österreich über

42.000 Verfahren abgeschlossen. Dennoch verblieben bis heute noch zahlreiche Stücke aus beschlagnahmten Sammlungen in den öffentlichen Institutionen: als sogenanntes „herren­ loses Gut“, für das kein Rückstellungsantrag gestellt worden war, und erzwungene Widmungen – so befanden sich bis zu ihrer Rückgabe im März 2000 zum Beispiel drei Widmungen und ein nicht geklärtes Gemälde aus dem Besitz Rothschild im Joanneum.54 Alle anderen Objekte Rothschilds waren 1946 bis 1954 zurückgestellt worden. Aufgrund der Vermögensentziehungs-Anmeldeverordnung waren die Inhaber von entzogenem Vermögen, d. h. in diesem Fall das Joanneum, aufgefordert, dem Magistrat die während des Krieges aus beschlagnahmten Sammlungen erworbenen Objekte bekannt zu geben. Darüber hinaus waren sie jedoch nicht verpf lichtet, Provenienzforschung zu ihrem Inventar zu betreiben. Die Erben, die ihre Kunstwerke an ihren neuen Aufenthaltsort im Ausland ausführen wollten, mussten wiederum eine Ausfuhrge-

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

nehmigung des Bundesdenkmalamtes einholen. Diese wurde in Absprache mit den Museen ausgestellt, wenn der Eigentümer bereit war, ausgewählte Objekte an die Museen zu „widmen“

571

oder zu „schenken“. Diese sogenannten „erpressten beziehungsweise abgezwungenen“ Widmungen sollten letztendlich bis vor wenigen Jahren in den Museen verbleiben.

Anmerkungen Der vorliegende Artikel war im Frühjahr 2006 fertiggestellt. In der Zwischenzeit sind im Bereich der Provenienzforschung und Restitution zahlreiche Publikationen erschienen, die teilweise in die Fußnoten der überarbeiteten Fassung aufgenommen werden. 1 Zit. nach: Brückler, Quellendokumentation 157. Ausgewählte Publikationen zum Thema Kunstraub während der NS-Zeit mit weiterführender Literatur: Anderl/Caruso, NS-Kunstraub; Anderl/ Bazil, Kommission für Provenienzforschung; Reininghaus, Ausstellungskatalog Recollecting; Müller/Tatzkow, Verlorene Bilder; sowie die seit 2009 regelmäßig erscheinende Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung im Böhlau-Verlag, Wien. 2 Vgl. Sotill, Es gibt nur einen Gott 246. – Genauere Zahlen bzw. eine Darstellung der Verfolgung jüdischer Bürger während der NS-Zeit in der Steiermark siehe: Lamprecht, Verfolgung der jüdischen Bevölkerung 317–346. 3 Im Steiermärkischen Landesarchiv (StLA) gibt es dazu einen eigenen Bestand von mehr als 1.600 ausgefüllten Vermögenserklärungen unter „Arisierungen, Vermögensverzeichnisse“. 4 Zit. nach: Brückler, Kunstwerke zwischen Kunstraub und Kunstbergung 15. 5 Seit 2010 Universalmuseum Joanneum. 6 Zit. nach: Brückler, Kunstwerke zwischen Kunstraub und Kunstbergung 19, Anm. 36. 7 Einen sehr guten Überblick zum Stand der Forschung zum „Sonderauftrag Linz“ bzw. dem „Linzer Führermuseum“ bietet die Literatur Kirchmayr/Buchmayr, Geraubte Kunst in Oberdonau; Schwarz, Hitlers Museum. 8 Diese Änderungen werden ausführlich von Sandra Brugger in ihrer 2011 in Graz fertiggestellten Dissertation „Das steirische Landesmuseum Joanneum 1939–1945“ erläutert. 9 StLA, LReg 370 G 18/1942, Personalakt Garzarolli, Zl. 164 ex 1939: Der Sekretär [eigentlich Direktor] Wilfried Teppner meldete am 28. 3. 1939 der Abtei*

10

11 12

lung II der Landeshauptmannschaft Steiermark, dass Reg. Rat Dr. Garzarolli [...] aus dem Dienste entlassen wurde. Das Entlassungsschreiben hat die Zahl Stk/ I-S-15859, vom 19. März 1939. Die Entlassung erfolgte auf Grund des § 4, Abs. 1, der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31. Mai 1938, RGBl I S 607. Gleichzeitig melde ich, dass ich die Leitung der Landesgemäldegalerie und des Kupferstichkabinettes bis zu einer allfälligen Neubesetzung übernommen habe. – Genauere Angaben zu Garzarollis Amtsenthebung und aus der Zeit des Nationalsozialismus können nicht gemacht werden, da laut einem eingelegten Zettel im Personalakt Garzarollis der Vorakt wie alle übrigen Personal- und Beiakten am 4. oder 5. April 1945 über Auftrag des damaligen Reichsstatthalters verbrannt wurden. – Es existiert lediglich eine Abschrift einer Zeugenaussage von Garzarolli-Thurnlakh, welche von der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Heinrich Mitter, Graz, an das Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 6, am 15. 2. 1951 übermittelt wurde. StLA, Neuaktenabteilung LReg 371/I/ P1/1947, Rückforderung der Pölser Madonna vom Pfarrer: Ich war von Ende März 1939 bis Anfang März 194[ ] nach § 4 Abs 1 des Beamtenreinigungsgesetzes fristlos aus dem Dienst entlassen gewesen, da man mir zum Vorwurf machte, aus Anlass der Beschlagnahme des Admonter Gutsbesitzes nicht [sic!] dem Abte gegen den Staat kosperiert [sic!] zu haben. Ich habe damals mit dem Landeskonservator lediglich ein Protokoll über die Unzukömmlichkeit, die ich in Admont von Seiten der NS Verwaltung vorfand, abgefasst und eine Abschrift dieses Protokolles gleichfalls mit Zustimmung des Landeskonservators dem Abt übergeben, damit er sich und sein Kloster vor weiterer Schädigung durch Einspruch gegen diese Zustände bewahren könne. Das wurde mir als Staatsverrat ausgelegt. StLA, LReg Personalstandesblatt, 2. Ablf., Dr. Dr. Hans Riehl. – Eine ausführliche Darstellung der Person Hans Riehl siehe bei: Lipsky, Kunst einer dunklen Zeit 95–99. StLA, LReg 371/I/J/4/1941, Zl. A. 214/1940. Archiv Bundesdenkmalamt (BDA) Wien, Restitutionsmaterialien, K. 51, Louis und Alphonse Roth-

572

13

14 15

16

17 18

19

20

21

22 23

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

schild, M. 7a, Zuteilungen an Museen 1942, fol. 40, Zl. A 158/1942. Genaueres zur Person Georg Wolf bauer siehe: Leitner-Ruhe/Danzer, Restitutionsbericht 1999–2010, 18; Lipsky, Kunst einer dunklen Zeit 100–102. Bei Brugger, Joanneum 101: ab 1936. Archiv Bundesdenkmalamt (BDA) Wien, Restitutionsmaterialien, K. 51, Louis und Alphonse Rothschild, M. 7a, Zuteilungen an Museen 1942, fol. 69, Zl.: III/10. Speziell zum Kunstraub und zur Restitutionsproblematik der Sammlungen Rothschild siehe: Trenkler, Der Fall Rothschild; Krois, Familie Rothschild; Kunth, Die Rothschild’schen Gemäldesammlungen. Zit. nach: Krois, Familie Rothschild 26. Siehe dazu: Leitner-Ruhe/Danzer, Restitutionsbericht 1999–2010, 68–69, 163–167 und 198–199. Garzarolli, der sich auf mittelalterliche Plastik spezialisiert hatte und 1941 auch ein Buch darüber herausgab, scheint an den Gemälden nicht sonderlich interessiert gewesen zu sein. Er hatte sich nämlich von der Reichsstatthalterei Steiermarks die Erlaubnis eingeholt, die fünf Bilder aus dem Rothschildschen Besitz zu veräußern und dafür mittelalterliche Skulpturen zu erwerben. Immerhin handelte es sich bei den Bildern unter anderem um ein Gemälde von Frans Hals und eines von Jacob Ruisdael. Der Verkauf wurde jedoch vom Gaukämmerer beeinsprucht und eingestellt. – Archiv Alte Galerie, Sammlungen Louis und Alfons Rothschild, fol. 2, Zl. A. 159/1941 und fol. 4, o. Zl. Archiv Alte Galerie, Sammlungen Louis und Alfons Rothschild, fol. 8, Zl. A. 203/44. Vgl. Loitfellner, Rolle 110–120; Schröck, Einbringungen 110–126. StLA, LReg 371/I/B11/1942. Es können nur exemplarisch Fälle herausgenommen werden, da sich sonst der Artikel in einer Aufzählung verlieren würde. Im Jahr 2010 wurde vom Universalmuseum Joanneum eine aktualisierte Form des am Ende des Jahres 1999 der Steiermärkischen Landesregierung vorgelegten Forschungsberichtes publiziert: Leitner-Ruhe/Danzer, Restitutionsbericht 1999–2010. Der Bericht enthält bekannte Namen wie die der Wiener Sammlungen Rothschild, Bondy, Gutmann, Pollak etc. Er zählt auch Erwerbungen über die ­Vugesta, Gestapo, das Dorotheum, verschiedene andere Auktionshäuser sowie über Treuhänder und diverse Privatgalerien auf. – Außerdem sei hier auf eine umfangreiche Zusammenstellung der wichtigsten jüdischen Kunstsammler in Wien verwiesen: Lillie, Was einmal war.

24 25

26 27

28 29 30

31

32

33

34

35

36

37

38 39 40

StLA, LReg 371/I/A5/1941. StLA, LReg 371/I/A5/1941. – In den folgenden Jahren sind immer wieder Ankäufe über den Judenkredit direkt von Privatleuten getätigt worden, die nicht jüdischen Glaubens waren. Die Abteilungsleiter schöpften auch für andere Gelegenheiten die finanziellen Möglichkeiten aus. Die großen Wiener jüdischen Sammlungen wurden nur zum Teil an die Museen verkauft. Das meiste wurde unentgeltlich überwiesen. StLA, LReg 371/I/A5/1941. Archiv Alte Galerie, Postausgang 1942, Zl. A 29/ 1942. StLA, LReg 370 / H 33 / 1942, Zl. 60/30–42. StLA, LReg 370 / H 33 / 1942, Zl. 60/30–42. Allgemein zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Graz: Lamprecht, Jüdisches Leben in der Steiermark; Lamprecht, Fremd in der eigenen Stadt (2007). Zit. nach: Jäger, Vorläufiger Endbericht 3 und Anhang. – Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit wird das verharmlosende Wort „Sicherstellung“ im Zusammenhang mit Plünderungen und Beschlagnahmungen noch weiter verwendet. Jäger, Vorläufiger Endbericht; Binder-Krieglstein, Güssing und Graz 202. StLA, LReg 373/Be/13/1938. – Zu den Vorgängen in Güssing verfasste Philip Halper eine ausführliche Diplomarbeit: Halper, Güssing. Zur Situation der burgenländischen Juden vgl. Lang/Tobler, Vertrieben. – Mit weiterführender Literatur: Mindler, Südburgenland im Gau Steiermark 117–139. Archiv Alte Galerie, Diverser jüdischer Kunstbesitz, Zl.: A. 177/1940. Vgl. Leitner-Ruhe/Danzer, Restitutionsbericht 1999–2010, 81f. und 182. – Es handelt sich dabei hauptsächlich um Druckgraphiken und Zeichnungen. Das Universalmuseum Joanneum versucht, über die Website Informationen zu diesen Objekten zu erhalten: http://www.museum-joanneum.at/ das_ joanneum/unser-betrieb/restitution. Vgl. Leitner-Ruhe/Danzer, Restitutionsbericht 1999–2010, 182. StLA, LReg 373 Ju 4/1938. StLA, Arisierungsakt Nr. HG 1174. Zahlreiche Münzen werden in der Beilage 1/I zum Vermögensverzeichnis, welches Samuel Kiesel am 30. 6. 1938 in Judenburg ausgefüllt hat, genannt: darunter auch eine Goldmünze mit Jahreszahl 1765, die später für die Münzkunde im Joanneum erworben wurde. – Vgl. StLA, Vermögensverkehrsstelle Graz, Vermögensverzeichnis, H. 17, Verz. Nr. 5401, Samson Kiesel. – Die zwei im Text genannten Mün-

Leitner-Ruhe / „Ich bitte also bei der Verteilung [...] an uns zu denken.“

41 42

43

44

45 46 47

48 49

zen wurden aus bisher unbekannten Gründen in der Nachkriegszeit nicht restituiert. Dem Joanneum gelang es mit Hilfe des Stadtmuseums Judenburg, namentlich Michael Schiestl, die rechtmäßigen Erben zu finden, und die zwei Münzen konnten am 26. 6. 2006 an die Erben nach Samuel Kiesel zurückgegeben werden. – Siehe dazu auch: Peitler, Restitutionen des Münzkabinetts 213–214. StLA, LReg 370/B 1/1941, Zl. 24 Bu 47/14. StLA, LReg 370/B 1/1941, Zl. II e 373 Mu 55/31940. StLA, LReg 370/B 1/1941, zu Zl. GK I- 24 Bu 3/541. StLA, LReg 370/B 1/1941, Zl. II d-370 B 1/81943. Vgl. Brückler, Quellendokumentation 108. Vgl. Sebl, Besitz der „toten Hand“ 32ff. Vgl. Liebmann, Zeit Fürstbischof Pawlikowskis 341–353; Brugger, Joanneum 107–113, 118–132. Vgl. Frodl-Kraft, Gefährdetes Erbe, 272–299. Parallel zur vorliegenden Publikation erscheint voraussichtlich Ende 2015: Leitner-Ruhe, Bilderstapel.

50

51

52

53

54

573

StLA, A. Landesmuseum Joanneum, K. 53, H. 225, Direktion 1942–1945, Luftschutzmaßnahmen. Siehe dazu die einzelnen Beiträge der Abteilungen in: Sutter, Festschrift 150 Jahre Joanneum; Brugger, Joanneum 133–178. Archiv Alte Galerie, Sammlungen Louis und Alfons Rothschild, fol. 13, o. Zl. Zum Thema der Kunstrückgabe nach 1945 siehe: Leitner-Ruhe, Kunstrückgabe 455–470. Nach der Beschlagnahme zweier Schiele-Bilder in New York im Jänner 1998 wurde im damaligen Landesmuseum Joanneum ein Arbeitskreis „Erwerbungen und Rückstellungen aus jüdischem Besitz 1938–1955“ eingerichtet. Die Mitarbeiter des Museums hatten die Aufgabe, ihre Sammlungen auf mögliche Objekte aus beschlagnahmten Haushalten zu prüfen. Im März 2000 wurde ein Landesverfassungsgesetz zur Rückgabe von aus NS-Zeit verbliebenem geraubten Gut erlassen. Die Autorin war von 2003 bis 2013 als Restitutionsbeauftragte halbtags im Museum angestellt.

Birgit Poier

„Wenn das Recht zum Leben endet ...“1 NS-Gesundheits- und Sozialpolitik in der Steiermark

Die nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik war insgesamt stark antiindividualistisch-rassenhygienisch ausgerichtet und erteilte der konservativen (Sozial-)Fürsorge eine klare Absage.2 Ihre Wurzeln hatte diese menschenverachtende Politik im sozialpolitischen Diskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in dem Sozialdarwinisten, Eugeniker und Rassenhygieniker bereits jahrzehntelang die Ausgrenzung und Sterilisation der „Minderwertigen“, aber auch die Tötung des sogenannten „lebensunwerten Lebens“ gefordert hatten. Nur so ist es schließlich auch erklärbar, dass ÄrztInnen wie Pf legende, Hebammen und FürsorgerInnen nahezu widerstandslos bereit waren, sich an der Umsetzung der unter dem Begriff der „Erb- und Rassenpf lege“ subsumierten eugenisch motivierten Maßnahmen zu beteiligen. Für die Steiermark lässt sich zeigen, dass die nationalsozialistische Politik auf besonders fruchtbaren Boden stieß und man es hier kaum erwarten konnte, dass die entsprechenden Gesetze in Kraft treten würden, wie unter anderem folgende Anfrage des Bezirksfürsorgeverbandes Liezen an die Gauamtsleitung der NSV vom 17. März 1939 – also viele Monate vor Inkrafttreten des Gesetzes – zeigt: Es mehren sich die Fälle, in denen geistig schwer belastete Menschen (Erbkranke) trotzdem Kinder zeugen und somit wieder Kretine entstehen und

dem Volkskörper schwer schaden. Ich ersuche daher um Mitteilung, wieweit das Sterilisationsgesetz schon zur Anordnung gebracht werden kann und bitte zugleich um Weisung über die verwaltungsmäßige Behandlung derartiger Fälle.3 Offen dafür eingetreten sind auch einige Ärzte. Neben Ernst Sorger, der später selbst Gutachter im Rahmen der NS-Euthanasie sowie Obmann der sogenannten „Erbbiologischen Bestandsaufnahme in den Heil- und Pf legeanstalten“ werden sollte, tat dies Anfang der 1930er Jahre beispielsweise der Grazer Professor für Haut- und Geschlechtskrankheiten Rudolf Polland, der propagierte, dass es „nur eine Forderung des gesunden Menschenverstandes [wäre], die Fortpf lanzung derjenigen zu verhindern, welche mit großer Wahrscheinlichkeit krankhafte und minderwertige Erbanlagen auf ihre Nachkommen vererben. [...] Es wird daher die Unfruchtbarmachung als wertvolle Ergänzung der anderen Maßnahmen zur Verhütung der Fortpf lanzung Geisteskranker nicht zu umgehen sein“.4 Weiters zeigt der erhaltene Schriftverkehr zwischen der Heil- und Pf legeanstalt „Am Feldhof “5 und der Reichsstatthalterei, dass auch die öffentlichen Stellen in der Steiermark über die Vorgänge im Rahmen der nationalistischen Euthanasie-Programme Bescheid gewusst haben müssen.6

576

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

Das nationalsozialistische Gesundheitswesen Erb- und Rassenpf lege bildeten die zentralen Aufgaben in der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Mit der praktischen Umsetzung der nationalsozialistischen Eugenik wurden schließlich die Gesundheitsämter betraut, die zu diesem Zweck durch das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheits­ wesens“7 grundlegend reformiert werden mussten. Ziel der Reform war die Schaffung eines einheitlichen Verwaltungsapparates zur Durchführung der Aufgaben des öffentlichen Gesundheitsdienstes,8 die nach Labisch und Tennstedt als „Aufgabentrias“ aus klassischen staatlichen Gesundheitsleistungen, wie Seuchen- und (Volks-)Krankheitsbekämpfung, den Fürsorgeleistungen und der Erb- und Rassenpf lege bezeichnet werden können.9 Und gerade diese gesetzlich verankerte Trias bildete letztlich die Basis für die Parallelität von Normalität und Verbrechen in den nationalsozialistischen Gesundheitsämtern. Während die Neustrukturierung des Gesundheitswesens durch die Vielzahl oft sehr unterschiedlich aufgebauter kommunaler Behörden, die sich darüber hinaus gegen eine Verstaatlichung ihrer Agenden zur Wehr setzten, in Deutschland nur mühsam vollzogen werden konnte und mitunter Jahre in Anspruch nahm,10 scheint sie in der Steiermark relativ problemlos erfolgt zu sein. Dies war vermutlich darin begründet, dass die Neuordnung der Verwaltungslandschaft in der Steiermark bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten notwendig geworden war und nun relativ leicht modifiziert werden konnte.

Oberste Gesundheitsbehörde in der Steiermark war nunmehr die Abteilung III, „Volkspf lege“, unter der Leitung von Julius Strenger. Sie gliederte sich weiter in die Abteilungen IIIa für Gesundheitswesen und Leibesübungen unter der Leitung von Anton Smola, die Abteilung IIIb für öffentliche Fürsorge, Jugendwohlfahrt und Jugendpf lege unter der Leitung von Viktor Kastner-Pöhr und die Abteilung IIIc für die gaueigenen Heil- und Pf legeanstalten unter der Leitung von Richard Schwarz.11 Für eugenische Belange war die Abteilung Smolas zuständig, der dadurch zu einer der wichtigsten Personen im Rahmen der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik in der Steiermark avancierte. Dies ist insofern verwunderlich, als der steirische Gauärzteführer, Hagen Bouvier, 1938 die Enthebung Smolas gefordert hatte. In der Begründung hieß es, dass in solchen Funktionen nur Ärzte tätig sein dürfen, welche sich rückhaltslos für den nationalsozialistischen Staat einsetzen, unbelastet sind und die Gewähr bieten, dass sie die öffentl[iche] Gesundheitspflege, insbesondere die Fragen der kommenden Erbgesundheitspflege im nationalsozialistischen Sinn bearbeiten werden.12 Die Steiermark, zu der ab Oktober 1938 auch das südliche Burgenland zählte, gliederte sich nach der Verwaltungsreform in insgesamt 16 Bezirke/Landkreise mit staatlichen Gesundheitsämtern. Eine Ausnahme bildete das Gesundheitsamt des Stadtkreises Graz, das seinen kommunalen Status gemäß § 4 des „Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ beibehielt. Überdies kamen nach der Annexion der Untersteiermark im April 1941 sechs weitere Landkreise sowie der Stadtkreis Marburg/ Maribor hinzu.13

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

577

Zur Rolle der AmtsärztInnen Mit der Umsetzung der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik wurden die AmtsärztInnen betraut, die damit die mächtigste Instanz im Rahmen der Erb- und Rassenpf lege darstellten. Ihre Aufgaben waren in der Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens geregelt und erstreckten sich auf sämtliche Belange positiver wie negativer Eugenik.14 Dass gerade die Amtsärzte die Rolle der „Erbpolizei“15 übernehmen sollten, lag auf der Hand. Sie waren seit jeher mit den Aufgaben der Für- und Vorsorge vertraut und kannten deshalb nicht nur die Handlungsstrategien des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die nun nur auf die Erb- und Rassenpf lege umgelegt werden mussten, sondern mit den Armen und Hilfsbedürftigen auch genau jenen Personenkreis, der gemäß

der neuen ideologischen Ausrichtung „ausgemerzt“ werden sollte. Dabei missbrauchten sie das Vertrauen der Hilfesuchenden allerdings nachhaltig: Wer das Gesundheitsamt, in dem im Nationalsozialismus sämtliche gesundheitspolitischen Belange zusammengefasst worden waren, um Rat oder Hilfe bat, wurde – ohne sein Wissen – auf seinen „Wert für die Erbgemeinschaft“ hin überprüft. Die Hoffnung auf die Vorteile der positiv eugenischen Maßnahmen, die allerdings ausschließlich der Förderung „erbgesunder Familien“ dienen sollten, wurde den sogenannten „Erbkranken“ und „Minderwertigen“ dabei vielfach zum Verhängnis. Und wenngleich dies ursprünglich vielleicht gar nicht so geplant war, wussten die nationalsozialistischen Amtsärzte mit dieser Möglichkeit der Auslese in ihren Ämtern und Praxen rasch umzugehen.

Erb- und Rassenpf lege Die „Erbbiologische Bestandsaufnahme“ Zur Durchführung gezielter Erbgesundheitspf lege war es notwendig, die Bevölkerung unter Heranziehung bestimmter Kriterien (Intelligenz, körperliche Konstitution, soziales Verhalten) zu erfassen. Zu diesem Zweck wurden bei den Gesundheitsämtern sowie in den Heilund Pf legeanstalten sogenannte „Erbbiologische Bestandsaufnahmen“ eingerichtet, deren Aufgabe es war, Erbkarteien und Sippentafeln zu erstellen. Geht man von einer durchschnittlichen Zahl von 20 bis 30 Sippenangehörigen aus, kann man feststellen, dass mit nur 100 Sippentafeln bereits 2.000 bis 3.000 Personen erfasst werden konnten. Für die Steiermark lässt sich daraus ableiten, dass allein in der Stadt Graz bis September 1943 mit den bereits beim Gesund-

heitsamt erstellten 450 Sippentafeln rund 10.000 Personen registriert worden waren.16 Spitzenreiter in der Steiermark war allerdings der Bezirk Leoben, wo das Gesundheitsamt zu diesem Zeitpunkt bereits über 1.100 Sippen erfasst hatte.17 Ausstellung von Ehetauglichkeitszeugnissen Am 1. Jänner 1940 trat in Österreich das Gesetz zum Schutz der Erbgesundheit des deutschen Volkes mit folgendem Wortlaut in Kraft:18 § 1 (1) Eine Ehe darf nicht geschlossen werden, a) wenn einer der Verlobten an einer mit Ansteckungsgefahr verbundenen Krankheit leidet, die eine erhebliche Schädigung der Gesundheit des anderen Teiles oder der Nachkommen befürchten lässt, b) wenn einer der Verlobten entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft

578

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

steht, c) wenn einer der Verlobten, ohne entmündigt zu sein, an einer geistigen Störung leidet, die die Ehe für die Volksgemeinschaft unerwünscht scheinen lässt, d) wenn einer der Verlobten an einer Erbkrankheit im Sinne des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses leidet. Es war zuerst Sache der Standesbeamten, „begründete Zweifel“ an der Ehetauglichkeit zu erheben. Diese zu bestätigen oder aber die Ehe zu genehmigen lag jedoch im Ermessen der Amtsärzte.19 Das „Ehegesundheitsgesetz“ erhob den Amtsarzt damit weit über den Status des Eheberaters hinaus in den Richterstand. Sein (pseudo-)medizinisches Wissen auf den Gebieten der Rassenhygiene und Erblehre, seine Weltanschauungen und nicht zuletzt seine politische Gesinnung bildeten dabei wohl die Basis für seine Entscheidungen.

Erstellung von Gutachten für Bewerber um Kinderbeihilfe Die Gewährung von Kinderbeihilfen war in der gleichnamigen Verordnung aus dem Jahr 1935 geregelt und trat in Österreich am 1. Jänner 1939 in Kraft.20 Als Voraussetzungen galten einerseits die Zugehörigkeit von vier oder mehr Kindern unter 16 Jahren zum Haushalt der Antragsteller, wobei eigene Kinder und Pf legekinder gleichgestellt waren, andererseits die Bedürftigkeit der Antragsteller.21 Weiters mussten die Antragsteller „Reichsbürger“ im Sinne des betreffenden Gesetzes sein.22 Eltern und Kinder mussten darüber hinaus über einen einwandfreien Leumund verfügen und (erb-)gesund sein. Ausschlaggebend war bei der Beurteilung der Kinder insbesondere der schulische Erfolg, der Gewähr dafür bieten sollte, dass sie zu „brauchbaren Volksgenossen“ heranwachsen würden. Wenn jedoch die (leiblichen) Eltern durch eine Erbkrankheit belastet waren oder aufgrund ihrer Lebensverhältnisse als „asozial“ angesehen wurden, konnte auch die beste Leistung nichts gegen die Idee der Sippenhaftung ausrichten. Da die Kinderbeihilfe mit bis zu 100 Reichsmark pro Kind verhältnismäßig hoch war, wurden zahlreiche Anträge gestellt. Wie gefährlich dies mitunter für die Antragsteller sein konnte, zeigt sich in ihren Akten, die belegen, dass manche Antragsteller nicht nur keine Förderung erhalten haben, sondern vielmehr in die Mühlen der negativen Erbpf lege geraten sind. Erstellung von Gutachten für Ehestandsdarlehensbewerber

Erbbiologische Untersuchungen Aus: Freidl/Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark 

Die gut dotierten Ehestandsdarlehen des nationalsozialistischen Staates verfolgten zwei Ziele:23 Einerseits sollte durch das Hinausdrängen der Frauen aus dem Berufsleben die Arbeitslosigkeit gesenkt werden, andererseits sollte aber indirekt durch die Förderung der Ehe auch die Gebur-

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

tenrate beeinf lusst werden. Wenngleich die Vergabe von Ehestandsdarlehen nicht in der Gesundheitsgesetzgebung, sondern im „Gesetz zur Minderung der Arbeitslosigkeit“ verankert war,24 lag die Entscheidungskompetenz wieder bei den Amtsärzten. In der ersten Durchführungsverordnung hieß es analog zum „Ehegesundheitsgesetz“, dass Ehestandsdarlehen nicht zu gewähren seien, wenn die Ehe – aufgrund vererbbarer geistigen oder körperlichen Gebrechen – nicht im Interesse der Volksgemeinschaft lag. In Österreich wurden Ehestandsdarlehen ab 1. April 1938 vergeben. Um für eine etwaige Antragsf lut gerüstet zu sein, wurden die Amtsärzte darauf hingewiesen, dass sie laut § 5 der zweiten Durchführungsverordnung die Untersuchungen nicht selbst vornehmen mussten, sondern Gemeindeärzte dazu ermächtigen konnten.25 Ob und in welchem Ausmaß in der Steiermark von diesem Recht Gebrauch gemacht wurde, lässt sich nicht eruieren. Fest steht, dass sich die Zahl der Ansuchen während der Kriegszeit insgesamt verringerte: Während im Jahr 1941 im gesamten Deutschen Reich noch 176.565 Ehestandsdarlehen ausbezahlt wurden, waren es 1942 nur mehr 102.849. Insgesamt wurden von 1933 bis 1942 rund 1,975.000 Ehestandsdarlehen gewährt.26 Durchführung des Gesetzes zur Verhütung ­erbkranken Nachwuchses Das sogenannte „Sterilisationsgesetz“27 war der ganze Stolz des nationalsozialistischen Staates, der damit „Vorsorge für das kommende Geschlecht, das von Erbkrankheiten, Missbildungen und vererbbaren Verbrecheranlagen [...] bewahrt werden soll“,28 treffen wollte. In Österreich trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses samt den dazugehörenden Durchführungsverordnungen am 1. Jänner 1940 in Kraft.29 Sterilisationsverfahren sollten zu diesem Zeitpunkt nur mehr in besonders dringlichen

579

Gesetz zur Verhütung erbkranken ­Nachwuchses § 1 (1) Wer erbkrank ist, kann unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden. (2) Erbkrank im Sinne dieses Gesetzes ist, wer an einer der folgenden Krankheiten leidet: 1. angeborenem Schwachsinn, 2. Schizophrenie, 3. zirkulärem (manisch-depressivem) ­Irresein, 4. erblicher Fallsucht, 5. erblichem Veitstanz (huntingtonsche ­Chorea), 6. erblicher Blindheit, 7. erblicher Taubheit, 8. schwerer erblicher körperlicher ­Missbildung. (3) Ferner kann unfruchtbar gemacht werden, wer an schwerem Alkoholismus leidet. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, gültig ab 1. Jänner 1940 Aus: Freidl/Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark 

Fällen eingeleitet werden, was erklärt, weshalb die Zahl der Opfer in Österreich verhältnismäßig klein ist.30 Die Entscheidung über die Unfruchtbarmachung fällten sogenannte Erbgesundheitsgerichte, deren Rechtsprechung ebenfalls auf dem „biologischen Denken“ der Rassenhygiene aufgebaut war.31 Als Beschwerdeinstanz fungierten Erbgesundheitsobergerichte. Die Gerichte setzten sich in den Verhandlungen jeweils aus einem Richter, einem beamteten Arzt (meist einem Amtsarzt) und einem weiteren für das Deutsche Reich approbierten Arzt (insbesondere Psychiater) zusammen.32 Die Amtsärzte waren in diesen Gerichten also quasi Richter und – als „Antragsteller“ – Staatsanwalt in einer Person. Die da-

580

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

raus resultierende Machtfülle war einzigartig und unterstrich einmal mehr den totalitären Charakter der NS-Gesundheitspolitik.33 In der Steiermark gab es derartige Erbgesundheitsgerichte bei den Landesgerichten in Graz und Leoben, sowie ein Erbgesundheitsobergericht beim Oberlandesgericht für Steiermark und Kärnten, das seinen Sitz ebenfalls in Graz hatte. Die Zahl der Mitglieder, die stets für zwei Geschäftsjahre bestellt wurden, war von der Größe der Gerichte abhängig und wurde vom Präsidenten des zuständigen Oberlandesgerichtes festgelegt. So auch in der Steiermark, wo Oberlandesgerichtspräsident Friedrich Meldt am 3. Jänner 1940 Folgendes verfügte: Am Erbgesundheitsobergericht sollten drei beamtete und drei freie Ärzte mit jeweils ebenso vielen Stellvertretern tätig sein. Gleiches galt für das Erbgesundheitsgericht Graz, wobei aber anzumerken ist, dass sich die Zahl der freien Ärzte aufgrund des steigenden Arbeitsanfalles im April 1941 schließlich noch um ein Mitglied samt Stellvertreter erhöhte. Am etwas kleineren Erbgesundheitsgericht Leoben wurden zwei beamtete und zwei freie Ärzte mit der entsprechenden Zahl an Stellvertretern bestellt. Über die Zahl der Richter geben die Akten keine genaue Auskunft, bekannt ist aber, dass am Erbgesundheitsgericht Graz und am Erbgesundheitsobergericht jeweils zumindest zwei Richter tätig waren. Vorsitzender des Erbgesundheitsobergerichtes in Graz war Senatspräsident Dr. Johann Stögerer.34 Darüber hinaus konnten im Rahmen der „Erbgerichtsverhandlungen“ Gutachter hinzugezogen werden und die ProbandInnen vom Erbgesundheitsgericht für die Dauer von maximal sechs Wochen in eine geeignete Krankenanstalt eingewiesen werden.35 In Graz waren dies insbesondere die Psychiatrisch-neurologischen Abteilungen des Gaukrankenhauses, die unter der Leitung von Prof. Reisch und Prim. Weeber standen, aber auch der Obmann der „Erbbiologischen Bestandsaufnahme in den

Heil- und Pf legeanstalten“, Ernst Sorger, aus dem Grazer „Feldhof “ stand auf der Liste der zu bestellenden Gutachter.36 Das Erbgesundheitsgericht hatte schließlich gemäß § 8 des Gesetzes unter Berücksichtigung des gesamten Ergebnisses der Behandlung und Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden. Die Beschlussfassung erfolgte dabei nach mündlicher Beratung mit Stimmenmehrheit. Der Beschluss war schriftlich abzufassen und musste sowohl dem Gesundheitsamt als auch dem Unfruchtbarzumachenden zugestellt werden. Trotz der anfänglichen Ungeduld 37 lief die Arbeit der Erbgesundheitsgerichte in der Steiermark nur schleppend an. Bis Juni 1940 waren am Erbgesundheitsgericht Graz erst fünf Fälle behandelt worden, das Erbgesundheitsobergericht hatte seine Tätigkeit zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch nicht aufgenommen.38 Dies lag aber nicht an den Gerichten selbst, sondern vielmehr daran, dass die Gesundheitsämter zwar jede Menge „Anzeigen“ bearbeiteten, tatsächliche „Anträge auf Unfruchtbarmachung“ aber kaum gestellt wurden. Beispielsweise brachte das Gesundheitsamt Hartberg im Jahr 1940 von 99 „Anzeigen“ nur einen Fall zum Abschluss, das Gesundheitsamt Feldbach sechs von insgesamt 42 Fällen, das Gesundheitsamt Murau fünf von 98 Fällen und das Gesundheitsamt Deutschlandsberg lediglich sieben von insgesamt 179 angezeigten Fällen.39 Im Kalenderjahr 1940 wurden im Oberlandesgerichtssprengel für Steiermark und Kärnten genau 100 Sterilisationsverfahren abgewickelt: 37 Fälle davon in Graz, elf in Leoben und 52 in Klagenfurt. Nur in vier Fällen wurde gegen die Entscheidung der Gerichte Beschwerde eingelegt. Mit Zunahme der Verfahren wurde jedoch auch vom gesetzlich verankerten Einspruchsrecht häufiger Gebrauch gemacht, sodass sich die Zahl der Verhandlungen beim Erbgesundheitsobergericht bis August 1941 bereits verzehnfacht hatte. Das Verfahren beginnt sich ein-

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

581

Zur Durchführung der Sterilisation ermächtigte Ärzte Krankenanstalten Gaukrankenhaus Graz Chir. Universitätsklinik

Ärzte



II. Chir. Abteilung

Ass. Dr. Karl Kratochvil (ab Jänner 1942)



III. Chir. Abteilung

Prim. Dr. Kurt von Tiesenhausen

Prof. Dr. Hans von Seemen Prim. Dr. Adolf Winklbauer (ab Mai1942) Ass. Dr. Erich Brandstätter (ab Mai 1941) Ass. Dr. Hans Droschl (ab Mai1942)

Universitätsfrauenklinik

Prof. Dr. Karl Ehrhardt Univ.-Doz. Dr. Erich Tscherne Doz. Dr. Richard Bayer (ab Oktober 1941)



Prof. Dr. Anton Leb

Zentralröntgeninstitut

Quelle: StLA, LReg. 200, E 1, 1941.

Zur Durchführung der Sterilisation ermächtigte Ärzte (Forts.) Krankenanstalten GaukrankenhausBruck a. d. M. Gaukrankenhaus Fürstenfeld Gaukrankenhaus Güssing Gaukrankenhaus Hartberg Gaukrankenhaus Judenburg Gaukrankenhaus Knittelfeld Gaukrankenhaus Leoben Gaukrankenhaus Rottenmann Gaukrankenhaus Mürzzuschlag Gaukrankenhaus Oberwart Gaukrankenhaus Radkersburg Gaukrankenhaus Voitsberg Gaukrankenhaus Wagna (ab Juni 1941) Gaukrankenhaus Cilli P Gaukrankenhaus Marburg/Drau

Ärzte Prim. Dr. Josef Zipper Prim. Dr. Engelbert Feischl Prim. Dr. Johann Pock Prim. Dr. Kurt Kamniker Prim. Dr. Otto Sabin Prim. Dr. Max Tschebull Prim. Dr. Hans Helm Prim. Dr. Fritz Ascher Prim. Dr. Hans Gangl Prim. Dr. Wilhelm Smital Prim. Dr. Leopold Mayersbach Prim. Dr. Ernst Bouvier Dr. Kurt Krammer (ab Mai 1941) Prim. Dr. Leo Bader rim. Dr. Hans Hönigmann Prim. Dr. A. Santner

Quelle: StLA, LReg. 200, E 1, 1941.

Zur Durchführung der Sterilisation ermächtigte Ärzte in steirischen Krankenhäusern, 1941

StLA

582

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

zuleben, berichtete Meldt im September 1941.40 Und mehr als ein halbes Jahr später stellte er erleichtert fest, dass die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte verhältnismäßig selten angefochten wurden, woraus er schloss, dass diese Entscheidungen beide Teile befriedigen und dass die Durchführung des Gesetzes in der Bevölkerung keinen größeren Widerständen begegnet.41 Dass er sich irren sollte, zeigt folgendes Zitat aus dem sogenannten „Bericht über die allgemeine Lage im Bezirk“ vom November 1942: Dieses Gesetz kann heute keineswegs schon als volkstümlich und mit seinen Zielen und Zwecken als in der Bevölkerung verankert bezeichnet werden. [...] Die Bevölkerung, vor allem die länd­ liche, erblickt in der vielfach mit Kastration verwechselten Sterilisierung eine capitis deminutio. Anscheinend wird diese Ansicht von kirchlichen Kreisen tatkräftigst unterstützt. Dazu tritt die ebenfalls von Außenstehenden genährte Ansicht, dass die Unfruchtbargemachten in ihrer menschlichen Ehre und Würde gekränkt, für ihre Berufsausübung unbrauchbar gemacht werden und an ihrer Gesundheit Schaden leiden. Hier wird bei Ausschaltung gewisser Einflüsse noch eine weitgehende Aufklärungsarbeit zu leisten sein.42 Mit dieser ablehnenden Haltung stand die steirische Bevölkerung aber nicht allein da. Wie sehr sich die Verantwortlichen auch bemüht haben, ihre bevölkerungspolitischen Grund­sätze zu popularisieren, sie scheiterten letztlich doch generell am Unwillen der Menschen, gegen ihre persönliche Interessen handeln zu ­müssen. Und in diesem Sinne konstatierte der Rassenhygieniker Peter Weinert 1943 resigniert: „Es gibt wohl kein Gebiet, auf dem der schein­bare Gegensatz: Nationalsozialismus– Individualismus so auffällig wird, wie die praktische Rassenhygiene. Wenn also dem Menschen klargemacht werden muss, dass nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch

sein Erbgut nicht ihm selbst, sondern dem Staat gehört.“43 Da auf das Verständnis der Bevölkerung für diese menschenverachtende Gesundheitspolitik also nicht gebaut werden konnte, musste der Staat zu anderen Mitteln greifen. Bereits im Gesetzestext war deshalb verankert, dass im Bedarfsfall auch Zwang ausgeübt werden konnte. Und dass dies in der Praxis auch tatsächlich geschah, belegt folgendes Schreiben des Voitsberger Amtsarztes Dr. Josef Köck an den zuständigen Landrat: Ich habe mit Schreiben vom 15. 8. 1941 gebeten, den mit rechtskräftigem Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes Graz vom 20. Mai 1941 33 XIII 63/41 unfruchtbar zu machenden Franz K. zur Durchführung des Eingriffs polizeilich der chirurgischen Abteilung des Gaukrankenhauses Voitsberg zu überstellen. Wie mir Prim. Dr. Krammer heute mitgeteilt hat, ist die Vorführung des Genannten noch nicht erfolgt. [...] Da in solchen Fällen immer die Gefahr besteht, dass der unfruchtbar zu Machende flüchtig wird und sich unter Umständen noch fortpflanzen kann, wenn er lange Zeit nicht aufgefunden wird, ersuche ich nochmals, die Vorführung durchführen zu lassen und bitte, mir den Vollzug derselben zu melden.44 Im Regelfall fügten sich die Betroffenen aber trotz der grundsätzlich ablehnenden Haltung ihrem Schicksal und befolgten die Anordnungen der Gesundheitsämter, in deren Händen der Vollzug der Urteile lag. Ehe die Unfruchtbarmachung durchgeführt werden konnte, musste der Beschluss des Erbgesundheitsgerichtes allerdings rechtskräftig werden. Dies geschah grundsätzlich, wenn innerhalb einer Frist von 14 Tagen nach Zustellung des Bescheides kein Einspruch erhoben wurde. In Fällen, in denen alle Beschwerdeberechtigten ausdrücklich auf ihr Recht verzichteten, konnten die Beschlüsse jedoch bereits früher Rechtskraft erlangen. Wurde

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

dagegen Beschwerde eingelegt, ging der Fall in die nächste Instanz und wurde vor dem Erbgesundheitsobergericht neu verhandelt. Weitere Rechtsmittel gab es nicht mehr.45 Beschwerdeberechtigt waren laut Gesetz einerseits die Betroffenen selbst beziehungsweise deren gesetzliche Vertreter, andererseits der Antragsteller und nicht zuletzt der zuständige Amtsarzt. Vereinzelt versuchten die Betroffenen beziehungsweise deren gesetzliche Vertreter auch über den Instanzenweg hinaus die drohende Gefahr der Unfruchtbarmachung abzuwenden. Dabei wandten sie sich in der Regel an die Kanzlei des Führers oder die Abteilung für Volksgesundheit im Reichsministerium des Inneren. Dass ihre Bemühungen meist vergebens waren, belegt ein Schreiben des zuständigen Referenten im Volksgesundheitsamt, Herbert Linden, in dem er dem Vater eines Probanden mitteilt, dass er sein Gesuch nicht im gewünschten Sinne erledigen könne und argumentierte dabei wie folgt: Aus der Begründung der beiden Beschlüsse [EG und EOG Graz] ergibt sich in überzeugender Weise, dass die Unfruchtbarmachung Ihres Sohnes zu Recht angeordnet worden ist. Ihr Sohn muss sich mit seiner Unfruchtbarmachung abfinden, die ein Opfer im Interesse der Erhaltung der Volksgesundheit ist, um der Weiterverbreitung von schweren Erbleiden bzw. der Anlage dazu auf spätere Generationen vorzubeugen.46 War ein Beschluss rechtskräftig, hatte das Gesundheitsamt für die Durchführung der Unfruchtbarmachung zu sorgen. War eine Frau schwanger, konnte mit ihrem – erzwungenen – Einverständnis außerdem die Schwangerschaft unterbrochen werden.47 Gemäß § 11 Abs. 2 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses durfte der zur Unfruchtbarmachung und Schwangerschaftsunterbrechung notwendige ärztliche Eingriff nur in einer Krankenanstalt von einem für das Deutsche Reich approbierten Arzt ausgeführt werden, wobei es der obersten

583

Landesbehörde oblag, die Krankenanstalten und Ärzte zu bestimmen. Obgleich es anfänglich den Gedanken gab, nur wenige Ärzte mit dieser Aufgabe zu betrauen, wurden in der Steiermark im August 1940 insgesamt 16 Ärzte in 13 Krankenanstalten zur Unfruchtbarmachung durch chirurgischen Eingriff bestimmt.48 Im Laufe der Zeit kam es schließlich zu einigen Veränderungen. So wurde beispielsweise im Juni 1941 Prim. Dr. Leo Bader im Gaukrankenhaus Wagna auf Betreiben des Gesundheitsamtes Leibnitz zur Unfruchtbarmachung bestimmt. Weiters kam es innerhalb einzelner Krankenanstalten zu personellen Veränderungen, die sich auch auf die Durchführung der Unfruchtbarmachungen auswirkten. Und schließlich kamen die Gaukrankenhäuser Cilli/Celje und Marburg in der Untersteiermark hinzu. Darüber hinaus wurden durch einen Erlass des Reichsministers des Inneren vom 20. Dezember 1940 Prof. Dr. Karl Erhart und Prof. Dr. Anton Leb zur Vornahme der Unfruchtbarmachung durch Röntgen- oder Radiumstrahlen ermächtigt.49 Außerdem ist belegt, dass vereinzelt Patient­ Innen aus dem Grazer „Feldhof “, die sich bei der Durchführung des Eingriffs im Gaukrankenhaus zur Wehr gesetzt hatten, wenig später im „Feldhof “ ambulant sterilisiert wurden.50 Eine derartige Vorgehensweise bildete jedoch die Ausnahme. Welcher Arzt die Sterilisierungen im „Feldhof “ vornahm, ist nicht bekannt, eine offizielle Ermächtigung dazu gab es jedenfalls nicht. Welche Methode die einzelnen Ärzte zur Sterilisation anwandten, war gesetzlich nicht geregelt.51 In den in der Steiermark auf liegenden Erläuterungen zur Durchführung der Unfruchtbarmachung nach dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses52 hieß es lapidar, dass der Eingriff so vorzunehmen sei, dass der gewünschte Erfolg erzielt wird. Bei Frauen wurde die Sterilisation in der Steiermark in der Regel durch die relativ schonenden Verfahren nach Madlener (Inguinale Quetschung und Unter-

584

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

bindung der Eileiter) oder Menge (Inguinale Luxierung und Unterbindung der Eileiter) durchgeführt. Bei Männern war der Eingriff wesentlich einfacher durchzuführen, die gängige Methode war die Vasektomie (Inguinale Resektion der Samenleiter um 5 cm).53 Durch die Unerfahrenheit der Ärzte, sei es mit einzelnen Methoden, sei es generell mit derartigen Operationen, kam es infolge der Eingriffe mitunter zu Komplikationen, die bis zum Tod führen konnten. Frauen waren in der Regel häufiger betroffen als Männer, besonders gefährdet waren jene, bei denen auch eine Schwangerschaftsunterbrechung vorgenommen wurde. In der Steiermark kamen zumindest vier junge Frauen im Rahmen der Durchführung des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ ums Leben. Aussagen über das genaue Ausmaß der Zwangssterilisation in der Steiermark lässt der

derzeitige Forschungsstand nicht zu.54 Bekannt ist, dass im Jahr 1941 zumindest 171 Menschen sterilisiert wurden,55 im Jahr 1942 weitere 94 Frauen und 80 Männer.56 Weiters sind zwei Fälle aus der Untersteiermark belegt.57 Berücksichtigt man einerseits die Anlaufschwierig­ keiten im Jahr 1940, andererseits die zunehmende Beschränkung der Sterilisationsverfahren im Zuge des Krieges, so wird man insgesamt von einer Summe von rund 600 bis 700 vorgenommenen Sterilisierungen in der Steiermark ausgehen können. Damit ist die Zahl der Opfer der Zwangssterilisation in der Steiermark deutlich geringer ist als jene in vergleichbaren Regionen Deutschlands. Das darf allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass die antiindividualistisch-rassenhygienisch orientierte Gesundheitspolitik des nationalsozialistischen Staates auch in Österreich akribisch umgesetzt wurde.

