NS-Herrschaft in der Steiermark: Positionen und Diskurse 9783205791829, 9783205783961

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NS-Herrschaft in der Steiermark: Positionen und Diskurse
 9783205791829, 9783205783961

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Heimo Halbrainer Gerald Lamprecht Ursula Mindler (Hg.)

NS-Herrschaft in der Steiermark

Positionen und Diskurse

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch Land Steiermark Wissenschaft Universität Graz Stadt Graz Wissenschaft Centrum für Jüdische Studien Alfred-Schachner-Gedächtnis-Fonds

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78396-1 Umschlagbild: © Universalmuseum Joanneum. Multimediale Sammlungen. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­ setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von A ­ bbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2012 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar www.boehlau-verlag.com

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Inhalt NS-Herrschaft in der Steiermark – Einleitung

Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht, Ursula Mindler . . . . . . . . . 9 Positionen, Tendenzen, Defizite der NS-Forschung Wolfgang Benz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Vorgeschichte – Wege zum „Anschluss“ Der Weg in den Abgrund Die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen Helmut Konrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 „Heut’ ist da zahlende Tag“ Der nationalsozialistische Juliputsch 1934 in der Steiermark – das Beispiel St. Gallen Kurt Bauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Antisemitismus und Deutschnationalismus Von Prozessen der Ausdifferenzierung zu Strategien der Homogenisierung am ­Beispiel deutschnational-völkischer Frauenvereine Heidrun Zettelbauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

NS-Herrschaft NS-Eliten in der Steiermark und steirische NS-Eliten Herkunft, Rolle und Selbstverständnis 1938–1945 Martin Moll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 „Die Zigeuner und die Juden sind seit der Gründung des Dritten Reiches untragbar.“ Das Südburgenland im Gau Steiermark und sein Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945 Ursula Mindler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

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Inhalt

„Wenn Sie wollen, lasse ich mich jetzt einschreiben, wenn es gerade so sein muss!“ Einige Aspekte nationalsozialistischer Herrschaftsausübung und Alltag am Beispiel des angegliederten Gebietes Untersteiermark 1941–1945 Monika Stromberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

Gesellschaft – Kultur – Wissenschaft im Nationalsozialismus Katholische Kirche und Nationalsozialismus in der Steiermark Forschungsstand und Forschungsdesiderate Michaela Sohn-Kronthaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 NS-Kulturpolitik in der Steiermark am Beispiel der Literatur

Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Die Hochschulen in Graz in der NS-Zeit Alois Kernbauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

NS-Terror: Verfolgung und Widerstand NS-Terror in der Steiermark Heimo Halbrainer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Zwangsarbeit in der Steiermark Peter Ruggenthaler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Widerstand in der Steiermark Wolfgang Neugebauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in der Steiermark 1938 bis 1940 Gerald Lamprecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Inhalt

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„(... dass) die Zigeuner wenigstens aus dem Landschaftsbilde verschwinden“ Die NS-Verfolgung der Roma im Gau Steiermark am Beispiel zweier steirischer ­„Zigeunerlager“. Das Arbeitslager Kobenz (bei Knittelfeld) und das Sammellager ­Dietersdorf (bei Fürstenfeld) Michael Teichmann, Roman Urbaner . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Die Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und Juden durch die Steiermark Eleonore Lappin-Eppel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

„Nachzeit“ – Bruch oder Kontinuität? Entnazifizierung und Kriegsverbrecherprozesse in der Steiermark Martin F. Polaschek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus am Beispiel der ­Opferfürsorge in der Steiermark Andrea Strutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Kunstrückgabe nach 1945 in der Steiermark am Beispiel des Landesmuseums Joanneum Karin Leitner-Ruhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455 Die Epoche der Epochenverschlepper Dieter A. Binder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Steirische Hochschulen und Nationalsozialismus Christian Fleck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .491 Gedächtniskultur in der steirischen Landeshauptstadt Graz Erinnerungszeichen an Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust im öffentlichen Raum Heidemarie Uhl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .503 Aspekte einer Geschlechtergeschichte von Krieg und NS-Zeit in der Steiermark

Karin M. Schmidlechner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 535

NS-Herrschaft in der Steiermark – Einleitung1

Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht, Ursula Mindler

Wirft man einen Blick in Tageszeitungen und Wochenmagazine oder zappt man abends durch die TV-Programme, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Zeit des Nationalsozialismus mit all seinen Menschheitsverbrechen und Folgen allgegenwärtig ist. Das Spektrum der Berichterstattung reicht von Aspekten der Täterschaft bis hin zu den Leiden und Qualen der Opfer. In Feuilletons, Artikelserien, Essays, Dokumentationen, Dokudramen oder Spielfilmen werden diese Themen dem Lese- und Fernsehpublikum und damit der Bevölkerung nahegebracht. Dieser Eindruck wird augenscheinlich bestätigt angesichts der großen Zahl von wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen historischen Publikationen. Ebenso scheint das Thema im Schulbereich in der Vermittlung großen Raum einzunehmen, was sich beispielsweise auch daran zeigt, dass 1997 im Entschließungstext zur Einführung des „Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus“ im österreichischen Parlament explizit festgehalten wurde, man soll „in den Schulen, innerhalb des österreichischen Bundesheeres sowie beim Zivildienst auf diesen Gedenktag in geeigneter Weise Bedacht [...] nehmen, um die Sensibilität gegenüber den verschiedenen Formen der Gewalt zu wecken und zu verstärken“.2 Der Zeit des Nationalsozialismus und der Auseinandersetzung mit ihr wird demnach eine besondere gesellschaftspolitische Dimension beigemessen und ihre Erforschung wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv betrieben. Und doch zeigt sich entgegen der eingangs geschilderten medialen Präsenz des Themas, dass es noch eine Reihe von Aspekten der NSHerrschaft gibt, die bislang nicht erforscht oder nur ungenügend erklärt wurden. Dieser Befund ist auch als Ausgangspunkt des hier vorliegenden Buches zu sehen, in dem versucht wird, eine Standortbestimmung der Forschung zum Nationalsozialismus in der Steiermark zu geben. Mitgewirkt haben Historiker/innen, Soziolog/innen und Literaturwissenschafter/innen, Rechtshistoriker und eine Theologin, die sich alle in den letzten 1

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Dieser Band geht hervor aus dem Forschungsprojekt „Nationalsozialistische Herrschaftspraxis in der Steiermark. Herrschaft – Verfolgung – Widerstand – Alltag“. Das Projekt wurde gefördert von: Zukunftsfonds der Republik Österreich, Nationalfonds der Republik Österreich, Abteilung Wissenschaft und Forschung des Amtes der steiermärkischen Landesregierung, Kulturamt der Stadt Graz, Amt der Burgenländischen Landesregierung. Vgl. Nr. 910 der Beilagen der XX. Gesetzgebungsperiode. http://www.parlament.gv.at/PG/DE/XX/ I/I_00910/pmh.shtml (abgerufen am 10.1.2010).

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Jahren mit einzelnen Aspekten der NS-Herrschaft, mit Verfolgung und Widerstand sowie dem Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945 in der Steiermark beschäftigt haben.3 Dabei wird offensichtlich, welchen Bereichen in der Forschung Aufmerksamkeit geschenkt wurde und welche bislang nur am Rand bzw. gar nicht behandelt wurden. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass sich von den 49 Berichten der Österreichischen Historikerkommission kein einziger explizit mit der NS-Herrschaft in der Steiermark beschäftigt.4 Ein Befund, der auch dahin gehend erstaunlich ist, da es vor 1938 in Graz doch die neben Wien zweitgrößte jüdische Gemeinde Österreichs gab, deren Mitglieder systematisch entrechtet, beraubt, vertrieben und zum Teil ermordet wurden. Aber auch auf der Herrschafts- und Täterebene fehlen noch umfassende Studien. Versucht man die Ursachen dafür zu benennen, so erkennt man, dass sich die Erforschungsgeschichte in der Steiermark über weite Strecken mit den Entwicklungen im übrigen Österreich deckt, zugleich jedoch auch steirische Besonderheiten zu nennen sind. Letztere ergeben sich zunächst aus einer spezifischen Zusammensetzung der steirischen Landesgeschichtsschreibung nach 1945. Viele der handelnden Akteure im Bereich der Landesgeschichte waren bereits vor 1945 publizistisch tätig gewesen und nicht selten einer historistischen und nationalen Geschichtsschreibung verpflichtet.5 Eine kritische Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit war für sie daher nicht zentral und sie fokussierten in ihren Arbeiten vorrangig auf das Mittelalter und die Neuzeit. So findet sich beispielsweise in der Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark – einer der beiden zentralen historischen Zeitschriften der steirischen Landesgeschichtsschreibung – der erste Text, der sich mit der Zeit des Nationalsozialismus und deren Opfer beschäftigt, erst im Jahr 1971.6 Otto Rendi, Vorstandsmitglied der Israelitischen Kultusgemeinde für die Steiermark, Opfer des NS-Regimes und selbst 3

Aufgrund der verschiedenen disziplinären Zugänge zur Thematik gibt es auch Unterschiede im Umgang mit Begrifflichkeiten. 4 Vgl. http://www.historikerkommission.gv.at/ (abgerufen am 20.9.2011). 5 Einzelne steirische Landeshistoriker waren auch unmittelbar in das NS-Regime verstrickt und konnten relativ rasch nach 1945 wieder im Umfeld der Landesgeschichte publizistisch tätig werden. Zu nennen ist hier exemplarisch Manfred Straka, der in Jugoslawien wegen Kriegsverbrechen gesucht wurde, ab 1957 wieder in der Zeitschrift des Historischen Vereins publizierte und von 1963 bis 1979 auch Schriftleiter der Blätter für Heimatkunde war. Vgl. Gerhard Pferschy, Honorarprofessor OStR Dr. Manfred Straka, in: Blätter für Heimatkunde 63 (1989), 104. Dazu: Christian Promitzer, Täterwissenschaft: Das Südostdeutsche Institut in Graz, in: Mathias Beer/Gerhard Seewann (Hrsg.), Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches. Institutionen – Inhalte – Personen (Südosteuropäische Arbeiten 119), München 2004, 93–113. 6 Zu bemerken ist hier, dass bereits 1968 Friedrich Wilhelm Kosch einen Text zur jüdischen Geschichte von Graz bis 1914 verfasst hat. Vgl. Friedrich Wilhelm Kosch, Zur Geschichte der Grazer Juden 1848–1914, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 59 (1968), 33–43.

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kein ausgebildeter Historiker, verfasste 1971 und 1973 zwei Texte, die sich zum einen mit der jüdischen Geschichte von Graz7 und zum anderen mit dem Themenbereich der „Wiedergutmachung“ nach 1945 beschäftigen.8 Diese Texte aus der Feder eines „Außenseiters“ und selbst vom Terror betroffen Gewesenen bleiben denn auch lange Zeit eine Ausnahme. Denn die nächste einschlägige Aufsatzpublikation in der Zeitschrift des historischen Vereins erfolgt erst 1988 durch Joseph Desput.9 Ein ähnliches Bild ergibt sich für die Blätter für Heimatkunde, in denen der erste Text mit Bezug zur NS-Zeit 1976 von Günter Cerwinka publiziert wird. Cerwinka beschäftigt sich darin mit der Grazer Studienzeit von Ernst Kaltenbrunner, dem späteren Chef der Sicherheitspolizei und des SD sowie Leiter des Reichssicherheitshauptamtes.10 Die nächsten einschlägigen Beiträge in den Blättern für Heimatkunde folgten 1979 durch Dieter A. Binder11 und 1985 durch Siegfried Beer, Christoph H. Binder sowie Joseph F. Desput.12 Dieses Bild einer verspäteten historischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus zeigt sich schließlich auch am für die Grazer Stadtgeschichte repräsentativen Publikationsmedium, dem Historischen Jahrbuch der Stadt Graz. 1978 wird darin von Gerhard W. Salzer-Eibenstein die erste Studie zur „Arisierung“ in Graz publiziert.13 Konterkariert wird dieser Beitrag jedoch durch zwei weitere Texte im selben Band. So kann Maria Schaffler, als ehemalige Mitarbeiterin des Landesstatthalters, Gauhauptmanns und Gauwirtschaftsberaters in der Steiermark, Professor Armin Dadieu, in dessen politischen Zuständigkeitsbereich eine Zeit lang auch der Komplex der „Arisierung“ fiel, ihren persönlichen völlig unkritischen Nach-

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Otto Rendi, Zur Geschichte der Juden in Graz und in der Steiermark, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 62 (1971), 157–177. Otto Rendi, Wiedergutmachung an den in Österreich durch die Nationalsozialisten rassisch und politisch Verfolgten, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 64 (1973), 229–241. Joseph Franz Desput, Das Dritte Reich, Österreich und die Steiermark. Vortrag bei der Jahreshauptversammlung des Historischen Vereins für Steiermark am 10. März 1938, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 79 (1988), 5–25. Günter Cerwinka, Ernst Kaltenbrunner und Südtirol. Zur Gründung einer italienischen Studentengruppe im Jahre 1923 in Graz, in: Blätter für Heimatkunde 50 (1976), 173–177. Dieter A. Binder, Der Weg ins KZ. Am Beispiel Karl Maria Stepans, in: Blätter für Heimatkunde 53 (1979), 117–122. Siegfried Beer, Von der russischen zur britischen Besetzung der Steiermark. Berichte des amerikanischen Geheimdienstes OSS aus dem Jahre 1945, in: Blätter für Heimatkunde 59 (1985), 103–120; Christoph H. Binder, Viktor von Geramb und Max Mell. Aus ihrem Briefwechsel in den Jahren 1938 bis 1945, in: Blätter für Heimatkunde 59 (1985), 121–136; Joseph F. Desput, „Heraus aus der Katas­ trophe.“ Staatskanzler Dr. Karl Renner in Graz. Notizen zur Sitzung der provisorischen steirischen Landesregierung vom 20. Mai 1945, in: Blätter für Heimatkunde 59 (1985), 137–143. Gerhard W. Salzer-Eibenstein, Die Grazer Juden 1938, eine nationalsozialistische Bestandsaufnahme zum Zwecke ihrer „Arisierung“, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 10 (1978), 295–312.

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ruf publizieren.14 Zugleich werden auch Auszüge aus den Lebenserinnerungen von Armin Dadieu unkommentiert abgedruckt und es wird somit einem der führenden Nationalsozialisten in der Steiermark ein nachträgliches Forum geboten, seine Sicht der Ereignisse darzustellen.15 Neben der spezifischen Zusammensetzung der institutionalisierten steirischen Landesgeschichtsschreibung kann auch ein weiterer Punkt für die verspätete Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus in der Steiermark angeführt werden. Dieser liegt in der späten Etablierung des Faches Zeitgeschichte an der Universität Graz 1983/84 und ihrer vorrangigen thematischen Ausrichtung auf Außereuropa.16 Auch wenn für die universitäre Grazer Zeitgeschichte die Erforschung der NS-Zeit nicht im Zentrum stand, so entstanden doch ab Mitte der 1980er-Jahre im Umfeld des Instituts für Geschichte beziehungsweise allgemein an der Karl-Franzens-Universität vermehrt Arbeiten zur steirischen und österreichischen Zeitgeschichte mit einem Fokus auf die NS-Zeit und die Aufarbeitung dieser.17 Zu nennen ist in diesem Zusammenhang vor allem die Habilitationsschrift von Stefan Karner aus dem Jahr 1985, die sich neben der Vorgeschichte der nationalsozialistischen Machtübernahme vor allem mit der Germanisierung der Untersteiermark sowie der wirtschaftlichen Entwicklung der Steiermark beschäftigt, jedoch zentrale Aspekte der NS-Herrschaft unberücksichtigt lässt.18 Was die weitere Entwicklung der Geschichtsschreibung in der Steiermark zur NS-Zeit anlangt, so ist zu bemerken, dass sich diese in die allgemeine österreichische Wissenschaftsgeschichte einordnet. Der vergangenheitspolitische Wandel des Jahres 1986 weg von der „Opferthese“ hin zur „Mittäterthese“ war auch in der Steiermark von einer vermehrt kritischen geschichtswissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der NS-Zeit begleitet worden. Auffällig ist, dass es vor allem Jubiläen19 oder konkrete Ereignisse waren, die eine intensive Publikationstätigkeit 14 Schaffler verherrlicht darin völlig unkommentiert von den mitverantwortlichen Redakteuren des Jahrbuches das Tun von Dadieu. Maria Schaffler, Professor Dr.-Ing. Armin Dadieu, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 10 (1978), 314–317. 15 Armin Dadieu, Aus meinen Aufzeichnungen (1938–1945), in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 10 (1978), 323–341. 16 Vgl. dazu: Helmut Konrad, Die „Grazer Zeitgeschichte“. Eine sehr persönliche Annäherung, in: Helmut Konrad/Stefan Benedik (Hrsg.), Mapping Contemporary History II. 25 Jahre Zeitgeschichte an der Universität Graz, Wien–Köln–Weimar 2010, 12. 17 Zu betonen ist hier, dass wichtige Studien an der Theologischen Fakultät verfasst wurden. Unter anderem am Institut für Kirchengeschichte bei Maximilian Liebmann wie auch am Institut für kanonisches Recht, z. B. Oskar Veselsky, Bischof und Klerus der Diözese Seckau unter nationalsozialistischer Herrschaft (Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz 54), Graz 1979. 18 Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlichsozialen und kulturellen Entwicklung, Graz–Wien 1986. 19 Zeitlich etwas früher liegt die Publikation: Steirische Gesellschaft für Kulturpolitik (Hrsg.), Grenzfeste

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evozierten. So führten die Erinnerungsjahre an den „Anschluss“20 oder das Kriegsende21 wie auch die 1997/98 in Graz gezeigte „Wehrmachtsausstellung“22 zu zahlreichen Publikationen, die vielfach mit Ausstellungsprojekten verbunden waren. Die letzte23 Publikation in diesem Zusammenhang stellt der von den HerausgeberInnen dieses Bandes publizierte Begleitband zur 2008 im Grazer Stadtmuseum gezeigten Ausstellung „un/sichtbar. NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Steiermark“ dar.24 Neben den bislang genannten Publikationen entstand in den letzten Jahren eine Vielzahl von Einzelstudien am Institut für Geschichte, am Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte und am Institut für Österreichische Rechtsgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz sowie am Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung in Graz, die sich mit einzelnen Aspekten der Täter- und Herrschaftsgeschichte, des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sowie des Umgangs mit der NS-Herrschaft nach 1945 beschäftigten.25 Auch wenn somit seit den 1980er-Jahren zahlreiche Einzelstudien zur NS-Zeit in der Steiermark vorgelegt wurden, muss dennoch festgestellt werden, dass eine systematische Erforschung der NS-Zeit in der Steiermark noch aussteht. So taten die HerausgeberInnen

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deutscher Wissenschaft. Über Faschismus und Vergangenheitsbewältigung an der Universität Graz, Wien 1985. Dieser Band wurde als Gegenfestschrift zur weitgehend unkritischen Festschrift anlässlich der 400-Jahr-Feier der Universität Graz bzw. zur Anbringung einer von nationalen Korporationen gestifteten Gedenktafel, die „aller ihrer der Universität Angehörigen, die 1934–1955 Opfer politischer Willkür“ wurden, gedenken sollte, verfasst. Graz 1938. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988); Christian Brünner/Helmut Konrad (Hrsg.), Die Universität und 1938 (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 11), Wien–Köln 1989. Graz 1945. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25 (1994); Siegfried Beer (Hrsg.), Die „britische“ Steiermark (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 38), Graz 1995. Als Reaktion auf die in Graz im Dezember 1997 und Jänner 1998 gezeigte „Wehrmachtsausstellung“ wurde im Stadtmuseum Graz eine von Stefan Karner kuratierte „Gegenausstellung“ mit dazugehörigem Katalog (Stefan Karner, Graz in der NS-Zeit 1938–1945 [Veröffentlichungen des LudwigBoltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Sonderband 1], Graz 1999) gezeigt. Vgl. dazu Ulf Brunnbauer, „Ich will Ausstellungen, die Freude bereiten“, in: ders. (Hrsg.), Eiszeit der Erinnerung. Vom Vergessen der eigenen Schuld, Wien 1999, 14–30. In den letzten Jahren gab es immer wieder Ausstellungsprojekte, die sich einzelnen Aspekten der NS-Zeit widmeten, nicht jedoch die NS-Herrschaft als Ganzes im Fokus hatten. Zu nennen sind beispielsweise die Ausstellungen: „Moderne in dunkler Zeit. Widerstand, Verfolgung und Exil steirischer Künstler und Künstlerinnen 1933–1945“ in der Neuen Galerie Graz (März bis Juni 2001) und „Die Kunst der Anpassung. Steirische KünstlerInnen im Nationalsozialismus zwischen Tradition und Propaganda“, die von Juni 2010 bis Jänner 2011 im Grazer Stadtmuseum gezeigt wurde. Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, un/sichtbar. NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Steiermark, Graz 2008. Siehe dazu die in den jeweiligen Beiträgen genannten Arbeiten der Autorinnen und Autoren.

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dieses Bandes in einem Forschungsprojekt den ersten Schritt in Richtung systematischer Erforschung der NS-Zeit in der Steiermark. Neben dem genannten Begleitband zur Ausstellung „un/sichtbar“ ist der nun vorgelegte Band als Zwischenergebnis dieser Arbeit zu verstehen. Er dokumentiert einen Ist-Zustand der Forschung zur NS-Zeit in der Steiermark – er benennt damit jene Felder, die wir bereits besser kennen, zeigt aber auch klar die noch unbekannten Gebiete auf.

Positionen, Tendenzen, Defizite der NS-Forschung Wolfgang Benz

Anfänge der NS-Forschung Die NS-Forschung, aus der sich das Fach Zeitgeschichte entwickelte, ist mühsam in Gang gekommen, ehe sie Konjunktur hatte. Die mühsamen Anfänge sind mit dem Münchner Ins­ titut für Zeitgeschichte verbunden. Dort arbeiteten einige wenige Historiker, von der Zunft misstrauisch beäugt, bald nach dem Zusammenbruch des NS-Staats daran, ihn zu verstehen und zu begreifen. Die Dokumente der Nürnberger Prozesse bildeten den Grundstock an Quellen, aus denen Erkenntnisse gewonnen wurden. Die erste Nachkriegszeit war die Ära wichtiger Schriften der Zeugnisliteratur und mindestens zweier Bücher, die bis heute präsent geblieben sind: Eugen Kogons „Der SS-Staat“ ist das eine, „Das Diktat der Menschenverachtung“ von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (später unter dem Titel „Wissenschaft ohne Menschlichkeit“ bzw. „Medizin ohne Menschlichkeit“) das andere. Der Frühling der NS-Forschung war kurz. Die zweite Konjunkturphase lag in den 1950erJahren, sie war durch Professionalisierung (dafür steht die Gründung der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1953) einerseits und Ablehnung durch die an Universitäten etablierten Historiker andererseits charakterisiert. Die 1960er-Jahre wurden durch die Hakenkreuzschmierereien an Synagogen (Weihnachten 1959) eingeläutet. Das schärfte die öffentliche Aufmerksamkeit ebenso wie der EichmannProzess 1961 in Jerusalem, die Auschwitzprozesse in Frankfurt am Main und andere Verfahren gegen NS-Täter, die ermöglicht wurden durch die Tätigkeit der 1958 gegründeten Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Verfolgung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Zeitgeschichte etablierte sich inzwischen auch in der politischen Bildung, sogar die Universitäten nahmen die junge Disziplin allmählich zur Kenntnis. Im nächsten Konjunkturzyklus, der die 1970er-Jahre bestimmte, erreichte die „Hitlerwelle“ das Publikum: Bücher und Filme für eine breite Öffentlichkeit zeigten das Faszinosum Nationalsozialismus mit Biographien des Protagonisten Hitler. Zum Ereignis wurde im Januar 1979 die Ausstrahlung des FernsehDramas „Holocaust“, die entgegen der Befürchtung mancher Historiker neben der Betroffenheitswelle auch Aufklärungsbedürfnis zur Folge hatte. Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus teilte sich in der Folge in Stränge, die zunächst mehr oder minder parallel verliefen. Eine sich immer mehr ausdifferenzierende NS-Forschung bildete Subdisziplinen aus wie Holocaustforschung, Bürokratieforschung, Kollabo-

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rations- und Okkupationsforschung und viele weitere bis zur Provenienzforschung. Daneben verselbständigte sich der erinnerungspolitische Zugang zum Thema Nationalsozialismus und entwickelte eigene Formen der Arbeit in Gedenkstätten, Museen und ähnlichen Foren, auf denen die Themen didaktisch in der Verbindung von kognitiver Wissensvermittlung und emotionalem Zugriff dargestellt und nachvollzogen werden. Das hat viele positive Aspekte. Die Konjunktur der Denkmale und der Dokumentationszentren, der Gedenkstätten und Begegnungsforen, der Ausstellungen und Kongresse bietet jungen Historikern Wirkungsmöglichkeiten und der politischen Kultur das notwendige Rückgrat. Der alternde Historiker, der einst als junger Mann die Etablierung des Fachs Zeitgeschichte miterlebte, nimmt freilich auch staunend zur Kenntnis, dass es heutzutage möglich ist, mit einer Arbeit über den Vergleich von Gedenkstätten zum Holocaust zu promovieren, sozusagen im Fach „historische Erinnerungspraxis“, ohne eigene profunde Kenntnis über den Judenmord haben zu müssen. Zu beklagen ist auch das Auseinanderdriften von öffentlichem Interesse und dem professionellen Wirken des Historikers. Wir erleben es immer wieder, wenn mit großem medialem Aufwand Wallungen produziert werden, wenn steile Thesenbildung für Aufruhr sorgt oder Sensationen erzeugt werden, die im schlimmsten Fall gegenaufklärerisch wirken. Eine solche Katastrophe war das Buch Daniel Goldhagens, dem die Medien und ein betroffenes Publikum zu Füßen lagen, ohne Rücksicht auf die elende Qualität der Arbeit. Die Historiker, die dagegenhielten, sahen alt aus im Jubel der leicht zu Beeindruckenden. Das Buch kam dem weitverbreiteten Wunsch nach Synthese und Deutung, nach strukturellem Vergleich und philosophischer bzw. moralischer Durchdringung jenseits von Ereignisgeschichte und Positivismus entgegen. Unter Umständen ist es einfacher, diesem Bedürfnis zu entsprechen, als nach mühseligem Quellenstudium Thesen zu elaborieren und diese dann zu beweisen.1

Desiderata und Defizite der Forschung Forschung lebt von ihren Defiziten und ihren Desiderata. Wenn alles erforscht und abgehandelt wäre, würde das Thema Nationalsozialismus nur noch die Geschichtsdidaktik, die Politik für allfällige Gedenkveranstaltungen, die Medien als Unterhaltungsindustrie oder zur Erinnerungsmetaphorik angehen. Aber vieles ist noch ungeklärt und bedarf noch intensiver Forschung. An zwei exemplarischen Problemfeldern soll das verdeutlicht werden, am Beispiel der Mitgliedschaft in der NSDAP und am Repressionsapparat. 1

Johannes Heil/Rainer Erb (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit. Der Streit um Daniel J. Goldhagen, Frankfurt am Main 1998.

Positionen, Tendenzen, Defizite in der NS-Forschung

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1. Als im Juli 2007 bekannt wurde, dass zwei große deutsche Schriftsteller, Siegfried Lenz und Martin Walser, als Mitglieder der NSDAP registriert waren, ebenso wie der Kabarettist Dieter Hildebrandt, entbrannte die Diskussion aufs Neue, die einige Jahre zuvor begonnen hatte, nachdem bekannt geworden war, dass dies u. a. auch für den Rhetorikprofessor Walter Jens und für Martin Broszat galt, den Historiker, der Verdienste wie kaum ein anderer um die Erforschung des Nationalsozialismus hatte. Broszat ist 1989 gestorben und konnte nicht mehr Stellung nehmen zu der Frage, die seither mit Leidenschaft, aber nicht immer mit ebensolcher Sachkenntnis diskutiert wird: Konnte man ohne eigenes Zutun, ja gegen eigenes Wissen und bessere Überzeugung in die Hitlerpartei geraten? Lenz, Hildebrandt und Walser beteuern energisch, sie hätten nie einen Antrag auf Mitgliedschaft unterschrieben. Rolf Hochhuth kam zu Hilfe, zeterte, die Deutschen seien eben immer noch eine „Nation der Denunzianten“ und mutmaßte, junge Menschen hätten in der NS-Zeit keine andere Wahl gehabt als sich rekrutieren zu lassen, zur Wehrmacht, zur SS oder zur NSDAP. Zu klären bleibt allerdings – und dies ist ein Problem der Wissenschaft und keines der Moral –, welche Aufnahmeprozeduren für die NSDAP galten. Dazu sind jetzt in einem Sammelband2 die zentralen Aspekte dieses schwierigen Themas, das noch weitgehend unerforscht ist, dargelegt. Insbesondere war zu klären, ob es eine automatische Überführung von HJMitgliedern in die NSDAP gegeben hat und wie der Aufnahmestopp von 1933 tatsächlich funktionierte. 2. Zum Wesen nationalsozialistischer Herrschaft gehört das System des Terrors, das in der Regie der SS ganz Europa mit einem Netz von Konzentrationslagern überzog, das von der britischen Kanalinsel Alderney bis zur Sowjetunion, vom Baltikum bis nach Griechenland reichte. Insgesamt existierten 24 Hauptlager mit etwa 1.000 Außenlagern. Der Ausdruck „KZ“ ist eine der Metaphern des Schreckens, mit denen die nationalsozialistische Diktatur ihren universalen Verfügungsanspruch über das Individuum – von dessen Demütigung bis zu seiner Vernichtung – durchsetzte. Kaum einen Ort im deutschen Herrschaftsbereich gab es schließlich, an dem nicht ein Lager existierte, das Bestandteil des KZ-Systems war oder doch, unter Bezeichnungen wie Arbeitserziehungslager, Sonderlager, Polizeihaftlager, Zwangsarbeiterlager, Jugendschutzlager, Ghetto, ganz ähnliche Funktionen erfüllt und die gleichen katastrophalen Haftbedingungen geboten hat. Die Landschaft der Lager, die zur Unterdrückung, Misshandlung, Ausbeutung, Vernichtung von Menschen entstand, ist unübersehbar. Als politisch Andersdenkende oder ent2

Wolfgang Benz (Hrsg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt am Main 2009.

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schiedene Christen, als Kritiker des Regimes, als Opfer der Rassenideologie, als Mitglieder gesellschaftlicher Randgruppen oder unangepasster religiöser, kultureller, politischer Minderheiten, als Widerstandskämpfer, als Eliten unterworfener Völker, als Kriegsgefangene der Roten Armee, als Arbeitssklaven wurden Menschen in nationalsozialistischen Lagern ihres Lebensglücks und ihrer Gesundheit, ihrer Arbeitskraft und schließlich oft der physischen Existenz beraubt. Die Spuren vieler Orte dieser Lager sind getilgt, damit sind sie auch aus der Erinnerung verdrängt und ihre Existenz ist vergessen. Die Namen einiger großer Konzentrationslager – Auschwitz, Dachau, Mauthausen, Bergen-Belsen, Sachsenhausen oder Buchenwald – wurden zum Synonym des Staatsterrors, viele sind aber nach der Beseitigung ihrer Spuren in der Nachkriegszeit aus dem kulturellen Gedächtnis verschwunden. Die historische Forschung hat sich des leidigen Themas erst spät angenommen. Lange blieb die Historiographie der Verfolgung im Konzentrationslager ganz den ehemaligen Häftlingen überlassen. Eine Form lokaler Abwehr besteht immer noch darin, dass Außenlager eines KZ, wenn noch vage Kenntnis von ihnen besteht, marginalisiert werden. Mit der Bemerkung, es sei doch nur ein „Arbeitslager“ gewesen und keinesfalls ein KZ, versuchen Honoratioren und Bürger, die die Realität nicht wahrhaben wollen, die Existenz eines Gliedes des KZ-Systems in ihrem Heimatort zu negieren. Wobei die Realität eines „Arbeitslagers“, je nachdem, welchen Typus es verkörperte, hinter den Bedingungen eines KZ an Unmenschlichkeit gar nicht zurückstand. Von den ersten Konzentrationslagern, die im Frühjahr 1933, unmittelbar nach der Machtübertragung an die Koalition von Konservativen und Nationalsozialisten unter Führung Hitlers, im ganzen Deutschen Reich entstanden und die mit Ausnahme Dachaus bald wieder verschwunden waren, spannt sich ein weiter Bogen bis zu den Vernichtungslagern des Holocaust. Zur Welt der nationalsozialistischen Zwangslager gehörten außerdem die 200 „Arbeitserziehungslager“, in denen mehrheitlich ausländische Arbeiter inhaftiert waren, ebenso wie die Ghettos auf polnischem und sowjetischem Boden, in denen Arbeitskraft ausgebeutet wurde, um die Sklaven dann „zu vernichten“. Die „Russenlager“, in denen Kriegsgefangene in Gewahrsam genommen und unter Verantwortung der Wehrmacht ermordet wurden, waren ein Instrument vernichtender Rassenpolitik, die „Zigeunerlager“ ein anderes. Während die Strukturen des KZ-Systems gut erforscht sind,3 enthält die Topographie der Konzentrationslager noch viele weiße Flecken. Für manche großen Lager gibt es noch gar keine Monographie, über viele Außenlager sind die Informationen spärlich und weit ver3

Vgl. Karin Orth, Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Eine politische Organisationsgeschichte, Hamburg 1999; Johannes Tuchel, Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934–1938, Boppard 1991; Klaus Drobisch/ Günther Wieland, System der NS-Konzentrationslager 1933–1939, Berlin 1993.

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streut. Seit 1942 war die Zahl der Außenlager und Außenkommandos vor allem an Standorten der Rüstungsindustrie sprunghaft angestiegen; die Filialen der großen KZ überzogen Deutschland und das besetzte Europa als flächendeckendes Netz. Die zu Sklaven gemachten Häftlinge wurden in der Flugzeugindustrie, bei der Montage von Raketen, bei der Verlegung der Produktion in unterirdische Fertigungsstätten, in Waffen- und Munitionsfabriken und bei deren Zulieferern, in Ausrüstungsbetrieben, in Uniformschneidereien, in der Fertigung von Soldatenstiefeln und vielen anderen Bereichen eingesetzt. Sie verrichteten Zwangsarbeit für die Großindustrie, den gewerblichen Mittelstand, für Forschungsinstitute, in der Landwirtschaft, für kommunale Behörden, für die Reichsbahn, in staatlichen Einrichtungen und in SS-eigenen Betrieben. Mit dem Forschungs- und Publikationsprojekt „Der Ort des Terrors“ wurde eine Gesamtgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager in Angriff genommen, die überfällig war. Der neunte und letzte Band bietet eine erste Übersicht über die Zwangslager, die formal keine Konzentrationslager waren, deren Haftbedingungen sich aber allenfalls graduell von denen eines KZ unterschieden: „Arbeitserziehungslager“, „Durchgangslager“, Ghettos, „Sonderlager“ (wie z. B. für die ungarischen Juden) oder die Lager der „Organisation Schmelt“ in Schlesien, „Erweiterte Polizeigefängnisse“ oder „Polizeihaftlager“, „Jugendschutzlager“, Zwangsarbeitslager, „Zigeunerlager“.4 Es gibt also trotz jahrzehntelanger Anstrengung der Historiker noch weiße Flecken. Das gilt auch für Biographien der Protagonisten des Regimes wie Hermann Göring oder auch Martin Bormann, den meist unterschätzten, wie den vielleicht überschätzten und dämonisierten Reinhard Heydrich.

Tendenzen Die „Täterforschung“5 steht seit einiger Zeit auf der Agenda, ohne dass bislang von einer „Opferforschung“ die Rede gewesen wäre. Im Gegenteil, es wurde eines Tages Mode, die erste Generation der Zeitgeschichtsforschung, etwa Martin Broszat als prominenten Vertreter, anzuklagen, es habe an Interesse und Empathie für die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung gefehlt.6 Das Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, unglücklich formu4 5 6

Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, München 2005–2009, 9 Bände. Siehe dazu Peter Longerich, Tendenzen und Perspektiven der Täterforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14–15 (2007), 3–7. Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003.

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liert, oft missverstanden und gern auch instrumentalisiert in einem Sinn, den Broszat nicht intendiert hatte, deutete das Bestreben an, Geschichte – auch belastete Geschichte – rational zu fassen und sich von Emotionen energisch zu distanzieren.7 Das kam etwa im Verdikt der TV-Serie Holocaust durch Historiker zum Ausdruck, die ihren Gegenstand in einem Meer von Gefühlen versinken sahen. Aber gerade die kühle Distanz zum Verbrechen ist notwendig, wenn man es erklären und seine Motive verstehen will, das muss jedoch nicht mit der Verweigerung des schuldigen Respekts vor den Opfern einhergehen. Und Holocaustforschung muss, im Bewusstsein der Erst- und Einmaligkeit des Judenmords, in eine vergleichende Genozidforschung einmünden. Wenn Hans Mommsen für eine ebenfalls vergleichende Forschung plädiert, die den längst unfruchtbaren Gegensatz von Intentionalisten und Funktionalisten überwindet, weist er nur in die richtige Richtung.8 Die Polarisierung von ideengeschichtlichen und strukturalistischen Ansätzen scheint auch überwunden und der Verweis auf die „kumulative“ Radikalisierung ist so notwendig wie der Einbezug der ideologischen Prämissen. Der Völkermord hatte den Antisemitismus ebenso zur Voraussetzung wie die Bürokratie und den Herrschaftsapparat. Hinsichtlich der Tendenzen und Prognosen zum Stand der Wissenschaft soll es mit diesen knappen Andeutungen sein Bewenden haben.

Die öffentliche Bedeutung der NS-Forschung und ihre ­g esellschaftliche Dimension NS-Forschung ist längst eine Sache von großer öffentlicher Bedeutung. Wie betrifft die unglückselige Vergangenheit, das böse Erbe die Nachlebenden, die Folgegenerationen? Ein wichtiger Forschungsgegenstand ist die Frage, was wussten die Deutschen (und die Österreicher, die damaligen „Ostmärker“) von den Verbrechen des NS-Regimes? Das Thema ist nicht nur für die allmählich verstummenden Mitlebenden, für die Generation, die die Jahre der Diktatur selbst erfuhr und freiwillig oder gegen ihren Willen mitgestaltete, emotional brisant. Die Lebenslüge der ersten Generation hielt sich zäh, nach der man nichts gewusst habe, nichts wissen konnte und nichts wissen durfte. Dass man vor allem anderen nichts wissen wollte von den Untaten des Regimes, von Konzentrationslagern, Deportation und Judenmord ist aber längst evident und eindrucksvoll belegt in den Büchern von Peter Longe7 8

Martin Broszat, Plädoyer für eine „Historisierung“ des Nationalsozialismus, in: Merkur 37 (1985), 379–385. Hans Mommsen, Forschungskontroversen zum Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14–15 (2007), 14–20.

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rich, Bernward Dörner und anderen.9 Der Erfolg der sozialpsychologischen Untersuchungen Harald Welzers war enorm und der Titel „Opa war kein Nazi“10 wurde zur Metapher für das neue Interesse der Nachgeborenen am Nationalsozialismus. Dazu gibt es aus biographischem und autobiographischem Ansatz eine Linie, die verfolgt werden soll, weil am Problem der „Täterkinder“ eine Dimension des Problems Nationalsozialismus verdeutlicht werden kann, die in die Gegenwart und weiter in die Zukunft reicht.

Täterkinder: Familiengeschichten Zur Erfahrung einer Generation – es sind die heute über 60-Jährigen, die in den letzten Jahren des „Dritten Reiches“ und danach geboren sind – gehört es, dass ihre Eltern das Gespräch über ein Thema verweigerten: den Nationalsozialismus. Nicht dass sie alle Täter (im kriminellen oder moralischen Sinne) gewesen wären. Davon kann keine Rede sein. Die meisten Väter waren im Krieg gewesen, ganz egal, ob sie Nazis waren oder nicht. Auch Witwen von Widerstandskämpfern haben geschwiegen11 und es den Kindern und Enkeln überlassen, Wege aus dem Schweigen zu suchen, durch Faktenstudium, durch Psychotherapie, durch Reflexion oder auch durch anhaltende Verweigerung. Die Mütter waren von den unendlichen Sorgen des Alltags der Kriegs- und der Nachkriegszeit absorbiert und sie behaupteten, auch wenn ihnen bei den Reden des „Führers“ oder bei seinem Anblick gar Schauer der Ehrfurcht, der Hingabe, der Ergriffenheit über den Rücken gelaufen waren, vor 1945 wie nach dem Zusammenbruch des Hitler-Reichs, an Politik seien sie nicht interessiert gewesen und auch weiterhin nicht interessiert, das sei ja schließlich Sache der Männer. Und diese waren entweder in der „inneren Emigration“ gewesen, hatten Hitler und die Nazis schon immer abgelehnt und verachtet, waren insgeheim auf der Seite des Widerstands engagiert und hatten das Ende des nationalsozialistischen Regimes lange herbeigesehnt. Das berührte ihre Überzeugung nicht, dass man dem Vaterland bis zum Äußersten dienen müsse, auch wenn Verbrecher an der Regierung waren. Und deshalb hatten sie zur Verteidigung des NS-Regimes bis zuletzt ihre patriotische Pflicht getan. Die Täter, diejenigen also, die sich durch kriminelle Handlungen im Namen national9

Frank Bajohr/Dieter Pohl, Der Holocaust als offenes Geheimnis. Die Deutschen, die NS-Führung und die Alliierten, München 2006; Peter Longerich, „Davon haben wir nichts gewußt!“ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945, München 2006; Bernward Dörner, Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte, Berlin 2007. 10 Harald Welzer/Sabine Moller/Karoline Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002. 11 Vgl. Wibke Bruhns, Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie, Berlin 2004, 11.

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sozialistischer Ideologie und Herrschaft schuldig gemacht hatten, sahen sich am wenigsten veranlasst, über ihr Tun im „Dritten Reich“ zu reden. Wenn sie sich nicht durch Flucht der Verantwortung entziehen konnten, so trachteten sie danach, verborgen zu bleiben, versteckten sich, wechselten die Identität oder hofften dank des geringen Verfolgungseifers der Justiz – die damit nur das mangelnde Interesse der Gesellschaft an der Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen spiegelte – unerkannt und unbehelligt zu bleiben. Auch die anderen, die an den Nationalsozialismus geglaubt hatten – als „Parteigenossen“, aus Überzeugung, aus Opportunismus, aus Feigheit – und die das Regime aktiv unterstützt hatten, schwiegen nach 1945. Sie machten sich und andere glauben, ihr Idealismus, der sie zu Hitler geführt habe, sei missbraucht worden, sie hätten immer nur das Gute gewollt, von den Verbrechen des Regimes nie etwas gewusst, und sie fühlten sich betrogen. Damit gab es nur noch Opfer. Ende der 60er-Jahre begann das Eis der kollektiven Abwehr in Westdeutschland ein wenig zu schmelzen. Das war wesentlich dem Protest einer neuen Generation gegen das Schweigen der Väter zu danken. Auf den Fahnen der Studentenrevolution stand auch die Frage nach dem Verhalten der Eltern im Nationalsozialismus. Aber geantwortet haben sie nicht. Es brauchte wohl den größeren Abstand zu den Enkeln. Claudia Brunner und Uwe von Seltmann aus der Enkelgeneration haben sich auf Spurensuche begeben, aus ganz privaten Motiven, weil sie unter der Last familiären Verbundenseins mit dem Nationalsozialismus leiden. Lothar von Seltmann, der Großvater, war im Stab des SS- und Polizeiführers Lublin an „volkspolitischen Maßnahmen“ in Galizien beteiligt, er war Mitarbeiter der Volksdeutschen Mittelstelle gewesen und hatte Propaganda für „Umsiedlungsaktionen“ gemacht, war schließlich in der Waffen-SS an der Niederschlagung des jüdischen Aufstands in Warschau beteiligt. Ein Täter, der irgendwo verschollen ist, über dessen Verstrickung und Anteil an national­ sozialistischen Verbrechen die Angehörigen nichts wissen wollten und nicht sprechen konnten. Kein NS-Verbrecher, dessen Namen man kennt, aber einer der vielen, ohne deren Gesinnung und Eifer das System des Nationalsozialismus, die Besetzung fremden Territoriums, die Versklavung und Vernichtung nicht funktioniert hätte. Alois Brunner gehört zu den Berüchtigten, die man im Lexikon des Holocaust nachschlagen kann. 1912 geboren, frühzeitig Mitglied der österreichischen NSDAP, dann enger Mitarbeiter Adolf Eichmanns bei der Deportation von Juden aus Mähren und Wien, schließlich maßgeblich am Transport der Juden aus Griechenland, aus Frankreich, aus der Slowakei in die Vernichtungslager beteiligt: Einer der meistgesuchten NS-Verbrecher, dem es nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ gelang, unterzutauchen und in Syrien Asyl zu finden. Claudia Brunner ist die Großnichte des verschollenen Täters. Auch sie durchbricht das Schweigen um das Familienmitglied und protokolliert die Erfahrung auf der Suche nach der schrecklichen Wahrheit. Die Texte von Claudia Brunner und Uwe von Seltmann sind sehr

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persönliche Zeugnisse der Trauer und des Betroffenseins, der Suche nach Vergewisserung und Identität in der Folge der Generationen. Die Aufzeichnungen sind zugleich als Dokumente der Spurensuche wichtige Quellen für eine noch ausstehende Mentalitätsgeschichte des ­Nationalsozialismus und seiner lang anhaltenden Folgen und Wirkungen.12 Niemand kann etwas dafür, dass der Vater oder die Mutter Protagonist des „Dritten ­Reiches“ oder fanatische Nationalsozialistin war, und keinem Menschen ist es verwehrt, sich öffentlich mit seinen Eltern auseinanderzusetzen, seinen je persönlichen Generationenkonflikt auszutragen. Im Rückblick auf das „Dritte Reich“ und seine Verbrechen kommt aber als weitere Dimension die Aufklärung über ein zentrales Feld deutscher Geschichte ins Spiel. Nationalsozialismus war eine öffentliche Sache, an deren Folgen wir zum Teil noch heute leiden, und deshalb muss für die Erinnerung und Aufarbeitung des Nationalsozialismus durch Kinder und Enkel von Tätern ein besonderer Maßstab gelten. Ist es Voyeurismus, wenn man sich mit seinem Vater und mit seiner Mutter auseinandersetzt und seinen Hass gegen die berechnende, korrupte, skrupellose Nazisse, die die Mutter war, öffentlich thematisiert? Das ist die Causa Niklas Frank. Kann man aus der familiären Perspektive etwas lernen, etwa durch die sehr behutsame und zurückgenommene Auseinandersetzung mit dem unbekannten Vater, wie Richard von Schirach sie versucht? Eine ganz andere Herangehensweise benutzt Katrin Himmler, die Großnichte des Mörders, die sich mit ihrem Großvater und dem Großonkel Heinrich Himmler, dem Reichsführer-SS, mit erklärtem aufklärerischen Anspruch auseinandersetzt. Sie versucht das betont professionell als Politologin, obwohl sich in ihre Arbeit die familiäre Betroffenheit mischt und damit als Stilmittel eingesetzt wird. Am meisten Furore machte vor Jahren Niklas Frank mit seinem Buch „Der Vater“, der Kampfschrift eines Verstörten, der provozieren wollte.13 Im zweiten Anlauf hat er sich die Mutter, die Gattin des einstigen Reichsministers Hans Frank, der es vom Rechtsanwalt Hitlers zum Generalgouverneur des okkupierten Polen gebracht hatte, vorgenommen. Die Lebensbeschreibung der Maria Brigitte Frank geb. Herbst (1895–1959) ist noch peinlicher als das Verdikt über den Vater. Wenn man schon auf der ersten Seite des Buches „Meine deutsche Mutter“ von Niklas Frank14 erfährt, wie sie zu urinieren pflegte, ist man angewidert und legt das Buch bald aus der Hand, denn die Skepsis ob der Erwartungen, die hier bedient werden, bestätigt sich rasch. Das Buch ist ein weiterer Versuch, das „Dritte Reich“ als Faszinosum, die führenden Verbrecher und ihren Anhang als hoch interessante Personen (interessant wegen ihrer abartigen Leidenschaften, bösartigen Obsessionen, obszönen Gewohnheiten) darzubie12 Claudia Brunner/Uwe von Seltmann, Schweigen die Täter reden die Enkel, Frankfurt am Main 2005. 13 Niklas Frank, Der Vater. Eine Abrechnung, München 1987. 14 Niklas Frank, Meine deutsche Mutter, München 2005.

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ten. Eine Art Hofberichterstattung aus der Kammerzwerg-Perspektive. Wen solches interessiert, der hat mit Aufklärung nichts im Sinn und die für den Verlag und den Autoren erfreulichen Absatzmeldungen des Buchhandels sind keine Argumente dagegen. Die Gefahr – das zeigen die Abrechnungen von Niklas Frank mit Vater und Mutter – bei solcher familiärer Auseinandersetzung mit einst prominenten Nationalsozialisten ist groß, dass die Protagonisten auf ihre menschlichen Schwächen reduziert werden und das „Dritte Reich“ mithin als eine Serie von menschlichen Unzulänglichkeiten und Tragödien erscheint. Das Wagnis der Kinder, die sich als Autoren den Vater als NS-Täter oder die Mutter als Gegenstand wählen, besteht darin (wenn nicht Hass die Triebfeder ist, der freilich die Auseinandersetzung ebenso verhindert wie apologetisches Streben), dass sie sich mit der Geschichte auseinandersetzen müssen, die von Historikern professionell erforscht und dargestellt ist, die aber im familiären Kontext kaum in allen nötigen Facetten rezipiert werden kann. Die Kompetenz des Sohnes oder der Tochter reicht, wenn es um den historischen Kontext geht, nicht weit. Das Ergebnis ist dann banal oder ohne Absicht exkulpatorisch wie bei Margret Nissen,15 der Tochter Albert Speers, oder blindwütig vernichtend wie bei Niklas Frank. Die Verbrechen, wegen der mit den Vätern gehadert wird oder für die sie entschuldigt werden sollen, sind, wie die Laster und Torheiten der Frau Frank, persönliche Schmach. Darüber die Geschichte des Nationalsozialismus zu individualisieren, ohne Ideologie, Herrschaftssystem, Terrorapparat in den Blick zu nehmen, ist verfehltes Bemühen: Es geht Niklas Frank um Persönlichkeit und Charakter des Generalgouverneurs Hans Frank und dessen Ehe, um Misse­ taten und Sexualität der Eltern, nicht um das Schicksal der Polen, die nationalsozialistischer Herrschaft unterworfen waren. Die komplizierte Rolle des Generalgouverneurs zwischen SS, Hitler, der nationalsozialistischen Ideologie und dem Administrations- und Okkupationsapparat darzustellen, brächte Erkenntnis über das Wesen des Nationalsozialismus, nicht aber die Schilderung eines Grobians und seiner vulgären Frau in unendlichen Kaskaden hasserfüllter Beschimpfung. Solche Betrachtung taugt allenfalls als Stoff für Psychotherapeuten, aber nicht zur Aufklärung über nationalsozialistische Ideologie und Herrschaft, denn die Person des einen oder anderen Akteurs (dass etwa Frank in ganz ungewöhnlicher Weise korrupt war) erklärt nicht viel über das Phänomen Nationalsozialismus und die Wut des 1939 geborenen Sohnes über den 1946 hingerichteten Vater. Sie ist Privatsache und diese zur öffentlichen Angelegenheit zu machen ist kein Verdienst. Albert Speer hat mit seinen sensationell erfolgreichen Erinnerungen die Lebenslüge der Generation der damals Mitlebenden bestätigt und gefestigt: Es sei nur eine kleine bösartige 15 Margret Nissen, Sind Sie die Tochter Speer?, München 2005.

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Clique von Verbrechern gewesen, denen das Schlimme am Nationalsozialismus anzulasten sei. Die anderen, die die Mehrheit bilden, waren Verführte. So sahen sie sich ja selbst, als Mitläufer, deren Idealismus missbraucht worden war, denen unmittelbar nach dem Zusammenbruch nationalsozialistischer Herrschaft die Augen aufgegangen waren und die erst nachträglich von den Verbrechen unter nationalsozialistischer Ideologie Kenntnis erhalten hatten. Als Buße verstanden diejenigen, die glaubten, die Vergangenheit bewältigt zu haben, die Entbehrungen der Nachkriegszeit, die Wiederaufbauleistungen, die Trümmerbeseitigung und die Zahlung von Reparationen und „Wiedergutmachungsleistungen“, den Verlust der deutschen Ostgebiete, Flucht und Vertreibung von Millionen Deutschen und auch den Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg. Diese Haltung wurde bestätigt durch das Auftreten Albert Speers, der elegant und eloquent, nachdenklich und distanziert seine Rolle in der engsten Umgebung Hitlers öffentlich zu reflektieren schien, die erwarteten Antworten in einem unendlichen Strom von Interviews gab und 1969 mit seinen Erinnerungen den bis dato größten Medienerfolg im Genre Nationalsozialismus erzielte. Speers Lesart der Geschichte blieb lange erfolgreich. Die Virtuosität seiner Selbstdarstellung hat er in unermüdlicher Anstrengung entwickelt und verfeinert. In Nürnberg vor dem Hauptkriegsverbrechertribunal hat er erkannt, wie wichtig es war, sich von den Kollegen auf der Anklagebank vorteilhaft zu unterscheiden; so gab er sich, alle überzeugend, als schuldig gewordener Unschuldiger, als reuiger Verführter. Nach 20 Jahren Haft trat er, seinen Marktwert erkennend und prominent unterstützt bei der Niederschrift seiner Erinnerungen, als Geläuterter vor sein Publikum. Daraus wie aus der Sachkompetenz des einstigen Akteurs leitete er den Anspruch ab zu erklären, wie es damals, im „Dritten Reich“, zugegangen sei. Vor allem aber wollte er dabei die eigene Rolle für die Nachwelt stilisieren. Das ist freilich das Bestreben aller Memoirenschreiber und muss ihm nicht besonders angekreidet werden, eher seinen publizistischen Helfern und denen, die sein Produkt vermarkteten.16 In Katrin Himmlers Buch mit dem überaus zutreffenden Untertitel „Eine deutsche Familiengeschichte“17 geht es um drei Brüder, um ihren Großvater Ernst Himmler, um ihren Großonkel Gebhard Himmler und ihren Großonkel Heinrich Himmler, den einstigen Reichsführer-SS, Herr über die deutsche Polizei und die Gestapo, die Konzentrationslager, 16 Zum Phänomen Speer vgl. Albert Speer, Erinnerungen 1969; ders., Spandauer Tagebücher, Frankfurt am Main 1975; Joachim Fest, Die unbeantwortbaren Fragen. Notizen über Gespräche mit Albert Speer zwischen Ende 1966 und 1981, Reinbek 2005; ders., Speer. Eine Biographie, Berlin 1999; Wolfgang Benz, Zuviel versprochen: Breloer hat Speers Mythos nicht entzaubert, in: Helgard Kramer (Hrsg.), NS-Täter aus interdisziplinärer Perspektive, München 2006, 135–142. 17 Katrin Himmler, Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte, Frankfurt am Main 2005.

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die Divisionen der Waffen-SS, die „Volkstumspolitik“ im Osten und bis in den Untergang hinein einer der treuesten Handlanger Hitlers. Es ist eine Familiengeschichte, recherchiert gegen die Familienerzählung, die zwar den Reichsführer-SS als Monster, als irregeleiteten Außenseiter verdammte, aber seinen älteren Bruder Gebhard, den Pädagogen und Techniker, zuletzt Abteilungsleiter im Reichserziehungsministerium, und den jüngeren Ernst, der beim Reichsrundfunk tätig war, nicht als fanatische Nationalsozialisten, die sie waren, sehen wollte. Noch einer gehörte zur Familie: der Schwager Richard Wendler, zuletzt Gouverneur des Distrikts Krakau und SS-Gruppenführer, der nach 1945 seine Unschuld beteuerte, Juden geholfen, aber weiter nichts gewusst haben wollte und der in den Beruf des Rechtsanwalts zurückkehrte, ohne wesentlich behelligt zu werden. Schwierigkeiten bei der Lektüre ergeben sich bei Katrin Himmlers Buch aus dem Genre und aus dem doppelten Anspruch der Autorin als Enkelin und als distanziert akribische Chronistin. So ist das Buch einerseits Familiengeschichte, aus der man viele Details über Heinrich Himmlers Privatleben, seine geheimgehaltene morganatische Ehe und sein zweites Familienleben erfährt, andererseits ist es eine Studie mit wissenschaftlichem Anspruch, bei der die Familie der Autorin als Quellenfundus in Anspruch genommen wird, ergänzt durch Studien in der gängigen Literatur. Zweifel an der wissenschaftlichen Kompetenz beschleichen aber den Leser, wenn terminologische und inhaltliche Schwächen sich häufen. Inzwischen gibt es, aus der Feder des Historikers Peter Longerich, die kompetente Biographie zu Heinrich Himmler. Der Vergleich zeigt die Möglichkeiten und Grenzen des familiären Zugangs gegenüber professioneller Historiographie.18 Mit seinem Film „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihm weiß“ gelang Malte Ludin 2005 das Porträt eines Täters, seines Vaters, der in der Familie als Schemen fortexistierte, ohne recht eigentlich Erinnerungsspuren hinterlassen zu haben.19 Hanns Elard Ludin, 1905 in Freiburg geboren, 1947 in Bratislava hingerichtet, hatte als Leutnant der Reichswehr Kontakte zur NSDAP­geknüpft, war deswegen verurteilt und entlassen worden, machte ab 1931 Karriere in der SA und wurde im Januar 1941 als Gesandter Statthalter Berlins im Satellitenstaat Slowakei. In dieser Funktion war er verantwortlich für die Deportation slowakischer Juden und für die Niederschlagung des Nationalaufstands. 1944 wurde er aus amerikanischer Gefangenschaft an die Tschechoslowakei ausgeliefert und nach einem mehrmonatigen Prozess zum Tode verurteilt. Das Schweigen, das Nichtwahrhabenwollen seiner Schuld, die Konflikte in der Familie über den Gatten, den Vater, die nicht ausgetragen werden können, zwischen den 18 Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008. 19 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß. Ein Dokumentarfilm von Malte Ludin, 85 Minuten, 2005.

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Geboten der Loyalität und dem Wunsch, die Wahrheit zu erfahren und zu ertragen, dokumentiert Malte Ludins Film in exemplarischer und überzeugender Weise.20 Eine Enkelin Hanns Ludins, Alexandra Senfft, die Nichte des Dokumentarfilmers, hat die lebenslange Qual ihrer Mutter, der ältesten Tochter Hanns Ludins, zum Gegenstand eines Buches gemacht. Mit quälender Akribie wird protokolliert, wie Erika, 1933 geboren, durch die heillose Sehnsucht nach dem Vater schwer beschädigt, ihr unstetes Leben bis zum tragischen Ende 1998 durchleidet. Die „deutsche Familiengeschichte“ ist so indiskret wie erhellend: drei Frauen in drei Generationen sind zeitlebens vom Nationalsozialismus stigmatisiert. Die älteste, die Frau des Täters, geht im Überlebenskampf, in der Wiederaufbauund Verdrängungsleistung ihrer Generation auf. Die Familiensaga macht den hingerichteten Gesandten Ludin zum „guten Nazi“, um mit der Erinnerung leben zu können. Die Tochter agiert selbstzerstörerisch und erst die Enkelin kann sich – gegen die stillschweigende Verabredung der Familie – mit der Last auseinandersetzen. „Fakt ist, dass wir mit der seelischen Auf­ arbeitung unserer Familiengeschichte, wenn überhaupt, erst zaghaft begonnen haben. 2007 sind sechzig Jahre vergangen, seit mein Großvater gehenkt wurde – fast ein Menschenleben. Wenn ich bedenke, wie sehr die Schuld von damals noch heute in uns, den Nachkommen, weiterwirkt – unbemerkt versteckt, verdeckt, verschwiegen –, dann sind diese Jahre keine Zeit. Keine Zeit oder nicht genutzte Zeit.“21 Nationalsozialismus, das sollte skizziert werden, ist als Forschungsfeld noch ebenso aktuell wie als Gegenstand des öffentlichen Interesses, das in die kollektive Erinnerung mündet. Die drei Ebenen bedingen einander. Forschung ist notwendig, um Mythen zu zerstören und Legenden nicht wuchern zu lassen. Das öffentliche Interesse ist sinnstiftend und bietet notwendige Resonanz,22 Erinnerung schließlich ist elementarer Bestandteil der politischen Kultur. 20 Im Booklet zur dvd (absolut Medien/arte Edition) deutet der Autor die Schwierigkeiten innerhalb der Familie an: „Ende 1998 stellte ich das noch rohe Projekt meinen Geschwistern vor. Ein Film über unseren Vater und über die Folgen seines Wirkens in der Familie? Ich stieß auf Ablehnung und Skepsis. Meine Schwester Barbel bezog entschieden Position dagegen: Ich sei weder kompetent noch objektiv und folge im Übrigen nur dem ‚Zeitgeist‘. Wenn schon, dann müsse ein Buch her, am besten von einem richtigen Historiker. Ihr Sohn wies sie darauf hin, im Film könne sie ihre Meinung über die ganze Geschichte endlich einmal kundtun. Barbel ließ sich nicht überzeugen. Vier Jahre vergingen, es schien, als würde nichts daraus. Mein Neffe Fabian, der mir später auch vor der Kamera die ‚Kummerkiste‘ auspacken half, machte derweil Stimmung für das Projekt. Ellen und Fedor, seine Eltern, blieben skeptisch, zeigten sich aber bereit. Meine Schwester Andrea verhielt sich abwartend, bis endlich Barbel doch bereit war, vor der Kamera zu sprechen.“ 21 Alexandra Senfft, Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte, Berlin 2007, 16. 22 Vgl. den anregenden Aufsatz Olaf Blaschke, Die „Hand am Puls der Forschung“. Konjunkturen der Zeitgeschichtsschreibung und ihre Verleger seit 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 57 (2009), 99–115.

Der Weg in den Abgrund Die gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen

Helmut Konrad

Österreichs Weg in den Abgrund, mit dem hier die Ausschaltung der Demokratie und die Errichtung der ständestaatlichen Diktatur gemeint ist, hat lange Vor- aber auch Wirkungsgeschichten. Beide zeitlichen Dimensionen erfordern zudem die Ausweitung des räumlichen Blicks über unser Land hinaus. Die Republik Österreich, genauer die Republik Deutsch-Österreich, wie sie bis Oktober 1919 hieß, war das Resultat des von der Habsburgermonarchie begonnenen und schließlich verlorenen Krieges. Dieser Erste Weltkrieg änderte Europa und die Welt grundlegend. Konnte man bis 1914 die Moderne1 als ein Projekt begreifen, das der positiven Weiterentwicklung der Gesellschaft zuzuordnen war, so hatte der Krieg die dunklen Seiten dieses Prozesses überdeutlich hervortreten lassen. Die Zukunftsgläubigkeit musste einer tiefen Verunsicherung Platz machen, die mit dem Donner der Granateneinschläge, mit der damals unbegreifbaren technisierten Gewalt und mit der Reduzierung der menschlichen Existenz auf die Funktion als eine Fortsetzung der Maschinen gewachsen war. In diesem Krieg zerbrach die alte Ordnung. Der Rest ist Österreich – so hieß es, als ringsum neue Staaten entstanden, deren Grenzen letztlich eher Ausdruck der aktuellen Machtverhältnisse als Verwirklichung des Friedensprogramms nach Präsident Wilsons 14 Punkten war. Dieser Reststaat startete seine unfreiwillige Existenz (so lautete der erste Beschluss der Nationalversammlung nach der Gründung einer demokratischen Republik gleich auf Selbstauflösung und Eingliederung in ein demokratisches Deutschland) mit gewaltigen Hypotheken.2 Wolfgang Maderthaner hat gemeinsam mit mir und einer Schar von fast 40 Autorinnen und Autoren diese Hypotheken nachgezeichnet.3 Der Staat war geographisch neu zu definie1

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Von 1993 bis 2005 konnten sich an der Universität Graz etwa 25 Forscherinnen und Forscher dem Thema „Moderne – Wien und Zentraleuropa um 1900“ widmen. Trotz einiger bemerkenswerter Ergebnisse, die vor allem dem Zusammenwirken der unterschiedlichsten Fächer (Geschichte, Germanistik, Soziologie, Philosophie, Kunstgeschichte, Musikwissenschaft) zu danken waren, steht eine allgemein akzeptierte Definition von „Moderne“ noch aus. Stenographisches Protokoll der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung der deutschen Abgeordneten, 21.10.1918. Helmut Konrad/Wolfgang Maderthaner (Hrsg.), … der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik. 2 Bde., Wien 2008.

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ren, ökonomisch zu redimensionieren, sozial zu stabilisieren, politisch auszuverhandeln und kulturell sichtbar zu machen. Es ist hier nicht der Raum, all diese Schritte nachzuzeichnen. Sie gelangen aber unterschiedlich gut. Als bleibende Verdienste sind hier die Verfassung von 1920 und die Sozialgesetzgebung der ersten Jahre zu nennen. Beides stellte Österreich trotz aller anderen Problemfelder in die erste Reihe der europäischen politischen Entwicklung. Auf ihnen konnte später auch die Zweite Republik aufsetzen und mit dieser Grundlage rasch Akzeptanz nach innen und nach außen finden. Es blieben aber große Problemfelder, die den Weg Österreichs in den Abgrund beschleunigten. So war die wirtschaftliche Lage bis auf einen ganz kurzen Zeitraum in der zweiten Hälfte der 20er-Jahre desaströs: die Versorgungslage am Ende des Krieges, die Hyperinflation4, die die kleinen Ersparnisse vernichtete, und schließlich als das menschlich dramatischste Element in der Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit. Jeder dritte industrielle Arbeitsplatz ging verloren, und die Hälfte der Arbeitslosen rutschte schließlich auch aus der Arbeitslosenversicherung mit den ohnedies geringen Auszahlungen in die Position von Ausgesteuerten. Bis heute ist der schlüssige Text dazu die Arbeit von Jahoda, Zeisel und Lazarsfeld über die Arbeitslosen von Marienthal5, da er auch die politischen und moralischen Konsequenzen zeigt. Dazu kam, dass Staat und Nation auch nicht annähernd deckungsgleich zu machen waren. Österreich war nach 1918 im Selbstverständnis deutsch und katholisch, alle anderen Gruppen waren Minoritäten. Deutsch zu sein bedeutete damals im Prinzip zweierlei: einerseits das gängige Verständnis, dass sich Nation über Sprache definiert; anderseits die selbstverständliche Annahme, Teil des deutschen Kulturraumes zu sein und daher die Verweigerung des „Anschlusses“ an Deutschland als Unrecht zu begreifen.6 Katholisch zu sein bedeutete, die evangelische Kirche zu marginalisieren und das Judentum als Gegner, ja sogar als Feind im Land zu sehen. Der Antisemitismus war somit das umfassende Feindbild, das

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Fritz Weber, Zusammenbruch, Inflation und Hyperinflation. Zur politischen Ökonomie der Geldentwertung in Österreich 1918 bis 1922, in: Konrad/Maderthaner, …der Rest ist Österreich, Bd. 2 (wie Anm. 3) 7. Maria Jahoda/Paul Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit, Leipzig 1933. Auch die gesamte intellektuelle Elite des Austromarxismus trug diese Position mit. Sprache war, speziell in Zentraleuropa, das anerkannte Merkmal für nationale Zugehörigkeit. Der Begriff der „Sprachnation“ war quer zu den politischen Gruppierungen common sense. Auch (oder vielleicht ganz besonders) die Sozialdemokratie und ihre Theoretiker der nationalen Frage (Otto Bauer, Karl Renner) machten hier keine Ausnahme. Siehe: Helmut Konrad (Hrsg.), Sozialdemokratie und „Anschluss“, Wien 1978.

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durch n ­ ationale Ausgrenzungen wie gegen die Slowenen in Kärnten oder aber regionale „Erbfeindschaften“ wie in Tirol gegen Italien wegen der Südtirollösung ergänzt wurde. Die Gesellschaft der Ersten Republik hat durch die Erfahrungen, die speziell die jungen Männer an den Fronten durchzumachen hatten, das Gewaltmonopol des Staates unterlaufen und physische Gewalt auch außerhalb der gesetzlichen Regelungen zurück auf die Tagesordnung gebracht. In den Schützengräben am Isonzo lagen, wie das Lutz Musner7 beschrieben hatte, auf der einen Seite Mussolini und jene Männer, die direkt aus der Front heraus die fasci di combattimento bildeten. Und auf der anderen Seite lag Major Fey, dessen Männer nach Kriegsende ihre Waffen nicht retournierten, da sie sich dem jungen Staat und dem „jüdischbolschewistischen“ Heeresminister8 nicht verpflichtet sahen. Sie bildeten die Heimwehren, die aus den lokalen Heimatwehren zu einer politischen Kampftruppe gegen das revolutionäre Potenzial im Staat zusammenwuchsen. Dass am Karst auch Rommel lag, sei am Rande angemerkt. Aber auch die Linke rüstete auf, der Republikanische Schutzbund war zwar etwas kleiner als die Heimwehren (am Höchststand waren das 80.000 zu 100.000 Mann), dafür aber straffer und einheitlicher organisiert. Da der Friedensvertrag nur ein Berufsheer mit 30.000 Mann erlaubte, übertrafen die Privatarmeen diese Truppenzahl um das Sechsfache. Gerhard Botz hat sich dem Thema der Gewalt in der Politik der Ersten Republik schon vor Jahren ausführlich gewidmet.9 Er zählt in der Zeit vom November 1918 bis zum 11. Februar 1934 nicht weniger als  215 Tote in politischen Konfrontationen auf Österreichs Straßen. Natürlich ragt hier der Justizpalastbrand hervor, aber Phasen ohne Opfer waren rar. Im Ständestaat (inklusive Februar 1934) folgten noch weitere 621 Tote durch politische Kontroversen. Rechnet man dies für den gesamten Zeitraum der Ersten Republik durch, die 7.060 Tage Lebensdauer hatte, so ergibt das ein Todesopfer nach jeweils 8,4 Tagen. Also praktisch fast jede Woche lag ein Toter auf Österreichs Straßen. Diese Gewaltbereitschaft ist als direkte Folge des Ersten Weltkrieges zu lesen. Der Krieg hatte die Menschen deformiert. Der Anblick von Toten, von Verstümmelten, von psychisch Beschädigten (die „Zitterer“ nennt sie Karl Kraus10) war alltäglich geworden, die Hemmschwellen sanken. Der Krieg hatte den Prozess der Zivilisation umgekehrt. Die Gesellschaft war in hohem Maß gewaltbereit, ein Verhaltensmuster, das durch die ökonomische Not, speziell in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, eine zusätzliche Verstärkung erfuhr. 7

Lutz Musner, Im Schatten von Verdun. Die Kultur des Krieges am Isonzo, in: Konrad/Maderthaner, …der Rest ist Österreich, Bd. 1 (wie Anm. 3) 45–64. 8 Julius Deutsch. 9 Gerhard Botz, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche. Unruhen in Österreich 1918–1938, 2. Aufl. München 1983. 10 Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog, Wien 1922.

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Und die politische Landschaft war tief gespalten. Die Trennlinie lief entlang der durch den Ersten Weltkrieg verschärften Disparitäten. Da gab es die Großstadt Wien, die noch immer Weltstadt war und mehr als ein Viertel der österreichischen Bevölkerung beherbergte. Die Sozialdemokratie herrschte hier mit absoluter Mehrheit und zog ein ehrgeiziges soziales Modernisierungsprogramm durch.11 Eine säkulare Gegenwelt entstand, in der Wohnen, Gesundheit, Schule und Kultur nach ganz anderen Regeln abliefen als am flachen Land. Dort dominierte die katholische Kirche, die auch offen Politik machte und ihr konservatives Weltbild zwangsverpflichtend über die Dörfer und Kleinstädte legte. Moderne versus Vormoderne, ländliches Leben versus Urbanität, Katholizismus versus Säkularisierung, das beschreibt die Trennlinie zwischen den beiden großen Lagern. Dass das sogenannte „Dritte Lager“, in dem sich der Liberalismus längst, d. h. schon Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, zugunsten eines Deutschnationalismus verabschiedet hatte, den Konservativen näher stand als der Linken, war trotz der Kirchenferne dieses Lagers in der Angst vor dem Marxismus begründet. Dessen demokratisch-austromarxistische Ausprägung wurde teilweise bewusst missverstanden und instrumentalisiert. Sozialdemokratie und Bolschewismus wurden gleichgestellt und gaben optimale Feindbilder ab, überhöht durch den Antisemitismus. Die Trennlinie von Moderne und Antimoderne ist allerdings in jenen Jahren nicht exakt entlang der politischen Gruppierungen zu ziehen. So gab es im bürgerlichen Milieu durchaus Offenheit gegenüber Inhalten und Formen der künstlerischen Moderne, während in Arbeiterkreisen konservative, vormoderne Ansichten zur Kunst vorherrschten. Im Arbeiterhaushalt meiner Großeltern hing etwa eine Reproduktion von Dürers Hasen, während in politisch konservativen Häusern wohl durchaus die Kunst des 20. Jahrhunderts zu finden gewesen sein wird. Und auch politisch war die Linke nicht davor gefeit, in Einzelbereichen der Moderne entgegenzusteuern. Versteht man unter politischer Moderne auch politische Partizipation, durchgesetzten Parlamentarismus und Verfassungskonformität der Entscheidungen,12 so sah auch die Sozialdemokratie vereinzelt die rasche Entscheidung von oben als gangbaren Weg an. Besonders deutlich wird dies in der Haltung gegenüber dem Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz,13 das Politikern aller Parteien der Ersten Republik als taugliches Instrument erschien und das daher auch in die Verfassung von 192014 übernommen wurde, ohne ei11

Zum „Roten Wien“ siehe die neueste Darstellung: Helmut Konrad, Das Rote Wien. Ein Konzept für eine moderne Großstadt?, in: Konrad/Maderthaner, … der Rest ist Österreich, Bd. 1 (wie Anm. 3) 223–240. 12 Siehe Anmerkung 1. 13 Reichsgesetzblatt, 307 vom 24. Juli 1917. Offiziell: „Gesetz vom 24. Juli 1917, mit welchem die Regierung ermächtigt wird, aus Anlass der durch den Kriegszustand verursachten außerordentlichen Verhältnisse die notwendigen Verfügungen auf wirtschaftlichem Gebiete zu treffen.“ 14 Klaus Berchtold, Verfassungsgeschichte der Republik Österreich, Wien 1998.

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nen Widerspruch von der Seite der Sozialdemokratie. Und auch die praktische Anwendung, etwa im Fall der Haftung der Verantwortlichen beim Zusammenbruch der Creditanstalt, wurde nicht beeinsprucht, da der Linken hier der Inhalt über die Form des Zustandekommens ging. So hatte also das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz durchaus auch eine Geschichte in der demokratischen Periode der Ersten Republik. Betrachtet man aber insgesamt Bruchlinien, so ist es eher als erstaunlich zu bezeichnen, dass das demokratische System immerhin anderthalb Jahrzehnte überleben konnte. Dies ist nicht nur der unzweifelhaft vorhandenen demokratischen Tradition zu danken, auch nicht nur der Verfassung oder den anderen Werten, die nach dem Krieg entstanden waren, wie etwa das Wahlrecht auch für Frauen. Es ist auch der Tatsache geschuldet, dass unser Land ökonomisch von den westlichen Demokratien abhängig war.15 1922 gelang die Sanierung über eine Völkerbundanleihe, und 1931 untersagte der internationale Gerichtshof die geplante Zollunion mit Deutschland, da dies als Aufweichung des Anschlussverbots gesehen wurde. Die Völkerbundanleihe von 1932 führte zur internationalen Kontrolle des österreichischen Staatshaushaltes und schrieb das Anschlussverbot auf weitere 20 Jahre fest. Es war notwendig, ein demokratisches System zu sein, um erfolgreich beim Völkerbund um eine Anleihe zu werben. Die Situation in den Nachbarstaaten war deutlich anders. Selbst in Ungarn, das bei Kriegsende die Revolution gewagt hatte, ein Experiment, das nicht zuletzt an der Haltung von Teilen der österreichischen Linken gescheitert war, die den Weg zu einem revolutionären Mitteleuropa von München bis Budapest nicht mitgehen konnten oder wollten, hatte die antidemokratische Rechte schon lange die Macht.16 Ganz Zentraleuropa, vom Baltikum bis an die Adria, war nach kurzen demokratischen Versuchen in autoritären Strukturen gelandet, nur die Tschechoslowakei und Österreich hielten an der Demokratie fest. In Prag war es erst der Druck von außen, der mit der Zerschlagung des Staates auch die demokratischen Strukturen beseitigte. In Österreich überwog bei diesem Schritt, den der Staat einige Jahre früher vollzog, die Innenpolitik als Motivationsfaktor. 1932 erreichten die Nationalsozialisten signifikante Erfolge bei Landtagswahlen, die in einigen Bundesländern stattfanden. Sie waren damit als dritte Großgruppe auf der politischen Landkarte Österreichs angekommen und hatten das ganze nationale und nationalliberale Lager aufgesogen. Zudem waren ihnen Einbrüche in Stammwählerschichten der Konservativen und der Sozialdemokraten gelungen. Damit war deutlich geworden, dass keines der drei Lager mehrheitsfähig war und sich parlamentarische Krisenlösungen zumindest kurzfristig nicht anboten. 15 Dies hat Hans Mommsen im November 2008 bei einer Konferenz in Wien mit Nachdruck betont. 16 Wolfgang Maderthaner, Die eigenartige Größe der Beschränkung. Österreichs Revolution im mitteleuropäischen Spannungsfeld, in: Konrad/Maderthaner, … der Rest ist Österreich, Bd. 1 (wie Anm. 3) 287–206.

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Es standen sich 1933/34 also drei politische Gruppierungen in einer politischen Pattsituation gegenüber: Die Nationalsozialisten, die nach Terroranschlägen verboten worden waren und nur illegal agieren konnten. Das christlich-konservative Lager unter Bundeskanzler Dollfuß, das als Regierungspartei auch Zugriff auf Heer und Exekutive hatte und dem die Heimwehren zuzuzählen waren. Und dann die Arbeiterbewegung, die spätestens seit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 in die Defensive geraten war. Betrachten wir die Arbeiterbewegung und ihre strukturellen Voraussetzungen für eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der Staatsmacht und den Heimwehren, so ist vieles widersprüchlicher, als es sowohl die Kritiker als auch Wahrer der sozialdemokratischen Tradition gerne zeichnen. Die österreichische Arbeiterbewegung, bis 1933 von der Sozialdemokratie und der ihr politisch verbundenen Freien Gewerkschaft praktisch alleine vertreten, gilt gemeinhin als homogene, zentralistisch geführte und ideologisch dem Austromarxismus verpflichtete Bewegung. Doch dieses Bild, geprägt durch das Rote Wien, täuscht. Es sind zumindest drei Grundrichtungen erkennbar, die auch den unterschiedlichen Verlauf der Februarkämpfe erklären helfen:17 a) In Wien war die Organisationsstruktur verfestigt, die Sozialdemokratie hatte ihre Mitglieder auch über materielle Werte der Partei verpflichtet. Das Informationsnetz war dicht, und der Austromarxismus drang durch breite Angebote der politischen Bildung weit an die Basis vor, jedenfalls weiter als es andere Parteien des Westens je schafften. Die Sozialdemokratie bot ein lebensweltliches Konzept mit großen Anreizen, was die Mitglieder politisch festigte, die Risikobereitschaft reduzierte und nur die Jüngeren nach Alternativen suchen ließ, als das Zögern der Parteiführung 1933 offenkundig geworden war. Die Sozialdemokratie in Wien hatte die Stadt umgestaltet, sie zur sozialdemokratischen Musterstadt gemacht. Es war also sehr viel zu verlieren. Dass die Parteiführung daher den Kampf, der militärisch nicht zu gewinnen war, scheute, ist ein konsequentes Verhaltensmuster. Allerdings ging die Schere immer weiter auf: gerade die Jungen, die innerhalb der Subkultur sozialisiert worden waren, waren bereit, den Verbalradikalismus des Austromarxismus wörtlich zu nehmen und Risiken zu tragen. So verlor die Sozialdemokratie in der Stadt die Jungen und die Intellektuellen an die vorerst meist frei schwebenden, später vorwiegend an die KPÖ angebundenen alternativen Gruppierungen.

17 Ein erster Versuch einer solchen Gliederung wurde von mir 2004 unternommen. Helmut Konrad, Der Februar 1934 im historischen Gedächtnis, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Themen der Zeitgeschichte und der Gegenwart. Arbeiterbewegung – NS-Herrschaft – Rechtsextremismus: ein Resümee aus Anlass des 60. Geburtstages von Wolfgang Neugebauer, Wien 2004.

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In der zentralistischen politischen Struktur der Stadt war der Faktor, dass die Führung der Partei nicht an der Spitze des Aufstandes stand, die Ursache für das relativ rasche Scheitern.

b) In den Industriegebieten der Steiermark, besonders in jenem der Schwerindustrie in der Mur-Mürz-Furche, war die Tradition eine gänzlich andere. Die Industrieansiedlungen waren mit einem ländlichen Umfeld konfrontiert, was die Subkulturen wechselseitig radikalisierte. Koloman Wallisch war in der ungarischen Revolution sozialisiert worden, hatte also schon eine tatsächliche politische Transformation mitgetragen. Teile der obersteirischen Arbeiter hatten 1919 ihre Betriebe sozialisiert und wurden von Otto Bauer nur mit Mühe überzeugt, diesen Schritt zurückzunehmen und sich im Rahmen der großkoalitionär ausgehandelten Ordnung zu halten. Die Obersteiermark hatte also ein radikales Potenzial, das sich gegen die zögerliche Haltung der Parteispitze auflehnte und aktionsbereiter war als Wien. In konsequenter Weise war hier der Wechsel zu den Kommunisten, die in der Illegalität praktisch den Alleinvertretungsanspruch innehatten, ein Massenphänomen. Das lässt sich statistisch für die Zeit von 1934 bis 1945 eindeutig erhärten. 90% aller Urteile, die die beiden Diktaturen gegen Widerstandskämpferinnen und -kämpfer fällten, betrafen Kommunisten. Von diesen waren wiederum vor 1933/34 90% Mitglieder der Sozialdemokratie gewesen. c) Ein ganz anderer Typ von Sozialdemokraten tritt uns in den damals weniger industrialisierten Bundesländern entgegen. Eher kleinbürgerlich, national sozialisiert, eine Art „Lehrersozialismus“, dem Antisemitismus zumindest nicht abhold. Die soziale, antiklerikale und deutschnationale Unterfütterung dieser Gruppe machte einerseits eine scharfe, auch aktionistisch-kämpferische Ablehnung des katholisch-konservativen Österreichs möglich, sie führte aber auch zu leichten Übergängen hin zum Nationalsozialismus, bei dem eine Weiterführung des Kampfes gegen den Ständestaat vermutet wurde. So wechselten in Oberösterreich ganze Gruppen des Republikanischen Schutzbundes zu den Nationalsozialisten, und Richard Bernaschek selbst ist an dieser Ideologie zumindest ganz deutlich angestreift.18 In Kärnten und Teilen der Steiermark fanden sich ehemalige Sozialdemokraten mit dieser Grundhaltung im 1934 erfolgten Juliputsch der Nationalsozialisten. Es steht natürlich außer Frage, dass dieser ausdifferenzierten Linken das konservative Lager nicht als monolithischer Block gegenüberstand. Nicht nur ist die Parteienlandschaft der Rechten und der rechten Mitte nicht homogen, auch die Heimwehren folgten oft Partikularinteressen, lokalen oder regionalen Führern. Dazu kam, dass das mangelnde Österreichbewusstsein einem umso massiveren und historisch gewachsenen Landesbewusstsein 18 Inez Kykal/Karl R. Stadler, Richard Bernaschek. Odyssee eines Rebellen, Wien 1976.