NS-Euthanasie: Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ Unter dem Deckmantel der Euthanasie wurden im Nationalsozialismus abertausende Menschen, insbesondere Behinderte und psychisch Kranke, aber auch all jene Menschen, die unter dem Begriff der sogenannten „Asozialen“ zusammengefasst wurden, ausgegrenzt, in Anstalten gesperrt und getötet. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche „Programme“ ausmachen: Zum einen die sogenannte „Aktion T4“, der vorwiegend Erwachsene zum Opfer fielen,58 und zum anderen die sogenannte „Reichsausschuss-Aktion“, deren Opfer ausschließlich Kinder und Jugendliche waren.59 Die beiden „Aktionen“ unterscheiden sich nicht nur in der Art der Durchführung und der Wahl der Opfer, sie weisen auch in der Motivation ganz erhebliche Unterschiede auf. Während die „Aktion T4“ eine reine Vernich-

tungsaktion darstellte, deren Interessen vorwiegend in der wirtschaftlichen Komponente lagen, deren oberstes Ziel es war, die vielen sogenannten „Ballastexistenzen“ und „unnützen Esser“, die in den Heil- und Pf legeanstalten untergebracht waren und den Staat eine erhebliche Summe Geldes kosteten, zu eliminieren, um die vorhandenen Ressourcen fortan für die Gesunden und nach der damaligen Terminologie „Tüchtigen“ nutzen zu können,60 basierte die „Reichsausschuss-Aktion“ vielmehr auf dem rassenhygienischen Postulat von der „Erhaltung und Aufartung der Rasse“.61 Doch trotz aller Unterschiedlichkeiten lassen sich die beiden „Euthanasie“-Aktionen unter folgendem Aspekt subsumieren: Der Mensch und der Wert seines Lebens wurden im Nationalsozialismus nahezu ausschließlich über Arbeits- und Leistungsfä-

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

585

higkeit definiert. Gemäß dem aus der Rassenhygiene hervorgegangenen gesellschaftlichen Utilitaritätsgedanken wurden Behinderte und psychisch Kranke in der nationalsozialistischen Ideologie nicht nur als „nutzlos“, sondern sogar als eine „Belastung“ betrachtet, derer man sich durch die „Euthanasie“-Aktionen entledigen wollte.62 Die „Aktion T4“ Auf bau und Organisation Benannt nach der Berliner Zentrale in der Tiergartenstraße 4, stellte die „Aktion T4“ die zentral organisierte Vernichtungsaktion gegen Behinderte, psychisch Kranke und andere in den Heil- und Pf legeanstalten untergebrachte PatientInnen dar. Zwischen Jänner 1940 und August 1941 fielen ihr insgesamt mehr als 70.000 Menschen zum Opfer. Bereits Anfang 1939 wurden erste Überlegungen angestellt, wie sich eine derartige Vernichtungsaktion am besten durchführen ließe.63 Einige Monate später, im Juli 1939, betraute Adolf Hitler schließlich den Reichsleiter Philipp Bouhler mit der Durchführung dieser „Aktion“.64 Nachdem man im kleinen Kreis den Ablauf im Wesentlichen festgelegt hatte, wurden nach und nach weitere Ärzte den Beratungen hinzugezogen. Neben dem ärztlichen Personal benötigte man für den reibungslosen Ablauf der „Aktion“ aber auch Schwestern und Pf leger, Techniker, Büropersonal, Busfahrer für die Transporte sowie zahlreiche Arbeiter, die unter anderem für die Entsorgung der Leichen zuständig waren. Auch sie wurden gruppenweise nach Berlin beordert und mit ihren neuen Aufgaben vertraut gemacht. Viele waren Mitglied der NSDAP, SS oder SA, andere hatten Freunde oder Verwandte, die ebenfalls bei der „T4“ tätig waren, weshalb sie bereitwillig mitmachten, andere wurden zur Mitarbeit überredet.65 Fest steht jedenfalls, dass beim nichtärztlichen

Führererlass zur „Aktion T4“, Oktober 1939 (rückdatiert auf 1. September 1939) Aus: Freidl/Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark 

Personal eher der finanzielle Anreiz den Ausschlag zur Mitarbeit gab, wohingegen die meisten Ärzte aus Karrierestreben, rassenhygienischem Idealismus oder Autoritätsgläubigkeit mitmachten.66 Parallel zur Personalrekrutierung musste man schließlich noch geeignete Anstalten finden, um die Tötung abertausender PatientInnen möglichst unauffällig durchführen zu können. Diese sollten per Bus oder Bahn gut erreichbar, aber dennoch etwas abgeschieden sein, um bei der umwohnenden Bevölkerung keinen Verdacht zu erregen. Sie mussten ein großes Fassungsvermögen haben und sollten schließlich

586

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

noch über Räumlichkeiten verfügen, die man nur wenig adaptieren musste.67 Die Ironie des Schicksals wollte es schließlich, dass ausgerechnet ehemalige Behinderteneinrichtungen zu Tötungsanstalten umfunktioniert wurden. Die sechs Anstalten waren Grafeneck in Württemberg, Brandenburg an der Havel, Bernburg an der Saale in Sachsen, Hartheim in Alkoven bei Linz, Sonnenstein in Pirna in Sachsen und ­Hadamar in Hessen.68 Im Renaissance-Schloss Hartheim, der einzigen Tötungsanstalt auf österreichischem Boden, in der insgesamt rund 18.000 Menschen in der Gaskammer den Tod fanden – auch die PatientInnen aus dem Grazer „Feldhof “ wurden hier getötet –, hatte sich vorher eine Pf legestätte für geistesschwache Kinder befunden, die 1939 von der „T4“ aufgelöst wurde. Hartheim war im Rahmen der „Aktion T4“ von Mai 1940 bis August 1941 in Betrieb, diente aber auch später noch dem nahegelegenen KZ Mauthausen im Rahmen der „Aktion 14f13“, der Vernichtungsaktion gegen die sogenannten „Asozialen“, als Tötungsanstalt.69 Nachdem die Vorbereitungen abgeschlossen waren, unterzeichnete Adolf Hitler im Oktober 1939 den sogenannten Ermächtigungserlass, in dem er den Reichsleiter Philipp Bouhler und seinen Leibarzt Karl Brandt beauftragte, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.70 Dieses Schreiben wurde – wohl um für den Fall des Bekanntwerdens der „Aktion“ besser argumentieren zu können – symbolisch auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, rückdatiert. Und obgleich es niemals Gesetzeskraft erlangte,71 beriefen sich die Beteiligten nach dem Krieg stets darauf und rechtfertigten ihr Handeln mit der Existenz des Schreibens.72

Erfassung und Selektion der PatientInnen Unmittelbar nach der Unterfertigung des Führererlasses begann man mit der Erfassung der PatientInnen. Dazu wurden alle Anstalten vom Reichsministerium des Inneren aufgefordert, zum Zweck einer planwirtschaftlichen Erfassung der Heil- und Pf legeanstalten Meldebögen auszufüllen.73 Gemeldet werden mussten alle PatientInnen, die an Schizophrenie, Epilepsie, senilen Erkrankungen, Paralyse, Schwachsinn jeder Ursache, Chorea Huntington oder anderen neurologischen Endzuständen litten. Weiters jene, die seit mehr als fünf Jahren in einer Anstalt untergebracht waren, solche, die als kriminelle Geisteskranke in der Anstalt lebten sowie PatientInnen, die nicht deutschen oder „artverwandten“ Blutes waren. Für den Fall, dass die Anstalten der Aufforderung nicht nachkamen, war vorgesehen, dass ärztliche Kommissionen diese Arbeit erledigten. Dabei wurde meist nur aufgrund der Eintragungen in den Krankenakten selektiert, ohne die PatientInnen zu untersuchen.74 In Österreich gab es neben den eben genannten offiziell eingesetzten Kommissionen, deren Zweck es war, den Widerstand einzelner Anstalten zu beugen, noch sogenannte „f liegende Kommissionen“, die eher eigenmächtig arbeiteten. Häufig waren es einzelne Ärzte, die vor allem kleinere Anstalten aufsuchten, um dort eine Vor-Ort-Selektion vorzunehmen.75 Im Grazer „Feldhof “ dürfte das allgemeine Meldeverfahren aber in der Regel eingehalten worden sein.76 Darin war vorgesehen, dass die ausgefüllten Meldebögen über die Berliner Zentrale an die einzelnen Gutachter gesandt wurden, die nun anhand der darin enthaltenen Informationen über Leben und Tod der Patient­ Innen entschieden. In jenen Fällen, in denen die Gutachter auf Tötung der PatientIn plädierten, wurden die Meldebögen an die „Gekrat“ (Gemeinnützige Krankentransport GmbH.) wei-

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

Oskar Begusch (1897–1944) promovierte 1921 in Graz und begann seine Karriere an der psychiatrisch-neurologischen Klinik im Landeskrankenhaus Graz. 1927 wechselte er an den „Feldhof“, dessen Leitung er 1939 übernahm. 1944 starb er überraschend nach einer Blinddarmoperation. Als Direktor der größten psychiatrischen Anstalt des Landes und hoher SD-Funktionär war er in sämtliche planwirtschaftlichen Maßnahmen im Bereich der Heil– und Pflegeanstalten der Steiermark eingebunden und wesentlich an der Durchführung der „Euthanasie“ beteiligt. 1940/41 war er Gutachter der „T4“.

Hans Bertha (1901–1964) promovierte 1926 in Graz, arbeitete danach in Tübingen und Berlin und kehrte 1929 an die Grazer psychiatrisch-neurologische Klinik zurück, deren kommissarische Leitung .er 1938–1940 übernahm. Dann wechselte er an die Anstalt Rosenhügel in Wien und arbeitete ab 1941 als Referent für Nerven-, und Gemütskranke im Hauptgesundheitsamt. 1942 übernahm er die Leitung des „Spiegelgrund“, ab 1944 war er außerdem vertretungsweise Direktor des „Steinhof“. Nach dem Krieg setzte er seine Karriere nahezu ungehindert fort und wurde 1963 zum Dekan der Grazer Medizinischen Fakultät bestellt. 1964 starb er bei einem Autounfall. Als Mitglied der Grazer Gesellschaft für Rassenhygiene und Dozent für „Menschliche Erblehre als Grundlage der Rassenhygiene“ proklamierte er vielerorts rassenhygienisches Gedankengut. Darüber hinaus war er als Mitglied am Erbgesundheitsobergericht in Graz 1940–41 an der Durchführung von Zwangssterilisationen beteiligt. 1940/41 war er Gutachter der „T4“. Grazer T4-Gutachter

587

Otto Reisch (1891–1977) promovierte 1924 in Innsbruck, wo er seine Karriere an der psychiatrisch-neurologischen Klinik begann. 1936 musste er Innsbruck aus politischen Gründen verlassen und ging nach Berlin. Kurz nach dem „Anschluss“ kehrte er nach Österreich zurück und wurde in Wien mit dem Neuaufbau des Gesundheitswesens beauftragt sowie als Referent für die Durchführung der Berufsbeamtenverordnung eingesetzt. 1940 wurde er als Vorstand der psychiatrisch-neurologischen Klinik nach Graz berufen. Nach Kriegsende wurde er entlassen, setzte seine Karriere später jedoch als niedergelassener Arzt in Innsbruck fort. Als Mitglied am Erbgesundheitsobergericht in Graz war er 1942-1945 an der Durchführung von Zwangssterilisationen beteiligt. 1940 war er Gutachter der „T4“.

Ernst Sorger (1892–1945) promovierte 1921 in Graz und begann seine Karriere noch im selben Jahr im „Feldhof“. Nach langjähriger Tätigkeit als Primararzt wurde er 1944 mit der Leitung der Anstalt betraut. Kurz nach Kriegsende floh er von seinem Arbeitsplatz, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Am 9. August 1945 beging er Selbstmord. Als Fachredner des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP propagierte er rassenhygienisches Gedankengut. Weiters hatte er ab 1940 durch seine Bestellung zum Landesobmann der „Erbbiologischen Bestandsaufnahme in den Heilund Pflegeanstalten“ der Steiermark eine zentrale Rolle in der Erfassung und Selektion von PatientInnen inne. Darüber hinaus soll er 1944/45 im „Feldhof“ behinderte Kinder mittels Injektionen getötet haben. 1940/41 war er Gutachter der „T4“. Aus: Freidl/Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark

588

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

tergeleitet, deren Aufgabe darin bestand, die PatientInnen in Gruppen zusammenzufassen, Datum und Zeit der Transporte festzulegen und die erstellten „Transportlisten“ an die einzelnen Anstalten weiterzuleiten. Insgesamt hat die „T4“ im Laufe der Zeit rund 40 Gutachter beschäftigt. Einige von ihnen stammten aus Österreich, darunter Erwin Jekelius von der Wiener Anstalt „Steinhof “, Rudolf Lonauer, der Leiter von Hartheim und Niedernhart, und die vier Grazer Ärzte Otto Reisch und Hans Bertha vom Gaukrankenhaus Graz, sowie Ernst Sorger und Oskar Begusch vom „Feldhof “.77 Eine Meldebogensendung an die einzelnen Gutachter umfasste jeweils etwa 100 bis 300 Stück. Wenn man bedenkt, dass die Ärzte diese Meldebögen meist binnen weniger Tage begutachteten, und dass insgesamt weit mehr als die 70.000 ermordeten PatientInnen gemeldet wurden – man kann hier wohl zumindest von der doppelten Zahl ausgehen –, versteht es sich von selbst, dass die Gutachter wohl kaum die Zeit hatten, die ohnedies allgemein gehaltenen Aussagen tatsächlich eingehend zu prüfen.78 Transport zur Vernichtung Es war nun Aufgabe der einzelnen Anstalten, für einen reibungslosen Ablauf der Transporte zu sorgen. Zu diesem Zweck mussten sie die Kleider und Wertgegenstände der für den Transport vorgesehenen PatientInnen auf listen und zusammenpacken sowie ihre Krankenakten heraussuchen und mitgeben. Die PatientInnen selbst bekamen anfänglich einen Leukoplaststreifen mit ihrem Namen zwischen die Schulterblätter geklebt. Weil sie sich diese Streifen aber oft herunterrissen, schrieb man den Namen bei späteren Transporten mit Jod oder Farbe direkt auf die Haut.79 Wurden die PatientInnen in Deutschland vorwiegend mit den ominösen grauen Bussen

der Gekrat transportiert, erfolgten die Transporte in Österreich vorwiegend mit der Bahn: Da der „Feldhof “ direkt an der Bahn liegt, bestand die organisatorische Arbeit grundsätzlich darin, einen Termin zu vereinbaren, wann die betreffenden PatientInnen abgeholt würden. Obgleich die PatientInnen die Anstalt vor der Abfahrt faktisch nicht verlassen mussten, setzte man die Transporte meist in den frühen Abendoder Morgenstunden an, um den Schutz der Dämmerung nutzen zu können. Die Transporte gingen nach Linz, wo Rudolf Lon­auer oder Georg Renno eine erste Selektion bereits im Zug vornahmen. Dabei wurde festgelegt, welche PatientInnen direkt nach Hartheim kamen – meist ungefähr ein Bus voll – und welche vorübergehend in „Niedernhart“ (heute: Wagner-Jauregg-Krankenhaus), einer sogenannten Zwischenanstalt, untergebracht wurden.80 Früher oder später landeten jedenfalls alle PatientInnen in Hartheim, wo sie in einem ­eigens eingerichteten Aufnahmezimmer entkleidet, photographiert und einem Arzt vorgeführt wurden, dessen Aufgabe es war, eine geeignete Todesursache zu finden.81 Geeignet heißt in diesem Fall, dass sie glaubhaft sein musste. Um den Ärzten die Arbeit zu erleichtern und um Fehler zu vermeiden, hatte die „T4“ eine 61 Todesursachen umfassende Kurzgutachtensammlung erstellt.82 Dabei musste die Todesursache nicht nur plausibel, sie musste auch vom zeitlichen Ablauf her vertretbar sein. Dies wurde insofern erleichtert, als der Todeszeitpunkt auch fiktiv angenommen wurde. Er lag irgendwo zwischen wenigen Tagen und einigen Wochen nach dem Abtransport aus den Ursprungsanstalten. Mit diesen Maßnahmen versuchte man zu verhindern, dass es zu einer regionalen Häufung von Todesfällen kam und die Geheimhaltung gefährdet war. Beliebte Todesursachen waren Blutvergiftung, Blinddarmentzündung, Lungenentzündung, Nierenentzündung, Tuberku-

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

lose, Gehirnschlag, Septische Angina oder Grippe mit Kreislaufschwäche. Nachdem die Todesursache feststand, wurde den PatientInnen noch eine Nummer auf die Brust gestempelt, um sie identifizieren zu können. Außerdem notierte man akribisch, welche der PatientInnen Goldkronen oder -brücken hatten (meist wurden den PatientInnen dabei Zeichen auf die Haut gemalt), und schickte sie anschließend in die Gaskammer.83 Schließlich mussten noch die Angehörigen informiert und die Formalitäten erledigt werden. Zur Ausstellung der Totenscheine verfügten die Anstalten über eigene Sonderstandesämter, die eine reibungslose Abwicklung der bürokratischen Erfordernisse garantieren sollten. Dem Standesamt vorgelagert war eine sogenannte Absteckabteilung, die anhand einer Wandkarte die Geburts- und Wohnorte der PatientInnen erfasste. Und um allzu großes Aufsehen durch gleichlautende Totenscheine in einer Region zu vermeiden, tauschten die Tötungsanstalten anhand dieser Wandtafeln untereinander Patientennamen aus. So haben auch Angehörige in der Steiermark immer wieder Totenscheine aus ihnen unbekannten deutschen Anstalten erhalten und glaubten bis zuletzt, dass die PatientInnen tatsächlich dort waren.84 Doch trotz aller Vorsichtsmaßnahmen führten die Trauer und das Unverständnis über die rasche Verlegung und den plötzlichen Tod der PatientInnen allmählich dazu, dass immer mehr Informationen an die Öffentlichkeit gelangten und Angehörige immer öfter Fragen an die Direktion des „Feldhof “ oder die zuständigen Stellen der Reichsstatthalterei richteten. Doch erst die Predigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, in der dieser sich nicht nur offen gegen die Vernichtung des sogenannten „lebensunwerten Lebens“ aussprach, sondern auch betonte, dass es sich dabei nach damals geltendem Recht um Mord handelte, bewirkte den offiziellen Stopp der „Aktion T4“

589

am 24. August 1941.85 Bis dahin waren insgesamt 70.273 Menschen in den sechs Tötungsanstalten vergast worden; 18.269 davon allein in Hartheim.86 Die steirischen Opfer der NS-Euthanasie Die Zahl der Opfer beläuft sich in der Steiermark auf rund 2.000 Menschen, von denen bisher 1.400 namentlich erfasst werden konnten.87 Knapp 1.220 PatientInnen des Grazer „Feldhof “ wurden dabei anhand der erhaltenen Krankenakten und Rapportbücher erfasst.88 Hinzu kommen weitere 180 PatientInnen, die sich derzeit noch keiner Anstalt zuordnen lassen, deren Namen uns aber durch ihre Veröffentlichung in der „Neuen Steirischen Zeitung“ im Juni 1945 erhalten sind.89 Denkbar wäre, dass es sich dabei insbesondere um die Opfer aus der ehemaligen „Siechenanstalt Kindberg“ handelt, die im Rahmen einer Vor-Ort-Selektion durch die Grazer Ärzte Oskar Begusch und Ernst Sorger nach Hartheim deportiert wurden.90 Für die PatientInnen des Grazer „Feldhof “ wurden zwischen Mai 1940 und Juni 1941 insgesamt vierzehn Transporte organisiert. Während die beiden ersten Transporte jeweils rund 200 PatientInnen umfassten, wurde die Zahl der nachfolgenden Transporte dann auf weniger als 80 reduziert. Gleichzeitig gab es jedoch im Jänner und Februar 1941 eine weit größere Dichte. Allein zwischen dem 3. und 17. Februar 1941 wurden – in genau zwei Wochen – neun der vierzehn Transporte durchgeführt, ehe dann erst nach längerer Pause am 9. Juni 1941 der letzte Transport stattfand. Stellvertretend für alle Opfer soll abschließend die Geschichte der Grazer Malerin und Grafikerin Ida Sofia Maly erzählt werden.91 Die 1885 geborene Künstlerin war in Graz aufgewachsen und lebte später in München, Paris und Wien, wo sie sich Impulse für das eigene künstlerische Werk holte. Ida Maly erkrankte Ende

590

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

Ida Maly Aus: Freidl/Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark 

der 1920er Jahre an Schizophrenie und verbrachte ihr letztes Lebensjahrzehnt als PatientIn im „Feldhof “. Auch in dieser Zeit schuf Ida Maly noch beeindruckende Werke, die ihre persönliche Lebenssituation, in einer Zeit, in der kranke Menschen von der Gesellschaft ausgeschlossen und verfolgt wurden, erahnen lassen. Und als würden sich die von ihr 1928 als Bildtitel gewählten „trüben Ahnungen“ erfüllen, wurde Ida Maly am 8. Februar 1941 schließlich gemeinsam mit 66 weiteren PatientInnen nach Hartheim transportiert und ermordet. „Kinder-Euthanasie“ Die Zentrale der „Kinder-Euthanasie“, der sogenannte „Reichsausschuss für erb- und anlagebedingte schwere Leiden“, hatte ihren Sitz ebenfalls in Berlin.92 Im Gegensatz zur „Aktion T4“, deren vorrangiges Ziel die Einsparung der Unterbringungskosten war, erhoben die Betei-

ligten hier den Anspruch, einerseits einen wissenschaftlichen Beitrag zur Erforschung von erb- und anlagebedingten Leiden zu leisten,93 andererseits aber auch dem vorherrschenden Utilitaritätsgedanken zu entsprechen und zum Nutzen der Gemeinschaft alle „unproduktiven“ und somit „gemeinschaftsunfähigen“ Kinder und Jugendlichen akribisch zu selektieren. In diesem Sinne waren die niedergelassenen Ärzte und Hebammen ab August 1939 aufgefordert, alle körperlich und geistig behinderten Kinder in ihrem Zuständigkeitsbereich den regionalen Gesundheitsämtern zu melden. In eigens entworfenen Meldebögen mussten sie neben allgemeinen sozialrelevanten Daten Angaben über den Gesundheitszustand der Kinder und die zu erwartende Prognose machen. Weiters war zu eruieren, ob und wie lange die Kinder bereits in ärztlicher oder Anstaltsbetreuung standen. Und schließlich sollte auch noch versucht werden, die Familienanamnese zu erheben. Um die Kinder intensiv beobachten, auf ihre Lern- und Leistungsfähigkeit überprüfen, selektieren und gegebenenfalls töten zu können, wurden im gesamten Reich sogenannte „Kinderfachabteilungen“ eingerichtet, von denen heute rund 30 bekannt sind.94 In Österreich gab es derartige „Kinderfachabteilungen“, die stets an bestehende Anstalten angegliedert wurden, in Wien, Graz und Klagenfurt.95 Die „Kinderfachabteilung“ am Grazer „Feldhof “ bildete im Gegensatz zu anderen Einrichtungen, wie etwa dem Pavillonsystem am „Spiegelgrund“ in Wien, strukturell keine eigenständige Abteilung:96 Vor allem jene Kinder, die als nicht bildungsfähig eingestuft wurden und darüber hinaus Verhaltensauffälligkeiten zeigten, wurden gemeinsam mit Erwachsenen auf Stationen in der Grazer Zentralanstalt untergebracht.97 Die schul- und bildungsfähigen Kinder waren dagegen in Außenstellen des „Feldhof “ untergebracht, wo sie von geistlichen Schwestern be-

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

treut und unterrichtet wurden. Die Schwestern mussten der ärztlichen Leitung jedoch regelmäßig Bericht über die Entwicklung der Kinder erstatten, wofür eigens entworfene Intelligenzund Geschicklichkeitstests durchgeführt wurden. Von Zeit zu Zeit wurden die Kinder darüber hinaus auch von Ärzten untersucht, vermessen, begutachtet und selektiert. An der Selektion der Kinder waren die Schwestern des Grazer „Feldhof “ jedenfalls beteiligt, wer die Tötung der Kinder vorgenommen hat, ist nicht restlos geklärt. Die Opferzahl der Kinder im Grazer „Feldhof “ beläuft sich auf 200 bis 300 Kinder und Jugendliche in den Jahren 1940 bis 1945. Wenngleich die schlechte Quellenlage eine restlose Klärung der Vorgänge im Rahmen der „Kinder-Euthanasie“ im „Feldhof “ nicht zulässt, zeigt die Vergleichszahl aus dem Jahr 1939, in dem nur zwei Kinder im „Feldhof “ verstarben, den rasanten Anstieg der Sterberate nach der Errichtung der „Kinderfachabteilung“ deutlich auf.

591

Phase der dezentralen Anstaltsmorde Der unerwartete Stopp der „Aktion T4“ im Sommer 1941 führte im „Feldhof “ zu einer Überlastung der Kapazitäten und einer rapiden Verschlechterung der allgemeinen Bedingungen in der Anstalt.98 Viele PatientInnen konnten nur auf Strohsäcken untergebracht werden, Ärzte und Pf legepersonal waren überlastet, die Seuchengefahr stieg und die ohnehin knapp bemessenen Lebensmittel mussten weiter rationiert werden. Der Anstieg der Todesrate in den Jahren 1942–1945 macht deutlich, dass auch Patient­ Innen des „Feldhof “ an Unterversorgung gestorben sind. Dass darüber hinaus auch gezielte Tötungen stattgefunden haben sollen, berichtet ein ehemaliger Arzt der Anstalt in seinem Tagebuch.99 Fest steht, dass die Akten der ab Jänner 1941 eingerichteten „Siechenabteilung“ Eintragungen über ärztliche Behandlung und pf legerische Betreuung der PatientInnen vermissen lassen und in der Folge viele von ihnen an Infektionen starben, sodass diese Station wohl nicht zu unrecht den Ruf einer „Sterbestation“ hatte.

Zusammenfassung Die nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik war darauf ausgerichtet, den gesamten Lebensraum der Menschen zu durchdringen. Eheschließung und Familienplanung sollten in einer antiindividualistisch-rassenhygienisch orientierten Gesellschaft nicht an persönliche Interessen oder Gefühle geknüpft sein, sondern stets den vorherrschenden Züchtungsutopien untergeordnet werden. Der schmale, oft willkürlich festgelegte Grat zwischen positiv

und negativ eugenischen Maßnahmen wurde dabei vielen Menschen zum Verhängnis. Angelockt von den neu geschaffenen Sozialleistungen wie Kinderbeihilfe oder Ehestandsdarlehen begaben sie sich in die Fänge des NS-Gesundheitswesens, aus dem es schließlich kein Entrinnen mehr gab. Ihre Vollstrecker fand diese Politik insbesondere in Amtsärzten und Psychiatern, die in dieser Zeit zu Richtern über Leben und Tod avancierten.

592

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

Anmerkungen 1

2

3 4 5

6

7 8

9 10

Mit dem Zitat „Wenn die Kraft zum Kampfe um die eigene Gesundheit nicht mehr vorhanden ist, endet das Recht zum Leben in dieser Welt des Kampfes“ brachte Adolf Hitler bereits 1920 die menschenverachtende Politik des Nationalsozialismus auf den Punkt. Siehe: Hitler, Mein Kampf 282. Dieser Beitrag wurde im Jahr 2007 abgeschlossen. Er stellt eine Zusammenführung einzelner Arbeiten der Verfasserin dar und soll erstmals das Gesamtausmaß der nationalsozialistischen Gesundheitsund Sozialpolitik in der Steiermark dokumentieren. Vgl. dazu: Poier, Vergast im Schloss Hartheim 86– 118; Poier, Aufgaben der steirischen AmtsärztInnen; Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark 29–32; Poier, „Erbbiologisch unerwünscht“ 177–224. Freidl/Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark. StLA, LReg. 200, E 1, 1941, 12. Polland, Psychische Hygiene 184f. Die ehemalige Anstalt „Am Feldhof “ war und ist die größte psychiatrische Einrichtung in der Steiermark. Nach mehrmaligem Namenwechsel nennt sie sich heute Landesnervenklinik Sigmund Freud (kurz LSF) Graz. Explizit wird spätestens 1942 über die tatsächlichen Vorgänge gesprochen. In einem Brief von Oskar Begusch an die Reichsstatthalterei heißt es ganz offen: Da die Hartheim-Transporte, die ja seinerseits zugesichert wurden und auf deren Fortsetzung die ganze Bettenplanung aufgebaut war, eingestellt sind [...], so ist für die Zukunft mit einem ungeheuren Überbelag zu rechnen. Es ergibt sich die unbedingte Notwendigkeit hierfür Abhilfe zu schaffen. (Brief vom 9. 2. 1942 der Direktion des „Feldhof “ an Gaukämmerer Heinrich Pagl. Der Brief liegt in der Anstaltsdirektion auf und der Verf. als Kopie vor.) Dass die Reichsstatthalterei bereits 1941 informiert war, ist jedoch sehr wahrscheinlich, zumal es bezüglich der Verrechnung der Pf legegebühren einen regelmäßigen Schriftverkehr mit der Anstalt Niedernhart gegeben haben muss. RGBl. I 1934, 531f. Einen Überblick über die Ziele der nationalsozialistischen Reform des Gesundheitswesens bietet Gütt, Auf bau des Gesundheitswesens. Labisch/Tennstedt, Gesundheitsamt 49. Zu den Schwierigkeiten bei der Umsetzung des Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens in Deutschland Vossen, Gesundheitsämter 204–262 (bes. 216ff.).

11

12 13

14

15 16 17 18 19

20 21

22

23 24 25

26 27

28

29 30

Ein Entwurf über die Gliederung der Reichsstatthalterei in der Steiermark findet sich in: StLA, ZGS, K. 204. StLA, ZGS, K 292, 1939–1945. Auf dem Gebiet der Untersteiermark kamen jedoch nur fünf Gesundheitsämter hinzu: Der Bezirk Luttenberg wurde dem Landkreis Radkersburg eingegliedert, Marburg-Stadt hatte kein eigenes Gesundheitsamt. Zur Zivilverwaltung in der Untersteiermark vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 127, 139ff. Vgl.: Dritte Durchführungsverordnung zum Gesetz über die Vereinheitlichung des Gesundheitswesens, RMinBl. 1935, Abschnitt XIV, § 51–54. Vgl. dazu: Nitschke, „Erbpolizei“. StLA, LReg. 200, H 31, 1943. StLA, LReg. 200, K 35, 1943. Gesetzblatt für das Land Österreich 1939, 4979ff. Bei Versagen des „Ehetauglichkeitszeugnisses“ hatten die Verlobten die Möglichkeit, die Erbgesundheitsgerichte (siehe unten) anzurufen, deren Beschluss schließlich endgültig war. Vgl. Erste Verordnung zur Durchführung des Ehegesundheitsgesetzes, RGBl. I 1935, 1419. Gesetzblatt für das Land Österreich 1939, 101. Dazu und zum Folgenden: Nitschke, „Erbpolizei“ 130ff. sowie Vossen, Gesundheitsämter 376ff. Reichsbürgergesetz vom 15. 9. 1935. RGBl. I 1935, 1146. Siehe dazu: Nitschke, „Erbpolizei“ 94ff. RGBl. I 1933, 323. Amtsärztliche Untersuchungen der Ehestandsdarlehenswerber (1938), 70–73. Gottschalk, Ehestandsdarlehen 142. Falk Ruttke verwehrte sich gegen diese Bezeichnung mit der Begründung, dass sie der wahren Bedeutung, die dem Gesetz zukäme, nicht Rechnung tragen würde. Durch die Bezeichnung „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ könnte dagegen allein schon über die Sprache die – dringend notwendige – Erziehungsarbeit in Erb- und Rassenpf lege geleistet werden. Ruttke, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 73f. Gütt/Rüdin, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 6 (Vorwort). Gesetzblatt für das Land Österreich 1939, 4953. Die Gesamtzahl der Opfer der NS-Sterilisationspolitik wird auf 300.000 bis 400.000 Menschen geschätzt, für Österreich wird von rund 5.000 bis 10.000 Opfern ausgegangen. Siehe: Bock, Zwangs-

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

31 32

33 34

35 36 37

38

39 40

41

42

43 44 45

46

47

48

sterilisation 424ff.; Malina/Neugebauer, NS-Gesundheitswesen 708. Vgl. dazu: Rüdin, Rassenhygiene 110f. Gemäß §§ 6 und 10, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Vgl. dazu: Nitschke, „Erbpolizei“ 112f. Siehe dazu: Gebhardt, Justiz in Graz 97–123 (bes. 107f.). StLA, LReg. 200, E 6, 1940, 32f. StLA, LReg. 200, E 6, 1940, 54–55. Die zuständigen Behörden hatten schon im Dezember 1938 beraten, welche Ärzte zur Durchführung der Sterilisation eingesetzt werden sollten. Vgl.: Der Minister für innere und kulturelle Angelegenheiten an die Landeshauptmannschaften, 5. 12. 1938. StLA, LReg. 200, E 1, 1941. Der Grazer Oberlandesgerichtspräsident Friedrich Meldt im sogenannten „Wahrnehmungsbericht“ von Juni 1940 an Reichsjustizminister Franz Gürtner. In: StLA, OLG Präsidiale Lageberichte 28, 1940–1944. StLA, LReg. 200, E 1, 1941, 132ff. Meldt im „Wahrnehmungsbericht“ von Sept. 1941 an Staatssekretär Franz Schlegelberger in Berlin. In: StLA, OLG Präsidiale Lageberichte 28, 1940– 1944. Meldt im „Wahrnehmungsbericht“ von Juli 1942 an Staatssekretär Schlegelberger in Berlin. In: StLA, OLG Präsidiale Lageberichte 28, 1940–1944. Meldt im „Bericht über die allgemeine Lage im Bezirk“ von Nov. 1942 an Georg Thierack in Berlin. In: StLA, Präsidiale Lageberichte 28, 1940–1944. Weinert, Biologische Grundlagen 136f. StLA, BH Voitsberg, Gr. 12, 1940. Runderlass der Reichsstatthalterei in der Steiermark (gez. Strenger) vom 11. 12. 1940. In: StLA, LReg. 200, E 1, 1941, 129. Schreiben Herbert Lindens an Josef H. vom 6. 6. 1942. In: StLA, LReg. 200, A–Z, 1940, 63. Die Schwangerschaftsunterbrechung durfte bis zum Ende des sechsten Schwangerschaftsmonats durchgeführt werden. Von einer geplanten Regelung, derzufolge die Schwangerschaftsunterbrechung auch gegen den Willen der Frau hätte vorgenommen werden können, sah man wieder ab. Man suggerierte den Frauen aber, dass man die Abtreibung zu ihrem Wohle durchführen würde, um ihnen die Härte, ein erbkrankes Kind austragen zu müssen, ersparen zu können. Vgl. dazu: Hennig, Zwangssterilisation 115. Der Reichsstatthalter in der Steiermark (gez. Reg.Präs. Müller-Haccius) an die betreffenden Anstalten und Ärzte. In: StLA, LReg. 191, Fh 19, 1941.

49

50

51

52 53

54

55 56

57 58

59

60

61

593

Der Reichsstatthalter in der Steiermark (gez. Strenger) an Ehrhardt und Leb. In: StLA, LReg. 200, E 1, 1941. Diese Vorgehensweise ist in einigen Krankengeschichten dokumentiert. In: Anstaltsarchiv der Landesnervenklinik Sigmund Freud (LSF) Graz, wie der ehemalige „Feldhof “ heute heißt. Gütt/Rüdin geben Empfehlungen zur Wahl der Methode bei der Unfruchtbarmachung, aber auch bei der Schwangerschaftsunterbrechung ab: Gütt/ Rüdin, Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 319–343. StLA, LReg. 200, E 1, 1941, 106. Einige Operationsberichte der Grazer Universitätsfrauenklinik sind im Anstaltsarchiv der LSF Graz erhalten. Eine Dissertation der Verfasserin zum Thema NSEuthanasie und Zwangssterilisation in der Steiermark ist in Arbeit. StLA, LReg. 200, E 1, 1941, 302. Diese Zahlen wurden aus den obligaten Monatsberichten der Gesundheitsämter entnommen. StLA, LReg. 200, E 1, 1941. StLA, LReg. 200, S 10, 1943. Zur „Aktion T4“ sind in der letzten Zeit zahlreiche Publikationen erschienen. Zu den Standardwerken zählen: Aly, Aktion T4; Friedlander, Weg zum NS-Genozid]; Klee, „Euthanasie“; Schmuhl, Rassenhygiene. Zur „Reichsausschuss-Aktion“ siehe außerdem Roer, „Lebens-unwert“ 107ff. Begriffe wie „Ballastexistenzen“ und „lebensunwertes Leben“ wurden ab den 1920er Jahren salonfähig und führten zu einer verbalen Radikalisierung im rassenhygienischen Diskurs. Dabei ermöglichten nicht zuletzt die Weltkriegserfahrungen, dass offen über die Ausgrenzung von Behinderten und psychisch Kranken nachgedacht wurde. Einige gingen sogar soweit, Kosten-Nutzen-Rechnungen für die Gesellschaft anzustellen und die Tötung dieser Menschen zum Wohl der Gemeinschaft zu fordern. Das wohl bedeutendste Werk für die EuthanasieDebatte in den 1920er Jahren ist Bindung/Hoche, Freigabe der Vernichtung. Die „Aufartung der Rasse“ durch positiv (Förderung der „Tüchtigen“) und negativ (Maßnahmen gegen die Vermehrung der „Untauglichen“) eugenische Maßnahmen war das erklärte Ziel der Rassenhygieniker, die den sozialpolitischen Diskurs in Deutschland ab den 1880er Jahren dominierten. Zu den bedeutendsten Rassenhygienikern in Deutschland zählten Alfred Ploetz, Wilhelm Schallmayer, Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz.

594 62 63 64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

Vgl. dazu: Hödl, Rassenhygiene 136–157. Siehe dazu: Klee, „Euthanasie“ 82f. Zur Planungsphase siehe auch Godau-Schüttke, Heyde/Sawade-Affäre 33; Schmuhl, Rassenhygiene 191. Zur Rekrutierung des Personals vgl. bes. Klee, „Euthanasie“ 166–174. Siehe auch: Greve, Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 33–41. Zur Auswahl der Anstalten Greve, Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 22. Eine gute Übersicht über Art und Standort der einzelnen Anstalten bietet Klee, Dokumente zur „Euthanasie“ 2f. Zu Hartheim und den anderen „Euthanasie“-Anstalten Friedlander, Weg zum NS-Genozid 156– 163. U. a. abgedruckt in: Die „Aktion T4“ – Modell des Massenmordes. In: Aly, Aktion T4, 14. Hitler hat den Erlass eines Gesetzes stets mit der Begründung, dass ein solches Gesetz zu viel Aufsehen erregen würde, abgelehnt. Um die Mitarbeiter zu beruhigen – und zum Teil wohl auch aus Überzeugung – stellte er die Legalisierung der „Euthanasie“ für die Zeit nach dem „Endsieg“ in Aussicht. Zu den Debatten über den Erlass eines „Euthanasiegesetzes“: Dressen, „Euthanasie“ 31; Klee, Dokumente zur „Euthanasie“ 86–91. Neben dem Ermächtigungserlass diente den Beteiligten an den „Euthanasie-Aktionen“ vor allem die 1920 erschienene Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form“ als Rechtfertigung. U. a. berief sich der Leiter der Büroabteilung in der „T4“-Zentrale, Gerhard Bohne, in seiner Aussage vom 7. 10. 1959 (Kriminalhauptstelle AZ. II D1/159/Ba) auf diese Schrift. BArch Berlin R178 EVZ I/16A2, 158– 159. Meldebogen und Merkblatt in Klee, Dokumente zur „Euthanasie“ 95f. Die Ärzte dieser Kommissionen waren lediglich daran interessiert, ihre Arbeit möglichst rasch zu erledigen. Vgl. Dressen, „Euthanasie“ 39–41. Die Arbeit einer solchen Kommission in der Anstalt Bedburg-Hau schildert Ilse Linden, die dabei als Schreibkraft tätig war. Aussage vom 8. 9. 1960 im Verfahren Js 17/59 GstA Ffm: BArch Berlin R 178 EVZ I 1A8, 3–5. Vgl. u. a. Kohl, Georg Renno 130–153; Hinterhuber, Ermordet und vergessen, 108. Zum Melde- und Begutachtungsverfahren vgl. u. a. Greve, Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 44f. Es existieren zwei interne Gutachterlisten der „T4“:

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

BArch Berlin R 96 I/1, 127890–127891 und 127892–127893. In einigen der Krankenakten, die in Berlin archiviert sind, findet sich mit blauem Farbstift eine Nummer der Z-Kartei (u. a. Z 138.379, Z 138.382). Unter Berücksichtigung der übrigen Eintragungen lässt dies den Schluss zu, dass Mitte 1940 bereits 140.000 Menschen von der „T4“ erfasst worden waren. BArch Berlin R 179, 19840 und 19841. Die Abschrift eines „Umdruck betreffend die Verlegung von Geisteskranken“ findet sich in Klee, „Euthanasie“ 127. Nach der Aussage von Georg Renno am 5. 2. 1965 vor dem Landesgericht Frankfurt am Main ( Js 18/61). Zit. in: Neugebauer, Psychiatrie in Österreich 21. Über die Aufgabe des Arztes im sogenannten Aufnahmezimmer berichtet der „Euthanasie-Arzt“ Bodo Gorgaß, dass die Untersuchung nur 1–2 Minuten gedauert hat. In dieser Zeit wurden lediglich die Angaben in den Krankenakten mit den Meldebögen verglichen. Eine Untersuchung fand dabei nicht statt. Aussage vom 7. 2. 1947 (4a Js 25/46 GstA Ffm): BArch Berlin R 178 EVZ I 17A4, 264. Ein Auszug über die Blutvergiftung findet sich in Klee, „Euthanasie“ 152f. Eine Schilderung des Prozedere in Hartheim findet sich in Klee, „Euthanasie“ 138. Vgl. auch: Schilter, Unmenschliches Ermessen 71–84. Dies zeigten die Gespräche der Verf. mit Angehörigen der Opfer. Zur Zahl der deutschen Totenscheine ist bekannt, dass bei 81 von 521 in der Neuen Steirischen Zeitung angeführten PatientInnen Urne und Totenschein nicht aus Hartheim, sondern Bernburg (11), Brandenburg (25), Grafeneck (17), Hadamar (15) und Sonnenstein (13) entsandt worden waren. Siehe dazu: Neue Steirische Zeitung (22., 23. und 27. 6. 1945), jeweils Seite 2. Abschrift der Predigt in Denzler/Fabricius, Christen und Nationalsozialisten, Dokument 26, 330– 340. Übersichtstabelle zu den „Euthanasie-Anstalten“ in Klee, Dokumente zur „Euthanasie“ 232f. Bei der Erstveröffentlichung der Zahlen im Jahr 2000 belief sich der Kenntnisstand auf weniger als 1.200 namentlich erfasste Opfer. Es bleibt daher das Ziel der Verf., durch weitere Recherchen sowie den direkten Kontakt zu betroffenen Angehörigen möglichst vielen Opfern wieder „ein Gesicht zu verleihen“. Der Suchmodus orientierte sich am Auf bau der Rapportbücher. Voraussetzung für die Erfassung war dabei insbesondere eine ordnungsgemäße Austragung durch die Anstalt. Ist eine Austragung mit

Poier / „Wenn das Recht zum Leben endet ...“

89

90

91

92

93

dem meist eingestempelten Bestimmungsort „Niedernhart/Linz“ nicht erfolgt, ist es der Verf. nur bei näherer Kenntnis eines Falles möglich, die entsprechenden PatientInnen dennoch erfassen zu können. Weiters wurde in Ermangelung besserer Quellen als Transportdatum jeweils das im Rapportbuch angegebene Entlassungsdatum angenommen. Eine zeitliche Versetzung der tatsächlichen Transporte um +/– einen Tag kann von der Verf. allerdings nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Neue Steirische Zeitung (22., 23. und 27. 6. 1945), jeweils Seite 2. Ein Bericht über die Selektion in Kindberg findet sich in der Mürztaler Volksstimme (30. 12. 1945). Zur Lebensgeschichte von Ida Maly vgl. den Beitrag von Anna Lehninger zur Ausstellung „Wiedergefundene Lebensgeschichten von Grazer Opfern der Rassenhygiene“ in: Freidl/Poier, NS-Euthanasie in der Steiermark. Zur „Kindereuthanasie“ vgl. bes.: „Reichsausschusskinder“. Eine Dokumentation. In: Aly, Aktion T4, 121–135. Im Rahmen ihrer Forschungen führten sie einerseits zahlreiche Versuche an den Kindern durch, andererseits wurden deren Leichen seziert und besonders die Gehirne präpariert, um sie fortan als Anschau-

595

ungsmaterial an unterschiedliche Institutionen weitergeben zu können. Eine Auf listung der Zusammenarbeit zwischen Kinderfachabteilungen und Forschungseinrichtungen findet sich in: Scharsach, Ärzte der Nazis 97f. 94 Eine Karte über sämtliche „Euthanasie“-Anstalten findet sich in Klee, Dokumente zur „Euthanasie“ 2f. 95 Zur Geschichte des Wiener „Spiegelgrund“ siehe Dahl, Tötung behinderter Kinder 75–92. Über die „Kinderfachabteilung“ in Klagenfurt ist wenig bekannt; allgemein zur NS-Euthanasie in Kärnten siehe Stromberger, Ärzte 39–56. 96 Einen guten Einblick in die Strukturen der Grazer „Kinderfachabteilung“ liefert Oelschläger, „Kinderfachabteilung“ 124–133. 97 Der Grazer „Feldhof “ umfasste am 1. 8. 1939 insgesamt 2.000 Betten. Davon entfielen 1.480 auf die Zentralanstalt in Graz, 220 auf die Filiale in Messendorf, 150 auf jene in Kainbach und weitere 150 auf jene in Maria Lankowitz. Darüber hinaus hatte der ärztliche Direktor des „Feldhof “ auch die Leitung über das Pf legeheim Schwanberg mit 222 Betten inne. 98 Poier, „Euthanasie“ in der Steiermark. 99 StLA, Archiv Ernst Arlt 1/1 (Tagebuch).

Walter Brunner

Bomben auf die Steiermark Der Luftkrieg 1941/44 bis 1945*

Mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour und dem Kriegseintritt der USA war der Krieg Ende 1941 zum Weltkrieg geworden. Obwohl 1942 die Schlagkraft des deutschen Ostheeres schon eingeschränkt war, startete es eine große Offensive und begann Ende August den Kampf um Stalingrad. In Nordafrika stießen die deutschen Truppen bis El Alamein bei Kairo vor, doch wurden sie ab Oktober 1942 durch britische Truppen zurückgedrängt. Im November landeten Amerikaner und Briten in Marokko und Algerien. Durch die im November 1942 begonnene russische Offensive wurde die 6. deutsche Armee in Stalingrad eingekesselt und musste Ende Jänner bzw. Anfang Februar 1943 kapitulieren. Am 13. Mai 1943 kapitulierten die Achsenmächte in Nordafrika. Die letzte deutsche Großoffensive an der Ostfront scheiterte im Juli 1943 bei Kursk. Im Juli 1943 landeten die Alliierten auf Sizilien, womit sie eine Ausgangsbasis für den Einsatz von Langstreckenbombern besonders auf die Südf lanke des Deutschen Reiches hatten. Am 3. September 1943 landeten sie auf dem italienischen Festland; bald darauf kapitulierte Italien und erklärte Deutschland den Krieg. Am 1. November 1943 wurde die zweite Luftfront bestehend aus der 15th US Army Air Force und der 205. Group der RAF aufgestellt. Das sind die Rahmenbedingungen, unter denen sich der Luftkrieg auf Österreich und auch auf die Steiermark ereignete. Der

Bombenkrieg richtete sich nicht nur gegen militärische Ziele und Rüstungsbetriebe, sondern gezielt auch gegen die Zivilbevölkerung, um deren Durchhaltewillen zu brechen.1 Mit den Luftangriffen auf die damalige „Ostmark“ griff der Krieg auf das Hinterland und damit auch auf die Zivilbevölkerung über.2 Abgesehen von einem Einzelfall im April 1941 durch zwei jugoslawische Flugzeuge begann der Bombenkrieg gegen Österreich am Freitag, dem 13. August 1943, als Wiener Neustadt von Afrika aus von alliierten Bombern angef logen und bombardiert wurde.3 Der Reichsgau Steiermark war ein wichtiger Standort der Rüstungsproduktion im „Dritten Reich“, die im Rahmen der umfassenden „Wehrwirtschaft“ auf den Krieg ausgerichtet war.4 Mit Kriegsbeginn 1939 waren auch die gewerbliche Wirtschaft des Landes und die Landwirtschaft zur gelenkten Kriegswirtschaft geworden. Die Deutsche Luftwaffe sicherte sich auf dem Gebiet der Steiermark High-TechEndfertiger für ihre Produktionsbelange: Assmann in Leibnitz, Lübold in Wildon, Mörth, Steirer-Elektrobau, Steirerfunk, Treiber und Vaermag in Graz sowie ab 1941 Western in Cilli/Celje und die VDNM-Luftfahrtwerke in Marburg/Maribor. Die Rüstungsproduktionen dieser Werke gingen ausschließlich an die Luftwaffe. In Großbetrieben wie Steyr-DaimlerPuch in Graz, Böhler und Schoeller-Bleckmann

598

Brunner / Bomben auf die Steiermark

oder Alpine in der obersteirischen Mur–MürzLinie dagegen wurde vor allem für das Heer, aber auch für die Luftwaffe produziert. Für die Marine arbeiteten die Elin in Weiz, die Simmering-Graz-Pauker in Graz und die Maschinenfabrik Andritz. Den Höhepunkt erreichte die steirische Rüstungsindustrie in der Phase des „Totalen Krieges“ nach den Niederlagen an der Ostfront 1943/44, als die Steiermark Überf lugsgebiet und Bomberziel der alliierten Verbände wurde, die nach Einnahme Süditaliens insbesondere von Foggia aus starteten. Unter diesen Bedingungen wurden wichtige Fertigungsstätten der Rüstungsindustrie in geschützte Bunker und Höhlen verlegt.5 Die Steiermark war aber auch ein Verkehrsknoten im Südosten des Deutschen Reiches. Nach der Besetzung des vom Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) in Königreich Jugoslawien umbenannten Staates und der Angliederung der Untersteiermark verstärkte sich die Verbindungsfunktion der Steiermark nach dem Balkan und zum Hafen Triest/Tri­ este. Ab Kriegsbeginn 1939 wurde die Eisenbahnlinie für Truppen-, Umsiedler- und Kriegs-

gefangenentransporte eingesetzt. Auch die Telefonleitungen an die Kriegsfront im Südosten liefen über Graz.6 Rüstungsbetriebe, Eisenbahnlinien und Kommunikationseinrichtungen in der Steiermark im Dienste der Wehrmacht wurden ab 1944 zu Zielen der alliierten Luftangriffe, womit sie Truppen- und Materialtransporte und das Nachrichtenwesen zu stören bzw. zu zerstören trachteten.7 Der Höhepunkt der Rüstungsproduktion in der Steiermark fällt mit der Eröffnung der zweiten alliierten Luftfront am 13. August 1943 nach der Kapitulation der deutschen Truppen in Nordafrika und Landung der alliierten Truppen in Italien zusammen. Bisher durch die große Entfernung der feindlichen Flugbasen und durch die Alpen geschützt, wurde das Land nun von Süden her angegriffen.8 Die Steiermark wurde einerseits zum Überf luggebiet von Bomberverbänden nach St. Pölten, Wiener Neustadt, Linz oder Salzburg,9 aber auch die Rüstungsbetriebe um Graz und in der Mur–Mürz-Furche wurden zu Angriffszielen. Ab dem Frühjahr 1944 f logen fast täglich Hunderte alliierter Bomben über die Steiermark.10

Luftangriffe und Luftschutzmaßnahmen Durch rechtzeitige Organisation der notwendigen Luftschutzmaßnahmen sollte die Bevölkerung so weit als möglich vor Luftangriffen geschützt werden, nach erfolgten Angriffen den Opfern so rasch wie möglich Hilfe geboten und die Sachschäden behoben werden. Sowohl in Städten als auch in vielen Landgemeinden wurden Luftschutzgemeinschaften gebildet. Je nach Größe und Bedeutung unterschied man zwischen Luftschutzorten Erster, Zweiter und Dritter Ordnung. Luftschutzorte Erster Ordnung waren die Landeshauptstadt Graz und wichtige Industriestandorte wie Leoben, Bruck an der

Mur und Kapfenberg. Luftschutzorte Zweiter Ordnung waren in der Regel Städte mit dem Sitz einer Bezirkshauptmannschaft, und alle übrigen Orte bildeten die Luftschutzorte Dritter Ordnung. In Luftschutzorten Zweiter Ordnung war dem örtlichen Polizeiverwalter jeweils ein Offizier oder Meister der Schutzpolizei als Sachberater beigegeben, doch gab es in diesen Orten keine eigene Luftschutzpolizei wie in jenen der Ersten Ordnung. Der jeweilige Luftschutzleiter musste sich bei der Bergung von Bombenopfern sowie bei der Schadensbehebung auf kommunale Einrichtungen wie Feuerwehr,

Brunner / Bomben auf die Steiermark

Rettungsabteilung, technische Nothilfe, auf eigene Aufräumungstrupps, die Gendarmerie und die SA stützen. Ortspolizeiverwalter war jeweils der Bürgermeister. Selbstschutzkräfte wurden in Hausgemeinschaften zusammengezogen, bestehend aus Luftschutzwart, Hausfeuerwehr, Laienhelfern und Meldern. Gendarmerieposten und Gemeindewachen waren dem Bürgermeister als Luftschutzleiter unterstellt. Dieser war verpf lichtet, Personen- und Sachschäden nach Luftangriffen unverzüglich dem zuständigen Landrat (Bezirkshauptmann) zu melden. Über den Gendarmeriekreisführer wurden diese Meldungen an den Stabsoffizier der Schutzpolizei beim Reichsstatthalter weitergeleitet.11 Sowohl in Graz als auch in der übrigen Steiermark wurde erst ziemlich spät mit bau­ lichen Luftschutzmaßnahmen begonnen, wohl im Vertrauen auf die Beruhigungspropaganda der Reichsregierung, derzufolge alliierte Flugzeuge die Sperrzone im Westen nicht durchbrechen könnten und die Steiermark durch die Barriere der Alpen vor feindlichen Luftangriffen sicher sei – was in den ersten Kriegsjahren auch zutraf. Dann aber erfolgten die Luftangriffe wider alles Erwarten aus dem Süden von Stützpunkten in Süditalien aus. Trotz der langen Anf lugstrecken waren diese Bomber imstande, ausreichende Mengen an Bomben mitzuführen und bis in den Wiener Raum zu transportieren.12 Der Anf lug feindlicher Fliegerverbände wurde bereits in Italien und Jugoslawien von den deutschen Flugmeldestellen an die Kommandeure der Luftabwehr und Fliegerhorste gemeldet und damit die Alarmbereitschaft der Flakstellungen ausgelöst. Deutsche Jagdf lugzeuge wurden ebenfalls in Bereitschaft gebracht; sie konnten innerhalb von zehn Minuten die erforderliche Einsatzhöhe erreichen. Die feindlichen Kampfverbände f logen meistens in Geschwadern zu 81 bis 85 Flugzeugen ein; die Geschwader waren in drei Gruppen zu je 27

599

Flugzeugen gegliedert. Überf logen feindliche Flugzeuge den für Graz eingerichteten Warnkreis L 15, wurde Voralarm, beim Überf liegen des Alarmkreises L 10 Fliegeralarm gegeben. Die Bombenlast wurde in der Regel nicht auf einmal, sondern meistens in drei Anf lügen abgeworfen, um ein Hochschleudern der Flugzeuge durch die plötzliche Gewichtsverminderung zu verhindern; die Tragf lächen hätten diesem Druck nicht standhalten können. Meistens warfen die Flugzeuge je neun Bomben im Reihenwurf, sodass bei Geschwadern ein regelrechter Bombenteppich erzielt wurde. Für gewöhnlich wurden die Abwürfe so verteilt, dass zum Beispiel einer auf Graz, ein zweiter auf Bruck und ein dritter auf Leoben erfolgte; aber auch Bombenabwürfe am Rückf lug aus dem Wiener Raum waren üblich. Ein bis zwei Stunden nach der Bombardierung erschienen häufig Auf klärer, die die Bombenschäden fotografierten – als Unterlage für weitere Angriffe. In der Steiermark erfolgten gezielte Luftangriffe außer auf Graz auch noch auf Bahn-, Wehrmachts- und Industrieanlagen in Admont (Wehrmacht), Bruck an der Mur (Bahn und Rüstungsbetriebe), Eisenerz (Erzberg, ÖAMG), Zeltweg (Fliegerhorst, Natron-Papier-Industrie, Alpine), Kapfenberg (Edelstahlwerke Gebrüder Böhler & Co., Bahnanlagen), Knittelfeld (Bahnanlagen und -werkstätten, Austria Email Werke), Mürzzuschlag (Schoeller-Bleckmann Stahlwerke AG), Weiz (Elin AG), Trieben (Veitscher Magnesitwerke), Selzthal (Bahnhof ), Fürstenfeld (Tabakfabrik) und auf Eisenbahnbrücken. Da die Zielsicherheit der Bombenabwürfe nicht sehr groß war, wurden auch zahlreiche Wohngebäude getroffen, beschädigt und zerstört. Zum Abwurf kamen Bomben verschiedenen Typs im Gewicht zwischen 9 ½ und ca. 450 kg, und zwar als Splitterbomben, Sprengbomben oder Brandbomben. Sollten Bomben bei festen Zielen eine große Zerstörung anrichten,

600

Brunner / Bomben auf die Steiermark

mussten sie eine große Durchschlagskraft mit entsprechendem Gewicht besitzen und über eine Verzögerung der Detonation verfügen. Man stattete sie mit Zeit- oder Verzögerungszündern aus: Sie drangen mehrere Meter tief in Objekte ein, durchschlugen Dachstuhl und mehrere Stockwerke und explodierten erst dann – und sehr oft erst im Keller bzw. in Luftschutzkellern mit verheerender Wirkung für die Menschen, die dort Zuf lucht gesucht hatten. Bomben mit Aufschlagzündern verwendete man vor allem gegen Munitionslager, Eisenbahnanlagen, stehende Flugzeuge usw. Nicht eingesetzt wurden bei Luftangriffen auf steirische Ziele Phosphorbrandbomben oder Bomben mit chemischen Kampfstoffen. Um die Bevölkerung sowie zivile und militärische Objekte im Kriegsfall rechtzeitig vor Angriffen aus der Luft zu schützen, wurden in Österreich bereits 1933 die „Gemischte Luftschutzkommission“ und 1935 der „Österreichische Luftschutzbund“ als einziger auf österreichischem Staatsgebiet zugelassener Luftschutzverband gegründet, dessen Aufgabe es war, die Bevölkerung im Selbstschutz aufzuklären und auszubilden. Dafür stellte er geschultes Personal des Sicherheits- und Hilfsdienstes sowie des Entgiftungs- und Aufräumungsdienstes. Bereits vor dem „Anschluss“ wurden Verdunkelungs- und Luftschutzübungen durchgeführt.