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gegenüberstand. Landespolitik und föderale konservative Politik waren daher nicht einfach als einheitliche konservative Front zu sehen, sondern es gab mühsam einzubindende Interessenlagen. Einig war man sich aber in der Distanz gegenüber dem Roten Wien und den „bolschewistischen“ Sozialdemokraten. Dabei zwangen die Landesverfassungen fast überall die Konservativen und die Linken in eine Koalition, eine Besonderheit der Landesverfassungen, die auch weit in die Zweite Republik hineinreicht. Die Kämpfe im Februar 1934 waren unter diesen Rahmenbedingungen für die Linke nicht zu gewinnen. Mehr noch, es kam ihnen, trotz der großen Zahl der Opfer, nicht die Rolle eines politisch-ideologischen Entscheidungskampfes zu, sondern vielmehr hatten sie für die Linke die Funktion, als internationale Ikone installiert zu werden. Ihr Symbolgehalt war und ist letztlich bedeutender als das nicht einmal unklar, sondern überhaupt nicht formulierte angestrebte Ziel. Dem verzweifelten Aufstand fehlte ein Programm, und zwar vollständig. Er war daher nicht ein Kampf mit offenem Ausgang, sondern nur ein Schritt der Selbstachtung. Damit wirkte er nach innen, in die Arbeiterbewegung selbst, die für die Zeit seither mit dem Februar 1934 starke Identifikationspunkte und Gedächtnisorte hat. Und er wirkte international, galt er doch als das erste Auftreten gegen die faschistischen Bewegungen in Europa, die mit dem Einsatz aller Mittel und mit dem Risiko der Auslöschung der individuellen und organisatorischen Existenz geführt wurde. Speziell im Gegensatz zu Deutschland wurde diese Erhebung in Österreich gelesen. Sie kam spät, zu spät, setzte aber ein Fanal. Das internationale Bild über die Februarkämpfe stützte sich auf mehrere durchaus widersprüchliche Wahrnehmungen. Da gab es vorerst die nicht gespaltene Linke. Der Alleinvertretungsanspruch einer linken Partei hatte die österreichische Sozialdemokratie in der Ersten Republik die Durchsetzungskraft in den Anfangsjahren und dann die Gestaltungskraft in der Metropole gebracht. Es gab keine Auseinandersetzungen in der Linken, die Frontstellung gegen die sogenannten „Anderen“ war deutlich. Aber dieses Monopol war spätestens ab 1933 gebrochen, als sich viele von der Sozialdemokratie ab- und den Kommunisten oder linken Splittergruppen zuwendeten. Allerdings wurde der Februaraufstand durchaus noch als gemeinsamer Kampf begriffen, wenn er auch letztlich die Absetzbewegung von der Sozialdemokratie beschleunigte. International war es der Kampf „der“ österreichischen Arbeiterbewegung gegen den Faschismus, der im Gegensatz zu Deutschland durch die Einheit möglich war. Tatsächlich konnten sich international die unterschiedlichsten Fraktionen auf die Februarkämpfe berufen. Das Bild der Seite an Seite kämpfenden Sozialdemokraten und Kommunisten „erregte […] die Fantasie und die Hoffnungen vieler linker und kommunistischer Schriftsteller, unter ihnen Friedrich Wolf, Brecht, Becker, Herzfelde und Otto Maria Graf“19, schrieb 19 Christiane Zehl Romero, Anna Seghers. Eine Biographie 1900–1947, Berlin 2000, 319.

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unlängst Christiane Zehl Romero. Besonders gilt dies für Anna Seghers und ihren Text „Der letzte Weg des Koloman Wallisch“20, eine Art reportagehafte Novelle, die wahrscheinlich auf Anregung von Willi Münzenberg verfasst wurde und sich somit in das Zwischenfeld von Sozialdemokratie und Kommunismus platzierte. Besonders auffällig ist dabei, wie sehr die Person Koloman Wallisch eine beinahe religiöse Überhöhung erfährt. Seghers beschreibt den Kreuzweg eines Mannes, der letztlich tatsächlich ein Märtyrer war. Die Verlängerung des Standrechtes, bis man Wallisch gefangen und zum Tode verurteilen konnte, seine Hinrichtung als ikonenhaftes Bild, auf dem ein grausames Regime eine Symbolfigur jenseits aller Spielregeln von Rechtsstaat und Justiz tötet, all das hat nicht nur via Seghers die Geschichte beeinflusst. Auch auf meinem Schreibtisch stand lange das nicht authentische Foto „Koloman Wallisch kurz vor seinem Tode“, das Wallisch an eine Mauer gelehnt zeigt. Für viele Jahre hatte es den Charakter einer starken Bezugsquelle, wohl nicht nur für mich, sondern für viele, die in der hagiographischen Traditionsbewahrung der Februarereignisse ihre politische Selbstdefinition fanden. Das Bataillon „12. Februar“ im Spanischen Bürgerkrieg schien symbolisch ebenfalls noch die internationale Einheit der Arbeiterklasse zu beschwören. In seinem Umfeld vollzog sich aber schon, neben dem Kampf gegen die spanischen Faschisten, der innere Konflikt. Hier brechen Bild und Realität weit auseinander. Allein die Wege, auf denen die Linke die Reise nach Spanien eingeschlagen hatte, präformierte das spätere Verhalten in den Konflikten innerhalb der Republikaner, deren Niederlage letztendlich auch in diesen inneren Konflikten seine Ursache hatte. Und viele der Spanienkämpfer verloren ihr Leben: entweder zurück im Moskauer Exil in den Mühlen der stalinistischen Terrorjustiz oder aber nach dem Ende des Bürgerkriegs in französischen Lagern und dann weiter in den Lagern des nationalsozialistischen Deutschlands. Die Wunden, die sich die Linke in Spanien gegenseitig zugefügt hat, sind auch Jahrzehnte später noch nicht verheilt. Die Wirkungsgeschichte des Februar 1934 wäre national und international unvollständig, würde man nicht auch die Seite der damaligen Sieger betrachten. Die Ständestaatsverfassung, am 1. Mai als zusätzliche Provokation verkündet, und die nunmehr völlig durchgesetzte vormoderne Politik auch in Wirtschafts- und Kulturfragen, die die Antwort auf die Krise in ausschließlich rückwärtsgewandten Modellen suchte, all das schwächte das Land zusätzlich. Die politische Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheit, auf der linken Seite konsequenter als auf der rechten, verhalf dem Imitationsfaschismus nicht zu Stabilität. Somit ist in der mittelfristigen Entwicklung der März 1938 ebenfalls als eine Folge des Februar 1934 zu lesen. International machte das Modell eines auf die katholische Kirche und auf die Enzyklika 20 Anna Seghers, Der Weg durch den Februar, Berlin 1951.

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„Quadragesimo anno“ gestützten (Teil-)Faschismus aber Schule. Als Resultat des Spanischen Bürgerkrieges wurde die Franco-Diktatur nach diesem Modell errichtet. So wurde Spanien in doppelter oder sogar mehrfacher Hinsicht zu einem Schauplatz der Niederlage für die österreichische Linke. Geschlagen im Kampf, geschwächt durch innere Konflikte und letztlich konfrontiert mit einem triumphierenden Sieger, der in Wien und in Madrid durchaus in der Gestaltung der damals neuen Politik große Ähnlichkeiten aufwies. Es sollte eigentlich keinen Zweifel geben: Engelbert Dollfuß und seine politische Bewegung haben in Österreich die Demokratie zerschlagen, eine Diktatur errichtet und in den Februarkämpfen selbst die elementarsten Spielregeln der Reste eines Rechtsstaates missachtet, um Rache zu üben. Der Aufstand der österreichischen Arbeiter, der ein Ausdruck der letzten Selbstachtung von Schutzbundteilen war, wurde zu einer revolutionären Bedrohung Österreichs hochstilisiert, um die Linke nicht nur zu schlagen, sondern auch moralisch vernichtend zu treffen. Da war man gegen die Rechte nachsichtiger, was sich schließlich im Juliputsch, der mit der Ermordung des Bundeskanzlers seinen tragischen Höhepunkt fand, rächen sollte.21 Dollfuß ist aber auch ohne Zweifel ein Opfer der nationalsozialistischen Gewalt, der er sich entgegenstellte, indem er seinen Imitationsfaschismus unter italienischer Patronanz errichtete. Dies ist aber nur eine Seite der Medaille. Er ist auch jene Person, die Österreichs Erste Republik in den Abgrund führte. Bis heute ist die historische Einordnung der Ereignisse rund um den Februar 1934 in Österreich eines der umstrittensten Kapitel. Während man zum Nationalsozialismus eine einigermaßen akkordierte Sichtweise gefunden hat und selbst der Anteil Österreichs an der Vernichtungsmaschinerie nicht mehr bestritten wird, ist die Situation in Bezug auf den Bürgerkrieg durchaus anders. Noch immer polarisieren Dollfuß und der Ständestaat die Politik und, wenn auch in geringerem Ausmaß, auch die Wissenschaft. Dies kann etwa an der Geschichte der Justizopfer des Februar 1934 deutlich gemacht werden. So wurde 2004, parallel zum Antrag der Rehabilitierung der Opfer der Justiz der Deutschen Wehrmacht, von der Sozialdemokratie und den Grünen ein Entschließungsantrag „betreffend Rehabilitierung von Justizopfern des Austrofaschismus“22 eingebracht, in den der Justizsprecher der Sozialdemokratie, Dr. Hannes Jarolim, folgend argumentierte: „Nach 1945 wurden die durch die NS-Justiz verurteilten Patrioten und Widerstandskämpfer nachträglich rehabilitiert. Im Zuge der Erhebung der Arbeiterschaft gegen die Bedrohung der Demokratie um den 12. Februar 1934 wurden 21 Standgerichtstodesurteile gefällt und neun 21 Kurt Bauer, Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, Wien 2003. 22 Zitiert wird hier nach dem Entschließungsantrag des Abgeordneten Albert Steinhauser, Freundinnen und Freunde vom 26. Februar 2009.

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s­ oialdemokratische Funktionäre, nämlich Karl Münichreiter, Emil Swoboda, Ing. Georg Weissel, Alois Rauchenberger, Johann Hoys, Koloman Wallisch, Josef Stanek, Josef Ahrer und Anton Bulgari zum Teil trotz schwerer Verwundung und mehr als zweifelhafter Anklage, so dass sogar Standgerichte vergebens Begnadigungen befürworteten, hingerichtet. Standgerichtlich hingerichtet wurden in Holzleiten in Oberösterreich weitere acht Sozialdemokraten. Zu diesen Opfern kommen noch zahlreiche andere von Standgerichten zu lebenslangen oder langjährigen Haftstrafen Verurteilte. […] Die hingerichteten und mit Kerkerstrafen belegten Persönlichkeiten haben aus politischer und demokratischer Überzeugung für den Erhalt der Ersten Republik gekämpft. Ihr Tod kam nicht zuletzt auch durch die proklamierte Exempelstatuierung, wonach in jedem Bundesland mit Kampfhandlungen wenigstens zwei Exekutionen zu erfolgen hatten, zustande. In einer Zeit, in der zu Recht verstärkt die Aufarbeitung der Vergangenheit als eine Voraussetzung für die Gestaltung der Zukunft angesehen wird, scheint es den unterzeichneten Abgeordneten in hohem Maße angebracht, zu einer politischen und juristischen Aufarbeitung des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes beizutragen und sich für eine Rehabilitierung der Opfer auch dieses Regimes einzusetzen. 70 Jahre nach Erlassung der rechtswidrigen Terrorurteile eines grausamen Unrechtsregimes ist es hoch an der Zeit, den Opfern dieses Regimes, die für Demokratie und Freiheit eingestanden sind, endlich Gerechtigkeit zukommen zu lassen.“23

Während das Bemühen um die Opfer der Wehrmachtsjustiz 2005 in einem Anerkennungsgesetz mündete, versandete der Antrag auf Rehabilitierung genannter Opfer des Ständestaats. Und die Großen Koalitionen, die politisch folgten (2004 war die Sozialdemokratie noch in Opposition), machten ein Weiterverfolgen des Antrags aus Rücksicht auf den Koalitionspartner nicht mehr opportun. So blieben die Grünen mit ihren politischen Bemühungen allein.24 Der lange Schatten des Februars 1934 ragt also bis in die Gegenwart. Es ist langsam an der Zeit, diese Epoche in einer Weise abzuschließen, wie es in den gemeinsamen Bemühungen von Dieter Binder und dem Verfasser vor einigen Jahren im Parlament versucht worden war.25

23 Ebda. 24 Ebda. 25 Günther Schefbeck (Hrsg.), Österreich 1934. Vorgeschichte, Ereignisse, Wirkungen. Österreich Archiv, Wien 2004.

„Heut’ ist da zahlende Tag“ Der nationalsozialistische Juliputsch 1934 in der Steiermark – das Beispiel St. Gallen1

Kurt Bauer

Kein anderes Bundesland wurde so stark vom doppelten Bürgerkrieg des Jahres 1934 getroffen wie die Steiermark. Im Februar fanden vor allem im obersteirischen Industriegebiet und im Raum Graz heftige bewaffnete Auseinandersetzungen statt. Noch intensiver waren die Kämpfe im Juli, die weite Teile des Landes erfassten und rund 100 Todesopfer forderten. Trotzdem ist der Juliputsch in den Bundesländern erst seit einigen Jahren Gegenstand intensiverer Forschungen.2 Immerhin herrscht mittlerweile weitgehend Klarheit über den Verlauf und in einem wichtigen Aspekt auch über die Hintergründe des NS-Aufstandes in der Steiermark.3 1

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Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Fassung eines 2004 erschienenen Artikels: Kurt Bauer, Der Tod des Revierinspektors. Juliputsch 1934 in der Steiermark. Ein Sittenbild aus der Provinz, in: Das Jüdische Echo Vol. 53 (Oktober 2004), 65–71. – Als Reaktion auf diesen Beitrag erhielt ich von zwei Lesern weitere relevante Hinweise zum Thema; zudem fertigten Schüler/-innen der 4. Klasse der Hauptschule Weißenbach an der Enns 2005 im Rahmen einer Projektarbeit ein halbstündiges, sehenswertes Video mit dem Titel „Spurensuche. St. Gallen und der Juliputsch 1934“ an, das interessante Aussagen von Zeitzeug/-innen enthält. Dieses Material sowie die Ergebnisse weiterer Quellenrecherchen wurden in der vorliegenden Fassung verarbeitet. – Für ihre Unterstützung danke ich Bea, die meine Recherchen unterstützt und den Fall in all seinen Facetten mit mir diskutiert hat, sowie Johann Purkowitzer, Werner Windhager, Bernd Bornemann-Bratz, Eckhard Weißensteiner und Eduard Grießl. Als Zusammenfassung und in gewisser Weise Abschluss der älteren, ganz auf den Dollfuß-Mord konzentrierten Forschung ist Gerhard Jagschitz, Der Putsch. Die Nationalsozialisten 1934 in Österreich, Graz u. a. 1976, anzusehen. Rund 25 Jahre nach Erscheinen dieses Standardwerks setzten weitere Forschungen ein – so mit Ausrichtung auf die sozialgeschichtlichen Aspekte und die SA-Aufstände in den Bundesländern: Kurt Bauer, Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, Wien 2003; mit Ausrichtung auf den ungeklärten SA-/SS-Komplex: Hans Schafranek, Sommerfest mit Preisschießen. Die unbekannte Geschichte des NS-Putsches im Juli 1934, Wien 2006; sowie mit regionaler Schwerpunktsetzung: Christian Klösch, Des Führers heimliche Vasallen. Die Putschisten des Juli 1934 im Kärntner Lavanttal, Wien 2007; Gerald M. Wolf, „Jetzt sind wir die Herren …“. Die NSDAP im Bezirk Deutschlandsberg und der Juli-Putsch 1934, Innsbruck 2008. Schafranek, Sommerfest, legt plausibel dar, dass der SA-Aufstand in der Steiermark in erster Linie vom Steirischen Heimatschutz getragen wurde. Die wichtigsten steirischen Putschführer Kammerhofer, Meyszner, Rauter und Bilgeri gehörten zwar formell der SA an, hatten sich aber mit großer Wahrscheinlichkeit insgeheim bereits der SS angeschlossen. Die steirische SA dürfte sich aus diesem Grund anders verhalten haben als die SA-Brigaden der anderen österreichischen Bundesländer.

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Abb. 1: Postkarte des Marktplatzes von St. Gallen bei einer Anschlusskundgebung im März 1938. Quelle: Sammlung des Verfassers

Die erst seit einigen Jahren vorliegende, bislang hinsichtlich des Juliputsches nicht beachtete Edition der Goebbels-Tagebücher4 zeigt, dass entgegen der bisher dominierenden Forschungsmeinung5 der „Führer“ selbst Initiator des Putsches war. Hitler glaubte – wahrscheinlich in dieser Form irrtümlich –, bei seinem ersten Treffen mit Mussolini in Stra bei Venedig am 14. Juni 1934 dessen Zustimmung zu einem „Regierungswechsel“ in Österreich erhalten 4

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Die 1992 von Elke Fröhlich im Moskauer Sonderarchiv entdeckten Glasplatten der GoebbelsTagebücher sind zwischen 1993 und 2006 als gedruckte Edition erschienen, der das Frühjahr und den Sommer 1934 abdeckende Band im Jahr 2005. Siehe: Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands hrsg. von Elke Fröhlich. Teil I: Aufzeichnungen 1923–1941, Band 3/1: April 1934 – Februar 1936, München 2005. Eine treffende Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstandes liefert Ian Kershaw in seiner maßgeblichen Hitler-Biografie: „Welche Rolle Hitler selbst spielte und wie weit er im Einzelnen über die Putschpläne informiert war, ist nicht ganz klar. Die Initiative für den Putschversuch ging eindeutig von örtlichen Parteimitgliedern aus. Hitler wusste anscheinend davon und erteilte seine Zustimmung, allerdings aufgrund irreführender Informationen von Seiten der österreichischen Nationalsozialisten.“ Ian Kershaw, Hitler 1889–1936, Stuttgart 1998, 658.

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zu haben. Dadurch hoffte er, den einzigen zwischen Deutschland und Italien bestehenden Streitfall – nämlich Österreich – bereinigen und durch ein enges Bündnis mit Italien die seit Frühjahr 1934 laufende, für die deutschen Aufrüstungspläne äußerst bedrohliche französische „Einkreisungsoffensive“ bremsen zu können. Hitlers Putschszenario ergibt sich aus den Goebbels-Tagebuch-Einträgen und zahlreichen anderen Quellen. Ein Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich stand, das hatte Hitler Mussolini gegenüber nachdrücklich versichert, nicht zur Debatte. Der Hitler nicht genehme Bundeskanzler Dollfuß, der sich 1933/34 übrigens laufend intensiv um einen Ausgleich mit den Nationalsozialisten bemüht hatte, würde sich angesichts der 150 bewaffneten SS-Leute zweifellos zu einem „freiwilligen“ Rücktritt bewegen lassen. Allerdings sollten Dollfuß und seine Regierung in allen Ehren kaltgestellt werden; die Rede war beispielsweise von Gesandtenposten für Dollfuß, Fey und Schuschnigg. Als neuer Kanzler war eine „neutrale Persönlichkeit“, nämlich der christlichsoziale, faschistisch-nationalsozialistischem Gedankengut nahestehende österreichische Gesandte in Rom, Anton Rintelen, vorgesehen. Dieser, so hoffte Hitler, würde auch das Vertrauen Mussolinis genießen. Nach dem Regierungswechsel und der Einbeziehung „nationaler Persönlichkeiten“ sollten Neuwahlen ausgeschrieben und die Nationalsozialisten entsprechend ihrem Stimmenanteil an der Regierung beteiligt werden. Letztlich dürfte Hitler an eine vorläufige Gleichschaltung Österreichs nach dem Muster der Freien Stadt Danzig gedacht haben.6 Auch für den Aufstand der SA in den österreichischen Bundesländern lag ein erfolgreiches Muster bereit: die Gleichschaltung der Länder und Gemeinden im Deutschen Reich unmittelbar nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933.7 Von Hamburg bis München waren SA-Einheiten, oft unterstützt von SS und zivilen „Parteigenossen“, aufmarschiert und hatten vorerst „friedlich“ demonstriert, um schließlich versteckt mitgeführte Waffen hervorzuholen und Amtsgebäude, Rathäuser, Landtage, Gerichte, gegnerische Zeitungsverlage, Partei- und Verbandsbüros zu belagern und zu stürmen, Hakenkreuzfahnen zu hissen, demokratische Politiker und Beamte zu bedrohen, zu demütigen, zu verschleppen, unliebsame Richter und Staatsanwälte zu verjagen etc.8 6 7 8

Kurt Bauer, Hitler und der Juliputsch 1934 in Österreich. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Außenpolitik in der Frühphase des Regimes. in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (April 2011) 2, 193– 227. Bereits der frühe Hitler-Biograf Konrad Heiden hat darauf hingewiesen. Vgl. Konrad Heiden, Adolf Hitler. Eine Biographie. 2. Bd.: Ein Mann gegen Europa, Zürich 1937, 41. Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, Sonder­ ausgabe, Wiesbaden 2007, 130–140; Heinz Höhne, Die Zeit der Illusionen. Hitler und die Anfänge des Dritten Reiches 1933–1936, Düsseldorf 1991, 69–71 (Höhne spricht treffend von „putschähnlichen Massenkundgebungen“); Peter Longerich, Geschichte der SA, München 2003, 167–170.

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Zur Unterstützung des Coups in Wien war im Juli 1934 exakt dieselbe Vorgangsweise vorgesehen, wie dem als „Kollerschlager Dokument“ bekannt gewordenen Aufstandsplan der SA zu entnehmen ist.9 Es könne, heißt es hier, im Falle eines Regierungswechsels in Wien „ein gewisses Vakuum“ entstehen, in dem die Exekutive der alten Regierung nicht mehr gehorche, die neue Regierung aber noch keine Befehle erteilt habe. „Dieser tote Punkt muss ausgenützt werden. Auf die Nachricht vom Rücktritt Dollfuß’ unternimmt die SA überall sofort selbständig ‚unbewaffnete Propagandamärsche‘, offiziell, um für die Neuwahlen zu demonstrieren, in Wahrheit, um sofort in den Landeshauptstädten und Bezirksamtssitzen die öffentlichen Gebäude und Ämter zu besetzen und die Macht zu ergreifen.“ Sollte jedoch „planmäßig geleiteter aktiver Widerstand“ gegen die SA einsetzen, so würde sich ein „Kampf um die Macht“ entwickeln. „In diesem Falle darf sich die SA nicht mit ‚Propagandamärschen‘ und friedlichem Besetzen der Regierungsgebäude begnügen, sondern es muss mit allen Mitteln um die Erringung der Macht gekämpft werden.“10 Die obersteirische SA-Brigadeführung hatte den lokalen SA-Standarten im Sinne dieses Plans folgende „Richtlinien“ für den Fall eines Putsches erteilt: „Demonstration in allen größeren Orten mit Handfeuerwaffen in der Tasche und in der Folge zwangsläufiger Besetzung aller Gebäude des öffentlichen Dienstes. Gleichzeitig hat sich die SA der ländlichen Bezirke zu bewaffnen und nach Sicherung ihrer Standorte – Besetzung der Gendarmerie, Einrichtung von Ortsschutz usw. – den konzentrischen Vormarsch auf die Städte und größeren Ortschaften anzutreten.“11 Am 25. Juli 1934 gelang es rund 150 Angehörigen der mit Uniformen des österreichischen Bundesheeres getarnten Wiener SS-Standarte 89, das Bundeskanzleramt zu besetzen.12 Dabei wurde Bundeskanzler Dollfuß unter nie restlos geklärten Umständen von zwei Kugeln getroffen und so schwer verletzt, dass er Stunden später starb. Die anderen Regierungsmitglieder hatten, durch einen Verräter gewarnt, schon vor dem Eintreffen der SS das Gebäude verlassen. Zeitgleich überfiel ein Stoßtrupp der SS das Gebäude der RAVAG in der Wiener Innenstadt und erzwang eine Meldung vom angeblichen Rücktritt der Regierung Dollfuß und der Ernennung Rintelens zum Kanzler. Diese Radiodurchsage war als Signal für das Einsetzen von SA-Aufständen im ganzen Land gedacht. Nach dem Tod Dollfuß’, der – nach allem, was 9

Das Schriftstück war am 26. Juli 1934, 3 Uhr morgens, einem NS-Kurier beim Grenzübertritt nahe Kollerschlag im oberen Mühlviertel, Oberösterreich, abgenommen worden; vgl. Bauer, ElementarEreignis, 44–47 sowie Schafranek, Sommerfest mit Preisschießen, 162–167. 10 Der Originaltext des Dokumentes ist abgedruckt in der regierungsamtlichen Broschüre: Beiträge zur Vorgeschichte und Geschichte der Julirevolte, hrsg. auf Grund amtlicher Quellen vom Bundeskommissariats für Heimatdienst, Wien 1934, 54–55. 11 Archiv des Instituts für Zeitgeschichte, Wien, Do-643, Mappe 6, Bericht des SA-Standartenführers von Judenburg Berndt von Gregory, Oktober 1934, 1. 12 Vgl. zum Ablauf des Putsches im Detail Jagschitz, Putsch.

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über die Putschpläne bekannt ist – keineswegs beabsichtigt war, sondern sich geradezu als Katastrophe für das Gelingen des versuchten Staatsstreichs erwies,13 waren die führungslosen Besetzer des Kanzleramtes hinsichtlich der weiteren Vorgangsweise bald ratlos und ergaben sich schließlich gegen 20 Uhr der Polizei. Die erzwungene RAVAG-Meldung führte vorläufig nur in der Steiermark zu SA-Aufständen: zuerst – kurz nach 13 Uhr – im Süden und Südwesten des Landes, bald aber auch in der obersteirischen Industrieregion und ab 17 Uhr im steirischen Ennstal. Die schwersten Kämpfe und blutigsten Zusammenstöße waren in der Nacht vom 25. auf 26. Juli zu verzeichnen, als die Nationalsozialisten trotz der Meldungen vom Scheitern des Staatsstreiches in Wien noch überall in der Steiermark offensiv vorgingen, während sich die Regierungskräfte – Gendarmerie, Polizei, Bundesheer und Freiwilliges Schutzkorps14 – gesammelt hatten und ihrerseits planmäßig gegen die Aufständischen einschritten. Als die Kämpfe am Nachmittag des 26. Juli in der Steiermark bereits zu einem großen Teil abgeflaut waren, brach der SA-Aufstand in Kärnten erst aus. In einigen Teilen Oberösterreichs und Salzburgs kam es mit noch größeren Verspätungen zu von vornherein aussichtslosen nationalsozialistischen Aufstandsaktionen, die bis 28. Juli niedergeschlagen wurden.15 Insgesamt erfasste der Juliputsch 185 steirische Gemeinden.16 96 Menschen starben (42 Nationalsozialisten und mit ihnen Verbündete, 47 Angehörige der Regierungsseite sowie sieben Unbeteiligte), wobei eine gewisse Dunkelziffer berücksichtigt werden muss, sodass man von mehr als 100 Toten ausgehen kann.17 13 Diesbezüglich ist führenden Putschisten durchaus Glauben zu schenken, wie etwa dem Stabsleiter der österreichischen NS-Landesleitung Weydenhammer, der 1964 erklärte: „Die Erschießung Dollfuß’ sei keineswegs beabsichtigt gewesen, sondern zur Katastrophe für das ganze Unternehmen geworden. Es sei die Tat eines fanatisierten Desperados.“ Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Archiv, Do-642, Mappe 5, Bericht von Hellmuth Auerbach über seine Gespräche mit Rudolf Weydenhammer, 1964. – Ähnlich Alfred Eduard Frauenfeld, Und trag keine Reu’. Vom Wiener Gauleiter zum Generalkommissar der Krim. Erinnerungen und Aufzeichnungen, Leoni am Starnberger See 1978, 120. 14 Das Freiwillige Schutzkorps war eine Mitte 1933 als „Reserve“ für Polizei und Gendarmerie geschaffene, aus den Angehörigen der regierungstreuen Wehrverbände (Österreichischer Heimatschutz, Ostmärkische Sturmscharen, Freiheitsbund, Christlich-deutsche Turner) gebildete Assistenzeinheit. (Schutzkorpsverordnung vom 7.7.1933, BGBl. 292/1933; geändert durch die Verordnung vom 1.9.1933, BGBl. 402/1933.) 15 Umfassender Überblick über die Aufstandsaktionen in den Bundesländern: Bauer, Elementar-Ereignis; für das Lavanttal (Bezirk Wolfsberg, Kärnten) ausführlich: Klösch, Des Führers heimliche Vasallen; für die Region Deutschlandsberg: Wolf, „Jetzt sind wir die Herren …“. 16 Kurt Bauer, Sozialgeschichtliche Aspekte des nationalsozialistischen Juliputsches 1934, phil. Diss. Wien 2001, 359–360. Download unter http://www.kurt-bauer-geschichte.at/. 17 Diese Aufstellung beinhaltet auch Personen, die im Zuge der von steirischen Nationalsozialisten aus-

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Wenn man den Verlauf der NS-Aufstände in den einzelnen Orten näher betrachtet, zeigt sich zweierlei: zum einen, dass die Nationalsozialisten tatsächlich nach einem mehr oder weniger gut ausgetüftelten Gesamtplan vorgingen, der im Wesentlichen den Vorgaben des „Kollerschlager Dokumentes“ entsprach, zum anderen, dass in jeder Region, in jeder Gemeinde, in jedem Ort lokale Besonderheiten zum Tragen kamen. Die lang wirkende und tief gehende Bedeutung des Bürgerkrieges vom Juli 1934 für die österreichische Gesellschaft erschließt sich am besten bei näherer Betrachtung eines spezifischen Beispiels.18

Der Putsch in St. Gallen Der Markt St. Gallen liegt im Norden der Steiermark, nahe der Grenze zu Oberösterreich, unweit des Ennstals – eine abgelegene, von ausgedehnten Wäldern und den imposanten Gesäusebergen dominierte Region. Die Volkszählung 1934 weist für die Gemeinde in ihren damaligen Grenzen eine Wohnbevölkerung von 731 Personen aus. Mit nur rund zwölf Einwohnern pro Quadratkilometer zählte St. Gallen 1934 zu den am dünnsten besiedelten Gerichtsbezirken Österreichs. Die wichtigsten Arbeitgeber der Region waren die Steiermärkischen Landesforste und eine Zellstofffabrik in Weißenbach an der Enns. Seit Ende des 19. Jahrhunderts spielte der Tourismus eine bedeutende Rolle, und in vielen Berichten wird St. Gallen als „Sommerfrische“ bezeichnet.19 In der Zwischenkriegszeit war St. Gallen ein bürgerlicher Ort in einem sozialdemokratisch dominierten Umland. Die NSDAP erreichte hier bei der Nationalratswahl 1930 8,4 % und lag damit deutlich über dem landesweiten Durchschnitt.20 Bei der Gemeinderatswahl im April gehenden Kämpfe am Pyhrnpass teilweise auf oberösterreichischem Gebiet ums Leben kamen; die vom Murauer Heimatschutz in Predlitz an der Mur in der Steiermark getöteten Putschisten aus Feldkirchen in Kärnten sind hier hingegen nicht enthalten. – Für ganz Österreich wurde eine Zahl von 223 Menschen ermittelt, die aufgrund des Juliputsches ihr Leben verloren (Steiermark 96, Kärnten 81, Salzburg 16, Wien 14, Oberösterreich 11, Tirol 3, Niederösterreich 1, Burgenland 1). Allerdings ist von einer gewissen Dunkelziffer auszugehen, sodass man die Toten des Juliputsches in ganz Österreich zwischen 220 und 250 schätzen könnte. Siehe Bauer, Elementar-Ereignis, 117–118, 314–326. 18 Exemplarisch hat dies Ernst Hanisch in seinem Aufsatz über den Juliputsch in Seekirchen am Wallersee demonstriert: Ernst Hanisch, „Das wilde Land“ – Bürgerkrieg und Nationalsozialismus in Seekirchen, in: Elisabeth Dopsch/Heinz Dopsch (Hrsg.), 1300 Jahre Seekirchen. Geschichte und Kultur einer Salzburger Marktgemeinde, Seekirchen 1996, 323–346. 19 Für einen kurzen historischen Abriss siehe: Werner Windhager, St. Gallen in silva (im Walde). Der wechselvolle Gang durch die Jahrhunderte, in: Da schau her. Die Kulturzeitschrift aus Österreichs Mitte (Juli 2002), 16–18. 20 Eigene Berechnung aufgrund der Angaben in Der Ennstaler, 14.11.1930, 2.

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1932 gewann eine „Deutsche Wahlgemeinschaft“ aus Großdeutschen, Heimatblock und Nationalsozialisten 31 % der 382 gültigen Stimmen; 49 % der St. Gallener wählten christlichsozial und 20 % sozialdemokratisch.21 Auf gut ein Drittel oder etwas mehr könnte man demnach das Potenzial der NS-Anhänger im Markt St. Gallen schätzen. Der namenlose Korrespondent der wöchentlich erscheinenden Regionalzeitung Der Ennstaler, eines stramm christlichsozial-vaterländischen Blattes, berichtet ab 1933 in einem zwischen Ironie, Empörung und hilfloser Wut schwankenden Tonfall von „Bübereien“ der St. Gallener Nazis: Eine katholische Anschlagtafel wird von einem „akademischen Rossknecht“ und einem Bäckergesellen abgerissen und im Backofen verbrannt. Die „holde NaziWeiblichkeit“ bricht bei der Ankunft der Deutschmeister-Kapelle in Heil-Hitler-Geschrei aus. Eine vaterländische Kundgebung im Sommer 1933 bewegt die Zuseher im vollbesetzten Saal zu „stürmischem Beifall“, während die paar „herbeigeschlichenen“ Nazis angeblich nicht einmal einen Zwischenruf wagen. Fünf „Nazijünglinge“ flüchten im Laufe des Jahres 1933 nach Deutschland zur Österreichischen Legion; „etliche Nazen und Nazinnen“ werden in den Arrest geworfen. Zur Schuleröffnung hört man außer ein paar Mädchenstimmen niemand die Bundeshymne mitsingen. Auf dem über den Marktplatz verlaufenden Telefon­ draht hängen „braune Reklamehelden“ eine Hakenkreuzfahne auf, was dem Berichterstatter „läppisch“ erscheint. Putzscharen aus bekannten NS-Sympathisanten haben Hakenkreuz„Malereien“ zu entfernen.22 Zwischen den in bemühter, gleichsam zähneknirschender Abschätzigkeit verfassten Zeilen lässt sich die Anspannung der politischen Situation ablesen. St. Gallen erscheint als Abbild der bürgerkriegsartigen Lage, die in den frühen 1930er-Jahren in weiten Teilen Österreichs herrschte. Nur so erklärt sich der heftige Gewaltausbruch, der im Juli 1934 die kleine Marktgemeinde erschütterte und noch jahrzehntelang nachwirken sollte. Am 25. Juli schien für die deprivilegierten, oft seit vielen Jahren arbeitslosen, aufgrund der katastrophalen Wirtschaftskrise an ihr Dorf und ihr Herkunftsmilieu gefesselten, in ihren Lebenschancen beschnittenen Jugendlichen,23 die den Naziaufstand trugen, der Tag der Rache gekommen. Ein Schutzkorpsmann, der den Aufständischen in ihrem ersten Furor über den Weg gelaufen war und um sein Leben laufen musste, hörte einen SA-Mann hinter sich schreien: „Schiaßt’s a’s z’samm, die Hund, heut’ ist da zahlende Tag.“24 21 Eigene Berechnung aufgrund der Angaben in Der Ennstaler, 29.4.1932, 11. 22 Der Ennstaler, Auszüge aus Meldungen Mai 1933 bis Juli 1934. 23 Zur sozialen Herkunft und Motivation der Juliputsch-Beteiligten siehe Bauer, Elementar-Ereignis, 131–201, sowie Kurt Bauer, „Späte Heirat“: Nationalsozialismus und Milieu 1934, in: Tagungsbericht. 24. Österreichischer Historikertag, Innsbruck 2005, Innsbruck 2006, 594–600. 24 Quellenzitate wie dieses stammen, wenn nicht anders ausgewiesen, durchwegs aus dem Akt der Hauptverhandlung des Militärgerichts, die vom 24. bis 29. August 1934 beim Kreisgericht Leoben

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Dass die Liezener SA-Führung ausgerechnet Franz Ebner auswählte, um den Aufstand in St. Gallen zu leiten, lässt sich mit dem geheimen Bündnis erklären, das die aus dem Steirischen Heimatschutz kommenden SA-Führer mit der SS und Hitlers Österreich-Beauftragtem Theo Habicht geschlossen hatten. Überall in der Steiermark waren es in erster Linie ehemalige Heimatschutzführer, die vorab in die Putschpläne eingeweiht wurden.25 Vor der Spaltung der steirischen Heimatschutzbewegung in einen regierungstreuen und einen nazistischen Flügel war Ebner nämlich Leiter der St. Gallener Heimatschutz-Ortsgruppe gewesen. Diese hatte sich aufgelöst und war vermutlich weitgehend unverändert in eine neue NSDAPOrtsgruppe übergegangen. Hier fungierte Ebner angeblich nur als einfacher SA-Mann, nicht als militärischer Führer. Geführt habe er, so seine Aussagen vor Gericht, nur das St. Gallener Jungvolk.26 Franz Ebner war zum Zeitpunkt des Juliputsches ein nicht mehr ganz junger (32 Jahre alter), unverheirateter Mann; der ledige Sohn des St. Gallener Arztes Franz Glaser. Über Ebner ist wenig bekannt. Nach der Volksschule in St. Gallen hatte er in Graz das Gymnasium absolviert und es danach mit dem Medizinstudium versucht, allerdings nur zwei Prüfungen abgelegt, weshalb ihn die Presse als „verkrachten Studenten“ charakterisierte. In den vorliegenden Akten und Zeitungsberichten werden verschiedene Berufsangaben gemacht: Forstadjunkt, Jagdpraktikant, Wirtschafter. Zum Zeitpunkt des Putsches verwaltete er ein Gut seines Vaters in Oberlaussa, Oberösterreich, rund 20 Kilometer von St. Gallen entfernt. Ebner bezeichnete sich selbst als „herzleidend“. Im Augenblick der höchsten Anspannung – bei der versuchten Entwaffnung des Revierinspektors Titz – habe er „ein gewisses Zittern bekommen“. Der nervlichen Anforderung, eine Putschaktion zu leiten, war er wohl nicht gewachsen. Das häufig abgedruckte Porträtfoto von Franz Ebner scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Mit seiner runden Nickelbrille, seiner hohen Stirn und seinem vermutlich rötlichblonden Haar, dem reinweißen Hemdkragen, der dunklen Krawatte, dem Lodenrock hatte er nichts von einem brutalen SA-Rabauken, eher wirkte er wie ein etwas verspäteter, aber beflissener Maturant. Der Prozessberichterstatter der Obersteirischen Volkspresse charakterisierte Ebner als einen mittelgroßen, dunkelblonden Mann mit rötlichem Vollbart, der mit „klarer, reiner Stimme“ gesprochen habe. stattfand. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundesministerium für Landesverteidigung (BMLV), Militärgerichtshof Wien 91/34. 25 Vgl. Schafranek, Sommerfest, insbes. 40–51, 125–155 u. passim. 26 Die Angaben zu den handelnden Personen sowie zum Putschverlauf stammen aus dem Prozessakt der Leobener Militärgerichtsverhandlung – ÖStA, AdR, BMLV, Militärgerichtshof Wien 91/34 – oder aus der ausführlichen Prozessberichterstattung in den in Leoben erscheinenden Zeitungen Obersteirische Volkspresse und Obersteirische Volkszeitung von Ende August 1934; sie werden nachfolgend im Einzelnen nicht mehr ausgewiesen.

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Ein Ing. Sallay sei im Fasching 1934 als Abgesandter der Liezener NS-Leitung zu ihm gekommen. Dieser Herr schwor Ebner auf seine ihm zugedachte Aufgabe ein. Man habe ihm zugesichert, dass die Sache bestens („weiß Gott wie“) gesichert sei, überall gleichzeitig losgeschlagen werde, die Exekutive und das Heer mitgehen würden, Hitler sich mit Mussolini abgestimmt habe und so weiter. Auch sei ihm eine sichere Stellung zugesagt worden, damals habe er nämlich keinen richtigen Posten gehabt. Ob der zum Zeitpunkt des Putsches 67-jährige Vater Ebners, Dr. med. Franz Glaser, in die Putschvorbereitungen eingeweiht war, ist zweifelhaft. Seine Rolle beim Putsch erhellt aus den vorhandenen Dokumenten nicht. Man erinnert sich in St. Gallen eines großen, schweren Mannes, der es als Sohn eines Grazer Selchermeisters zum Arzt gebracht hatte. Dr. Glaser war Leiter des deutschvölkischen Turnvereins, der hier wie überall in Österreich die Keimzelle der lokalen SA bildete. Deshalb wird man ihn zumindest als „geistigen Führer“ der St. Gallener Nationalsozialisten bezeichnen müssen, wie es in zeitgenössischen Berichten häufig in Bezug auf Dorfhonoratioren wie ihn heißt. Dass dem tatsächlich so war, zeigte sich 1938, als der dann 71-Jährige bei der großen Hitlerrede am 3. April in Graz auf der Ehrentribüne Platz nehmen und anschließend dem „Führer“ die Hand schütteln durfte. Am 23. Juli, einem Montag, war Franz Ebner („zufällig“, wie er vor Gericht angab) von Oberlaussa nach St. Gallen gekommen. Im Glaser-Haus traf er einen Herrn, der ihm mitteilte, dass es „ganz sicher“ in nächster Zeit eine neue Regierung geben werde. Es könnte, um Widerstände zu unterbinden, möglich sein, dass die SA aufgeboten werden müsse. Das Losungswort laute „Elementarereignis“. Wenn er, Ebner, also die telefonische oder mündliche Nachricht erhalte, ein „Fritz Berger“ sei durch ein Elementarereignis verhindert zu kommen, so habe sich die SA bewaffnet auf die Straße zu begeben, Gendarmerie und Hilfspolizei seien zu entwaffnen, Blutvergießen solle vermieden, fremdes Eigentum geschützt und insbesondere niemand von der Geistlichkeit als Geisel genommen werden. Am darauf folgenden Mittwoch, 25. Juli, 17 Uhr, wurde Franz Ebner das telefonisch aus Liezen eingelangte Losungswort von einem Bekannten übermittelt. Er habe nun „augenblicklich“ nicht gewusst, was er tun solle, wollte aber letztlich nicht als „Schuft“ dastehen, weil er sein Ehrenwort gegeben habe. So ging Ebner von Haus zu Haus und befahl den SA-Leuten, sich im oberen Teil des Marktplatzes zu sammeln. Die Alarmierten begaben sich in den Hof des dort befindlichen Glaser-Hauses, wo gegen 18.30 Uhr rund 30 Mann beisammen waren. Mit ein paar von ihnen holte Ebner vom Dachboden die 26 Karabiner und rund 200 Stück Munition, die dort noch aus Heimatschutz-Zeiten lagerten. Als sich die Leute gerade bewaffneten und Hakenkreuz-Armbinden überstreiften, sah Ebner vom Vorhaus aus den örtlichen Gendarmeriepostenkommandanten, den 56-jährigen Revierinspektor Franz Titz, vorübergehen. Es wurden Stimmen laut, dass man diesen nun wohl befehlsgemäß verhaften müsse. Nach kurzem Überlegen („weil wir paff waren“) trat Ebner vor die Tür und sah, dass Titz

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beim Kaufhaus Unterer in eine Seitengasse, die Staniekgasse, abbog. „Unwillkürlich“ liefen Ebner und weitere Bewaffnete dem Revierinspektor nach. Es waren neben Franz Ebner der 29-jährige Hutmachergehilfe Ferdinand Obenaus, der 23-jährige Handelsangestellte Rudolf Florianschitz, der 31-jährige Fabrikarbeiter Franz Brückner, der 30-jährige Tischlergehilfe Stefan Duffek und mit großer Wahrscheinlichkeit auch der 24-jährige Tischlergehilfe Othmar Obenaus, ein Bruder Ferdinands. Die sechs rannten mit ihren Karabinern und aufgepflanzten Bajonetten rund 50 Meter über den St. Gallener Marktplatz. Dieser lärmende Auftritt erregte Aufsehen, sodass es zahlreiche Zeugen für das gab, was nun geschehen sollte. Die 39-jährige Kaufmannsgattin Anna Unterer, Ehefrau des Jakob Unterer, eines führenden Funktionärs der Vaterländischen Front in St. Gallen, gab an, sich im Verkaufsraum befunden, die rennenden Burschen und den Ruf „Halt!“ gehört zu haben. Sie sei daraufhin durch das 15 Meter lange Vorhaus in das Magazin gegangen, dessen Fenster auf die Staniekgasse hinausging. Als die fünf SA-Männer die Seitengasse erreichten, riefen sie dem Gendarmeriebeamten „Herr Inspektor!“ oder auch „Halt!“ oder „Stehen geblieben!“ hinterher. Franz Titz wandte sich am hinteren Eck des UntererHauses zu seinen Verfolgern um, die ihm entgegenliefen, ihn umstellten, ihre Gewehre auf ihn anlegten und ihn aufforderten, seine Waffe abzugeben. Revierinspektor Titz war nur mit seinem Dienstsäbel ausgerüstet. Aus dem Parterre des Kaufhauses Unterer, und zwar aus dem zwei Meter neben dem Tatort gelegenen Fenster des Mehlmagazins, beobachteten der Handelsangestellte Franz Kefer und ihren – später in Zweifel gezogenen – Aussagen nach auch Anna Unterer den Tathergang. Ein weiterer Zeuge, der 20-jährige Richard Unterer, befand sich ebenfalls im Parterre in der Schreibstube des Kaufhauses, zwölf Meter vom Tatort entfernt. Unmittelbar hinter der Hausecke, im Hof des Hauses Unterer, spielten drei Buben. Vom ersten Stock des Hauses auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse sah die Buchhaltersgattin Ernestine Mitteregger, eine Sommerfrischlerin aus Wien, was sich ereignete. Daneben gab es noch eine Reihe weiterer Zeugen, die zumindest Bruchstücke von dem sahen und hörten, was sich in der Staniekgasse abspielte. Titz, umringt von den Bewaffneten, sagte auf die mehrmalige Aufforderung Ebners, sich zu ergeben, jeweils die später häufig zitierten Worte: „Nur über meine Leiche!“ oder auch „Nein, das tu’ ich nicht, nur über meine Leiche geht der Weg!“ Dies zwei- oder dreimal, dann krachte ein Schuss, später vielleicht noch weitere. In die Brust getroffen sank Titz in die Knie und fiel seitwärts nach hinten zum Hof. Die Uniformmütze lag im Hofraum, zwei Meter von seinem Kopf entfernt. Er habe, so Franz Ebner vor Gericht, noch nie jemand eines so plötzlichen Todes sterben gesehen. Er sei furchtbar erschrocken. Aus dem ersten Stock des Unterer-Hauses hörte Ebner in dem Moment, als Titz fiel, „Um Gottes willen, was ist geschehen?“ schreien.

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Abb. 2: Der Titz-Mord in der Staniekgasse, St. Gallen, nachgestellt von einigen Schutzkorpsleuten im Auftrag einer Kommission des örtlichen Bezirksgerichts. Quelle: ÖStA/AdR, BMfLV, MGH Wien, 91/34

Ebner wollte sich nur eines Schusses erinnern; die Zeugen sprachen von einem, zwei bis drei, fünf bis sechs Schüssen oder gar einer regelrechten Salve. Möglicherweise meinten sie damit Schüsse, die ungefähr zur selben Zeit am Marktplatz gefallen waren. Das Gericht sah es in der Urteilsbegründung als durch das Beweisverfahren „einwandfrei“ erwiesen an, dass am Tatort nur ein Schuss abgefeuert worden war. Rätselhaft also, wieso die St. Gallener Gerichtskommission beim Augenschein gegen Mittag des 27. Juli an der besagten Mauer fünf frische Ausbrüche und an einem Gebäude dahinter einen weiteren Ausbruch erkennen, exakt protokollieren und fotografieren konnte. Der Zeuge Richard Unterer gab bei der Einvernahme am 27. Juli im Bezirksgericht an, nicht Ebner allein habe geschossen, sondern auch seine Begleiter („Salve“). Und er verwies auf die Einschusslöcher in der Mauer. Bei der Leobener Gerichtsverhandlung am 27. August meinte er, dass vorerst ein Schuss gefallen sei und er bei Ebner einen Rückstoß gesehen habe, die „Salve“ sei ein Irrtum gewesen, die fünf bis sechs Schüsse seien erst „einige Minuten“ später gefallen, und er wisse nicht, ob die Angeklagten unter den Schützen gewesen waren.27 27 Laut einer Zeitzeugin sollen die fünf Angeklagten nach dem Tod des Revierinspektors alle Gewehre abgeschossen haben, daher die Einschüsse in der Hauswand. „Offenbar haben die fünf Putschisten abgesprochen, aus allen Gewehren zu schießen bzw. aus allen Magazinen die gleiche Zahl Patronen

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Anna Unterer blickte Ebner vom Magazin aus angeblich direkt ins Gesicht. Er habe das Gewehr an der Achsel oder der Hüfte gehalten, so genau wisse sie das nicht mehr, und Ebner habe abgedrückt. Ernestine Mitteregger erkannte vom gegenüberliegenden Haus nicht, wer den tödlichen Schuss auf Revierinspektor Titz abgab. Zwei der im Hof des Unterer-Hauses spielenden Volksschüler sahen, dass es Ebner mit dem Gewehr „riss“, während der dritte Bub berichtete, dass Ebner mit dem Gewehr „herumgetan hat“. Der Handelsangestellte des Kaufhauses Unterer, Franz Kefer, beobachtete die Tat vom Mehlmagazin aus; er habe Ebner das Gewehr repetieren gesehen, ob vor oder nach dem Schuss, könne er nicht sagen. Die neben Ebner an der Aktion beteiligten Nationalsozialisten Florianschitz, Brückner und die beiden Obenaus (Duffek hatte flüchten können) gaben vor der Gendarmerie einhellig an, dass Ebner der Schütze gewesen sei. Ferdinand Obenaus zufolge habe Ebner nach der dreimaligen Zurückweisung durch Titz sogar „Dann bin ich gezwungen!“ gesagt („oder so ähnlich“) und anschließend geschossen. Diese Aussagen machten die vier allerdings zu einem Zeitpunkt, als sie glauben mussten, Ebner sei die Flucht geglückt. Vor Gericht versuchten die drei, die schließlich angeklagt wurden, ihre Angaben in Bezug auf Ebner abzuschwächen. Sie meinten nun, dass es möglich wäre, dass er geschossen und Inspektor Titz getötet habe, sie es aber nicht sicher wüssten, weil sie sich im Augenblick des Schusses partout gerade abgewendet hätten – jeder Einzelne von ihnen. Keiner wollte selbst geschossen haben. Jedenfalls, so erinnerte sich Richard Unterer am 27. Juli bei der Vernehmung am Bezirksgericht, repetierten alle fünf oder sechs ihre Gewehre, warfen ihre ausgeschossenen Patronen hinaus und liefen zum Marktplatz. Den Getroffenen ließen sie liegen, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Drei zufällig unmittelbar vor der Staniekgasse vorbeigehende Schutzkorpsleute wurden beschossen, entgingen aber dem Hagel von angeblich 20 bis 25 Schüssen aus mehreren Richtungen. Ein Passant, der sich gerade Zigaretten kaufen wollte, wurde am rechten Fuß verletzt; eine Passantin, ein auf Besuch in St. Gallen weilendes 18-jähriges Mädchen aus Klagenfurt, geriet ebenfalls ins Schussfeld, wurde von nicht weniger als drei Kugeln getroffen und verlor auf einem Auge die Sehkraft. Eine Gruppe Aufständischer unter Führung Ebners besetzte nun den leeren Gendarmerieposten; der ihnen auf der Straße begegnende Gendarmerie-Rayonsinspektor Rappold wurde entwaffnet und gefangen genommen. Eine andere Gruppe drang gewaltsam in das Haus des Gendarmen Kirsch ein, wohin sich zwei der beschossenen Schutzkorpsmänner geflüchtet hatten. Der Gendarmeriebeamte selbst versteckte sich im Keller und blieb unentdeckt, ebenso die Schutzkorpsleute auf dem Dachboden. Wieder andere Putschisten zogen über den lang gezogenen Marktplatz zum Bezirksgericht, um den 34-jährigen Lehrer und eigentlichen zu entfernen, um beim damaligen Stand der Kriminaltechnik eine Feststellung des Todesschützen zu erschweren.“ Schreiben Bernd Bornemann-Bratz vom 27.3.2005 an den Verfasser.

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Führer der örtlichen NSDAP Ferdinand Hartner aus dem Arrest zu befreien.28 Dabei brüllten sie „Hitler heraus!“ und meinten damit die Hitler, also die Nationalsozialisten des Ortes. Den politisch nicht genehmen Anrainern befahlen sie, die Fensterläden zu schließen, während die NS-Anhänger unbekümmert die Ereignisse auf dem Marktplatz beobachten durften. Dort, am St. Gallener Marktplatz, lag das Haus des pensionierten Oberforstrates Dipl.Ing. Johann Villicus. Als dessen Sohn Hans vom ersten Stock aus sah, dass Nationalsozialisten daran waren, unten auf dem Platz seinen jüngeren Bruder Hubert zu verhaften, gab er einige Revolverschüsse in die Luft ab, worauf die Aufständischen Deckung suchten und Hubert Villicus über Umwege ins Elternhaus flüchten konnte. Rund eine halbe Stunde später marschierte eine SA-Abteilung unter Führung Franz Ebners vor dem Haus Villicus auf. Folgen wir vorerst der Darstellung des Oberforstrates: Die Aufständischen forderten Einlass und Abgabe der Waffen. Als dies nicht geschah, schossen sie dreimal durch die Fenster des ersten Stockes. Die schwere Haustür ließ sich mit Gewalt nicht öffnen, so drangen die Nationalsozialisten durch eine Nebenwohnung in das Villicus-Haus ein und über die Stiege in den ersten Stock vor, wo sie wieder vor einer verschlossenen Tür standen. Dahinter erwarteten Vater und Söhne Villicus mit schussbereiten Waffen regungslos die Eindringlinge. Diese schossen vorerst zweimal durch die geschlossene Tür und schlugen sie dann ein. Als die Türfüllung splitternd herausflog, gab der Oberforstrat den Feuerbefehl. Auf die Schüsse hin hörten die drei Villicus ein Gepolter über die Stiegen hinunter, die Söhne stürmten ins Stiegenhaus und schossen weiter, um die Nationalsozialisten gänzlich zu vertreiben. Das gelang. Franz Ebners Version nach sprengten zwei SA-Leute die Tür im ersten Stock mit einem Sappel auf. Ebner öffnete sie und sah Oberforstrat Villicus sechs Schritte vor sich stehen. Im selben Augenblick fiel ein Schuss, der Ebner am Hals streifte. Als er sich umdrehte, traf ihn ein weiterer Schuss aus einer Pistole in den Oberschenkel. Erst auf der Straße kam Ebner, wie er sagte, wieder zu sich selbst. Er bedeutete seinen Leuten, dass er nicht mehr weitermachen könne, humpelte nach Hause und ließ sich von seinem Vater das Projektil aus dem Oberschenkel entfernen. Offensichtlich übernahm daraufhin der aus dem Arrest befreite Lehrer Hartner den Befehl über die Aufständischen, denn Richard Unterer sah ihn vor dem Sparkassengebäude stehen und hörte ihn rufen: „Alles auf mein Kommando!“ 28 Der 1900 geborene Ferdinand Hartner war 1920 als Lehrer nach St. Gallen gekommen. Er war Mitbegründer des hiesigen deutschvölkischen Turnvereins und kurze Zeit Gauführer des Steirischen Heimatschutzes; nach dessen Spaltung in einen österreichtreuen und einen pronazistischen Flügel wandte er sich Mitte 1932 dem Nationalsozialismus zu und erhielt bei der Gründung der St. Gallener NSDAP-Ortsgruppe die Funktion des Ortsgruppenleiters übertragen. Ende Mai 1934 wurde Hartner wegen einer abschätzigen Bemerkung, die als „störende politische Demonstration“ empfunden worden war, zu acht Wochen Arrest verurteilt. ÖStA, AdR, Gaupersonalamt des Gaues Wien/Gauakten, Nr. 52.011.

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Regierungskommissär (also Bürgermeister) Josef Rappel, Besitzer eines Gasthauses am nördlichen Ortsausgang von St. Gallen, war rasch vom Tod des Revierinspektors Titz verständigt worden und hatte telefonisch Verstärkung angefordert. Nach einiger Zeit musste er beobachten, wie Nationalsozialisten sein Haus umstellten. Deren Anführer, der 21-jährige Spenglergehilfe Franz Berger, verlangte von ihm, herauszukommen. Rappel lehnte ab. Die Aufständischen drohten, nach einer Frist von zwei Minuten das Haus in die Luft zu sprengen, worauf einige seiner Sommergäste Rappel bedrängten, sich zu ergeben. Dieser lehnte wiederum ab. In diesem Moment traf die von Rappel angeforderte Verstärkung ein – zur Sicherung der Eisenbahnlinie durch das Ennstal im nahen Weißenbach an der Enns stationierte Schutzkorpsleute. Ein „lebhafter Kampf“, so das Protokoll der Gendarmerie, war die Folge und lenkte die Nationalsozialisten vorläufig vom Gasthaus Rappel ab. Die heranmarschierende Schutzkorpsabteilung geriet ins Feuer der Aufständischen. Ein 66-jähriger Heimatschützer namens Isidor Rettensteiner starb durch einen Kopfschuss, ein zweiter wurde verwundet. Das Schutzkorps verschanzte sich im Haus des Briefträgers Thöringer am Ortsausgang, das die Aufständischen während der Nacht und am Morgen mehrmals wütend beschossen. Eine weitere Verstärkung aus Altenmarkt bezog Stellung im Gasthaus Rappel; bei der Beschießung erlitten ein Gendarmerieinspektor und ein Schutzkorpsmann Verletzungen. Gegen 8 Uhr des 26. Juli wurde ein Angehöriger der Bahnsicherung, der 49-jährige Ferdinand Zott, im Haus Thöringer so schwer verwundet, dass er einige Tage später starb. Nun ergaben sich die belagerten Schutzkorpstrupps, weiters Bürgermeister Rappel, Oberforstrat Villicus, Gendarm Kirsch, Kaufmann Unterer und andere. Den vorläufig siegreichen Aufständischen wurde allerdings im Laufe des Vormittags bewusst, dass der Putsch am Zusammenbrechen war. In der Nacht hatte sich in Steyr eine Schutzkorpseinheit aus hundert Mann zur Befreiung des Ennstals in Marsch gesetzt. Diese unter anderem mit fünf Maschinengewehren bewaffnete Truppe traf um 9 Uhr im knapp fünf Kilometer entfernten Altenmarkt ein, schlug gegen 11 Uhr in Weißenbach einen Angriff der Aufständischen zurück und besetzte gegen 13 Uhr St. Gallen. Es liegen keine Berichte darüber vor, wie die geschlagenen Nationalsozialisten reagierten, als sie erfuhren, was in der vorhergegangenen Nacht im Hause Glaser geschehen war. Der verletzte Putschführer Franz Ebner, sein 24-jähriger Halbbruder Rudolf Glaser und der neue Kommandant Ferdinand Hartner hatten gegen 22 Uhr die Radioansprachen Feys und Schuschniggs über die Ereignisse im Bundeskanzleramt gehört.29 Deshalb waren sie, wie das Gendarmerieprotokoll wörtlich festhält, „anders über den Sachverhalt aufgeklärt, als dieser ursprünglich aufgefasst wurde“. Daraufhin hatten die drei die Flucht beschlossen und sich gegen Mitternacht davongemacht – allem Anschein nach, ohne ihre gerade gegen das 29 Beide Ansprachen sind abgedruckt in: Wiener Zeitung, 26.7.1934, 3–4.

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Schutzkorps kämpfenden Kameraden über den Stand der Dinge in Wien informiert und sie gewarnt zu haben.30 Auf der Kohlmannalm forderte Ebner seine Fluchtgefährten auf, ohne ihn weiterzugehen, weil er mit ihnen wegen seiner Verletzung nicht mithalten könne. Glaser und vermutlich auch Hartner wurden in der Nacht zum 30. Juli in einer Almhütte im Raum Wörschach von Gendarmen aufgestöbert und verhaftet. Während Rudolf Glaser gerichtlich zu zwölf Jahren Kerker verurteilt wurde, kam Ferdinand Hartner als „Minderbeteiligter“ mit einigen Monaten Haft im Anhaltelager Wöllersdorf davon. Franz Ebner stellte sich am Abend des 14. August der Gendarmerie in Unterlaussa. Laut Protokoll gab er an, sich nach der Trennung von Hartner und Glaser eine Woche lang in der Gegend von Oberlaussa ziel- und planlos herumgetrieben, die restliche Zeit in einem aus Fichtenzweigen zusammengebastelten Unterstand gehaust und von dem mitgenommenen Proviant sein Leben gefristet zu haben. Schließlich wurde Ebner in das Gerichtsgefängnis Weyer (Oberösterreich), eingeliefert, wo er die nächsten neun Tage verbrachte.

Der Prozess Zu den vielen Ungereimtheiten im Fall Ebner gehört, dass dem Kreisgericht Leoben erst einen Tag vor Prozessbeginn, also am 23. August, bekannt wurde, dass Ebner längst verhaftet worden war. An diesem Tag traf ein Beweisantrag der Leobener Rechtsanwaltskanzlei Bichler/ Weitz, die neben anderen den Beschuldigten Ferdinand Obenaus vertrat, beim Gericht ein. Darin heißt es: „Zunächst gebe ich Ferdinand Obenaus dem Gerichte bekannt, dass sich Ebner der Gendarmerie gestellt hat und dem Bezirksgerichte Weyer in Oberösterreich eingeliefert wurde. […] Ich beantrage nunmehr Einvernahme des Ebner und Beschaffung der seine Strafsache betreffenden Gendarmerieanzeige vom Bezirksgerichte Weyer zum Nachweise darüber, dass Ebner allein es war, welcher am 25. Juli 1934 in St. Gallen auf den Revierinspektor Titz geschossen hat.“ Und zur Bekräftigung gleich noch einmal: „Es ist für mich von eminenter Wichtigkeit, den Nachweis zu erbringen, dass Ebner als Einziger auf den Gendarmeriebeamten Titz geschossen hat, so dass alle anderen Angeklagten in diesem Punkte als Mittäter nicht zur Verantwortung gezogen werden können. Ebner hat auch ohne Weiteres zugegeben, auf Inspektor Titz geschossen und auf diese Weise seinen Tod verursacht zu haben.“ In der

30 Ebner selbst war es, der bei seiner Einvernahme auf der Gendarmerie Unterlaussa am 14.8.1934 von „Flucht“ sprach. In St. Gallen dürfte allerdings die Version in Umlauf gebracht worden sein, Hartner und Glaser hätten Ebner aufgrund seiner Verletzung nur in ein Versteck bringen wollen und deshalb St. Gallen so überstürzt im Schutz der Finsternis verlassen. Schreiben Bernd Bornemann-Bratz vom 27.3.2005 an den Verfasser.

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Verhandlung selbst – also in aller Öffentlichkeit – drückte sich Obenaus ganz so wie seine Mit­ angeklagten am Titz-Mord wesentlich vorsichtiger aus: Er habe sich im Augenblick der Tat abgewendet und nicht gesehen, wer geschossen habe. Aber das Gericht wird auch so seine Schlüsse aus dem überdeutlich formulierten Beweisantrag gezogen haben. Ebner wurde umgehend per Auto von Weyer nach Leoben überstellt, wo am nächsten Tag, dem 24. August, der Prozess gegen ihn und weitere 15 Mitangeklagte aus St. Gallen begann. Bei der Befragung durch den Staatsanwalt nannte Ebner zwei Gründe, wieso er sich nach fast drei Wochen freiwillig gestellt hatte: zum einen habe er seine Familie schützen wollen und sich zum Abb. 3: Franz Ebner, 1902–1934. anderen „teilweise“ verantwortlich für das geQuelle: Sammlung des Verfassers. fühlt, was geschehen sei. Dass man ihn des Mordes an Revierinspektor Titz bezichtigte, habe er nicht gewusst. Das klingt unglaubwürdig. Tatsächlich war er in den drei Wochen, in denen er sich versteckt hielt, von Angehörigen seiner Mutter versorgt worden31 – mit Lebensmitteln und bestimmt auch mit entsprechenden Informationen. Wieso hatte er sich angesichts der Mordanklage und des zu erwartenden Todesurteils freiwillig in die Hände der österreichischen Sicherheitsbehörden begeben? Nur aufgrund seiner eitrigen Verwundung und allgemeiner Erschöpfung? Oder war auf seine Familie so lange Druck ausgeübt worden, bis er sich schließlich gezwungen gesehen hatte, diese zu „schützen“? Vor Gericht redete Ebner sich um Kopf und Kragen. Er gab zu, dass die Waffe entsichert war, als er sie auf Titz anlegte. Er habe das Gewehr krampfhaft gehalten und gezittert. Es könnte in seiner Aufregung geschehen sein, dass er unbeabsichtigt an das Züngel gegriffen und einen Schuss ausgelöst habe. Er könne es sich „nahezu nicht denken“, aber das Gegenteil könne er auch nicht beschwören. Wie die anderen Angeklagten habe er „keinen Hass“ auf Inspektor Titz gehabt; im Gegenteil sei seine Familie sehr gut mit diesem gestanden. Am 29. August 1934 verurteilte das Militärgericht Ebner wegen Mordes zum Tod durch den Strang. Der Bundespräsident lehnte das telefonisch eingereichte Begnadigungsgesuch ab. Daraufhin wurde Franz Ebner gegen 11 Uhr nachts im Hof des Kreisgerichts Leoben gehenkt. 31 Schreiben Eckhard Weißensteiner vom 12.11.2006 an den Verfasser.

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Zwei der 16 Angeklagten wurden zu relativ geringen Haftstrafen von ein und zwei Jahren verurteilt und kamen noch vor dem Juliabkommen von 1936 frei. Elf Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren. Sie fielen in die im Juliabkommen ausgehandelte Amnestie und wurden am 24. Juli 1936 aus der Haft entlassen. Zwei zu lebenslänglichem Kerker verurteilte St. Gallener Putschisten erlangten erst nach dem Berchtesgadener Abkommen am 18. Februar 1938 ihre Freiheit. In der NS-Zeit erhielten sie allesamt den „Blutorden“, die höchste Parteiauszeichnung der NSDAP.

Legendenbildung in der NS-Zeit Nach dem „Anschluss“ vom März 1938 wurde Franz Ebner – wie alle getöteten oder hingerichteten Juliputschisten – zum Objekt eines maßlosen NS-Märtyrerkultes. Die St. Gallener Nationalsozialisten benannten die Hauptstraße des Ortes in „Franz-Ebner-Straße“ um; auch in Leoben, dem Ort der Hinrichtung Ebners, erhielt eine Straße diesen Namen,32 und die Gauhauptstadt Graz bekam gar einen „Franz-Ebner-Platz“.33 Aber würde ein SA-Führer, dessen einzige „Heldentat“ darin bestanden haben könnte, einen älteren, höchst angesehenen und beliebten Gendarmeriebeamten wehrlos erschossen zu haben, überhaupt glaubwürdig als „Blutzeuge der Bewegung“ durchgehen? Aus diesem Grund war es notwendig, die beim Prozess gegen Ebner als Zeugin aufgetretene Kaufmannsgattin Anna Unterer gleichsam zur „Hexe“ zu stilisieren und alle Schuld auf sie zu laden – um auf diese Weise Franz Ebner als reinen Märtyrer und unschuldiges Opfer des „Systems“ präsentieren zu können. So geschah es denn im Juni 1938, gerade rechtzeitig vor den pompösen Feierlichkeiten zur Erinnerung an den Juliputsch. Die Zeitungen der „Ostmark“ brachten groß aufgemachte, zum Teil von Inhalt und Formulierung her identische Berichte über den „Justizmord“ an Franz Ebner und ein angebliches Schuldeingeständnis Anna Unterers, der nun der Prozess wegen falscher Zeugenaussage gemacht werden würde. Aus „Hass und Rachsucht“ gegen die Familie Glaser sei sie zur „Hauptbelastungszeugin“ gegen Franz Ebner geworden; mit ihrem Meineid hätte sie das verfehlte Todesurteil verschuldet.34 Das eigentliche 32 Am 29. August 1938, um 11 Uhr nachts, fand in Leoben eine groß aufgezogene, schwülstige Gedenkfeier für Franz Ebner im Gefängnishof statt. Murtaler Zeitung, 3.9.1938. 33 Graz. Die Stadt der Volkserhebung, hrsg. vom Gaupropagandaamt Steiermark, Graz 1938, 43. – ­Ori­ginal-Bildlegende: „Eine Volksgemeinschaft, durch Blut geweiht: die Angehörigen der Opfer des 25. Juli 1934. Zum dauernden Gedenken an die toten Helden werden Straßenzüge und Plätze nach ihnen benannt. Graz hat nun einen Friedl-Sekanek- und einen Max-Rainer-Ring, einen August-Aßmann-Platz, eine Josef-Kristandl-Straße und einen Rudolf-Erlbacher- und einen Franz-Ebner-Platz.“ 34 Vgl. Volks-Zeitung, 21.6.1938, 1; Kleines Blatt, 21.6.1938, 1 u. 5 (beide abrufbar unter http://anno.

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Urteil erging freilich erst zehn Monate später; es erfüllte inhaltlich in keiner Weise, was die zweifellos gezielt lancierten Zeitungsberichte suggeriert hatten. Dass Anna Unterer von dem Nazi-Gericht trotzdem zu 18 Monaten Kerker wegen „falschen Eides“ verurteilt wurde, mutet willkürlich an.35 Sie hatte als Zeugin im Militärgerichtsprozess 1934 als Einzige explizit ausgesagt, dass Ebner geschossen habe. Die anderen Zeugen hatten angegeben, dass es Ebner „gerissen“, er eine „Bewegung“ gemacht, das Gewehr „repetiert“ habe und so weiter. Allein Anna Unterer will durch das Fliegengitter des Parterrefensters genau gesehen haben, wie er schoss: „Ich sah Ebner direkt ins Gesicht und sah, wie er schießt, ich sah den Schuss, Ebner hat ihn abgegeben.“36 Allerdings soll sie sich in den Tagen und Wochen nach dem Putsch Nachbarn und Kunden gegenüber unterschiedlich geäußert und verschiedene Personen als Täter bezeichnet haben. Aber selbst das Gerichtsurteil von 1939 bestätigte, dass Unterers Aussage 1934 gegen Ebner keineswegs ausschlaggebend für dessen Verurteilung gewesen sei.37 Trotzdem hielt sich – noch Jahrzehnte nach Ende der NS-Ära – in St. Gallen hartnäckig die Version, Anna Unterer sei am Tode Ebners schuld. Eine katholisch-volksreligiöse Komponente ist dabei unübersehbar. So wurde eine Erkrankung, in deren Folge Anna Unterer angeblich mehrere Finger abgenommen werden mussten, von manchen so gedeutet, dass ihr

onb.ac.at/anno.htm) oder die Regionalblätter Der Ennstaler, 25.6.1938, und Murtaler Zeitung, 25.6.1938. 35 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Akt Nr. 1903, Urteil des Kreisgerichts­Leoben vom 15. April 1939 im Prozess gegen Anna Unterer. 36 Insbesondere wurde in Zweifel gezogen, dass Anna Unterer durch das Fliegengitter erkennen konnte, was auf der Gasse vor sich ging; im Video „Spurensuche“ der Hauptschule Weißenbach vertritt ein Zeitzeuge noch 2005 diese These. Allerdings hatte das Militärgericht während des noch laufenden Prozesses die Gendarmerie in St. Gallen beauftragt, die Aussage der Zeugin Unterer vor Ort zu überprüfen. In dem entsprechenden Bericht heißt es u. a.: „Das Fenster ist gassenseitig vergittert. Außer dem Gitter befindet sich vor dem Fenster noch ein feines Drahtgitter (Fliegengitter). […] Von diesem Fenster aus kann man alles beobachten, was vor dem Fenster auf der Gasse vorgeht. Ich stellte einen Schukomann [Angehörigen des Freiwilligen Schutzkorps, Anm. KB] vor das Fenster und begab mich in das Magazin, wobei ich alle Bewegungen desselben beobachten konnte.“ ÖStA, AdR, BMLV, Militärgerichtshof Wien 91/34, Bericht des Gendarmeriepostenkommandos St. Gallen an das Militär­ gericht in Leoben vom 27.8.1934. – Die Staatsanwaltschaft beim Kreisgericht Leoben gelangte hingegen bei einem Lokalaugenschein im Juni 1938 zur Überzeugung, „dass es völlig unmöglich ist, von dort aus Vorgänge, wie sie die Frau gesehen haben will, zu beobachten“. Murtaler Zeitung, 25.6.1938. 37 Das Kreisgericht Leoben betonte 1939, dass das Militärgericht von 1934 stärkeres Gewicht auf die Aussagen der Mitangeklagten Florianschitz und Obenaus sowie die eigene Verantwortung Ebners gelegt habe. Aus der Aussage Anna Unterers übernehme „das Urteil im Wesentlichen die Feststellung, dass sie gesehen hat, dass Franz Ebner geschossen hat. Diese Möglichkeit hat aber Ebner, wie bereits erwähnt, selbst zugegeben […].“ DÖW, 1903, Urteil gegen Anna Unterer.

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die Finger der Hand abgefault seien, mit der sie ihren „Meineid“ geschworen habe.38 Der geradezu biblisch anmutende Hass Anna Unterers auf die Familie Glaser wurde darauf zurückgeführt, dass Dr. Glaser ihre Tochter nicht wirkungsvoll behandelt hätte und diese deshalb ums Leben gekommen sei.39 Zu den Mythen und Legenden rund um den Fall Ebner gehört auch, dass einer der Mitangeklagten Ebners, Franz Brückner, auf dem Totenbett gestanden haben soll, der wahre Täter zu sein.40 Die Schuld am Tod des Revierinspektors Titz wird sich nicht mehr klären lassen. Der Prozessakt von 1934 zeigt, dass einige Indizien, aber keine positiven Beweise für die Täterschaft Ebners sprechen. Wesentlich deutlicher geht aus diesem Akt jedenfalls eines hervor: Das Leobener Militärgericht sah in erster Linie die eigenen Aussagen Ebners sowie die Angaben seiner Mitangeklagten als für das Todesurteil ausschlaggebend an. Kein anderer Schluss bleibt, als dass es seine SA-Kameraden waren, die Franz Ebner an den Galgen geliefert hatten. Im lokalen historischen Gedächtnis blieb freilich die verlogene nationalsozialistische Darstellung von 1938 haften.

38 Mündliche Auskunft Werner Windhager über in St. Gallen umlaufende Gerüchte zum Fall Ebner (24.6.2004); Ähnliches äußerste der Sohn eines Angeklagten des Ebner-Prozesses gegenüber dem Verfasser im Jahr 2003. 39 Mündliche Auskunft Werner Windhager; dem Ennstaler ist zu entnehmen, dass eine Tochter der ­Familie Unterer am 1. Mai 1934 beerdigt wurde. 40 Schreiben Bernd Bornemann-Bratz vom 27.3.2005 an den Verfasser sowie mündliche Auskunft Werner Windhager.

Antisemitismus und Deutschnationalismus Von Prozessen der Ausdifferenzierung zu Strategien der Homogenisierung am ­Beispiel deutschnational-völkischer Frauenvereine

Heidrun Zettelbauer

„Gerade in der Steiermark [empfanden wir] die Aufnahme so vieler Flüchtlinge als eine schwere Belastung unseres Kronlandes, dies umsomehr, als ein Teil dieser fremdsprachigen und fremdrassigen Flüchtlinge für die ihnen gewährte Aufnahme wenig Dank empfunden haben [sic!]. […] denn gerade durch diese Flüchtlinge hat der Lebensmittelverkehr unserer Steiermark eine starke Schädigung erlitten, und der Ankauf von Grund und Boden durch galizianische Juden bedeutet eine große Gefahr für unseren deutschen Besitzstand.“1

Am 15. Dezember 1917 hielt Karoline Kreuter-Gallé die Hauptrede in der Generalversammlung des Deutschen Frauenbundes in Graz und schwor darin ihre Zuhörerinnen auf ihre Frauenpflichten und ihre nationalen Aufgaben ein. In ihrer Rede fallen vor allem ihre antisemitischen und rassistischen Ausfälle ins Auge, zugleich erscheinen ihre Ausführungen als eine Zusammenschau nahezu aller gängigen Diskursfiguren der völkischen Geschlechterideologie, die sich bis dato herauskristallisiert hatten. Eine antisemitische Ausgrenzungsrhetorik war im deutschnationalen Milieu bereits in den 1880er-Jahren salonfähig geworden.2 Frauen standen dabei (und das zeigt nicht zuletzt Kreuter-Gallé, die zumindest in fünf [!] deutschnationalen Vereinen aktiv war und etwa im Verein Südmark als erste Frau in die zentrale Hauptleitung aufgenommen wurde) ihren ideologisch gleich gesinnten Männern im Ausmaß rassistischer und menschenverachtender Rhetorik in nichts nach – auch wenn sie zahlenmäßig geringer vertreten waren. Eine Möglichkeit, sich dem Antisemitismus im deutschnational-völkischen Vereinsmilieu3 1 2 3

Lina Kreuter-Gallé, Hauptrede, gehalten auf der Frauenversammlung, einberufen vom Deutschen Frauen-Bund Steiermarks, 15. Dezember 1917, Graz 1917, 10–11. Vgl. Peter G. J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Göttingen 2004, 23. Wenn im Folgenden vom deutschnational-völkischen „Milieu“ die Rede ist, dann deshalb, weil der Milieubegriff weicher formuliert ist als der Begriff des „politischen Lagers“. Johanna Gehmacher hat diesbezüglich gezeigt, dass der Milieubegriff den Vorteil bietet, auch Ambivalenzen, Übergänge, Wechselwirkungen zwischen politischen Parteien, Vereinen, Verbänden und Ideologien thematisieren zu können, also nicht auf starre Lagergrenzen abhebt. Außerdem erlaubt der Begriff auch, die NSDAP neben nationalen, völkischen, auch rechten Parteien, Verbänden und Ideologien als Teil eines politi-

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anzunähern, stellt dabei eine Analyse antisemitischer Diskurse dar: etwa im Hinblick darauf, dass Jüdinnen als Gegenbild der „deutschen Frau“ konstruiert wurden, dass sie im Rahmen einer antimodernen Rhetorik zu Symbolen einer rastlosen, nervösen und wertelosen Moderne stilisiert wurden oder dass jüdische Männer in deutschnationalen Diskursen feminisiert wurden. Man könnte sich auch mit wirtschaftlichen Konkurrenzängsten des Milieus befassen und herausarbeiten, dass seit den 1880er-Jahren gebetsmühlenartig wiederholt wurde, dass ‚deutsche Frauen‘ nicht bei jüdischen Kaufleuten einkaufen dürften; dass sie als ‚Kulturträgerinnen‘ und ‚nationale Erzieherinnen‘ dafür zu sorgen hätten, dass keine ‚jüdischen Bücher und Zeitschriften‘ ins ‚deutsche Haus‘ kämen; dass Frauen – entsprechend ihrer Funktion als ‚biologische Reproduzentinnen der Nation‘ – nur ja keine ‚nationalen Mischehen‘ mit Juden oder Männern anderer Nationalitäten eingehen dürften und durch das Gebären von Kindern, als ‚deutsche Mütter‘, für die Sicherung des Weiterbestandes ihres Volkes zu sorgen hätten.4 Im folgenden Beitrag wird allerdings weniger auf diese Punkte eingegangen, sondern vielmehr den sozialen Praktiken nachgegangen, die auf den genannten diskursiven Imaginationen beruhen. Konkret wird beleuchtet, mittels welcher Strategien deutschnational-völkische Frauenvereine im Zeitraum vom Ersten Weltkrieg bis in die 1930er-Jahre Rahmenbedingungen schufen (etwa in Statuten oder in vereinseigenen Institutionen), um antisemitische Haltungen in der alltäglichen Vereinspraxis umzusetzen. Mit der konkreten Vereinspraxis ist denn auch der zweite Aspekt des Beitragstitels angesprochen: Es geht im Folgenden auch darum, grundlegende Prozesse der Ausdifferenzierung vor 1918 (konkret die Anfänge der deutschnational-völkischen Vereinslandschaft in der Steiermark) in den Blick zu nehmen sowie – gewissermaßen als Gegenbewegung dazu – Strategien der Homogenisierung von 1918 bis 1938 innerhalb der deutschnational-völkischen Vereinslandschaft darzustellen. Mit letzterem Fokus treten zugleich Kontinuitätslinien, Netzwerke und Verflechtungen des deutschnational-völkischen und des nationalsozialistischen Milieus zutage. Das Einnehmen einer explizit geschlechtergeschichtlichen Perspektive (die folgenden empirischen Beispiele beziehen sich entweder auf frauenspezifische Organisationsformen innerhalb verschiedener völkischer Vereine oder auf eigenständige deutschnationale Frauenvereine) verfolgt dabei mehrere Zielsetzungen: zum einen wird damit dem Umstand Rechnung getragen, dass die Forschung insgesamt das hohe Maß an Integration und die starke

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schen „Milieus“ zu begreifen und Kontinuitätslinien (etwa nach 1945) zu betonen, was in Forschungen zum „nationalen Lager“ vielfach ausgeblendet blieb – indem z. B. Selbstpositionierungen rechter Gruppierungen nach 1945, die vielfach auf 1848 rekurrieren, aber die NS-Zeit ausblenden, auch in der Forschung verlängert wurden. Vgl. Johanna Gehmacher, Völkische Frauenbewegung. Deutschnationale und nationalsozialistische Geschlechterpolitik in Österreich, Wien 1998, 32–33. Vgl. Heidrun Zettelbauer, Die Liebe sei Euer Heldentum. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt am Main–New York 2005.