Luftschutzbunker für 3000 Personen auf dem Gelände StLA der Puchwerke in Thondorf, 1943

Nach der Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich 1938 wurde der Reichsluftschutzbund eingeführt. Die Aufgeschlossenheit der Bevölkerung für diesen organisierten Luftschutz war anfangs ziemlich rege, nahm dann jedoch bis zum Kriegsausbruch mehr und mehr ab. So war auch für den behelfsmäßigen Luftschutzbau fast nichts geschehen. Das änderte sich erst wieder mit Kriegsausbruch, doch begann der Ausbau der Privatkeller zu geeigneten Luftschutzkellern nur zögernd. 1939 wurde auch in der Steiermark der gesetzlich verankerte Sicherheits- und Hilfsdienst (SHD) aktiviert, der später in „Luftschutzpolizei“ umbenannt wurde. In den Betrieben wurde ein eigener „Werksluftschutz“ organisiert. Die Anfangserfolge der deutschen Wehrmacht und die anfängliche Luftüberlegenheit der deutschen Luftwaffe bewirkten jedoch bald ein Nachlassen des Interesses der Bevölkerung an gezielten Luftschutzmaßnahmen, denn Österreich wurde sogar von offizieller Seite immer wieder als „Luftschutzkeller des Reiches“ bezeichnet, der von Natur aus bestens geschützt sei. Von staatlicher Seite wurden überdies keine oder nur geringe Mittel für den Ausbau der Keller zu Schutzräumen, für die Errichtung von Splitterschutzgräben, öffentlichen Schutzräumen, Luftschutzstollen und Luftschutzrettungsstellen sowie für die Anlegung von Löschwasserteichen zur Verfügung gestellt. Die vorgeschriebenen Mauerdurchbrüche zwischen benachbarten Kellern wurden nur unzureichend in Angriff genommen, denn es fehlte nicht nur an Interesse, sondern auch an Material und Arbeitskräften. Erst als die deutschen Armeen die ersten größeren Rückschläge zu verzeichnen hatten und die Vorherrschaft im Luftkrieg mehr und mehr verloren ging, wurde in Graz und in den größeren Städten des Landes mit der Errichtung von öffentlichen Luftschutzräumen, Deckungsgräben und Luftschutzstollen begonnen. Ab 1944 fehlten Material und Per-

Brunner / Bomben auf die Steiermark

sonal, sodass diese Arbeiten nur mehr schleppend fortgeführt werden konnten und durch die häufigen Luftangriffe immer wieder unterbrochen wurden. Trotzdem ist vor allem im Raum Graz beim Stollenbau noch Erstaunliches zuwege gebracht worden. Das weit verzweigte Stollensystem im Grazer Schlossberg bot während der Luftangriffe 1944 und 1945 an die 40.000 Menschen Schutz. Die Einhaltung der angeordneten Verdunkelungen wurde streng kontrolliert und vielfach auch genau eingehalten. Soweit Feuerwehrund Fabrikssirenen vorhanden waren, wurden sie zur Alarmierung der Bevölkerung bei drohenden Luftangriffen eingesetzt. Der Reichsluftschutzbund veranstaltete Luftschutzübungen, doch zeigte sich bald, dass die Stadtbevölkerung die Luftschutzverordnungen eher befolgte als jene am Land. Immer wieder hielten sich Leute nach dem Alarm weiterhin außerhalb der Luftschutzräume auf; nach der Entwarnung sammelten sich meistens Schaulustige an den Schadenstellen und behinderten damit den Einsatz der Luftschutzeinheiten. Außerhalb der Landeshauptstadt war der Luftschutzort Erster Ordnung Bruck an der Mur mit Kapfenberg besonders straff organisiert, was wegen der dort ansässigen großen Rüstungsbetriebe erforderlich schien. Örtlicher Luftschutzleiter war hier der Landrat von Bruck, der über eine Feuerwehr- und eine Einsatzbereitschaft mit vier schweren und vier leichten Löschzügen, eine Sanitätsbereitschaft mit vier Zügen sowie über je eine Rettungsstelle in Bruck und Kapfenberg verfügte. Die Warnzentrale befand sich im Rathaus von Bruck. Eine aktive Luftverteidigung funktionierte nur zu Beginn des Luftkrieges einigermaßen wirkungsvoll, fiel jedoch später weitgehend aus. Jagdf lugzeuge, Fliegerabwehrkanonen (Flak) und Luftsperren waren die wichtigsten Glieder der aktiven Luftverteidigung im Hinterland. Für die Steiermark standen jedoch nur bis 1944 ei-

601

gene Jagdf lugzeuge und auch diese nur in geringer Stärke zur Verfügung; sie waren auf den Fliegerhorsten Zeltweg, Wörschach und Wiener Neustadt stationiert. Während der schwersten Luftangriffe von Ende 1944 bis Kriegsende 1945 waren Graz und die übrige Steiermark praktisch ohne Jagdf liegerschutz, sodass feindliche Bomberverbände weitgehend ungehindert einf liegen konnten. Es fehlte jedoch nicht so sehr an Jagdf lugzeugen als vielmehr an Treibstoff. Als FlakHelfer waren hauptsächlich minderjährige Burschen eingesetzt.13 Die Flak-Artillerie hatte die Aufgabe, feindliche Flugzeuge zu vernichten oder sie zumindest bei der Durchführung von Auf klärungsf lügen und Bombardierungseinsetzen zu stören. Beim damaligen Stand der Mess- und Ortungstechnik war der Einsatzerfolg der Flak allerdings nicht sehr groß. Am erfolgreichsten war der Flakeinsatz gegen geschlossen f liegende Verbände in nicht allzu großer Höhe. Die Flakstellungen waren so eingerichtet, dass die Flugzeuge noch vor dem Erreichen der Wurfzone angegriffen werden konnten. Die Treffsicherheit wurde durch die Störung der elektrischen Funkmessgeräte sehr reduziert. Zu Beginn des Jugoslawienfeldzuges im Jahr 1941 stand eine schwere Batterie (8,8 cm-Flak) auf der Reininghauswiese südöstlich der Grazer Brauerei, eine weitere in Puntigam, eine in Gössendorf, je zwei 2-cm-Flak auf dem Dach der Waggonfabrik, auf dem Dach des Hochhauses und auf Hochständen am Köf lacher Bahnhof. Später kamen weitere dazu. Der zivile Luftschutz sollte die Bevölkerung gegen nicht zu verhindernde Angriffe aus der Luft schützen, Flugmelde- und Luftschutzwarndienst sollten das rechtzeitige Einsetzen von Luftschutzmaßnahmen ermöglichen. Eine Reihe von Organisationen des zivilen Luftschutzes wurden geschaffen: Sicherheits- und Hilfsdienst, Luftschutzpolizei, Werksluftschutz, Selbstschutz (Luftschutzwart, Hausfeuerwehr,

602

Brunner / Bomben auf die Steiermark

Einrichtung von Schutzräumen, Bildung von Sanitätskräften, Einteilung von Meldern). In Graz wurden 57 öffentliche Schutzräume (Luftschutzkeller) mit einem Gesamtfassungsvermögen von 10.000 Personen errichtet. Wie sich bald zeigten sollte, boten diese jedoch keinen wirksamen Schutz gegen schwere Bomben mit Verzögerungszünder. Am besten schützten bombensichere Luftschutzstollen, deren Bau in Graz zwar früh begonnen, aber mit fortschreitender Kriegsdauer wegen Finanzierungsschwierigkeiten und mangels Maschinen, Fahrzeugen und Arbeitern nur schleppend vorangetrieben wurde. Mit Nachdruck und auf breiter Ebene wurde der Bau von Luftschutzkellern, Splitterschutzwänden und Luftschutzstollen erst mit dem Einsetzen der Luftangriffe 1944 forciert. In Graz gab es bei Kriegsende 16 Luftschutzstollen und einen Luftschutzbunker (auf dem Gelände der Steyr-

Daimler-Puch AG in Thondorf ) für zusammen 65.000 Personen. Nach erlittenen Bombenangriffen sollten so rasch wie möglich die Toten geborgen, die Verwundeten betreut, Brände gelöscht, Schäden an Wasserleitungen, am Stromnetz und an der Kanalisation behoben sowie die Beeinträchtigungen des Schienen- und Straßenverkehrs beseitigt werden. Dafür zuständig war eine Reihe von Organisation im Rahmen des zivilen Luftschutzes: die Rettungshauptwache des Roten Kreuzes, die Luftschutzpolizei mit dem Sicherheitsund Hilfsdienst, der Feuerlösch- und Entgiftungsdienst, der Gasabwehrdienst, der Instandsetzungsdienst, der Luftschutzsanitätsdienst, Fachtrupps, Lotsen, Technische Nothilfe, ErgI-Dienst, die Feuerschutzpolizei, Auffangstellen und Obdachlosenbetreuung und Sprengkommandos.

Bombenangriffe, Bombenopfer und Kriegsschäden in Graz Der erste Bombenabwurf auf Graz – und auch auf Österreich – am 6. April 1941 (Palmsonntag) war ein Einzelfall, auf den der nächste erst am 25. Februar 1944 folgte. In den Morgenstunden des 6. April 1941 hatten deutsche Truppen mit dem Angriff auf Jugoslawien, und zwar mit intensiven Luftangriffen, begonnen, und man rechnete in Graz wegen der nahen Grenze sehr wohl mit jugoslawischen Fliegerangriffen als Gegenschlag. Es war ein schöner, sonniger Frühlingstag, an dem sich ein Großteil der Grazer Bevölkerung in der Umgebung der Stadt auf hielt. Zwei Minuten vor 16 Uhr drangen zwei getrennt operierende jugoslawische Flugzeuge in das Reichsgebiet ein: Die zwei ­Maschinen des deutschen Flugzeugtyps ME 109 hatten sich einem von der Bombardierung ­Belgrads/Beograds zurückkehrenden deutschen

Bomberverband unbemerkt angeschlossen. Erst kurz bevor sie das Gebiet von Groß-Graz erreicht hatten, wurden sie von der auf dem Grazer Feld aufgestellten Fliegerabwehr beschossen, ohne jedoch getroffen zu werden. Eines der beiden Flugzeuge f log über die Waggonfabrik der Simmering-Graz-Pauker AG den Hauptbahnhof an und warf drei Bomben in der Asperngasse ab, die Gebäudeschäden verursachten.14 Das in der Nähe der Einschlagstelle gehende 13-jährige Mädchen Maria Schottner wurde von Sprengsplittern am Unterkörper getroffen und starb nach der Einlieferung im Landeskrankenhaus. Das zweite jugoslawische Flugzeug f log in geringer Höhe über die Ries und warf in der Nähe des Landeskrankenhauses eine Splitterbombe, f log dann weiter über die Keplerbrücke in Richtung Hauptbahnhof und

Brunner / Bomben auf die Steiermark

warf dort drei Bomben auf die kaufmännische Großeinkaufgenossenschaft am Bahnhofgürtel.15 Die Jugoslawen wollten dabei den deutschen Nachschub während der Operation „Marita“, dem Angriff gegen Jugoslawien und später Griechenland, behindern. 60 Waggons mit Lebensmitteln wurden zerstört.16 Im September 1943 erfolgte ein kleiner Angriff der 9. US-Luftf lotte auf den Flughafen Klagenfurt, im Oktober 1943 fanden zwei ­weitere Angriffe auf Wiener Neustadt statt. Am 1. Oktober stießen die Alliierten auf starke Jagd- und Flakabwehr und mussten den Verlust von zwölf Maschinen und teils schwere Schäden an 52 weiteren Flugzeugen zur Kenntnis nehmen. Am 24. Oktober 1943 griffen 111 Bomber abermals Wiener Neustadt an, waren jedoch an gezielten Bombenabwürfen durch eine dicke Wolkendecke behindert. Am 2. November 1943 erfolgte der nächste schwere Bombenangriff auf die Stadt, als in Tunis gestartete Bomber 327 Tonnen Bomben abwarfen.17 Am 15. Dezember

603

1943 waren die Bahnanlagen von Innsbruck Angriffsziel; es waren 281 Tote zu beklagen.18 Der erste Luftangriff durch alliierte Verbände auf Graz erfolgte am 25. Februar 1944 und forderte zehn Tote und erhebliche Gebäudeschäden in der Puntigamerstraße, Straßgangerstraße und am Thalerhof. Der Luftangriff am 19. März 1944 richtete sich vor allem auf Wohngebiete, nachdem der aus Richtung Kärnten anf liegende Verband im Koralpengebiet und in der Weststeiermark von der Jagdabwehr der deutschen Luftwaffe in schwere Luftkämpfe verwickelt worden war. Zwischen 13.59 und 14.10 Uhr überf log ein Verband von 60 bis 80 Flugzeugen das Stadtgebiet in ca. 4.000 Meter Höhe und warf 280 Sprengbomben ab. Betroffen war vor allem ein Geländestreifen von der SS- und Jägerkaserne in Wetzelsdorf bis zum St. Peter-Stadtfriedhof und Petersbergen. Die Folgen des Angriffes: 20 Tote, 40 Verletzte, 310 Obdachlose, 54 Häuser mit 1.572 Personen evakuiert, 23 Gebäude zerstört.

Bergung von Gütern vor dem Haus Conrad-von-Hötzendorf-Straße Nr. 55 in Graz nach einem Bombenangriff, StLA 19. März 1944

604

Brunner / Bomben auf die Steiermark

Den schwersten Luftangriff mit 382 Toten erlebte Graz am 1. November 1944: Um 11.43 wurde Fliegeralarm gegeben, um 14.57 Uhr Entwarnung. Die Bomben waren über das ganze Stadtgebiet verteilt; man konnte kein eigentliches Angriffsziel erkennen. Die Angriffe erfolgten in zehn Wellen in Abständen von fünf bis acht Minuten, wobei an jeder Angriffswelle zwischen fünf und dreißig Flugzeuge beteiligt waren. Insgesamt haben an diesem Tag 220 bis 250 Flugzeuge die Stadt angegriffen. Das Hauptangriffsziel lag im Abschnitt Ost am linken Murufer im Bereich der Inneren Stadt und um das Schillerplatzviertel, am rechten Murufer im Bereich Gries, Keplerstraße, Lend und Gösting. Die meisten Toten wurden in folgenden Häusern verzeichnet: 101 im öffentlichen Luftschutzraum Feuerbachgasse 26 und 32, 101 im Städtischen Altersheim, 29 im Luftschutzraum Keplerstraße 111 für Bahnreisende und 21 in der Burggasse Nr. 13 (Handelskammer). Bei 37 Tag- und fünf Nachtangriffen wurden bei den Luftschutzstellen insgesamt 1.770 bzw. 1.788 Tote und 1.458 Verwundete registriert. Dass die tatsächliche Zahl der durch die Luftangriffe auf Graz ums Leben gekommenen bzw. verwundeten Personen etwas höher liegt, ist bekannt, denn einerseits sind manche Verwundete außerhalb von Graz gestorben bzw. nicht alle Betroffenen haben sich bei den offiziellen Stellen gemeldet. Von den 1.770 Toten waren 1.536 Inländer und 234 Ausländer. ­Weiters weist die Statistik unter diesen 513 Männer, 739 Frauen, 131 Kinder, 141 Wehrmachtsangehörige und zwölf Angehörige der Polizei aus. Von den Ausländern waren 166 Männer, 49 Frauen, elf Kinder und acht Kriegsgefangene. Wie ungenügend die Sicherheit von Leben und Gesundheit in den Luftschutzkellern war, zeigt die Statistik: 1.104 Personen wurden innerhalb von Luftschutzräumen und 666 außerhalb – in Wohnungen oder im Freien – getötet.

Die meisten Opfer forderte der Bombenangriff am 1. November 1944, nämlich 382 Personen, darunter 101 Personen durch einen Volltreffer im öffentlichen Luftschutzraum in der Feuerbachgasse 26/32 und 50 Pf leglinge im Krankenhaus des Städtischen Altersheimes. Beim Luftangriff am 1. Dezember 1944 starben 102 Menschen, am 19. Februar 1945 165 Personen, darunter 107 Häftlinge der Strafanstalt Karlau, die in den Gefängniszellen geblieben waren. Beim letzten Großangriff auf Graz am Ostermontag, das war der 2. April 1945, starben 95 Personen. Beim Angriff auf Thondorf am 26. Juli 1944 fanden im Lager Murfeld 88 Personen, die eben beim Mittagessen saßen, durch Kleinsplitterbomben den Tod, 268 wurden verwundet.19 Im Laufe des Luftkrieges wurden auf Graz insgesamt 16.550 Sprengbomben im Gesamtgewicht von 3,700.000 kg abgeworfen. Dass bei den Tagesangriffen im Verhältnis zur abgeworfenen Bombenmenge um die Hälfte weniger Menschen ums Leben gekommen sind als bei Nachtangriffen ist damit zu erklären, dass am Tag fast immer die Bahnanlagen Ziel waren und die umliegenden Wohnungen von der Bevölkerung rechtzeitig verlassen werden konnten; die Nachtangriffe dagegen waren meistens auf Wohngebiete gerichtet, wo sich die meisten Menschen in den ungenügenden Luftschutzräumen auf hielten. Vermutlich waren die Nachtangriffe auf Wohngebiete nicht absichtlich erfolgt, sondern sind mit den Schwierigkeiten der Zielerkennung in der Dunkelheit zu erklären. Im Vergleich zu vielen Städten des „Altreiches“ war der Prozentsatz der Bombentoten in Graz im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung merklich geringer – trotz der mehr als 50 Luftangriffe betrug er 0,77 Prozent der Bevölkerung.20 Durch Fliegerangriffe wurden in Graz 7.773 Gebäude zerstört bzw. beschädigt, 8.999 Wohnungen unbenützbar gemacht und 11.065 Wohnungen beschädigt¸ das sind immerhin 45 Pro-

Brunner / Bomben auf die Steiermark

zent aller Gebäude. Im Straßenkanalsystem entstanden 304, in der Hausentwässerung 500 Schadenstellen. Die Elektrizitätsversorgung war ebenfalls schwer in Mitleidenschaft gezogen. Besonders groß waren die Schäden an den Hochbauten der Österreichischen Bundesbahnen im Bereich des Verschiebebahnhofes, des Hauptbahnhofes, des Frachtenbahnhofes und am Ostbahnhof sowohl an Gebäuden als auch am rollenden Material. Bei Wehrmachtseinrichtungen wurden zehn Kasernen, 14 Verpf legsmagazine, fünf weitere Gebäude und eine Anzahl heereseigener Wohnhäuser zerstört bzw. beschädigt. In Graz waren vor allem die Wohngebiete entlang des Verschiebe-, Haupt- und Aufstell-

605

bahnhofes am schwersten betroffen, vor allem das Gebiet der Wiener Straße vom Bachwirt bis zum Kalvariengürtel. Von 181 Objekten der oberen Wiener Straße und ihrer näheren Umgebung sind nur 19 unbeschädigt geblieben. Neben den Bahnanlagen waren in Graz vor allem die Rüstungsbetriebe Ziel vieler Luftangriffe. Im Werk Steyr-Daimler-Puch (Werk I und Werk II) wurden Bestandteile für Flugzeuge produziert. Bereits 1943 war ein Teil der Produktion in den Römersteinbruch von Af lenz bei Leibnitz verlegt worden, wo auch Insassen des Zivil- und des KZ-Außenlagers Af lenz eingesetzt wurden; mit der Häufung der Luftangriffe ab 1944 wurden weitere Produktionen in bombensichere Stollen verlegt.

Bombenangriffe, Bombentote und Bombenschäden außerhalb der Landeshauptstadt Eine knappe Stunde nach der Kriegserklärung der Deutschen Reichsregierung an das Königreich Jugoslawien am 6. April 1941 warf ein jugoslawisches Flugzeug um 6.45 Uhr vier Sprengbomben zu je 90 kg auf Pichla in der Gemeinde Großfeiting (Bezirk Leibnitz) ab, wobei ein Bauernhaus leicht beschädigt wurde. Ein anderes jugoslawisches Flugzeug warf ­während seines Angriffsf luges auf Graz um ca. 16 Uhr vier 90-kg-Bomben auf Lödersdorf im Bezirk Feldbach ab; die Bomben detonierten jedoch nicht.21 Am folgenden Tag warf ein aus Südwesten einf liegendes jugoslawisches Flugzeug gegen 7 Uhr eine 90-kg-Bombe auf Deutschlandsberg ab, wobei lediglich geringe Dach- und Flurschäden entstanden. Das waren die einzigen Luftangriffe der Jugoslawen auf die Steiermark, in der bis 1944 nur vereinzelte Bombenabwürfe zu verzeichnen sind. Der intensive Bombenkrieg sollte erst gegen Kriegsende in aller Heftigkeit einsetzen.22

Auch außerhalb der Landeshauptstadt waren bereits 1942 vereinzelt Flak-Geschütze in Stellung gebracht worden, die anlässlich von Überf lügen feindlicher Flugzeuge in Aktion traten. So wurde am 2. November 1942 ein aus Richtung Norden kommendes viermotoriges Flugzeug von der Flak abgeschossen und stürzte bei Prebuch im Bezirk Weiz ab; alle neun Besatzungsmitglieder fanden den Tod und wurden am Ortsfriedhof vom St. Ruprecht an der Raab beerdigt. Am 4. März 1943 wurde im Gebiet von Übelbach Brandblättchen und Brandf laschen abgeworfen. Am 19. März 1943 waren amerikanische Flugzeuge im Gemeindegebiet von Oberfahrenbach (Bezirk Leibnitz) sechs Bomben ab, die an Gebäuden leichte Schäden anrichteten. Auch die folgenden vereinzelten Bombenabwürfe verursachten keine nennenswerten Schäden, so beispielsweise am Palmsonntag 1943 – das war der 18. April –, als aus einem Verband von etwa 100 RAF-Bombern

606

Brunner / Bomben auf die Steiermark

(Royal Air Force) fünf mittelschwere Bomben auf Weideland auf der Pack abgeworfen wurden.23 In der zweiten Jahreshälfte nahmen die aus südlicher Richtung erfolgten Überf lüge alliierter Verbände mit Angriffsziel Wiener Neustadt und Wien merklich zu, ohne dass bewusst auf steirisches Gebiet Bomben abgeworfen worden wären, von Einzelfällen abgesehen. Wohl aber wurden feindliche Flugzeuge abgeschossen, so am 1. Oktober 1943, als ein beim Angriff auf Wiener Neustadt angeschossenes amerikanisches Flugzeug auf dem Rückf lug im Gebiet der Ortsgemeinde Naintsch im Bezirk Weiz abstürzte und beim Aufprall verbrannte. Ein Mitglied der Besatzung konnte sich mit dem Fallschirm retten, neun weitere fanden den Tod; sie wurden im Friedhof von Heilbrunn beigesetzt.24 Häufig wurden von Flugzeugen, die nach Angriffen im Raum Wiener Neustadt zurück zu

Auf Lödersdorf bei Feldbach abgeworfene jugoslawische StLA Fliegerbomben (Blindgänger), April 1941

ihrer Basis in Süditalien f logen, Bomben abgeworfen, um die Last zu verringern und Treibstoff zu sparen. Durch solche „Notabwürfe“ auf in der Regel nicht oder nur wenig besiedeltes Gebiet wurden meistens nur geringe Schäden verursacht, gelegentlich aber auch Personen verwundet. Massierte Bombenabwürfe auf steirisches Gebiet verzeichnete man am 22. Februar 1944, unter anderem auf Oed in der Gemeinde Hartmannsdorf bei Gleisdorf; das Anwesen Kirchenviertel 29 bei Ratten wurde total zerstört, eine Person (Theresia Pusterhofer) starb an den Folgen der erlittenen Verletzungen. Um 14 Uhr stürzte ein angeschossenes amerikanisches Flugzeug im Dorf Rossegg in der Gemeinde Koglhof auf ein Wohn- und Wirtschaftsgebäude und zerstörte es. Um die Mittagszeit sprangen aus einem angeschossenen Bomber elf Besatzungsmitglieder über dem Gemeindegebiet von Semriach mit Fallschirm ab und wurden gefangen genommen; das Flugzeug zerschellte am Hochtrötsch und brannte aus. Ab Ende Februar häuften sich die Notabwürfe, allmählich aber auch gezielte Angriffe und Abschüsse. Am 25. Februar 1944 wurden eine halbe Stunde vor Mittag von einem aus rund 100 Flugzeugen umfassenden, aus Süden einf liegenden Bomberverband 101 Sprengbomben zu je 250 kg auf Oberpremstätten abgeworfen; im Verlaufe von Luftkämpfen stürzten zwei US-Bomber und zwei deutsche Jagdf lugzeuge ab. Fünf Minuten nach zwölf griff ein aus Graz kommender Verband von 24 US-Bombern den Flughafen Thalerhof an und warf rund 100 Bomben ab, wobei das dortige Kino, die Tankanlage und die Werkstätten zur Gänze zerstört, drei Flugzeughallen, ein Motorenwerk und vier Wohnhäuser beschädigt wurden. Vier Wehrmachtsangehörige fanden den Tod. Auch andere steirische Orte hatten an diesem Tag Bombenabwürfe und Flugzeugabstürze zu verzeichnen, so beispielsweise Trahütten, wo von zehn

Brunner / Bomben auf die Steiermark

Besatzungsmitgliedern eines abgeschossenen alliierten Bombers sieben durch die Explosion beim Aufprall des Flugzeuges den Tod fanden, die drei übrigen aus dem Flugzeug geschleuderten Männer wurden 500 Meter von der Absturzstelle entfernt tot aufgefunden. Bei einem Angriff auf den Bahnhof in Gröbming am 14. März 1944 wurden Otto Kar und Werner Ulbrich getötet. Als am 2. April 1944 auf Gobernitz in der Gemeinde St. Margarethen bei Knittelfeld 30 Sprengbomben zu 250 kg abgeworfen wurden, waren fünf Wohnhäuser zerstört und neun weitere beschädigt; sechs Personen hatten den Tod gefunden. Am 2. April 1944 kam es im Koralmgebiet im Luftraum über Osterwitz zu einem Luftkampf zwischen amerikanischen Bombern und deutschen Jägern – zwei amerikanische Flugzeuge wurden in Brand geschossen und stürzten ab, wobei alle Besatzungsmitglieder den Tod fanden. Auch zwei deutsche Jagdf lugzeuge stürzten ab, beide Piloten starben. Beim Luftangriff auf die Eisenwarenfabrik Lapp-Finze AG in Kalsdorf am 24. Mai 1944 fanden neun Personen den Tod. Soweit einige Beispiele des Luftkrieges auf steirischem Gebiet, stellvertretend für viele weitere Schäden und Opfer. Standorte der Rüstungswerke oder der ­Eisenbahntechnik waren vorrangiges Ziel der alliierten Luftangriffe auch außerhalb von Graz. Am schwersten wurden von den steirischen Städten Bruck an der Mur und Kapfenberg mit ihren Rüstungsbetrieben und Knittelfeld mit der großen Bahnwerkstätte aus der Luft angegriffen.25 Kapfenberg und Bruck erlebten acht Tag- und fünf Nachtangriffe, bei denen 56 Objekte total zerstört, 62 schwer, 102 mittelschwer und 457 leicht beschädigt wurden. 116 Personen fanden dabei den Tod, 23 in Bruck und 93 in Kapfenberg. Die Luftangriffe auf Bruck erfolgten am 27. Dezember 1944, sowie 1945 am 19. und 23. Februar, am 19. und 21. März und am 17. und 29. April. Kapfenberg erlitt folgende Luftangriffe: 6. November und 11. Dezember

607

Leiche eines durch Bombentreffer getöteten Arbeiters des Maschinenhauses am Grazer Hauptbahnhof, StLA 13. Oktober 1944

1944, 20. Februar, 8. und 31. März und 25. April 1945. Bei diesen Luftangriffen wurden vor allem Häuser in Bruck beschädigt, die in der Angriffslinie von West nach Ost lagen und zwar von der Flakstellung auf den Schneiderhofgründen im Ortsteil Berndorf über das Umspannwerk der STEWEAG zum Güterbahnhof Bruck. Die schwersten Bombenschäden erlitt Bruck im Zuge eines Angriffs auf die Flakstellung auf der Murinsel am 19. Februar 1945 und durch einen Notabwurf eines durch Flakbeschuss beschädigten Flugzeuges am 23. Februar 1945. Beim Nachtangriff auf Bruck am 19. März 1945 wurde eine schwere Katastrophe nur dadurch verhindert, dass der starke Westwind die Bomben vertrug, sodass diese erst einen Kilometer östlich der Stadt in Wald- und Wiesengebiet am Pischkberg und am Rennfeld niedergingen.26 Kapfenberg war wegen der dort befindlichen Rüstungs-Schwerindustrie mehrmals Ziel des „Krieges aus der Luft“ und verzeichnete viermal so viele Tote wie Bruck. Beim ersten Angriff auf Kapfenberg am 6. November 1944 wurden 185 Gebäude beschädigt und fünf total zerstört. An diesem Tag zählte man 13 Bombentote. Der Angriff galt den Böhlerwerken, der beim Werk VI in Deuchendorf aufgestellten Batterie schwerer Flak sowie der 200 Meter

608

Brunner / Bomben auf die Steiermark

vom Bahnhof entfernt gelegenen Heimatf lak. Am 11. Dezember 1944 griffen zwölf aus Osten anf liegende viermotorige amerikanische Bomber den Nordwestteil des Stadtgebietes von Kapfenberg an und warfen 90, nach einem Bericht der Fa. Gebrüder Böhler 145 mittelschwere Bomben, davon 22 mit Langzeitzündern, ab. Außer schweren Sachschäden an Wohnhäusern und Werksanlagen zählte man 34 Tote: neun Männer, acht Frauen, fünf Kinder und zwölf Ausländer. Beim Angriff auf den Güterbahnhof Diemlach am 19. Februar 1945 war besonders die Wohnsiedlung Quellengasse betroffen, die fast vollständig zerstört wurde; ganze Familien fanden dabei den Tod.27 Um die Mittagszeit des 17. November 1944 wurden auf das Hüttenwerk Donawitz der ­A lpine Montangesellschaft 53 Bomben zu 250 kg geworfen und richteten schwere Schäden an den Werksanlagen an; 21 mit dem Abstich beim Martinofen beschäftigte Arbeiter fanden den Tod.28 Ab Dezember 1944 wurden fast täglich Bomben abgeworfen. Beim Angriff auf Niklasdorf am 28. Dezember 1944 wurden Werksanlagen zerstört, vier Männer getötet und sechs weitere Personen verletzt. Am 23. Februar 1945 erfolgte zwischen 13.00 und 14.06 Uhr auf Knittelfeld der schwerste Bombenangriff auf eine steirische Stadt abgesehen von Graz: In sechs Wellen zu je 27 Flug-

Leiche eines abgeschossenen amerikanischen Fliegers in StLA Raaba, 16. Oktober 1944

zeugen wurde die Stadt aus Norden angef logen und von diesen 1.200 mittelschwere Bomben geworfen. Die Folgen waren verheerend: 121 Gebäude total zerstört, 153 schwer, 88 mittelschwer und 241 leicht beschädigt, darunter Bahnanlagen, Wohngebäude, Lagerhäuser, die Kirche, Schulen, Fabriken und das Postgebäude. Im RAW (Reichsbahnausbesserungswerk) wurden die Lehrwerkstätte total, der Wagenbau und die Gleisanlagen stark beschädigt. Im Werksgelände zählte man 72 Bombentrichter, und das Werk mit einer Belegschaft von 2.000 Personen fiel für vierzehn Tage zu 70 Prozent aus; von den 19 Toten des Werkes waren 18 Ausländer. Das Werk 7 (Emailwerk) mit 1.500 Beschäftigten verzeichnete, abgesehen von schweren Sachschäden, 20 Tote. Schwer betroffen waren der Bahndienst und der Bahnerhaltungsdienst des Bahnhofes, der durchgehende Zugverkehr war auf die Dauer von zwölf Stunden vollständig unterbrochen. Sämtliche Gleisanlagen des Bahnhofes sowie die Zufahrten zum Betriebswerk, das Maschinenamt, die Hochbaubahnmeisterei sowie sämtliche Fernsprech- und Fernschreibverbindungen, das Lichtnetz und die Wasserversorgung waren schwer beschädigt, fünf Personen fanden den Tod. Ebenfalls weitgehend zerstört war das Reichsbahn-Betriebswerk. Insgesamt wurden nach diesem Luftangriff in Knittelfeld 158 Tote identifiziert: 51 Männer, 55 Frauen, 28 Kinder und 24 Ausländer. Weitere 27 Einheimische und 50 „Ostarbeiter“ konnten nicht mehr identifiziert werden. An die 3.500 Menschen waren obdachlos.29 Bis Kriegsende wurden täglich aus steirischen Gemeinden Bombenabwürfe, Sachschäden, Tote und Verletzte gemeldet. Angriffe auf Bahnanlagen, Betriebe, Fernmeldeeinrichtungen und Bahnhöfe forderten Menschenleben und verursachten unterschiedlich schwere Schäden. In den letzten Kriegswochen waren es vor allem sowjetische Flugzeuge, die – häufig auch nachts – zu-

Brunner / Bomben auf die Steiermark

meist im Tieff lug angriffen und Splitter- und Sprengbomben abwarfen. Am 5. April 1945 griffen zwei jugoslawische Jagdmaschinen mit Bordwaffen und leichten Bomben die Bahnanlagen in Abtissendorf an; eines der beiden Flugzeuge wurde abgeschossen, wobei der Pilot ums Leben kam. An diesem Tag warf auch ein sowjetischer Jagdbomber im Bezirk Hartberg Bomben ab. Solche kamen nun fast täglich wieder, während die Angriffe alliierter Bomber fast vollständig aufhörten. Noch am 5. Mai 1945 wurden aus rund 15 sowjetischen Flugzeugen 45 Sprengbomben zu neun Kilogramm auf Kalsdorf bei Graz abgeworfen, am 8. Mai auf acht steirische Orte. Der letzte Luftangriff eines sowjetischen Flugzeuges erfolgt am 10. Mai um 16.10 Uhr auf eine Siedlung des Werkes Kapfenberg, wobei eine Person getötet wurde.30 Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurden zwischen 1941 und 1945 rund 13.000 Sprengbomben und 2.500 Brandbomben auf die Steiermark außerhalb von Graz abgeworfen, durch die 2.395 Objekte (Fabriken, Wohnhäuser, Wirtschaftsgebäude, Schulen, Krankenhäuser usw.) leicht, 567 mittelschwer und 552 schwer beschädigt und 503 total zerstört wurden. 961 Bomben wurden bis Ende 1955 als Blindgänger geborgen und unschädlich gemacht.31 Durch Bombenabwürfe und Bordwaffenbeschuss kamen außerhalb der Landeshauptstadt insgesamt 951 Personen ums Leben, davon 674

609

inländische Zivilpersonen (294 Männer, 271 Frauen, 109 Kinder), 63 Wehrmachtsangehörige, acht Kriegsgefangene und 210 Ausländer. 857 Personen wurden leicht und 432 schwer verletzt. Obdachlos wurden 6.479 Personen. Der Gesamtschaden der durch Bombenabwürfe beschädigten und auch gemeldeten Objekte belief sich nach dem Stand vom Jahr 1945 auf 25,755,382 Reichsmark; in dieser Schadenssumme sind die Schäden an der damaligen Deutschen Reichsbahn nicht enthalten. Die Statistik des Landesbauamtes ergab für die bis 1948 angemeldeten Kriegsschäden des Landes Steiermark (ohne Graz) eine Schadensumme von 80,755,733 Schilling. In dieser Summe sind auch Schäden im Zuge von Kampfhandlungen bei Kriegsende inkludiert, wobei sich zeigt, dass diese durch Kampfhandlungen verursachten Schäden im Frontbereich der Oststeiermark wesentlich höher waren als jene der Fliegerangriffe auf die Industrieanlagen der Mur–Mürz-Furche.32 Zwischen 1941 und 1945 wurden durch Jagdf lugzeuge der Deutschen Luftwaffe und durch die Bodenabwehr 54 in den steirischen Luftraum eingedrungene alliierte Flugzeuge abgeschossen und acht zur Notlandung gezwungen; dabei fanden 138 Besatzungsmitglieder den Tod, 144 wurden verwundet. Zwölf Jagdf lugzeuge der Deutschen Luftwaffe stürzten bei Luftgefechten ab, wobei acht Fliegersoldaten den Tod fanden.

Anmerkungen * 1

2

Dieser Beitrag wurde im Jahr 2008 abgeschlossen. Vgl. dazu: Magensheimer, Luftkrieg über Deutschland 117–126; Schwarz, Bombenhagel auf die Städte 70–84; Rossiwall, Der strategische Luftkrieg 446–448. Vgl. dazu: Tropper, Luftkrieg; Fetz, Luftkrieg über Österreich; Rauchensteiner, Luftkrieg gegen Österreich 50–66; Rauchensteiner, Ostösterreich als Ziel 205–209.

3 4

5

6

7

Tropper, Luftkrieg. Vgl. dazu: Karner, Steiermark im Dritten Reich (1994), 235–245. Karner, Steiermark im 20. Jahrhundert (2000), 257–266. Vgl. dazu auch: Beer, Der strategische Luftkrieg 257–280; Karner, Luftkrieg in Graz 239–256. Vgl. dazu: Rauchensteiner, Ostösterreich als Ziel 205–209. Für Tirol untersuchte diesen Aspekt: Al-

610

8

9

10

11

12

13

14

Brunner / Bomben auf die Steiermark

brich, Die Anfänge des strategischen Luftkrieges 1–10. Schmiedl, Bundesheer, Wehrmacht, Luftkrieg 298f. Vgl. dazu: Dörfler, Luftkrieg über Österreich; Mayrhofer, Wiener Neustädter Bombeninferno 20f. An älterer, tendenziöser bzw. einseitiger Literatur ist der Vollständigkeit halber anzuführen: Maximilian Czesany, Als der Luftkrieg über Österreichs Städten begann. In: Südost-Tagespost (13. 2. 1965); Maximilian Czesany, Alliierter Bombenterror (1986); Maximilian Czesany, Europa im BombenKrieg 1939–1945 (Graz–Stuttgart 1998). Vgl. dazu überblicksmäßig: Brunner, Bomben auf die Steiermark 71f. Brunner, Bomben auf Graz 13–15. Weiters vgl., so nicht anders angegeben, folgende Publikationen: Patz, Bombensturm; Rauchensteiner, Entscheidung für Österreich; Rossiwall, Bombenangriffe auf Graz; Ulrich, Luftkrieg über Österreich. Allgemein vgl. dazu: Banny, Dröhnender Himmel. So nicht anders vermerkt, beruht die Darstellung des Bombenkrieges auf: Brunner, Bomben auf Graz.

15

16

17 18

19 20

21 22

23 24 25 26 27 28 29

30 31 32

Weiters: Beer/Karner, Krieg aus der Luft. Allgemein zu den Kriegsschäden in Graz und deren Behebung vgl. Leonardo, Kriegsschäden 156–162. Insgesamt fünfmal gelang es jugoslawischen Flugzeugen in die Steiermark einzuf liegen. Dörfler, Luftkrieg über Österreich. Vgl. dazu: Albrich, Bomber über der „Alpenfestung“ 382–402. Brunner, Die Bombentoten von Graz 103–239. Vgl. dazu: beispielsweise Permoser, Luftkrieg über München. Brunner, Bomben auf die Steiermark 75. Vgl. dazu auch: Krautzer, Bombenschäden und Bombenopfer. Brunner, Bomben auf die Steiermark 75. Brunner, Bomben auf die Steiermark 75f. Brunner, Bomben auf die Steiermark 75f. Brunner, Bomben auf die Steiermark 73f. Brunner, Bomben auf die Steiermark 73f. Brunner, Bomben auf die Steiermark 95f. Brunner, Bomben auf die Steiermark 113–116; Schropper, Knittelfeld 1945. Brunner, Bomben auf die Steiermark 140–149. Brunner, Bomben auf die Steiermark 73. Brunner, Bomben auf die Steiermark 72f.

Heimo Halbrainer

„Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“ Steirerinnen und Steirer im Exil*

Im November 1946 wurde Gustav Scheiger, der Sekretär der Grazer Sezession, bei der Steiermärkischen Landesregierung vorstellig, um diese zu ersuchen, die steirischen Maler Wilhelm Thöny und Axl Leskoschek sowie den in Italien lebenden Schriftsteller Hans Leif helm zur Rückkehr in die Steiermark einzuladen.1 Eine Einladung seitens des Landes an die genannten Künstler ist jedoch nie erfolgt. Leif helm starb bald danach in Italien. Auch Thöny starb im Exil 1949, nachdem fast sein ganzes Lebenswerk – rund 1.000 Arbeiten – durch einen Brand in einem Lagerhaus in New York zerstört worden war.2 Lediglich Axl Leskoschek kehrte im März 1948 auf Einladung des Wiener Stadtrates für Kultur und Volksbildung, Viktor Matejka, aus Rio de Janeiro, wo er eine Professur innehatte, nach Wien zurück, wo ihm eine Professur in Aussicht gestellt aber letztlich verwehrt wurde.3 Ebenfalls nie mehr an den Ort ihrer Wirkungsstätte zurückgekehrt sind auch die bis 1938 an der Universität Graz lehrenden Nobelpreisträger Erwin Schrödinger (Nobelpreis 1933 für Physik), Otto Loewi (Nobelpreis 1936 für Physiologie) und Victor Franz Hess (Nobelpreis 1936 für Physik). Während die beiden Letzteren in ihrem Exilland, den USA, blieben und deren Staatsbürger wurden, kehrte Schrödinger 1956 aus dem irischen Exil nach Wien zurück.4 Neben diesen einleitend stellvertretend für eine Reihe weiterer Künstler und Wissenschaft-

ler aus der Steiermark Genannten mussten Tausende Steirerinnen und Steirer5 aus politischen und/oder rassistischen Gründen ihre Heimat zwischen 1934 und 1945 verlassen. Dabei sind zwei Phasen des österreichischen Exils, also auch der Geschichte des Exils von Steirerinnen und Steirern, zu unterscheiden, die sich hinsichtlich politischer Rahmenbedingungen und die Zusammensetzung der Flüchtlingsströme deutlich voneinander unterscheiden. In der ersten Phase handelte es sich fast ausschließlich um eine politische Emigration, die nach dem Ende des Bürgerkriegs 1934 einsetzte, während in der zweiten Phase vier Jahre später neben der politischen Emigration vor allem eine durch rassistische Verfolgung bedingte Massenf lucht von Jüdinnen und Juden erfolgte.6 Wenn von Exil oder Emigration bzw. Flucht oder Auswanderung die Rede ist, so werden diese beiden Begriffe vielfach synonym verwendet. Vereinfacht können als Unterscheidungsmerkmale die Begriffspaare Freiwilligkeit– Unfreiwilligkeit bzw. dauerhaft–temporär gelten. Demnach sind Flucht und Exil mit einem unfreiwilligen, meist temporären Verlassen des Heimatlandes verbunden, während Emigration und Auswanderung zumeist dauerhaft und freiwillig erfolgten, oder wie Bertolt Brecht in seinen Svendborger Gedichten schrieb: „Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. / Das heißt doch Auswanderer.

612

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

Aber wir / Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss / Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht / Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. / Sondern wir f lohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. / Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm. / Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen / Wartend des Tages der Rückkehr […]“.7 Da die Grenzen aber sehr oft verschwimmen und das eine nicht selten in das andere überging, werden hier die Begriffe synonym füreinander verwendet.8 Im Folgenden wird neben einem allgemeinen Überblick über die beiden Phasen des Exils und den jeweiligen Schwierigkeiten

auf einzelne zentrale Exilländer und die Rolle von Steirerinnen und Steirern in den unterschiedlichen Exilorganisationen eingegangen. Dabei kann beim derzeitigen Stand der Forschung nur ein erster Einblick in das Wirken von Steirerinnen und Steirern gegeben werden, die außerhalb ihrer Heimat, im Exil, in der einen oder anderen Form Widerstand leisteten. Sei es in Form von Mitarbeit in den Exilorganisationen, sei es, dass sie sich Widerstands- und Partisanenorganisationen in den Exilländern anschlossen oder im Rahmen alliierter Streitkräfte und als Agenten gegen das nationalsozialistische Deutschland kämpften.