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Präsenz von Frauen bzw. frauenspezifische Organisationsmuster des Milieus bis auf wenige Ausnahmen noch immer zu wenig reflektiert. Zum anderen werden durch einen Blick auf parteipolitische Vorfeldvereine (in denen gerade Frauen häufig eine maßgebliche Rolle spielten) bislang häufig kaum beachtete Räume politischer Vergesellschaftung sichtbar. Und nicht zuletzt dokumentieren die völkischen Frauenvereine ein diskursives Spannungsfeld, indem nämlich eine tatsächlich stark ausgeprägte Politisierung der organisierten Frauen als ‚unpolitisches Handeln‘ ausgegeben wurde. Damit wird eine Ambivalenz sichtbar, die von Beginn an bestimmend für das Selbstverständnis der völkischen Vereine insgesamt war, sich aber insbesondere als zentral für die Integration von Frauen erwies. Hier wurde schon sehr früh ein Argumentationsmuster eingeübt, das besonders nach dem Verbot der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) im Juni 1933 erfolgreich eingesetzt werden konnte, um (etwa den staatlichen Behörden gegenüber) die Unterstützung illegaler NS-AktivistInnen auf Basis legal operierender frauenspezifischer Organisationsstrukturen des deutschnationalen Milieus aufrechtzuerhalten. Im Folgenden werden in einem ersten Schritt zunächst grundlegende Aspekte der Verschränkung von Deutschnationalismus und Antisemitismus dargestellt sowie Strukturen der völkischen Vereinslandschaft in der Steiermark unter besonderer Berücksichtigung einschlägiger Frauenvereine bzw. frauenspezifischer Organisationsformen. In einem zweiten Teil werden die skizzierten Prozesse der Ausdifferenzierung wie auch Strategien der Homogenisierung angesprochen, konkret vor dem Hintergrund der Neugründung von Vereinen, politischen Netzwerken, Kooperationen und rechtlichen Verflechtungen.

Antisemitismus und Deutschnationalismus „[N]icht das Judentum provozierte den Antisemitismus, sondern die Antisemiten produzieren den Antisemitismus; das heißt der Antisemitismus ist zunächst das Problem der Antisemiten und erst in seiner Auswirkung, in seiner Aggression das Problem der angegriffenen Gruppen, da diese in ihrer Freiheit behindert werden, in letzter Konsequenz dem Mord gegenüber stehen“ 5, betont Dieter A. Binder und verweist damit auf einen Vorgang, der häufig vergessen wird. Das Entstehen des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert kann einerseits als direkte Reaktion auf die rechtliche Gleichstellung von Juden/Jüdinnen in Österreich 1867 gesehen, andererseits aber auch als Folge der Modernisierungsprozesse und des Aufkommens moderner Massenpolitik begriffen werden. Helmut Berding hat dabei vor allem auf die Bruchlinien verwiesen, die

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Dieter A. Binder, Antisemitismus und Judentum, in: Dieter A. Binder/Gudrun Reiter/Herbert Rütgen, Judentum in einer antisemitischen Umwelt. Am Beispiel der Stadt Graz 1918–1938, Graz 1988, 5.

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den modernen von einem früheren Antisemitismus trennen:6 Antisemitische Diskriminierungsmuster waren keine Erfindung der Moderne, sondern reichten in ihren Traditionslinien bis ins Mittelalter zurück, wobei in der Vormoderne in erster Linie wirtschaftliche Motive eine Rolle für die Ausgrenzungsphänomene spielten.7 Eine besondere Akzentuierung, Aufladung (und nicht zuletzt auch gesellschaftliche Durchsetzung) erfuhr der Antisemitismus jedoch durch den Nationalismus.8 Nationalistische Bewegungen und Diskurse wurden zu einer Haupttriebfeder9 des Antisemitismus. Klaus Holz hat diesen „nationalen Antisemitismus“ in die 1870er-Jahre datiert und zu dessen spezifischer semantischer Struktur festgehalten: „Im Antisemitismus dient das Judenbild dazu, eine Wir-Gruppe semantisch zu formieren. Selbst- und Fremdbild sind zwei Seiten einer Medaille. Deshalb kann das Judenbild nur als Gegenbild analysiert werden, durch das sich eine Wir-Gruppe ein Bild von sich selbst macht. Im nationalen Antisemitismus entstanden Muster, die ein spezifisches Selbst- und ein komplementäres Feindbild integrieren. Dem modernen antisemitischen Judenbild entspricht ein Selbstbild als Volk/Staat/Nation. Diese Muster sind eine semantische Tradition, die sich in die moderne Gesellschaft eingeschrieben hat.“10

Holz nennt hier ein Strukturmuster, das grundsätzlich konstitutiv für nationale Diskurse ist, ein Denken in Dichotomien und scharfen Konfrontationskonturen.11 Nationale Diskurse be6

Vgl. Helmut Berding, Antisemitismus in der modernen Gesellschaft: Kontinuität und Diskontinuität, in: Manfred Hettling/Paul Nolte (Hrsg.), Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays, München 1996, 206. Vgl. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 46–47. 7 Vgl. Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, UnSichtbar. NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Steiermark, Graz 2008, 26. 8 Zur Entstehung von politisch-kulturell, national und ethnisch argumentierenden Strategien und Tendenzen der Selbstbehauptung, der Ausgrenzung und Xenophobie, Formen von Antisemitismus oder Antislawismus vgl. Stephen Toulmin, Cosmopolis. The Hidden Agenda of Modernity, New York 1990, zit. n. Moritz Csáky, Die Wiener Moderne. Ein Beitrag zu einer Theorie der Moderne in Zentraleuropa, in: Rudolf Haller (Hrsg.), nach kakanien. Annäherungen an die Moderne (Studien zur Moderne 1), Wien et. al. 1996, 77–78. 9 Vgl. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 31. 10 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001, 552, 540, zit. n. Pulzer, Entstehung (Anm. 2) 33. 11 Etela Farkasova/Zuzana Kiczkova, Feministische Ansätze in der Diskussion über nationale Identität. Zur Grenzziehung in der ehemaligen Tschechoslowakei, in: Olga Uremovič/Gundula Oerter (Hrsg.), Frauen zwischen Grenzen. Rassismus und Nationalismus in der feministischen Diskussion, Frankfurt am Main–New York 1994, 129–143, hier 143. – Susanne Kappeler, „Als Frau habe ich kein Land“, aber einen deutschen Paß. Strukturen des Nationalismus in der deutschen Frauenbewegung, in: Uremovič/ Oerter, Frauen zwischen Grenzen (wie Anm. 11) 92–106, hier 93f. – Floya Anthias, Parameter kollektiver Identität. Ethnizität, Nationalismus, Rassismus, in: Rassismus und Migration in Europa. Beiträge

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ruhen immer auf Strukturen von Einschluss/Ausschluss, auf Selbst- und Fremdbildern, wobei die ‚eigene Nation‘, das ‚eigene Volk‘ nicht nur ‚nach außen‘ abgegrenzt wird (also von ‚anderen Nationen/Völkern‘ als different konstruiert wird), sondern immer auch ‚innere Feinde‘ einer Nation ausgemacht werden.12 In der Steiermark bzw. in Graz prägte der Antisemitismus in hohem Maß das politisch-kulturelle Klima seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Dies wurde etwa ebenso sichtbar in behördlichen Schikanen in der Frühzeit der Israelitischen Kultusgemeinde, wie auch unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg in der deutlich antisemitischen Haltung der Mehrheit der Grazer Studentenschaft bzw. einzelner akademischer Funktionäre.13 Während der habsburgische Gesamtstaat im Sinne der Wahrung des Völkerfriedens noch versuchte, nationalistische und antisemitische Agitation in die Schranken zu weisen, so führten der Wegfall der Zensur und der Anwendung des Strafrechts gegen antisemitische Publikationen bereits während des Ersten Weltkriegs und vor allem in den ersten Nachkriegsjahren dazu, dass es vorerst zu einem negativen Höhepunkt antisemitischer Ausgrenzungsphänomene kam.14 In Graz richtete sich dieser antijüdische Diskurs zunächst vor allem gegen ostjüdische Flüchtlinge, die aufgrund der Kriegshandlungen an der Ostfront zur Flucht gezwungen gewesen waren.15 Auch wenn nur ein geringer Teil der Kriegsflüchtlinge jüdischen Glaubens war, erweiterte sich der politisch-mediale Angriff bald jedoch auf Juden/Jüdinnen ganz generell, wenn etwa von Vertretern des Gemeinderates antisemitische Stereotypen wie jene des „jüdischen Wucherers“, des „Drückebergers“ und „Kriegsgewinnlers“ oder ganz allgemein des ‚Anderen‘, des ‚Fremden‘, des „Ostjuden“ als Gegenbild zu ‚den Deutschen‘ öffentlich verbreitet wurden. Welch widersprüchliche Projektionsflächen und Konstruktionen die propagierten Bilder dabei waren, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es möglich war, Juden/Jüdinnen einerseits vorzuwerfen, „kapitalistische Ausbeuter“ zu sein, während sie andererseits als „Marxisten“ und „Klassenkämpfer“ verunglimpft wurden.16

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des Hamburger Kongresses „Migration und Rassismus in Europa“, Hamburg–Berlin 1992, 88–103, hier 97. – Vgl. Zettelbauer, Die Liebe (wie Anm. 4) 177. Vgl. George L. Mosse, Die Juden im Zeitalter des modernen Nationalismus, in: Peter Alter/Claus-Ekkehard Bärsch/Peter Berghoff (Hrsg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden (Tagungsband des Salomon Ludwig Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte sowie des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte der Mercator-Universität – Gesamthochschule Duisburg), München 1999, 23, zit. n. Pulzer, Entstehung (Anm. 2) 32. Binder, Antisemitismus (wie Anm. 5) 5. Halbrainer/Lamprecht/Mindler, UnSichtbar (wie Anm. 7) 27. Vgl. Gudrun Reitter, Die Grazer Israelitische Kultusgemeinde, in: Binder/Reitter/Rütgen, Judentum (wie Anm. 5) 67–69. – Zur Agitation des Vereins Südmark, exemplarisch: Kreuter-Gallé, Hauptrede (wie Anm. 1) 1–14. Zum Antisemitismus in Graz und der Steiermark siehe generell Halbrainer/Lamprecht/Mindler, UnSichtbar (wie Anm. 7) 28–29. – Vgl. Reitter, Grazer Israelitische Kultusgemeinde (wie Anm. 15) 79.

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In den Umbruchsjahren 1918/19 wurden diese antijüdischen Stereotypen massiv reaktiviert, wobei handgreifliche Übergriffe auf jüdische Studierende und Lehrer (etwa 1923 an der Universität Graz)17 auf ein frühes Eindringen nationalsozialistischen Gedankenguts in das antisemitisch geprägte bildungsbürgerlich-akademische Milieu verweisen. Dazu kamen unzählige antisemitische Propagandaschriften u. a. des einschlägigen Stocker-Verlages,18 der ökonomisch geprägte Antisemitismus der steirischen Christlichsozialen, das Jonglieren mit antisemitischen Ressentiments aus politisch-taktischem Kalkül in der sozialdemokratischen lokalen Presse, wie auch Antisemitismus im Volksbildungs- oder Schulbereich.19 Dieter A. Binder sieht im Erstarken des Antisemitismus in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in der Steiermark vor allem auch eine Kompensation für die eigene politische Unzulänglichkeit im Kampf um die Untersteiermark und deren Verlust an den SHS-Staat: „Mangels einer ausgeprägten slawischen Minderheit profilierte man das eigene ‚Herrenmenschentum‘ an einem ‚volksfremden Judentum‘, das im übrigen wie die Mehrheit der nichtjüdischen Grazer Bevölkerung seit der Gründerzeit in dieser Stadt lebte.“20 Mit Fortdauer der Ersten Republik lässt sich jedenfalls eine Radikalisierung des Antisemitismus feststellen,21 was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass viele deutschnationale Vereine in Graz und der Steiermark sukzessive begannen, den sogenannten „Arierparagraphen“ in ihre Statuten aufzunehmen, welcher Juden/Jüdinnen den Mitgliederstatus verwehrte.22 Auch der Propaganda der völkischen Vereine und PolitikerInnen, nicht in den Geschäften und bei Unternehmen von Juden/Jüdinnen einzukaufen, folgten in der völkischen Presse meist 17 Vgl. Reitter, Grazer Israelitische Kultusgemeinde (wie Anm. 15) 82–83. 18 Vgl. dazu Herbert Rütgen, Der Leopold Stocker Verlag von der Verlagsgründung bis 1938, in: Binder/ Reitter/Rütgen, Judentum (wie Anm. 5) 173–202. 19 Binder, Antisemitismus (wie Anm. 5) 5. 20 Binder, Antisemitismus (wie Anm. 5) 3–4. 21 Halbrainer/Lamprecht/Mindler, UnSichtbar (wie Anm. 7) 28–29. 22 Vgl. Zettelbauer, Die Liebe (wie Anm. 4) 122–123. Einer der zentralen antisemitischen Agitatoren der Ersten Republik war der 1919 gegründete Deutsch-österreichische Schutzverein Antisemitenbund, der bereits 1919 vorwegnahm, was ab 1938 in Österreich durch Gesetze und Verordnungen durchgesetzt wurde – die Vertreibung von Juden/Jüdinnen aus der Gesellschaft. Vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler, UnSichtbar (wie Anm. 7) 29. – In Folge des zunehmenden Antisemitismus in den Vereinen kam es zu einer Innenorientierung des Grazer Judentums, vgl. dazu: Reitter, Grazer Israelitische Kultusgemeinde (wie Anm. 15) 85–124, hier 26f, 69, 65. – Zu den Wechselwirkungen von Deutschnationalismus, Antisemitismus und jüdischen Vereinen vgl. Heidrun Zettelbauer, Biografien im sozialen Raum. Jüdisches Leben, Antisemitismus, urbane Bezugsräume, soziale Netzwerke und 1938 als Bruchlinie, in: Antje Senarclens de Grancy/Heidrun Zettelbauer (Hrsg.), Architektur. Vergessen. Jüdische Architekten in Graz, Wien–Köln–Weimar 2011, 215–231, hier 220–221. – Zu den jüdischen Vereinen in Graz jüngst: Evelyn Adunka/Gerald Lamprecht/Georg Traska (Hrsg.), Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 18), Innsbruck–Wien–München 2011.

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ausführliche Listen „deutscher“ und „jüdischer Geschäfte“ (erstere seien – so der Tenor – zu fördern, zweitere zu meiden). Diese Diffamierungen wurden bereits seit den 1890er-Jahren von den völkischen Vereinen gebetsmühlenartig wiederholt, nach Kriegsende 1918 wurden sie neuerlich reaktiviert und medial professionalisiert.23 Neben der Studentenschaft, die eine ‚Pionierrolle‘ bei der Formulierung und Durchsetzung antisemitischer Haltungen einnahm,24 erwiesen sich vor allem nationale Verbände als ‚Vorreiter‘ des „nationalen Antisemitismus“.25 Obwohl etwa in Graz neben einer überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung andere nationale Minderheiten zahlenmäßig gering vertreten waren,26 kennzeichnete die von nationalistischer Seite geschürte Angst vor ‚Überfremdung‘ das politische Denken in der Stadt.27 Das deutschnationale Vereinswesen blühte und eine lokale national-konservative Presse machte sich zum Sprachrohr eines radikalen Deutschtums. Graz betrachtete sich als „Bollwerk deutscher Kultur“28 und hatte seit 1900 ein starkes nationales Selbstverständnis entwickelt.29 Hier ging außerparteiliche deutschnationale Agitation in spezifischen Vereinen Hand in Hand mit offizieller deutschnational geprägter Gemeinderatspolitik wie in kaum einer anderen Stadt.30 Spätestens nach 1900 sind antisemitische Haltungen als gemeinsames Bindeglied der disparaten deutschnational-völkischen Parteien- und Vereinslandschaft zu sehen. Wie diese waren auch die Presse sowie die Grazer Vereinslandschaft politisch und weltanschaulich differenziert, in der häufig lagerüberschreitenden Grundbefindlichkeit des Antisemitismus hingegen war man sich einig.31 Juden/Jüdinnen wurden als die eigentlichen Feinde des ‚deutschen Vol23 Vgl. Zettelbauer, Die Liebe (wie Anm. 4) 278–279, 283–286. 24 Vgl. Norbert Kampe, Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988, 207, zit. n. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 34. 25 Vgl. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 37. 26 Zur slowenischen Bevölkerung in Graz siehe: Christian Promitzer/Michael Petrowitsch, „Wes Brot du ißt, des Lied du singst!“ – Slowenen in Graz, in: Christian Stenner (Hrsg.), Slowenische Steiermark. Verdrängte Minderheit in Österreichs Südosten (Zur Kunde Südosteuropas II/23), Wien–Köln–Weimar 1997, 167–234. 27 William H. Hubbard, Auf dem Weg zur Großstadt. Eine Sozialgeschichte der Stadt Graz 1850–1914 (Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 17), Wien 1988, 25. 28 Heidemarie Uhl, „Bollwerk deutscher Kultur“. Kulturelle Repräsentationen nationaler Politik in Graz um 1900, in: dies. (Hrsg.), Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierungen der Moderne in Zentraleuropa um 1900, Wien 1999, 39–82. 29 Hubbard, Großstadt (wie Anm. 27) 167–175. 30 Eduard G. Staudinger, Die Südmark. Aspekte der Programmatik und Struktur eines deutschen Schutzvereines in der Steiermark bis 1914, in: Helmut Rumpler/Arnold Suppan (Hrsg.), Geschichte der Deutschen im Bereich des heutigen Slowenien 1848–1941 (Schriftenreihe des österreichischen Ostund Südosteuropa-Instituts 13), Wien–München 1988, 140. 31 Binder, Antisemitismus (wie Anm. 5) 5.

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kes‘ aufgefasst. Demnach war die Entgegensetzung einer „deutschen Volksgemeinschaft“ und einer „jüdischen Interessengemeinschaft“ (verkörpert in Liberalismus und Marxismus, wie das etwa die Großdeutsche Volkspartei 1920 in ihrem Salzburger Programm festhielt) konstitutiv für das deutschnationale Milieu. In der Frage des Antisemitismus im deutschnationalen Milieu bestand nach 1918 jedenfalls kein qualitativer Unterschied mehr zum Antisemitismus der NSDAP, „in dem ‚die Juden‘ als ‚Gegenvolk‘ konstruiert wurden, das der ‚deutschen Volksgemeinschaft‘ erst Sinn verlieh“.32 Der Antisemitismus bildete denn auch die ideologische Verbindungslinie zwischen Deutschnationalen und NationalsozialistInnen. Letztere waren seit den 1920er-Jahren in der Steiermark aktiv,33 für sie bildete der Antisemitismus eine ideologische Grundkonstante, wobei mit dem Erstarken der NSDAP vor allem seit dem Juli-Putsch 1934 eine neue Komponente antisemitischer Ausgrenzungspraktiken hinzukam: der Übergang von verbalen und publizistischen Aktivitäten hin zu tätlichen Angriffen, Terroraktionen und Sabotageakten gegen jüdische Einrichtungen oder Privatpersonen.34 Die zunehmende Radikalisierung mündete schließlich 1938 im offenen Terror, in der Verfolgung, Beraubung und in vielen Fällen der Ermordung jüdischer SteirerInnen.

Deutschnational-völkische (Frauen-)Vereine Die deutschnational-völkischen Vereine in der Steiermark erwiesen sich als zentrale Vorreiter antisemitischen Gedankenguts und entfalteten von hier aus eine politische und gesellschaftliche Wirkkraft, die weit über regionale Bezugspunkte hinausging. Sie waren in gewisser Weise Ausdruck eines inneren Wandlungsprozesses des national-liberalen Milieus in der Habsburgermonarchie im letzten Drittel des 19. Jahrhundert hin zu einem radikalen, aggressiven, populistischen Deutschnationalismus,35 in dem ‚deutsche Identität‘ zunehmend essenzialistisch 32 Vgl. Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3) 29. – Klaus Berchtold, Österreichische Parteiprogramme 1868–1966, München 1967, 482–483. 33 Vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler, UnSichtbar (wie Anm. 7) 48. Vgl. Meinhard Brunner, Allgemeine politische und soziale Entwicklung von Graz 1850 bis 2003, in: Walter Brunner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Graz 1: Lebensraum – Stadt – Verwaltung, Graz 2003, 215–310, hier 253, 258. 34 Vgl. Halbrainer/Lamprecht/Mindler, UnSichtbar (wie Anm. 7) 48–59. 35 Dazu: Monika Streitmann, Der Deutsche Schulverein vor dem Hintergrund der österreichischen Innenpolitik 1880–1918, unveröff. phil. Diss. Wien 1984, 6f. – Ernst Hanisch, 1890–1990: Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert (Österreichische Geschichte), Wien 1994, 121. – Vgl. auch Helmut Rumpler, 1804–1914. Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie (Österreichische Geschichte), Wien 1997, 403–485.

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(also im Sinne einer ethnisch-sprachlich definierten ‚Abstammungsgemeinschaft‘) propagiert wurde.36 Ein zentraler Ankerpunkt des neuen Deutschtums war die Schaffung politisch-ökonomischer „Selbsthilfeorganisationen“37, die v. a. den Zweck hatten, soziale Konfliktpotenziale (etwa Klassenspannungen, drohende Verluste von Status oder symbolischem Kapital, wirtschaftliche Konkurrenzängste und Ähnliches) weitgehend zu neutralisieren und gleichzeitig die Verbreitung bürgerlicher Werte zu garantieren.38 Auch wenn die Verbände sich selbst als ‚unpolitisch‘ definierten, so agierten sie von Beginn an politisch und stark antiklerikal. Die Realität des multiethnischen und -nationalen Habsburgerstaates wurde abgelehnt und Integrations- oder Assimilationsprozesse wurden zu verhindern gesucht. Emanzipationsversuche vor allem der slawischen Nationalitäten wurden als angeblich „zielgerichtetes, geplantes und organisiertes Vordringen“ wahrgenommen und als Bedrohung inszeniert. Auf diese Weise konnte die eigene Politik mit der Notwendigkeit einer „nationalen Gegenoffensive“ begründet werden.39 Die Vereine rekrutierten ihre Mitglieder vor allem im Bildungsbürger- und Beamtentum, in den freien Berufen, auch unter einer enttäuschten zweiten Generation der Nationalliberalen,40 wobei als dezidiertes Ziel hinter all den unterschiedlichen Aktionsfeldern ein machtpolitischer Anspruch ausgemacht werden kann, nämlich den Bestrebungen von Juden/Jüdinnen, aber auch der tschechischen, slowenischen oder italienischen Nationalitäten nach Emanzipation, Partizipation, sozialer Geltung und Aufstieg oder nach Relativierung von bestehenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Hegemonien Einhalt zu gebieten.41 An dieser Stelle gilt es, einen weiteren Punkt zum oben skizzierten „nationalen Antisemitismus“ festzuhalten, nämlich dass sich in den deutschnationalen Diskursen eine Art von Modernität niederschlug, die sich auf moderne Glaubensartikel von Selbstbestimmung, Massenpartizipation an der Politik und Selbstbehauptung des Nationalstaats stützte. Dabei ging es 36 Vgl. Pieter M. Judson, Inventing Germanness: Class, Ethnicity, and Colonial Fantasy at the Margins of the Habsburg Monarchy, in: Working Papers in Austrian Studies 2, Minneapolis 1993, 2–5. Zum damit einhergehenden Antisemitismus vgl. Holz, Nationaler Antisemitismus (wie Anm. 11) 552, 540, zit. n. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 33. 37 Allgemein zu deutschnationalen Vereinen: Werner Drobesch, Der Deutsche Schulverein 1880–1914. Ideologie, Binnenstruktur und Tätigkeit einer (deutsch) nationalen Kulturorganisation unter besonderer Berücksichtigung Sloweniens, in: Feliks J. Bister/Peter Vodopivec (Hrsg.), Kulturelle Wechselseitigkeit in Mitteleuropa. Deutsche und slowenische Kultur im slowenischen Raum vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Ljubljana 1995, 130ff. 38 Judson, Germanness (wie Anm. 36) 6. – Vgl. Uhl, Bollwerk (wie Anm. 28) 41f. 39 Staudinger, Südmark (wie Anm. 30) 154. 40 Vgl. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 37. 41 Zu den Tätigkeiten des Vereines und seiner konkreten Organisationsstruktur siehe vor allem: Staudinger, Südmark (wie Anm. 30) 130–155.

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jedoch nicht einfach um einen „Konflikt zwischen Modernisierern und Modernisierungsgegnern, sondern um einen Konflikt zwischen Modernisierern“, also um eine Auseinandersetzung um verschiedene Varianten moderner Gesellschaftsformen: Es handelte sich – so Peter G. J. Pulzer weiter – um einen „exklusiven Integralismus einerseits, in dem die Bruchlinien einer industriellen Gesellschaft durch eine aufgedrungene einheitliche Identität überbrückt werden, und eine pluralistische, konfliktausgleichende, offene Gesellschaft andererseits“.42 Eine weitere Stufe der Modernisierung des Antisemitismus erfolgte – insbesondere auch im deutschnational-völkischen Milieu – schließlich mit der Wendung zum Rassismus. Zwar gab es schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts rassistisch-antisemitisches Schrifttum, breite Durchsetzung erfuhr dieses jedoch erst im letzten Drittel des Jahrhunderts. Nun nahm offenkundig der Bedarf nach wissenschaftlich fundierten, ‚Wahrheit‘ beanspruchenden Ideologien stark zu – Ideologien, die nicht beschränkt waren auf Antisemitismus, die aber ohne ihn zumeist auch nicht auskamen.43 Der erste überregional aktive deutschnationale Verein, der für sich in Anspruch nahm, die nationalpolitischen Anliegen der deutschsprachigen Bevölkerung in der Habsburgermonarchie zu vertreten,44 war der 1880 gegründete Deutsche Schulverein. Seine Konstituierung markiert den Beginn einer Welle von deutschnationalen ‚Schutzvereins‘-Gründungen in den 1880er- und 1890er-Jahren,45 die die deutsch- und die gemischtsprachigen Gebiete der Habsburgermonarchie mit einem Netz von Ortsgruppen überzogen und je verschiedene regionale Schwerpunkte ausbildeten. Die vielen nebeneinander existierenden und zum Teil eng miteinander vernetzten völkischen Vereine dokumentieren zugleich, dass das deutschnationale Milieu der Habsburgermonarchie eine sehr inhomogene politische Bewegung darstellte; es wurde von verschiedensten Parteien und deren Vorfeldorganisationen getragen.46 Trotz immenser Anstrengungen gelang es auch nicht, eine übergreifende Parteienstruktur (etwa nach dem Vorbild der Sozialdemokratie) aufzubauen.47 42 43 44 45

Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 38–39. Vgl. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 41. Drobesch, Deutscher Schulverein (wie Anm. 37) 131f. 1884 wurde der Deutsche Böhmerwaldbund (Budweis/Česke Budějovice) gegründet, 1886 der Bund der Deutschen Nordmährens (Olmütz/Olomuoc). 1889 folgte der Verein Südmark in Graz, der Bund der Deutschen in Westböhmen 1892, der Verein Nordmark und der Bund der Deutschen in Böhmen 1894. Drobesch, Deutscher Schulverein (wie Anm. 37) 135. – Staudinger, Südmark (wie Anm. 30) 130. 46 Zur Inhomogenität der deutschnationalen Vereinslandschaft vgl. Hanisch, Langer Schatten (wie Anm. 35) 120–123. Zur Differenzierung der Begriffe „national“ vor bzw. nach 1918 bzw. zur Frage „deutscher“ bzw. „nationaler Identität“ in den verschiedenen Parteien nach 1918 vgl. Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3) 15–16. – Weiters: Bruce Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993, 322, 324, zit. n. Pulzer, Entstehung (wie Anm. 2) 29. 47 Zur deutschnationalen Parteienentwicklung vgl. Streitmann, Deutscher Schulverein (wie Anm. 35) 7–19.

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Zur Integration von Frauen und Mädchen in das deutschnational-völkische Vereinsmilieu ist dabei grundsätzlich festzuhalten, dass Frauenvereine von Beginn an maßgeblich in die deutschnationale Vereinslandschaft involviert waren. Gerade die lose Organisation der deutschnationalen Vereine, die Inhomogenität des Milieus erwies sich dabei als zentral für die politische Vergesellschaftung von Frauen. Die Betätigung von Frauen war in einem Zwischenraum zwischen offen deutschnationaler Politik, bürgerlicher Geselligkeit und quasi-familiären Strukturen in einer als ‚deutsch‘ definierten Kultur und einem völkisch kodierten Alltag angesiedelt.48 Signifikant war zugleich eine tief greifende Ambivalenz: einerseits war die Integration von Frauen und Mädchen in das deutschnationale Milieu stark erwünscht, gleichzeitig ging mit dieser Integration der Versuch einher, ein politisches Engagement von Frauen als ‚unpolitisch‘ erscheinen zu lassen.49 Widersprüchlich waren nicht nur die diskursive Integration von Frauen, sondern auch die Positionen, die sie selbst einnahmen: Auch wenn sie sich selbst als passive Unterstützerinnen und Mithelferinnen darstellten und ihre Tätigkeiten als unpolitisch und im Privaten verankert konstruierten, so überschritten gerade deutschnationale Aktivistinnen selbst die von ihnen mit errichteten Grenzen ‚weiblicher Betätigung‘: Durch ihre Vereinstätigkeiten, durch Publikationen in der völkischen Erziehungs- und Unterweisungsliteratur oder durch die Schaffung und Etablierung institutioneller Strukturen waren sie maßgeblich daran beteiligt, deutschnationale Politik soziale Wirklichkeit werden zu lassen. Einer der wohl wirkungsmächtigsten deutschnationalen Vereine der Steiermark war der 1889 gegründete Verein Südmark, der in seinen Statuten folgende Ziele festlegte: die Unterstützung der deutschsprachigen bzw. „deutschstämmigen“ Bevölkerung an den Sprachgrenzen der Steiermark, Kärntens, Krains oder des Küstenlandes; Wirtschaftshilfen für die dort lebende Bevölkerung; Ankauf von Liegenschaften in gemischtsprachigen Gebieten und Ansiedlung deutschsprachiger Familien. Eine zweite Zielgruppe des Vereines waren deutschsprachige Gewerbetreibende und Handwerker in gemischtsprachigen Gebieten, welche mit dem Argument von Schutzmaßnahmen vor ‚nationaler Konkurrenz‘ unterstützt wurden. Folgt man einer vereinseigenen Aufstellung hinsichtlich des zahlenmäßigen Organisationsgrades aus einer Geschlechterperspektive, so waren im Jahr 1913 ca. 73.000 Vereinsmitglieder aktiv und davon rund 15.000 Frauen und Mädchen (das entspricht in etwa 25 % der Gesamtmitglieder) im Verein engagiert.50 Schichtspezifisch gesehen waren im Verein vor allem Angehörige der Beamtenschicht und freien Berufe (ÄrztInnen, ApothekerInnen, Notare, 48 Vgl. Ute Planert, Vater Staat und Mutter Germania: Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jhdt., in: dies. (Hrsg.), Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt am Main 2000, 15–65. 49 Vgl. etwa: An die deutschen Frauen von Graz, in: Steirische Hausfrauenzeitung 50, Oktober 1893 (Beilage zu Grazer Tagblatt 272), 2. 50 Zettelbauer, Die Liebe (wie Anm. 4) 133–145, hier 141ff.

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Rechtsanwälte, UnternehmerInnen, FabrikantInnen etc.) sowie weitere Akademikerschichten organisiert.51 Der Verein gründete Sparvereine, Genossenschaften, Fachschulen, Schülerhorte, Herbergen, baute Volksbüchereien auf, betrieb eine Stellenvermittlung und förderte ‚nationalen Fremdenverkehr‘ (im Rahmen sogenannter „Grenzlandfahrten“).52 Er unterstützte deutschsprachige Waisenkinder, Kindergärten und Schulen, vergab Stipendien an SchülerInnen, Studierende, LehrerInnen und ÄrztInnen und förderte andere ‚deutsche Vereine‘ an der sogenannten „Sprachgrenze“.53 Bereits früh richtete er seine Bestrebungen auf das Deutsche Reich hin aus – eine Haltung, die sich nach 1918 in einer offenen Anschlusspolitik fortsetzte. Zwischen 1918 und 1938 war es dezidiertes Ziel der Vereinsarbeit, das konstruierte Bild von Österreich als „deutschem Grenzland“ im gesellschaftspolitischen Bewusstsein nachhaltig zu verankern und die Vorstellung einer „deutschen Volksgemeinschaft“ durch Ansiedlungsprojekte, Wirtschaftshilfen oder Unterstützung von sogenannten „Grenzlandschulen“ Wirklichkeit werden zu lassen.54 1925 fusionierte der Deutsche Schulverein mit dem Verein Südmark zum Deutschen Schulverein Südmark und wurde zu einem „Motor der Anschlussbewegung“,55 unter seinem Deckmantel konnten sich NS-Umtriebe weitgehend ungestört entfalten. Seit dem Verbot der NSDAP im Juni 1933 geriet er damit immer wieder in Konflikt mit dem Dollfuß-Regime,56 doch obwohl der Verein ab 1933 durch die Staatspolizei verstärkt überwacht wurde, gab es angeblich keine Gründe für ein behördliches Einschreiten, die Tätigkeiten wurden weitgehend unbehelligt weitergeführt.57 51 Zettelbauer, Die Liebe (wie Anm. 4) 155–171. 52 Staudinger, Südmark (wie Anm. 30) 131f. 53 Zu Tätigkeiten und Organisationsstruktur des Vereines siehe va. Staudinger, Südmark (Anm. 30) 130–155. 54 Vgl. Heimo Hofgartner, „Den Brüdern im bedrohten Land, Warmfühlend Herz, hilfreiche Hand!“ Der Alpenländische Kulturverband (Südmark) und seine Vereinszeitschrift in den Jahren 1952 bis 1968, unveröff. phil. Dipl.arb. Graz 1999, 32, 36f. – Sigrid Kiyem, Der Deutsche Schulverein „Südmark“ 1918 bis 1938, unveröff. phil. Dipl.arb. Wien 1995, 73f, 85. – Auch Gehmacher konstatiert ein weitgehendes Aufgehen der Deutschnationalen in der NSDAP. Vgl. Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3) 32–33. 55 Kiyem, Südmark (wie Anm. 54) 115. – Vgl. Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 37. 56 Vgl. Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945, Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, Graz 1986, 39. 57 Kiyem, Südmark (wie Anm. 54) 120. Vgl. Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 37. – 1939 wurde der Verein schließlich „gleichgeschaltet“ und in den VDA, den Verband für das Deutschtum im Ausland, eingegliedert und das Vereinsvermögen wurde auf verschiedene NS-Organisationen aufgeteilt, nämlich die NS-Volkswohlfahrt Berlin, den Bund Deutscher Osten, den Deutschen Kulturverband Prag und den Volksbund für das Deutschtum im Ausland in Berlin. Vgl. Kiyem, Südmark (wie Anm. 54)

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Eingangs wurde festgehalten, dass der Antisemitismus in der deutschnational-völkischen ‚Schutzvereins‘-Bewegung auf vielen verschiedenen Ebenen Ausdruck fand. Eine Ebene stellt die Aushandlung des konkreten Ausschlusses von Juden/Jüdinnen aus den völkischen Vereinen dar – sichtbar in den Debatten um den so genannten „Arierparagraphen“, der Juden und Jüdinnen als Vereinsmitglieder dezidiert ausschloss. Dieses Thema leitet zum zweiten Teil des Beitrags über, nämlich zur Darstellung der spezifischen Entwicklung ausgewählter völkischer Frauenvereine in der Steiermark bzw. deren je spezifische Verflechtungen mit dem Nationalsozialismus. Ausgegangen wird dabei von verschiedenen Fallbeispielen völkischer Frauenvereine in der Steiermark, in denen die eingangs skizzierten ‚Prozesse der Ausdifferenzierung‘ ebenso sichtbar werden wie ‚Strategien der Homogenisierung‘. 165. Vgl. Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 39. – Obwohl die Eingliederung in den VDA nach 1945 von seinen Rechtsnachfolgern als „zwangsweise Gleichschaltung“ dargestellt wurde, waren die Aufgaben des VDA von 1938 bis 1945 in vielen Punkten tatsächlich deckungsgleich mit der Arbeit des Deutschen Schulvereins Südmark in der Zwischenkriegszeit. Die beiden Vereine verband nicht nur die enge Zusammenarbeit in den 1930er-Jahren, sondern auch eine gemeinsame Entstehungsgeschichte. Zur Geschichte des VDA vgl. Rudolf Luther, Blau oder Braun? Der Volksbund für das Deutschtum im Ausland – VDA – im NS-Staat 1933–1937, Neumünster 1999. – Zu den NS-Tätigkeiten von Vereinsmitgliedern vgl. Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 99–101. – Vgl. Karner, Steiermark (wie Anm. 56) 106, 189–205, besonders 194ff. – Zur Geschichte des Vereins nach 1945 besonders Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 42ff, zu den engen Verbindungen zwischen Freiheitlichem Akademikerverband mit dem AKVS 44f. – Generell zur steirischen Kulturpolitik nach 1945 und den Kontinuitätslinien deutschnationaler und nationalsozialistischer Ideologien vgl. Helmut Eberhart, Nationalgedanke und Heimatpflege: Viktor Geramb und die Institutionalisierung der Volkskunde in Graz, in: Wolfgang Jacobeit/Hannjost Lixfeld/Olaf Bockhorn (Hrsg.), Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien–Köln–Weimar 1994, 427–439, sowie ders., Viktor Geramb und seine Erben, in: ebenda, 579–587. – Dieter A. Binder, Die Heimatmacher. Das restaurative Klima in der Steiermark 1955, in: Friedrich Bouvier/Nikolaus Reisinger (Hrsg.), Graz 1955. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 34/35, Graz 2005, 167–188. Ders., Heimatsuchen. Versuche zur Kulturgeschichte eines Bundeslandes, in: Alfred Ableitinger/Dieter A. Binder (Hrsg.), Steiermark. Die Überwindung der Peripherie, Wien– Köln–Weimar 2002, 551–634. – Die Steiermark auf Bewährung 1945–1959. Eine mögliche Bildergeschichte. Mit einem Essay in 10 Teilen von Dieter A. Binder, Katalog zur Ausstellung „Wo keine Steiermark, da kein Österreich“. Vom kulturellen Wiederaufbau der steirischen Heimat 1945–1959, 22.4. bis 26.10.2005, Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum, Graz 2005. – Dazu auch: Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 52ff. – Zur Integration von ehemaligen NationalsozialistInnen unter den Vereinsmitgliedern vgl. Karin Gradwohl-Schlacher, Neubeginn und Restauration. Literaturbetrieb in Graz 1945 – 1955, in: Stadt Graz (Hrsg.), Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 34/35, Graz 2005, 325– 326. – Vgl. dies., „Stunde Null“ für steirische Autoren? Literarischer Wiederaufbau in Graz 1945/46, in: Friedrich Bouvier/Helfried Valentinitsch (Red.), Graz 1945. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25, Graz 1994, 421–441. – Vgl. Franz Krahberger, Die Pürggschrift, in: e.journal Literatur Primär, http:// www.ejournal.at/Buecher/puergg/grimming.html, 3.10.2007.