Erste Phase des Exils 1934 – Jugoslawien, Tschechoslowakei, Sowjetunion Die erste Phase des Exils war fast ausschließlich durch die politische Emigration bestimmt, die nach dem Ausgang des Bürgerkriegs 1934 einsetzte. Nach der endgültigen Zerschlagung der Arbeiterbewegung, dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und ihrer Organisationen sowie der vorübergehenden Verhaftung von Tausenden ihrer Funktionäre und Mitglieder nach dem Februar 1934 verließen sowohl Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes, die im Februar an den Kämpfen beteiligt waren, wie auch Funktionäre der nunmehr illegalen Sozialdemokratie bzw. der seit 1933 illegalen Kommunistischen Partei das Land. Zielländer für diese politischen Flüchtlinge aus der Steiermark waren vorerst Jugoslawien und die Tschechoslowakei sowie letztendlich die Sowjetunion.9 Politische Exilorganisationen Bereits wenige Tage nach dem Beginn der Februarkämpfe 1934 beschloss die in die Tschecho-

slowakei gef lohene Führung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei am 17. Februar 1934 das Hauptsekretariat in Brünn/Brno sowie Nebenstellen für die Agenden der Flüchtlingsarbeit in Prag/Praha und Pressburg/Bratislava zu errichten.10 In Brünn wurde schließlich das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokratie geschaffen, worüber Otto Bauer Ende Februar 1934 in der ersten Nummer der in Brünn herausgegebenen „Arbeiter-Zeitung“ berichtete: „Die Genossen, denen es gelungen ist, über die Grenze zu kommen, haben in Brünn ein ‚Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokratie‘ errichtet. Das ‚Alös‘ will nicht etwa eine neue Parteileitung sein. […] Das ‚Alös‘ stellt sich die Aufgabe, den Kampf der Genossen in Österreich durch Sendung von Zeitungen, von Flugschriften und Broschüren zu unterstützen.“11 Diese Schriften – u. a. die „Arbeiter-Zeitung“ und die Zeitschrift „Der Kampf “ – wur-

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

613

den über Schmuggelwege Sozialdemokraten Koloman nach Österreich gebracht, Wallisch, Paula Wallisch. Sie wie in umgekehrter Richging auf Einladung Otto tung mehr als 1.500 MenBauers Ende August 1934 schen nach den Februarnach Brünn, wo sie zunächst kämpfen in die Tschechodas Buch „Ein Held stirbt“ slowakei f lüchteten. verfasste und danach auf EinIm Auslandsbüro der Soziladung der Sozialdemokratialdemokratischen Partei in schen Partei der Tschechoslowakei Brünn war auch ein Steirer Vorträge hielt und sich am – der ehemalige ChefredakSchmuggeln sozialdemokrateur der steirischen Tagestischer Zeitungen beteiligte.16 Neben Paula Wallisch befanzeitung der Sozialdemokratie den sich in Jugoslawien vorü„Arbeiterwille“, Moritz Robergehend rund 80 steirische binson – führend tätig. RoSchutzbündler, die die aus binson f loh nach dem EinPaula Wallisch ÖNB/Wien Brünn kommenden illegalen marsch deutscher Truppen in Zeitungen in die Steiermark Brünn im März 1939 mit anderen gemeinsam nach Schweden und von brachten und die im Herbst 1934 über die Tschechoslowakei in die Sowjetunion emigrierten.17 dort 1941 weiter in die USA.12 Mit der in Brünn angesiedelten Leitung der Die Sozialdemokratische Partei hat – wie der Sozialdemokratie waren die in Österreich täti- führende Funktionär Otto Leichter berichtete18 gen Revolutionären Sozialisten im ständigen Kon- – auch kurzzeitig beabsichtigt, in Marburg die takt. Für die Aufrechterhaltung des Kontaktes „Arbeiter-Zeitung“ für die Steiermark zu druzwischen der Steiermark und dem Brünner Exil cken, doch dürfte es sich hierbei nur um Überwurde im jugoslawischen Marburg/Maribor legungen gehandelt haben, da kein weiterer eine Auslandsnachrichtenstelle der Sozialdemo- Hinweis, weder seitens der Behörden noch der kratischen Partei geschaffen, die alle relevanten sozialdemokratischen Funktionäre, vorliegt. Ebenfalls in der Tschechoslowakei, in Prag, Informationen aus der Steiermark sammelte und 13 nach Brünn zur Exilleitung weitergab. Leiter hatte die Kommunistische Partei Österreich (KPÖ) dieser Auslandsstelle zwischen 1934 und 1939 seit Sommer 1933 den Sitz ihres Zentralkomiwar der Steirer Hans Hladnik,14 der – nachdem tees. Die KPÖ druckte in Reichenberg/Liberec er nach dem „Anschluss“ 1938 in Marburg kurz- ab Frühjahr 1935 ihre Parteizeitung „Die Rote zeitig die zentrale Anlaufstelle sowohl des sozia- Fahne“ sowie die Zeitschrift „Weg und Ziel“, listischen als auch des kommunistischen Wider- die auf ähnlichen Wegen wie die „Arbeiterstands geworden war15 – 1939 ins britische Exil Zeitung“, zum Teil auch über die gleichen Anging, wo er innerhalb des London Bureau of the laufstellen, nach Österreich geschmuggelt wurAustrian Socialists in Great Britain wirkte. den. In der durch den Übertritt Tausender ehemaliger Sozialdemokraten von einer kleinen In Marburg lebte kurzzeitig auch die Witwe Kaderpartei zu einer Massenpartei gewordenen des im Gefolge der Februarkämpfe am 19. Feb- KPÖ war ein Steirer, der in Kärnten geborene ruar 1934 hingerichteten Nationalratsabgeord- und in der Steiermark aufgewachsene Johann neten und Landesparteisekretärs der steirischen Koplenig, Vorsitzender. Koplenig war bis Mai

614

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

Exil-Zeitschrift „Weg und Ziel“ der KPÖ Zentrales Parteiarchiv der KPÖ, Bildarchiv

1938 im Prager Exil, ehe er nach Paris und ein Jahr später nach Moskau/Moskwa ging.19 Ein anderer Steirer, der innerhalb der KPÖ im Exil eine führende Funktion innehatte, war der nach dem Februar 1934 von der Sozialdemokratie zur KPÖ übergetretene Grazer Ernst Fischer, der im April 1934 mit dem ersten Schutzbundtransport von Prag in die Sowjetunion fuhr und in Moskau ab 1935 der österreichische Vertreter im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale war.20 Schutzbundemigration in die Sowjetunion Von der Zentralstelle für österreichische Flüchtlinge in Brünn sowie den Flüchtlingsstellen in Pressburg, Znaim/Znojmo und Mährisch-Sternberg/Šternberk wurden rund 1.500 Österreicher

auf Flüchtlingslager in Prag, Stodulek/Stodulky, Kocerad/Choerady, Orech, Königsaal/ Zbraslav, Saaz/Žatec und Kuttenberg/Kutná Hora in Nordböhmen, Staab/Stod, Neuern/ Nýrsko und Wallern/Volary in Mähren sowie Sillein/Žilina, Tyrnau/Trnava und Pressburg in der Slowakei verteilt.21 Da vielen der Flüchtlinge klar war, dass sie nicht nach Österreich zurückkehren konnten, da sie mit einer Verhaftung rechnen mussten, es für sie aber gleichzeitig unmöglich war, im Gastland, das selbst eine große Zahl von Arbeitslosen hatte, eine Arbeit zu bekommen und sie somit zum Nichtstun gezwungen wären, kam die Nachricht, dass die Sowjetunion den Schutzbündlern nicht nur Exil, sondern auch Arbeit gewähre, sehr gelegen. Die Möglichkeit wieder zu arbeiten – und dies zudem in dem Land, das sie bewunderten –, führte dazu, dass zwischen April und Dezember 1934 mehrere Transporte mit insgesamt rund 700 Schutzbündlern – darunter über 80 Steirer22 – in die Sowjetunion fuhren und in der Folge teilweise auch ihre Familien nachholten. Die anderen kehrten, nachdem die Sowjetunion ihre Emigrationspolitik geändert und mit Ausnahmen von einzelnen Einreisen keine weiteren großen Transporte mehr genehmigt hatte, zum Teil wieder nach Österreich zurück bzw. blieben im tschechoslowakischen Exil. In der Sowjetunion lebten und arbeiteten die Schutzbündler in Moskau, Leningrad, Gorki, Charkow und Rostow. Rund ein Drittel – zirka 220 Schutzbündler, teils mit Familien 23 – kehrte bis 1941 nach Österreich zurück, da es sich entweder nicht an die Fremde gewöhnen konnte, den Verpf lichtungen von hoher Arbeitsleistung im Betrieb, Sprach- und Politkursen und anderen Aktivitäten nicht nachkam oder die Atmosphäre des gegenseitigen Misstrauens und der Denunziationen nicht mehr aushielt. Unter den ersten „Heimkehrern“, die die Sowjetunion wieder verließen, war der Grazer Rudolf Fuchshofer,24 der bereits im August

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

1934 nach Österreich zurückkehrte. Einige, wie der Grazer Josef Arch oder die Grazerin Franziska Aust und ihre Kinder,25 wurden auch von der Sowjetunion ausgewiesen. Fast ein Drittel – 160 Schutzbündler – ging 1937 nach Spanien, um auf der Seite der Internationalen Brigaden zu kämpfen.26 Von den restlichen in der Sowjetunion verbliebenen Schutzbündlern und ihren Familienangehörigen sowie von den ebenfalls in die Sowjetunion emigrierten Kommunisten gerieten über 200 in die Fänge des NKWD,27 von denen 4628 – darunter auch mehrere Steirer wie der Grazer KPÖ Funktionär Julius Czagran und sein Sohn, Josef Fellinger, Adolf Gatter, der nachmalige Pernegger Bürgermeister Anton Jobstmann, Hans Kothgasser, Rudolf Lenker,

615

Ferdinand Pilz, Franz Rasborschek und andere – vom NKWD während der Zeit des HitlerStalin-Paktes (1939–1941) an die Gestapo ausgeliefert wurden.29 Rund 30 wurden hingerichtet, darunter u. a. der ehemalige Technische Leiter des Grazer Schutzbundes, Ing. Franz Pabst, der Grazer Heinrich Finster oder der Leobener Franz Faustmann. Zudem kamen zahlreiche Steirerinnen und Steirer – wie der Organisator der KPÖ in der Steiermark ab 1919, Leopold Maresch, sowie die aus Graz, Gratkorn, Leoben, Bruck an der Mur und Mitterdorf stammenden Friedrich Aust, Heinrich Finster, Josef Koppelhuber, Rudolf Korats, Franz Koubek – in sowjetischen Gefängnissen und im Gulag um.

Zweite Phase des Exils – Die Jahre nach dem „Anschluss“ 1938 Unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 sahen sich viele Steirer und Steirerinnen aus politischen und rassistischen Gründen zur Emigration gezwungen. Die Ersten, die das Land verließen, waren jene, die sich in den Wochen und Monaten vor dem „Anschluss“ gegen die Nationalsozialisten exponiert hatten. So verließ beispielsweise der steirische Leiter der Sozialen Arbeitsgemeinschaft (SAG) im Rahmen der Vaterländischen Front, Franz Nemschak, mit dem Architekten Herbert Eichholzer und dem ehemaligen Redakteur des sozialdemokratischen „Arbeiterwillen“, dem Maler Axl Leskoschek, noch am 12. März 1938 Graz. Sie fuhren gemeinsam nach Triest/Trieste, von wo Nemschak und Eichholzer weiter nach Paris gingen. Sie hatten sich im Rahmen der SAG – die als Gesprächsplattform zwischen Vertretern des autoritären „Ständestaates“ und der verbotenen Arbeiterparteien diente – bei der Wahlwerbung für die von Bundeskanzler Schuschnigg geplante Volksabstimmung besonders hervorgetan und

unmittelbar vor dem „Anschluss“ Flugblätter produziert und in Graz verteilt, die die „Arbeiter und Angestellten“ dazu aufriefen, bei der Volksabstimmung mit „Ja“ für ein „freies, unabhängiges, soziales Österreich“ zu stimmen. 30 Auch der ehemalige Sozialminister im ­K abinett Kurt Schuschnigg (1935/36), Josef Dobretsberger, der nach seinem Ausscheiden aus dem Ministeramt wieder seine Lehrtätigkeit als ordentlicher Professor der Rechts- und Staatswissenschaften an der Universität Graz aufgenommen, zur Zeit des „Anschlusses“ Rektor der Grazer Universität gewesen war und sich ebenfalls im Rahmen der SAG betätigt hatte, setzte sich im Juni 1938 über Jugoslawien und Italien in die Schweiz ab, nachdem er am Tag der Machtübernahme der Nationalsozialisten als Rektor zurückgetreten und in der Folge von der Gestapo verhaftet worden war.31 Neben dieser zweiten Welle des politischen Exils setzte bald nach dem „Anschluss“ 1938 auch die Flucht von mehr als 130.000 Öster-

616

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

reicherinnen und Österreichern32 – darunter rund 2.000 Steirerinnen und Steirer – ein, die nach den Nürnberger Rassengesetzen als jüdisch galten.33 Bis zur hermetischen Abriegelung der Grenzen infolge eines Erlasses des Reichssicherheitshauptamtes vom 23. Oktober 1941 gelangten so rund 31.000 Menschen nach Großbritannien, 29.800 in die USA, 15.200 nach Palästina, rund 6.000 nach Shanghai, 5.800 in die Schweiz und 4.800 nach Frankreich.34 Bei der Auswanderung waren neben der Israelitischen Kultusgemeinde eine Reihe von jüdischen sowie anderen Hilfsorganisationen, wie das PalästinaAmt, das JOINT (American Joint Distribution Committee), die Quäker, die Schwedische Mission, die Hilfsstelle für nicht arische Katholiken sowie verschiedene zionistische Organisationen vor allem bei der Beschaffung von Visa behilf lich, da die wichtigsten Staaten eine restriktive Einreisepolitik gegenüber jüdischen Flüchtlingen verfolgten. Hatten die Flüchtlinge den Kampf um Reisedokumente mit Steuerunbedenklichkeitsbescheinigung, um Besucher-, Transit- und Einreisevisa sowie um eine Schiffspassage gewonnen und waren im Exil gelandet, so litt dort die Masse der Flüchtlinge bitterste Not, da zahlreiche Staaten den Flüchtlingen legale Arbeitsmöglichkeiten verwehrten bzw. die Flüchtlinge kaum in den von ihnen erlernten Berufen tätig werden konnten. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschlechterte sich die Lage für sie zusätzlich, da sie als „feindliche Ausländer“ vor allem in jenen Ländern, mit denen sich das Deutsche Reich im Krieg befand, interniert wurden. Zudem wurden viele Emigranten, die es in Exilländer wie Frankreich, Belgien, Holland, Norwegen, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien oder Ungarn geschafft hatten, nach der jeweiligen Okkupation durch Deutschland verhaftet und zumeist in die Vernichtungslager des Ostens deportiert.35

Politisches Exil 1938 bis 1945 In den einzelnen Aufnahmeländern, wo unterschiedliche politische und rechtliche Bedingungen für die Entfaltung von Exilorganisationen vorherrschten, entstanden neben überparteilichen Vereinigungen auch Organisationen von Sozialisten, Kommunisten und nun auch von Anhängern des „Ständestaates“ und von Legitimisten, in denen Steirer teilweise führend tätig waren. Diese gaben Zeitschriften und Zeitungen heraus, organisierten kulturelle Veranstaltungen, unterstützten die Flüchtlinge, indem sie Informations- und Beratungsstellen errichteten, und sie entwarfen und propagierten – da sie mit ihrer Rückkehr nach Österreich rechneten – unterschiedliche Nachkriegskonzepte. Zentral dabei war die „nationale Frage“ – d. h. die Frage, ob Österreich in den Grenzen von 1938 wiedererstehen sollte. Dies wurde seitens der Sozialdemokraten im Exil bis zur Moskauer Deklaration vom 1. November 1943 abgelehnt, die Kommunisten und Legitimisten traten hingegen vom Anbeginn an für das Wiedererstehen Österreichs ein. Während die KPÖ im März 1938 einen Aufruf zum Kampf für die Wiedererrichtung eines freien und unabhängigen Österreich veröffentlichte und den Widerstandskampf im Land wie im Exil danach ausrichtete, traten die Legitimisten ab März 1938 in Aufrufen und Erklärungen Otto Habsburgs und anderer für die Errichtung einer monarchistischen Donauföderation unter der Führung Habsburgs ein.36 Da sich das politische Exil auf Frankreich (bis 1940), auf die USA, auf Großbritannien und eingeschränkt auch auf die Sowjetunion konzentrierte, werden im Folgenden die Aktivitäten von Steirerinnen und Steirern in den Exilorganisationen – sowohl den überparteilichen als auch den parteipolitischen – dieser Länder vorgestellt. Einschränkend muss angemerkt werden, dass in den USA alle politischen Lager mit Aus-

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

nahme der Kommunisten – diesen war es auf Grund der antikommunistischen amerikanischen Einwanderungspolitik und der Tätigkeit des House Committee on Un-American Activities nicht möglich, sich als solche zu deklarieren, und sie konnten nur unter dem Deckmantel der Austro American Association oder dem Free Austrian Youth Committee tätig werden37 – politische Exilorganisationen schaffen konnten. Umgekehrt konnten wiederum in der Sowjetunion keine anderen Exilorganisationen entstehen als jene der KPÖ. Exil in Frankreich Schon bald nach dem „Anschluss“ 1938 wurde Paris das Zentrum des österreichischen Exils. Die bislang in der Tschechoslowakei exilierten Leitungen der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei siedelten sich auf Grund der drohenden Annexion des bisherigen Exillands ebenso in Paris an wie die Führung der in Österreich bis zum März 1938 tätigen Revolutionären Sozialisten. Nach Paris f lohen auch ehemalige Funktionäre des „Ständestaates“, wie die Minister Hans Rott oder Guido Zernatto, die sich um die von den Legitimisten herausgegebenen Zeitschriften „Ligue Autrichienne“ und „Die Österreichische Post. Courrier Autrichien“ organisierten. Zudem kamen zahlreiche prominente Künstler und Schriftsteller nach Paris, das bis zum Einmarsch deutscher Truppen eine „Art Hauptstadt der österreichischen Emigranten“38 war. So befanden sich u. a. Fritz Brügel, Alfred Polgar, E. A. Rheinhardt, Joseph Roth, Franz Werfel und der 1933 aus Deutschland nach Graz zu seiner Schwester, der Ärztin Gisel Januszewska, gef lohene (Alexander) Roda Roda 39 teilweise von 1938 bis 1940 in Paris, wo sie auch den Gründungsaufruf der Liga für das geistige Österreich unterzeichneten.40 In Paris erschienen zwischen 1938 und 1940 neben den bereits erwähnten, von den Legiti-

617

misten herausgegebenen Zeitschriften auch noch jene Exilzeitschriften und -zeitungen der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten („Der Sozialistische Kampf. La Lutte Socialiste“ und die „RS-Korrespondenz. Mitteilungen der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten“) und der Kommunisten („Die Rote Fahne. Drapeau Rouge. Österreichische Zeitung“ und „Weg und Ziel. Blätter für Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung“). Hier wurden auch – da alle relevanten politischen Lager Paris zum Zentrum ihres Exils erklärt hatten – entscheidende politische Debatten geführt, wie etwa über die „nationale Frage“ oder erstmals über die Bildung einer Exilregierung. Innerhalb der in Frankreich angesiedelten Organisationen waren auch Steirer aktiv. So waren neben dem Vorsitzenden der KPÖ, Johann Koplenig, 1938 auch der Grazer Architekt Herbert Eichholzer unter dem Namen „Karl Hase“ innerhalb der Exilorganisation der Kommunisten und der Grazer Rechtsanwalt Bruno Kurzweil innerhalb der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten tätig. Während Eichholzer noch im November 1938 weiter ins türkische Exil ging und Koplenig mit anderen führenden Funktionären der KPÖ nach Kriegsbeginn im Oktober 1939 in die Sowjetunion fuhr, f loh Bruno Kurzweil – nachdem im Mai 1940 die deutsche Offensive im Westen mit dem Einmarsch in Holland und Belgien begonnen hatte – mit allen führenden Funktionären und Mitgliedern der Auslandsvertretung österreichischer Sozialisten auf Anraten des ehemaligen französischen sozialistischen Ministerpräsidenten Léon Blum in den Süden Frankreichs nach Montauban. Dieser von Vichy aus regierte – noch unbesetzte – Teil Frankreichs bot jedoch keine Sicherheit und Garantie und auch keine Möglichkeit, politisch aktiv zu sein, weshalb sie sich entschlossen, Frankreich so rasch wie möglich zu verlassen. Während die führenden Funktionäre der Auslandsvertretung

618

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

der österreichischen Sozialisten wie Friedrich Adler, Manfred Ackermann, Josef Haas, Otto Leichter, Ernst Papanek, Karl Hans Sailer, Edmund Schlesinger, Wilhelm und Leopold Ellenbogen oder Josef Luitpold Stern im September und Oktober 1940 mittels Notvisa in die USA gelangten,41 blieb Bruno Kurzweil als Repräsentant der Auslandsvertretung in Montauban, wo er im August 1942 im Zuge einer Razzia gegen Juden mit seiner Familie verhaftet, nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde.42

auf Deutsch erscheinende „Austrian Labor Information“ heraus. Nachdem Friedrich Adler im April 1944 seinen Vorsitz und all seine Funktionen zurückgelegt hatte und Wilhelm Ellenbogen zum Vorsitzenden gewählt worden war, wurde der ehemalige Herausgeber des Grazer „Arbeiterwille“ Moritz Robinson, der 1941 aus Schweden in die USA gekommen war, in den erweiterten Ausschuss kooptiert.46 Bruno Kurzweil 1941 in Paris Vom Rechtsanwalt ArSammlung Halbrainer, Graz nold Eisler, der u. a. mit Bruno Kurzweil in den 1920er und 1930er Jahren der Anwalt der Sozialdemokratischen Partei der Steiermark gewesen war, und der für die SozialExil in den USA demokratie ab 1917 als Grazer Gemeinderat, Nachdem ein Großteil der Mitglieder der Aus- zwischen 1918 und 1920 als Landesrat in der landsvertretung der österreichischen Sozialisten nach Steiermark sowie als Unterstaatssekretär für New York gelangt war, beschloss diese nur noch Justiz in Wien und danach als Nationalrat geeingeschränkt tätig zu sein, ehe sie im Dezem- wirkt hatte,47 wurde in New York im Mai 1941 ber 1941 aufgelöst wurde.43 Zentral waren bis zum Zwecke planmäßiger Selbsthilfe ihrer Mitdahin vor allem die Versuche, die in Südfrank- glieder die Organisation American of Austrian reich gestrandeten und von Bruno Kurzweil Origin gegründet, der Eisler sowie der New betreuten Mitglieder aus der Gefahrenzone zu Yorker Rechtsanwalt George Horowitz vorbekommen.44 Am 8. Februar 1942 – nach standen.48 Die nichtsozialistische Exilpolitik in den Kriegseintritt der USA – wurde schließlich als neue Vertretung das Austrian Labor Committee USA war zum einen durch Otto Habsburg gegegründet. Unter dem Vorsitz von Friedrich prägt, der – obwohl seit 1919 außerhalb ÖsterAdler bildeten die ehemaligen Mitglieder der reichs lebend und mit belgischem Pass in die Auslandsvertretung der österreichischen Sozialisten USA eingereist – als Repräsentant Österreichs einen engeren Ausschuss, dem Manfred Acker- angesehen wurde und auf Grund seiner engen mann, Julius Deutsch, Ernst Papanek, Karl Hans Kontakte zu höchsten Regierungsstellen in den Sailer und Otto Leichter angehörten, sowie USA u. a. erwirkte, dass die Österreicherinnen einen weiteren Ausschuss mit anderen ehemali- und Österreicher vom „Enemy-Alien-Status“ gen Mitgliedern der Auslandsvertretung.45 Diese befreit wurden, der aber mit seinem Versuch, gaben ab Februar 1942 die englischsprachigen eine österreichische Exilregierung in den USA „Austrian Labor News“ bzw. ab April 1942 die zu schaffen, scheiterte.49 Otto Habsburg stand

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

bei zahlreichen Organisationen, die vom ehemaligen Minister im letzten Kabinett Schuschniggs, Hans Rott, gegründet und geleitet wurden, im Hintergrund, wie etwa beim im Dezember 1940 gegründeten Free Austrian Movement oder dem im nach Kriegseintritt der USA im Februar 1942 gegründeten Austrian National Committee. Im Rahmen der dreizehnköpfigen Leitung des Free Austrian Movements, das als Programm u. a. die „Sammlung und Zusammenfassung der Österreicher im Auslande und Einsatz aller Kräfte für den Sieg der United Nation“ oder die „Mitwirkung bei der Vorbereitung von Maßnahmen zur Wiederherstellung der Demokratie in Österreich“ formuliert hatte,50 wirkte auch der als steirischer Bauer vorgestellte Alfred Wolfgruber mit. Wolfgruber gehörte mit Rott auch zum achtköpfigen Parteivorstand der – nachdem Otto Habsburg Ende Oktober 1944 die USA verlassen hatte – im November 1944 gegründeten Christlichsozialen Partei in New York, die – wie Rott es formulierte – deshalb von ihm als einzigen im Ausland lebenden christlichsozialen Parteiführer neu organisiert werden musste, da 24 Führer der Christlichsozialen ermordet worden waren und die neu organisierte Partei im Exil mithelfen musste, eine Exilregierung zu schaffen.51 Neben den von Otto Habsburg geprägten Exilorganisationen waren zudem das im Jänner 1939 vom ehemaligen Vizebürgermeister von Wien, Ernst Karl Winter, gegründete AustroAmerican Centre sowie die Austrian Action, die von Ferdinand Czernin im April 1941 initiiert wurde, die wichtigsten und einf lussreichsten Exilorganisationen. In der Austrian Action, einem Sammelbecken für alle politisch nicht festgelegten österreichischen Emigranten, die die „Oesterreichische Rundschau“ herausgab, gab es eine sehr aktive Kultursektion, für die im Bereich Literatur Franz Werfel oder im Bereich der Kunst der Grazer Maler Oskar Stössel zu-

619

ständig waren und in deren Rahmen auch der Gründer der Grazer Sezession, Wilhelm Thöny, aktiv wurde.52 In dem im Zusammenhang mit dem Kriegseintritt der USA im Februar 1942 gegründeten Austrian National Committee, einer überparteilichen Dachorganisation, der jedoch die Linke fern blieb und die von drei Legitimisten und drei bürgerlichen Nichtlegitimisten geleitet wurde, waren neben Franz Werfel auch der ehemalige Sekretär der Arbeiterkammer Graz, Erich Hula,53 sowie der aus Graz vertriebene Nobelpreisträger Otto Loewi zwei von sechs ständigen Ratgebern. Ebenfalls Mitglied des Austrian National Committee war der ehemalige Leiter der Landesgemäldegalerie am Joanneum und Extraordinarius an der Universität Graz, der Kunsthistoriker Wilhelm Suida.54 Bei Zusammenkünften des Austrian National Committee wurde auch die Gründung des Austrian Institute für Science, Art and Economy diskutiert, das schließlich im Frühjahr 1943 von dem ehemaligen Offizier im Ersten Weltkrieg, Friedrich Krejci, dem Psychologen und ehemaligen Leiter des Israelitischen Blindeninstituts auf der Hohen Warte in Wien, Siegfried Altmann, und der Mitbegründerin der Harand-Bewegung, Irene Harand, gegründet wurde. Dieses Institut hatte sich zur Aufgabe gemacht, „dem wissenschaftlichen, künstlerischen und wirtschaftlichen Bemühen aller Österreicher und an Österreich Interessierten zu dienen; Forschungsarbeiten zu leisten; österreichisches Kulturgut zu erhalten, es in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen und diese zu gewinnen, Österreich seiner historischen Bedeutung und seines kulturellen Ranges willen mitbefreien und wiederauf bauen zu helfen.“55 Innerhalb dieses Instituts waren zahlreiche Steirer aktiv. So waren fünf von den 23 Ehrenmitgliedern Steirer bzw. aus Graz Vertriebene, und zwar die beiden Nobelpreisträger Victor F.

620

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

Hess und Otto Loewi, die beiden Maler Oskar Stössel und Wilhelm Thöny sowie der Kunsthistoriker Wilhelm Suida. Exil in der Sowjetunion Zahlreiche Steirerinnen und Steirer, führende KP-Funktionäre ebenso wie Schutzbündler, waren – wie bereits ausgeführt – seit 1934 in die Sowjetunion emigriert. Zu diesen kamen, nachdem der Sitz des Zentralkomitees der KPÖ von Paris nach Moskau verlegt worden war, weitere Exilanten, u. a. der Parteivorsitzende der KPÖ, der Steirer Johann Koplenig. Koplenig war in Moskau u. a. Mitglied des Präsidiums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale (Komintern) und ab Kriegsbeginn der für Österreich Zuständige im Allunions-Radiokomitee der UdSSR.56 Bereits seit 1934 waren der Grazer Journalist und Schriftsteller Ernst Fischer sowie sein Bruder Otto im Moskauer Exil. Ein weiterer Bruder von ihnen, der Arzt Walter Fischer, kam

1935 in die Sowjetunion. Während Ernst Fischer der KPÖ-Vertreter bei der Kommunistischen Internationale und verantwortlicher Redakteur des Organs des Exekutivkomitees der Komintern, die „Kommunistische Internationale“, war und zeitweise auch im Volkskommissariat des Äußeren der UdSSR als Leiter der Propagandaabteilung für Österreich sowie als Rundfunkkommentator deutschsprachiger Sendungen arbeitete, war sein Bruder Otto zunächst bei einem Agrarinstitut und der Akademie der Wissenschaften angestellt, ehe er ab 1943 Leiter des österreichischen Teils der Antifa-Schule in Krasnogorsk wurde.57 Der 1939 aus Spanien, wohin er 1936 gegangen war, um im Rahmen der Internationalen Brigaden zu kämpfen, nach Moskau zurückgekehrte Walter Fischer wurde in der deutschsprachigen Redaktion von „Radio Moskau“ mit dem Auftrag aktiv, eine eigene österreichische Sendung zu starten.58 Bedingt durch den Hitler-Stalin-Pakt und den Kriegsverlauf sollte es bis in den Frühsommer 1942 dauern, ehe tatsächlich das Programm des Senders „Freies Österreich“, für das Walter Komintern-Ausweis von Johann Koplenig Zentrales Parteiarchiv der KPÖ, Bildarchiv

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

Fischer zuständig war, auf Sendung ging. Neben Nachrichten versuchte er – wie er in seinen Erinnerungen festhielt – eine andere Form der antifaschistischen Propaganda nach Österreich zu senden. „Jede Woche schrieb und sprach ich einen Kommentar als Gespräch mit einem Bauern – dem Koglhof bauer – in steirischem Dialekt, Knüttelverse des ‚Streiter Toni‘ zu den verschiedensten Ereignissen und ebenfalls jede Woche den Brief eines HJ-Führers an einen Freund […]“.59 Neben Walter Fischer und anderen Funktionären der KPÖ kamen in den Programmen des Radiosenders „Freies Österreich“ auch Johann Koplenig und Ernst Fischer zu Wort.60 Mit diesen Österreich-Sendungen versuchten sie ab Oktober 1942 die Bemühungen zur Schaffung einer Österreichischen Freiheitsfront in Österreich zu intensivieren. So wurde über „Freies Österreich“ am 22. und 23. Oktober 1942 über eine zu diesem Zeitpunkt nicht stattgefundene Konferenz in den obersteirischen Bergen berichtet, an der Vertreter der verschiedensten Bevölkerungsschichten teilgenommen hätten. Die angeblichen Konferenzteilnehmer forderten über „Freies Österreich“ die Österreicherinnen und Österreicher auf, es ihnen gleichzumachen und sich zu einer Front zusammenzuschließen und vom passiven Widerstand zum aktiven Kampf für ein freies und unabhängiges Österreich überzugehen.61 Ein Jahr später sollte tatsächlich in der Nähe von Trofaiach in der Obersteiermark die Gründung der Österreichischen Freiheitsfront erfolgen, die mit Anschlägen gegen die Infrastruktur und in bewaffneten Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten den Schritt zum aktiven Kampf setzte.62 Eine zentrale Tätigkeit, bei der mehrere Steirer führend beteiligt waren, war der Auf bau und der Unterricht in den Antifa-Schulen für Kriegsgefangene, die 1943 im Lager von Krasnogorsk, unweit von Moskau, bzw. in Talici, 300 Kilometer östlich von Moskau, geschaffen

621

wurden.63 So war neben dem Wiener Schriftsteller und Wladimir-Majakowski-Übersetzer Hugo Huppert und dem ebenfalls aus Wien stammenden Historiker und nachmaligen Mitglied der Akademie der Wissenschaften Leo Stern der ehemalige Betriebsratsobmann der Niklasdorfer Papierfabrik, der Papierarbeiter Heribert Hütter, einer der drei ersten österreichischen Lehrer in Talici. Die österreichische Sektion der Antifa-Schule in Krasnogorsk wurde anfangs von Otto Fischer geleitet.64 Auch in dem am 26. November 1944 geschaffenen Antifaschistischen Büro österreichischer Kriegsgefangener – dem österreichischen Gegenstück zum Nationalkomitee „Freies Deutschland“ – waren einige Steirer führend beteiligt. In dem von Koplenig initiierten Büro mit 15 Mitgliedern war Andreas Kirschhofer, ein ehemaliger Landwirt und Oberleutnant aus der Steiermark, Vorsitzender.65 Der Grazer Karl Hirt, der im November 1942 als Soldat zur Roten Armee übergelaufen war,66 war ebenfalls Mitglied dieses Büros. Exil in Großbritannien In Großbritannien fanden politische Exilorganisationen auf Grund des liberalen politischen Klimas günstige Voraussetzungen, weshalb u. a. die Exilregierungen von Belgien, den Niederlanden, Luxemburg, Polen, der Tschechoslowakei, Norwegen, Jugoslawien und Griechenland ihren Sitz in London hatten. Obwohl auch zahlreiche österreichische Exilorganisationen in Großbritannien existierten, stand für die britische Regierung fest, dass keine dieser Organisationen als offizielle Vertretung Österreichs anerkannt werde, da sie ihrer Meinung nach nur einen Teil der österreichischen Bevölkerung repräsentierten.67 Auch in Großbritannien, wohin über 30.000 österreichische Flüchtlinge gelangten, waren Steirer in einer Reihe von Exilorganisationen,

622

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

die u. a. Flüchtlinge unterstützten und publizistische, kulturelle und politische Aktivitäten entfalteten, in führenden Funktionen aktiv. So z. B. im Austrian Centre, das ein Jahr nach dem „Anschluss“, am 16. März 1939, in Paddington im Nordwesten Londons als Dachorganisation aller österreichischen Flüchtlingsorganisationen feierlich eröffnet wurde, in dem bis zu seinem Tod Sigmund Freud Ehrenpräsident war und das sich als politischer, kultureller und kommunikativer Treffpunkt in der Folge zur größten Exilorganisation in Großbritannien entwickeln sollte.68 Das Austrian Centre, das überparteilich ausgerichtet war, aber unter kommunistischer Führung stand, entwickelte sich unter der Leitung des Grazers Wilhelm Scholz zu einem Großbetrieb mit mehr als 70 Angestellten und mehreren Niederlassungen in der Provinz sowie Beratungsstellen für Flüchtlinge, Restaurants, Bibliotheken, einem Buchladen und dem Verlag „Free Austrian Books“. Dieser Verlag verlegte rund 50 Bücher, in denen vor allem das österreichische Nationalbewusstsein propagiert wurde. Zudem gab das Austrian Centre zwischen 1939 und 1946 die Wochenzeitschrift „Zeitspiegel“ in einer Auf lage von 3.000 Stück heraus, in der Wilhelm Scholz immer wieder Artikel über den Widerstand in der Steiermark schrieb. In London unterhielt das Austrian Centre auch die bekannte Kleinkunstbühne „Das Laterndl“. Das Austrian Centre war eine von elf Organisationen, die im Dezember 1941 die Vereinigung Free Austrian Movement (FAM) gründeten.69 Das FAM sollte als Dachorganisation aller politischen Exilgruppen fungieren, doch blieben ihr die Sozialisten mit Ausnahme der von der ehemaligen steirischen Landtagsabgeordneten (1920–1930) und Nationalrätin (1930–1933) Marie Köstler geleiteten League of Austrian Socialists in Great Britain fern. Marie Köstler war ab 1944 wie auch der aus Wien stammende Hans Winterberg, der nach der Befreiung 1945

bis zu seinem Tod 1965 in der Steiermark leben sollte, eine von zehn Ausschussmitgliedern des FAM.70 Diese von Kommunisten dominierte Vereinigung kämpfte u. a. um die Anerkennung der Unabhängigkeit Österreichs durch die Alliierten sowie für das Aufstellen einer eigenen militärischen Einheit bzw., nach dem Scheitern dieses Ziels, für die Möglichkeit als österreichischer Flüchtling in der britischen Armee zu kämpfen. Wilhelm Scholz und Hans Winterberg, der auch Vorstandsmitglied des Austrian Centre und ab 1942 Sekretär des FAM war, waren auch in der Group of Austrian Communists in Great Britain tätig, für die sie auch in den überparteilichen Organisationen saßen.71 Die von der Auslandsvertretung österreichischer Sozialisten noch in Paris getroffenen Entscheidungen – die Negierung der Wiederherstellung Österreichs zugunsten einer gesamtdeutschen Revolution sowie die Ablehnung einer Zusammenarbeit mit legitimistischen und kommunistischen Gruppen – führte dazu, dass sich die nach Großbritannien gef lohenen Sozialisten nicht den Massenorganisationen wie dem Austrian Centre oder dem FAM, die sie als kommunistische Tarnorganisationen ansahen, anschlossen. In dem Anfang 1940 gegründeten Austrian Labor Club, der sich selbst als „Vereinigung der österreichischen sozialistischen Emigranten zur Aufrechterhaltung des politischen und menschlichen Kontaktes“72 sah, bzw. beim im April 1941 gegründeten London Bureau of the Austrian Socialists in Great Britain um Oskar Pollak und Karl Czernetz, der Geschäftsstelle der Auslandsvertretung der österreichischen Partei in New York, waren der ehemalige Grazer Gemeinderat und Obmann der Angestelltengewerkschaft Isidor Preminger73 bzw. der aus Marburg nach London gef lohene Grazer Hans Hladnik tätig. Die ehemalige Nationalrätin Marie Köstler wurde wegen Mitarbeit im Austrian Centre im Oktober 1941 aus der Partei

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

ausgeschlossen, worauf hin sie die League of Austrian Socialists in Great Britain gründete, die sich dem FAM anschloss.74 Auch innerhalb des Verbands Österreichischer Christlichsozialer in Großbritannien – neben der Group of Austrian Communists in Great Britain und dem London Bureau of the Austrian Socialists in Great Britain die dritte Parteiorganisation im britischen Exil – nahmen Steirer eine führende Funktion ein. So verfasste der Grazer Schriftsteller und Gründer des Steiermärkischen Schriftstellerverbands, Josef Otto Lämmel, für den im September 1941 gegründeten Verband Österreichischer Christlichsozialer in Großbritannien die programmatischen Texte. Zudem hielt er als „Steirer Seppl“ Reden, die nach Österreich ausgestrahlt wurden. Im Herbst 1941 wurde Lämmel zum ersten Vorsitzenden gewählt, trat aber schon im März 1942 aus parteiinternen Gründen wieder aus dem Verband aus.75 Ebenfalls in der Leitung des Verbands Österreichischer Christlichsozialer in Großbritannien tätig war der aus Semriach bei Graz stammende Elmar Jakob Eisenberger, der Redakteur und Sprecher des britischen Schwarzsenders „Christus, der König“ war und unter dem Namen „Father Andreas“ ab 1942 antinationalsozialistische Propaganda betrieb.76 Neben Lämmel und Eisenberger sprachen auch noch Wilhelm Scholz und Hans Winterberg im Rahmen der Arbeitersendungen von BBC London zu den Österreicherinnen und Österreichern.77 Exilierte Steirer in alliierten Armeen Österreichische Flüchtlinge – nach Schätzungen rund 10.00078 – bemühten sich auch, im Exil ihren Teil zur Niederringung des nationalsozialistischen Deutschland beizutragen und wirkten daher zum größten Teil in unbewaffneten Arbeitseinheiten, beim Rundfunk oder in den Propagandaabteilungen mit.79 Nicht wenige kämpften in den Reihen der alliierten Armeen

623

und meldeten sich für Spezialeinsätze. Zudem kämpften zahlreiche Österreicher in Partisaneneinheiten oder sprangen als Fallschirmagenten hinter den Fronten ab. So trat etwa der aus Bärnbach stammende Spanienkämpfer Josef Kraxner 1944 in Casablanca der US-Air Force bei, wo er gemeinsam mit anderen ehemaligen Spanienkämpfern in den letzten Kriegstagen als Auf klärer im kärntnerisch-italienisch-slowenischen Grenzgebiet abgesetzt wurde.80 Als Agent des amerikanischen Kriegsgeheimdienstes Office of Strategic Services (OSS) mit dem Namen „Ernest Cole“ sprang der Grazer Emmerich Kohl gemeinsam mit anderen Agenten im April 1945 in der Nähe von Steyr ab, um hier Kontakte zu Widerstandsgruppen und britischen sowie amerikanischen Kriegsgefangenen zu knüpfen.81 Innerhalb des britischen Kriegsgeheimdienstes Special Operation Executive (SOE) wurde der ehemalige Kontaktmann der Revolutionären Sozialisten in Marburg, Hans Hladnik, der in London im Umfeld des London Bureau of the Austrian Socialists in Great Britain tätig gewesen war, aktiv. Gemeinsam mit anderen war er ab September 1944 im italienischen Monopoli südlich von Bari stationiert, wo sich das operative Hauptquartier der SOE für Einsätze in Italien, Jugoslawien und auch Österreich befand. Er wurde in eine deutsche Uniform gesteckt und in das Auffang- und Durchgangslager in Taranto für deutsche Soldaten, die auf den Weitertransport nach England warteten, eingeschleust. Neben Informationen von der „Heimatfront“ versuchte er österreichische NS-Gegner unter den Gefangenen aufzuspüren, die ausgebildet und nach Österreich zurückgeschickt werden sollten, um den Absprung weiterer Agenten vorzubereiten.82 Einer jener, die so rekrutiert und in die Steiermark zurückgeschickt wurden, war der aus Mitterdorf im Mürztal stammende Roman Spreitzhofer, der als „Roman Haase“ am 24. März 1945 in der Nähe von Mürzzuschlag

624

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

absprang und mit Monopoli men des KJV in Leoben im Funkkontakt aufnahm.83 November 1940 zu zwei JahInnerhalb der 7. Abteiren und drei Monaten Zuchtlung der 33. Roten Armee haus verurteilt worden war.88 Fladerer wechselte im April wirkte der Grazer Karl Hirt, 1945 nach Jugoslawien, wo der im November 1942 zur er sich in Belgrad/Beograd Armee übergelaufen war, als dem IV. Österreichischen FreiFrontpropagandist, ehe er im heitsbataillon anschloss. 89 Frühjahr 1945 nach SloweEine zentrale Rolle spielnien zum Österreichischen Ba84 ten steirische Emigranten taillon ausgef logen wurde. Einer von 24 österreibeim Auf bau von Partisachischen Partisanen auf dem nengruppen bzw. FreiheitsGebiet Weißrusslands war bataillonen in Slowenien. So der aus St. Michael bei Lesprang im Sommer 1944 u. a. oben stammende Friedrich der aus Bruck an der Mur Pietzka, der 1938 u. a. im stammende SchutzbundemiSekretariat des ZK des Komgrant und Spanienkämpfer Josef Kraxner munistischen Jugendverbandes Karl Sattler aus der SowjetDÖW, Spanienkämpferarchiv (KJV) für die Reorganisation union kommend mit dem des KJV in der Steiermark Fallschirm in Slowenien ab, verantwortlich gewesen und deshalb im No- um von hier aus gemeinsam mit anderen als vember 1939 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt „Kampfgruppe Avantgarde/Steiermark“ – besworden war.85 Pietzka, der statt Abbüßung der ser bekannt als „Koralmpartisanen“ – in der Strafe zur Deutschen Wehrmacht eingezogen Steiermark und Kärnten bzw. dem steirischwurde, lief im März 1943 zu den Partisanen slowenischen Grenzgebiet einerseits Sabotage über, wo er Kommandeur der im Dezember zu betreiben und andererseits lokale Wider1943 gegründeten Internationalen antifaschistischen standszentren zu schaffen sowie den illegalen Partisanengruppe beim 600. Partisanen-Regiment Parteiapparat der KPÖ zu reorganisieren.90 Als am 24. November 1944 im slowenischen wurde.86 Der seinerzeit zeitgleich mit Pietzka ver- Dorf Tribuče das Erste Österreichische Bataillon aufhaftete Leiter des kommunistischen Wider- gestellt wurde, beteiligten sich Steirer z. T. fühstands in Graz, August Pirker, wurde aus seiner rend an dieser einzigen österreichischen MilitärHaft zum 16. Bataillon des Strafbataillons 999 formation, die während des Zweiten Weltkrieges eingezogen und nach Griechenland abkom- zum Kampfeinsatz kam. Es hatte bereits früher mandiert, wo er im September 1944 zur grie- in Frankreich (1939/40), Großbritannien (1940) chischen Volksbefreiungsarmee Ellinikós Laikós und den USA (1942/43) Planungen gegeben, Apelevtherotikós Stratós (ELAS) überlief und in- eine österreichische Einheit aufzustellen, doch nerhalb der 10. bzw. 11. Division der ELAS waren diese an den unterschiedlichen Interessen kämpfte.87 Ebenfalls vom Strafbataillon 999 zu der Exilorganisationen bzw. teilweise auch an der den griechischen Partisanen der ELAS überge- Politik der Exilländer vorerst gescheitert.91 Der Gründung des ersten von insgesamt laufen war der Leobener Karl Fladerer, der wegen Vorbereitung zum Hochverrat im Rah- fünf Österreichischen Bataillonen in Jugoslawien

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

ging eine Besprechung einer jugoslawischen Militärkommission mit der im Moskauer Exil befindlichen Führung der KPÖ im Mai 1944 voraus, bei der beschlossen wurde, in Jugoslawien österreichische Partisaneneinheiten aufzustellen. Zwischen August und Oktober 1944 wurden von der sowjetischen Luftwaffe über zwanzig österreichische Freiwillige nach Slowenien ausgef logen, die mit der Aufstellung eines Bataillons begannen. Dabei wurden zum einen jene Österreicher ins Bataillon überstellt, die schon längere Zeit bei den slowenischen Partisanen kämpften, und zum anderen wurde versucht, österreichische Kriegsgefangene anzuwerben. Nachdem sich über 120 Kämpfer, darunter 63 Kriegsgefangene, dem Bataillon angeschlossen hatten – bis zur Befreiung sollten über 150 Kämpfer dem Ersten Österreichischen Bataillon angehören –, wurde ein sechs Personen umfassendes Komitee gebildet – ihm gehörte u. a. der steirische Bauer Anton Schober an –, das am 18. November 1944 einen Brief an den Hauptstab der Jugoslawischen Volksarmee schrieb, in dem es heißt: „Österreichische Kriegsgefangene, freiwillig auf die Seite der Volksarmee Sloweniens übergetretene Soldaten und Freiheitskämpfer aus Österreich haben uns beauftragt, an Sie mit der Bitte heranzutreten, im Rahmen der Volksarmee Sloweniens eine österreichische Einheit zu formieren. […] Unter uns befinden sich Anhänger verschiedener Parteirichtungen – Arbeiter, Angestellte, Bauern, Bürger und Intellektuelle –, die alle durch den Willen geeint sind, den gemeinsamen Kampf für ein freies, unabhängiges und demokratisches Österreich im Sinne der Beschlüsse der Moskauer Konferenz der drei verbündeten Großmächte zu führen.“92 Parallel zur Gründung des Ersten Österreichischen Bataillons wurde in Slowenien am Aufbau der Österreichischen Freiheitsfront für Kärnten

625

und die Steiermark (ÖFF) als politische Organisation gearbeitet. Diese sollte im Sinn der Volksfrontstrategie der KPÖ auf politisch breiter Basis stehen. In einem Protokoll im Vorfeld der Gründung der ÖFF vom 16. Oktober 1944 heißt es unter anderem: „Es soll Kurs auf die Bildung eines zentralen Komitees oder Ausschusses der Österreichischen Freiheitsfront genommen werden. Dazu soll nach einer Besprechung mit Genossen Wallner [d. i. der Steirer Fritz Matzner, Anm. Autor] versucht werden, außer ihm noch einen bekannten Sozialdemokraten zu finden und vor allem Kontakt mit katholischen Bauernkreisen gesucht werden. [sic] Die Bildung des Komitees soll erst erfolgen, [wenn] es gelungen ist, einige entsprechende Persönlichkeiten zu gewinnen; […] Alle österreichischen Stellen sind darauf aufmerksam zu machen, dass die Arbeit unter den ehemaligen Gewerkschaftern und Genossenschaftlern verstärkt werde. […] [gezeichnet mit richtigen Namen].“93 Ende des Jahres 1944 wurde in Črnomelj die Landesleitung der Österreichischen Freiheitsfront für Kärnten und die Steiermark gegründet, deren Vertreter der nachmalige Innenminister, der Kommunist Franz Honner („Franz Schmidt“), der katholische Rechtsanwalt Dr. Robert Zhuber („Dr. Otto Diexer“), der Kärntner Sozialist Erwin Scharf („Erwin Walter“) und der nachmalige steirische SP-Landesrat Fritz Matzner („Anton Wallner“) waren. Diese gaben in der Folge die Zeitung „Der Österreichische Freiheitskämpfer“94 sowie die „Schriftenreihe der österreichischen Freiheitsfront“ heraus. Das Bataillon war nach sowjetischem Modell bis in die Kompanien hinein parallel militärisch und politisch strukturiert. An der Organisationsspitze standen alte erfahrene kommunistische Kader, zumeist Spanienkämpfer. Ab der Ebene der beiden Kompanien fanden sich

626

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

Steirer, die über 40 Prozent der Mitglieder des Bataillons stellten,95 in führenden Funktionen. So waren der aus Perlsdorf stammende Rudolf Fuchs und der aus Katzendorf kommende Anton Schober Leiter des militärischen Kommandos. Unteroffiziersfunktionen übten zudem der Grazer Johann Suppan und der Triebener Simon Jetz aus.96 Das Erste Österreichische Bataillon beteiligte sich von Jänner bis Mai 1945 mit rot-weiß-roten Farben auf der Uniform im Rahmen der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee an verschiedenen Kämpfen, ehe es am 9. Mai mit slowenischen Partisanen in Laibach/Ljubljana einmarschierte. Am 7. Juni 1945 traf das Bataillon in Wien ein, wo einige der Kämpfer in den Sicherheitsdienst der provisorischen österreichischen Regierung eintraten. Doch führten die unter kommunistischer Führung stehenden Österreichischen Bataillone in Slowenien dazu, dass General de Gaulle die Aufstellung einer nicht-kommunistischen österreichischen Formation in Frankreich anregte. So wurde am 1. Mai 1945 in der zentralfranzösischen Stadt Riom das Erste Österreichische Freiwilligen-Sicherheitsbataillon gegründet, das aber erst im Juli Bataillonsstärke hatte und am 26. September 1945 nach Tirol und Vorarlberg kam. Auch hier wirkten Steirer, wie der Grazer de Montmorency, teilweise führend mit.97 Steirische KünstlerInnen und Wissenschaftler im Exil Das Exil führte zu einem enormen geistigen und kulturellen Aderlass in Österreich. Durch die Vertreibung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern kamen praktisch ganze Wissenschaftszweige zum Erliegen, wie z. B. auf dem Gebiet der Psychologie und Psychoanalyse (u. a. Anna und Sigmund Freud, Karl und Charlotte Bühler), der theoretischen Physik (u. a. Erwin Schrödinger und Lise Meitner) oder der

Sozialwissenschaften (u. a. Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld). Ähnliches kann auch für die Kunst und Kultur (Max Reinhardt, Billy Wilder, Karl Farkas, Arnold Schönberg, Oskar Kokoschka, Fritz Wotruba, …) gesagt werden. Durch die Vertreibung von Schriftstellerinnen und Schriftstellern (u. a. Hermann Broch, Elias Canetti, Ödön von Horváth, Theodor Kramer, Robert Musil, Joseph Roth, Hilde Spiel, Friedrich Torberg, Franz Werfel, Stefan Zweig, …) musste die österreichische Literatur einen langfristigen Bedeutungsverlust hinnehmen.98 Davon betroffen war – wenn auch nicht im selben Ausmaß wie Wien – auch die Steiermark. So wurden von der Universität Graz neben den drei bereits einleitend genannten Nobelpreisträgern, dem Pharmakologen Otto Loewi und den Physikern Victor Franz Hess und Erwin Schrödinger, auch noch der Philologe und Rabbiner David Herzog,99 der Jurist Josef Dobretsberger und der Kunsthistoriker Wilhelm Suida vertrieben. Zahlreiche weitere Wissenschaftler, wie der Wirtschaftswissenschaftler Franz Nemschak oder der Staatswissenschaftler Erich Hula, mussten Österreich ebenfalls verlassen. Auch mehrere Schriftsteller und Schriftstellerinnen waren teilweise aus politischen und teilweise aus rassistischen Gründen gezwungen zu emigrieren. Neben den in den unterschiedlichsten Exilorganisationen zum Teil führend tätigen Schriftstellern Ernst Fischer und Josef Otto Lämmel mussten auch die Grazer Schriftstellerin und Malerin Mela Hartwig (d. i. Mela Spira), die über Vermittlung von Virginia Woolf in Großbritannien eine Arbeitserlaubnis erhielt und als Lehrerin für deutsche Sprache und Literatur tätig wurde,100 und einer der bedeutendsten Filmautoren des deutschen Stummfilms, der Grazer Carl Mayer, aus rassistischen Gründen nach Großbritannien f liehen.101 Der seit 1923 mit Unterbrechungen in Graz lebende Autor Hans Leif helm war, nachdem er 1932 Direktor der Fachschule für Wirtschaft

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

627

und Verwaltung in Düsselgef lohene Architekt Herbert dorf geworden war, nach der Eichholzer, der ein gut geMachtübernahme der Nahendes Atelier zurückließ tionalsozialisten in Deutschund zunächst nach Paris f loh, land wieder nach Graz zuehe er schließlich ins türkirückgekehrt, von wo er 1935 sche Exil ging, von wo er nach Italien emigrierte. Auch 1940 im Auftrag der Ausbereits vor der Machtergreilandsorganisation der KPÖ fung der Nationalsozialisten nach Graz zurückkehrte, um in Österreich emigrierte die Verbindungen zum WiKurt Neumann, der bis zum derstand wieder herzustellen, 12. Februar 1934 stellvertrein seiner Verteidigungsschrift tender Chefredakteur der vor dem Volksgerichtshof sozialdemokratischen Tages1942: zeitung „Arbeiterwille“ ge„Abgesehen von meinem wesen war und nach den Kampfund Opferwillen Josef Otto Lämmel Februarkämpfen nach Paris hätte ich meiner damaligen StLB ging, ehe er 1937 wieder Ansicht nach auch zum Pronach Wien zurückkehrte und bei der Gründung selyten werden müssen. Ein Maler [und] der Zeitschrift „Plan“ um Otto Basil beteiligt auch ein Bildhauer können letzten Endes war. Nach dem „Anschluss“ 1938 ging er zuihrer Kunst im Stillen dienen. Der Architekt nächst ins tschechoslowakische, danach ins frankann nur in aller Öffentlichkeit schafzösische Exil, ehe er in die USA reiste, wo er fen.“105 in Hollywood u. a. in Fritz Langs „Hangman Bereits 1935 emigrierte der ehemalige VizeAlso Die“ (1943) mitwirkte.102 In die Niederlande emigrierte die ehemalige sozialdemokra- präsident der Grazer Sezession, der Architekt tische Landtagsabgeordnete Martha Tausk, die Eugen Székely, nach Palästina, wobei neben der auch schriftstellerisch tätig gewesen war.103 politischen Repression – er war Parteigänger der Unmittelbar nach dem „Anschluss“ 1938 Sozialdemokratischen Partei gewesen – die immer verließ der in Graz geborene Dirigent und Kom- massiver vorgebrachten antisemitischen Überponist Robert Stolz seine Heimat und emigrier- griffe mit ausschlaggebend gewesen sein dürfte über die Schweiz nach Paris, wo 1939 die ten.106 Ebenso gehörte der ehemalige Präsident Operette „La montagne bleue“ entstand, aber der Sezession Wilhelm Thöny zu den steirischen wegen Kriegsbeginn nicht mehr aufgeführt wer- Exilanten, der gemeinsam mit seiner jüdischen den konnte. Nach der Internierung als feindlicher Frau – wie er Alfred Kubin in einem Brief mitAusländer im Lager Les Colombes konnte er im teilte – 1938 „den Weg nach dem Osten, d. h. April 1940 in die USA emigrieren, wo er über- zurück nicht mehr finden [wollte], eine gewisse wältigende Erfolge feierte und zweimal für den Düsternis verhüllt mich“.107 Deshalb emigrierte das Ehepaar von Frankreich aus in die USA, wo Oscar nominiert wurde.104 Auch zahlreiche bildende Künstler mussten Thöny und seinen Arbeiten große Aufmerksam– teilweise um an ihrem „Projekt der Moderne“ keit und Wertschätzung entgegengebracht wurfesthalten zu können – emigrieren. So meinte den. Ebenfalls in die USA emigrierte Oskar etwa der bereits am 12. März 1938 aus Graz Stössel, der dort seinen naturalistischen Malstil

628

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

beibehielt und als Portraitist u. a. durch Radierungen von Präsident Franklin D. Roosevelt bekannt wurde.108 Mit seiner jüdischen Frau ins englische Exil f loh Josef Heu, der durch ein in der Nähe seines Fluchtortes Ampleforth gelegenes Benediktinerkloster erste Aufträge erhielt, dem bald weitere, von anderen Klöstern, folgten, sodass er sich ganz der kirchlichen Kunst zuwandte.109 Der mit Eichholzer und Nemschak im März 1938 aus Graz gef lohene Axl Leskoschek musste 1940 wegen der drohenden Abschiebung nach Deutschland aus der Schweiz nach Brasilien emigrieren, wo er u. a. als Professor an einer Kunstschule für Grafik Holzschnitt und Komposition lehrte.110 Der 1938 nach Paris gef lohene Architekt Franz Schacherl bekam über Vermittlung Baron Rothschilds von der portugiesischen Regierung den Auftrag, in Angola Spitäler und Regierungsgebäude zu errichten, die jedoch über die Planungsphase nicht hinaus kamen. Lediglich zwei Privathäuser, ein Hotel und ein Kino wurden in Angola nach seinen Plänen gebaut, ehe Schacherl 1943 im Exil während einer Operation starb.111 Rückkehr Mit der Befreiung Österreichs eröffneten sich für die aus Österreich Gef lüchteten zwei Möglichkeiten: die Rückkehr nach Österreich und das Mitwirken am Auf bau der Zweiten Republik oder die dauerhafte Niederlassung im Land des Exils mit der Annahme der jeweiligen Staatsbürgerschaft. Von den mehr als 130.000 aus Österreich Gef lüchteten war ein Großteil aus rassistischen Gründen vertrieben worden, weshalb die wenigsten an eine Rückkehr als vielmehr an eine Einbürgerung in der neuen Heimat dachten. Anders verhielt es sich bei den politischen Flüchtlingen, die sich – wie im Gedicht von Bertolt Brecht deutlich wird – nie als

Emigranten, sondern als Exilanten sahen und bestrebt waren, so rasch wie möglich nach Österreich zurückzukehren, um das politische Leben hier mitzugestalten.112 So kamen beispielsweise mit der Roten Armee die Funktionäre der KPÖ aus dem sowjetischen Exil nach Österreich, wo im April 1945 Johann Koplenig Vizekanzler und Ernst Fischer Staatssekretär wurden und nach den ersten Wahlen bis 1959 Nationalräte blieben. Öffentliche politische Funktionen in der Steiermark bzw. in Wien übernahmen auch noch andere ehemalige steirische Exilierte. So war der aus Slowenien zurückgekehrte Sozialist Fritz Matzner zwischen 1945 und 1960 Landesrat und ab 1960 Landeshauptmannstellvertreter. Otto Fischer saß von 1945 bis 1949 für die KPÖ im Steiermärkischen Landtag, und Hans Hladnik gehörte als Mandatar für die SPÖ von 1949 bis 1951 dem Bundesrat an. Keine politische Rolle spielten Exilanten aus dem bürgerlichen Lager, wie beispielsweise der ehemalige Minister und Rektor der Universität Graz Josef Dobretsberger, der 1938 in die Türkei und 1942 weiter nach Kairo emigriert war, wo er an den Universitäten lehrte und erst wieder im Sommer 1946 nach Graz zurückkehrte. Dobretsberger, der seine Professur an der Universität Graz zurückerhielt und der 1946/47 auch wieder Rektor wurde, versuchte 1949 im Rahmen der Demokratischen Union wieder politisch Fuß zu fassen, doch scheiterte dieser Versuch ebenso wie vier Jahre später, als er Spitzenkandidat der Volksopposition – einem Wahlbündnis der Demokratische Union mit der KPÖ – war.113 Von den vertriebenen steirischen Wissenschaftlern, Künstlerinnen und Künstlern kehrten nur einige wenige nach 1945 nach Österreich zurück. Zwar waren mehrere der im Exil lebenden Künstler bereits im Oktober 1945 erstmals wieder im Rahmen einer Ausstellung der Sezession in der Neuen Galerie in Graz vertreten,114 doch eingeladen, selbst zurückzukehren,

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

wurden sie – wie einleitend gesagt – nicht. Mela Hartwig (Spira) reiste 1948 für kurze Zeit aus Großbritannien in die Steiermark, und Axl Leskoschek kehrte im gleichen Jahr aus Brasilien nach Österreich zurück, doch wirklich heimgekehrt, da nie heimgeholt, war er nie, und sein richtiges Exil setzte erst hier ein. Kurz vor seinem Tod 1976 meinte er in einem Rückblick, es sei der größte Fehler seines Lebens gewesen, Brasilien zu verlassen, wo er so viele Freunde und Schüler hatte, um in sein Heimatland zurückzukehren und dort weiterhin unbekannt, fast anonym zu bleiben. Bald nach seiner Rückkehr hatte er dies noch mit Ironie gesehen, wenn er etwa in „Eine Biographie, wie ich mir sie vorstelle“ schreibt:

629

„Dort in Brasilien, wo auch damals Getulio Vargas, aber noch als Diktator, regierte, ließ man mich in Ruhe, ja man gab mir sogar eine Professur. Dieses Ereignis wiederholte sich keineswegs nach meiner Rückkehr nach Österreich, obwohl der Rektor und die Professorenschaft einer hiesigen Hochschule meine Betrauung mit einer Lehrstelle beantragt hatten. Auf diese Weise blieb dem Staat 0,000.000.001 Promille Budget, hinausgeworfen für einen Unwürdigen, erspart.“115 Insgesamt sind nur rund acht Prozent der über 130.000 EmigrantInnen und ExilantInnen nach 1945 zeitweilig oder dauerhaft wieder nach Österreich zurückgekehrt.116

Anmerkungen * 1

2 3 4

5

6

7

8

9

10

Dieser Beitrag wurde im Jahr 2009 abgeschlossen. StLA, Archiv der Sezession Graz, Brief Gustav Scheigers an Wilhelm Thöny, 18. 11. 1946. Eisenhut, Wilhelm Thöny 464–477. Eisenhut/Haas, Axl Leskoschek 258–274. Zu den drei genannten Nobelpreisträgern siehe u. a.: Smekal, Österreichs Nobelpreisträger 105ff.; Lembeck, Otto Loewi; Lembeck/Giere, Otto Loewi; Mindler, Nationalsozialistische Universitätspolitik 89–106; Huemer, Victor Franz Hess; Moore, Erwin Schrödinger; Hoffmann, Erwin Schrödinger. Als Steirerinnen und Steirer wurden hier auch Personen aufgenommen, die zum Zeitpunkt ihrer Emigration nicht mehr in der Steiermark gelebt, aber lange und entscheidende Jahre hier gewirkt haben. Vgl. Schwarz/Ganglmair, Emigration und Exil 817–849. Brecht, Emigranten 137. Dazu: Mews, Emigranten 294–296. Vgl. Stammen, Exil und Emigration 11–27; Eppel, Österreicher in der Emigration 69–81. Zu den steirischen Flüchtlingen: Fleck, Das Ende als Anfang 344–353. Allgemein dazu: Stadler, Opfer verlorener Zeiten; Marschalek, Untergrund und Exil; Buttinger, Am Beispiel Österreichs; DÖW, Sowjetunion; McLoughlin, SchutzbundEmigration 159–434. Marschalek, Untergrund und Exil 22.

11 12 13

14 15 16

17 18 19

20 21 22

23

24 25

Arbeiter-Zeitung (25. 2. 1934), 3. Mang, Steiermarks Sozialdemokraten 235–239. Archiv der Republik (AdR), BKA-Inneres, 22 gen, Karton 4886, Akt 154.491/34: Sicherheitsdirektor für das Bundesland Kärnten an das Bundeskanzleramt (Staatspolizeiliches Büro) Wien, 11. 4. 1938. Mang, Steiermarks Sozialdemokraten 76. Halbrainer, Maribor und Zagreb 44–49. Wallisch, Ein Held stirbt 209f. Die Erstausgabe dieses Buches, das Wallisch im Exil verfasst hat, erschien 1935 in Prag. McLoughlin, Schutzbund-Emigration 170. Leichter, Zwischen zwei Diktaturen 436. Vgl. McLoughlin/Leidinger, Kommunismus in Österreich 318–360. Fischer, Erinnerungen und Ref lexionen 291–470. Marschalek, Untergrund und Exil 52. McLoughlin, Schutzbund-Emigration 169f. Allein beim ersten, 326 Personen umfassenden, Transport waren neben 220 Wienern 30 Männer aus der Steiermark, beim zweiten waren von den 230 Schutzbündler 40 Steirer. Im November 1934 folgten weitere – v. a. jene, die zunächst nach Jugoslawien gef lohen waren. DÖW, Sowjetunion 137; McLoughlin, Schutzbund-Emigration 286ff. McLoughlin, Schutzbund-Emigration 288f. Schafranek, 405 Kurzbiographien 168.

630 26

27

28

29 30 31 32 33

34

35

36 37 38 39 40

41

42

43

44

45

46

47

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“

Vgl. den Beitrag von Heimo Halbrainer über die Steirer und Steirerinnen im Spanischen Bürgerkrieg in diesem Band. Das NKWD (Narodnyj kommissariat wntrennich djel) war ab 1934 die sowjetische Geheimpolizei, eigentlich Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten. McLoughlin, Schutzbund-Emigration 344. Biographische Angaben zu den Genannten sowie zu anderen finden sich bei: Schafranek, 405 Kurzbiographien 161–244; McLoughlin/Szevera, Posthum Rehabilitiert; Baier/Muhri, Stalin und wir. McLoughlin, Schutzbund-Emigration 344. Halbrainer, „Von der Kunst zur Politik“ 68. Autengruber, Demokratische Union. Moser, Demographie 56. Vgl. den Beitrag von Gerald Lamprecht über die Zerstörung der jüdischen Gemeinde von Graz in diesem Band. Detaillierte Angaben zu den einzelnen Ländern: Moser, Demographie 65–79. Eine genaue Aufstellung der Holocaustopfer in diesen Ländern findet sich bei Moser, Demographie 72–79. Schewig-Pfoser/Schwager, Frankreich 10–20. Loidl, USA 1–6; DÖW, USA II, 640ff. Schewig-Pfoser/Schwager, Frankreich 5. Hackermüller, Roda Roda 181ff. Hackermüller, Roda Roda 21. Zum Aufruf siehe auch die kritische Reaktion in der Zeitschrift „Sozialistischer Kampf “ vom 14. 1. 1939 (abgedruckt in: DÖW, Frankreich 158f.). Zu den einzelnen Schriftstellern und Schriftstellerinnen: Bolbecher/ Kaiser, Lexikon. Buttinger-Liste von Österreichern, die am 12. 9. und 13. 10. 1940 auf der „Nea Hellas“ in New York ankamen, o. D. (vermutlich Herbst 1940). In: DÖW, USA I, 153–155. Halbrainer, Graz–Paris–Montauban–Auschwitz 21–40. DÖW, USA II, 527ff. Vgl. Ardelt, „Wer sind wir?“ 277–294. Buttinger-Nachlass im DÖW. Dazu Halbrainer, Die gescheiterte Flucht 17–62. Bericht über die Konstituierung und die Aufgaben des Austrian Labor Committee. In: Austrian Labor Information (20. 4. 1942). Abgedruckt in: DÖW, USA II, 571. Bericht über die Beschlüsse der Exekutive des Austrian Labor Committee vom 12. 4. 1944. In: Austrian Labor Information (März/April 1944). Abgedruckt in: DÖW, USA II, 619f. Mang, Steiermarks Sozialdemokraten 42–45.

48 49 50

51

52 53

54

55

56 57

58 59 60

61

62

63

64

65 66 67 68

69

DÖW, USA II, 346. DÖW, USA II, 283ff. Aktionsprogramm des Free Austrian Movement, März 1943. In: Frei Österreich. Mitteilungen. Free Austrian Movement. Frei-Österreich-Bewegung (März 1943). Abgedruckt in: DÖW, USA II, 440f. „Auf bau“-Artikel über die Gründung der Christlichsozialen Partei in New York, 24. 11. 1944. Abgedruckt in: DÖW, USA II, 469ff. DÖW, USA II, 262. Erich Hula war zwischen 1931 und 1933 ein Mitarbeiter von Hans Kelsen am Kölner Institut für Internationales Recht gewesen, ehe er zwischen 1933 und 1937 in Graz wirkte. Am 12. März 1938 f loh er in die Tschechoslowakei und danach weiter in die Schweiz, nach Großbritannien und in die USA, wo er schließlich Professor an der New School for Social Research in New York wurde. Vgl. Feichtinger, Wissenschaft 298–301, 316–323. Feichtinger, Wissenschaft 264 und 298f. Zu Suida: Biedermann, Wilhelm Suida 282–285. Aufruf des Austrian Institute für Science, Art and Economy zum Beitritt, November 1943, in: Ebd., 453. Lebedeva, Österreichische Kommunisten 39–60. Bild- und Tonarchiv am Joanneum, Graz. Interview mit Otto Fischer (1977). Transkript des Interviews, 45ff. Fischer, Kurze Geschichte 148ff. Fischer, Kurze Geschichte 162. Darüber berichtet etwa Ernst Fischer in seinen Erinnerungen. Fischer, Erinnerungen und Ref lexionen 430ff. „Aufruf zur Bildung der Freiheitsfront“ (Im Sender „Freies Österreich“, am 22. und 23. 10. 1942). In: Die KPÖ im Kampf für Unabhängigkeit (1978), 133–138. Vgl. dazu: Lebedeva, Österreichische Kommunisten 42f. Vgl. den Beitrag von Heimo Halbrainer über den Widerstand in der Steiermark in diesem Band. Die erste Antifa-Schule wurde am 2. 5. 1942 im Kriegsgefangenenlager Oranki bei Gorki geschaffen, doch nahmen hier keine Österreicher teil. Frick, Umdenken hinter Stacheldraht 21ff.; Schafranek, Kriegsjahre 596ff. Frick, Umdenken hinter Stacheldraht 33. Muchitsch, Rote Stafette 218ff. DÖW, Großbritannien 154. Bearman, Wien–London; Müller, „Fluchtpunkt England“ 5–28. Zu den Zielen: Werbeblatt des FAM über dessen Ziele und Auf bau, in: DÖW, Großbritannien 294f; Die Ziele des Free Austrian Movement. In: Zeitspiegel (19. 6. 1943).

Halbrainer / „Immer gaben sie uns den falschen Namen Emigranten“ 70 71 72

73

74 75

76 77 78 79 80 81 82

83 84 85

86 87

88

89 90

91

92

93

94 95

Zeitspiegel (1. 4. 1944). Müller, „Fluchtpunkt England“ 83. London-Information ( Juni 1941). In: DÖW, Großbritannien 198f. London-Information (2. 6. 1942). In: DÖW, Großbritannien 196. DÖW, Großbritannien 155ff., 201ff. Steiermärkische Landesbibliothek, Nachlass Josef Otto Lämmel; Feichtinger, Das christlichsoziale Exil 34–39, 78–80. Beer, „Christus, der König“ 47–62. DÖW, Großbritannien 549–553. Beer, ÖsterreicherInnen 213f. Muchitsch, Mit Spaten, Waffen und Worten. Landauer, Lexikon (2008), 141. Beer, „Ernest Cole“ 16–20. Sanders, Emigration ins Leben 206f.; sowie allgemein: Martin-Smith, Widerstand vom Himmel. Sanders, Emigration ins Leben 223ff. Muchitsch, Rote Stafette 218ff. Reichskriegsgericht, StPl. (HLS) I 32/39: Feldurteil gegen Friedrich Pietzka. Ruggenthaler, Partisaneneinheiten 227ff. Interviews mit August Pirker am 21. 3. 1985 und 16. 3. 1988 sowie Briefe vom 1944 bis 1947. OJs 93/40: Urteil gegen Rupert Puntigam, Karl Fladerer u. a. Muchitsch, Rote Stafette 203ff. Vgl. allgemein dazu: Fleck, Koralmpartisanen; Wachs, Kampfgruppe Steiermark. DÖW, USA II, 7–29; DÖW, Großbritannien 496– 497; Muchitsch, Mit Spaten, Waffen und Worten 49–52. Fürnberg, Österreichische Freiheitsbataillone 12– 14. Gedächtnisprotokoll vom 26. 11. 1944, zit. nach: Holzer, Die Österreichischen Bataillone 249. Holzer, Die Österreichischen Bataillone 436–441. Holzer, Die Österreichischen Bataillone 452–455.

631

Holzer, Die Österreichischen Bataillone 270–273; Butina, Das Erste Österreichische Bataillon 4f. 97 Palisek/Hatschek, Landesverräter oder Patrioten 77–194. 98 Vgl. Stadler, Vertriebene Vernunft; WiesingerStock/Weinzierl, Vom Weggehen; Bolbecher/ Kaiser, Lexikon. 99 Herzog, Erinnerungen eines Rabbiners. 100 Schmid-Bortenschlager, Exil und literarische Produktion 88ff.; Kernmayer, Ekstasen 166ff. 101 Omasta/Mayr, Carl Mayer. 102 Bild- und Tonarchiv am Joanneum, Graz. Interview mit Dr. Kurt Neumann; Eisenhut, Kulturzeitschrift „PLAN“ 82–91. 103 Dorfer, Martha Tausk. 104 Semrau, Robert Stolz. 105 Eichholzer, Mein Weg. 106 So rief die in Graz herausgegebene Zeitung der NSDAP, „Grazer Nachrichten“, am 23. 3. 1929 zum Boykott des jüdischen Architekten Eugen Szèkely auf. Zu Szèkely: Senarclens de Grancy, Eugen Szèkely 454–463. 107 Neue Galerie Graz, Wilhelm Thöny-Archiv: Brief Wilhelm Thönys an Alfred Kubin vom 29. 9. 1937. 108 Eisenhut, Oskar Stössel 448–453. 109 Eisenhut, Josef Heu 252–255. 110 Eisenhut/Haas, Axl Leskoschek. 111 Eisenhut, Franz Schacherl 380–391. 112 Vgl. dazu die Kapitel in den einzelnen Länderdokumentationen des DÖW, Österreicher im Exil. 113 Autengruber, Demokratische Union; Fleck, Der Fall Brandweiner. 114 15. Ausstellung der Sezession Graz vom 7. 10. bis 30. 10. 1945 in der Neuen Galerie. Faksimile der Liste der ausgestellten Arbeiten in: 70 Jahre Sezession Graz (1993), 66. 115 Leskoschek, Biographie. 116 Wiesinger-Stock/Weinzierl, Vom Weggehen 14. 96

Gerhard Baumgartner

Das Schicksal der Roma-Bevölkerung in den 1939 dem Reichsgau Steiermark einverleibten ­burgenländischen Gebieten

Mit dem Gebietsveränderungsgesetz vom 1. Oktober 1938 wurden die Grenzen der zukünftigen Landkreise und Gaue neu gezogen, und mit dem sogenannten Ostmarkgesetz von 14. April 1939 hörte das Burgenland offiziell auf zu existieren. Im Zuge dieser Gebietsregelung fiel mit dem Territorium der südburgenländischen Bezirke Oberwart, Güssing und Jennersdorf ein Gebiet an die Steiermark, dessen Bevölkerungszusammensetzung sich auffällig von jener der übrigen steirischen Landkreise unterschied. Aufgrund ihrer jahrhundertelangen Zugehörigkeit zum Königreich Ungarn wies diese Region eine ethnische und religiöse Vielfalt auf, wie sie eher für die östlichen Kronländer der ­Habsburgermonarchie charakteristisch gewesen war. Neben deutschsprachigen „Heanzen“ lebten hier noch Kroaten, Ungarn und Roma, aufgeteilt auf vier Konfessionen. Im Bezirk Oberwart war dieser ganze Kosmos an Sprach- und Religionsgruppen auf kleinstem Raum vereint. Bei der Volkszählung 1923 bekannten sich 11,2 Prozent der Bevölkerung zur ungarischen und 7,3 Prozent zur kroatischen Sprachgruppe. 15 Dörfer waren mehrheitlich kroatischsprachig, während der Bezirksvorort sowie zwei seiner Nachbargemeinden mehrheitlich ungarischsprachig waren. 8 Prozent der Bezirksbevölkerung waren laut einer Erhebung des Landesgendarmeriekommandos Roma, landläufig „Zigeuner“ ge-

nannt, die in 38 kleineren und größeren Siedlungen über den gesamten Bezirk verteilt lebten. Ein Drittel der Bevölkerung war protestantisch, in 30 Orten stellten sie die Bevölkerungsmehrheit, wobei die Mehrheit der Protestanten des Bezirksvorortes Oberwart nicht Protestanten Augsburgischen Bekenntnisses, also Lutheraner, sondern Protestanten Helvetischen Bekenntnisses, also Kalvinisten waren. Im Bezirksvorort gab es also drei Kirchen, eine katholische, eine evangelische und eine kalvinistische – sowie eine Synagoge. Die rund 500 Juden des Bezirkes waren in vier Kultusgemeinden organisiert, die zum Teil bis ins frühe 16. Jahrhundert zurückreichten.1 Diese sprachliche, ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt wurde in den Jahren zwischen 1938 und 1945 weitgehend zerstört. Die Mitglieder der kroatischen und ungarischen Sprachgruppe waren zwar auch einigen Drangsalierungen ausgesetzt, wurden aber – sofern sie nicht prononcierte Vertreter oppositioneller Parteien waren – nicht zu Opfern gezielter Verfolgungsmaßnahmen.2 So konnten sich die kroatische und ungarische Umgangssprache in vielen Dörfern auch nach 1945 weiter behaupten. Völlig zerstört wurden hingegen die jüdischen Gemeinden des Südburgenlandes sowie die 60 Roma-Siedlungen der Region, die fallweise bis zu 300 Einwohner hatten. Ein Großteil der rund 630 südburgenländischen Juden

634

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

überlebte Flucht und Vertreibung, kehrte aber nach 1945 nicht mehr ins Burgenland zurück.3 Der rigorosesten Verfolgung waren allerdings die als „Zigeuner“ gebrandmarkten Roma ausgesetzt. Nur rund 10 Prozent von ihnen überlebten den Holocaust, und bis heute ist das Schicksal eines Großteils dieser Opfer ungewiss.4 Weitgehend ungewiss ist auch die Zahl der Opfer. Die verschiedenen in der Zwischenkriegszeit in Österreich durchgeführten „Zigeunerzählungen“ zeichneten sich in erster Linie durch unterschiedlichste Erhebungsmethoden aus und führten daher zu bisweilen extrem voneinander abweichenden Zahlen. Da diese Ergebnisse nicht selten als Druckmittel in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt wurden, waren diese Zahlen teilweise auch aus politischem Kalkül überhöht. Die ersten Zahlenangaben über Roma und Sinti5 im heutigen

Burgenland stammen aus den 1920er Jahren. Im Jahr 1925 wurden 5.480 „Zigeuner“ ermittelt, für das Jahr 1927 waren es 6.032 Personen, die nach Angaben des Landesgendarmeriekommandos alle in einer eigenen „Zigeunerkartei“ erfasst waren.6 Eine gesonderte Zählung der Gendarmerie in denselben Jahren kam aber auf 5.199 „Zigeuner“ für 1925 und 7.164 „Zigeuner“ für 1927.7 Besonders während der Diskussion um ein in Vorbereitung befindliches, sogenanntes ­„Zigeunergesetz“ aus dem Jahre 1937 agierten die Gemeinden mit Zahlen – basierend auf einer Auf listung der mit Stichtag 28. Juli 1936 in den Gemeinden anwesenden Personen –, die wesentlich von den Angaben der Heimatrollen abwichen. Damals wurde für das Burgenland eine Zahl von 7.872 „Zigeunern“ festgestellt.8

Anzahl der „Zigeuner“ in den Bezirken des Südburgenlandes nach verschiedenen Zählungen zwischen 1923 und 1936

Ort/Gemeinde

Ortsverzeichnis 1923 (1)

BH Oberwart 1924 (2)

Zählung 1925/1926 (3)

Oberwart Oberwart Unterwart Neustift a. d. Lafnitz Schreibersdorf Wiesf leck Grafenschachen Welgersdorf Woppendorf Kemeten Litzelsdorf Aschau Weinberg

1.388 162 124

1.846 191 147

2.545 200 147

116

135

117 45 37

5 17

55 41 16 1

79 23

BHs Gendarme- Landes1930/1931 rie Worm haupt(4) 1933 (5) mannschaft 1936 (6) 3.130 3.555 3.912 218 281 294 157 182 203 159

171

182

51 42 19

157 60 43 59

87 7 98 18

100 9 115 26

192 58 52 18 3 140 8 137 29

225 61 57 28 3 144 8 164 33

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

Ort/Gemeinde

Willersdorf Schandorf Goberling Spitzzicken Mönchmeierhof Bernstein Grodnau Redlschlag Kleinbachselten Rohrbach a. d. Teich Unterschützen Sulzriegel Zuberbach Jabing Kleinpetersdorf Althodis Oberpodgoria Rumpersdorf Holzschlag Glashütten Günseck Allhau Buchschachen Loipersdorf Weißenbach Kitzladen Großbachselten Schreibersdorf Stadt Schlaining Wolfau

Ortsverzeichnis 1923 (1) 3

BH Oberwart 1924 (2) 17 30

Zählung 1925/1926 (3)

635

BHs Gendarme- Landes1930/1931 rie Worm haupt(4) 1933 (5) mannschaft 1936 (6) 21 23 30 34 26 39 74 80 76 87 49 55 148 181 197 134 193 180 30 19 19 116 111 151

10 66

106 83 29 73

16 33 61 67 41 115 93 33 95

50

18

43

65

68

70

78

95 67

103 62 41 52 20 83 19 54 254 53 22 87 153 93

120 62 47 45 19 85 26 64 248 76 31 109 198 103

143 68 37 57 26 97 33 70 289 79 35 111 228 117

157 78 40 64 21 102 30 82 318 91 42 118 251 118

44

45 2

51

53 2

49 59 32 58

80 16

47

122 74 140 36

94 141 83 35 2 130

138 257 1

636

Ort/Gemeinde

Güssing Güssing Gerisdorf b. G. Glasing St. Nikolaus b. G. Steingraben Stegersbach Schallendorf Gamischdorf Tudersdorf Edlitz b. G. St. Kathrein Harmisch Kroat. Ehrensdorf Kulm Winten Deutsch-Tschantschendorf Punitz Steinfurt Deutsch-Ehrensdorf Sumetendorf Neudauberg Neustift b. G. Kleinmürbisch Neusiedl b. G. Kukmirn Limbach Heiligenbrunn Rauchwart Sulz Großmürbisch Rehgraben

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

Ortsverzeichnis 1923 111

111

BH Oberwart 1924

Zählung 1925/1926

536 10 8 13 7 5 140 14 14 4 22 27 28 23 16 9 20

BHs Gendarme- Landes1930/1931 rie Worm haupt1933 mannschaft 1936 606 693 744 11 18 23 7 8 10 17 11 9 5 7 7 6 10 8 176 210 222 18 19 20 10 12 7 4 5 3 9 10 12 30 30 43 17 28 27 52 49 53 26 29 33 7 7 7 11 14 17

10 2 1

10 2 1

11 2 1

12 2 1

5 12 31 33 17 24 23 7

9 8

6 11 40 35 21 51 42 6

6 12 42 35 26 53 38 5

1 6 4

78 19 32 33 4 3 1

1 10

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

Ort/Gemeinde

Ortsverzeichnis 1923

Jennersdorf Rax Krobotek Weichselbaum Wallendorf Königsdorf Zahling Heiligenkreuz Poppendorf Rudersdorf Dobersdorf Deutsch Kaltenbrunn Neumarkt an der Raab St. Martin a. d. R. Doiber Gritsch Minihof-Liebau Gesamt Burgenland

61

BH Oberwart 1924

Zählung 1925/1926

742

45

16

3.570

3.692

8.889

637

BHs Gendarme- Landes1930/1931 rie Worm haupt1933 mannschaft 1936 854 977 1.059 63 101 92 61 61 76 15 17 17 4 4 5 117 115 137 72 81 84 65 77 84 43 33 31 60 70 74 73 91 110 153 169 187 20

22

28

29 32 40 7

47 32 49 8 7.153

44 34 48 8

Quellen: 1: Bundesamt für Statistik (Hg.), Ortsverzeichnis des Burgenlandes 1923. 2: Verzeichnis der Zigeunerkolonien in den Gemeinden des Bezirkes Oberwart sowie die Kopfzahl derselben. Beilage zum Bericht der BH Oberwart an die Burgenländische Landesregierung betr. Zigeunerunwesen vom 18. 9. 1924 3: Verzeichnis A, B und C, BH Güssing, 28. 12. 1925, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938, Mappe 1932; Verzeichnis A, B und C, BH Oberwart, Beilage zum Schreiben der BH Oberwart an das Amt der burgenländ. Landesregierung vom 8. 1. 1926 betr. Zigeuner, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938, Mappe 1932; Verzeichnis A, B und C, Beilage zum Schreiben der BH Neusiedl am See an das Amt der burgenländ. Landesregierung vom 19. 1. 1926 betr. Zigeuner, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938, Mappe 1932; vgl. Zigeunerverzeichnis vom 28. 12. 1925, BLA, zit. nach: Mayerhofer, Kultur der Zigeuner 47f. 4: Schreiben der BH Oberpullendorf an das Amt der burgenländ. Landesregierung vom 21. 7. 1930 betr. Zigeunerfrage, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938; Beilage zum Schreiben der BH Jennersdorf an das Amt der burgenländ. Landesregierung vom 15. 9. 1930, Verzeichnis der Zigeuner im Bezirke Jennersdorf, Handschrift o. D., BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938; Schreiben der BH Mattersburg an das Amt der burgenländ. Landesregierung vom 18. 1. 1931 betr. Zigeunerfrage, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938; Schreiben der BH Neusiedl am See an das Amt der burgenländ. Landesregierung vom 29. 5. 1931 betr. Zigeunerfrage, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938; Schreiben der BH Eisenstadt an das Amt der burgenländ. Landesregierung vom 9. 9. 1930, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938, Mappe V. 5: Worm, Zigeunerstatistik des Burgenlandes. 6: Beilagen zum Amtsvermerk vom 2. 7. 1936, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938, Mappe V.

638

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

Ab Juni 1938 betrieben auch die Nationalsozialisten ständig neue Erhebungen, um die Identität und Zahl der Zigeuner festzustellen.9 In der Denkschrift „Mission des Burgenlandes“10 sowie in der Denkschrift „Die Zigeunerfrage“ des burgenländischen Gauleiters Tobias Portschy11 wurde die Zahl der burgenländischen „Zigeuner“ bereits mit 8.000, in einem Bericht der Landeshauptmannschaft Steiermark vom März 1939 bereits mit 8.446 angegeben.12 Die 1938 einsetzende, radikale „Zigeuner­ verfolgung“ der Nationalsozialisten war ein direktes Erbe der wachsenden sozialen Spannungen der Zwischenkriegszeit in den burgenländischen Dörfern. Nach 1918 waren die Märkte für die Produkte und Dienstleistungen der „Zigeuner“ im Burgenland erheblich geschrumpft,

Romasiedlung Stegersbach, Bezirk Güssing, 1933

und während der Weltwirtschaftskrise verloren viele „Zigeuner“ auch noch ihre traditionellen Verdienstmöglichkeiten als Gelegenheitsarbeiter in der lokalen Landwirtschaft und Industrie. Da die Armenfürsorge damals gänzlich den Gemeinden oblag, stiegen dadurch die finanziellen Belastungen der Gemeinden stetig an und mündeten in immer stärkeren sozialen Konf likten mit den „Zigeunern“. Diese Entwicklungen begünstigten in der ohnehin armen Landbevölkerung des Burgenlandes die Ressentiments gegen die „Zigeuner“. Vor diesem Hintergrund kam es bereits am 15. Jänner 1933 zu einer Zigeunerkonferenz in Oberwart, an der neben Vertretern der burgenländischen Landesregierung, der Christlichsozialen Partei, des Landbundes, der Sozialdemokratischen Partei, der Landesforst-

BLA

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

Romamusiker aus Unterwart, Bezirk Oberwart

verwaltung sowie des Landesgendarmeriekommandanten auch zahlreiche Vertreter politischer Gemeinden teilnahmen. Bezirkshauptmann Mayrhofer führte in seiner Begrüßung aus, dass die Zigeunerplage im Burgenland und insbesondere im politischen Bezirk Oberwart [...] einen derartigen Umfang angenommen [habe], dass sie in kurzer Zeit den Ruin insbesonders jener Gemeinden, die zahlreiche Zigeuner beherbergen, herbeiführen muss. Als Lösung schlug er die Deportation der „Zigeuner“ auf wenig besiedelte Inseln im Stillen Ozean vor.13 Gegen solche Vorschläge, die sich von vornherein schon als undurchführbar erweisen würden, wandte sich damals der als Realpolitiker bekannte christlichsoziale Landesrat Hans Wagner. Er kritisierte damit vor allem die Vorschläge, die Zigeuner irgendwie zu vertilgen, sie unfruchtbar zu machen oder sie in irgendein überseeisches Land

639

Verein Roma, Oberwart

zu deportieren.14 Die Möglichkeit einer Einführung von Zwangsarbeit sowie der Deportation, Sterilisation oder eventuellen Auslöschung der „Zigeuner“ wurde von burgenländischen Lokalpolitikern also bereits in der Zwischenkriegszeit angedacht und diskutiert. Einzig der Grundrechtekatalog der österreichischen Bundesverfassung und des Friedensvertrages von SaintGermain machten in der Zwischenkriegszeit eine radikale Zigeunerverfolgung unmöglich. Der „Anschluss“ Österreichs im Jahre 1938 beseitigte sämtliche dieser rechtsstaatlichen Schranken im Vorgehen gegenüber „Zigeunern“ und führte Rassismus und „Rassenhygiene“ als Staatsdoktrin auch in Österreich ein. Umgekehrt dürften österreichische Behörden und Politiker in den folgenden Jahren vielfach „Impulsgeber“ für die Radikalisierung der na-

640

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

tionalsozialistischen Zigeunerpolitik gewesen sein.15 Das gilt vor allem für Tobias Portschy,16 den stellvertretenden Gauleiter der Steiermark, für Sigfried Uiberreither, den Gauleiter der Steiermark, und für Bernhard Wilhelm Neureiter, den Beauftragten für Zigeunerfragen im Rassenpolitischen Amt der NSDAP-Gauleitung Niederdonau.17 Ergebnis ihrer Interventionen war, dass österreichische Roma 1941 die ersten waren, die als „Zigeuner“ in einer Vernichtungsstätte ermordet wurden. Sofort nach dem „Anschluss“ wurden im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“18 die ersten „Zigeuner“ verhaftet. Am 16. März 1938 wurden die „Zigeuner“ bereits vom Stimmrecht ausgeschlossen.19 Das Musizieren in der Öffentlichkeit, eine wichtige Einkommensquelle für viele „Zigeuner“, wurde verboten.20 Bereits im Mai wurde die genaue Erfassung aller „Zigeuner“ in Österreich angeordnet,21 und im Juli 1938 wurde im Burgenland schließlich die Zwangsarbeit für „Zigeuner“ eingeführt.22 Wesentlich früher als irgendwo sonst wurde im Burgenland bereits im Mai 1938 allen „Zigeunerkindern“ der Schulbesuch untersagt.23 Im Zuständigkeitsbereich des Landesschulrates des Reichsgaues Steiermark wurden 1939 insgesamt 1.296 Kinder vom Schulbesuch ausgeschlossen. 1.071 dieser Kinder besuchten Schulen im Landkreis Oberwart – immerhin 23 Prozent aller schulpf lichtigen Kinder der Region –, 325 Kinder entfielen auf Schulen im Landkreis Fürstenfeld.24 Damit wurden die Erfolge der Einschulung der Roma-Kinder in der Zwischenkriegszeit wieder völlig zunichte gemacht, wie aus einem Schreiben der Gendarmerie Jennersdorf an den Landrat in Feldbach vom 25. November 1939 hervorgeht: Was den Schulbesuch der Zigeunerkinder betrifft wird angeführt, dass diese Kinder zu den öffentlichen Volksschulen nicht mehr zugelassen werden, obwohl dieselben gerne in die Schule gehen möchten. Vor dem Umbruch, wo die

Zigeunerkinder noch die Schule besuchen durften, bezw. dazu verhalten wurden, sind teilweise sogar ganz gute Lernerfolge erzielt worden.25 Die eigentliche Dynamik, die schließlich zur Ermordung eines Großteils der österreichischen „Zigeuner“ führte, wurde durch Verhaftungsaktionen ausgelöst. Im Rahmen des „Erlasses über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ wurden bis zum Juni 1938 alleine im Burgenland 232 „Zigeuner“ verhaftet.26 Ein Jahr später, im Zuge des Auf baues einer SSeigenen Industrie in den Konzentrationslagern,27 ordnete das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) am 5. Juni 1939 die Verhaftung von 3.000 arbeitsfähigen burgenländischen „Zigeunern“ und ihre Einweisung in Konzentrationslager an.28 Bei dieser Verhaftungsaktion im Sommer 1939 ging man in Berlin davon aus, dass die burgenländischen Roma nicht arbeiten, sondern ausschließlich von der Fürsorge leben würden. Das Gegenteil war der Fall. Infolge der kriegsvorbereitenden Rüstungskonjunktur hatten auch viele Roma Arbeit in der Industrie, im Baugewerbe und in der Landwirtschaft gefunden. Sogar der steirische Gauleiter Uiberreither bezweifelte die Zweckmäßigkeit dieser „Zigeunerdeportationen“, stimmte ihnen aber schließlich aus rassistischen Motiven zu: Obwohl es sich hier um unständig beschäftigte Zigeuner handelt, die weder vorbestraft noch arbeitsscheu sind oder in anderer Weise der Allgemeinheit zur Last fallen, will ich ihre Unterbringung in Zwangsarbeitslagern aus der Erwägung heraus anordnen, dass ein Zigeuner als außerhalb der Volksgemeinschaft stehend stets asozial ist.29 Bei den Verhaftungsaktionen von Arbeitsfähigen blieben viele hundert unversorgte Kinder und andere Angehörige zurück. Das hatte zur Folge, dass die Fürsorgeausgaben der Gemeinden anstiegen, was abermals als Beleg für die angebliche Asozialität der „Zigeuner“ diente und die Forderung nach ihrer „Abschaffung“ verstärkte. Durch diese Strategie, immer neue

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

angebliche „Sachzwänge“ gegen die „Zigeuner“ zu schaffen, gelang es den lokalen Behörden, die Berliner Zentralstellen zu immer radikaleren Schritten zu bewegen. Mit dem sogenannten „Festsetzungserlass“ vom 17. Oktober 1939, der alle „Zigeuner“ zwang, in jener Gemeinde zu verbleiben, in der sie sich an diesem Tage auf hielten, erhöhte sich der gegen die „Zigeuner“ gerichtete Druck nochmals, weil nun auch Gemeinden „Zigeuner“ beherbergen und versorgen mussten, in denen diese bisher nicht gewohnt hatten. Ab 1940 versuchten die nationalsozialistischen Behörden, die österreichischen Roma nach Polen oder Serbien zu deportieren, doch scheiterten diese Deportationsversuche am Widerstand der lokalen Behörden.30 Die in der Vorbereitungsphase dieser Deportationspläne eingerichteten Sammellager wurden daher zu Zwangsarbeitslagern umfunktioniert, um bis zum endgültigen Abtransport der „Zigeuner“, den Unterhalt der Familien sicherzustellen und die Gemeinden nach Möglichkeit von den bisherigen sozialen Lasten zu befreien.31 Das wichtigste dieser Lager war das am 23. November 1940 eingerichtete „Zigeuneranhaltelager“ im burgenländischen Lackenbach.32 Ähnlich geartete Lager gab es in Wien, in Oberösterreich (Weyer), in Salzburg (Maxglan), in Niederösterreich (Hinterberg, Preg, Karlhof in Kammern, Fischamend und Groß-Globnitz) sowie in der Steiermark (Leoben, Graz, Kobenz, Triebendorf, Unzmarkt, Zeltweg, St. Georgen ob Judenburg und St. Lambrecht).33 Eine zentrale Rolle bei der Einrichtung von Zwangsarbeitslagern für „Zigeuner“ in der Steiermark spielten dabei der Grazer Polizeipräsident SS-Oberführer Max Brand, Kriminaldirektor SS-Sturmbannführer Friedrich Clahs sowie der Leiter der Gaufürsorge in der Steiermark Viktor Kastner-Pöhr. Die Löhne der zur Zwangsarbeit herangezogenen „Zigeuner“ wurden von der Gaufürsorge in erster Linie zur Abdeckung jener Kosten ver-

641

Liste der Zwangsarbeiter der Gemeinde Spitzzicken, Privatbesitz Gerhard Baumgartner Bezirk Oberwart

wendet, die durch die Errichtung und den Betrieb der Lager entstanden. Dadurch konnten weder die zwangsarbeitenden „Zigeuner“ den ihnen zustehenden Lohn ihren Familien zukommen lassen, noch erhielten die betroffenen Gemeinden ausreichend Geldmittel zur Versorgung der Hinterbliebenen. In der Folge mehrten sich, wie zum Beispiel aus einem Bericht des Landrates von Oberwart im Oktober 1940 hervorgeht, die Beschwerden der Gemeinden: Durch die in der letzten Zeit erfolgte Abtransportierung aller arbeitsfähigen männlichen Zigeuner in Arbeitslager ist die Zahl der hilfs- und unterstützungsbedürftigen Zigeunerangehörigen im Kreise Oberwart nunmehr sprunghaft angewachsen, da durch diese Aktion nun nahezu alle zurückgebliebenen Zigeunerfamilien ihrer Ernährer beraubt sind und somit mit einem Schlag etwa 2.000 Zigeunerköpfe (Erwachsene, Weiber und Kinder) hilfsbedürftig geworden sind. Mithin ist demnach das Gegenteil erreicht worden, was bezweckt werden sollte. Arbeitsmöglichkeiten für Zigeunerweiber und gebrechliche alte Zigeuner

642

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

sind über den Winter nicht gegeben, also muß öffentlich Fürsorge Platz greifen.34 Über die Zahl der Inhaftierten in den einzelnen Lagern liegen nur unvollständige Angaben vor, Im Dezember 1940 befanden sich in Kobenz 170 und in Zeltweg 257 Personen.35 Die Zahlen der meist bei Baufirmen arbeitenden „Zigeuner“ schwankten von Monat zu Monat erheblich. Ende Juni 1941 bestanden in der Obersteiermark folgende Lager: „Zigeuner“-Zwangsarbeitslager in der Obersteiermark Ende Juni 194136

St. Lambrecht Triebendorf Kobenz Hinterberg Preg zusammen

  47 Zigeuner 145 Zigeuner 124 Zigeuner 204 Zigeuner   35 Zigeuner 535 Zigeuner

Die inhaftierten „Zigeuner“ erhielten nur ein Taschengeld von einigen Reichsmark pro Woche, wurden von Polizeiwachen beaufsichtigt und waren zum Teil durch ein auf der Hose aufgemaltes „Z“ als „Zigeuner“ und Zwangsarbeiter gekennzeichnet. Zwar wurde 1941 ein Teil der Zwangsarbeiter nach Polen deportiert, 270 blieben aber – entgegen früheren Annahmen – weiter in den obersteirischen Lagern. Für die Verfolgung der österreichischen „Zigeuner“ spielten die von Robert Ritters Rassenhygienischer Forschungsstelle vorgeschlagene und von RKPA in Berlin verordnete Einteilung in „reinrassige Zigeuner“, „Zigeunermischlinge“ und „nach Zigeunerart Umherziehende“ kaum eine Rolle. Diese Kategorisierung diente höchstens der ideologischen Legitimierung von Deportation und Massenmord. Entscheidend für die Praxis der Zigeunerverfolgung war vielmehr das schon vor 1938 übliche polizeilich-administrative „Zigeunerverständ-

nis“. Es lässt sich nachweisen, dass die Sicherheitsbehörden hier nach eigenen Kriterien, teils auch entgegen den Anweisungen Himmlers und des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) bestimmten, wer deportiert wurde und wer nicht.37 Selbst Polizeibeamte und Frontsoldaten waren nicht vor Verfolgung sicher, wenn sie „zigeunerischer Abstammung“ waren. Aus diesem Grund wurde 1942 der Grazer Hilfspolizist Franz Baranyai aus dem Dienst entlassen und 1943 schließlich nach Auschwitz deportiert und ermordet. Dasselbe Schicksal wurde dem aus einer Mischehe stammenden Frontsoldaten Josef Zartler aus der Gemeinde Kemeten im Bezirk Oberwart zuteil.38 Am 1. Oktober 1941 ordnete Heinrich Himmler die Deportation von 5.000 Roma und Sinti aus Österreich in das Ghetto von Litzmannstadt/Łódz an.39 Betroffen waren fast nur Burgenland-Roma. Rund 280 burgenländische Roma wurden aus den obersteirischen Arbeitslagern in die Sammellager Dietersdorf bei Fürstenfeld und Sinnersdorf bei Pinkafeld gebracht. Zwischen dem 4. und 8. November 1941 fuhr täglich ein Zug von den Bahnhöfen mit 1.000 Opfern nach Litzmannstadt. Allein aus Lackenbach wurden 2.000 Roma und Sinti deportiert, aus dem Lager Dietersdorf 1.004 Roma aus den Landkreisen Fürstenfeld und Feldbach sowie 2.000 Roma aus dem Landkreis Oberwart aus den Sammellagern Sinnersdorf und Oberwart. Die Transporte wurden von je einem Offizier und 20 Wachmännern des Reserve-PolizeiBataillons 172 begleitet. Die Kosten der Deportation bestritten das RSHA gemeinsam mit den lokalen Fürsorgestellen. Von den 5.007 nach Litzmannstadt Deportierten waren 2.689 Kinder unter 12 Jahren. 613 Personen starben bereits in den ersten Wochen nach der Ankunft im „Zigeunerlager Litzmannstadt“, die meisten wahrscheinlich an einer Fleckfieberepidemie. Die übrigen wurden im Dezember 1941 oder Jänner 1942 in das Vernichtungslager Kulmhof/

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

Romasiedlung Unterschützen, Bezirk Oberwart

Chelmno überstellt und dort mit Gas getötet. Niemand überlebte. Im März 1942 ordnete die Kriminalpolizeistelle Graz an, Anfragen besorgter Angehöriger über das Schicksal der ­Deportierten an das RSHA weiterzuleiten beziehungsweise ihnen mitzuteilen, dass ihnen nicht erlaubt sei, die nach Litzmannstadt „Umgesiedelten“ zu besuchen.40 Zu diesem Zeitpunkt waren alle Deportationsopfer bereits tot. Die zweite große Deportation österreichischer „Zigeuner“ erfolgte 1943 nach Auschwitz-Birkenau. Da die Lokalbehörden in den Gauen Steiermark und Niederdonau auf die Deportation der restlichen Häftlinge in den Zigeunerlagern drängten, befahl das RSHA bereits am 26. und 28. Jänner 1943 die Deportation von „Zigeunern“ aus den „Alpen- und DonauReichsgauen“. Sogar jene „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“, die ihren Wehrdienst an der Front versahen, wurden auf Heimaturlaub be-

643

BLA

ordert, dort verhaftet und ebenfalls deportiert.41 Ab Anfang April 1943 wurden ca. 2.900 österreichische Roma und Sinti nach AuschwitzBirkenau gebracht, wo sie unter schrecklichen Umständen im „Zigeunerfamilienlager“, einem eigens für „Zigeuner“ abgegrenzten Sektor in Birkenau, leben mussten. Bis Ende 1943 starben 70 Prozent der insgesamt 21.000 Häftlinge des „Zigeunerlagers“. Ende Juli 1944 wurden die noch als arbeitsfähig eingestuften Häftlinge in andere Konzentrationslager verlegt. Alle im „Zigeunerlager“ verbliebenen Häftlinge wurden in der Nacht von 2. auf 3. August 1944 in den Gaskammern ermordet.42 Vor ihrer Deportation in die Vernichtungslager wurden die Opfer noch ihrer gesamten Habe beraubt. Zwar lebten in der Zwischenkriegszeit zahlreiche „Zigeuner“ unter der ­A rmutsgrenze, dennoch waren aber viele von ihnen Eigentümer von Mobilien wie Immobilien und besaßen Bargeld oder Bankkonten.