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Von Prozessen der Differenzierung zu Strategien der ­H omogenisierung Neugründungen und politische Netzwerke Nach Ansicht von Werner Drobesch lässt sich im Deutschen Schulverein erst ab 1900 ein „extremer Nationalismus“ feststellen,58 wobei diese Auffassung jedoch einer gewissen Differenzierung bedarf, denn tatsächlich zeigt sich im Deutschen Schulverein bereits kurze Zeit nach seiner Gründung 1880 eine interne Spaltung in einen liberalen und einen völkischen Flügel, deren Trennlinie im Antisemitismus zu sehen ist.59 Zwar weigerte sich die Vereinsleitung in den Anfängen, den sogenannten „Arierparagraphen“ (der Juden und Jüdinnen die Aufnahme in die Ortsgruppen des Vereines untersagte) einzuführen. Bereits ab 1899 gestattete jedoch das sogenannte Troppauer Abkommen den Ortsgruppen, Juden und Jüdinnen gegebenenfalls die Aufnahme in den Verein zu verweigern. Offiziell wurde dieser Paragraph ‚erst‘ 1921 in die zentralen Statuten aufgenommen.60 Dass der Deutsche Schulverein also relativ spät ein ‚offizielles‘ Bekenntnis zum Antisemitismus abgab, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Frage von Beginn an virulent war. Wie sehr dabei auch weibliche Mitglieder die antisemitische Ausgrenzungspolitik der Vereine unterstützten, dokumentieren einige Vorfälle im Deutschen Schulverein Mitte der 1880er-Jahre. 1885 weigerten sich die Vorstandsfunktionärinnen der Wiener Frauenortsgruppe 9. Bezirk etwa eine Jüdin aufzunehmen, worauf die VereinsHauptleitung eine Versammlung einberief, die tumultartigen Verlauf nahm und schließlich zur Selbstauflösung der Frauenortsgruppe führte. Wenig später versuchten antisemitische weibliche Vereinsmitglieder die Wiener Frauenortsgruppe 4. Bezirk sozusagen „in Besitz zu nehmen“, indem massenweise Anhängerinnen des deutschnationalen Politikers und radikalen Antisemiten Georg von Schönerer61 in die Ortsgruppe eintreten wollten, u. a. Schönerers 58 Drobesch, Deutscher Schulverein (wie Anm. 37) 135. 59 In manchen Ortsgruppen gab es heftige Ressentiments gegen die Aufnahme von Juden/Jüdinnen in den Verein. Diese Debatten wurden nicht zuletzt Ausgangspunkt für Abspaltungen und Neugründungen innerhalb des deutschnational-völkischen Milieus. Dies zeigen die im Folgenden in aller Kürze angerissenen Zusammenhänge zwischen dem Deutschen Schulverein (DSV), dem Schulverein für Deutsche, dem Verein Südmark bzw. dem Deutschen Schulverein Südmark (DSS). 60 Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 19f. – Kiyem, Südmark (wie Anm. 54) 41. 61 Georg von Schönerer etablierte sich ab 1879 als eine der zentralen Figuren der deutschnationalen Bewegung in der Habsburgermonarchie. Er bekämpfte den habsburgischen Gesamtstaatspatriotismus und den Liberalismus ebenso wie die katholische Kirche und war Vorkämpfer der Los-von-RomBewegung. Insbesondere vertrat er einen radikalen Antisemitismus. Aufgrund gewalttätiger und terroristischer Aktionen wurde er in den späten 1880er-Jahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und verlor in der Folge seinen Adelstitel, Reserveoffiziersrang und sein Abgeordnetenmandat, das er von 1897 bis

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Ehefrau Filippine. Da dies von der liberalen Vereinsleitung letztlich verhindert wurde, trat Schönerer zusammen mit seiner Ehefrau im April 1886 aus dem Deutschen Schulverein aus.62 Diese Vorfälle dokumentieren zwei Aspekte: Erstens war die Haltung zum Antisemitismus von Beginn an die zentrale Differenzlinie im deutschnationalen Vereinsmilieu, insbesondere im Deutschen Schulverein waren in den 1880er Jahren noch viele prominente Juden und Jüdinnen aktiv. Antisemitische Gruppierungen versuchten gerade, einen Ausschluss von Juden/ Jüdinnen häufig durch Mehrheitsentscheid oder Übernahme von Ortsgruppen zu erzwingen (und das nicht nur im Rahmen interner Richtungskonflikte).63 Zweitens führten Differenzen in der Haltung zum Antisemitismus innerhalb der Vereine gerade in der Anfangszeit häufig zu Neugründungen und damit zu einer Ausdifferenzierung des Milieus. Eine Folge des Austritts der Schönerers war die Neugründung des Schulvereins für Deutsche in Graz 1886. Der Verein wurde bereits 1889 behördlich wieder aufgelöst (aufgrund seiner antihabsburgischen Agitation),64 wurde jedoch (was den finanziellen Grundstock und seine rund 20.000 Mitglieder betraf ) zum direkten Vorläufer des Vereins Südmark, in dem antisemitische Haltungen von Beginn an maßgebend waren.65 Häufig waren nun in den größeren Städten und Ortschaften der Habsburgermonarchie, in denen es eine deutschsprachige Bevölkerung gab, beide Vereine, sowohl der Deutsche Schulverein als auch der Verein Südmark präsent. Nachdem sich jedoch der Verein Südmark von Beginn an antisemitisch positioniert hatte, spielte diese Frage für die Mitglieder bei der Entscheidung für ein Engagement in dem einen oder anderen Verein ohne Zweifel eine große Rolle.

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1907 jedoch wieder innehatte. Seine Anhängerschaft fand Schönerer v. a. in Burschenschafterkreisen und unter den Sudetendeutschen. Politisches Sprachrohr seiner Politik waren u. a. das „Alldeutsche Tagblatt“ sowie das „Grazer Wochenblatt“. Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Österreich Lexikon in 3 Bänden, 3, Wien 2004, 162. – Andrew G. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer: Alldeutschland und sein Prophet, Graz–Wien 1981. – Michael Wladika, Hitlers Vätergeneration: die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k.u.k. Monarchie, Wien 2005. Zu diesem Vorfall siehe Streitmann, Deutscher Schulverein (vgl. Anm. 35) 159–161. So etwa 1916, als der Versuch unternommen wurde, die bürgerlich-konservative (von GDVP und Christlichsozialen getragene) Interessenvertretung und -organisation der Hausfrauen, den Reichverband österreichischer Hausfrauen (Röhö), nach Aussagen von Walter Riehl „zu verdeutschen“ – ein Versuch, der (so Riehl) bedauerlicherweise deshalb misslungen war, weil „ein Großteil der deutscharischen Frauen“ der Röhö „mit wahrlich übel angebrachter deutscher Treue […] die Stange gehalten“ hatte. Vgl. Walter Riehl, Eine deutsche Hausfrauenorganisation, in: Mitteilungen des Vereins Südmark 9/10, 11 (1916), 103. – Dr. Walter Riehl. (Im Felde), Eine deutsche Hausfrauenorganisation. In: Mitteilungen des Vereins Südmark 11 (1916) 7/8, 101–104. Vgl. dazu auch Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3) 50. Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 20ff. Hofgartner: Den Brüdern (wie Anm. 54) 21–22. – Friedrich Pock, Grenzwacht im Südosten. Ein halbes Jahrhundert Südmark, Graz 1940, 6.

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Versuche, das inhomogene deutschnationale Milieu zu einigen, gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg. Seit Beginn des Krieges, vor allem aber in der unmittelbaren Nachkriegszeit erfolgten jedoch verstärkt Bestrebungen, Zusammenschlüsse innerhalb der deutschnationalen Vereinslandschaft zu forcieren. Diese Homogenisierungstendenzen stellen – angesichts der Bevölkerungs- und Gebietsverluste durch die nach dem Krieg erfolgten Grenzziehungen – wohl auch einen Versuch dar, die politische Schlagkraft des Milieus aufrechtzuerhalten. Dies dokumentieren etwa Debatten in der Vereinspresse des Vereins Südmark, in denen heftig beklagt wurde, dass viele Ortsgruppen bzw. Frauenortsgruppen durch den Krieg verloren gegangen seien, allen voran gewichtige Vereinsorganisationen wie in Marburg a. d. Drau/ Maribor oder Laibach/Ljubljana. Hilfreich in diesem Homogenisierungsprozess scheinen dabei vor allem die weitreichenden persönlich-biographischen Netzwerke im völkischen Milieu gewesen zu sein. Dies zeigt exemplarisch nicht zuletzt die komplexe Entstehungsgeschichte des Deutschen Frauenbundes in Graz. Dieser war 1906 zunächst als Verein der arbeitenden Frauen gegründet worden. Er war angelagert an den gleichnamigen Verein der arbeitenden Frauen in Wien, wurde aber (und das scheint auch eine interessante rechtliche Konstruktion gewesen zu sein) in Graz von Beginn an als eigenständiger Frauenverein geführt, obwohl der Wiener Verein der arbeitenden Frauen prinzipiell Zweigvereine gründen konnte und dies auch tat. Das bedeutet, dass in Graz zwar die Wiener Statuten übernommen wurden, rechtlich und finanziell gesehen blieb der Frauenverein aber selbständig, wenngleich er in der Öffentlichkeit (etwa in der vereinseigenen Zeitschrift) als „Zweigverein“ der Wienerinnen präsentiert wurde. Er war ursprünglich eine Interessenvertretung berufstätiger Frauen und es gab Zweigvereine in Czernowitz, Troppau, Salzburg und Innsbruck. Der Verein der arbeitenden Frauen war Mitglied im Bund österreichischer Frauenvereine und damit dem bürgerlich-konservativen Zweig der Frauenbewegung zuzuordnen. Der Verein der arbeitenden Frauen in Graz verfolgte anfangs keine politische Ausrichtung, schon gar keine explizite nationale Festlegung, außer dass manche langjährigen Vorstandsfunktionärinnen persönlich eine völkische Orientierung hatten, so wie etwa Ludmilla Stopper, die von Beginn an in der Vereinsleitung tätig war. Dies trat allerdings erst in den folgenden Jahren offen zutage. Ab 1912 schlug der Verein eine von Wien unabhängige Richtung ein und begann sich sukzessive deutschnational-völkisch auszurichten, dies lässt sich gut anhand der Vereinsstatuten rekonstruieren. 1913 etwa wurde ein einstimmiger Vorstandsbeschluss gefällt, den Frauenverein in Allgemeiner Deutscher Frauenverein umzubenennen, was zunächst kaum Konsequenzen hatte: der Vereinsgegenstand wie auch die entscheidenden Proponentinnen blieben dieselben. Auch blieb – im Falle der Auflösung des Vereins – weiterhin der Bund Österreichischer Frauenvereine als Nutznießer genannt, vorbereitet wurde jedoch bereits offenkundig eine innere Ausrichtung entlang deutschnational-völkischer Haltungen, die sich etwa darin niederschlug,

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1915 einen Passus in die Statuten aufzunehmen, der es erlaubte, Gesuche um Aufnahme als Mitglied ohne Angabe von Gründen zu verweigern. Verfolgt man die Statutenänderungen weiter durch die Jahre hindurch, so wird deutlich, wozu dieser Passus tatsächlich diente: 1919 änderte der Allgemeine Deutsche Frauenverein neuerlich seine Statuten, blieb allerdings noch als Interessenvertretung berufstätiger Frauen aufrecht. 1922 schließlich erfolgte eine Umbildung und Umbenennung in Deutscher Frauenbund Graz, er wurde damit ein Zweigverein des gleichnamigen steirischen Dachverbandes (Deutscher Frauenbund Steiermark) und nun wurde auch der „Arierparagraph“ offiziell eingeführt. Zentral erscheint dabei die Änderung des Vereinszwecks: „Der Verein bezweckt den Zusammenschluss der deutschen Frauen und Mädchen von Graz und Umgebung, soweit, da keine solche Vereinigung besteht, zu gemeinsamer Mitarbeit am Wiederaufbau des deutschen Volkstums durch einheitliche Vertretung der völkischen, wirtschaftlichen und rechtlichen und sozialen Belange der angeschlossenen Mitglieder.“66

Damit wurde erstens die Ausrichtung auf arbeitende Frauen und Mädchen vollständig zurückgenommen und zweitens – den Statuten des übergeordneten Dachvereins entsprechend – versucht, die lokalen völkischen Frauenvereine zu einigen. Innerhalb der Dachorganisation Deutscher Frauenbund Steiermark scheint der Grazer Zweigverein in der Folge die zentrale Rolle gespielt zu haben – zumindest treten österreichweit vor allem die Grazerinnen als Delegierte in Erscheinung. Es besteht kaum Zweifel darüber, dass der Großteil der Vereinsaktivistinnen seit den 1930erJahren zumindest eine Affinität zum Nationalsozialismus hatte. Dies wird in den Vereinsakten etwa 1937 sichtbar im Rahmen eines Ansuchens, Jugendgruppen einrichten zu dürfen. Der entsprechende Sicherheitsbericht hält fest, dass die Vereinsobfrau wie auch deren Stellvertreterin Mitglieder der NSDAP (gewesen) waren oder im Verdacht einer NS-Betätigung gestanden hatten: „Von den Vereinsfunktionären steht die Obfraustellvertreterin Frieda Hesse, Schlögelgasse Nr. 3 wohnhaft, als ehemaliges Mitglied der NSDAP, die Schriftführerin Maria Wattek, Brockmanngasse 14 wohnhaft, als Kandidatin für den nationalen Wirtschaftsblock im Grazer Gemeinderat in Vormerkung. Die Geschäftsführerin Ludmilla Stopper, Bürgerschuldirektorin i. R., Brockmanngasse Nr. 14 wohnhaft, wurde 1935 verdächtigt, sich nationalsozialistisch zu betätigen. Ein strafbares Verhalten konnte ihr jedoch nicht nachgewiesen werden. Weitere 66 Ansuchen um Genehmigung der Namens- und Satzungsänderung des Vereins der arbeitenden Frauen, vom 11.2.1922, § 2 der Satzungen. Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Landesregierung (LReg), Vereinsakten, 206 Fa–18/1937.

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Heidrun Zettelbauer Anhaltspunkte, die gegen eine Eignung der Vereinsleitung zur Führung von Jugendgruppen sprechen würden, konnten nicht festgestellt werden.“67

Wenngleich die Sicherheitsbehörden dem Verein in der Folge die Führung von Jugendgruppen verweigerten, so war dies vonseiten der Landesbehörden kein Grund, den Verein aufzulösen und gegen eine Weiterführung der Vereinstätigkeit bestanden „vom staatspolizeilichen Standpunkte aus keine Bedenken“.68 Dies erscheint umso erstaunlicher, wenn man sich die Entstehung der Dachorganisation Deutscher Frauenbund Steiermark genauer ansieht. Kooperationen und RechtsnachfolgerInnen Der Deutsche Frauenbund Steiermark wurde 1916 gegründet und hatte neben Graz weitere Zweigvereine in der Steiermark sowie in Marburg/Maribor eingerichtet.69 Der Verein Südmark hatte bei der Gründung ausgiebig die Werbetrommel für den Verein gerührt: dieser habe sich „die Hebung des wissenschaftlichen, sittlichen und sozialen Wohles der deutschen Frauen und Kinder im ganzen Lande […] zur Aufgabe gesetzt“ und daher sei „der Beitritt sämtlicher Frauen-Ortsgruppen beider Vereine [des Vereins Südmark und des Deutschen Schulvereins, erg. der Verfasserin] von größter Wichtigkeit für einen Zusammenschluss der deutschen Frauen und Mädchen aller Stände Steiermarks“.70 1916 waren nach Angaben des Vereins bereits „sämtliche völkischen Frauenvereine in Graz“71 angeschlossen. Dies scheint insofern nicht verwunderlich, als sich zwei zentrale Proponentinnen völkischer Politik in Graz für den neuen Verein starkmachten: erstens die eingangs erwähnte Lina Kreuter-Gallé, die zumindest in fünf einschlägigen Vereinen aktiv war, seit 1910 in Graz lebte, zuvor aber schon in Laibach/Ljubljana im Deutschen Turnerbund und im Deutschen Schulverein mitgearbeitet hatte und seit 1913 als erste Frau in der Hauptleitung der Südmark tätig war. Und zweitens Ada Fizia, die Ehefrau Adolf Fizias, der 1918/19 Bürgermeister von Graz werden sollte. Ada Fizia war langjähriges Vorstandsmitglied der Grazer Frauen im Deutschen Schulverein und im Haushaltungsschul-Verein aktiv. Der Deutsche Frauenbund Steiermark erscheint geradezu paradigmatisch für die Homogenisierungstendenzen in der deutschnationalen Vereinslandschaft zwischen 1918 und 1938. 67 Bericht der Bundespolizeidirektion, Staatspolizeiliches Büro Graz, vom 26.3.1937. StLA, LReg, Vereinsakten, 206 Fa–18/1937. 68 Ebda. 69 So in Judenburg und Radkersburg, 1923 folgte Übelbach, 1928 Weiz. Vgl. StLA, LReg, Vereinsakten, 206 Fa-18/1937. – StLA, LReg, 206 We–035/1936. – StLA, Sicherheitsdirektion (SiDi), We–78/1938. – StLA, LReg, 392 U-030/1941. 70 Mitteilungen des Vereins Südmark 3/4, 11 (1916), 33. 71 Vgl. Mitteilungen des Vereins Südmark 3/4, 11 (1916), 33.

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Dies nicht zuletzt deshalb, weil er in gewisser Weise Fusionierungen im völkischen Vereinsmilieu (wie etwa des Deutschen Schulverein mit dem Verein Südmark, die 1925 erfolgen sollte) auf Ebene der Frauenorganisationen bereits einige Jahre früher vorwegnahm. Und er scheint auch beispielhaft für die Netzwerke im Milieu zu sein. Er stand jedenfalls in enger Kooperation mit weiteren österreichweit aktiven Frauenvereinen, die der Großdeutschen Volkspartei oder auch der NSDAP nahestanden. Wie viele dieser völkischen Frauenvereine dürfte er in den 1930er-Jahren zu einer legalen Unterstützungsstruktur für die ab Juni 1933 illegalen NationalsozialistInnen geworden sein. Johanna Gehmacher hat für die Frauenvereine in Wien (die eng mit den Grazerinnen kooperierten) herausgearbeitet, dass diese besonders auf Ebene von Fürsorgetätigkeiten (wie z. B. im Rahmen der sogenannten Völkischen Nothilfe) intensive Kooperationen zwischen der illegalen NSDAP und dem deutschnational-völkischen Vereinsmilieu etablieren konnten72 und die völkischen (Frauen-)Vereine damit bis 1938 maßgeblich an der Sicherung einer nationalsozialistischen Massenbasis in Österreich beteiligt waren.73 Der Deutsche Frauenbund hatte jedenfalls keinerlei Berührungsängste mit der illegalen ­NSDAP. Das zeigt etwa, dass er im Februar 1934 im NS-Blatt Die deutsche Frau seine Aktivitäten und Sprechstunden ankündigte, oder darin, dass die Grazer Frauen ihre Aktivitäten 1937 dort explizit in einem eigenen Artikel vorstellten. Für Wien ist jedenfalls gesichert, dass die Kooperationen zwischen den Frauenorganisationen des Deutschen Schulvereins Südmark und der illegalen NS-Frauenschaft über Inserate und publizistische Tätigkeiten weit hinausgingen.74 Den schmalen Grat zwischen Legalität und Illegalität, auf dem sich etwa Frauen­ organisationen des Deutschen Schulverein Südmark in der Steiermark bewegten, dokumentieren nicht zuletzt die Protokolle der Sicherheitsdirektion. So wurden etwa anlässlich einer Spendenaktion 1935 zwei Frauenortsgruppen des Deutschen Schulvereins Südmark aufgelöst, 72 Die Völkische Nothilfe war bereits 1931 durch Vertreter der wichtigsten völkischen Vereine konstituiert worden (etwa den Deutschen Turnerbund, den Alpenverein oder den Deutschen Schulverein Südmark, ab 1932 auch die NSDAP). Die treibende Kraft hinter dieser Initiative war Dr. Maria Schneider, Vorsitzende des Reichsverbandes deutscher Frauen und Abgeordnete der GDVP. Schneider war auch maßgeblich beteiligt am Zustandekommen des „Kampfbündnisses zwischen GDVP und NSDAP“ vom Mai 1933, das auf höchster organisatorischer Ebene realisierte, was auf Ebene der WählerInnen bereits großteils stattgefunden hatte, nämlich der faktische Anschluss an die NSDAP. Zweck der Völkischen Nothilfe war die Unterstützung notleidender „arischer Volksgenossen“, was 1933 von den Behörden als „unpolitischer Vereinszweck“ akzeptiert wurde. Vgl. Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3) 175–221. 73 Vgl. Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3) 181–189. 74 1936, als die Schulungstätigkeiten innerhalb der illegalen NS-Organisationen forciert wurden, übernahm der DSV in Wien ähnliche Tarndienste wie der Deutsche Turnerbund und verschiedene evangelische Einrichtungen in den Bundesländern. Vgl. Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3) 206.

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weil die Sammlerinnen Mitglieder der NSDAP oder der Hitlerjugend und bereits vorbestraft waren oder bei der Sammlung Flugblätter für die NSDAP verteilt und Anschlusspropaganda betrieben hatten. Zwei weitere – ebenfalls an der Sammlung beteiligte – Frauenortsgruppen konnten wiederum erfolgreich gegen ihre Auflösung berufen. Gerade wenn man sich die Gutachten und Bescheide des Sicherheitsbüros oder des Landesschulrats ansieht, wird deutlich, dass die Landesbehörden in den einzelnen Verfahren gegen die völkischen Frauenvereine zum Teil unkoordiniert, inkonsequent oder sehr uneinheitlich vorgingen.75 Was die skizzierten Kooperationen betrifft, lässt sich jedenfalls mit Johanna Gehmacher festhalten, dass sich die gute Einbindung der NS-Aktivitäten in die deutschnationalen Frauenorganisationen während der Illegalität auf praktischer Ebene als äußerst vorteilhaft erwies: Erstens, weil auf diese Weise die meisten Unternehmungen der illegalen Nationalsozialistinnen weitgehend legal stattfinden konnten. Zweitens war dies für die NS-Frauenpolitik nach 1938 immens wichtig: viele deutschnationale Aktivistinnen waren eingeübt in legale Propagandaarbeit, öffentliche Selbstdarstellung und den Umgang mit staatlichen Behörden. Sie waren damit in gewisser Weise besser als Angehörige manch anderer Parteiformation auf die Bildung der NSDAP als einer staatstragenden Organisation vorbereitet.76 Der Deutsche Frauenbund – und dafür garantierten nicht nur die langjährigen, erfahrenen Aktivistinnen der Vereine Südmark und Deutscher Schulverein – knüpfte in seiner Tätigkeit nahtlos an die Aktionsfelder der aktiven Frauen in ihren jeweils traditionellen Vereinen an. Der Fokus lag dabei in erster Linie auf Versuchen, die rassistisch-antisemitische, politisch deutschnationale Tätigkeit auf institutionelle Beine zu stellen. Neu zu sein scheint dabei, dass die Initiative von den Frauen selbst ausging. Ein Genesungsheim für Kriegsverletzte, das vom Verein Südmark 1915/16 in Kroisbach bei Graz betrieben wurde, wurde dabei offenkundig für die steirischen bzw. Grazer Vereinsaktivistinnen zum Lehrstück.77 Deutschnational-völkische Frauen trugen die inhaltliche wie finanzielle Verantwortung für dieses Projekt und als es 75 Die Behörden erstellten in den verschiedenen Verfahren nahezu wortgleiche Gutachten, in denen sie immer wieder Bezug nahmen auf die Statuten der Frauenvereine und diese als eigenständige Vereine behandelten. Basierend auf den Gutachten wurden zugleich sehr unterschiedliche Bescheide ausgegeben. Dieses Vorgehen ist insofern paradox, weil die einzelnen Ortsgruppen und Frauenortsgruppen als Zweigvereine völlig identische Statuten aufwiesen und weitgehend dieselben Tätigkeitsfelder bearbeiteten. – Sichtbar wird in den Berichten der Sicherheitsbehörden auch, dass der Deutsche Schulverein Südmark in Graz ganz bewusst Frauen- und Mädchenortsgruppen mit fiktiven Mitgliedern als „unpolitische Tarnorganisationen“ einzurichten versuchte. Bei der Vereinsanzeige wurden etwa Namen von Frauen angegeben, die sich zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht in Österreich aufhielten oder von der Vereinsgründung offenkundig keine Kenntnis besaßen. 76 Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3) 208–212. 77 Vgl. Zettelbauer, Die Liebe (wie Anm. 4) 402–407.

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schon ein Jahr nach seiner Gründung von staatlicher Seite eingestellt wurde, folgten auf ihre Initiative noch im Krieg Licht- und Wärmestuben für Jugendliche, später Studentinnen- und Hausgehilfinnen-Heime, Kindergärten und Ausspeisungs-Küchen, in denen die Frauen versuchten, völkische (Geschlechter-)Ideologien Wirklichkeit werden zu lassen. So waren etwa in Graz die Studentinnenheime fest in deutschnational-völkischer Hand: Das Grazer Adressbuch verzeichnete ab 1924 in der Goethestraße 11 ein eigenes Mädcheninstitut des Deutschen Frauenbundes. Und auch das sogenannte Südmarkheim in der Schießstattgasse 42 ist ein paradigmatisches Beispiel für die Homogenisierungstendenzen der völkischen Frauenvereine auf institutioneller Ebene, denn es war auf sehr interessantem Weg in die Hände des Vereines Südmark gekommen. 1902 war in Graz der Verein zur Heranbildung von Dienstmädchen für Haushaltungen des Mittelstandes gegründet worden, der später unter dem Namen Dienstmädchen Schulverein (ab 1911) bzw. Steiermärkischer Haushaltungsschul-Verein (ab 1922) geführt wurde. Verfolgt man die Vereinsgeschichte durch die Jahre hinweg, so stützte sich der Verein anfangs v. a. auf adelige Proponentinnen, maßgeblich auf Dora Gräfin Kottulinsky. Gräfin Kottulinsky war es auch, die den Bau des Gebäudes Schießstattgasse 42, in dem die vereinseigene Schule untergebracht war und in dem entsprechende Kurse abgehalten wurden, initiierte und dem Verein dafür auch ein (zunächst) zinsenloses Darlehen zur Verfügung stellte. 1917/18 schlitterte der Verein erstmals in eine massive finanzielle Krise, es kam nach Ausbleiben öffentlicher Subventionen offenkundig auch zu ernsthaften Zerwürfnissen im Vereinsvorstand, als Gräfin Kottulinsky dem Verein sogar rückwirkend Zinsen für das von ihr gewährte Darlehen in Rechnung stellte. Diese Krise konnte letztlich durch massive Unterstützung von öffentlichpolitischer Seite bewältigt werden, dies dokumentieren die überlieferten Vereinsakten. Letztere verdeutlichen gleichzeitig, dass bereits Ende des Ersten Weltkriegs eine Reihe prominenter deutschnationaler Aktivistinnen im Verein Fuß gefasst hatte – so liest sich etwa die Liste der (anlässlich der Krise zu einer außerordentlichen Hauptversammlung einberufenen) Frauen wie das who is who der deutschnational-völkischen Frauenvereine in Graz: Helene von Fleischhacker, langjähriges Mitglied der Frauenortsgruppe rechtes Murufer, Frau des Grazer Bürgermeisters und zentral engagiert im Südmark-Genesungsheim Kroisbach; weiters Lina Kreuter-Gallé, ehemalige Aktivistin im Deutschen Schulverein, im Deutschen Turnerbund, zu diesem Zeitpunkt auch im Deutschen Frauenbund Graz sowie Hauptleitungsmitglied des Vereins Südmark; Ada Fizia, Frau des Grazer Altbürgermeisters, ebenfalls im Verein Südmark, im Deutschen Schulverein wie im Deutschen Frauenbund Graz und im Grazer Verein der arbeitenden Frauen und Mädchen und zu guter Letzt Berta Schreiner(-Riekh), langjähriges Mitglied der Frauenortsgruppe der Südmark in Graz und ab 1910 aktiv im Haushaltungsschulverein, zunächst als Schriftführerin, dann langjährige Vizepräsidentin und ab 1922 Präsidentin des Vereins. Diese Krisensitzung von 1918 dokumentiert letztlich die engen biographischen Netzwerke zwischen den deutschnational-völkisch orientierten Frauen in Graz. Netzwerke, die offenbar

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im Anlassfall immer wieder zugunsten der Interessen des politischen Milieus, dem man/frau sich zugehörig fühlte, eingesetzt wurden. Dies zeigen beispielsweise die Vorgänge rund um die 1930 erfolgte Auflösung des Vereins, die de facto einer Übernahme durch den Deutschen Schulverein Südmark gleichkam. 1922 – nachdem Berta Schreiner das Amt der Präsidentin angetreten hatte – waren die Statuten des Vereins rasch geändert worden, am 9. September 1930 erfolgte eine neuerliche Anpassung. Dies verwundert umso mehr, als nur knapp einen Monat später, am 5. November 1930, die offizielle Auflösung des Vereins angezeigt wurde. Warum also eine Statutenänderung so knapp vor Auflösung? Das Paradox klärt sich auf, wenn unter die Lupe genommen wird, welche Paragraphen genau geändert wurden, denn diese bezogen sich ausschließlich auf Regelungen zur Beschlussfähigkeit des Vorstandes (die 1930 nun wesentlich erleichtert wurde) sowie auf die Regelungen bezüglich der Weiterverwendung des Vereinsvermögens nach einer möglichen Auflösung. Der einzige Zweck der Statutenänderungen von 1930 scheint es gewesen zu sein, das Vereinsvermögen (u. a. das Vereinshaus in der Schießstattgasse 42) dem Deutschen Schulverein Südmark zuzuführen. Sollte dieses 1922 im Falle einer Auflösung noch an ähnlich gelagerte Schulen gehen, so wurde nun 1930 der Deutsche Schulverein Südmark als ‚Alleinerbe‘ eingesetzt. Kaum erstaunlich, dass schon einen Monat später genau dieser Fall eintreten sollte.

Resümee Die skizzierten Beispiele der deutschnationalen Frauenvereine bzw. frauenspezifischen Organisationen innerhalb gemischtgeschlechtlicher Vereine erweisen sich als paradigmatisch für die engen Verbindungen bzw. Verflechtungen des deutschnational-völkischen und des nationalsozialistischen Milieus, die sich nicht zuletzt in antisemitischen Vereinspraktiken bündelten und im autoritären Ständestaat intensivierten. Gerade die Darstellung der Entwicklungsstränge der einzelnen Frauenvereine in einem zeitlichen Längsschnitt zeigt deutlich, dass es zentrale Proponentinnen deutschnationaler Politik in Graz und in der Steiermark gab, die spätestens seit den 1930er-Jahren eine Affinität zum Nationalsozialismus entwickelt hatten. Diese völkischen Aktivistinnen setzten ihre politischen wie persönlich-biographischen Netzwerke strategisch ein, um bestehende traditionelle bürgerlich-liberale Frauenvereine in sachpolitischer wie wirtschaftlicher Hinsicht so auszurichten, wie es ihren eigenen völkischantisemitischen Haltungen entsprach. In den geschilderten Prozessen der Ausdifferenzierung und in Strategien der Homogenisierung werden zugleich ganz grundlegend die Strukturen und Funktionen des Antisemitismus im deutschnational-völkischen Vereinsmilieu sichtbar: Juden/Jüdinnen nahmen in den diskursiven Konstruktionen vor allem die Funktion des ‚Anderen‘ der konstruierten „deutschen Volksgemeinschaft“ ein und verkörperten auf diese

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Weise gewissermaßen eine innere Differenzkategorie nationaler Einschluss- und Ausschlusspraktiken. Die Debatten um den „Arierparagraphen“ etwa dokumentieren somit letztlich nur mehr die Umsetzung dieser diskursiv-ideologischen Strategien auf formal-rechtlicher Ebene der Vereine. Die hier nur in exemplarischen Fallbeispielen angerissenen Verbindunglinien von deutschnational-völkischem und nationalsozialistischem Vereinsmilieu noch stärker als bisher unter die Lupe zu nehmen stellt zweifelsohne ganz grundlegend ein zentrales Forschungsdesiderat für die Frage von NS-Herrschaft in der Steiermark dar. Bislang wurde diese Frage unter dem Aspekt persönlich-biographischer wie institutioneller Netzwerke vor allem von Johanna Gehmacher aus Sicht der Frauen- und Geschlechterforschung aufgearbeitet.78 Ein regionalhistorischer Fokus auf die Steiermark wurde zudem in Ansätzen für die Frauenvereine bzw. frauenspezifischen Organisationen innerhalb der deutschnationalen Vereine vorgelegt,79 entsprechende Arbeiten zur völkischen Vereinslandschaft im Allgemeinen stehen bislang jedoch weitgehend aus. Als Desiderata wären dabei verschiedene Forschungsfragen zu skizzieren: So ginge es etwa darum, die Folgen des „Anschlusses“ 1938 aus Sicht der völkischen (Frauen-)Vereine zu differenzieren: Viele ProponentInnen deutschnationaler Vereine machten gerade ob ihrer politischen Vorgeschichte Karriere im Nationalsozialismus,80 für andere wiederum erfolgte 78 Vgl. Gehmacher, Völkische Frauenbewegung (wie Anm. 3). 79 Vgl. dazu die Arbeiten der Verfasserin, etwa Zettelbauer, Die Liebe (wie Anm. 4). – Die Autorin arbeitet zurzeit außerdem an einem entsprechenden Forschungsprojekt zu Biographien deutschnationalvölkischer AktivistInnen in der Steiermark und darüber hinaus. 80 In der steirischen Kulturpolitik verkörperte dieses vielfach bruch- und nahtlose Aufgehen des deutschnationalen Milieus in der NSDAP wie kaum eine andere Person Dr. Josef Papesch (1893–1968), der seit 1918 im Verein Südmark tätig war, 1919–1923 als Schriftleiter der Zeitschrift Südmark, 1924–35 der Alpenländischen Monatshefte. Selbst als national-völkischer Schriftsteller tätig (1921 erschien Der steirische Hammerherr, 1933 Fesseln um Österreich) musste er auf Weisung des Sicherheitsdirektors für Steiermark 1935 seine Tätigkeiten als Schriftleiter einstellen. 1937 trat er in das Volkspolitische Referat der Vaterländischen Front ein und wurde unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialis­ ten 1938 auf Vermittlung seines ‚Bundesbruders‘ im Verein deutscher Studenten (VdST), dem Gauleiter Sepp Helfrich, NS-Regierungsbeauftragter für Kunst und Kultur bzw. ab 1940 Leiter der Abteilung II (Erziehung, Volksbildung, Kultur und Gemeinschaftspflege) im nunmehrigen „Reichsgau Steiermark“. Nach der Ermordung seiner Tochter Grete im Heim Sonnenstein bei Pirna 1941, legte er 1944 seine Parteiämter in der NSDAP zurück, trat 1944 aus der SS aus, blieb aber weiter NS-Regierungsbeamter. Im Zuge der Entnazifizierungsmaßnahmen wurde Papesch 1945 bis 1948 in Wetzelsdorf und Wolfsberg inhaftiert und kam 1948 frei. Er hatte Berufsverbot als Lehrer erhalten und arbeitete daher in der Nachkriegszeit als Heizer und Maurer. Nach seiner Amnestie 1951 (Papesch erhielt eine gekürzte Pension) war er im sich wieder rekonstituierenden deutschnational-freiheitlichen Lager rege tätig und wurde 1963 durch den Rosegger-Preis des Landes Steiermark auch offiziell wieder über die steirische Kul-

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trotz der skizzierten Kooperationen, Netzwerke und Verflechtungen des deutschnationalen mit dem nationalsozialistischen Milieu 1938 ein Bruch. So hatten etwa manche SüdmarkAktivistInnen zwar eine starke Affinität zum Nationalsozialismus ausgebildet, sahen sich aber zugleich mit ihrem Vereinsengagement in der Kontinuität bürgerlicher Vereinskultur und kritisierten die nunmehr von den (auch in den eigenen Vereinsreihen aktiven) NationalsozialistInnen ausgegebenen ‚Befehle von oben‘.81 Diese Fragen auf biographischer wie institutioneller Ebene aufzuarbeiten wäre von großem Interesse für eine grundlegende und differenzierte Erforschung der Verflechtung von Deutschnationalismus und Nationalsozialismus. Als vielversprechend würde sich dabei etwa auch eine generationenspezifische Analyse von in völkischen Vereinen aktiven FunktionärInnen vor und nach 1938 erweisen. Ein erster Blick auf die nach dem „Anschluss“ besetzten Ämter82 in der Steiermark zeigt, dass von den nationalsozialistischen Machthabern – etwa im Hinblick auf die durch Frauen zu besetzenden Positionen – kaum auf langjährige Aktivistinnen der völkischen Vereinsszene zurückgegriffen wurde, sondern vielmehr auf eine neue Generation junger Frauen, die offenkundig eine andere ‚völkische Sozialisation‘ durchlaufen hatten als die deutschnational-völkischen Vereinsaktivistinnen der ersten Stunde. Umgekehrt wurden ehemalige NationalsozialistInnen in der Nachkriegszeit zu einer neuen Zielgruppe für manche völkischen Vereine, die sich nach 1945 wieder neu konstituierten. So versuchte etwa der Verein Südmark, der 1951/52 als Alpenländischer Kulturverband Südmark wiederbegründet wurde, Anfang der 1950er Jahre in der Steiermark offensiv Mitglieder unter ehemaligen NationalsozialistInnen zu werben, die vor 1938 noch nicht im Verein engagiert gewesen waren.83 Diesen Aspekten von Brüchen, aber auch Kontinuitätslinien nachzugehen würde vor allem auch das völkische Milieu in der Steiermark nach 1945 ins Blickfeld rücken.

turpolitik reintegriert. Zur Biographie Papeschs vgl. Hofgartner, Den Brüdern (wie Anm. 54) 99–101. – Karner, Steiermark (wie Anm. 56) 106 bzw. 189–205, besonders 194ff. – Aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive dazu vgl. z. B. Gabriella Hauch/Johanna Gehmacher, Eine „deutsch fühlende Frau“. Die Großdeutsche Politikerin Maria Schneider und der Nationalsozialismus in Österreich, in: Frauenleben 1945 – Kriegsende in Wien. Ausstellungskatalog der 205. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt, Wien 1995, 115–132. 81 Vgl. Diskussionen um NS-Aufmärsche und die Abhaltung von Jugendlagern im Burgenland. Burgenländisches Landesarchiv, Bestand Deutscher Schulverein Südmark. 82 Vgl. Ämterführer der Stadt Graz, Graz 1939. 83 Vgl. Interview mit Elfriede R. (Jahrgang 1918), 27.3.2006.

NS-Eliten in der Steiermark und steirische NS-Eliten Herkunft, Rolle und Selbstverständnis 1938–1945

Martin Moll

Einleitung: Forschungsstand und Quellenlage Vor über 40 Jahren, 1969, wurde an der Universität Bergen in Norwegen ein breit angelegtes Forschungsprojekt auf den Weg gebracht, dessen Resultate 1980 unter dem Titel „Who were the fascists?“ publiziert wurden.1 Eine der in diesem Band geleisteten vergleichbare, umfassende Analyse der sozialen Herkunft, des Alters, der Geschlechterverteilung, der religiösen Bindungen, der Motivation usw. der österreichischen NSDAP-Anhänger und -Mitglieder steht heute, mehr als 40 Jahre nach dem Start des Bergenser Projekts, immer noch aus, selbst wenn einige neuere Arbeiten etwas Licht ins Dunkel gebracht haben.2 Es geht jedoch der spärlichen österreichischen Forschung im Grunde mehr um die Masse der „einfachen Parteimitglieder“ und NS-Sympathisanten, nicht so sehr um die einheimischen NS-Eliten. Dass dem so ist, zeigt schon die geringe Zahl einschlägig biographischer und/oder gruppenbiographischer Forschungen: In den letzten Jahren sind mir lediglich je eine Biographie des kurzzeitigen Wiener Gauleiters Odilo Globocnik und des Linzer Oberbürgermeisters Franz Langoth nachhaltig aufgefallen.3 Für Kärnten existiert immerhin – was für Österreich eine Rarität darstellt – eine neuere gruppenbiographische Studie.4 Demgegenüber fehlt nach wie vor, um lediglich ein Beispiel herauszugreifen, eine fundierte und modernen Ansprüchen 1 2 3

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Stein Ugelvik Larsen/Bernt Hagvet/Jan Petter Myklebust (Hrsg.), Who were the fascists? Social roots of European fascism, Bergen 1980. Zuletzt Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung 1938/39, Wien 2008. Grundlegend Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2001. Siegfried J. Pucher, „In der Bewegung führend tätig“. Odilo Globocnik – Kämpfer für den „Anschluß“, Vollstrecker des Holocaust, Klagenfurt 1997; Walter Schuster, Deutschnational, nationalsozialistisch, entnazifiziert. Franz Langoth – eine NS-Laufbahn, Linz 1999. Für biographische Studien zu Männern der zweiten Führungsebene in Österreich vgl. Fußnote 12 sowie neuerdings die kleine Arbeit zum stellvertretenden Gauleiter Kärntens: Jerzy Gaul, Aus Kärnten nach Warschau. Das Leben und der Tod von Franz Kutschera, in: Carinthia I 198 (2008), 547–564. Vgl. auch Lisa Rettl/ Werner Koroschitz, Ein korrekter Nazi: Oskar Kraus, NS-Oberbürgermeister von Villach. Kärntner Erinnerungsk(r)ämpfe, Klagenfurt 2006. Alfred Elste, Kärntens braune Elite. Mit einem Beitrag von Siegfried Pucher, Klagenfurt 21997.

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gerecht werdende Biographie Arthur Seyß-Inquarts, der zentralen Figur des österreichischen Nationalsozialismus zumindest im Jahr 1938.5 Bezeichnend für das geringe Interesse der österreichischen Forschung an den Lebenswegen führender einheimischer Nationalsozialisten ist allein der Umstand, dass den beiden in Österreich während der letzten Jahre vorgelegten größeren Studien drei im angelsächsischen Sprachraum erarbeitete Biographien zur Seite stehen; eine vierte, in Nordamerika in den späten 1980er-Jahren gefertigte Biographie behandelt Ernst Kaltenbrunner, der – obgleich er nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 mehrere Jahre hindurch als Höherer SS- und Polizeiführer (HSSPF) in Ostösterreich amtiert hatte – vor allem als Chef des Reichssicherheitshauptamtes (seit Januar 1943) in Erinnerung geblieben ist.6 Vor diesem Hintergrund muss das, was im Folgenden zum Thema steirische NS-Eliten präsentiert wird, notgedrungen vorläufig, passagenweise sogar weniger systematisch-analytisch als in Form impressionistischer Beobachtungen gehalten sein, allerdings eng an die Quellen angelehnt.7 Abgesehen von den leider immer noch oder neuerdings wieder bestehenden Vorbehalten gegenüber dem angeblich antiquierten biographischen Genre, das sich so gar nicht in die modernen kulturwissenschaftlichen Strömungen der Historiographie einfügen will, ist die insgesamt unbefriedigende Forschungslage nicht nur der aus umfangreichen Aktenvernichtungen bei Kriegsende resultierenden schlechten Quellenlage8 und dem weitge5

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Je eine Biographie des Genannten aus der Feder von Hendricus J. Neuman und Wolfgang Rosar erschien 1970 bzw. 1971; beide können modernen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden. Vgl. die neuere Skizze von Kurt Pätzold, Arthur Seyss-Inquart: „Wie immer der Weg führt“, in: Kurt Pätzold/Manfred Weißbecker (Hrsg.), Stufen zum Galgen. Lebenswege vor den Nürnberger Urteilen, Leipzig 1999, 367–401. Berndt Rieger, Creator of Nazi Death Camps. The Life of Odilo Globocnik, London 2007; Joseph Poprzeczny, Odilo Globocnik. Hitler’s man in the East, London 2004; Maurice Williams, Gau, Volk und Reich. Friedrich Rainer und der österreichische Nationalsozialismus. Eine politische Biographie nach Selbstzeugnissen. Deutsche Bearbeitung von Ulfried Burz u. Claudia Fräss-Ehrfeld, Klagenfurt 2005. Die Studie wurde zuerst in englischer Sprache publiziert. Etwas älter ist die deutsche Ausgabe der zuerst in Englisch veröffentlichten Studie von Peter Black, Ernst Kaltenbrunner. Vasall Himmlers: Eine SS-Karriere, Paderborn 1991. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Martin Moll, Der Reichsgau Steiermark 1938–1945, in: Jürgen John/Horst Möller/Thomas Schaarschmidt (Hrsg.), Die NS-Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007, 364–377. Eine Bestandsübersicht der im Steiermärkischen Landesarchiv (StLA) erhaltenen einschlägigen Akten der Reichsstatthalterei bei Heinz Boberach (Hrsg.), Inventar archivalischer Quellen des NS-Staates. Teil 2: Regionale Behörden und wissenschaftliche Hochschulen für die fünf ostdeutschen Länder, die ehemaligen preußischen Ostprovinzen und eingegliederten Gebiete in Polen, Österreich und der Tschechischen Republik, mit Nachträgen zu Teil 1, München 1995, 15. Ebenda, 105, Angaben zu den Akten der Staatspolizeistelle Graz (nur eine winzige Ersatzüberlieferung im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes [DÖW], Wien).