644

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

Insbesondere burgenländische „Zigeuner“ hatten auch Häuser und Grundstücke besessen. Der im Jahre 2003 publizierte Bericht der Österreichischen Historikerkommission bot erstmals einen detaillierten Überblick über den geraubten und zerstörten Besitz der Opfer der nationalsozialistischen „Zigeunerverfolgung“.43 Eine Hochrechnung des entzogenen Barund Mobilienvermögens burgenländischer Roma und Sinti auf Basis der Vermögensentziehungen im Zusammenhang mit den AuschwitzTransporten 1943 ergab – bei Zugrundelegung einer betroffenen Gruppe von 8.000 Personen und einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Vermögen von RM 29,17 – eine Gesamtsumme von mindestens RM 233.360. Bei der Beurteilung des beschlagnahmten Barvermögens ist jedoch zu bedenken, dass im Jahre 1943 aufgrund der Einschränkung der Erwerbstätigkeit und Zwangsarbeit die finanziellen Reserven der Deportierten bereits zum Großteil aufgebraucht waren. Die genannte Summe ist also als eine absolute Untergrenze anzusehen. Als Nutznießer dieses Vermögensentzuges an Bar- und Mobilienvermögen sind für die

Jahre 1938 bis Anfang 1943 die Heimatgemeinden der „Zigeuner“ zu betrachten. Ab 1943 mussten dann alle noch eindeutig als entzogenes Vermögen der „abgesiedelten“ „Zigeuner“ identifizierbaren Beträge als Reichseigentum an die Finanzlandespräsidenten abgeführt werden. Das Bar- und Mobilienvermögen der ca. 2.700 nach Auschwitz Deportierten des Jahres 1943 wurde sofort zu Gunsten des Deutschen Reiches eingezogen. Der Löwenanteil des entzogenen und zerstörten Vermögens entfiel auf die Gebäude der rund 120 sogenannten „Zigeunersiedlungen“ des Burgenlandes. Zwar bestanden diese Siedlungen fallweise nur aus einfachen Lehm- und Bretterhütten, doch durch zahlreiche Fotodokumente und Beschreibungen der Zwischenkriegszeit lässt sich belegen, dass sich unter den Gebäuden der burgenländischen „Zigeunersiedlungen“ 1938 ein nicht unbeträchtlicher Anteil von Ziegelbauten – etwa 17 Prozent – befand, die in Größe und Bauausführung dem durchschnittlichen Standard burgenländischer Dörfer in dieser Zeit entsprach. Da rund 73 Prozent der burgenländischen Roma in den 1939 zum Reichsgau Steiermark geschlagenen Gebieten

Gebäude im Eigentum von „Zigeunern“ im Burgenland mit Stand 1938

Bezirk Neusiedl Eisenstadt Mattersburg Oberpullendorf Oberwart Güssing Jennersdorf Burgenland

Siedlungen unter Siedlungen über 50 Einwohner 50 Einwohner Häuser Häuser Gesamtzahl Be­ (4,5 Personen/ Be­ (6,6 Personen/ der Häuser wohner % Haus) wohner % Haus) im Bezirk % 327 17,1 73 109 1,8 17 90 6,6 176 9,2 39 208 3,4 32 71 5,2 200 10,5 44 343 5,6 52 96 7,1 326 17,1 73 477 7,8 73 146 10,8 253 13,2 56 3.839 62,4 581 637 46,9 416 21,7 92 328 5,3 49 141 10,4 215 11,2 48 844 13,7 128 176 13 1.913 100 425 6.148 100 932 1.357 100

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

des Südburgenlandes lebten, belief sich die Anzahl der damals in diesen Bezirken zerstörten Gebäude auf geschätzte 954. Im Bericht der Historikerkommission wurde der geschätzte Abrisswert dieser Gebäude – unter Zugrundelegung der niedrigsten in der Fachliteratur vorgefundenen Schätzwerte – mit mindestens 1.033.500 Reichsmark beziffert.44 Der Großteil der Abrisserlöse kam – zumindest in den Jahren 1939 bis 1942 – den Heimatgemeinden der Deportierten zugute, erst ab 1943 mussten selbst die Abrisserlöse an die Reichsfinanzverwaltung abgeführt werden. Eine Entschädigung für dieses zerstörte ­Eigentum wurde den überlebenden Roma oder ihren Erben nie ausbezahlt. Die Ursache dafür ist in der ungewöhnlichen rechtlichen Konstruktion der meisten dieser „Zigeunersiedlungen“ zu suchen, in der Hausbesitzer nicht mit dem Grundstücksbesitzer ident war. In zahlreichen Fällen befanden sich diese Siedlungen – die im 19. Jahrhundert durch Zwangsansiedlungen der ungarischen Polizei entstanden waren – nämlich auf Gemeindegrund. Rechtlich gesehen handelte es sich somit bei den von den Roma errichteten Gebäuden um sogenannte Überbauten oder Superädifikate im Sinne des österreichischen bürgerlichen Rechts. Das Eigentum an solchen Überbauten kann sich der Eigentümer auch im Grundbuch eintragen lassen, wobei das Superädifikat dann durch Urkundenhinterlegung in der betreffenden Einlagezahl des Grundstückes vermerkt wird. Die wenigsten Roma aber dürften sich über diese Form der rechtlichen Absicherung ihrer Häuser im Klaren gewesen sein. Nach der Zerstörung der Siedlungen ergab sich daher für die Überlebenden und Erben das Problem, dass sie mangels Grundbuchseintrages gar nicht nachweisen konnten, jemals ein Haus besessen zu haben. Eine pauschale Entschädigung für zerstörten und enteigneten Hausrat sowie für Einrichtungsgegenstände in der Höhe von umgerech-

645

net 5.087 Euro pro Haushalt wurde erst ab 1995 bezahlt.45 Entgegen den Behauptungen der nationalsozialistischen Propaganda verfügten aber zahlreiche Roma-Familien – besonders die Nachkommen der bereits im 18. Jahrhundert unter Maria Theresia hier angesiedelten Roma – auch über grundbücherlich eingetragenen Haus- und Grundbesitz. Diese häufig kleineren – oft auf drei bis vier Familien beschränkten – Gruppen von Roma-Familien in den burgenländischen Orten wiesen in der Zwischenkriegszeit durchschnittlich einen höheren Lebensstandard auf und waren nicht so stark rassistisch und ökonomisch motivierten Verfolgungen ausgesetzt wie die völlig marginalisierten Bewohner der größeren „Zigeunersiedlungen“. Aufgrund von verifizierbaren Grundbuchsangaben wurde der Grundbuchsbesitz der burgenländischen Roma im Jahre 1938 auf etwa 47 Hektar geschätzt. Die nationalsozialistischen Behörden waren selbst überrascht, als sie feststellen mussten, dass viele der von ihnen Deportierten in den Grundbüchern noch als Eigentümer geführt wurden. So gab im September 1944 der Oberwarter Landrat Dr. Hinterlechner einen diesbezüglichen Erlass heraus, aus dem hervorgeht, dass sich zahlreiche Liegenschaften und Gebäude zu diesem Zeitpunkt immer noch im Eigentum der „Zigeuner“ befanden. Landrat Hinterlechner verlautbarte darauf hin die Verfügung der Staatspolizeistelle Graz, wonach das bewegliche und unbewegliche Vermögen der im Jahre 1943 ausgesiedelten „Zigeuner“ gemäß einem Erlass des Reichsinnenministeriums zu Gunsten des Deutschen Reiches einzuziehen sei.46 Zwar haben sich die – auf Recherchen der Gemeindeämter beruhenden – Angaben des zitierten Erlasses sehr oft als falsch oder ungenau erwiesen, aber sie geben dennoch einen Einblick in das Ausmaß des Immobilienbesitzes der angeblich mittellosen „Zigeuner“.

646

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

Liegenschaften, die gemäß Erlass vom 6. Sept. 1944 zugunsten des Deutschen Reiches eingezogen werden sollten

Katastral­ gemeinde Althodis Bernstein Harmisch Holzschlag Jabing Kemeten Mönchmeierhof Oberwart St. Kathrein Spitzzicken Unterwart

Einlagezahl EZ 73, 74, 88, 90 EZ 1187, 1321 EZ 54, 66 EZ 88, 176b, 279a, 329 EZ 746, 747, 748, 749, 750, 752, 753, 754, 756 EZ 2797, 3582 EZ 8 EZ 1288 EZ 20, 31 EZ 177, 178, 179 EZ 794, 795, 796, 797, 798, 799, 800, 801, 802, 803, 804, 805, 806, 807, 808, 809

Romasiedlung Bernstein, Bezirk Oberwart

Insgesamt konnten in 23 Gemeinden des Bezirkes Oberwart 213 sogenannte „Zigeuner“ als grundbücherliche Besitzer von insgesamt 109 Einlagezahlen und 165 Grundstücken identifiziert werden, und zwar in Althodis, Bernstein, Goberling, Grodnau, Harmisch, Holzschlag, Jabing, Kemeten, Kleinpetersdorf, Markt Neuhodis, Mönchmeierhof, Neustift a. d. Lafnitz, Oberschützen, Oberwart, Podgoria, Redlschlag, Rohrbach a. d. Teich, Rumpersdorf, Schreibersdorf, Spitzzicken, St. Kathrein, Unterwart und Willersdorf. Da nur rund 10 bis 15 Prozent der als „Zigeuner“ stigmatisierten Bewohner des Burgenlandes den Holocaust überlebten, nimmt es nicht wunder, dass ein Großteil ihres grundbücherlichen Eigentums jahrzehntelang unbeansprucht blieb. Selbst die erbberechtigten Personen wussten oft nichts über das Vorhandensein von Grundstücken ihrer Vorfahren. In der Ge-

BLA

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

meinde Rohrbach an der Teich hatte es vor 1938 16 Grundstücke gegeben, die sich im ­Eigentum sogenannter „Zigeuner“ befanden. Bis ins Jahr 1983 blieben diese Grundstücke im Eigentum der im Holocaust umgekommenen „Zigeuner“. Zwar hatte eine im Nachbardorf wohnende Romni47 1952 ein Grundstück aus dem Besitz ihrer Mutter geerbt, über die anderen 15 Grundstücke ihrer Verwandten wusste sie hingegen nichts. Erst als 1983 die Gemeinde mit der Planung eines Kinderspielplatzes begann, erbte sie im Zuge der eingeleiteten Verlassenschafts- und Pf legschaftsverfahren 15 ­weitere Grundstücke.48 In einem einzigen Fall fiel das Vermögen der Republik Österreich anheim.49 In vielen Katastralgemeinden finden sich bis heute grundbücherlich eingetragene ­Eigentümer, die oft ein methusalemisches Alter von über 100 Jahren erreicht zu haben scheinen. Obwohl sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Holocaust gestorben sind, geistern diese Personen heute noch als Eigen­ tümer durch die burgenländischen Grund­ bücher. Ob und von wem diese Grundstücke heute benutzt werden, ist ungeklärt. Falls ein aktueller Besitzer regelmäßig für die Grund-

647

stücke Grundsteuer entrichtet, kann es vorkommen, dass dieserart ungeregelte Eigentumsverhältnisse oft über Jahrzehnte nicht auffallen. Die wenigen Überlebenden des Holocaust fanden in ihren Heimatgemeinden meist nur widerwillig Aufnahme und stießen oft auf offene Ablehnung.50 Erst ab 1949 konnten sie als Opfer rassistischer Verfolgung Anträge nach dem Opferfürsorgegesetz stellen, und erst ab 1961 erhielten auch die Überlebenden des Zigeunerlagers Lackenbach und anderer Konzentrationslager eine Haftentschädigung von 350 bzw. 860 Schilling pro Haftmonat. Erst ab 1988 erhielten auch die Überlebenden der Zwangsarbeitslager und von Lackenbach eine Opferfürsorgerente.51 1995 richtete die Republik Österreich den sogenannten „Nationalfonds für die Opfer des Nationalsozialismus“ ein, und ab 2000 konnten ehemalige Zwangsarbeiter auch eine Entschädigung aus dem „Fonds für freiwillige Leistungen der Republik Österreich an ehemalige Sklaven- und Zwangsarbeiter“ beantragen. Aus den nicht beanspruchten Mitteln dieses Fonds 2005 wurde schließlich ein eigener Roma-Bildungsfonds eingerichtet.

Anmerkungen 1

2

3

4

5

Baumgartner, Ethnische Flurbereinigung 141– 153. Vgl. dazu: Geosits, Die burgenländischen Kroaten; Baumgartner/Schinkovits, Vermögensentzug; Schinkovits, Formen ethnischer Säuberung. Vgl. dazu: Gold, Gedenkbuch; Baumgartner, „Arisierung“. Ein Forschungsprojekt des Dokumentationszentrums Österreichischer Roma zur „Namentlichen Erfassung der Holocaustopfer unter den österreichischen Roma und Sinti“ ist derzeit damit beschäftigt, wenigstens die Namen der damals ermordeten 9.000 österreichischen Roma zu ermitteln. Im Burgenland lebten vor 1938 fast ausschließlich Roma, in der Mehrzahl sogenannte Ungrika-­Roma, deren Sprache stark mit ungarischen Lehnwörtern

durchsetzt war. Nur im Nordburgenland, in den Orten rund um den Neusiedlersee, hatte sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch eine Gruppe von Lovara niedergelassen. Diese Untergruppe der Roma war über Nordungarn und die Südslowakei aus dem heutigen Rumänien eingewandert und sprach einen sogenannten Vlax-Dialekt, der stark mit rumänischen Lehnwörtern durchsetzt war. Sinti-Familien waren im Burgenland nur vereinzelt anzutreffen, ebenfalls vor allem in nordburgenländischen Gemeinden. Als Sinti bezeichnen sich die Abkömmlinge der ersten Einwanderungswelle von Roma, die bereits zu Beginn des 15. Jahrhunderts Westeuropa erreicht hatten. Ihre Dialekte sind vor allem durch deutsche und holländische Lehnwörter gekennzeichnet. Bei dem seit dem

648

6

7

8

9

10

11 12

13

14 15

16

17 18

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung

19. Jahrhundert in Österreich lebenden Sinti handelt es sich um Rückwanderer, die im 18. Jahrhundert über Böhmen wieder nach Österreich, vor allem in das Gebiet der westlichen Bundesländer einwanderten. Vgl. dazu: Fraser, The Gypsies. Landesgendarmeriekommando für das Burgenland, Die Zigeunerfrage im Burgenland und deren Lösung, 22. 8. 1927, BLA, I.a. Pol. Zigeunerakt 1938. Gesellmann, Zigeuner im Burgenland 191–193. Für das restliche Österreich wurden für 1927 1.600 „Zigeuner“ angegeben, was die Konzentration der als „Zigeuner“ definierten Personen auf das Burgenland verdeutlicht. Siehe dazu auch die Denkschrift: Die Zigeunerfrage im Burgenland, Österreichisches Staatsarchiv/Archiv der Republik (= ÖStA AdR), BKA, GD 3, Kt. 7152, AZ. 339.723GD3/37. Nach anderen Schätzungen lebten 3.000 „Zigeuner“ außerhalb des Burgenlandes, vgl. Thurner, „Ortsfremde“ 536. Anzahl der Zigeuner in den einzelnen Ortschaften, 28. 7. 1936, ÖStA AdR, BKA, GD 3, Kt. 7152, AZ. 339.723-GD3/37. Anordnung des Landesgendarmeriekommandos für Steiermark, 13. 6. 1938, betr. Zigeunerplage, Bekämpfung, StLA, Landesregierung, 120 Zi 1/1940. Denkschrift „Mission des Burgenlandes“, ADR, Bürckel-Materie, Mappe 2770 Kt. 183. Portschy, Zigeunerfrage 2. Schreiben der Landeshauptmannschaft Steiermark, Abt. 10, an das Amt des Reichsstatthalters in Wien vom 7. 3. 1939 betr. Zigeunerplage, Bekämpfung im Jahre 1938, StLA, Landesregierung, 384 Zi 1/1940. Verhandlungsschrift über die am 15. 1. 1933 in Oberwart abgehaltene Tagung über die Zigeunerfrage im Burgenland, ÖStA, BKA, Gd 3/37, Kt. 7152, 339.732, 1. Ebd. 7–9. Thurner, Zigeuner im Burgenland 112–116; Steinmetz, Zigeuner 352–360; Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner. Tobias Portschy, SS-Oberführer und Blutordensträger, war seit April 1935 illegaler Gauleiter des Burgenlandes und nach der Auf lösung des Burgenlandes stellvertretender Gauleiter der Steiermark. Bericht der Bundespolizeidirektion Wien, 8. 4. 1936, Kopie: DÖW 6014. Vgl. Thurner, Zigeuner im Burgenland 115. Als Aktion „Arbeitsscheu Reich“ bezeichneten die Nationalsozialisten die seit Juni 1938 durchgeführte Verhaftungswelle, bei der über 10.000 Personen als sogenannte „Asoziale“ in Konzentrationslager ver-

19

20

21

22 23 24

25

26

27 28

29

30 31

32

33

schleppt wurden. Seit dem NS-Grunderlass über die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ vom 14. 12. 1937 konnte, wer ohne Berufs- und Gewohnheitsverbrecher zu sein, durch sein asoziales Verhalten die All­ gemeinheit gefährdet, mittels sicherheitspolizeilicher Schutzhaft in ein Konzentrationslager eingewiesen werden. Vgl. dazu: Ayass, „Asoziale“. Schreiben der Burgenländischen Landeshauptmannschaft, gez. Portschy, vom 17. 3. 1938, Zl. IIA-6001938, Original DÖW Akt 11.151. Bericht der „Grenzmark Burgenland“ betr. Musikverbot und Schulbesuchsverbot für Zigeuner, 4.  9. 1938, zit. nach: DÖW, Burgenland 259f. Erlass des RFSS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren vom 13. 5. 1938, Kopie DÖW Akt 12.543. Portschy, Zigeunerfrage 8. Mayerhofer, Dorfzigeuner 44. Schreiben des Bezirksschulrates Oberwart an den Landesschulrat in Graz vom 15. 5. 1939 betr. Schulbesuch von Zigeunerkindern, ÖStA AVA, Unterricht, 326.297/39, Schreiben des Bezirksschulrates Fürstenfeld an den Landesschulrat in der Steiermark vom 19. 5. 1939 betr. Schulbesuch der Zigeunerkinder, ÖStA AVA, Unterricht, 326.297/39. Schreiben des Gendarmeriepostens Jennersdorf an den Landrat in Feldbach vom 25. 11. 1939 betr. Zigeunerfrage, StLA, Landesregierung, 384 Zi/1940. Portschy, Zigeunerfrage 7; vgl. auch: Zimmermann, Rassenutopie und Genozid 116. Siehe dazu auch Kaienburg, Wirtschaft der SS. Weisung des Reichskriminalpolizeiamtes an die Staatliche Kriminalpolizei, Kriminalpolizeileitstelle Wien, vom 5. 6. 1939 betr. vorbeugende Maßnahmen zur Bekämpfung der Zigeunerplage im Burgenland, DÖW Akt 2.607. Landeshauptmann Gauleiter Uiberreither an das RKPA, 11. 9. 1939, StLA, Landesregierung, 384 Zi 1/1940. Freund, Zigeunerpolitik 181–210. KPSt Graz, Niederschrift über die heute stattgefundene Besprechung über den Abtransport der Zigeuner, 15. 8. 1940, StLA, Landesregierung, 384 Zi 1/1940. Die Lagerleitung unterstand der Kriminalpolizeileitstelle Wien, die Kosten des Lagers teilten sich die Landräte der Kreise Bruck an der Leitha, Eisenstadt, Lilienfeld, Oberpullendorf, St. Pölten und Wiener Neustadt sowie der Reichsgau Wien. Vgl. dazu: Thurner, Lackenbach; Freund/Baumgartner, Ver­mögensentzug 126ff. Freund/Baumgartner, Vermögensentzug 113ff.

Baumgartner / Das Schicksal der Roma-Bevölkerung 34

35 36

37

38

39

40

Schreiben des Landrates des Kreises Oberwart, Dr. Hinterlechner, an den Reichsstatthalter in der Steiermark vom 30. 11. 1940 betr. Zigeuner-Arbeitslager, StLA, Landesregierung, 120 Zi 1/1940. Freund/Baumgartner, Vermögensentzug 113–120. Arbeitslager der Zigeuner in der Obersteiermark, o.  D., StLA, Landesregierung, 384 Zi/1940. – Für eine detaillierte Beschreibung der Haftbedingungen für in die obersteirischen Zwangsarbeitslagern verschleppten „Zigeuner“ siehe: Teichmann/Urbaner, NS-Verfolgung 347-383. Wie sich aufgrund von Aktenmaterial beweisen lässt, interpretierten sowohl deutsche als auch österreichische Lokalbehörden die Deportationserlässe des Jahres 1943 sehr weit, um auch solche Personen zu deportieren, die nach den Vorgaben der Berliner Zentralstellen nicht nach Auschwitz-Birkenau hätten deportiert werden sollen. Vgl. Freund, Zigeunerpolitik 322–325; Luchterhandt, Weg nach Birkenau 245f. Zur Bedeutung der Gutachten Robert Ritters für die Deportationspraxis siehe: Freund, Zigeunerbegriff 76–90. – Zur Verfolgungsgeschichte Franz Baranyais siehe: Halbrainer/Lamprecht, unsichtbar 94f. – Zum Fall des Frontsoldaten Josef Zartler siehe: Mühl, Kemeten 31. Erlass des RFSS S-Va2b Nr. 81/41 g II, StLA, Landesregierung, 384 Zi 1/1940. Landrat Oberwart, 19. 3. 1942, DÖW 11293. – Die neuen Daten zum Sammellager Dietersdorf beruhen auf den Angaben von Teichmann/Urbaner, NSVerfolgung 374–377. – Bezüglich der Angaben zum Sammellager Sinnersdorf siehe: Baumgartner, „Zi-

41 42

43 44

45 46

47

48

49

50 51

649

geuner“ in Markt Allhau und Buchschachen 169– 192. Mühl, Kemeten. Vgl. dazu: Czech, Kalendarium 429–432, 436–443; Luchterhandt, Weg nach Birkenau 248. Freund/Baumgartner, Vermögensentzug 113–120. Obwohl es keine wissenschaftlich abgesicherte oder allgemein anerkannte Umrechnungsrate der Reichsmarkpreise in heutige Währung gibt, wird von Zeithistorikern zum Zwecke der Veranschaulichung in der Regel ein Umrechnungskurs von 2,5 € bis 3 € verwendet. Baumgartner/Freund, Romapolitik 17. Erlass des Landrates in Oberwart, Dr. Hinterlechner, vom 6. 9. 1944 betr. eingezogenes Zigeunervermögen, zit. in: Widerstand und Verfolgung im Burgenland 289. Als „Romni“ bezeichnet man eine weibliche Angehörige der Volksgruppe der Roma, deren männliche Angehörige als „Rom“ bezeichnet werden. Die entsprechenden Bezeichnungen für Angehörige der Sinti lauten „Sinto“ für eine Person männlichen und „Sintiza“ für eine Person weiblichen Geschlechts. Siehe dazu die Urkunden in TZ 4605/87 der Urkundensammlung des Grundbuches Oberwart sowie die Pf legschaftsakten P 210/86, 211/86, 212/86, 213/86, 214/86 und die Verlassenschaftsakten A 1007/40, 517/87, 607/87, 230/90, 232/90. EZ 220 des Grundbuches Rohrbach a. d. Teich, Heimfallsverfahren K 12501. Baumgartner/Freund, Burgenland-Roma. Vgl. dazu: Bailer-Galanda, Wiedergutmachung kein Thema.

Die angegliederte Untersteiermark 1941 bis 1945

Foto Vorderseite: Zweisprachiger Aufruf zur Teilnahme an Deutschkursen des Steirischen Heimatbundes, 1942 StLA

Irena Mavrič-Žižek, Vincenc Rajšp

Die Besetzung der Untersteiermark*

Der slowenische Historiker Tone Ferenc schreibt in der Einleitung zu seinen „Quellen“ über die Okkupation des slowenischen Gebietes in Jugoslawien Sätze, die für die ehemalige Untersteiermark besonders zutreffen: „Die Okkupation Jugoslawiens durch die Achsenmächte und ihre Verbündeten im Frühjahr 1941 war im ganz besonderen Maße verhängnisvoll für das kleine slowenische Volk. Bedeutete doch die Aufteilung seines gesamten Siedlungsgebietes unter drei Okkupatoren – Deutsche, Italiener, Magyaren – die Verhängung des Todesurteils, die beabsichtigte Auslöschung seiner ethnischen Individualität. In der Durchführung dieses

­ lanes erwies sich das Vorgehen der deutschen P nationalsozialistischen Machthaber als am gründlichsten durchdacht, tiefgreifend und bis zum äußersten rücksichtslos. Das vorgefasste Entnationalisierungsprogramm zeigt offenkundig drei wesentliche Bestandteile: eine umfassende Vertreibung von Slowenen aus den besetzten Gebieten, eine entsprechend umfangreiche Ansiedlung von Deutschen und schließlich eine möglichst rasche und vollständige Germanisierung – Eindeutschung – des ganzen Raumes samt den verbliebenen Menschen slowenischer Herkunft.“1

Die militärische Besetzung der Untersteiermark Am Palmsonntag, dem 6. April 1941, überfiel das Deutsche Reich ohne vorherige Kriegserklärung das Königreich Jugoslawien. Die Vorbereitungen dazu begannen im Jahr 1940 unter der Leitung des Südostdeutschen Instituts und des Gaugrenzlandamtes in Graz. Das Südostdeutsche Institut wurde Mitte Mai 1938 gegründet und war dem Innenministerium unterstellt. Es wurde von Dr. Helmut Carstanjen geleitet, der während der Besetzung der nationalpolitische Referent in der Führung des Steirischen Heimatbundes war.2 Auf bauend auf

dem Wirken der Vereine „Deutscher Schulverein Südmark“, Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) und „Bund Deutscher Osten“ beschäftigte sich das Institut mit dem Studium des Deutschtums in Südosteuropa. Das Gaugrenzlandamt wurde Anfang Februar 1939 gegründet und vom Landesführer des VDA für Steiermark, Anton Dorfmeister, geleitet, der während des Krieges dann an der Spitze des Cillier Kreises stand. Die erwähnten Behörden haben mit Hilfe des deutschen Nachrichtendienstes und der Deutschen in Slowenien, die

654

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

mehrheitlich in die örtlichen Organisationen des Schwäbisch-deutschen Kulturbundes integriert waren, für jeden Bezirk in der Untersteiermark umfangreiche Elaborate mit allgemeinen historischen und geografischen An­ gaben, mit Beschreibungen von wirtschaft­ lichen, politischen, schulischen, kirchlichen und verkehrstechnischen Verhältnissen erstellt. Diesen Elaboraten waren Verzeichnisse aller exponierten Slowenen beigelegt. Es gab auch ein gesondertes Verzeichnis von den den Deutschen feindlich gesinnten Personen, das an die 450 Slowenen umfasste. Darunter fielen die Maister-Soldaten, die Sokol-Mitglieder, die Angehörigen der ehemaligen Nationalwehr und die Kommunisten.3 Das Gaugrenzlandamt hatte in den letzten Jahren vor dem Krieg unter der untersteirischen Bevölkerung ein dichtes Netz von „Vertrauensmännern“ gebildet, auf die sich die Wehrmacht in den ersten Monaten der Okkupation stützte. Im Gebiet der Untersteiermark waren 947 Personen Teil dieses Netzes. Während des Krieges wurden sie als deutsche Bürgermeister und Ortsgruppenleiter des Steirischen Heimatbundes sowie in den oberen Rängen der Wehrmannschaft eingesetzt. Im Bezirk Pettau/Ptuj waren 106 Personen in das Vertrauensmännernetz des Gaugrenzlandamtes eingebunden. Die meisten, nämlich 25, gab es in Pettau, es folgten: Friedau/Ormož mit neun, Polstrau/Središče ob Dravi mit sechs, Breg, Lichtenegg/Podlehnik und Ivankofzen/Ivanjkovci mit fünf, Sauritsch/Zavrč mit vier, Zirkovetz/Cirkovce, Dornau/Dornava, Grajena, Haidin/Hajdina, Monsberg/Majšperk, Bergneustift/Ptujska gora und Zirkulane/Cirkulane, Großsonntag/Velika Nedelja mit drei, Ra­ gosnitz/Rogoznica, St. Marxen/Markovci, Desternigberg/Destrnik, Videm, Kaag/Kog, St. Nikolai/Sv. Miklavž in Schiltern/Žetale mit zwei Vertrauensmännern und Windischdorf/ Slovenja vas, Polenschak/Polenšak, St. Lorenzen am Draufelde/Sv. Lovrenc na Dravskem

polju und Stoperzen/Stoperce mit je einem Vertrauensmann. Unter den Bürgermeistern und Ortsgruppenleitern des Steirischen Heimatbundes gab es aus den Reihen der Vertrauensmänner 18 Personen. Unter den Bürgermeistern werden ­A lbert Scharner und der Sparkassenbeamte Josef Wresnig in Pettau genannt, die Beamten Hubert Grill und Hubert Nerat in Monsberg, der Besitzer Raimund Scheichenbauer in St. Veit bei Pettau/Sv. Vid, der Gastwirt Edvard Marinič in Desternigberg und der Gastwirt Franc Herga in Jörgendorf/Juršinci. Bürgermeister und zugleich Ortsgruppenleiter des Steirischen Heimatbundes waren Ing. Avgust Gobetz in Dornau, der Kaufmann Viktor Staraschina in Zirkovetz, der Kaufmann Josef Urban in St. Marxen, der Gastwirt Leopold Filipič in Schiltern und der Arzt Dr. Alfred Heiss in Polstrau. Unter den Ortsgruppenführern des Steirischen Heimatbundes waren es Ing. Erich Schuster, der die Ortsgruppe des Steirischen Heimatbundes in Monsberg führte, und der Besitzer Hans ­Fischerauer, der die Ortsgruppe Kaisersberg/ Kajžar in St. Nikolai führte. Weitere „Führer“ waren die Kauf leute Josef Wratschko und Rudolf Artenjak der Ortsgruppe Pettau-linkes Drauufer und der Besitzer Hans Straschil sowie der Maler Herman Prelog der Ortsgruppe Pettau-rechtes Drauufer in Pettau.4 Das Gebiet der Untersteiermark stellte in den deutschen Militärplänen eine der Hauptstoßrichtungen der Wehrmacht nach Kroatien dar. Die Verteidigung wurde dem FriedauKommando der vierten und den Einheiten der Draudivision der siebenten jugoslawischen Armee anvertraut. Die Einheiten des 51. Korps der zweiten deutschen Armee überfielen am 6. April 1941 die Stellungen der Draudivision von Oberradkersburg/Gornja Radgona bis Marburg/Maribor. Die Grenzeinheiten gegenüber Spielfeld, Mureck und Radkersburg konnten

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

der gut ausgerüsteten deutschen Armee keinen nennenswerten Widerstand entgegensetzen. Es gelang den Einheiten des 7. und 8. Regimentes, die Linie Pößnitz/Pesnica–St. Leonhard in Windischbüheln/Lenart–Burgstall/Sv. Trojica– Kapela zu besetzen. Schon am 8. April kamen die ersten deutschen Auf klärungseinheiten nach Marburg und Pettau. In den folgenden Tagen drangen sie nach Kroatien vor. Die Draudivision, die drei Tage lang die Verteidigungslinie am rechten Drauufer von Friedau bis Unterdrauburg/Dravograd erfolgreich gehalten hatte, begann sich in der Nacht vom 8. auf den 9. April auf die Linie Dravinja–Cilli/Celje–Steinbrück/ Zidani most–rechtes Ufer der Krka zurückzuziehen. Die auf dem Rückzug befindliche jugoslawische Armee zerstörte am 7. April die Draubrücken in Marburg, sprengte am 8. April die Straßen- und Eisenbahnbrücke in Pettau, brannte am 10. April das Militärlager am Juhart-Hof und am Josefshügel in Windischfeistritz/Slo-

655

venska Bistrica nieder und sprengte den Tunnel bei Kerschbach/Črešnjevci. Die 1. Bergdivision überfiel unter der Führung von Generalleutnant Hubert Lanz vom 49. Armeekorps die Verteidigungsstellungen der jugoslawischen Armee bei Unterdrauburg. Am 9. April gelang es, den ­Widerstand der jugoslawischen Soldaten zu brechen, und am folgenden Tag drang die Wehrmacht über Windischgraz/Slovenj Gradec, das Mislinja- und Šaleškatal nach Cilli vor und nahm die Stadt am Karfreitag, dem 11. April, ein. Am selben Tag wurden auch Gurkfeld/Krško und Rann/Brežice besetzt.5 In den Tagen vom 6. bis 11. April 1941 gelang es den Einheiten der 2. Deutschen Armee die Verteidigungsstellungen der Draudivision zu durchbrechen und das Gebiet der Untersteiermark zu besetzen. In der Umgebung von Friedau nahmen die Deutschen an die 800 jugoslawische Soldaten fest, die zunächst nach Varaždin und dann in die Kriegsgefangenschaft geführt wurden.6

Die Zivilverwaltung in der Untersteiermark Die Militärverwaltung, die unter der Führung des Leiters der SA-Gruppe Südmark, General Arthur Nibbe, stand, war nur ein paar Tage aufrecht. Ihre Verwaltungstätigkeit beschränkte sich auf das Anbringen von Plakaten über die verpflichtende Abgabe von Waffen, Sprengstoff und Militärausstattung, die Plünderung der Lager der jugoslawischen Armee, die Beschlagnahme von Wohnungen für Militärabteilungen, die Einführung von Polizeistunden, die Ausgangssperre für die Bevölkerung und Ähnliches mehr.7 Am 14. April 1941 übernahm der NSDAP-Gauleiter und Reichsstatthalter in Graz, Dr. Sigfried Uiberreither, das vorübergehende zivile Kommando in der Okkupationseinheit Untersteiermark. Als künftiger Chef der Zivilverwaltung führte er ab Ende März 1941 die unmittelbaren Vorbereitungen für

die Besetzung und Verwaltung der Untersteiermark. Die Verwaltungseinheit Untersteiermark umfasste die slowenische Steiermark, den östlichen Teil von Oberkrain/Gorenjska, den nordöstlichen Teil von Unterkrain/Dolenjska am rechten Saveufer zwischen Ratschach/Radeče und Dobovo und die vier Dörfer Füchselsdorf/ Fikšinci, Sinnersdorf/Kramarovci, Guizenhof/ Ocinje und einen Teil des Dorfes Rotenberg/ Serdica im Übermurgebiet/Prekmurje. Vierzehn steirische Bezirke und selbstständige Städte (Rann, Cilli, Oberburg/Gornji Grad, Gonobitz/ Konjice, Tüffer/Laško, Luttenberg/Ljutomer, Marburg-rechtes Ufer, Marburg-linkes Ufer, Pettau, Windischgraz, St. Marein bei Erlachstein/ Šmarje pri Jelšah, Marburg, Pettau und Cilli) sowie sieben Gemeinden aus dem Bezirk Unter-

656

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

drauburg (Kappel/Kapla, Mahrenberg/Radlje ob Dravi, Hohenmauthen/Muta, Remschnig/ Remšnik, Reifnig/Ribnica, Wuchern/Vuhred und Saldenhofen/Vuzenica) fielen an dieses Gebiet. Im Osten von Oberkrain waren fünf Gemeinden aus dem Bezirk Littai/Litija (Zagorje, Mlinsche/Mlinše, Mariatal/Dole, Billichberg/ Polšnik, Kumberg/Sv. Jurij pod Kumnom) und die Gemeinde Trojane aus dem Bezirk Stein/ Kamnik betroffen. Im nordöstlichen Teil von Unterkrain waren es neun Gemeinden (Savenstein/Boštanj, Radelstein/Bučka, Arch/Raka, Bründl/Studenec, Gurkfeld, Haselbach/Leskovec, Zirkle/Cerklje, Ratschach, Johannistal/Šentjanž) und ein Teil mit drei Gemeinden aus dem Bezirk Gurkfeld (Terschische/Tržišče, St. Kanzian/Škocjan, Heiligenblut bei Landstraß/ Sv. Križ pri Kostanjevici). Das Okkupationsgebiet umfasste 6863 km² – nach Angaben der letzten Volkszählung aus dem Jahr 1931 lebten hier 568.215 Menschen.

Der Chef der Zivilverwaltung hatte sein Büro bis zum 15. November 1941 in den Räumen des ehemaligen Realgymnasiums, des ­heutigen Ersten Gymnasiums in Marburg, am General-Maister-Platz und danach in Graz.8 Im Herbst 1941 planten die deutschen Besatzer den Anschluss der Untersteiermark an das Deutsche Reich bzw. an den Gau Steiermark. Dieser Anschluss, der zunächst für 1. Oktober 1941 bzw. 1. November 1941 vorgesehen war, kam jedoch wegen ungelöster Personalfragen im Hinblick auf den NSDAPGauleiter und den Reichsstatthalter für das vergrößerte Kärnten nicht zustande. Der für 1.  Jänner 1942 vorgesehene Anschluss, der dann auf unbestimmte Zeit verschoben wurde, scheiterte aufgrund der Ausweitung des Volksbefreiungskampfes.9 In den ersten Monaten des Krieges blieben unter der Besatzung die vormaligen jugoslawischen Verwaltungseinheiten als Bezirke auf-

Gauleiter Sig fried Uiberreither in Marburg anlässlich der Einsetzung der Zivilverwaltung, 16. April 1941 Bayerische Staatsbibliothek München/Hoffmann

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

recht. Der Chef der Zivilverwaltung setzte als Bezirksvorsteher seine politischen Kommissare aus dem Deutschen Reich ein. Im Bezirk Marburg-rechtes Ufer übernahm Ludwig Kaltenberg die Position des politischen Kommissars, während in Marburg-linkes Ufer Herbert Töscher, ein Lehrer aus Marburg, diese Funktion innehatte. Im Bezirk Marburg-Stadt war dies SA-Standartenführer Fritz Knaus, ein Landesrat für den Bezirk Graz-Umgebung, im Bezirk Pettau-Stadt SA-Standartenführer Erich Seiz, im Bezirk Pettau-Umgebung Fritz Bauer aus Graz, im Bezirk Cilli-Stadt Anton Dorfmeister, der Leiter des Gaugrenzlandamtes in Graz, im Bezirk Cilli-Umgebung Josef Eidenberg, ein Beamter aus Neumarkt in der Obersteiermark, im Bezirk Luttenberg Bruno Uray, ein Kaufmann aus Radkersburg, im Bezirk Windischgraz Adolf Kleindienst, im Bezirk St. Marein bei Erlachstein Robert Komarek, ein Funktionär der Landesführung der Deutschen Arbeitsfront aus Graz, im Bezirk Tüffer Hans Leitner, im Bezirk Oberburg Adolf Swoboda, im Bezirk Rann Dr. Hugo Suette aus Deutschlandsberg, im Bezirk Mahrenberg Hans Nicht sowie im Bezirk Gonobitz Heribert Eberhardt.10 Die Gemeindeausschüsse, die im alten Jugoslawien bei den letzten Gemeinderatswahlen im Jahr 1938 gewählt worden waren, wurden am 14. April 1941 aufgelöst und die Bürgermeister abgesetzt. Die politischen Kommissare setzten in den Gemeinden sofort die sogenannten Amtsbürgermeister ein, das waren Einheimische, die Mitglieder des Schwäbisch-deutschen Kulturbundes bzw. Vertrauensleute des Gaugrenzlandamtes in Graz waren. Einige Bürgermeister kamen auch aus der österreichischen Steiermark. Bürgermeister von Marburg etwa wurde Dr. Erwin Engelhardt aus Frohnleiten bei Graz. In Cilli wurde der Prokurist Robert Himmer Bürgermeister, ein Mitglied des dortigen Schwäbischdeutschen Kulturbundes, sowie in Windischgraz der Ortsgruppenleiter des Schwäbisch-

657

deutschen Kulturbundes vor dem Krieg, Hans Schuller. In Schönstein/Šoštanj war es ebenfalls ein einheimisches Mitglied, Hubert Hauke. Mit 1. Juli 1941 schaffte die Besatzungsmacht die Bezirke ab und gründete fünf Landkreise: Marburg-Land, Cilli, Pettau, Trifail/ Trbovlje, Rann und den Stadtkreis Marburg. Der ehemalige Bezirk Luttenberg-Oberradkersburg wurde dem Landkreis Radkersburg in der österreichischen Steiermark zugeschlagen. Den Landkreisen standen politische Kommissare vor, welche innerhalb dieser Körperschaft die gleichen Kompetenzen hatten wie der Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark. Am ersten Februar 1942 wurden sie in Landräte umbenannt. Eine Ausnahme war nur der Stadtkreis Marburg, wo der politische Kommissar vom Oberbürgermeister abgelöst wurde. Der Stadtkreis Marburg umfasste neben der Stadtgemeinde Marburg noch Teile der ehemaligen Bezirke Marburg-rechtes und linkes Ufer. Aus dem Bezirk Marburg-rechtes Ufer wurden zum Stadtkreis die Gemeinden Brunndorf/ Studenci, Rothwein/Radvanje und Pobersch/ Pobrežje sowie Teile der Gemeinden Kötsch/ Hoče und Lembach/Limbuš zugeschlagen sowie aus dem Bezirk Marburg-linkes Ufer Teile der Gemeinden Gams/Kamnica und Koschak/ Košaki. Der Stadtkreis Marburg, der 110 km² umfasste, gliederte sich in acht Bezirke, in denen im Herbst 1941 71.440 Einwohner lebten. Zum Kreisleiter wurde Fritz Knaus ernannt. Der Kreis Marburg-Land, der aus Teilen der Bezirke Marburg-rechtes Ufer, Marburg-linkes Ufer, Mahrenberg, Windischgraz und Gonobitz gebildet wurde, umfasste 1.759 km² und im Juni 1941 42 Gemeinden. Im Oktober desselben Jahres lebten darin 114.178 Einwohner. Der politische Kommissar des Landkreises war Herbert Töscher. Er führte den Landkreis bis zum 1. März 1943, als er zur Wehrmacht eingezogen wurde und zu Beginn des Jahres 1944 fiel. Sein

658

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

Landkarte der angegliederten Untersteiermark mit eingezeichneten Kreisgrenzen Sammlung Muzej narodne osvoboditve Maribor

Nachfolger war der Jurist und Oberregierungsrat Dr. Erwin Engelhardt aus Frohnleiten.11 Der Cillier Kreis war mit einer Fläche von 1.812 km² der größte der Untersteiermark. Neben der Stadtgemeinde Cilli und den Bezirken Cilli-Umgebung und Oberburg gehörten noch Teile der Bezirke Tüffer, St. Marein bei Erlachstein und Windischgraz dazu. Im Juni 1941 waren es 54 Gemeinden und gemäß der Volkszählung vom Oktober 1941 143.410 Menschen. Die Kreisleitung unterstand Anton Dorfmeister. Nach seinem Tod am 3.  Februar 1945 übernahm der SS-Offizier Heinz Mayerhofer sein Amt. Der Pettauer Kreis umfasste neben der Stadtgemeinde Pettau und dem Bezirk Pettau-Umgebung noch die Gemeinden St. Leonhard in Windischbüheln, Kirchberg/Cerkvenjak, Ge­orgen­

thal/Jurovski dol, St. Benedikten in Windischbüheln/Sv. Benedikt v Slovenskih Gorican, Burgstall und Strahleck/Voličina aus dem Bezirk Marburg-linkes Ufer, die Gemeinden Kranichsfeld/Rače und Maxau/Makole aus dem Bezirk Marburg-rechtes Ufer und die Gemeinden Schiltern und Stoperzen aus dem Bezirk St. Marein bei Erlachstein. Der Kreis umfasste 1.110 km² und hatte im Juni 1941 41 Gemeinden. Im Oktober 1941 zählte er 107.104 Einwohner. Die ganzen vier Jahre der Besatzung stand er unter der Leitung von Fritz Bauer aus Graz.12 Der Kreis Rann umfasste neben dem Bezirk Rann noch vier Gemeinden aus dem Bezirk St. Marein bei Erlachstein (Drachenburg/Kozje, Felddorf/Polje, Peilenstein/Pilštanj und St. Peter bei Königsberg/Sv. Peter pod Svetimi gorami), sieben Katastralgemeinden der politischen Gemeinde

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

Montpreis/Planina pri Sevnici und sechs Katastralgemeinden aus den politischen Gemeinden mit Sitz im italienischen Besatzungsgebiet. Laut Statistik der Besatzer umfasste der Kreis am 12. September 1941 910 km² und hatte 72.285 Einwohner. Nach dem Abgang des politischen Bezirkskommissars Dr. Hugo Suette in die Wehrmacht übernahm der SS-Major Dr. Wilhelm Kern aus Wien die Kreisleitung. Im Jahr 1943 folgte ihm Dr. Hermann Lutz, bis dahin Landrat in Voitsberg. Der Kreis Trifail umfasste fünf Gemeinden aus dem Bezirk Tüffer und fünf Gemeinden aus dem Bezirk Gurkfeld. Abgesehen davon wurden noch einige Katastralgemeinden aus den Gemeinden Heiligenkreuz bei Littai/Sv. Križ pri Litiji und Johannistal eingegliedert, deren Sitz sich im italienischen Besatzungsgebiet befand. Im Oktober 1941 hatte er eine Fläche von 530 km² und wies 57.302 Einwohner auf. Die Kreisleitung übernahm der Regierungsrat Dr. Ernst Frohner. Im Kreis Luttenberg befand sich neben dem ehemaligen Bezirk Luttenberg noch die Gemeinde Süßenberg/Sladki Vrh. Im Sommer 1941 wurde der Kreis LuttenbergOberradkersburg, der 428 km² umfasste, an den Landkreis Radkersburg angeschlossen. Im Herbst 1941 lebten im slowenischen Teil des Kreises Oberradkersburg 39.971 Einwohner. Er stand unter der Leitung von Landrat Dr. Alexander Guggenthal-Wittek aus Radkersburg.13

659

Nach der Volkszählung vom 29. November 1942 wurden in der Verwaltungseinheit Untersteiermark, die 5.994,26 km² umfasste, 122.997 Haushalte bzw. 531.610 Einwohner gezählt; darunter waren 251.649 Männer und 279.961 Frauen. Die höchste Bevölkerungszahl, nämlich 138.431 oder 26 Prozent gab es im Cillier Kreis, es folgten der Landkreis Marburg mit 111.420 oder 20,9 Prozent, der Pettauer Kreis mit 104.689 Einwohnern oder 19,7 Prozent, der Stadtkreis Marburg mit 68.202 Einwohnern oder 12,9 Prozent, der Kreis Trifail mit 40.406 Einwohnern oder 7,6 Prozent, der Landkreis Luttenberg mit 40.040 Einwohnern oder 7,5 Prozent und der Kreis Rann, der mit 28.422 Einwohnern oder 5,4 Prozent der kleinste war. 297.975 Einwohner oder 56,7 Prozent waren in der Landwirtschaft und Viehzucht beschäftigt, 118.105 Einwohner oder 22,5 Prozent in der Industrie und im Gewerbe, 38.581 Personen oder 7,3 Prozent, im Handel und Verkehr, 25.651 Einwohner oder 4,9 Prozent arbeiteten im öffentlichen Dienst, während 15.092 Personen oder 2,9 Prozent im Haushalt tätig waren. Ohne Beschäftigung waren in der Untersteiermark 30.181 Personen oder 5,7 Prozent. Der Sozialstruktur nach gab es 40,3 Prozent Arbeiter, 40,2 Prozent Bauern, 11 Prozent Dienstboten, 6,4 Prozent Angestellte und 2,1 Prozent Beamte. 14

Die Germanisierung der slowenischen Bevölkerung Gemäß dem Hitler-Auftrag „Machen Sie mir dieses Land wieder deutsch!“ wurden zunächst das äußere Erscheinungsbild des Landes verändert und die nationalbewussten Slowenen sowie die Intelligenz ausgesiedelt, die bei der Festigung des nationalen Bewusstseins in der slowenischen Steiermark eine führende Rolle spielten. Es folgte die systematische Ansiedlung von

Deutschen in den leeren slowenischen Häusern. Die slowenische Bevölkerung, die blieb, sollte so schnell wie möglich germanisiert werden.15 Zunächst wurden alle slowenischen Aufschriften auf öffentlichen Einrichtungen und Privathäusern entfernt, Gassen und Straßen in Städten und Märkten wurden umbenannt, jugoslawische Hausnummern entfernt und durch neue

660

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

grüne Tafeln in den steirischen Landesfarben ersetzt. Ende April 1941 verfügte der Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark, Dr. Sigfried Uiberreither, die Anordnung über die Eindeutschung von Orten in der Untersteiermark. Danach wurden die Ortsnamen aus dem Verzeichnis,16 das von Dr. Manfred Straka und Dr. Wilhelm Sattler im Jahr 1940 mit Mitarbeitern des Südostdeutschen Instituts erstellt worden war, eingeführt. Bei der Umbenennung wurden in der Regel die deutschen Ortsnamen aus der Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie verwendet. Zu einer neuerlichen Veränderung bei den Ortsnamen kam es am 4. Juni 1943, als ein Drittel der bisherigen deutschen Ortsnamen durch neue ersetzt wurde. Nun wurden die Orte nach deutschen Burgen, Schlössern und Grundherrschaften benannt. Bei den Heiligen-Ortsnamen wurde das Adjektiv „Sankt“ gestrichen. Im Siedlungsgebiet zwischen der Save und der Sotla – im sogenannten Ranner Dreieck –, das mit Deutschen aus der Gottschee/Kočevska besiedelt wurde, wurden die Orte mit deutschen Namen aus der Gottschee versehen. Im Jahr 1943 gab es in der Untersteiermark 823 umbenannte Orte.17 Am 20. Oktober 1941 ordnete der Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark auch an, wie slowenische Tauf- und Familiennamen auf Deutsch zu schreiben seien.18 Im ersten Kriegsjahr gelang es der Besatzungsmacht nicht, alle Aufschriften und Hausnummerntafeln auszutauschen. Im April 1942 berichtete der Pettauer Kreisinspektor Karl Wagner nach der Besichtigung der Ortsgruppen des Steirischen Heimatbundes dem Pettauer Kreisführer Fritz Bauer, dass sich an den Häusern noch immer Tafeln mit der Aufschrift der Slavija-Versicherung befanden, sowie dass mancherorts die Häuser noch immer mit slowenischen Nummerntafeln versehen waren, obwohl der Pettauer Kreis der einzige [ist], der alle Hausnummerntafeln bereits in deutscher Sprache hat.19 Der

Regierungsvorsitzende Dr. Otto Müller-Haccius ordnete Ende Oktober 1942 auf den Stabsbesprechungen an, dass die ehemaligen jugoslawischen Versicherungstafeln von den Gebäuden entfernt werden.20 Die Auflösung der slowenischen Vereine Mitte April 1941 löste die Besatzungsmacht in der Untersteiermark alle slowenischen Vereine, Vereinigungen und Organisationen auf und konfiszierte deren Vermögen 21 zu Gunsten „des Reichgaues Steiermark zur Verfügung des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums“22 (z. B. Steirischer Heimatbund). So wurden in der Untersteiermark 3.358 Vereine aufgelöst. Darunter waren Vereine, die von politischen Parteien gegründet worden waren, Facharbeitervereine, Bauarbeitervereine, Gewerbetreibende- und Kaufmannsvereine, Filialen von Imkervereinen, Schützenvereine, Kreditinstitute, Sparkassen usw. In allen größeren Gemeindezentren sowie in einigen größeren Orten, wo es Pfarrkirchen gab, waren auch katholische Bildungsvereine, kirchliche Bruderschaften, Lesevereine und Landjugendvereine, Sokol-Vereine, Feuerwehrvereine, Burschenschaften, Obstbau- und Gartenbauvereine, regionale Bauernbünde und Adriawachten aktiv. Die Bescheide über die Auf lösung der einzelnen Vereine wurden im amtlichen Bekannt­ machungsorgan veröffentlicht. Stillhaltekommissar in der Untersteiermark war der Regionalkassier der NSDAP in Graz, Max Hruby. Mit Bescheid Nr. 1 vom 25. September 1941 wurde der Katholische Frauenverein in Pettau, als letzter Verein am 1. Dezember 1942 mit Bescheid Nr. 3.358 der Museumsverein in Pettau aufgelöst. Bei der Abschaffung der Vereine war die Besatzungsmacht konsequent. Am 1. Dezember 1942 wurden auch alle Ortsgruppen des Schwäbisch-deutschen Kulturbunds aufgelöst. Ihr Vermögen widmete der Steirische

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

Heimatbund der Stiftung zur Betreuung alter Volkstumskämpfer. Während des Krieges wurden von den Deutschen nur die Feuerwehrvereine und die örtlichen Organisationen des Deutschen Roten Kreuzes neu gegründet. An Stelle der örtlichen Filialen des Obstbau- und Gartenbauvereins für Slowenien wurden örtliche Nachfolgevereine gegründet, welche die Satzungen der Landesbauernschaft Südmark übernahmen.23 Die Vernichtung slowenischer Bibliotheken Zur gleichen Zeit wie die Vereine und Organisationen wurden in der Untersteiermark alle öffentlichen Bibliotheken beschlagnahmt.24 Es begann eine groß angelegte Aktion zur Vernichtung von slowenischen Büchern. Aus dem Bericht des Kommandeurs der Sicherheitspolizei erfährt man: „Literatur. Gegenwärtig wird die slowenische Literatur geprüft. Vorgesehen ist, von den ausgesuchten Büchern 4 Bibliotheken zusammen zustellen, welche in das Altreich kommen, das übrige Material wird eingestampft. Somit verschwindet die slowenische Literatur, soweit sie in der Untersteiermark vorhanden ist, gänzlich“.25 Die Aufsicht darüber übernahm der nationalpolitische Referent in der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes, Dr. Helmut Carstanjen. Unter den Büchern wurden nur jene verschont, welche die slowenische Steiermark als auf deutschem Kulturboden beruhend bezeichneten bzw. jene, die deutsche Autoren aufwiesen. Neben den Schüler- und Lehrerbibliotheken an den Volksschulen wurden auch Pfarrbibliotheken und Bibliotheken einzelner Vereine vernichtet. In Marburg wurde die Bibliothek der Arbeiterkammer vernichtet, die an die 18.000 Bücher besaß, weiters die Volks- und die Bildungsbibliothek. Nur die Bücher aus der Bibliothek des Priesterseminars, die an die 30.000 Bände umfasste (darunter auch Kostbarkeiten wie Acta Sanctorum, Mi-

661

gne: Patrologie mit 379 Bänden, Mansi: Concilia und die Dalmatin-Bibel), blieben verschont. Dr. Carstanjen übernahm aus der Marburger Studienbibliothek, der wichtigsten und größten Bibliothek (ihr Bestand umfasste an die 40.000 Bücher), Zeitungen sowie historische, volkskundliche und politische Literatur. Belletristische und deutschsprachige wissenschaftliche Literatur über die slowenische Steiermark wurde in das Lager der Landesbibliothek in Graz verfrachtet. Nach dem Krieg wurden die Bücher zurückgegeben. Ende Juni 1941 wurde die Studienbibliothek (mit einem stark reduzierten Bücherbestand von ca. 6.000 Büchern) zur Stadtbücherei erklärt. Im Mai 1942 umfasste diese 7.552 Bücher und hatte Filialen in Pobersch, Zrkovci, Kötsch, Gams, Lembach und Rothwein. Der Großteil der Bücher, insbesondere aus Schul-, Lehrer- und Pfarrbibliotheken, wurde verbrannt. Viele wurden auch in Papierfabriken zerschnitten. Im Feuer endeten die slowenischen Bücher des Knabenseminars von Marburg und die reichhaltige Bibliothek des Bildungsvereins in Pettau, wo an die 8.000 Bücher gleich am Platz vor dem Minoritenkloster verbrannt wurden. In Pettau wurden viele Bücher der Volksbibliothek des Volkslesevereins auch in die Drau geworfen. Es blieben nur wenige – deutschsprachige – Bücher erhalten, die der deutschen Städtischen Bücherei Pettau zur Verfügung gestellt wurden. Den Bewohnern von Pettau gelang es, 5.000 Bücher aus der Kapuzinerbibliothek, die Professorenbibliothek mit etwa 3.000 Büchern und 20 kleinere Bibliotheken der Pfarrämter zu retten, die bei der Besetzung im Museum von Pettau versteckt worden waren. In Pettau wurde 1941 eine Gemeindebücherei gegründet, die Bücher aus der evangelischen Bibliothek bzw. Bücher aus der Bibliothek des Schwäbisch deutschen Kulturbunds umfasste. Im Jahr 1943 wurde noch die Städtische Bücherei Pettau gegründet, die 4.000 Bücher umfasste und an die 500 Leser

662

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

hatte. Was die zahlreichen Vereinsbibliotheken in der Untersteiermark angeht, so gelang es den Mitgliedern der Vereine, die Mehrzahl der Bücher des Katholischen Bildungsvereins von St. Lorenzen am Draufelde, des Katholischen slowenischen Bildungsvereins in Ternowetzdorf/ Trnovska vas in den Windischen Büheln/Slovenska gorice, des Vereins Gegenseitigkeit in Pesje, des katholischen Bildungsvereins in St. Martin bei Wöllan/Šmartno pri Velenju und manche andere zu retten. Im Herbst 1942 lief mit der großen Sprachoffensive eine neue Aktion der Beschlagnahme und Vernichtung von slowenischen Büchern an, welche die privaten Bibliotheken betraf. So wurden während des Krieges in der Besatzungseinheit Untersteiermark mindestens 1,200.000 Bücher beschlagnahmt und vernichtet. Neben Büchern beschlagnahmte die Besatzungsmacht auch Archive und kulturhistorische Gegenstände, stellte das Erscheinen slowenischer Zeitungen und religiöser Zeitschriften ein und beschlagnahmte die Kyrill-Druckerei in Marburg sowie die Druckerei der Hermagoras-Gesellschaft in Cilli. Ihr Bücherlager wurde in die Papierfabrik Ratschach gebracht. Während des Krieges machten das deutsche Blatt „Marburger Zeitung“, das amtliche Organ des Steirischen Heimatbundes, und die Wochenzeitung „Štajerski gospodar“, die einzige slowenische Zeitung, die auch Artikel in deutscher Sprache brachte, die Bevölkerung mit den politischen und militärischen Ereignissen zu Hause und in der Welt bekannt.26 Verhaftungen und Massendeportationen von Slowenen Eine der grundlegenden Maßnahmen zur Vernichtung der Slowenen waren Massendeportationen.27 Der Reichskommissar zur Festigung des Deutschtums, Heinrich Himmler, erließ am 18. April 1941 bei seinem Besuch in Marburg

eigene „Richtlinien für die Aussiedlung fremdvölkischer Elemente“ in der Untersteiermark. Darin wurde festgelegt, dass es notwendig sei, sofort die gesamte slowenische Intelligenz, alle nach dem Jahr 1914 Zugewanderten, die Bevölkerung des Save- und Sotlagürtels und dem NS-Rassendenken nicht entsprechende Elemente auszusiedeln. Die ersten Verhaftungen nationalbewusster Slowenen wurden schon Anfang April 1941 durchgeführt. Verhaftet und eingesperrt wurden Intellektuelle (Geistliche, Professoren und Lehrer, Beamte), Funktionäre der aufgelösten jugoslawischen Parteien, Mitglieder des Sokol-Vereins, die General-MaisterKämpfer, die Mitglieder der Kyrill-und-­ Method-Gesellschaft. Die ersten Verhaftungen der Slowenen führten die Mitglieder des Schwäbisch deutschen Kulturbunds in den ersten Kriegstagen durch, in denen sie für kurze Zeit die Macht übernahmen. In Oberradkersburg wurden die ersten Slowenen schon in der Nacht auf den 9. April verhaftet, an die kroatische Grenze gebracht und nach Kroatien vertrieben. Am selben Tag gab es die ersten Verhaftungen von Slowenen auch in Pettau. Eine umfangreiche Verhaftungswelle begann am 14. April. In Marburg begann die Verhaftung von Slowenen in der Nacht auf den 11. April 1941. Es folgte eine größere Verhaftungswelle am 15. April, von der 300 Menschen betroffen waren. In Wöllan/Velenje und Schönstein führte die deutsche Besatzungsmacht die ersten Verhaftungen in der Nacht auf den 17. April durch. Die schnellen und massenhaften Verhaftungen in der gesamten Untersteiermark füllten bald alle Gefängnisse. Deshalb wurden Sammellager in der Kaserne Melje in Marburg, im Stari pisker in Cilli, im Pfarrhof von St. Martin bei Windischgraz/Šmartno pri Slovenj Gradcu, in Schloss Ankenstein/Borl bei Pettau und in Schloss Reichenburg/Rajhenburg eingerichtet. Anfang Juni 1941 begann die erste Aussiedlungswelle aus der Untersteiermark, die bis zum

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

10. Juli dauerte. Es folgte noch eine weitere Welle, die bis zum 27. September 1941 anhielt. Aus der Untersteiermark wurden während der Besatzung 14.612 Slowenen nach Serbien und Kroatien ausgesiedelt. Nach dem erhalten gebliebenen deutschen Verzeichnis dieser Transporte kamen aus dem Kreis Marburg-Stadt 4.434 Personen, aus dem Cillier Kreis 1.211 Personen und aus dem Pettauer Kreis 1.146 Personen. Im Oktober 1941 folgte eine dritte Aussiedlungswelle: Vom 24. Oktober 1941 bis zum 30. Juli 1942 wurden 62 Transporte mit rund 37.000 Personen aus dem Save- und Sotlagebiet in die deutschen Lager der Volksdeutschen Mittelstelle in Ober- und Unterschlesien, in Sachsen, Brandenburg, Hannover, Thüringen, Württemberg und Baden abgewickelt. In den Häusern der Vertriebenen wurden Deutsche aus der Gottschee, der Bukovina und Dobrudža angesiedelt. Das Vermögen der Vertriebenen wurde beschlagnahmt. Die Besitzungen wurden dem ermächtigten Reichskommissar zur Festigung des Deutschtums in Marburg zur Verwaltung übergeben. Die Hauptabteilung V (Land- und Forstwirtschaft) gründete zur Verwaltung der beschlagnahmten Besitzungen eine höhere landwirtschaftliche und forstwirtschaftliche Verwaltung. So wurden in der Untersteiermark 30 höhere Verwaltungen eingeführt, die im Jahr 1943 für 1.862 Besitzungen sorgten, die 23.012,48 Hektar umfassten. Im Kreis Marburg Stadt beschlagnahmte die Besatzungsmacht 35 Industrie-, 77 Handels- und 89 Gewerbebetriebe, alle Genossenschaften und Verbände sowie fünf Kinos. Im Cillier Kreis waren es 1.360 Besitzungen, 71 Handelsbetriebe, 85 Werkstätten und 20 Industriebetriebe. 28 Parallel zu den Verhaftungen und zur Aussiedlung der slowenischen Bevölkerung beging die Besatzungsmacht in den ersten Monaten massenhaft Verbrechen an körperlich und geistig behinderten Menschen. Ende Mai und An-

663

fang Juni 1941 inspizierten zwei Ärztekommissionen die Insassen der sogenannten Irrenanstalt Novo Celje und der Siechenanstalten Möllag/ Medlog bei Cilli, Hochenegg/Vojnik, Gonobitz, Pettau und Meretinzen/Muretinci. Die beiden Ärztekommissionen standen unter der Führung von Dr. Georg Renno aus Berlin und Dr. Oskar Begusch, dem Verwalter der sogenannten Irrenanstalt Feldhof bei Graz, und bestanden aus den Mitgliedern Dr. Alfred Fischer, Arzt in Sachsenfeld/Žalec und Verwalter der Anstalt in Novo Celje, Dr. Sorger und der Schwester Helena Linhardt aus der Irrenanstalt Feldhof bei Graz, Karl Matl, Verwalter der Siechenanstalt bei Pettau und Meretinzen, sowie den Ärzten Dr. Wilhelm Blanke und Dr. Willi Wessely aus Pettau. Nach der Inspektion teilten die Kommissionen die „Schützlinge“ der erwähnten Anstalten in drei Gruppen. Die erste Gruppe wurde zur Tötung in der „Euthanasieanstalt“ Schloss Hartheim bei Linz bestimmt. Die zweite wurde in der Irrenanstalt Feldhof bei Graz weiter behandelt, und die dritte Gruppe umfasste Patienten, deren Schicksal unbestimmt gelassen wurde. Bald nach der Inspektion, genauer am 9. Juni 1941, wurden aus den genannten Anstalten 583 Patienten in die Euthanasieanstalt Hartheim bei Linz in Österreich gebracht, wo sie zwischen dem 20. Juni und dem 2. Juli 1941 ermordet wurden.29 Der Steirische Heimatbund Die Hauptrolle bei der „Eindeutschung“ der slowenischen Bevölkerung in der Untersteiermark spielte gemäß dem Auftrag der Besatzungsmacht der Steirische Heimatbund. Er wurde als Verein am 10. Mai 1941 durch eine eigene Verordnung des Chefs der Zivilverwaltung in der Untersteiermark gegründet. Der Steirische Heimatbund war die einzige erlaubte politische Organisation, in der alle Untersteirer und die Volksgenossen zusammengefasst werden, die

664

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

sich rückhaltlos zu Führer und Reich bekennen, um sie seelisch, geistig und politisch zu führen und sie zu bewussten Bürgern des Reiches und vollwertigen Gliedern der deutschen Volksgemeinschaft zu machen.30 Nach einer Reihe von Propagandaveranstaltungen, welche die gesamte Untersteiermark erfassten, meldeten sich in den Tagen vom 17. bis zum 25. Mai 1941 323.807 Personen oder 95 Prozent der Bevölkerung zum Steirischen Heimatbund. Die große Mehrheit hatte Angst wegen der Verhaftung und Aussiedlung von volksbewussten Slowenen in Gefängnisse und Lager. Ein Teil der Bevölkerung, und hier handelte es sich um die ärmere Schichte wie beispielsweise Winzer und Keuschler, ließ sich von der nationalsozialistischen Demagogie von einem besseren Leben ohne Armut blenden. Ausschlaggebend für die Aufnahme in den Steirischen Heimatbund war jedoch die politische und rassische Bewertung der gemeldeten Personen. Für die politische Bewertung sorgte der Ortsgruppenführer, der die örtlichen Verhältnisse am besten kannte. Es gab fünf Bewertungsstufen: A (führend deutsch), B (deutsch), C (indifferent), D (deutschfeindlich) und E (führend deutschfeindlich). Die rassistische Bewertung erfolgte durch einen Rassenforscher. Hier gab es vier Bewertungsstufen. Die rassische Bewertung I (sehr gut) erhielten Menschen der reinen nordischen und fälischen Rasse. Die rassische Kategorie II (gut) erhielten Menschen der vorwiegend nordischen Rasse mit harmonischem dinarischen und westischen Einschlag. In die Stufe III (Durchschnitt) kamen Menschen der dinarischen Rasse mit sichtbaren ostischen Merkmalen. Die rassische Bewertung IV (rassisch ungeeignet) erhielten Menschen der rein ostischen und ostbaltischen Rasse. Mit der politischen und rassischen Einstufung der gemeldeten Personen wollte die Besatzungsmacht alle deutschfeindlichen Personen der untersteirischen Bevölkerung isolieren und den gemäß NS-Jargon „rassisch ungeeigneten Elementen“ die Integration in die „deutsche

Volksgemeinschaft“ verwehren. So untersuchten die mobilen Aufnahmekommissionen in den Tagen von 5. Juni bis zum 15. September 1941 in der Untersteiermark 321.253 Personen oder 99,2 Prozent aller Angemeldeten in rassischer und politischer Hinsicht. Die rassische Bewertung I (sehr gut) erhielten nur 124 Bewohner, die meisten, nämlich 221.672 oder 69 Prozent, erhielten die rassische Bewertung III (durchschnittlich). Es herrschten Mischlingstypen mit vorwiegend dinarischem Einschlag und sichtbaren Zeichen der ostischen Rasse vor. 57.897 Einwohner oder 18 Prozent erhielten die Bewertung II (gut), 41.559 oder 13 Prozent der Bewohner wurden für ungeeignet befunden (Bewertung IV). Im Jahr 1941 wurden 250.307 Personen oder 78 Prozent der Personen in den Steirischen Heimatbund aufgenommen. Abgelehnt wurden 70.945 oder 22 Prozent.31 Wegen der unsicheren deutsch-italienischen Grenze wurden im Kreis Rann und Trifail die Anmeldungen zum Steirischen Heimatbund in den Tagen zwischen dem 25. Oktober und dem 2. November 1941 entgegengenommen. Zu dieser politischen Organisation meldeten sich 46.598 Einwohner, von denen die meisten auch akzeptiert wurden.32 Nach der Volkszählung vom 29. November 1942 wurden in den Steirischen Heimatbund 275.364 Personen oder 51,8 Prozent aller Einwohner der Untersteiermark aufgenommen. Endgültige Mitglieder mit roten Ausweisen, welche den sogenannten „Kristallisationskern des Steirischen Heimatbundes“ bildeten, gab es 17.132 oder 6,2 Prozent. Vorübergehende Mitglieder mit grünen Ausweisen, die ihre Zugehörigkeit zum Führer und dem Deutschen Reich erst beweisen mussten, waren gezählte 258.232 oder 92,8 Prozent. Die sogenannte Deutsche Jugend, die zwischen 1. Jänner 1925 und 31. März 1927 geboren wurde, erhielt besondere Bestätigungen (Dienstausweis A). Davon gab es in der Untersteiermark 14.848 Personen. 68.278 Personen wurden nicht in den

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

Steirischen Heimatbund aufgenommen. Außerhalb des Steirischen Heimatbundes blieben auch 7.028 deutsche Staatsbürger und 2.501 Mitglieder der NSDAP. Die Führung der Ortsgruppen des Steirischen Heimatbundes stellte während der gesamten Kriegszeit Anträge auf Erteilung von roten Ausweisen und damit der ständigen Mitgliedschaft beim Steirischen Heimatbund. Mitte 1944 erhöhte sich die Zahl der Vorläufigen Mitglieder im Steirischen Heimatbund in der Untersteiermark auf 343.606 Personen. Vollmitglieder gab es 46.889.33 Die Organisationsstruktur des Steirischen Heimatbundes ähnelte jener der NSDAP. Auch hier galt das sogenannte Führerprinzip, was bedeutete, dass die Bundes- und Kreisleiter sowie die Ortsgruppenführer die Einzigen waren, die für ihre Organisation Erlässe ausstellen konnten. Territorial gesehen stützte sich der Steirische Heimatbund auf die Zivilverwaltung der Besatzungsmacht. Während der Besatzung wurden in der Untersteiermark sieben Kreise des Steirischen Heimatbundes mit 142 Ortsgruppen und 625 Zellen sowie 4.208 Blöcken gegründet.34 Ein Kreis war ein abgeschlossenes Gebiet mit ungefähr hunderttausend Einwohnern und einer größeren Stadt als Zentrum; er wurde von einem Kreisführer geleitet. Innerhalb der Kreise gab es Ortsgruppen, die sich territorial mit den Gemeinden deckten. Diese wurden in Zellen und Blöcke geteilt. Zellen umfassten höchstens 300 Haushalte bzw. 800 bis 1.200 Menschen. Blöcke verbanden 40 Haushalte. Die Kreisführung des Steirischen Heimatbundes Marburg-Stadt war auf 15 Ortsgruppen aufgeteilt, die während der Besatzung zunächst unter der Führung von Josef Klingberg aus Marburg standen, der im Königreich Jugoslawien Leiter des Schwäbisch-deutschen Kulturbundes für den Marburger Kreis war. Nach seiner Einberufung zur Wehrmacht am 1. September 1942 übernahm Michel Strobl die Kreisführung, der Leiter des Schulamtes bei der

665

Plakat zur Eröffnung des Gemeinschaftshauses der Ortsgruppe Kunigund/Kungota des Steirischen Heimatbundes am 21. Februar 1943 StLA

Bundesführung des Steirischen Heimatbundes. Dieser führte den Kreis bis zum Kriegsende. Während seiner Abwesenheit vom 1. März 1943 bis zum 8. Februar 1944 wurde er von Fritz Knaus vertreten, dem Oberbürgermeister des Kreises Marburg-Stadt.35 Der Kreisführung des Steirischen Heimatbundes Marburg-Land unterstanden 32 Ortsgruppen. Während der Besatzungszeit wurde sie vom russischen Ingenieur Stefan Doboczy geleitet, der im Königreich Jugoslawien Funktionär des Schwäbisch-deutschen Kulturbundes war.36 Der Kreis Pettau war auf 29 Ortsgruppen aufgeteilt. Bis zum September 1941 stand er unter der Führung des Leiters der dortigen Sparkasse, Josef Wresnig, dem Vorkriegskreisführer des Schwäbisch-deutschen Kulturbundes. Nach ihm übernahm Fritz Bau-

666

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

er die Kreisführung, der den Kreis bis Kriegsende leitete.37 Die Kreisführung des Steirischen Heimatbundes von Cilli mit 37 Ortsgruppen hatte bis Februar 1945 Anton Dorfmeister inne. Ihm folgte der hohe SS-Offizier Heinz Mayerhofer nach.38 Den Kreis Trifail mit neun Ortsgruppen führte während des Krieges Heribert Eberhardt, jenen von Rann mit elf Ortsgruppen Adolf Swoboda, ein Deutscher aus Pula.39 Die Kreisführungen des Steirischen Heimatbundes waren der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes in Marburg untergeordnet, die bis zum November 1944 ihren Sitz in den Räumen des Knabenseminars (heute die Mittlere Musikund Ballettschule) in der Mladinska ulica 12 hatte. Nach diesem Datum und bis zum Ende des Krieges war sie in den Räumen der damaligen Lehrerbildungsanstalt (heute Grundschule Bojana Ilicha) in der Mladinska ulica 13 untergebracht. Bis zum März 1945, als er als Befehlshaber des Volkssturms in den Kämpfen bei Rechnitz im Burgenland fiel, wurde sie vom SA-Oberst Franz Steindl geführt, dem Leiter der Organisationsbehörde in der Landesführung der NSDAP Steiermark.40 Während der Besetzung organisierte die Bundesführung des Steirischen Heimatbundes in Schloss Wurmberg/Vurberk Schulungskurse für eigene Funktionäre aus der Untersteiermark. In den vierzehntägigen Seminaren, die bis Ende 1944 stattfanden, wurden die Teilnehmer mit dem Leben und Werk von Adolf Hitler, mit den Grundlagen des Nationalsozialismus, mit der Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung und Rassenpolitik bekannt gemacht. Neben der „allgemeinen weltanschaulichen Bildung“ widmete man in den Kursen auch der Festigung der gegenseitigen Kameradschaft, der Zugehörigkeit zur „Volksgemeinschaft“ und der Leibeserziehung sowie dem Singen von nationalsozialistischen Liedern große Aufmerksamkeit. Im Herbst 1944 wurden auf dem Schloss noch zehntägige Sonderkurse für Beitrittskandidaten der NSDAP abgehalten. Der

Leiter dieses Schlosses war Hans Nicht. Neben ihm werden Bruno Pf lüger, Dr. Martin Verbitz und Eleonore Ambrosch als Vortragende und Erzieher genannt. Außer den Kursen gab es am Schloss auch zahlreiche Funktionärstreffen. So versammelten sich am 4. März 1944 die Granden der NSDAP in der besetzten Untersteiermark und Offiziere, die an der Offensive gegen die 14. Division beteiligt waren, um die Vernichtung derselben zu feiern. Am Treffen nahm auch der Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark, Dr. Sigfried Uiberreither, teil. In der Nacht zum 1. Februar 1945 trafen einander auf dem Schloss auch Franz Steindl, der Bundesführer des Steirischen Heimatbundes, und Jože MelaherZmagoslav, der Organisator der Tschetnik-Bewegung in der nordöstlichen Steiermark.41 Die Mitgliedschaft im Steirischen Heimatbund entschied auch über die deutsche Staatsbürgerschaft der Bewohner der Untersteiermark. Der Entwurf der „Verordnung über den Erwerb der Staatsbürgerschaft in den besetzten Gebieten der Untersteiermark, Kärnten und Krain“ wurde in Berlin am 23. August 1941 in Anwesenheit von Vertretern der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes, des Chefs der Zivilverwaltung und des Amtes des Reichskommissars für die Festigung des Deutschtums vorbereitet. Der Ministerrat für Reichsverteidigung gab die Verordnung, die von den Ministern Hermann Göring, Wilhelm Frick und Hans-Heinrich Lammers unterzeichnet ist, am 14. Oktober 1941 heraus. Diese legte mit Gesetzeskraft fest, dass die ehemaligen jugoslawischen Staatsbürger deutscher Nationalität und Personen deutscher Nationalität ohne Staatsbürgerschaft, Personen „deutschen oder verwandten Blutes“, die jugoslawische Staatsbürger oder ohne Staatsbürgerschaft waren, die deutsche Staatsbürgerschaft bis auf Widerruf erwerben konnten. Ehemalige jugoslawische Staatsbürger, welche die deutsche Staatsbürgerschaft nicht gemäß § 1 und 2 erhielten, bzw. sie später aufgrund eines Widerrufes

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

verlieren würden, wurden zu „Schutzangehörigen“ des Deutschen Reiches. Die Frage der Staatsbürgerschaft wurde schließlich mit der „Durchführungsverordnung“ des Innenministers Wilhelm Frick zur Verordnung vom 10. Februar 1942 geregelt, die genau festlegte, welche Personen als „Personen deutscher Nationalität“ zu gelten hatten und welche Personen „deutschen oder verwandten Blutes“ bzw. wer die „heimattreuen Bewohner der Untersteiermark und Krains“ waren. Der Chef der Zivilverwaltung für Untersteiermark veröffentlichte diese Verordnung des Ministerrats für Reichsverteidigung und die Durchführungsverordnung in einer eigenen Verlautbarung vom 16. März 1942.42 Die vollwertigen Mitglieder des Steirischen Heimatbundes erhielten die ständige deutsche Staatsbürgerschaft, während die vorübergehenden Mitglieder die deutsche Staatsbürgerschaft auf Widerruf erhielten. Alle jene, die nicht in den Steirischen Heimatbund aufgenommen wurden, wurden Schutzangehörige des Deutschen Reiches. Im Bereich der Besatzungseinheit Untersteiermark erhielten nach der Volkszählung vom 29. November 1942 27.059 Personen oder 5,1 Prozent der Bevölkerung die ständige deutsche Staatsbürgerschaft, während 415.694 Menschen oder 78,2 Prozent die deutsche Staatsbürgerschaft auf Widerruf bekamen. Schutzangehörige des Deutschen Reiches gab es 82.365 oder 15,5 Prozent. Ohne Staatsbürgerschaft blieben 956 Menschen oder 0,2 Prozent. Es gab 5.536 oder 1 Prozent Fremde; davon 3.203 Kroaten, 1.445 Italiener, 381 Ungarn, 88 Tschechen, 22 Slowaken; 398 Personen gaben bei der Volkszählung eine andere Staatsangehörigkeit an. Die meisten deutschen Staatsbürger, nämlich 12.790 Personen (oder 18,8 Prozent) lebten im Kreis MarburgStadt, es folgten der Cillier Kreis mit 4.363 Personen (oder 7,6 Prozent), der Kreis MarburgLand mit 3.592 Personen (oder 3,2 Prozent), der Kreis Luttenberg mit 3.035 Personen (oder 3,1 Prozent), der Pettauer Kreis mit 2.465 Personen

667

(oder 2,4 Prozent) sowie der Kreis Trifail mit 639 Personen (oder 1,6 Prozent). Am wenigsten, nämlich nur 175 deutsche Staatsbürger (oder 0,6 Prozent) gab es im Kreis Rann. Die meisten Staatsbürger auf Widerruf gab es im Cillier Kreis, nämlich 114.125 Personen oder 82,6 Prozent. Die meisten Schutzangehörigen des Deutschen Reiches lebten im Kreis Marburg-Land (20.110), im Cillier Kreis (18.440) und im Pettauer Kreis (17.528).43 Die Einführung der deutschen Wehrpflicht in der Untersteiermark und die Einberufung der Slowenen zur Wehrmacht Mit der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft übernahmen die Bewohner der Untersteiermark auch bestimmte Rechte und Pf lichten. Die ständigen deutschen Staatsbürger wurden wehrpf lichtig und wurden zur Wehrmacht eingezogen. Aus den erhaltenen Dokumenten des Zentralarchivs für die Sammlung zeitgeschichtlicher Dokumente beim Führungsamt II der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes in Marburg geht hervor, dass sich im Juli 1942 511 Freiwillige aus der Untersteiermark den Einheiten der Wehrmacht anschlossen, vor der Einführung der Wehrpf licht in der Besatzungszone Untersteiermark. Von diesen 511 Freiwilligen dienten 50 in SS-Einheiten. Die meisten, nämlich 303 Freiwillige, kamen dabei aus dem Kreis Marburg-Stadt, 80 aus dem Kreis Marburg-Land, 62 aus dem Cillier Kreis, 38 aus dem Luttenberger Kreis und 28 aus dem Pettauer Kreis. Wenn zur Zahl 511 noch die Freiwilligen aus den Kreisen Trifail und Rann hinzugezählt werden, gab es vor der Zwangsmobilisierung zur Wehrmacht mehr als 600 Freiwillige. Die Vorbereitungen zur deutschen Mobilisierung begannen im Jahr 1941 gemäß dem vorgesehenen Anschluss der besetzten slowenischen Länder an das Deutsche Reich. Am 24.  März 1942 erließ der Chef der Zivilver-

668

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

waltung in der Untersteiermark die Verordnung über die Einführung der Wehrpf licht, den Reichsarbeitsdienst und die besonderen Arbeitspf lichten für Schutzangehörige in der Untersteiermark, womit die Wehrpf licht in der Untersteiermark mit der Wehrpf licht im Reichsgau Steiermark gleichgesetzt wurde. Nach zwei Tagen folgte noch eine Verlautbarung über das Verzeichnis für den Wehrdienst und den Reichsarbeitsdienst in der Untersteiermark, die festlegte, dass es zwischen 1. April und 1. Mai 1942 eine Zählung der männlichen Jahrgänge 1923 und 1924 für den Reichsarbeitsdienst und die Wehrmacht sowie der weiblichen Jahrgänge 1923 und 1924 für den Reichsarbeitsdienst geben würde. Die Zählung galt jedoch nicht für das Gebiet der Kreise Rann und Trifail, wo für deutsche Zuwanderer eine dreijährige Stundung der Wehrpf licht bestand. 44 Ab dem Frühjahr 1942 wurden die männlichen Jahrgänge 1908– 1928 schrittweise zur Wehrmacht eingezogen. Die ersten Einberufungen begannen im Juli 1942, als die Jungmänner des Jahrganges 1923 einberufen wurden, jene des Jahrganges 1924 kamen zunächst in den Reichsarbeitsdienst und danach zur Wehrmacht. Nach gründlichen Vorbereitungen wurde die erste Gruppe von 234 slowenischen Burschen aus Pettau am 21. Juli 1942 zur Wehrmacht eingezogen. Über die Abreise der ersten Rekruten berichtete auch der Štajerski gospodar: Auf dem festlich geschmückten Platz vor dem Deutschen Haus haben sich die Vertreter der Wehrmacht, des Reiches und des Heimatbundes mit schönen Reden von diesen jungen Soldaten verabschiedet. Die blumengeschmückten jungen Männer, die mit ihrem Gesang und ihrem Jauchzen die Stadt und die Umgebung belebten, schritten unter Begleitung der Blaskapelle fröhlich zum Bahnhof. Die Bevölkerung grüßte sie freundlich. Die ersten Rekruten verließen Marburg am 22. Juli. Von ihnen verabschiedeten sich Leutnant Westphal und der Bundesführer des Steirischen Heimatbundes, Franz Steindl, der die jungen Soldaten

an die heldenhaften Taten erinnerte, die ihre Väter einst vollbrachten und sagte, dass es die Pflicht jedes Untersteirers sei, an der Seite der Genossen aus den übrigen Teilen des Deutschen Reiches für ihre Heimat zu kämpfen. 45 Am folgenden Tag, dem 23. Juli, wurden auch die Burschen aus Cilli zur Wehrmacht eingezogen. In der Stadtkaserne (von 770 Einberufenen hatten sich nur drei nicht gemeldet), wurden sie von Oberstleutnant Schwarz und dem Kreisleiter Anton Dorfmeister verabschiedet. An den genannten Tagen reagierten über 1.600 Rekruten aus der Untersteiermark auf ihre Einberufung in die Wehrmacht. Die Zahl der Einberufenen nach Kreisen: MarburgStadt 210, Marburg-Land 588, Cillier Kreis 572, Pettauer Kreis 493, Luttenberger Kreis 141, Kreis Trifail 226 und Rann 64. Bis Ende Juli 1942 verließen 2.294 Männer die Untersteiermark, das waren 86 Prozent aller Wehrpf lichtigen des Jahrgangs 1923, um an Übungen ­m ilitärischer Einheiten in Tirol, Salzburg, Kärnten und der Obersteiermark teilzunehmen. Bei der Einberufung erhielt jeder Mobilisierte eine deutsche Fibel und eine militärische Zeitung. Bis zum Ende des Jahres 1942 wurden noch die Jahrgänge 1918–1922 und 1925 zur Musterung geladen. Im Jahr 1943 wurden die Jahrgänge 1914–1917 und die Jahrgänge 1926 und 1927, im Jahr 1944 die Jahrgänge 1908–1913 erfasst. In der ersten Aprilhälfte 1945 kam noch der Jahrgang 1929 hinzu. Um ihre Familien nicht zu gefährden, folgte die Mehrheit der Burschen im Jahr 1942 und bis zum Herbst 1943 dem Einberufungsbefehl. Obwohl die deutsche Mobilisierung ab Herbst 1943 in der Untersteiermark nicht mehr so erfolgreich war wie im Jahr 1942, gelang es der Wehrmacht, an die 28.000 Mann einzuziehen. 46 Wie die Burschen vom Land, die an ihrer Heimat hingen, die Mobilisierung, die militärischen Übungen und die Kämpfe an der Front erlebten, zeigen die Aufzeichnungen aus dem Tagebuch von Jakob Tetičkovič aus Gruškovec

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

in Haloze, der am 15. Oktober 1942 eingezogen wurde. Er diente zunächst in Kufstein in Tirol und wurde im Dezember 1942 nach Wörgl versetzt und von hier aus im März 1943 zur Infanterie nach Frankfurt. Anfang Mai wurde er dem Marschbataillon in Hanau zugeteilt, von wo man ihn an die Ostfront in den Kaukasus auf den Kuban-Brückenkopf schickte. Am 28. Mai 1943 schrieb er in seinem Tagebuch: Heute bin ich in einem Tal des Kaukasus […] das Donnern der Kanonen von vorne wird immer lauter, Flugzeuge mit todbringender Last schwirren herum […] Es wird die Aufteilung in Bataillone vorgenommen. Alle anderen wurden aufgeteilt, nur für uns Slowenen, die wir nicht deutsch verstehen, gibt es keinen Platz. Nach einigen Beratungen teilen sie uns einer Kompanie zu, die im Hintergrund für die Front noch ausgebildet wird. Am 3. Juni 1943 schrieb er: Die Slowenen wurden der achten Kompanie zugeteilt, den Maschinengewehren und den Granatwerfern. Am 14. Juni: Heute ist Pfingstmontag und mein 21. Geburtstag. Ein trauriger Tag. Wir üben den ganzen Tag. Am Abend bereiten wir uns darauf vor, in die erste Reihe einzutreten. Mit meiner Volljährigkeit bin ich reif für den Tod.47 Die Volksbefreiungsbewegung in der Untersteiermark, die im Jahr 1943 stärker wurde, ermöglichte den Burschen, die aus der Wehrmacht auf Heimaturlaub kamen, wie auch den Wehrpf lichtigen in den letzten zwei Kriegsjahren den Übertritt zu den Partisanen. Außerdem f lüchteten immer mehr Burschen von der Front. An der Ostfront f lüchteten sie zur Roten Armee oder schlossen sich den sowjetischen Partisanen an, später jedoch den Einheiten der Volksbefreiungsarmee Jugoslawiens, die in der Sowjetunion gegründet wurden. Mit ihnen kooperierten sie bei den Abschlussoperationen am jugoslawischen Kriegsschauplatz. Im Westen f lüchteten die slowenischen Soldaten, die in der Wehrmacht dienten, erst nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944. Die Mehrheit schloss sich im Jahr 1945 den Überseebrigaden an und beteiligte sich an den Operationen gegen

669

die Besatzungsmacht. Ein erfolgloser Fluchtversuch endete für die Mobilisierten mit dem Tod. Ein Kriegsgericht verurteilte die Deserteure in einem Schnellverfahren zum Tod durch Erschießen oder Enthaupten. Im Jahr 1944 begann die Wehrmacht mit der Verfolgung der Verwandten der Deserteure. Arbeitsfähige Männer und Frauen wurden in das Strafsonderdienstpf lichtlager in Sterntal/Strnišče bei Pettau geschickt. Minderjährige Kinder und Mütter von Kleinkindern kamen zur Umerziehung in die Jugendlager Wetzelsdorf bei Graz und Kobenz bei Knittelfeld. Nach den erhalten gebliebenen Bescheiden, ausgestellt bis 20. Februar 1945 von der Bundesführung des Steirischen Heimatdienstes, wurden aus dem Bereich Pettau 198 Personen nach Sterntal, 66 Personen nach Wetzelsdorf bei Graz und 46 Personen nach Kobenz bei Knittelfeld gebracht.48 Nach Angaben der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes in Marburg, das ein Verzeichnis der an der Front Gefallenen führte, fielen bis Mai 1944 aus der Untersteiermark 1.448 Angehörige der Wehrmacht und SS-Einheiten. Die meisten Gefallenen gab es aus dem Kreis Marburg-Land (397) und dem Cillier Kreis (363), die auch nach der Einwohnerzahl die größten waren. Danach kam der Kreis Marburg-Stadt (259), Pettau (211), Trifail (89) und Rann (67). Die geringste Zahl von Gefallenen (62) betraf den Luttenberger Kreis. Bis heute gibt es noch keine genaue Zahl der während des Zweiten Weltkrieges als Angehörige der Wehrmacht gefallenen Slowenen aus der Untersteiermark. Es wird geschätzt, dass während des Zweiten Weltkrieges auf den deutschen Kriegsschauplätzen in Europa und in Afrika etwa 7.000 Soldaten aus der Untersteiermark gefallen sind. Neben dem Wehrdienst mussten die Staatsbürger auch den Reichsarbeitsdienst leisten. Alle männlichen Mitglieder des Steirischen Heimatbundes zwischen dem 18. und 45. Lebensjahr wurden dienstpf lichtig in der Wehr-

670

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

mannschaft. In deren Rahmen übten sich die Männer in Kampfdisziplinen und im Geist des Nationalsozialismus. Ab Herbst 1941 begann sie die Besatzungsmacht als Instrument im Kampf gegen die Partisanen einzusetzen. Im Jahr 1941 wurden in der Untersteiermark zehn Standarten und 291 Sturmgruppen gegründet. Im März 1942 war es noch eine eigene motorisierte Standarte mit 19 Sturmgruppen. Jeder Kreis hatte ein bis zwei Standarten: Marburg-Stadt, Marburg-Land, Windischgraz, Luttenberg, Pettau Nord, Pettau Süd, Cilli Ost, Cilli West, Rann und Trifail. Der Führer der Wehrmannschaft in der Untersteiermark war der SA-Mann Franz Blasch, die motorisierte Standarte führte Hans Müller. In den Kämpfen mit steirischen Partisanen fielen in den Jahren zwischen 1941 und 1944 239 Wehrmänner. Die meisten Gefallenen gab es im Cillier Kreis, nämlich 46,1 Prozent, aus dem Kreis Marburg-Stadt 19,2 Prozent, aus dem Kreis Rann 10,3 Prozent, aus dem Pettauer Kreis 9 Prozent, aus dem Kreis MarburgLand 7,7 Prozent, aus dem Luttenberger Kreis 4,5 Prozent und aus dem Kreis Trifail 3,2 Prozent. Nach der Ausweitung des Volksbefreiungskampfes im Herbst 1942 organisierte die Besatzungsmacht die sogenannte Landwacht. Zu ihr wurden Männer der entsprechenden Jahrgänge zwangseingezogen, die in der Nacht patrouillieren und deutsche Einrichtungen schützen mussten. Tagsüber mussten sie ihre beruf liche Arbeit verrichten.49 Für Schutzangehörige, die wegen rassischer, politischer und asozialer Ursachen nicht in den Steirischen Heimatbund aufgenommen wurden, galt eine einjährige Arbeitspf licht. Im Jahr 1942 war diese bei Bauern in der Obersteiermark abzuleisten, ab März 1943 jedoch auf der Baustelle der Aluminiumfabrik in Sterntal, die im Mai 1942 von den Vereinigten Aluminiumwerken aus Berlin unter der Führung des Prokuristen Otto Freyberg errichtet wurde.

Neben den Fremdarbeitern, Kriegsgefangenen und Häftlingen aus der Oststeiermark, die die sogenannte Arbeitspf licht verletzt hatten, arbeiteten auf der Baustelle auch die sogenannten „Schutzangehörigen“. Für sie wurde im Westteil der Baustelle der Fabrik ein Lager eingerichtet. Die ersten Schutzangehörigen kamen Anfang März 1943 nach Sterntal. Die Lageraufsicht hatte der Pettauer Kreis, die Lagerleitung oblag von 1. Februar 1943 bis zu Kriegsende SA-Hauptsturmführer Fritz Munkelt. Das Lager, das drei Baracken und einen Wachturm hatte, war mit einem Stacheldrahtzaun umzäunt. Die Schutzangehörigen wurden mit dem Ausheben von Kanalgräben, mit Betonarbeiten im Straßenbau sowie mit Feldarbeiten am Gutshof des Schlosses beschäftigt. Für die Schwerarbeit erhielten sie täglich 50 Pfennig, ausbezahlt am Ende der Woche. Vom Frühling 1943 bis zum 27. März 1945, als das Lager aufgelassen wurde, absolvierten hier rund 1.400 Männer und rund 500 Frauen die Arbeitspf licht.50 Die Germanisierung slowenischer Kinder in Kindergärten und Schulen Die Hauptaufgabe der Schulen war, das Land deutsch zu machen.51 Zu Beginn der Besatzung im April 1941 beherrschten vorwiegend ältere Menschen – Soldatenveteranen –, die noch in der österreichischen Monarchie gedient hatten, mangelhaft deutsch. Die Jugend konnte beinahe ohne Ausnahme nicht Deutsch. Nach Angaben des Amtes für Schulwesen in der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes, die in der Publikation „Der Auf bau des Schulwesens in der Untersteiermark“ veröffentlicht wurden, beherrschten im Juni 1941 von 7.200 schulpf lichtigen Kindern nur 432 Schüler oder 0,6 Prozent Deutsch. Dies bestätigte auch der Regierungsvorsitzende Dr. Otto Müller-Haccius in seinem Artikel „Zwei Jahre deutsche Verwaltung“, der in der Marburger Zeitung am 12. April 1943

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

veröffentlicht wurde. Dort heißt es, dass im April 1941 nicht einmal ein Prozent der schulpflichtigen Kinder in der Untersteiermark Deutsch beherrscht hat. Der Bundesführer des Steirischen Heimatbundes, Franz Steindl, hat Mitte November 1941 im Hinblick auf die Sprachenfrage unter anderem gemeint, dass von rund 550.000 Bewohnern der Untersteiermark nur rund 50.000 Personen Deutsch in Wort und Schrift beherrschten, 10.000 teilweise und die übrigen 490.000 Menschen sprachen nur Slowenisch.52 Die Eindeutschung der slowenischen Bevölkerung in der Untersteiermark begann in den Kindergärten und Schulen und setzte sich in den Sprachkursen für Erwachsene in den Ortsgruppen des Steirischen Heimatbundes, in den Sturmwehrmannschaften und in den Einheiten der Deutschen Jugend fort. Die Besatzungsmacht erhoffte sich am meisten von den Kindergärten und Schulen, den Hauptstützpunkten und wichtigsten Festungen für die Umerziehung der slowenischen Kinder und der Jugend im nationalsozialistischen Geist sowie der Bürgschaft für die Verwirklichung des Sprachenplans. Damit beginnt und endet der Prozess der Regermanisierung – der sprachlichen Eroberung der Untersteiermark, wie Müller-Haccius im erwähnten Artikel schrieb. Bis zum Ende des Jahres 1942 gelang es der Besatzungsmacht, 96 ständige und 34 Hilfskindergärten zu gründen. Während der bäuerlichen Erntezeit wurden 56 sogenannte „Erntekindergärten“ organisiert. Die erwähnten Einrichtungen nahmen 7.762 Kinder zwischen dem zweiten und sechsten Lebensjahr auf. Dafür standen 421 Kindergärtnerinnen zur Verfügung.53 Bis zum Sommer 1942 wurden allein im Cillier Kreis 44 Kindergärten gegründet, in die 2.560 Kinder aufgenommen wurden. Zu Beginn des Jahres 1943 gab es schon 56 Kindergruppen mit 1.117 Kindern, die von 25 Kindergärtnerinnen und 30 Helferinnen betreut wurden. Im Jahr 1943 wurden in der Untersteiermark 110 Ganztageskindergärten gegründet, die 5.330 Kinder aufnehmen konnten. In ihnen ar-

671

beiteten 424 Kindermädchen und Helferinnen. Darüber hinaus gab es noch 69 Saisonerntekindergärten, die 1.836 Kinder aufnehmen konnten, sowie drei Spielgruppen und drei Horte. Nach Angaben des Amtes für Volkswohlfahrt wurden in diesem Jahr 217 Kindereinrichtungen gegründet. In ihnen waren 8.449 Kinder untergebracht, für die 524 Kindergärtnerinnen und Helferinnen sorgten.54 Die Schulen in der Untersteiermark hatten wegen der Kriegsgefahr mit 1. April 1941 unterrichtsfrei. Die Banovina-Verwaltung in Laibach/Ljubljana ordnete mit 9. April an, dass den Schülern wegen der außerordentlichen Verhältnisse die Zeugnisse mit 1. April 1941 auszuhändigen seien. Sofort nach der Besetzung der Untersteiermark schaffte die Besatzungsmacht alle slowenischen Volks-, Mittel- und Fach-

Plakat zu den „Kulturtagen der Deutschen Jugend“ in StLA Marburg, 3.–6. Juni 1943

672

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

schulen ab und entließ die Lehrer und Professoren aus dem Schuldienst. Ausschließlich deutsche Schuleinrichtungen wurden erst nach der Ankunft einer genügenden Anzahl von Lehrern aus Österreich und Deutschland eröffnet. Das Schulwesen wurde aufgrund von vier Grundprinzipien gestaltet, die von der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes im Frühling des Jahres 1941 verabschiedet wurden. Im ganzen Land wurden nur deutsche Schulen gegründet, in denen der Unterricht ausschließlich in deutscher Sprache erfolgte. Es gab keinen zweisprachigen Unterricht und auch keine Minderheitenschulen. Schulen und die Organisation der Deutschen Jugend waren mit-einander verbunden und beruhten auf gemeinsamen Grundlagen. Die Schule wurde zum Mittelpunkt des Eindeutschungsprozesses. Die Zahl der Volksschulen im Gebiet der besetzten Untersteiermark blieb etwa gleich wie im alten Jugoslawien. Nach Angaben der Publikation „Der Auf bau des Schulwesens in der Untersteiermark“55 gab es am 1. Oktober 1941 in der Besatzungseinheit Untersteiermark 367 Volksschulen und 23 Bürgerschulen, in denen 903 Lehrkräfte unterrichteten. Neben den Volksschulen eröffnete die Besatzungsmacht in Marburg noch zwei Hilfsschulen mit 228 Schülern. Im Schuljahr 1941/42 wurden noch 58 unterschiedliche Mittel- und Fachschulen gegründet. Nach Angaben im Völkischen Beobachter gab es im Jahr 1943 in der Untersteiermark 360 Volksschulen, die von 85.519 Schülern und Schülerinnen besucht wurden, 26 Bürgerschulen und zwei Hilfsschulen. An den erwähnten Schulen unterrichteten 1.073 Lehrkräfte. Der Inhalt des Unterrichts war der nationalsozialistischen Erziehung und der Eindeutschung angepasst. Die meiste Zeit wurde der Geschichte der nationalsozialistischen Bewegung, dem Lebenslauf von Adolf Hitler, den militärischen Kampftugenden, dem Singen von nationalsozialistischen Liedern und dem Deutschunter-

richt gewidmet. Slowenisch war den Schülern an den Schulen streng untersagt. Des Deutschen unkundige Kinder wurden im Unterricht häufig mit Vokabeln wie „ein schmutziges serbisches Kind, windischer Hund, Trottel, Bandit“ usw. beschimpft. Der Schulverwalter in Wurmberg, Helmut Brantner, „machte die slowenische Sprache bei jeder Gelegenheit verächtlich, nannte sie die Sprache der Knechte und versuchte die Kinder davon zu überzeugen, dass sie nicht Slowenen, sondern Steirer sind und dass ihre Eltern und Großeltern deutscher Herkunft seien“.56 Sprachkurse für Erwachsene Ziel der Sprachpolitik der Besatzungsmacht war „dass die slowenische Sprache ganz ausgeschaltet wird. Im öffentlichen Leben darf nur die deutsche Sprache gebraucht werden […]. Die slowenische Sprache als eine Art Haussprache gelten zu lassen, muss abgelehnt werden“.57 So waren auch die Sprachkurse zur Eindeutschung der Erwachsenen bestimmt. In ihnen sollten die Menschen in einigen Jahren einen Wortschatz von 5.000 Wörtern erwerben. Alle Untersteirer sollten in drei oder vier Jahren Deutsch lernen, und ab Frühjahr 1945 sollte in der Untersteiermark nur noch Deutsch gesprochen werden. Aus den Ämtern und dem öffentlichen Leben sollte das Slowenische schon vorher verschwunden sein. Die slowenische Sprache wurde auch für kirchliche Zwecke verboten. Schon am 6. Mai 1941 erließ der Chef der Zivilverwaltung die streng geheime Anweisung für Glaubensangelegenheiten, mit denen Straßenprozessionen, religiöse Vereine, öffentliche Versammlungen, das Aushängen von Kirchenfahnen usw. verboten wurden. Im Sommer 1941 wurden ohne öffentliche Ankündigung slowenische Predigten, Gebete und Gesang bei der Messe verboten. Am 14. April 1942 wurde per Verordnung bei der Messe nur der Gebrauch der

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

673

Zweisprachiger Aufruf zur Teilnahme an Deutschkursen des Steirischen Heimatbundes, 1942 StLA

lateinischen und der deutschen Sprache erlaubt. Ausgenommen war nur die Beichte, die von den Gläubigen vorübergehend auch in anderen Sprachen abgelegt werden durfte.58 Die Vorbereitung und Durchführung von Sprachkursen für Erwachsene leitete das Amt für Volksbildung in der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes. Die Leitung der Sprachkurse, die sechs Wochen dauerten, für die untersteirische Bevölkerung so gut wie verpf lichtend waren und für die jeder Teilnehmer 2,50 RM bezahlen musste, wurde von deutschen Lehrern aus dem Reichsgau Steiermark übernommen. Bei dieser Arbeit waren ihnen die einheimischen, sogenannten Laienlehrer, die Deutsch sprachen, eine große Hilfe. Im Rahmen der Ortsgruppen des Steirischen Heimatbundes wurden für Erwachsene Sprachkurse an Winterabenden organisiert. Deutschkurse gab es weiters im Rahmen der Sturm-Wehrmannschaft, der Deutschen Jugend, in Betrieben und Unternehmen. Die große Sprachoffensive in den Jahren 1941 und 1943 war von einer starken Propagandatätigkeit des

Steirischen Heimatbundes begleitet. Mit Propagandasprüchen wie Untersteirer! Willst Du vollwertiger Deutscher werden, dann lerne Deutsch!, Nur wer die deutsche Sprache beherrscht, kann als vollwertiger deutscher Staatsangehöriger betrachtet werden, Deutsch ist die Sprache deiner Volksgemeinschaft und deiner Heimat und Ohne Kenntnis der deutschen Sprache ist in Zukunft ein Vorwärtskommen unmöglich! wurde betont, dass die Untersteiermark für immer dem Deutschen Reich angehören und man in Zukunft im Land nur noch Deutsch sprechen werde.59 Im ersten Kriegsjahr wurden in der großen Sprachaktion in den Wintermonaten von November 1941 bis März 1942 3.030 Sprachkurse organisiert. In ihnen lernten 123.058 Teilnehmer Deutsch. Davon wurden in den Städten und in den Dörfern am Land, im Rahmen der Ortsgruppen des Steirischen Heimatbundes, 1.807 Sprachkurse mit 74.617 Teilnehmern durchgeführt. In den Unternehmen waren es 253 Kurse mit 9.607 Kursteilnehmern, in den Einheiten der Wehrmannschaft 516 mit 20.623 Teilnehmern, unter der Deutschen Jugend 454 Kurse mit 18.211 Kursteilnehmern.60

674

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

Hinsichtlich Organisation und Erfolg der Sprachkurse trat der Cillier Kreis hervor. Schon Ende Juli 1941 gab es dort 282 Kurse mit 11.367 Kursteilnehmern. Anfang November 1941 stieg die Zahl der Kurse auf 409 mit 16.897 Kursteilnehmern, um im Frühling 1942 schon die Zahl 985 mit 40.900 Teilnehmern zu erreichen. Damit die untersteirische Bevölkerung so schnell wie möglich Deutsch lernte, wurden im September 1942 für die Ortsgruppen des Steirischen Heimatbundes, die Einheiten der Wehrmannschaft und die Deutsche Jugend Wettkämpfe unter dem Titel „Lerne deutsch – sprich deutsch!“ ausgeschrieben.61 In die Deutschkurse für Erwachsene schaltete sich im Herbst 1942 auch die Zeitung „Štajerski gospodar“ mit der Sonderbeilage „Unsere wöchentliche Sprachecke“ ein, die im Jahr 1943 von der von F. J. Lukas gestalteten Beilage „Deutsch für Erwachsene methodisch und praktisch“ abgelöst wurde.62 Trotz dieser Bemühungen brachte das Deutschlernen bei der Bevölkerung keine größeren Erfolge. Nach der Volkszählung im November 1942 konnten 114.917 Einwohner der Untersteiermark (20,6 %) Deutsch schreiben und sprechen. Nur 64.257 Einwohner (12,1 %) verwendeten jedoch das Deutsche im Alltagsleben. Davon lebten zwei Drittel in Marburg, wo die Besatzungsmacht in den ersten Monaten der Okkupation einige Tausend Slowenen vertrieben und hunderte deutsche Beamte angesiedelt hatte und im Abstaller Feld/Apaško polje, wo es schon vor dem Krieg Deutsche gab. Deutsch sprachen, ohne es zu schreiben, 99.992 Menschen (18,8  %), mangelhaft beherrschten 168.452 Menschen (31,7 %) Deutsch, während 148.294 Personen (27,9 %) überhaupt nicht Deutsch sprachen; davon gab es im Cillier Kreis die meisten.63 Im Jahr 1943 begann das Interesse am Deutschlernen unter der Bevölkerung zu sinken, obwohl bis Mitte April 1943 in der Untersteiermark schon 5.171 Sprachkurse mit rund

215.000 Beteiligten durchgeführt worden waren. Dr. Müller-Haccius berichtete darüber in der Stabsbesprechung am 17. Mai 1943, als er sagte: Im Gebrauch der deutschen Sprache ist in mancher Beziehung kein weiterer Fortschritt zu verzeichnen. Es ist hierin auch ein gewisser Stimmungsbarometer zu erblicken. An der grundsätzlichen Linie, dass in Ämtern und Dienststellen nur deutsch zu sprechen ist [, ist festzuhalten; Anm. d. Ü.] […] Im übrigen ist es im Augenblick von grösserer Bedeutung, dass die Leute ihrer Arbeit nachgehen und sich richtig verhalten. Mitte Juni 1943 klagte man bei der Stabsbesprechung, dass die Sprachentwicklung zum Stillstand gekommen ist und stellte fest: Die Gemeindeangestellten sprechen im Amt und zuhause viel mehr slowenisch als vor einem Jahr.64 Aus allen Orten der Untersteiermark wurde über den schlechten Besuch der Sprachkurse berichtet. Der Lehrer Ludwig Kerwer aus Schiltern berichtete im Juni 1943: Die Leute zeigten einfach kein Interesse. Warum sollen wir noch Deutsch lernen? Wer weiß, ob wir jemals diese Sprache in Zukunft benötigen, da die militärische Lage ja gar nicht so aussieht, dass die Untersteiermark auch deutsch bleibt. Er schloss seinen Bericht mit den Worten: Der Besuch der Sprachkurse ist ein treues Abbild des konkreten politischen Denkens. Ab Herbst 1943 fiel die Zahl der Sprachkurse in der Untersteiermark schrittweise immer stärker ab, im Herbst 1944 wurden sie schließlich endgültig eingestellt. Es herrschte die Meinung, dass es nicht mehr wichtig sei, ob die Arbeiter und Bauern Deutsch sprachen. Wichtig sei nur noch, dass sie für das Deutsche Reich arbeiteten. In der Absicht, die Bevölkerung so schnell wie möglich zu germanisieren, gründete die Bundesführung des Steirischen Heimatbundes während des Krieges die sogenannten deutschen Volksbibliotheken, die mehrere Hundert Bücher mit politischer Propaganda auf Lager hatten. Im Cillier Kreis wurden bis Ende August 1942 52 solche Bibliotheken gegründet, im Pettauer Kreis 43. Die Gemeinden waren verantwortlich für den

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

Ankauf von neuen Büchern und für die Erhaltung der Büchereien. Im Pettauer Kreis mussten

675

für ihre Benützung pro Einwohner jährlich 0,20 RM bezahlt werden. 65

Die Kirche in der Untersteiermark während des Zweiten Weltkrieges Die Besetzung des Königreiches Jugoslawien im Jahr 1941 und damit Sloweniens (der Drau-Banovina) sowie die Aufteilung Sloweniens auf die drei Besatzungsmächte Deutschland, Italien und Ungarn hatte auch im kirchlichen Bereich tiefgreifende Folgen. Die Diözese Laibach kam unter italienische und deutsche Verwaltung, aber der Bischof hatte zum deutschen Bereich keinen Zutritt. Große Veränderungen erlebte die Diözese Lavant, in der die Besatzungsmacht eine konsequente antislowenische Politik betrieb, der neben der slowenischen Intelligenz vor allem die slowenischen Geistlichen zum Opfer fielen. Diese Kirchenpolitik war mit dem bis dahin herrschenden religiösen Leben unvereinbar (Abschaffung der Feiertage, Enteignung des Kirchenvermögens und zwischen dem 1. Mai und dem 15. Oktober durfte es in den Kirchen keinen Gottesdienst zwischen 7.00 und 19.00 Uhr geben, an den abgeschafften kirchlichen Feiertagen waren Gottesdienste verboten). Als schwerster Schlag galten die Vertreibung der slowenischen Geistlichen und das Verbot der slowenischen Sprache im Gottesdienst. Die slowenische Geistlichkeit erwartete angstvoll den drohenden Angriff Deutschlands. Diese Angst war begründet durch die Publikationen von Dr. Helmut Carstanjen66, in denen der Kirche eine führende Rolle im Kampf gegen das Deutschtum zugeschrieben wurde,67 obwohl die deutsche Sprache nach dem Ersten Weltkrieg aus der Kirche in der Untersteiermark nicht vertrieben worden war. Es wurde bei Gottesdiensten in den Kirchen in Marburg, Cilli, Pettau, Friedau und Mahrenberg verwendet.