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henden Fehlen autobiographischer Selbstzeugnisse der steirischen Akteure9 geschuldet, sie hat wohl auch damit zu tun, dass sich für die Steiermark besonders intensiv die prinzipielle Frage stellt, was überhaupt unter steirischen NS-Eliten zu verstehen ist.10

Definitorische Überlegungen zum Elitenbegriff Manchem Leser wird der gewundene Titel dieses Aufsatzes aufgefallen sein: NS-Eliten in der Steiermark und steirische NS-Eliten … Hierbei geht es freilich nicht um ein wohlfeiles Wortspiel. Wenn ein Ende 2008 publizierter Artikel der größten steirischen Tageszeitung, der sich mit jenen NS-Eliten auseinandersetzt, nahezu ausschließlich den Gauleiter der Jahre 1938– 1945, Dr. Siegfried Uiberreither, in den Blick nimmt,11 dann sind wir mitten in der Problematik: War der 1908 in Salzburg geborene und erst als Student in die Steiermark gekommene Uiberreither ein steirischer NS-Funktionär oder (bloß) ein in der Steiermark wirkender? Lassen Sie mich das Problem – zugegeben provokativ – andersherum formulieren: Der Gauleiter der Steiermark – ein gebürtiger Salzburger; sein Stellvertreter (Dr. Tobias Portschy) – ein gebürtiger Burgenländer12; der Regierungspräsident, mithin der höchste Repräsentant der zivilen Verwaltung (Dr. Otto Müller-Haccius) – ein „Reichsdeutscher“. Bleibt aus dem engsten Kreis der Mächtigen nur noch der Gauhauptmann, Prof. Dr. Armin Dadieu, als einziger gebürtiger Steirer innerhalb der braunen Spitzengruppe, der – sofern man aus seiner pfleglichen Behandlung nach 1945 Schlüsse ziehen will – kein allzu schlim9

Einzig nennenswert: Armin Dadieu, Aus meinen Aufzeichnungen 1938–1945, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 10 (1978), 323–341. Dieser durch Dadieus Tod unvollendet gebliebene Text behandelt unkritisch überwiegend die Zeit vor dem „Anschluss“ bzw. den Zusammenbruch im Mai 1945, auf die sieben Jahre der Herrschaftsausübung geht er hingegen kaum ein. Vgl. ferner Alfred Persche, Erinnerungen aus der Geschichte der nationalsozialistischen Machtergreifung in Österreich. Jahre 1936–1938. Niedergeschrieben von einem Alten Kämpfer der NSDAP. Unveröffentlichtes Manuskript im DÖW, Wien, Signatur 1460. 10 Eine Zusammenfassung des Forschungsstandes zum Thema NS-Eliten bei Michael Wildt, Blick in den Spiegel. Überlegungen zur Täterforschung, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19 (2008), 13–37. 11 Andreas Prückler/Walter Titz, Ein Mahnmal wider das Schweigen, in: Kleine Zeitung, 10.12.2008, 24–25. 12 Vgl. zu ihm Ursula Mindler, „Portschy ist Burgenländer, ich bin Steirer.“ Ein Burgenländer als Gauleiter-Stellvertreter von Steiermark. Das Wirken Dr. Tobias Portschys im steirischen Raum, in: Blätter für Heimatkunde 80 (2006), 117–143. Dies., Tobias Portschy. Biographie eines Nationalsozialisten: Die Jahre bis 1945, Eisenstadt 2006. In dem erstzitierten Aufsatz erwähnt Mindler in ihrer Anmerkung 12 ein Tagebuch Portschys.

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mer Nazi gewesen sein kann.13 Die Conclusio wäre: Keine Steirer unter den Top-Nazis im Reichsgau Steiermark. Es muss wohl wenig Überzeugungsarbeit dafür geleistet werden, dass es so nicht gewesen sein kann. Meines Erachtens gibt es zwei Varianten, dem Dilemma zu entkommen: Entweder waren die gebürtigen Steirer unter den Top-Nazis außerhalb der Steiermark eingesetzt – wir kommen darauf noch zurück –, oder der Begriff des Steirers bedarf einer Modifikation dahin gehend, dass nicht der Geburtsort das maßgebliche Kriterium sein kann. Freilich bereitet es Schwierigkeiten, beispielsweise den über die Aufteilung des Burgenlandes 1938 und damit den Verlust seiner Gauleiterposition unglücklichen Tobias Portschy zum Steirer zu erklären, ganz zu schweigen von dem „reichsdeutschen“ Beamten Müller-Haccius. Diese Überlegungen würden für das Territorialitätsprinzip sprechen, was bedeutet, sich mit jenen zu befassen, die im Reichsgau Steiermark von Einfluss waren – wobei zu klären wäre, ob das dem Gau angeschlossene Südburgenland und die ab April 1941 de facto annektierte Untersteiermark im ehemaligen Jugoslawien dazugehören oder nicht. Dieses auf das Territorium abstellende Prinzip müsste aber jene gebürtigen Steirer unberücksichtigt lassen, die zwischen 1938 und 1945 außerhalb der Grünen Mark bedeutsame Positionen im deutschen Herrschaftsbereich innehatten, was insbesondere auf einige aus der Steiermark gebürtige höhere SS- und Polizeiführer zutrifft. Es wird nichts anderes übrig bleiben, als das Territorialitäts- durch das Geburtsprinzip zu ergänzen. Dafür spricht vor allem die Erwägung, dass nur so der Frage nachgegangen werden kann, unter welchen Umständen der eine oder andere aus der Steiermark stammende prominente Nationalsozialist den Gipfel seiner Karriere nicht in der Steiermark, sondern anderswo erklomm. Dabei gibt es unter diesen Prominenten Männer wie Hanns Albin Rauter, gebürtig aus Kärnten, Student in Graz, seit den 1920er Jahren im „Steirischen Heimatschutz“ aktiv und seine Karriere als HSSPF in den deutschbesetzten Niederlanden beendend, mithin Personen, für welche die Steiermark eine kürzere oder längere Durchgangsphase in ihrem Leben und ein Sprungbrett zu höheren Weihen darstellte, die aber doch mit diesem Land eng verbunden waren, weil sie ohne die dort erfahrene politische Sozialisation ihre späteren NS-Karrieren kaum gemacht hätten.

13 Für diese bis heute in der Steiermark dominierende, positive Sicht auf Dadieu siehe etwa die von zwei Kollegen Dadieus aus dem Bereich der Naturwissenschaften verfassten, unkritischen Nachrufe in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 10 (1978), 318–321. Vgl. auch ebenda, 315–317, die Einleitung Maria Schafflers zu Dadieus Aufzeichnungen; die Verfasserin deklariert sich als enge Freundin der Familie und frühere Mitarbeiterin Dadieus. Diesem wird zugutegehalten, vor dem März 1938 für eine Beruhigung der Lage und im Mai 1945 für eine geordnete Übergabe der Amtsgeschäfte an demokratische Kräfte gesorgt zu haben.

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Wer zählt nun zu besagter NS-Elite? Gehören Wirtschaftsführer dazu, hochrangige und/ oder hochdekorierte Militärs,14 bedeutsame Künstler – sofern sie alle Rang und Namen und außerdem das braune Parteibuch besaßen? Oder ist das Parteibuch für unsere Fragestellung verzichtbar und es genügt ein öffentliches Bekenntnis der Genannten zum NS-Regime, mag dies nun mit dem Eintritt in die NSDAP korrespondiert haben oder nicht? Es ist vertretbar, für die Einbeziehung solcher Gruppen zu plädieren, doch müsste dann der Nachweis erbracht werden, dass die Angehörigen jener Schichten ausschließlich oder doch vorrangig wegen ihres Engagements für den Nationalsozialismus zu Prominenz gelangt waren, dass sie, andersherum formuliert, ohne die braune Machtübernahme in der Steiermark 1938 weder ein einflussreicher Wirtschaftskapitän noch ein angesehener Literat gewesen bzw. geworden wären. Gerade ein solcher kausaler Nexus scheint mir nur ausnahmsweise zuzutreffen, am wenigsten bei den Künstlern, von denen die meisten schon vor dem März 1938 bekannt und angesehen gewesen waren (und dies nach 1945 blieben). Es gilt hier der Grundsatz, dass bei einem Machtwechsel, wie er im März 1938 stattfand, die politischen Eliten viel leichter und schneller ausgetauscht werden können als ökonomische und künstlerische. 15 Wenn es aber zutrifft, dass – freilich immer abgesehen von den durch die NS-Machthaber zu solchen erklärten Juden – in Wirtschaft und Kultur 1938 und danach eher Elitenkontinuität als Elitenwandel, ganz zu schweigen von Elitenbruch, vorherrschte – dann wäre mit Blick auf diese Gruppen die Frage nach den NS-Eliten falsch gestellt. Es ginge dann gar nicht um genuine NS-Eliten, sondern um Vor-NS-Eliten mit einer deutlichen Affinität zum Nationalsozialismus oder mindestens mit der Fähigkeit, sich mit dem NS-Regime zu arrangieren. Diese Eigenschaft macht aber diese Gruppen aus Wirtschaft und Kultur noch nicht zu NS-Eliten, weshalb ich mich auf die politischen Führungszirkel beschränken werde.

NS-Eliten im engeren Sinn: Der Primat der Politik Wie sollen diese aber definiert, wie ihr Personal erfasst werden? Anzubieten scheint sich ein Blick auf die nach 1945 von österreichischen oder alliierten Gerichten wegen ihrer Betätigung 14 In diesem Zusammenhang wäre etwa zu denken an das Jagdflieger-Ass der Deutschen Luftwaffe, den 1912 in Graz geborenen und mit dem Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes mit Brillanten, dem nur 27-mal verliehenen, zweithöchsten deutschen Orden, ausgezeichneten Gordon M. Gollob, der um 1950 kurzfristig eine herausgehobene Rolle in der Vorläuferorganisation der Freiheitlichen Partei Österreichs, dem Verband der Unabhängigen, spielte. 15 Vgl. zum Austausch der politischen Eliten die wenig ergiebigen, weil rein deskriptiven Ausführungen von Gerald Gänser, Kontinuität und Bruch in der steirischen Landesverwaltung. Die personalpolitischen Auswirkungen des Anschlusses im öffentlichen Dienst, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 125–136.

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für das NS-Regime (vor und/oder nach dem „Anschluss“) strafrechtlich verfolgten Personen.16 Obwohl die Thematik der justiziellen Nachkriegs-Aufarbeitung des NS-Regimes für die Steiermark gut erforscht ist, hing es doch von vielerlei Zufällen ab, ob sich Mitglieder jener NS-Führungsgruppen bei und unmittelbar nach Kriegsende in der Steiermark aufhielten (sofern sie zum fraglichen Zeitpunkt noch am Leben waren), ob sie den Gerichten in die Hände fielen und ob gegen sie Anklage erhoben wurde. Nicht wenigen gerade aus dem innersten Kreis der Macht gelang die Flucht oder sie vermochten sich, oft jahrelang, zu verstecken. Treffend fasst Martin Polaschek in seiner Studie über die sogenannten steirischen Volksgerichte und deren Tätigkeit von 1945 bis 1955 zusammen: „Viele höherrangige Funktionäre des nationalsozialistischen Regimes waren allerdings angesichts der herannahenden sowjetischen beziehungsweise jugoslawischen Truppen geflohen, manche nahmen sich anlässlich des Einmarsches das Leben; nur wenige verblieben auf ihrem Posten.“17 Deshalb und wegen der Besonderheiten der österreichischen „Abrechnung“ mit dem Nationalsozialismus, die selbst die einfache, also funktionslose Mitgliedschaft in der NSDAP vor dem März 1938 als Verbrechen einstufte, fällt es schwer, die braune Elite aus den vielen Tausenden Gerichtsakten herauszufiltern. Die Studie Polascheks enthält etwas Material über einige steirische Kreisleiter der NSDAP, den Grazer Oberlandesgerichts-Präsidenten Dr. Friedrich Meldt sowie über den 1938 nur wenige Wochen als kommissarischer NS-Landeshauptmann amtierenden Sepp Helfrich. Ohne zu beanspruchen, jede wichtige Funktion zu erfassen, schlage ich vor, folgende Personengruppen unter dem Begriff der NS-Eliten in der Steiermark zu subsumieren: Erstens die Parteihierarchie bis herab zum Kreisleiter sowie, zweitens, die Gauführer der Gliederungen und angeschlossenen Verbände (SA, SS, HJ, DAF etc.); drittens die parallele staatliche Struktur bis herab zum Landrat sowie wegen der Bedeutung dieser Funktionen, viertens, auch die Leiter der Gestapostelle und der SD-Außenstelle Graz. Für die zwischen 1938 und 1945 außerhalb der Steiermark wirkenden Steirer qua Geburt liegen die Dinge weniger klar, ich schlage daher statt eines lediglich auf die Funktion abzielenden Zugangs ein eher impressionistisches Verfahren vor und beziehe jene ein, die in der Forschung eine gewisse Aufmerksamkeit gefunden haben – sofern ein entsprechender Rang vorlag, hat Elitenstatus doch mit äußerlich erkennbaren Top-Positionen in Hierarchien zu tun. Anders gesagt und an zwei Beispielen erklärt: Niederrangige, häufig nur einen Unteroffiziersrang bekleidende KZ-Schergen wie Franz Murer, mögen sie wegen ihrer Brutalität in der Literatur noch so oft behandelt worden sein, gehörten nicht zur NS-Elite. Dasselbe gilt für den 1912 in Rohrbrunn (im später zum Gau Steiermark gehörigen Teil des Burgenlandes) 16 Vgl. Martin F. Polaschek, Im Namen der Republik Österreich! Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955, Graz 1998. 17 Ebenda, 77.

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geborenen und im steirischen Fürstenfeld zur Schule gegangenen Alois Brunner, einen der engsten Mitarbeiter Adolf Eichmanns.18 Zu erörtern bleibt die Zeitachse der Fragestellung. Gab es NS-Eliten nur unter den Bedingungen des in Österreich an die Macht gekommenen Nationalsozialismus oder auch schon vor dem März 1938?19 Man wird die Pioniere oder, in der Sprache der Zeit, die „alten Kämpfer“ der NSDAP nicht ausklammern können, allein deshalb, weil man nur bei deren Einbeziehung sinnvoll fragen kann, welche dieser Parteiveteranen ihre Karriere unter den veränderten Bedingungen nach dem „Anschluss“ fortzusetzen vermochten und welche nicht, egal ob sie nun in der politischen Versenkung verschwanden oder wie Dr. Walter Pfrimer, der ehemalige Führer des „Steirischen Heimatschutzes“, mit der einflusslosen, aber einträglichen Sinekure eines Reichstagsmandats bedacht wurden.

Die Etablierung der steirischen NS-Elite ab März 1938 In seiner als Standardwerk geltenden Studie „Die Steiermark im Dritten Reich“ hat Stefan Karner betont, nach einer gewissen Konsolidierungsphase im Frühjahr 1938 – sowohl die Gebietseinteilung innerhalb des annektierten Österreich als auch die Personalsituation wurden erst in einem mehrmonatigen konfliktreichen Prozess entschieden20 – hätten in der steirischen Gauleitung fast nur mehr Steirer, darunter auffallend viele Untersteirer bzw. dort Geborene das Sagen gehabt.21 Von einer Invasion „reichsdeutscher“ Posten- und Schnäppchenjäger – eines der beliebtesten Themen der älteren österreichischen Historiographie – könne mit

18 Hierzu Gabriele Pöschl, (K)ein Applaus für die österreichische Justiz – Der Geschworenenprozess gegen Franz Murer, in: Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Kriegsverbrechen, NSGewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag, Graz 2007, 297–301; Hans Safrian, Die Eichmann-Männer, Wien u. a. 1993; Georg M. Hafner/Esther Schapira, Die Akte Alois Brunner: Warum einer der größten Naziverbrecher noch immer auf freiem Fuß ist, Frankfurt a. M. 2000. 19 Für diese Frühzeit vgl. Eduard G. Staudinger, Die Entwicklung des Nationalsozialismus in Graz von seinen Anfängen bis 1938, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 31–74. 20 Umfassend hierzu Gerhard Botz, Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938–1940), Wien 21976. Vgl. auch Lorenz Mikoletzky, Josef Bürckels Dienststelle und die Steiermark 1938/39. Ausgewählte Materialien aus dem Amt des Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, in: Gerhard Pferschy (Hrsg.), Siedlung, Macht und Wirtschaft. Festschrift Fritz Posch zum 70. Geburtstag, Graz 1981, 281–291. 21 Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlichsozialen und kulturellen Entwicklung, Graz 1994, 80.

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Blick auf die Steiermark keine Rede sein. Auffallend ist zunächst, dass die politische Heimat und Hausmacht des im Mai 1938 definitiv bestellten Gauleiters Uiberreither die im „Altreich“ längst kaltgestellte SA war. Deren Stärke und Beliebtheit in der Steiermark konnte bei der Postenbesetzung im Frühjahr 1938 nicht übergangen werden. Die braunen Bataillone hatten hier auf eigene Faust im Februar und März 1938 einen erfolgreichen Aufstand durchgeführt und nicht zuletzt deshalb im internen Machtkampf der örtlichen NSDAP-Fraktionen die Oberhand behalten.22 Obwohl zeitweilig auch andere Kandidaten für den Gauleiterposten erwogen worden waren, machte schließlich der steirische SA-Führer Uiberreither das Rennen. Diese Gauleiterwahl stellte nicht nur die SA ruhig, sie stärkte auch die Autonomie des zu schaffenden steirischen Reichsgaus. Uiberreither zeichnete aus, dass er kein Exilant gewesen war und nicht, wie so viele andere 1938 zu Amt und Würden Gekommene, der Kärntner Clique zugerechnet werden konnte.23 Man sollte freilich den Faktor SA, erklärlich aus den spezifischen Bedingungen der sogenannten Kampfzeit, nicht überbewerten, denn ab 1938/39 hatte die weiterbestehende SA-Zugehörigkeit Uiberreithers, der nicht wie viele seiner Kollegen zur elitären und einflussreicheren SS wechselte, keine praktischen Konsequenzen. Karner hat ferner die These aufgestellt, bei der Wahl Uiberreithers sei der Wunsch nach einem starken Grenzlandgauleiter maßgeblich gewesen, der den „Volkstumskampf“ an der steirischen Südgrenze gegen Jugoslawien aktivieren sollte.24 Diese Interpretation überzeugt nicht. Sie wird schon fragwürdig, blickt man nach Kärnten, einem weiteren Grenzland mit nahezu identischen Rahmenbedingungen, wo mit Hubert Klausner ein kranker und daher alles andere als starker Gauleiter bestellt wurde; er starb prompt Anfang 1939 und wurde nach mehrjährigem Interregnum erst Ende 1941 durch den Salzburger Gauleiter Dr. Friedrich Rainer ersetzt. Ob ausgerechnet der gebürtige Salzburger Uiberreither als Volkstums- und Grenzlandexperte gelten konnte, sei dahingestellt – er hätte sich in den Jahren vor dem „Anschluss“ immerhin einschlägiges Wissen aneignen können. Wenn damit aber gemeint ist, dass die von Uiberreither angeführten steirischen NS-Eliten durch den vor 1918 virulenten „Volkstumskampf“ im damaligen Herzogtum Steiermark25 geprägt waren, so ist dem entgegenzuhalten, dass die steirische Führungstroika Uiberreither, Portschy und Dadieu (geboren zwischen 1901 und 1908) dafür schlicht zu jung war. Richtig ist zwar, dass diese Männer ab dem Frühjahr 1941 in der faktisch annektierten Untersteiermark tatsächlich 22 Ebenda, 43. Wenig ergiebig zu den Stationen von Uiberreithers Karriere ist Karl Höffkes, Hitlers politische Generale. Die Gauleiter des Dritten Reiches. Ein biographisches Nachschlagewerk, Tübingen 1986, 351–352. 23 Vgl. Evan Burr Bukey, Hitlers Österreich. „Eine Bewegung und ein Volk“, Hamburg u. a. 2000, 96. 24 Karner, Steiermark (wie Anm. 21) 79. 25 Hierzu ausführlich Martin Moll, Kein Burgfrieden. Der deutsch-slowenische Nationalitätenkonflikt in der Steiermark 1900–1918, Innsbruck u. a. 2007.

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„Volkstumskampf“ betrieben, doch war dies 1938, zum Zeitpunkt der Ernennung, nicht vorhersehbar, stellt man die damaligen freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Reich und Jugoslawien in Rechnung.26 Wie auch immer: Uiberreither und seine Entourage standen zweifelsfrei für einen – reichsweit keineswegs selbstverständlichen – Primat der Partei, obwohl oder gerade weil der Gauleiter in seinen Funktionen als Reichsstatthalter und Chef der Gauselbstverwaltung auch die staatliche sowie die Selbstverwaltung des Gaus in seiner Hand vereinigte, wie es das auf dem Gebiet des ehemaligen Österreich erstmals erprobte Modell der Reichsgaue vorsah. 27 Der 1944 erfolgte Rücktritt des Regierungspräsidenten Müller-Haccius gibt von diesem Primat der NSDAP beredtes Zeugnis. Uiberreither war den wenig geliebten „altreichsdeutschen“ Beamten Müller-Haccius endlich losgeworden, nachdem er schon 1939 rund um dessen Ernennung vergeblich einen anderen – „ostmärkischen“ – Kandidaten favorisiert hatte.28 Kaum an der Macht, legte Uiberreither – damals erst 30 Jahre alt – einen autoritären Stil an den Tag; neben ihm hatten andere Machtträger keine Chance, eigenständiges Profil zu entwickeln, ganz zu schweigen vom Aufbau einer inneren Fronde, wie sie anderswo bei einem schwachen, inkompetenten Gauleiter durchaus entstehen konnte.29 Dank der Forschungen Ursula Mindlers wissen wir, dass selbst der ebenfalls junge und tatendurstige stellvertretende Gauleiter Portschy von seinem Chef weitgehend kaltgestellt bzw. auf – im Ganzen und auf lange Sicht betrachtet – Nebengeleise abgedrängt wurde. Begleitet wurde die unbestrittene Machtposition Uiberreithers innerhalb des Gaus durch sein, gelinde gesagt, selbstbewusstes Auftreten gegenüber den Zentralbehörden. Schon 1938/39 hatte er im Zuge der langwierigen und keineswegs friktionsfreien, administrativen Umgliederungen alle Anordnungen des hierfür nominell zuständigen „Reichskommissars für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem 26 Grundlegend zur Untersteiermark Stefan Karner (Hrsg.), Die Stabsbesprechungen der NS-Zivilverwaltung in der Untersteiermark 1941–1944, Graz 1996. 27 Zu den Reichsgauen vgl. (neben dem in Anm. 7 genannten Sammelband) auch Dieter Rebentisch, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungskontinuität 1939–1945, Stuttgart 1989, 163–293. 28 Der Reichsminister des Innern [Wilhelm Frick] an den Staatsminister und Chef der Präsidialkanzlei, 31.8.1939. Bundesarchiv Berlin (BAB), R 43 II/1358, Bl. 123–124. Frick übersandte hier den Ernennungsvorschlag samt Ernennungsurkunde für Müller-Haccius und erwähnte den vorausgegangenen, langatmigen Schriftwechsel über die Besetzung des Postens des Regierungspräsidenten in Graz. Uiberreither, so Frick, habe für den aus der Ostmark stammenden SS-Oberführer Scharitzer, den (damals) stellvertretenden Gauleiter von Wien, votiert. 29 Noch immer gültig Peter Hüttenberger, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969. Neuerdings Jeremy Noakes, ‚Viceroys of the Reich?’ Gauleiters 1925–45, in: Anthony McElligott/Tim Kirk (Hrsg.), Working towards the Führer. Essays in honour of Sir Ian Kershaw, Manchester u. a. 2003, 118–152.

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Deutschen Reich“, des saarpfälzischen Gauleiters Josef Bürckel, ignoriert und im Zuge dieser Dispute seinen notorischen Anti-Wien-Komplex auf den nun an der Donau residierenden „Reichsdeutschen“ Bürckel übertragen. Bereits im Sommer 1938 war innerhalb der Münchner Reichsleitung der NSDAP allgemein bekannt, Uiberreither „möchte machen, was er will“ und er lasse sich „von niemandem etwas dreinreden, selbst auf die Gefahr hin, dass man ihn als Rebell bezeichne und nach Dachau stecken würde“.30

Die SS im Reichsgau Steiermark: Eigenständig oder Instrument des Gauleiters? Mit ähnlich selbstherrlichen Ansprüchen traten wohl viele, wenngleich nicht alle Gauleiter auf; die meisten trachteten danach, ihren Gau als kleineres oder größeres Vizekönigtum einzurichten, in dem bestenfalls der „Führer“, nicht aber die Berliner Zentralbehörden etwas zu bestellen hätten. So unterschiedlich die Resultate derartiger Verselbständigungsbestrebungen im Einzelnen waren: Nahezu alle Gauleiter mussten zähneknirschend die ihren Direktiven entzogene Eigenständigkeit des SS- und Polizeikomplexes akzeptieren, den der ReichsführerSS Heinrich Himmler ebenso zentralistisch wie straff und penibel dirigierte.31 Eine Untersuchung der diesbezüglichen steirischen Situation gestaltet sich wegen der ungünstigen Quellenlage sowie wegen fehlender Forschungen außerordentlich schwierig. Es spricht für sich, dass Karner zum Themenkreis SS, Gestapo und Sicherheitsdienst (SD) lediglich vereinzelte knappe Hinweise in Fußnoten liefert. Nur bruchstückhaft wird diese Lücke durch eine kleine Studie Siegfried Beers gefüllt, die auf einem alliierten Vernehmungsbericht des letzten Leiters des Grazer SD-Abschnitts beruht.32 Daraus ersehen wir, was zu erwarten war: Die Spitzenpositionen des SS-Komplexes in der Steiermark waren wie üblich mit Ortsfremden besetzt. Den SD-Abschnitt leitete im letzten Kriegsjahr der 1900 in Bayern geborene SS-Obersturmbannführer Dr. Hans Zehlein. Ebenfalls aus dem „Altreich“ stammten die mehrfach wechselnden Leiter der Grazer Gestapostelle: Nach einem kurzen Intermezzo durch Uiberreither persönlich übernahm noch 1938 der „Altreichsdeutsche“ und spätere SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei Erwin Schulz (geboren 1900) die Grazer Gestapofiliale.33 Ihm folgten Ende 30 Zitiert nach Bukey, Hitlers Österreich (wie Anm. 23) 97. 31 Umfassend belegt bei Peter Longerich, Heinrich Himmler. Biographie, München 2008. 32 Siegfried Beer, NS-Bespitzelung und NS-Bevölkerungsüberwachung in der Steiermark. Zur Tätigkeit des SD-Abschnitts Graz 1944/45, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 23/24 (1993), 389–404. 33 Dienstaltersliste der Schutzstaffel der NSDAP (SS-Oberst-Gruppenführer – SS-Standartenführer). Stand vom 9. November 1944, Berlin 1944, 19; Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, Unsichtbar. NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008, 112. Hiernach

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1939 der 1902 geborene SS-Sturmbannführer Gustav Nosske (bis Herbst 1940), Regierungsrat und SS-Sturmbannführer Dr. Walther Machule (Jahrgang 1908, bis Sommer 1943), SSObersturmbannführer Dr. Max Großkopf (geboren 1892, bis Dezember 1944) sowie zuletzt SS-Sturmbannführer Josef Stüber (Jahrgang 1906).34 Abgesehen von Schulz, der bis zum SSGeneralmajor aufstieg, wenngleich er sich bei einem Osteinsatz und den damit verbundenen Massenliquidierungen als „zu weich“ erwies, kann es sich bei diesen Männern in den Augen ihrer Vorgesetzten um keine sonderlichen Aktivisten gehandelt haben: Für Machule, Nosske und Stüber verzeichnet die SS-Dienstaltersliste noch im Herbst 1944 keine einzige Auszeichnung, Machule wurde obendrein seit September 1939 nicht mehr befördert. Wir können davon ausgehen, dass sich das Verhältnis zwischen den regionalen NSDAPPotentaten und der SS nicht zuletzt im persönlichen Umgang an der Spitze spiegelte. Dabei sind die Zusammentreffen zwischen Uiberreither und Himmler im Rahmen der Besuche des Reichsführers-SS in Graz bzw. in der eroberten Untersteiermark weniger aussagekräftig, weil sie ebenso einen repräsentativen und formalen Charakter tragen wie die vom Gauleiter regelmäßig an Himmler übersandten Geschenke des Gaus für die (Waffen-)SS.35 Immerhin lief der einschlägige Schriftverkehr über den Gauleiter, den SA-Obergruppenführer Uiberreither, nicht etwa über dessen beide Stellvertreter, die SS-Oberführer Portschy und Dadieu.36 Es sagt mehr aus, dass Himmler den steirischen Gauleiter am 18. April 1942 zu einem mehrstündigen Mittagessen in seinem Feldquartier empfing und dass die beiden am 25. November 1942 erneut in amikaler Atmosphäre zusammentrafen, als Himmler ein Jagdhaus in Ober­tauern

das Folgende. In einigen Fällen wurden falsche Schreibweisen von Personennamen und unkorrekte Dienstgrade anhand der Dienstaltersliste berichtigt. 34 Angaben aus: Dienstaltersliste der Schutzstaffel der NSDAP (SS-Obersturmbannführer und SSSturmbannführer). Stand vom 1. Oktober 1944, Berlin 1944, 13, 18, 28, 45 und 47. Zu den meisten der hier Genannten, insbesondere zu Schulz, finden sich auch Hinweise bei Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, die lediglich deren Dienstzeit im RSHA, nicht jedoch deren Tätigkeit in Graz zum Gegenstand haben. 35 Korrespondenz hierzu, u. a. routinemäßige Dankschreiben Himmlers, in den Akten von dessen Persönlichem Stab. BAB, NS 19/1729. 36 Portschy wurde am 9.11.1940 zu diesem Dienstgrad befördert, Dadieu erst am 30.1.1942 (obwohl seine SS-Nummer um einiges niedriger ist, was ein früheres Eintrittsdatum belegt). Unrichtig mithin Dadieu, Aufzeichnungen, 332, wo er seine Beförderung auf Ende 1943 datiert. In beiden Fällen handelte es sich um so genannte SS-Ehrenränge, die der jeweiligen staatlichen bzw. NSDAP-Stellung der Genannten entsprachen. Für den Dienstgrad Oberführer gab es kein Äquivalent in der Wehrmacht, er lag zwischen dem Rang eines Obersten und dem eines Generalmajors. SS-intern wurden Portschy und Dadieu beim Stab SS-Abschnitt XXXV (= Graz) geführt. Dienstaltersliste der Schutzstaffel (wie Anm. 33) 27–28. Der Grazer Oberbürgermeister Dr. Julius Kaspar war seit 20.4.1941 ebenfalls SSOberführer. Ebenda, 39.

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zur Gamsjagd aufsuchte, wobei auch Uiberreither zugegen war.37 Wo es an der Spitze so konfliktfrei, ja harmonisch zuging, konnte es auf den unteren Ebenen nicht grundlegend anders sein. So wurde der steirische Gauleiter regelmäßig mit den vom örtlichen SD angefertigten Stimmungs- und Lageberichten beliefert, worum sich andere Gaufürsten vergeblich bemühten. Soweit wir den Inhalt dieser Meldungen kennen, richtete sich die darin wiedergegebene Kritik der Bevölkerung gegen „reichsdeutsche“ Top-Nazis, nicht gegen die regionalen Parteivertreter.38 In seinem Verhältnis zur SS profitierte der steirische Gauleiter – ungeachtet seiner Zugehörigkeit zur konkurrierenden SA – von dem Umstand, dass der u. a. für die Steiermark seit Ende 1941 zuständige HSSPF, der gebürtige Westfale SS-Obergruppenführer Erwin Rösener, eine schwache, wenig ambitionierte Persönlichkeit war; er kam Uiberreither selten in die Quere. Obwohl SA-Mann, wurde Uiberreither im Frühjahr 1941 zu Himmlers Vertreter in dessen Eigenschaft als „Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums“ für die Untersteiermark ernannt – einen deutlicheren Beweis für Himmlers unbegrenztes Vertrauen wie auch für die starke, nicht zu umgehende Machtstellung Uiberreithers konnte es nicht geben. Für diesen handelte es sich keinesfalls um eine bloß nominelle Ernennung. Der Gauleiter dachte gar nicht daran, den von Himmler aus Berlin entsandten SS-Offizieren im Unterland die praktische Arbeit zu überlassen, er erschien wiederholt selbst vor Ort, ließ sich detailliert Bericht über die im Gange befindlichen „Umsiedlungsmaßnahmen“ erstatten und hatte keine Hemmungen, den seiner Meinung nach überflüssigen und ineffizienten SSAnsiedlungsstab Südmark kurzerhand und aus eigener Machtvollkommenheit aufzulösen.39 Die überlieferten Akten lassen wenig Zweifel daran, dass in den de facto annektierten untersteirischen Gebieten – auch und gerade auf dem Gebiet der sogenannten Volkstumspolitik – nicht die SS die erste Geige spielte, sondern der von Uiberreither in Personalunion geleitete Stab des Chefs der Zivilverwaltung für die Untersteiermark.40 Schon bei den ersten einschlägigen Besprechungen mit den Reichsstellen, wenige Tage nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Jugoslawien, hatte Uiberreither erfolgreich seinen Primat bei der Umgestaltung des

37 Peter Witte u. a. (Hrsg.), Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42, Hamburg 1999, 403 und 622. 38 Beer, NS-Bespitzelung (wie Anm. 32) 394, mit Verweis auf Nachkriegsaussagen Zehleins. Einige dieser an Uiberreither übersandten SD-Berichte aus dem Frühjahr 1941 sind erhalten geblieben: StLA, Zeitgeschichtliche Sammlung (ZGS), Karton 403. 39 Niederlassung Marburg an der Drau der Deutschen Umsiedlungs-Treuhand Gesellschaft mbH. an Geschäftsführung Berlin, 20.3.1942. StLA, ZGS, Karton 15. 40 Vgl. die Akten ebenda sowie Karner, Stabsbesprechungen (wie Anm. 26), und Tone Ferenc (Hrsg.), Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik in Slowenien 1941–1945, Maribor 1980.

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bis 1918 zum Herzogtum Steiermark gehörenden Gebiets angemeldet.41 Bis Kriegsende sollte ihm diese Federführung nicht mehr streitig gemacht werden.

Monokratie des steirischen Gauleiters Hier soll nicht einem personalistischen Geschichtsbild das Wort geredet werden, man fragt sich aber, welche Auswirkungen die augenscheinlich monokratische Stellung eines einzelnen Mannes auf das Konzept und die Fragestellung von NS-Eliten haben musste. Daran knüpft sich das Eingeständnis, dass Person und Persönlichkeit des steirischen Gauleiters – mehr als 60 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft und 25 Jahre nach seinem Tod – noch immer Rätsel aufgeben. Wie konnte ein derart junger Mann, mit seinen durchaus nicht überragenden Verdiensten für die „Bewegung“ in ihrer sogenannten Kampfzeit, 1938 auf einen so bedeutenden Posten gelangen und diesen sieben Jahre lang unangefochten und, wie es scheint, zur vollsten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten ausüben? Und wie wurde ein Mann, von dem die Deutsche Nationalbibliothek lediglich zwei Publikationen verzeichnet – neben der Herausgabe der bei einer Kundgebung der Beamtenschaft des Gaues Steiermark 1941 gehaltenen Ansprachen das „Sachregister und Inhaltsübersicht zum Bundesgesetz, betreffend die gewerbliche Sozialversicherung (GSVG) B.G.Bl. Nr. 107/35, und zur I. Durchführungsverordnung zum GSVG. B.G.Bl. Nr. 168/35“ (1935) – wie wurde ein solcher Gesetzeskommentator und Jurist zu einer führenden Figur des österreichischen, wenn nicht reichsweiten Nationalsozialismus? Die Frage wird umso rätselhafter, wenn man bedenkt, dass Uiberreither sich auch später, in seiner Funktion als Gauleiter, mit ausführlichen Denkschriften zu sozialrechtlichen Fragen zu Wort meldete, was auf sein echtes Interesse an dieser Thematik hindeutet.42

Die zweite Ebene der steirischen NS-Eliten Blickt man auf den Unterbau der Gauleitung, die Kreisleitungen der NSDAP, so ist festzuhalten, dass dort bis Kriegsende viel Fluktuation herrschte; außerdem waren die Kreisleiter, wie auch im Reich üblich, in ständige Konflikte mit den Landräten als den Vertretern der

41 Der Reichsminister des Innern, Vermerk über die Besprechungen in Graz vom 8. bis 9. April 1941. BAB, R 1501/5429. 42 Partei-Kanzlei der NSDAP an Reichsfinanzministerium, 20.11.1941. BAB, R 2/31093, Bl. 102. Übersendung diverser Vorschläge für Rentenverbesserungen u. a. in der Ostmark, darunter eine vom 17.2.1941 datierende, ausführliche und sachkundige Denkschrift Uiberreithers. Diese ebenda, Bl. 133–142.