Die slowenische Priesterschaft wurde als Hauptfeind der Deutschen bezeichnet, weil „unter der Gesamtintelligenz der Nationalslowenen zwangsläufig die treueste Garde Koroschetz’s im Kampfe gegen das Deutschthum“ war.68 Auf die Angst vor dem Beginn des Krieges weist schon die Tatsache hin, dass der Bischof von Marburg am Tag des Angriffes auf Jugoslawien, also am Palmsonntag, dem 6. April 1941, in den frühen Morgenstunden zehn Diakone weihte. Bis Juni 1942 weihte er noch weitere vier, bis zum Ende des Krieges nur noch einen Diakon. Bereits das erste Opfer am Tag des Einmarsches der Wehrmacht, am 6. April, als Soldaten den Pfarrer Martin Gaberc in Oberradkersburg erschossen, bedeutete einen schweren Schlag.69 Schon in der ersten Woche wurden Geistliche Opfer der nationalsozialistischen Gewalt. Dabei spielte jedoch nicht die Besatzungsmacht die Hauptrolle, sondern einige Mitglieder des Kulturbunds, die schon in der Karwoche, in der Interimszeit, in Marburg drei angesehene Geistliche verhaftet hatten ( Januš Golec, Franc Hrastelj, M. Munda). Die Verzeichnisse für die Verhaftungen hatte man schon mitgebracht.70 Sofort nach der Errichtung der neuen Zivilverwaltung begannen Massenverhaftungen der slowenischen Intelligenz, vor allem unter den Geistlichen. Da die Gefängnisse zu klein waren, wurden mehrere Lager eingerichtet (in Marburg, St. Martin bei Windischgraz, auf Schloss Ankenstein, in Cilli und Reichenburg). Heinrich Himmler persönlich verhaftete die Pfarrer Alojz Sunčić

676

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

aus Frankolovo und Anton Lasbacher aus Hochenegg anlässlich seines geheimen Besuches im April 1941. Die Geistlichen wurden in den Gefängnissen besonders erniedrigt, verhöhnt und gequält. In Marburg wurden die Domkapitulare wie Vieh in Wägen eingespannt und mussten für die Gefangenen Essen durch die Straßen der Stadt transportieren.71 In Marburg ließ die Besatzungsmacht durch die Geistlichen selbst die orthodoxe Kirche niederreißen. Die Priester durften in den Gefängnissen auch keine Messen lesen oder andere religiöse Handlungen setzen. Nach Himmlers Prinzipien für die Vertreibung kam die Geistlichkeit in die Gruppe A. Es waren „wilde“ Vertreibungen. Geistliche aus den Grenzorten zu Kroatien wurden mittellos über die Grenze geschickt (von 19. April bis 20. Mai waren es 46 Weltgeistliche und 33 Ordensgeistliche sowie vier Ordensbrüder). Sie mussten sich dort eine Arbeit suchen. Erst am 4. Juni kam es zu Gesprächen mit den kroatischen Behörden, bei denen entschieden wurde, wie die Umsiedlung der Slowenen nach Kroatien stattfinden sollte. Die Besatzungsmacht sah die Umsiedlung von 300 Geistlichen vor. Die tatsächliche Zahl war jedoch höher. In Kroatien allein gab es 1941 366 vertriebene slowenische Geistliche. Etliche entzogen sich der Gewalt und gingen in andere Diözesen, nach Laibach oder ins Übermurgebiet, sodass von den 608 Geistlichen in der Diözese Lavant zum 6. April 1941 Ende des Jahres nur noch 121 dort lebten. Es gab nur 87 aktive Geistliche, sodass viele Pfarren nicht besetzt waren.72 Am 11. Juli wurden 108 Geistliche der Diözese Laibach aus Oberkrain, ebenfalls deutsche Besatzungszone, nach Kroatien vertrieben. Alle Bemühungen des Lavanter Bischofs um eine Freilassung der verhafteten Priester blieben bei den Besatzungsbehörden erfolglos. Ebenso erfolglos war die Intervention für die slowenischen Priester durch den Seckauer Bischof Ferdinand Pawlikowski bei Uiberreither.73 Bischof

Ivan Jožef Tomažič sah sich deshalb gezwungen, andere Lösungen zu suchen. Die deutsche Besatzungsmacht erwartete vom Bischof, dass er die Pfarren mit deutschen Priestern besetzte. Sowohl Franz Steindl als auch Uiberreither sprachen schon im Juni 1941 den Bischof darauf an, deutsche Priester zu rufen, die mit den Gläubigen nicht Slowenisch sprechen dürften. Uiberreither riet ihm dazu, beim Bischof von Graz-Seckau um einige hundert Priester anzusuchen. Als der Bischof im Juni die Hoffnung aufgab, dass die slowenischen Geistlichen zurückkehrten, trat er mit dem Grazer Bischof in Kontakt. Von Grazer Seite sprachen Dr. Steiner und Generalvikar Siener mit Tomažič. Das Grazer Ordinariat bot zwölf Priester an. Bischof Tomažič notierte in seinen Aufzeichnungen, dass die Gestapo drei vorgeschlagene Priester abgelehnt habe. Sämtliche dieser Priester mussten sich beim Referenten für religiöse Angelegenheiten der Zivilverwaltung, Dr. Hillinger, und beim Heimatbundführer Steindl melden. Dem Geistlichen Josef Kurzmann trugen beide auf, dass er sich nur des Deutschen zu bedienen habe. Wir haben Sie gerufen, damit Sie uns dabei helfen, die Untersteiermark deutsch zu machen. Wenn Sie nicht mitarbeiten, werden auch Sie gehen müssen. Auch im Aufruf an die Grazer Geistlichkeit für die Arbeit in der Diözese Lavant wurde die Kenntnis des Slowenischen als nicht notwendig deklariert. Mit 25. März gab es in der Diözese Lavant 13 ständige Geistliche und 40 Grenzseelsorger, die nur alle zwei Wochen in die Lavanter Pfarren kamen. Es gibt leider noch keine Einzeluntersuchungen zur Tätigkeit dieser Geistlichen, vorherrschend ist jedoch die Meinung, dass sie die Erwartungen der nationalsozialistischen Behörden nicht erfüllten.74 Einige kamen auch nach dem Krieg noch in die slowenischen Pfarren zurück. Die slowenischen Geistlichen der Diözese Lavant, die bleiben durften, wurden nicht in den Heimatbund aufgenommen, nicht einmal

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

Bischof Tomažič. Nach der Verordnung des Ministerrats für Reichsverteidigung vom 14. Oktober 1941, durch welche die ständigen Mitglieder des Heimatbundes die dauernde Staatsbürgerschaft erhielten, die vorübergehenden Mitglieder jedoch die Staatsbürgerschaft auf Widerruf, fielen die Geistlichen mit dem Bischof in die dritte Kategorie der „Schutzangehörigen“, was eine vollkommen untergeordnete Stellung und Unsicherheit in Bezug darauf bedeutete, wo man enden würde. Für die kirchlichen Angelegenheiten war der Chef der Zivilverwaltung aufgrund einer Ermächtigung Hitlers zuständig. Am 15. Mai erschien die Feiertagsvorschrift, die zahlreiche bisherige Feiertage abschaffte, wie Dreikönig, Christi Himmelfahrt, Peter und Paul und Fronleichnam, die auf den Sonntag danach verlegt wurden. Die Zivilverwaltung griff auch in Eheschließungsangelegenheiten ein, die bis dahin im Zuständigkeitsbereich der Kirche lagen. Für Mitglieder des Heimatbundes musste der Bürgermeister sein Einverständnis geben. Wenn einer der beiden Hochzeitsleute oder beide Nichtmitglieder waren, war das Einverständnis des Chefs der Zivilverwaltung notwendig. Am 18. Juni 1941 wurde eine Verordnung verabschiedet, die den Austritt aus einer Glaubensgemeinschaft erleichterte. Für die Slowenen in der Untersteiermark bedeutete dies einen möglichen Austritt aus der katholischen Kirche. Die Verordnung zur Wahrung der Bekenntnisfreiheit vom selben Tag untersagte die Veröffentlichung der Namen von aus der Kirche ausgetretenen Personen oder solcher Personen, die sich nicht am kirchlichen Leben beteiligten. Mit der Verordnung über die Einhebung von Beiträgen für Glaubensgemeinschaften in der Untersteiermark am 26. Juli 1941 erhielt die Besatzungsmacht auch eine vollständige Übersicht über das kirchliche Einkommen. Auf diese Weise wurde jede Selbstständigkeit in kirchlichen Angelegenheiten verhindert.

677

Mit der Verordnung über die Einführung von staatlichen Standesämtern und Ziviltrauungen vom 30. September 1941 verloren die kirchlichen Standesbücher und Trauungen ihre offizielle Geltung. Die Besatzungsmacht zog sämtliche Standesbücher über mindestens hundert Jahre ein. Die Verordnung war bis zum 1. April 1942 in Kraft, als die Nürnberger Gesetze eingeführt wurden. Verbot des Gebrauchs der slowenischen Sprache in der Kirche Die deutschen Besatzungsbehörden strebten von allem Anfang an danach, den Gebrauch des Slowenischen in der Kirche abzuschaffen. Zu Beginn wurde jedoch versucht, dies indirekt zu erreichen, über den Bischof, der den Gebrauch des Slowenischen verbieten sollte. Bischof Tomažič war jedoch nicht bereit, das zu tun. Die Überredungsversuche dauerten bis zum Dezember 1941. Während dieser Zeit verdrängten die deutschen Behörden mit Hilfe der Ortsgruppen des Heimatbundes das Slowenische aus den Kirchen. So wurde auf einen Befehl des Ortsgruppenführers in Tüffer der dortige Pfarrer gezwungen, bei Gottesdiensten neben dem Lateinischen nur noch das Deutsche zu verwenden. Wir verfügen jedoch über kein detailliertes Verzeichnis der Verwendung des Deutschen für kirchliche Zwecke. Meist war es so, dass in jenen Pfarren, in denen es den Heimatbund gab, in den Kirchen das Deutsche eingeführt wurde. Wo aber gegen das Slowenische niemand Einspruch erhob, wie in den slowenischen Landpfarren, blieb das Slowenische. Bischof Tomažič vertrat den Standpunkt, dass das Vorherige beibehalten werden sollte, solange niemand dagegen etwas einwendete. Die neuen Wünsche und Befehle seien dort zu berücksichtigen, wo Widerstand böse Folgen hätte.75 Die slowenische Sprache in der Kirche wurde vom Chef der Zivilverwaltung am

678

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

14.  Juni 1942 verboten.76 Der Wortlaut legte fest, dass bei kirchlichen Besorgungen außer dem Lateinischen ausschließlich das Deutsche zu verwenden sei. Nur bei der Beichte durften auch andere Sprachen verwendet werden. Für Verstöße waren Geld- oder Freiheitsstrafen in unbeschränkter Höhe vorgesehen. Im Jahr 1942 gab der Bischof der Forderung Uiberreithers nach, die bischöf lichen Mitteilungen, die bis dahin in lateinischer Sprache abgefasst wurden, in Deutsch herauszubringen, und zwar unter dem Titel „Ordinariats-Mitteilungen an die Geistlichkeit“. Während des Krieges starben 27 Geistliche der Diözese Lavant eines gewaltsamen Todes. Einige wurden als Geiseln erschossen, andere vor Ort, ein Geistlicher in Cilli starb an den Folgen der Folter. Es gab auch in den Lagern slowenische Geistliche; so starben in Dachau vier von ihnen, während 13 Geistliche dieses Lager überlebten. In Kroatien waren die slowenischen Geistlichen ebenfalls nicht sicher. Im Lager Jasenovac wurden während des Krieges sieben slowenische Geistliche aus der Diözese Lavant ermordet.77 Aufgrund eines Bescheides des bevollmächtigten Reichskommissars zur Festigung des Deutschtums, Außenstelle Marburg, vom 20. Juni 194178 wurde das Vermögen der Kirche konfisziert. Es blieben ihr nur die Kirchen, und auch hier nicht alle. Zahlreiche Kirchen in den Städten wurden in Lager umfunktioniert.79 Die Pfarrhöfe und Kirchengebäude wurden dem Steirischen Heimatbund zugeteilt, der sie für die unterschiedlichsten Zwecke nützte. Das Schloss Windenau/Betnava im Eigentum des Marburger Bistums diente zunächst Vorbereitungskursen für deutsche Lehrer, später wurden hier Kurse für deutsche Jugendführer abgehalten. Die Räumlichkeiten des Knabenseminars in der Mladinska ulica nahm die Bundesführung des Steirischen Heimatbundes in Besitz. Das Heim der Schulschwestern in Gams wurde

zum Sitz der Ortsgruppe des Steirischen Heimatbundes, die Jesuitenkirche zu einem Vergnügungsort für deutsche Soldaten, die Aloisiuskirche auf dem Hauptplatz jedoch zum Lager, während die Räume des Franziskaner-Klosters im September 1944 zu einem Gestapogefängnis umgebaut wurden. Im Frühling 1941 wurde in Marburg die orthodoxe Kirche zerstört, die am heutigen General-Maister-Platz stand,80 während die Räume des Minoritenklosters in Pettau von der Kreisführung des Steirischen Heimatbundes beschlagnahmt wurden. Die Minoritenkirche wurde im Herbst 1944 in ein Waffenund Munitionslager umgestaltet.81 Die Kapuzinerkirche und die Maximiliankirche sowie die Heiliggeistkirche in Cilli wurden Lager. Die Besatzungsmacht hat auch das Kloster und das Missionshaus der Lazaristen von St. Josef in Cilli besetzt und dort ihre Ämter eingerichtet.82 Alle anderen Liegenschaften, kirchlichen Besitzungen, Pfründe und Mensalgüter wurden zugunsten des bevollmächtigten Reichskommissars zur Festigung des Deutschtums beschlagnahmt. Den Geistlichen wurden nur ein paar Zimmer zum Wohnen und ein Büro gelassen, wofür sie allerdings Miete zahlen mussten. Ebenfalls beschlagnahmt wurde das Eigentum aller Lehranstalten und Internate: das neue Gebäude der theologischen Hochschule, das Priesterseminar und das Knabenseminar. Die Bibliothek wurde teilweise in die Papierfabrik transportiert, die slowenischen Bücher wurden verbrannt. Das Kapitelhaus wurde besetzt, in ihm ließen sich die Polizei und das Dompfarramt nieder. Alle kirchlichen Bruderschaften und katholischen Kulturvereine wurden aufgelöst und ihr Eigentum zugunsten des Amtes zur Festigung des Deutschtums und des Heimatbundes beschlagnahmt. Die Pfarrhöfe wurden für unterschiedliche Zwecke verwendet. In Jahring/ Jarenina zum Beispiel diente der Pfarrhof als Folterquartier, wovon Spuren an den Wänden

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

zeugten. Die gesamte religiöse Presse wurde verboten, auch die beiden katholischen Druckereien in Marburg und Cilli wurden eingestellt. In den Jahren 1942 und 1943 wurden alle Bronzeglocken beschlagnahmt und abtransportiert. Jede Pfarre durfte nur eine Glocke behalten. Auch das Läuten wurde eingeschränkt.

679

Der Wiederkehr der slowenischen Priester nach dem Kriegsende wurde mit großer Erleichterung erwartet. Die deutschen Aushilfspriester aber sind in guter Erinnerung geblieben, viele haben die Verbindungen zu ihren Pfarren auch nach Kriegsende aufrechterhalten.83

Das Verhältnis der slowenischen Bevölkerung zur Besatzungsmacht und der Widerstand Der Zweite Weltkrieg und die deutsche Okkupation der Untersteiermark im Jahre 1941 stellten eine bedeutende Wende im Leben der Slowenen dar. Die Bevölkerung in der Untersteiermark empfing die Besatzer mit unterschiedlichen Gefühlen. Die Mitglieder des Kulturbundes ebenso wie die Deutschtümler begrüßten die Okkupation mit Begeisterung, sie bezeichneten sie „als Befreiung vom serbischen Joch und als Rückkehr in das deutsche Reich“. Fast alle wurden in den NS-Verwaltungs- und ­Politikapparat eingebunden. Begeistert über die Ankunft der Besatzer waren auch ärmere Menschen, vor allem die Winzer, die in der Zeit des „alten“ Jugoslawien am meisten ausgebeutet und erniedrigt wurden. Von der deutschen Besatzung erhofften sie sich „die Erlösung von ihrer schweren wirtschaftlichen Lage“. Die meisten Bewohner reagierten auf die Besatzungsmacht kühl und zurückhaltend, da sie wussten, welches Schicksal die Okkupationsmächte der slowenischen Nation zugedacht hatten. Die deutschen Besatzungsbehörden führten bis zum Frühjahr 1942 fast alle jene Gesetze und Verordnungen ein, die auch in der bis 1938 österreichischen Steiermark galten, mit dem Ziel, die Untersteiermark möglichst rasch in das eigene Staatssystem einzugliedern. Parallel dazu begannen sie mit dem Ausbau ihres bis

ins Detail durchdachten Assimilierungssystems, das die Lebensart und das Schicksal der slowenischen Menschen grundlegend veränderte. All das weckte bei den Slowenen Widerstand, der in der Steiermark zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt begann. Er sah sich sofort mit einem ausgeklügelten Besatzungsapparat konfrontiert, der eine gründliche Überwachung der Bevölkerung ermöglichte. Als besonderes Hindernis für die Entwicklung der Befreiungsbewegung stellten sich auch die vorübergehenden Erfolge der nazistischen Propaganda und die Demagogie bei sozial schwachen Bevölkerungsschichten in den ersten Monaten nach der Besatzung dar, verbesserte sich doch ihr Lebensstandard. Die starken Eindeutschungsmaßnahmen (Massenarretierungen und Deportationen von Intellektuellen, vor allem Priester etc.), führten aber einerseits dazu, dass sich die Menschen von den Besatzern abwandten und ihren Willen zum Widerstand zum Ausdruck brachten. Andererseits war der erfolgreiche Beginn des Befreiungskampfes in der Untersteiermark eine Folge der im Vergleich zu anderen slowenischen Ländern sehr gut organisierten (kommunistischen) Parteiorganisation. Zu Beginn der Besetzung zählte sie mehr als 400 Mitglieder und hatte vergleichsweise viele SKOJ-Anhänger. Die stärksten Parteizellen befanden sich in den In-

680

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

dustriezentren Marburg, Cilli, Trifail und im Šaleška-Tal.84 Die erste Widerstandsaktion – die Verbrennung von zwei Personenkraftfahrzeugen im Volkmer-Durchgang in Marburg – wurde bereits am 29. April 1941 durchgeführt, nur zwei Tage nach dem Besuch Hitlers in der Stadt. In vergleichsweise kurzer Zeit weitete sich der Aufstand auf das gesamte Gebiet aus und verband die nationalbewussten Slowenen diverser politischer und weltanschaulicher Ausrichtungen im gemeinsamen Kampf gegen die Besatzer. Nach der Gründung der Antiimperialistischen Front (Befreiungsfront) am 26. April 1941 in Laibach und nach der Gründung des Regionalausschusses der Befreiungsfront für die Steiermark am 22. Mai 1941 in Kojzice bei Römerbad/Rimske Toplice breitete sich das Netz der Orts-, Stadt- und Kreis-Ausschüsse auf die gesamte Region von der Save bis zu den Windischen Büheln und ins Übermurgebiet aus. Im Juli 1941 entstanden die ersten Partisanengruppen, die die Namen geographischer Bezeichnungen trugen (Pohorje-, Savinja-, ­Revir- und Celje-Einheiten), sowie die Gruppe Šalek, die in der weiteren Umgebung von Schönstein und Wöllan wirkte, an der Bahnlinie Cilli–Unterdrauburg. Ende Oktober 1941 wurde die Einheit Rann organisiert, die aber vom Besatzer schon nach einem Monat zerschlagen wurde. Trotz schwieriger Umstände konnten die steirischen Partisaneneinheiten im Sommer und Herbst 1941 einige bedeutende Aktionen durchführen. Die Truppe aus dem Kohlenrevier (Revirska četa) griff am 9. August den Gendarmerieposten in der Betriebswache von Zagorje an der Save an, die Pohorje-Truppe überfiel am 11. August den Gendarmerieposten in Reifnig, am 17. September geriet sie in Kampf handlungen mit der Militäreinheit des 138. Regiments der Gebirgsjäger, was dazu führte, dass das Bacherngebirge/Pohorje zum Sperrgebiet

Erschießung von weiblichen Geiseln im Gefängnis Stari pisker in Cilli, 22. Juli 1942 Sammlung Muzej narodne osvoboditve Maribor

erklärt wurde. Die Savinja-Truppe griff am 25. August das Kohlenbergwerk Zabukovica an, das Steiermark-Bataillon (in dem sich seit Anfang Oktober auch die Pohorje-, Savinja- und ­Revir- Einheiten befanden), überfiel in der Nacht zum 8. Oktober die Stadt Schönstein, und am 26. Oktober wurde es in Kampf handlungen mit dem Feind in Čreta verwickelt.85 Durch Verrat konnten die Besatzer schon im  Sommer und Herbst 1941 die meisten Widerstandsgruppen in der Untersteiermark zerschlagen; am meisten davon betroffen waren die Städte Marburg und Cilli. Viele Organisatoren und Anführer von Widerstandsgruppen sind gefallen; darunter waren die National­ helden Slavko Šlander, Slava Klavora, Franc

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

681

Erschießungen im Gefängnis Stari pisker in Cilli, 22. Juli 1942. Die Leichen der erschossenen Geiseln werden in Sammlung Muzej narodne osvoboditve Maribor Särge gelegt.

Vrunč, Jože Hermanko und Jože Kerenčič. Bis Ende jenes Jahres wurden 174 Geiseln erschossen.86 Wegen der Erfolge der Besatzer im Kampf  gegen die Befreiungsbewegung im ­Jahre 1941 (Vernichtung der Krško-Partisaneneinheit im Juli, Zerschlagung der Celje-Truppe Ende August, erfolgloser Marsch des Steiermark-Bataillons auf Rann im Herbst 1941 sowie Vernichtung einer Reihe von Widerstandsgruppen) entwickelte sich der Befreiungskampf  unregelmäßig. Die Gewalt der Besatzer gegenüber den Angehörigen der Befreiungsbewegung spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle. Im Frühjahr 1942 bildete sich in der Untersteiermark erneut ein Partisanenbataillon mit

drei Kompanien. In der Mitte des Sommers umfasste es bereits acht. Selbstständig agierten die Ruše-Kompanie und die Kompanie Slovenske gorice, zeitweise auch die Šalek-, Moravče- und Kozjansko-Kompanien. Eine neue Ausdehnung des bewaffneten Widerstandes in der Untersteiermark brachte die Reorganisation der ­z weiten Truppenverbände von Dobrovlje am 11. September 1942 und die Organisation von vier Bataillonen: Pohorje-, Savinja-, Moravče- und Kozjansko-Bataillon. Ende des Jahres 1942 gab das Oberkommando die neue Organisation der slowenischen Partisaneneinheiten bekannt. In der Untersteiermark gründete das Oberkommando die 4. Operationszone an Stelle der zweiten Truppenverbände. Zwi-

682

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

schen August 1942 und dem Beginn des Jahres 1943 musste die Befreiungsbewegung in der Untersteiermark schwere Rückschläge hinnehmen. Dem Besatzer gelang am 8. August 1942 zunächst die Zerschlagung der Kompanie Slovenske gorice und am 28. August die der Kompanie Kozjansko, die an sehr exponierten Orten tätig gewesen waren. Im August 1942 wurde auch die Kompanie, die aus dem Hornwald/ Kočevski rog nach Kozjansko abkommandiert worden war, vernichtet, am 7. November 1942 erlitt das Savinja-Bataillon in Dobrovlje dasselbe Schicksal und existierte vorübergehend nicht mehr.87 Nach kurzzeitigem Aufschwung der Befreiungsbewegung im Frühjahr 1942 gelang es den Besatzern erneut, in die Widerstandsorganisation einzudringen, was die Zerschlagung zahlreicher Ausschüsse der Befreiungsfront vor Ort zur Folge hatte. Die Repression der Besatzer war im Jahr 1942 am schlimmsten, und der Befreiungskampf forderte in dieser Zeit die meisten Opfer in Bezug auf die Zahl der in der Befreiungsbewegung beteiligten Personen. Die Deutschen brachten im Hof der Gerichtsgefängnisse in Marburg und Cilli 866 Geiseln um,88 ab August wurden auch die Angehörigen der Geiseln und Partisanen verfolgt. Die arretierten Angehörigen im Alter zwischen 18 und 55 Jahren brachten sie in Konzentrationslager, wo die meisten ihr Leben ließen. Die älteren Menschen kamen mit Sondertransporten in Lager nach Bayern, die Kinder in das Lager Frohnleiten. Jene Kinder, die bei der rassischen Untersuchung die Note I und II erhielten, wurden aus Frohnleiten in Heime der Organisation „Lebensborn“ überstellt und deutschen Familien zur Adoption überlassen.89 Den schwersten Verlust für die Befreiungsfront in der Untersteiermark bedeutete die Niederlage des Pohorje-Bataillons bei Osankarica am 8. Jänner 1943. Mitte Februar 1943 gelang es den Okkupationstruppen, auch die 2. Kom-

panie des Kozjansko-Bataillons zu zerschlagen, die damals am Kozjansko aktiv gewesen war. Die Vernichtung des Hauptteils des PohorjeBataillons war einer der größten Erfolge der deutschen Besatzer im Kampf gegen slowenische Partisaneneinheiten. Darüber berichtete der Oberführer der SS und der Polizei Alpenland des 18.  Militärkreises, Erwin Rösener, an den Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, dieser wiederum informierte am 11. Jänner 1943 den Oberbefehlshaber Adolf Hitler. Nach schweren Verlusten der Befreiungsbewegung in der Steiermark in den Jahren 1942 und am Beginn 1943 begann die Bewegung im Jahre 1943 langsam und kontinuierlich zu erstarken. Der Schwerpunkt des Befreiungskampfes verlagerte sich auf das Gebiet der 4. Operationszone; auf dem Berg Špik wurde am 6. August 1943 die Šlander-Brigade gegründet, die in die 15. Division der slowenischen Nationalbefreiungsarmee eingegliedert wurde. Die Partisaneneinheiten wurden auch anderswo stärker. Am Bachern formierte sich im Mai 1943 das zweite Pohorje-Bataillon, das Anfang November 1943 in die Pohorje-Truppe umgewandelt wurde, am 8. Jänner 1944 wurde in Sv. Primož die Zidanšek-Brigade organisiert. Einen Meilenstein im bewaffneten Kampf gegen die Besatzer in der Steiermark stellte die Ankunft der 14. Division im Februar 1944 dar. Im Frühjahr 1944 brach in der Untersteiermark die Zeit der größten Ausweitung des Befreiungskampfes an. Die deutschen Besatzer gerieten zwischen April und November 1944 sowohl auf militärischem wie auch auf politischem Gebiet in die Defensive. Die Regionalführung des Befreiungskampfes in der Untersteiermark setzte im April 1944 das Prinzip der allgemeinen Mobilisierung durch und gab die Bekanntgabe der Mobilisierung aller für den Militärdienst fähigen Männer vom 18. bis 45. Lebensjahr bekannt. Von Mai bis Mitte Oktober

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

1944 mobilisierten die Einheiten der 4. Operationszone 13.886 Kämpfer und entsandten 8.571 von ihnen in andere slowenische Gebiete jenseits der Save. In diesem Zeitraum gelang es den Partisaneneinheiten, das obere Savinja-Tal und das Dreta-Tal zu befreien, weiters Pohorje und Kozjansko, sie führten zahlreiche Überfälle auf die Verkehrswege der Besatzer durch, vor allem auf die Eisenbahnen, die die deutschen Armeen in Italien und auf dem Balkan mit Deutschland verbanden. Die Aktionen des Lacko-Trupps erfassten in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 auch den südlichen Teil des Reichsgaues Steiermark. Die befreiten Gebiete, die für die Ausweitung der Volksherrschaft von großer Bedeutung waren, wurden auch militärisch organisiert, mit drei Kommandostellen für die Kriegsgebiete und zahlreichen Kommandostellen in den Städten. Von September bis November 1944 wurden mehr als 70 örtliche nationale Befreiungsausschüsse gewählt. Nach der Reorganisation der Kreise im September 1944 wurden in der Untersteiermark fünf Kreise gebildet: Luttenberg, Marburg, Drachenburg, Cilli und Unterdrauburg. Zu den wichtigsten Aufgaben der Kreise zählte die Gründung der Bezirks- und Ortsausschüsse der Befreiungsfront, die Organisation der slowenischen Jugend und der Slowenischen antifaschistischen Frauenbewegung.90 Im Herbst 1944 wurde auf Grund der Lage und des Verlaufs der großen Militäroperationen die Untersteiermark zum unmittelbaren Hinterland der Front. An der Ostgrenze der Untersteiermark begannen die Besatzer mit dem Bau einer neuen Verteidigungslinie des Deutschen Reiches. Von November 1944 bis Jänner 1945 und dann wieder ab März 1945 folgten große Militäraktionen der Besatzer auf dem Gebiet von Kozjak nördlich der Drau bis zur Save, und drückten die Einheiten der 4. Operationszone in die Defensive. Die Gewalt der Besatzer ließ auch in den letzten Monaten der Okkupation nicht nach, im Gegenteil, im Jahre 1945 erreichte sie

683

Abschiedsbrief von Martin Kores auf einem Taschentuch. Er wurde am 27. Dezember 1941 in Marburg ­erschossen. Sammlung Muzej narodne osvoboditve Maribor

ihren zweiten Höhepunkt (massenhafte Geiselerschießungen – 265 Tote, Verhaftungen von Angehörigen der Befreiungsbewegung, Niederbrennen von Dörfern etc.) Am Ende des Krieges war die Untersteiermark Schauplatz großer Militärkonzentrationen und -operationen. Ende April und Anfang Mai 1945 verlief auf diesem Gebiet die südöstliche Front. Im Mur- und Draugebiet befanden sich drei jugoslawische Armeen, die bulgarische ­A rmee, der Hauptteil der deutschen Armeegruppe E mit diversen Quisling-Einheiten sowie der Hauptteil der deutschen Armee von der Ostfront. Die Einheiten der 4. Operationszone (die Tomšič-, Bračič-, Šercer-, Šlander-, Zidanšekund Prekmurje-Brigade, die Lacko-, Kozjansko-, Kamnik-Zasavje-, Koroška- und KrškoTrupps sowie die 3. Brigade KNOJ) hinderten den Feind an der Organisation der Verteidigung und des Rückzugs. Ihre Effizienz bewiesen sie auch mit der Gefangennahme und Kapitulation des Kommandanten der deutschen Armeegrup-

684

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

pe „E“, Alexander Löhr, in Topolščica am 9. Mai 1945. In den Tagen des 10. bis 15. Mai 1945 kam es zu schweren Kämpfen im Gebiet der Mislinja, im Mießtal und bei Unterdrauburg, als einige abziehende deutsche und vor allem Trup-

penverbände des Unabhängigen Staates Kroatien (Ustascha und Kroatische Heimwehr), serbische und montenegrinische Tschetniks und Ljotic´Anhänger, mit Waffengewalt den Rückzug nach Österreich erzwingen wollten.91

Anmerkungen * 1 2

3

4

5

6 7 8

9 10 11

Dieser Beitrag wurde im Jahr 2008 abgeschlossen. Ferenc, Quellen 5. Ferenc, Quellen 9: „Denkschrift des Südostdeutschen Institutes in Graz ...“. Ferenc, Quellen 89–97, 115–128. Der Schwäbischdeutsche Kulturbund wurde am 20. 6. 1920 in Novi Sad gegründet. Arhiv Muzeja narodne osvoboditve Maribor / Archiv des Museums der Volksbefreiung Marburg (AMNOM), Fonds Kulturbund, Vertrauensmännerliste der Untersteiermark, Gaugrenzlandamt; Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna 52, 58–60. Klajnšček, Narodnoosvobodilna vojna 32–34, 37, 40; Penič, Okupacija in narodnoosvobodilni boj 392. Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna 48f. Žnidarič, Nemška mobilizacija 16. Ferenc/Ževart, Nekatere značilnosti in posebnosti fašistične okupacije 449. Dr. Sigfried Uiberreither starb 1984 in Deutschland, wo er unter falschem Namen gelebt hatte. Ferenc, Vprašanje priključitve zasedenih 167–189. Žnidarič, Okupacijska uprava 30. Žnidarič, Okupacijska uprava 31–33, 36. Fritz Knaus wurde 1888 in Leoben geboren, wurde 1938 Bezirkshauptmann und 1940 Landrat für den Bezirk Graz-Umgebung. Herbert Töscher wurde 1912 in Marburg geboren, war dann Major der SA. Anton Dorfmeister wurde 1912 in Heudorf bei Feldbach in der Oststeiermark geboren. Im Jahr 1938 wurde er in Graz Bevollmächtigter des Amtes Volksdeutsche Mittelstelle für Steiermark und übernahm im folgenden Jahr die Leitung des Gaugrenzlandamtes in Graz, dem er bis zum seinem Tod vorstand. Im Jahr 1940 trat er in die SS ein. Bei der Besetzung der slowenischen Steiermark wurde er zunächst politischer Kommissar des Bezirks Cilli-Stadt und danach Leiter des Cillier Kreises. Er war auch Kreisführer des Steirischen Heimatbundes in Cilli. Er fiel im Februar 1945 als Opfer des Angriffes der Bračič-­ Brigade auf sein Auto bei Frankolovo.

12

13

14

15

16

17

18

19 20

Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna 52. Fritz Bauer wurde 1911 in Graz geboren. Zu Beginn der Okkupation war er politischer Kommissar des Bezirks Pettau-Land. Im Sommer 1941 wurde er zum politischen Kommissar des gesamten Pettauer Kreises ernannt, im Februar 1942 wurde er Landrat des Pettauer Kreises. Im September 1941 wurde er Kreisführer des Steirischen Heimatbundes in Pettau. Žnidarič, Okupacijska uprava 35. Ernst Frohner wurde 1904 in Zistersdorf geboren. Im April 1941 wurde er Bevollmächtigter für die allgemeine Verwaltung im politischen Bezirk Mahrenberg. Dr. Alexander Guggenthal-Wittek wurde 1904 in Graz geboren. In den Jahren 1938–1941 war er Bezirkshauptmann in Radkersburg. Während der Besetzung war er Landrat im Kreis Radkersburg. Nach dem Krieg in der Steirischen Landesregierung beschäftigt, starb er 1995 in Graz. AMNOM, Ergebnisse der Bevölkerungsbestandsaufnahme (1942), Tabelle I, V, 5, 7. „Im Mittelpunkt der gesamten Arbeit des Einsatzstabes des CdZ und der unterstellten Dienststellen steht die klare Weisung des Führers: Die Untersteiermark muss deutsch werden! Der baldmöglichsten Erlangung dieses Zieles dienen alle bereits getroffenen und alle beabsichtigten Massnahmen.“ (Ferenc, Quellen 147: „Bericht des Verbindungsmannes ...“). Ferenc, Quellen, Nr. 42: „Anordnung des Chefs der Zivilverwaltung in der Untersteiermark für die Verdeutschung der Ortsnamen“, 84; Ortsverzeichnis zur Gemeindegrenzkarte von Untersteiermark, Mießtal und Übermurgebiet (1940). Verordnungs- und Amtsblatt des CdZ in der Untersteiermark, Nr. 24 (26. 8. 1943). Ferenc, Quellen, Nr. 159: „Verordnung des CdZ in der Untersteiermark über die deutsche Schreibweise von Vor- und Familiennamen“, 321–323. Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna 53. Karner, Stabsbesprechungen 107.

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark 21

22 23

24

25 26 27

28 29 30

31

32 33 34

35 36

37 38 39 40

41 42 43

44 45 46

„Verordnung über die Bestellung eines Stillhaltekommissars für Vereine, Organisationen und Verbände“, 16. 4. 1941. In: Verordnungs- und Amtsblatt des CdZ (24. 4. 1941), Nr. 5. Ferenc, Quellen, Nr. 43, 85. Der Stillhaltekommissar für Vereine, Organisationen und Verbände in der Untersteiermark. Bekanntmachungen. Nr. 1, 15. 10. 1941, Nr. 12, 5. 5. 1943. Ferenc, Quellen, Nr. 35: „Anweisung der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes zur Beschlagnahme des slowenischen Schriftgutes“, 77. Ferenc, Quellen, Nr. 178, 351. Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna. Ferenc, Quellen, Nr. 23: „Richtlinien und Anweisungen des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums zur Aussiedlung von Slowenen und Ansiedlung von Deutschen in der Untersteiermark“, 60–63. Mavrič-Žižek, Nacistična okupacija 135f. Ferenc, Nacistična evtanazija 118. Befehlsblatt der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes, Folge 1 (Mai 1941), 1. Ferenc, Politične in državljanske kategorije 70–82. Der Stand nach Kreisen im Jahre 1941: im Cillier Kreis 101.759 Einwohner, im Kreis Marburg-Land 79.531, im Kreis Pettau 69.357, im Kreis MarburgStadt 40.078 und im Luttenberger Kreis 33.082; AMNOM, Ergebnisse der Bevölkerungsbestandsaufnahme (1942), Tabelle III, 6. Ferenc, Tragedija Slovencev 394. Ferenc, Politične in državljanske kategorije 82. AMNOM, Ergebnisse der Bevölkerungsbestandsaufnahme (1942), Tabelle I, 5. Žnidarič, Do pekla in nazaj 82f. Ferenc, Nemška okupacija Dravske doline in Pohorja 18. Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna 58. Ferenc, Nemška okupacija Celja in okolice 13. Ferenc, Tragedija Slovencev 394. Franz Steindl wurde 1911 in Eisenerz geboren und war von Beruf Lehrer für Leibeserziehung. Im Jahr 1935 wurde er Stabsleiter der SA-Brigade 9, im Jahr 1937 organisatorischer Leiter der NSDAP in der Landesführung Steiermark. Im Jahr 1940 kämpfte er in Norwegen. In den Jahren 1941–1945 war er Bundesführer des Steirischen Heimatbundes. Mavrič-Žižek, Občina Duplek 202. Ferenc, Politične in državljanske kategorije 88–94. AMNOM, Ergebnisse der Bevölkerungsbestandsaufnahme (1942), Tabelle III, 6. Žnidarič, Nemška mobilizacija 37–49. Prvi rekruti nemške vojske (1942), 6. Žnidarič, Nemška mobilizacija 40–45, 47–49.

47

48 49 50 51

52 53 54

55

56 57 58 59

60 61 62 63

64

65 66 67 68 69 70 71 72

73 74 75 76 77 78 79

685

Mavrič-Žižek, Cirkulane 163. Jakob Tetičkovič fiel im Kampf bei Bakanskaja an der Ostfront am 10. 9. 1943. Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna 62. Žnidarič, Nemška mobilizacija 54–63, 104–110. Mavrič-Žižek, Občina Kidričevo 143. Marburger Zeitung (8. 8. 1941); Ferenc, Quellen 220. Ferenc, Quellen 350. Žnidarič, Okupatorjevo šolstvo 444, 446. Ferenc, Nemška okupacija Celja in okolice 101; Žižek, Kratek oris 227. Hg. v. Amt für Schulwesen in der Bundesführung des Steirischen Heimatbundes (1941). Mavrič-Žižek, Občina Duplek 200. Ferenc, Quellen, Nr. 187, 350. Ferenc, Nemška okupacija Celja in okolice 41f. Štajerski gospodar, Jg. II, Nr. 44 (21. 10. 1942), 5; Štajerski gospodar, Jg. II, Nr. 46 (14. 11. 1942), 5; Štajerski gospodar, Jg. III, Nr. 1 (2. 1. 1943), 8; Štajerski gospodar, Jg. III, Nr. 6 (6. 2. 1943), 9. Ferenc, Quellen, Nr. 211, 410f. Žižek, Kratek oris 235. Štajerski gospodar, Jg. III, Nr. 1 (9. 1. 1943), 11. AMNOM, Ergebnisse der Bevölkerungsbestandsaufnahme (1942), 7. Karner, Stabsbesprechungen 162f. (17. Mai 1943), 171 (22. Juni 1943). Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna 63. Carstanjen, Sprache und Volkstum 161. Rybař, Nacistični ukrepi 45. Ferenc, Quellen 139. Rybař, Nacistični ukrepi 46. Rybař, Nacistični ukrepi 50. Rybař, Nacistični ukrepi 52. Munda, Ob dvajsetletnici izgona slovenskih duhovnikov 597. Rybař, Nacistični ukrepi 55. Rybař, Nacistični ukrepi 62. Rybař, Nacistični ukrepi 60. VAZSt 1942, 78. Rybař, Nacistični ukrepi 68. Zl Gb E 94/41. Die Franziskanerkirche in Rann wurde niedergerissen. In Marburg wurde die Kirche des hl. Aloysius in ein Lager umfunktioniert, die Fronleichnamskirche in einen Heimatbundsaal, die Jesuitenkirche in ein Lager derselben Organisation, die SlomšekKapelle wurde abgerissen, die Leichname der Bischöfe Stepischnigg und Slomšek wurden in die Franziskanerkirche überführt. In Pettau wurde die Minoritenkirche in ein Munitionslager umfunktioniert. Sie wurde während eines Bombenangriffs

686

Mavrič-Žižek, Rajšp / Die Besetzung der Untersteiermark

1945 beschädigt. In Cilli wurde die Kapuzinerkirche in ein Lager verwandelt. Das Gleiche geschah mit der Kirche St. Maximilian und mit der Heiligengeistkirche sowie mit mehreren Kirchen in der Umgebung von Cilli. 80 Žnidarič, Do pekla in nazaj 126. 81 Mavrič-Žižek, Druga svetovna vojna 58. 82 Kregar, Okupacijsko nasilje na Celjskem 141. 83 Vgl. Veselsky, Steirische Priesterhilfe. 84 Žnidarič, Vpliv okupacije 191–200. Obwohl sich nach dem Aprilkrieg ein Teil der Mitglieder der Kommunistischen Partei in Kriegsgefangenschaft befand, vertrieben oder arretiert wurde oder sich in die Laibacher Provinz zurückzog, blieb die Partei in der Untersteiermark eng verbunden, ihre Mitglieder begannen die ersten Ausschüsse der Befreiungsfront vor Ort zu gründen und erste Partisanenformationen zu organisieren. 85 Ževart, Partizanske enote 256. In der Untersteiermark gingen im ersten Kriegsjahr 250 Männer und 16 Frauen zu den Partisanen. Unter den 266 Partisanen waren 134 Arbeiter und 39 Gewerbegehilfen aus größeren und kleineren Industriezentren. Ihre politische Ausrichtung war zu 80 Prozent kommunistisch. Für die Eingliederung in die Partisaneneinheiten spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass die Besatzer im März 1942 in der Untersteiermark die Militärpf licht einführten und im Juli 1942 mit der Einberufung in die deutsche Armee begannen. In der Zeit der größten Ausweitung und Stärkung der Befreiungsbewegung, vor allem im Jahre 1944, befanden sich unter den Partisanen hauptsächlich Kämpfer aus den ländlichen Gebieten.

86

87 88

89

90

91

Poslovilna pisma (1965), 11–24. Die ersten Geiseln wurden von den Besatzern am 30. 7. 1941 im Wald Dobrava bei Rann erschossen. Die Erschossenen waren Mitglieder der sich formierenden Widerstandsgruppe Krško. Ževart, Partizanske enote 257f. In der Untersteiermark erschossen die deutschen Besatzer vom 30. 7. 1941 bis 3. 4. 1945 66 Gruppen von Geiseln, eine Gruppe wurde gehängt. Den veröffentlichten Exekutionslisten zufolge wurden insgesamt 1.590 Geiseln erschossen, die meisten davon in Marburg (689) und Cilli (374). Die Leichen der Geiseln, erschossen im Hof der Gerichtsgefängnisse in Marburg und Cilli, wurden von den Deutschen mit Lastwagen nach Graz gebracht, wo sie im Krematorium des Grazer Friedhofs verbrannt wurden. Jene Geiseln, die außerhalb der Städte Marburg und Cilli hingerichtet wurden, wurden an Ort und Stelle oder am nächsten Friedhof bestattet. Instruktionen für die Festnahme von Angehörigen der Geiseln und Partisanen gab der Kommandant der Sipo und des SD Untersteiermark, Otto Lurker, am 31. 7. 1942 heraus. Die Verhaftungen von Angehörigen begannen am 3. und 5. 8. 1942 und setzten sich am 15. 8., 2. 10., 4. 11. 1942 sowie am 10. 3. 1943 fort. In der ersten Welle von Festnahmen vom 3. bis 5. 8. 1942 verhafteten die Besatzer Angehörige der Geiseln, die bis zu dieser Zeit erschossen worden waren, danach verhafteten sie die Familien der Geiseln gleichzeitig mit den Erschießungen. Žnidarič, Severovzhodna Slovenija v osvobodilnem boju 40–44. Am 15. Mai 1945 fand in Pollain/Poljane bei Prävali/Prevalje die letzte Schlacht statt.

Geschichte der Steiermark Alfred Ableitinger (Hg.)

Bundesland und Reichsgau

Alfred Ableitinger (Hg.)

1918

1927

1934

1938

1945

Geschichte der Steiermark Band 9/II 1918 bis 1945

ISBN 978-3-205-20062-8 | www.boehlau-verlag.com

Bundesland und Reichsgau Demokratie, „Ständestaat“ und NS-Herrschaft in der Steiermark 1918 bis 1945