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staatlichen Verwaltung verwickelt; hier fand der Dualismus Verwaltung contra Menschenführung ein reichhaltiges Betätigungsfeld.43 Keineswegs agierten hier eingesessene Steirer gegen „reichsdeutsche“ Invasoren, denn 1941 stammten nur fünf von 16 Landräten aus dem „Altreich“.44 Die Besetzung dieser Posten wurde zentral im Reichsministerium des Innern in Berlin entschieden, doch zeigen die Akten, dass hierbei auf regionale Wünsche nach Maßgabe der Möglichkeiten Bedacht genommen wurde.45

Lebenswege der steirischen NS-Veteranen aus der „Kampfzeit“ Will man die personelle Konstellation innerhalb der steirischen NS-Eliten während der Regimephase von 1938 bis 1945 verstehen, so muss man berücksichtigen, was aus den Veteranen der „Kampfzeit“ nach dem „Anschluss“ wurde und warum ihr Schicksal jenen Lauf nahm, den es nahm. Es konnte ja für die Machtverteilung nicht unerheblich sein, ob 1938 und danach noch jene „alten Kämpfer“ in der Steiermark präsent waren und auf sich aufmerksam machen konnten, die sich um den steirischen Nationalsozialismus in dessen Frühphase, seit etwa 1930, verdient gemacht hatten. Betrachtet man den „Steirischen Heimatschutz“ als eine Vorläuferorganisation der NSDAP,­so hätten 1938 – theoretisch – vor allem vier Männer auf ihre Verdienste pochen können: Dr. Walter Pfrimer, August Meyszner, Konstantin Kammerhofer und Hanns Albin Rauter, die alle mehr oder minder direkt an dem gescheiterten Pfrimer-Putsch von 1931 beteiligt gewesen waren.46 Die 2004 vorgelegte Diplomarbeit von Christian Zechner bezeichnet Pfrimer und die von ihm geführte Bewegung treffend als „Wegbereiter des Nationalsozialismus in der Steiermark“.47 Meriten genug für eine steile Karriere ab 1938, möchte man mei43 Vgl. Dieter Rebentisch/Karl Teppe (Hrsg.), Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, Göttingen 1986. 44 Vgl. die Tabelle bei Karner, Steiermark (wie Anm. 21) 104. 45 Akten betreffend die Neubesetzung von acht der 16 steirischen Landratsstellen (1941–1943) im BAB, R 1501/8045–8052. Übersichten über die Beamten und Angestellten des höheren Dienstes beim Reichsstatthalter Steiermark (Stand 1940) in BAB, R 1501/5536; zu Stellenveränderungen zwischen 1941 und 1943: BAB, R 1501/7787. Eine Kreis- und Ortsgruppeneinteilung des Steirischen Heimatbundes, des Äquivalents der NSDAP in der Untersteiermark, mit Postenbesetzungen bis auf Ortsgruppenebene (Stand: 1941) in: StLA, ZGS, Karton 271. Vgl. zu den Postenbesetzungen allgemein Michael Rademacher, Handbuch der NSDAP-Gaue 1928 bis 1945, Vechta 2000. 46 Hierzu Josef Hofmann, Der Pfrimer-Putsch. Der steirische Heimwehrprozeß des Jahres 1931, Wien 1965. 47 Christian Zechner, Walter Pfrimer. Ein deutschnationaler Heimatschutzführer als Wegbereiter für den Nationalsozialismus in der Steiermark, phil. Dipl.-Arb. Graz 2004. Vgl. auch Bruce F. Pauley,

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nen. Zumindest von Rauter – ab 1940 HSSPF in den Niederlanden – wissen wir, dass er seine Verdienste um das nationale Lager bis zu seinem Prozess nach dem Krieg in geradezu grotesker Weise aufblähte, wenn nicht überhaupt erst erfand – vom „Kärntner Abwehrkampf“ 1918/19 angefangen.48 Dennoch glänzten diese Männer 1938 und danach durch Abwesenheit. Pfrimer, 1881 geboren, war 1938 mit 57 Jahren wohl schon zu alt, um noch eine Führungsposition zu übernehmen, die übrigen seiner einstigen Mitkämpfer waren mit Ausnahme Meyszners deutlich jünger. Wenn sie 1938 und danach in der Steiermark nicht zum Zug kamen, so hat dies vorrangig mit der innenpolitischen Entwicklung der 1930er-Jahre zu tun, als der Ständestaat viele dieser extremen Nationalisten ins Exil trieb, insbesondere nach dem gescheiterten NS-Juliputsch von 1934.49 Diese erzwungene oder freiwillige jahrelange Abwesenheit von der Heimat kann man in ihren Auswirkungen auf die Ämterverteilung 1938 kaum hoch genug veranschlagen, wenngleich hier noch großer Forschungsbedarf besteht. Dank der gründlichen Studien Kurt Bauers und Hans Schafraneks wissen wir inzwischen eine Menge über die steirischen Aktivisten des Juliputsches, wenig ist jedoch darüber bekannt, was aus ihnen 1938 und in den folgenden Jahren wurde. Nach dem „Anschluss“ bemühte sich das NS-Regime intensiv um eine Wiedergutmachung jener vielfältigen persönlichen und beruflichen Nachteile, welche die Putschisten ebenso wie viele der frühen NSDAP-Aktivisten seitens des österreichischen Ständestaates erlitten hatten. Die Akten der mit dieser Aufgabe betrauten „NS-Betreuungsstelle für die alten Kampfgenossen im Bereich des Gaues Steiermark“ legen den Schluss nahe, dass die Wiedereingliederung der nach dem Juliputsch ins Deutsche Reich Geflüchteten, sofern sie 1938 überhaupt in die Steiermark zurückgekehrt waren, die größten Schwierigkeiten bereitete: Im Hahnenschwanz und Hakenkreuz. Der Steirische Heimatschutz und der österreichische Nationalsozialismus 1918–1934, Wien u. a. 1972. 48 Vgl. Gerhard Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940–1945, Stuttgart 1984; Ruth Bettina Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986, 206–216; N. K. C. A in’t Veld (Hrsg.), De SS en Nederland: Documenten uit SS-archieven 1935–1945, ’s-Gravenhage 1976; Tuviah Friedman (Hrsg.), SS-Obergruppenführer Hanns Rauter, Höherer SS- und Polizeiführer in Holland 1940–45: Verantwortlich für die Deportierung der Juden Hollands in die KZ und Vernichtungslager. Eine dokumentarische Sammlung von SS-Dokumenten, Haifa 1995. Theo Gerritse arbeitet in den Niederlanden an einer Gesamtbiographie Rauters, die auch dessen Leben vor seiner Versetzung nach Holland im Frühjahr 1940 umfassen wird. Ich danke Herrn Gerritse für vielfältige Hinweise und Anregungen. 49 Grundlegend hierzu Kurt Bauer, Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, Wien 2003; Gerald Wolf, „Jetzt sind wir die Herren …“ Die NSDAP im Bezirk Deutschlandsberg und der Juli-Putsch 1934, Innsbruck 2008; Hans Schafranek, Sommerfest mit Preisschießen. Die unbekannte Geschichte des NS-Putsches im Juli 1934, Wien 2006. Immer noch klassisch Gerhard Jagschitz, Der Putsch. Die Nationalsozialisten in Österreich 1934, Graz 1976.

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Frühling 1940, also zwei Jahre nach dem „Anschluss“, waren unter insgesamt 103 anhängigen Vermittlungsfällen nicht weniger als 93 Angehörige der ehemaligen „Österreichischen Legion“, des Auffangbeckens der geflüchteten Nationalsozialisten in Deutschland.50 Insgesamt gelang nach dem „Anschluss“ nur wenigen die Rückkehr auf einen der nun in der sogenannten Ostmark zu vergebenden einflussreichen Posten – zum einen, weil der Kontakt zu den Kameraden daheim abgerissen war und die Daheimgebliebenen beim Rennen um lukrative Posten die besseren Startbedingungen hatten, zum anderen und wichtiger, weil manche Exilanten nach ihrem Weggang aus Österreich erfolgreich eine Karriere im „Altreich“ begonnen hatten, die sie 1938 nicht einfach abbrechen konnten oder wollten. Rauter, Kammerhofer und Meyszner – alle drei hatten Österreich zwischen 1933 und 1935 verlassen – traten in die SS ein, die ihnen in jeder Hinsicht eine emotionale ebenso wie eine materielle Heimat bot, was die Flüchtlinge freilich in eine noch größere Abhängigkeit von der SS brachte, als dies bei deren „reichsdeutschen“ Angehörigen der Fall war.51 Diese drei sind es auch, die man wohl als die bekanntesten Vertreter der steirischen NS-Elite außerhalb der Steiermark wird nennen müssen.

NS-Karrieren von Steirern ausserhalb der Steiermark, 1938–1945 Hanns Albin Rauter, vor dem „Anschluss“ Stabsführer des SS-Oberabschnitts Südost mit Sitz im schlesischen Breslau, amtierte von Mai 1940 bis Kriegsende an der Seite seines österreichischen Landsmanns Arthur Seyß-Inquart, des „Reichskommissars für die besetzten niederländischen Gebiete“, als HSSPF in Holland, wo er sich erneut als willfähriges Werkzeug des Reichsführers-SS Heinrich Himmler erwies. Wegen seiner führenden Rolle bei der brutalen Bekämpfung der niederländischen Widerstandsbewegung und bei der Deportation der dortigen Juden wurde er nach dem Krieg zum Tode verurteilt und 1949 hingerichtet.52

50 NS-Betreuungsstelle für die alten Kampfgenossen im Bereich des Gaues Steiermark an Gaukämmerer Dr. Pagl, 3.4.1940 (Monatsbericht der Vermittlungsstelle für die Zeit vom 30.1. bis 30.3.1940). StLA, ZGS, Gaukämmerei, Karton 300, AZ: W 2. Zum Hintergrund vgl. jetzt Hans Schafranek, Söldner für den „Anschluss“. Die Österreichische Legion 1933–1938, Wien 2011. 51 Vgl. hierzu und zum Folgenden die Kurzbiographien bei Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer (wie Anm. 48) 338–343. Nur mit Vorbehalten brauchbar ist Nikolaus von Preradovich, Österreichs höhere SS-Führer, Berg am See 1987. 52 Die Akten des Gerichtsverfahrens gegen Rauter liegen gedruckt vor. Het proces Rauter, ’s-Gravenhage 1952. Vgl. auch die biographische Skizze von Ruth Bettina Birn, Hanns Rauter. Höherer SS- und Polizeiführer in den Niederlanden, in: Ronald Smelser/Enrico Syring (Hrsg.), Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, Paderborn u. a. 2000, 408–417.

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August (bis 1919: Edler von) Meyszner, Anfang der 1930er-Jahre sogar Abgeordneter zum steiermärkischen Landtag und Landesrat in der Steiermärkischen Landesregierung, wurde 1938 Inspekteur der Ordnungspolizei in Wien und wirkte danach als Befehlshaber der Ordnungspolizei im besetzten Norwegen53 und dann ab Anfang 1942 als HSSPF in Serbien. Er wurde wie Rauter wegen gleichartiger Verbrechen 1947 in Jugoslawien zum Tode verurteilt und hingerichtet.54 In seinem Fall hatte sein gnadenloser Kampf gegen die jugoslawischen Tito-Partisanen den Ausschlag gegeben, denn die Ermordung der serbischen Juden war zum Zeitpunkt von Meyszners Eintreffen in Belgrad bereits weitgehend abgeschlossen. Konstantin Kammerhofer, der jüngste des Trios (1899 im obersteirischen Turnau geboren), wirkte nach seiner Flucht ins „Altreich“ 1933 als SS-Führer in Essen, Bochum und später in Wien, wo er von 1938 bis 1941 den dortigen SS-Abschnitt leitete. Danach diente er in der Waffen-SS (Division „Wiking“) und engagierte sich von 1941 bis 1942 beim Aufbau der SS in Flandern. Auch er bekleidete ab 1943 de facto die Funktion eines HSSPF in Kroatien, die dort allerdings wegen der besonderen Stellung des scheinsouveränen Ustascha-Staates nicht so bezeichnet wurde, sondern als Beauftragter des Reichsführers-SS.55 Ihm gelang nach dem Krieg die Flucht aus einem Grazer Gefängnis, und er starb schließlich 1958 in Bayern unter nicht restlos geklärten Umständen. Die Parallelen zwischen den drei Genannten stechen geradezu ins Auge: Alle hatten ihre politische Karriere im engsten Umfeld Pfrimers im „Steirischen Heimatschutz“ begonnen, wo sie einflussreiche Positionen bekleideten, alle verschlug es Mitte der 1930er-Jahre ins Deutsche Reich, wo sie zuerst im Hilfswerk für österreichische Nazis tätig waren, bevor die SS ihnen – abgesehen von Meyszner, der bereits im demokratischen Österreich beruflich und 53 Das Standardwerk hierzu stammt von Robert Bohn, Reichskommissariat Norwegen. „Nationalsozialistische Neuordnung“ und Kriegswirtschaft, München 2000, wo Meyszner allerdings nicht erwähnt wird. 54 Wenig über Meyszner enthält Walther Manoschek, „Serbien ist judenfrei“. Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in Serbien 1941/42, München 21995. Vgl. Christopher R. Browning, The Final Solution in Serbia: The Semlin Judenlager – a Case Study, in: Yad Vashem Studies XV (1983), 55–90; Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer (wie Anm. 48) 238–249. Ein Protokoll einer Vernehmung Meyszners in Jugoslawien vom 4.9.1946 im BAB, All. Proz. 6, Dokument 1435. Vgl. zu Meyszners Biographie demnächst Martin Moll, Vom österreichischen Gendarmerie-Offizier zum Höheren SS- und Polizeiführer Serbien, 1942–44. August Meyszner: Stationen einer Karriere, in: Danubiana Carpathica 5 (2011). 55 Einige Angaben zu Kammerhofer finden sich bei Ladislaus Hory/Martin Broszat, Der kroatische Ustascha-Staat 1941–1945, Stuttgart 1964. Ausführlich Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer (wie Anm. 48) 260–274. Vgl. zu den genannten HSSPF die teilweise recht ausführlichen Einträge bei An­dreas Schulz/Dieter Zinke, Die Generale der Waffen-SS und der Polizei. Die militärischen Werdegänge der Generale, sowie der Ärzte, Veterinäre, Intendanten, Richter und Ministerialbeamten im Generalsrang. 4 Bände, Bissendorf 2003–2008.

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politisch erfolgreich gewesen war – den ersten wirklichen Karrieresprung ermöglichte. Der Eintritt in das Hilfswerk als hauptamtlicher – und damit voll besoldeter – Funktionär und die spätere Karriere in der SS, die sich zwanglos daraus ergab, rangierten ganz oben unter den wenigen beruflichen Chancen, die den österreichischen Exilanten offenstanden. Den Gipfel ihrer Laufbahnen erreichten Kammerhofer, Meyszner und Rauter in den während des Krieges besetzten Gebieten, zwei von ihnen in unmittelbarer geographischer Nachbarschaft, in Serbien und Kroatien, in identischen Funktionen als HSSPF. Der Schluss liegt nahe, dass sich im Schwarzen Orden der SS am leichtesten und schnellsten im gesamten deutschen Machtbereich Karriere machen ließ, ungeachtet der regionalen Herkunft, ungeachtet der anzunehmenden Fremdheit eines Österreichers im „Altreich“ und ungeachtet der bei Kammerhofer und Rauter völlig fehlenden Vorbildung für eine leitende Position.

NS-Karrieren in der Steiermark und ausserhalb Vergleicht man die drei SS-Karrieristen mit der steirischen Führungstroika Uiberreither, Portschy und Dadieu, so fällt vor allem der Altersunterschied ins Auge. Waren die SS-Offiziere zwischen 1886 und 1899 geboren und vermochten sie folglich auf zum Teil beachtliche Verdienste während des Ersten Weltkrieges zu verweisen (Kammerhofer hatte sich 1915 als gerade 16-Jähriger freiwillig zu den Waffen gemeldet), so hatten die führenden Steirer erst zwischen 1901 (Dadieu) und 1908 (Uiberreither) das Licht der Welt erblickt. Zu jung, um aktiv am Weltkrieg teilzunehmen, aber von dessen Verlauf und Folgen während ihrer Adoleszenz in vielerlei Hinsicht tief geprägt, gehörten sie zu jener von Ulrich Herbert an einem prominenten Beispiel herausgearbeiteten und beschriebenen Kriegsjugendgeneration mit den für diese Gruppe typischen Geburtsjahrgängen zwischen 1900 und 1910.56 Die Angehörigen dieser Generation zeichnete aus, dass sie das vermeintliche Defizit ihrer zu späten Geburt mit Blick auf die Kriegsteilnahme 1914–1918 durch Aktivismus, Gewaltbereitschaft und einen sich auf vermeintliche Vernunftgründe stützenden Radikalismus zu kompensieren trachteten. Was Michael Wildt für das meist akademisch gebildete, dieser Alterskohorte angehörende Führungspersonal des Reichssicherheitshauptamtes konstatiert hat, kann man ohne wesentliche Abstriche auf Dadieu, Portschy und Uiberreither übertragen: Sie verkörperten in der Tat, bei einigen zweitrangigen Unterschieden im Detail, die „Generation des Unbedingten“.57

56 Vgl. die inzwischen klassische Arbeit von Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903–1989, Bonn 1996. 57 Wildt, Generation des Unbedingten (wie Anm. 34).

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Die teilweise erheblich älteren SS-Generäle verfügten über ein, formal gesehen, niedrigeres Bildungsniveau (Kammerhofer hatte eine kaufmännische Lehre absolviert und arbeitete danach u. a. als Weinhändler, Rauter hatte ein technisches Studium abgebrochen), während die im Gau Steiermark führende Troika jeweils einen Doktortitel erworben hatte, Dadieu war sogar außerordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Graz. Bei aller aus der Kleinheit beider Gruppen resultierenden Vorsicht wird man doch sagen können, dass in der Grünen Mark jugendlicher Aktivismus mit Ämtern belohnt wurde. Diese Jugendlichkeit lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass diese NS-Eliten – hier verstanden als die Elite innerhalb der Elite – für eine Elitenkontinuität stehen, dass sie Exponenten einer ursprünglich deutschnationalen, später nationalsozialistischen Schicht waren, die das Hinübergleiten älterer Führungsgruppen in den Nationalsozialismus verkörperten. Dies trifft wohl zu auf Rauter, Meyszner und Kammerhofer, die ihre politische Karriere im „Steirischen Heimatschutz“ begonnen hatten und dort auch mehrere Jahre hindurch in hohen Positionen aktiv gewesen waren. Uiberreither und Portschy stehen hingegen eher für einen Bruch, jeder von ihnen war 1938 ein Homo novus, ein Emporkömmling, wenn auch keineswegs ein Konjunkturritter. Anders als im gut untersuchten Fall des Linzer Oberbürgermeisters Langoth (an Lebensjahren deutlich älter) wurden hier nicht klassische Exponenten des traditionellen deutschnationalen Milieus der Steiermark braun eingefärbt; vielmehr kamen in der Steiermark 1938 Männer ans Ruder, die seit Beginn ihrer politischen Tätigkeit immer nur Nazis gewesen waren, jedenfalls keinen politischen Weg mit Stationen außerhalb der NSDAP hinter sich hatten. Bei ihrer Jugend wäre schlichtweg kaum Zeit für eine solche Entwicklung gewesen. Gauleiter-Stellvertreter Portschy steht paradigmatisch für diesen Typ, war er doch schon 1928, im Alter von 23 Jahren, bei einem Studienaufenthalt in Deutschland mit der NSDAP in Kontakt gekommen, woraufhin er im Jahr darauf, wieder in Österreich, der Wiener SA beitrat. Jene, bei denen wie bei Kammerhofer, Rauter und Meyszner ein Weg vom Deutschnationalismus zum Nationalsozialismus tatsächlich feststellbar ist, machten außerhalb der Steiermark Karriere. Mit Blick auf Uiberreither, Portschy und Dadieu relativieren sich gängige Urteile, wonach die NS-Bewegung auf älteren ideologischen Fundamenten aufbaute. Personell tat sie dies in der Steiermark offenbar nicht bzw. lediglich vor 1938, und dies muss für eine Betrachtung der Eliten wohl die entscheidende Größe sein. Auch darf man, nebenbei bemerkt, skeptisch sein, inwieweit die Expertise der durch den habsburgischen Vielvölkerstaat geprägten Österreicher im „Dritten Reich“ bzw. bei dessen Besatzungspolitik gefragt war. Die Forschung betont gerne den Einsatz derartiger Experten auf ehemals habsburgischem Territorium auf dem Balkan.58 Meyszner und Kammerhofer als 58 Vgl. Ruth Bettina Birn, Austrian Higher SS and Police Leaders and their Participation in the Holocaust in the Balkans, in: Holocaust and Genocide Studies 6 (1991), 351–372. So meint Birn: „Many Austrians appeared later in key positions in the Balkan countries. The main reason for this is that, as a

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HSSPF in Serbien und Kroatien entsprechen diesem Bild, Rauter als HSSPF in Holland ebenso wenig wie der dortige Reichskommissar Seyß-Inquart. Meyszner hatte vor seinem Balkan-Einsatz als Befehlshaber der Ordnungspolizei im „germanischen“ Norwegen gewirkt, Kammerhofer 1941/42 im „germanischen“ flämischen Teil des okkupierten Belgien. Auffällig ist, dass nach der De-facto-Annexion der Untersteiermark im April 1941 die dort geborenen und sozialisierten steirischen Nazis wie Dadieu und Kulturlandesrat Papesch gerade nicht in das „wieder einzudeutschende“ Land entsandt wurden.

Charakteristika der NS-Eliten in der Steiermark Abschließend sei noch auf einen Aspekt eingegangen, der an die eingangs erörterte Problematik der Definition anknüpft: Was macht eine steirische NS-Elite oder eine NS-Elite in der Steiermark aus? Bei den Überlegungen, die ich hierzu am Beginn angestellt habe, ist ein Aspekt ausgeklammert geblieben: Die Frage, als was sich diese Leute eigentlich fühlten. Wie nahmen sie sich wahr, als was verstand sich etwa der Gauleiter und Reichsstatthalter der Steiermark, der gebürtige Salzburger Siegfried Uiberreither? Fühlte er als Steirer? Selbstzeugnisse hierzu sind mehr als rar, einmal abgesehen von der Quellenproblematik, kann es doch nicht angehen, öffentliche Äußerungen, man fühle sich als Steirer, ungeprüft für bare Münze zu nehmen. Wenn ich diese Frage aufgreife, so nicht allein deswegen, um die Selbsteinschätzung der Protagonisten zu beleuchten. Wer so fragt, dem erschließen sich nämlich interessante Einsichten in eine die Forschung seit Langem bewegende Kontroverse darüber, inwieweit es im großdeutschen „Führer-Einheitsstaat“, in der viel beschworenen „Volksgemeinschaft aller Deutschen“, regionale Spezifika gab und inwieweit in diesem von der NS-Ideologie bestimmten Rahmen regionale Traditionen überleben konnten – sofern sie nicht, horribile dictu, von den braunen Machthabern sogar gefördert wurden. Seit den 1990er-Jahren tendiert die Forschung – nach vorherigen gegenläufigen Tendenzen – dazu, nicht bloß ein Überwintern lokaler Besonderheiten in den kurzen 12 Jahren des „Tausendjährigen Reiches“ anzunehmen, sondern mehr noch deren gezielte Förderung teils durch die Reichsbehörden, teils und stärker durch die Regional- und Lokalgewalten zu posresult of the Hapsburg imperial tradition, they were familiar with the region. Austrians were also overrepresented among Wehrmacht personnel in the Balkans.“ Ebenda, 353. Vgl. ferner Bertrand Perz, Der österreichische Anteil an den NS-Verbrechen. Anmerkungen zur Debatte, in: Helmut Kramer/Karin Liebhart/Friedrich Stadler (Hrsg.), Österreichische Nation – Kultur – Exil und Widerstand. In memoriam Felix Kreissler, Münster 2006, 223–234; Erika Weinzierl, Nationalsozialistische Besatzungs­ politik in Europa: Einige Bemerkungen zur Rolle von Österreichern, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 44 (1996), 593–607.

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tulieren.59 Es hat sich bei näherem Hinsehen gezeigt, dass den braunen Machthabern die erwünschte Einheit des deutschen Volkes durchaus mit der Vielgestaltigkeit der deutschen Stämme kompatibel zu sein schien. Man muss nicht nach Bayern blicken und man muss nicht auf die ungebrochene Beliebtheit von Krachlederner und Oktoberfest im „Dritten Reich“ verweisen, um diese These plausibel zu finden. Im österreichischen Fall tritt als Besonderheit der Fragestellung hinzu, dass gern die Zerstörung österreichischer Traditionen durch die neuen Machthaber ab 1938 betont, gleichzeitig aber auch hinzugefügt wird, in den Bundesländern habe man weniger die preußische Dominanz als drückend empfunden als vielmehr den Wegfall der ungeliebten und jahrhundertelangen Vorherrschaft Wiens freudig begrüßt. Kurzum, es scheint mir Sinn zu machen, nach dem diesbezüglichen Agieren der steirischen bzw. der in der Steiermark wirkenden NS-Eliten zu fragen. Diese Eliten, die so jung und daher scheinbar unbelastet von Traditionen waren, stellten sich durchaus in den Kontext des hergebrachten „Steirischen“. Ich will nicht behaupten, dass Uiberreither sich als Reinkarnation des habsburgischen Erzherzogs Johann (1782–1859), bis heute als der „steirische Prinz“ apostrophiert, verstand (wenngleich der Gauleiter stets für die steirischen kulturellen Belange vehement eintrat60), aber die Allgegenwart steirischer Symbole im Reichsgau sticht doch ins Auge. Hakenkreuz und steirischer Panther, also die Symbole Großdeutschlands und der Region, fanden harmonisch nebeneinander Platz, das eine verdrängte nicht das andere.61 Dass dadurch die Integration, um nicht zu sagen die Vereinnahmung vor-nationalsozialistischer Eliten wie etwa der Künstler erleichtert wurde, liegt auf der Hand. Diese spezifische Politik der Gauleitung fand auf zweierlei Weise sichtbaren Ausdruck: Zum einen in dem – wegen der Kürze der verfügbaren Zeit nur begrenzt erfolgreichen – Versuch, den Gau aus der Masse der übrigen hervorzuheben, wie dies mit der Titelverleihung 59 Ausgesprochen instruktiv hierzu Volker Dahm, Nationale Einheit und partikulare Vielfalt. Zur Frage der kulturpolitischen Gleichschaltung im Dritten Reich, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 43 (1995), 221–265. Dahms Thesen finden Bestätigung bei Martina Steber, Fragiles Gleichgewicht. Die Kulturarbeit der Gaue zwischen Regionalismus und Zentralismus, in: John u. a. (Hrsg.), NS-Gaue (wie Anm. 7) 141–158. 60 Beispielsweise Uiberreither an Goebbels (Abschrift), 28.7.1941. BAB, NS 18/303. Uiberreither beklagte sich in dem – über Bormann auch an Hitler übermittelten – Schreiben über den Abzug talentierter Künstler von kleineren Bühnen, wie etwa jenen in Graz, an die großen, vor allem jene im „Altreich“. 61 Symptomatisch ist die Einladung zum „Ersten steirischen Gautag der NSDAP im Großdeutschen Reich“ vom Juni 1939, die der steirische Panther ziert (und nicht das Hakenkreuz). BAB, NS 10/73, Bl. 171. Eine weitere Einladung zur Eröffnung der Ausstellung „Der Freiheitskampf der Steiermark“, ebenfalls im Rahmen des Gautages, im StLA, ZGS, Karton 190. Hier krönt das Hoheitszeichen der NSDAP (Adler und Hakenkreuz) einen steirischen Panther.

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„Stadt der Volkserhebung“ für Graz – gegen mancherlei Widerstände – gelang und bei den Anläufen, Reichsinstitutionen wie eine Musikhochschule in die Steiermark zu holen oder einen Reichssender bei Graz zu errichten, zumindest versucht wurde.62 Hierbei handelt es sich, in moderner Terminologie, um klassische Standortpolitik. Zum anderen war die steirische NS-Elite bestrebt, sich und ihren Gau in Berlin zu empfehlen, was ihr durchaus gelang, war doch Uiberreither – wenigstens gerüchteweise – Anfang 1944 für nichts Geringeres im Gespräch als für die Nachfolge des ungeliebten und schwachen Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung.63 Schon zuvor, im März 1943, wurde er als möglicher Nachfolger des verstorbenen Reichssportführers gehandelt.64 Über derlei aus vielerlei Gründen nicht spruchreif gewordene persönliche Karrieresprünge hinaus galt es, den gesamten Gau als elitär, als „Mustergau des Führers“ einzurichten und entsprechend zu präsentieren. Intendiert wurde nichts weniger als, bildlich gesprochen, die Übererfüllung des Plansolls im Sinne des sowjetischen „Helden der Arbeit“ Stachanow, zu erbringen durch den Nachweis, dass die Steiermark in jeder Hinsicht bei der Verwirklichung der politischen Ziele des NS-Regimes nicht nur ein verlässliches Glied des Ganzen, sondern geradezu ein Musterschüler sei. Was dies für die vom Regime zu seinen Gegnern erklärten Personengruppen bedeutete, ist in diesem Band zur Genüge nachzulesen, ich möchte dies daher ausblenden und hier nur auf den Kriegseinsatz eingehen. Über die – auch im Reichsmaßstab – bedeutsame und gegen Kriegsende immer wichtiger werdende Position der Steiermark, ein traditionelles Zentrum der österreichischen Schwerindustrie, als Rüstungsschmiede des Reiches ist bei Karner etliches nachzulesen.65 Im Herbst 1944 konnte sich Uiberreither dann angesichts näher rückender 62 Die Titelverleihung für Graz ist dokumentiert in einem Akt der Reichskanzlei. BAB, R 43 II/574 a. Zu den Plänen für eine Hochschule für Musikerziehung in Graz und dem Drängen des Gaus hierauf siehe den Schriftverkehr (1939/40) im StLA, ZGS, Karton 184, sowie Mikoletzky, Dienststelle (wie Anm. 20) 284. Zu den Projekten für einen Reichssender Graz vgl. den Akt im BAB, R 78/760. Vgl. auch Karl Albrecht Kubinzky, Die Grazer Stadtplanung während der Herrschaft des Nationalsozialismus, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 335–352; ders., Die Stadtplanung für die Gauhauptstadt Graz, in: Stefan Karner (Hrsg.), Graz in der NS-Zeit, Graz 1998, 245–256. 63 Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung [Bernhard Rust] an den Reichsminister und Chef der Reichskanzlei [Hans-Heinrich Lammers], 9.3.1944. BAB, R 43 II/1153 a, ohne Paginierung. Rust erwähnt in dem Schreiben die auf einer Gauleiter-Tagung am 24.2.1944 kursierenden Gerüchte über seine Ablösung und die kolportierten Nachfolger, unter ihnen Uiberreither. Zum Hintergrund vgl. Martin Moll, Steuerungsinstrument im „Ämterchaos“? Die Tagungen der Reichsund Gauleiter der NSDAP, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2001), 215–273. 64 (Fernschreiben) Himmler an Bormann, 26.3.1943. BAB, NS 19/220. Uiberreither rangierte auf Himmlers Vorschlagsliste an vierter Stelle, doch fügte der Reichsführer-SS hinzu, die von ihm benannten Gauleiter (neben Uiberreither auch der Kärntner Gauleiter Dr. Friedrich Rainer) seien in ihren Gauen nahezu unersetzlich. 65 Karner, Steiermark (wie Anm. 21) Kapitel 7.

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Fronten beim Bau des sogenannten Südostwalls ostwärts der steirischen Grenze bewähren, wofür ihm mittels Führer-Erlass weitreichende Kompetenzen übertragen wurden.66 Anders als so mancher Gauleiter, der diesen in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 entlang der Reichsgrenzen notwendig gewordenen Stellungsbau eher lax betrieb, die militärische Lage schönredete und sich selbst gleichwohl bei der ersten Feindannäherung in Sicherheit brachte, nahm Uiberreither diese ihm zugefallene Aufgabe ebenso ernst wie alle übrigen. Es ist bezeichnend, dass Uiberreither nur vier Tage nach Ausfertigung des erwähnten Führerbefehls meldete, der Großeinsatz könne in seinem Gau bereits am folgenden Tag, dem 17. September 1944, beginnen – bevor noch die Erkundungs- und Baustäbe aus dem „Altreich“ eingetroffen waren, an deren Absenz der frühzeitige Beginn der Arbeiten denn auch scheiterte. Ungeduldig und rastlos, legte der Gauleiter wenige Tage später präzise Vorschläge für einen weiter von den steirischen Grenzen entfernten Verlauf der projektierten, im Detail erst noch zu erkundenden Stellung vor, die jedoch aus militärischen Gründen von der Wehrmachtsführung abgelehnt wurden.67 Liest man Uiberreithers Korrespondenz mit den Reichsinstanzen aus dem letzten Kriegsjahr, so ist man verblüfft, festzustellen, dass er – im Gegensatz zu vielen, wenn nicht allen seiner Gauleiterkollegen – keinesfalls versuchte, die steirischen Ressourcen zu schonen und wie auch immer begründete Ausnahmen von den kriegsbedingt notwendigen Einschränkungs- und Schließungsmaßnahmen herauszuverhandeln; ihm konnte es gar nicht radikal und total genug zugehen, so dass er ständig in Berlin mit eigenen Vorschlägen zur Totalisierung der Kriegsführung, zur Auskämmung von Betrieben und Behörden in seinem Gau (und nicht anderswo!) vorstellig wurde.68 Der Gauleiter, der sich schon in den Jahren zuvor im Umgang mit ihm unsympathischen Reichsinstanzen wenig verbale Zurückhaltung auferlegt hatte,69 ging im Sommer 1944 so weit, zu äußern, dass gegenüber den steirischen Filialen der 66 Befehl des Führers über Ausbau im Südosten, 12.9.1944. Abgedruckt bei Martin Moll (Hrsg.), „Führer-Erlasse“ 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung, Stuttgart 1997, 452–453. Zum Bau des Südostwalls Karner, Steiermark (wie Anm. 21) 398–401, sowie Leopold Banny, Schild im Osten. Der Südostwall zwischen Donau und Untersteiermark 1944/45, Eisenstadt 1985. 67 Percy E. Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab). Band IV: 1. Januar 1944–22. Mai 1945, Herrsching 1982, 595–596. 68 Akten hierzu etwa im StLA, ZGS, Karton 15. Vgl. schon die Erwähnung auf der Stabsbesprechung vom 15.2.1943, wonach Uiberreither „weitgehende Vorschläge zur Vereinfachung des Personal- und Haushaltswesens an die maßgebenden Zentralstellen“ gerichtet hatte; sämtliche Amtsleiter hatten jeden entbehrlichen Mann der Wehrmacht zur Verfügung zu stellen. Abdruck bei Karner, Stabsbesprechungen (wie Anm. 26) 139–143, Zitat 140. 69 Im Juni 1941 ließ Uiberreither die Partei-Kanzlei der NSDAP wissen, er lasse an ihn adressierte Schreiben des Reichsministers für die kirchlichen Angelegenheiten (dessen Zuständigkeit sich nach einem

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Reichsstellen (genannt wurden insbesondere die Justizbehörden sowie das Verkehrs- und das Forstressort, mithin Behörden, auf welche der Gauleitung keinerlei Einflussnahme zukam) „einmal kräftig auf den Tisch geschlagen werden müsste“.70 Selbst die Wehrmacht, das klassisches Arkanum des Gesamtstaates, blieb von diesem steirischen Aktivismus nicht verschont.71 Zugegeben, Uiberreithers Vorschläge zielten auch auf eine Ausweitung seiner eigenen, erst Ende 1942 erlangten Kompetenzen als Reichsverteidigungskommissar ab,72 sie erschöpfen sich aber nicht darin, noch sind sie allein dadurch oder durch den Wunsch motiviert, das näher kommende Ende seiner Herrschaft hinauszuschieben. Aus den steirischen Initiativen spricht eindeutig das Bestreben, all das, was das Regime verbal verkündete, auch wirklich in die Tat umzusetzen, koste es, was es wolle. Die eigene Person wurde dabei nicht ausgenommen: Korruptionsskandale unter Spitzenfunktionären, wie sie in anderen Gauen des Reiches an der Tagesordnung waren, fehlten in der Steiermark oder sie wurden hier wenigstens nicht publik.73 Gegenüber seinen Mitarbeitern achtete Uiberreither mit eiserner Faust auf das, was das NS-Regime unter Sauberkeit verstand: Als Anfang 1942 Unregelmäßigkeiten im Bereich des in der Untersteiermark tätigen Stabes aufflogen, gab dessen Chef bekannt: „Für eine Reihe von Beteiligten wird dies ein gründliches Erwachen geben. Der Chef der Zivilverwaltung [Uiberreither, MM] ist gewillt, solche Vergehen auf das Härteste zu bestrafen. Man muß bedenken, daß die Bevölkerung auf die Einsatzleute sieht. Der Gauleiter und Reichsstatthalter hat zum Ausdrucke gebracht, er sei nicht der Ansicht, daß man das Prestige dadurch wahrt, daß solche Dinge gedeckt werden, sondern dadurch, daß man solche Vorkommnisse rücksichtslos aufgreift.“74

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angeblichen oder wirklichen „Führerentscheid“ auf das „Altreich“ beschränken solle, da die Reichsgaue der Ostmark nach dem Untergang des österreichischen Staates ein konkordatsfreier Raum seien) schlicht und einfach unbeantwortet. Uiberreither an Bormann, 13.6.1941. StLA, ZGS, Karton 190. (Fernschreiben) Uiberreither an Partei-Kanzlei der NSDAP, 14.8.1944. StLA, ZGS, Karton 40. (Fernschreiben) Uiberreither an Partei-Kanzlei der NSDAP, 15.8.1944. Ebenda. Forderung nach einem Auskunftsrecht des Reichsverteidigungskommissars gegenüber der Wehrmacht, ihren Betrieben und rückwärtigen Diensten innerhalb des Gaus. Zum Zeitpunkt der Einsetzung der Reichsverteidigungskommissare (RVK) mit Kriegsbeginn amtierte je ein RVK pro Wehrkreis; im für Westösterreich einschließlich der Steiermark zuständigen Wehrkreis XVIII war dies der Salzburger Gauleiter Dr. Friedrich Rainer, an dessen Amtssitz sich das Wehrkreiskommando befand. Uiberreither gehörte lediglich dem Verteidigungsausschuss dieses Wehrkreises an, über dessen Wirken wenig bekannt ist. BAB, R 43 II/1306 a, Bl. 78. Im November 1942 wurde dann jeder Gauleiter zum RVK für seinen Gau ernannt. Vgl. hierzu Frank Bajohr, Parvenüs und Profiteure: Korruption in der NS-Zeit, Frankfurt a. M. 2004; Gerd. R. Ueberschär/Winfried Vogel, Dienen und Verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten, Frankfurt a. M. 1999. Protokoll der Stabsbesprechung vom 2.2.1942. Abdruck bei Karner, Stabsbesprechungen (wie Anm. 26) 45–48, Zitat 45.

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Wenig später äußerte Uiberreither über jene Reichsdeutschen, die im Unterland gegen die Bezugsscheinvorschriften verstoßen hatten (ein damals allerorten und massenhaft auftretendes Delikt), sie würden „restlos und rücksichtslos liquidiert“ und seien „für ihr Leben ruiniert“.75 Ohne zu Asketen zu werden, pflegte die steirische Gauführung anscheinend keinen allzu aufwändigen persönlichen Lebensstil, der unter den Bedingungen des Krieges Unwillen bei den einfachen Volksgenossen erregt hätte; diesbezüglich gab es zweifellos einen markanten Kontrast zu dem deklariert weltstädtischen, weltmännischen und folglich luxuriösen Stil, den etwa Baldur von Schirach als Gauleiter von Wien an den Tag legte. Unmittelbar nach der Proklamation des „totalen Kriegseinsatzes“ im Februar 1943 ordnete Uiberreither beispielsweise an, sämtliche Verschönerungsarbeiten an den Amtsräumen seiner Behörden sofort einzustellen, die Handwerker hätten nun Wichtigeres zu tun.76 1939/40 hatten sich der Gauleiter und, zeitlich versetzt, Gauhauptmann Dadieu sowie Gauleiter-Stellvertreter Portschy freiwillig zum Fronteinsatz gemeldet, anstatt sich wie nahezu alle ihre Kollegen unabkömmlich stellen zu lassen; von Uiberreither wissen wir, dass er als Gebirgsjäger diente und 1940 an der deutschen Invasion Norwegens teilnahm; nach Abschluss der Operation wurde er mit dem Dienstgrad eines Leutnants aus der Wehrmacht entlassen.77

Würdigung und Zusammenfassung Aus dem Bewusstsein, einer Elite in einem „Mustergau“ – nach NS-Begriffen, wie sich versteht – vorzustehen, erklärt sich Uiberreithers harsche Kritik an der Laxheit der Zentralstellen und an den seiner Meinung nach völlig unzureichenden, weil zu sehr auf die Schonung des eigenen Bereichs zu Lasten anderer bedachten Maßnahmen der meisten übrigen Gaue. Diese Rücksichtslosigkeit dem eigenen Gau gegenüber ist das Hauptcharakteristikum einer sich 75 Protokoll der Stabsbesprechung vom 9.3.1942. Abdruck ebenda, 52–55, Zitat 53. Ähnliche Auslassungen machte Uiberreither auch in der Besprechung vom 10.8.1942. Ebenda, 92–97. 76 Der RVK in der Steiermark an alle Dienststellen und Behörden des Reichsgaus Steiermark, 19.2.1943. StLA, ZGS, Karton 34. 77 Über den Kriegseinsatz Dadieus ist nur wenig bekannt; er rückte am 15.7.1940, nach der Rückkehr Uiberreithers nach Graz, zur Wehrmacht ein. Gaukämmerer an die Leiter der Abteilungen I-V, 17.7.1940. StLA, Gaukämmerei, Karton 292, AZ: A 1 OZ 56. Laut Dienstaltersliste der SS mit Stand von Ende 1944 (wie Anm. 33) war Dadieu Hauptmann der Luftwaffe und trug das Eiserne Kreuz I. Klasse; Gauleiter-Stellvertreter Portschy war mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse dekoriert. Vgl. Dadieus Aufzeichnungen (wie Anm. 9) 332, wo er von seinem „freiwilligen Kriegseinsatz als Stuka-Flieger in der Zeit von Juni 1940 bis Juli 1941“ spricht. Ausführlich zum langen Kriegseinsatz Portschys: Mindler, Portschy ist Burgenländer (wie Anm. 12) 131–133.

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selbst so verstehenden Elite, deren Herrschaft vermutlich gerade deswegen in der Steiermark bis zum letzten Tag des „Dritten Reiches“ andauerte. Freilich, Uiberreither setzte sich am 8. Mai 1945 – am Tag der deutschen Kapitulation und als die Rote Armee buchstäblich vor den Toren von Graz stand – aus seiner Gauhauptstadt ab, etliche seiner engsten Mitarbeiter taten es ihm gleich oder nahmen sich, wie der Gaukämmerer Dr. Heinrich Pagl, neben Dadieu die Zentralfigur der Gauselbstverwaltung, das Leben. Man mag dies zu Recht als feige Flucht aus der Verantwortung verstehen, im Vergleich mit ihren Kollegen in vergleichbaren Positionen im übrigen „Großdeutschen Reich“ hatten diese Männer gleichwohl bis zur letzten Minute ausgeharrt und die kriegsmüde steirische Bevölkerung mittels Durchhalteappellen zum Weiterkämpfen aufgefordert. Mehr noch: Uiberreither sandte bis in die letzten Apriltage 1945 hinein per Fernschreiber Tag für Tag einen manchmal mehrseitigen militärischen Lagebericht über die Kämpfe im Osten seines Gaus an den Leiter der Partei-Kanzlei, Martin Bormann, und bat diesen, die Meldungen umgehend dem im Bunker unter der Reichskanzlei auf das Ende wartenden Hitler vorzulegen. Immer wieder enthalten die Fernschreiben dringende Appelle Uiberreithers an seinen „Führer“, dieser möge geplante militärische Rückzugsbewegungen unter allen Umständen untersagen.78 Mit einem heute makaber anmutenden Stolz, jedoch der Sache nach korrekt, betonte auch Portschy noch 1982 in einem Interview: „Wir sind erst gewichen, nachdem der Waffenstillstand auch im Osten eingetreten war.“79 Wenn man wie der Verfasser dieses Beitrags davon ausgeht, dass das Verhalten von Eliten in einer Extremsituation, wie sie im Frühjahr 1945 aus der Sicht der Betroffenen zweifellos gegeben war, einiges über deren Charakter und Selbstverständnis aussagt, dann ist erwähnenswert, dass es in der Steiermark angesichts des Herannahens der Roten Armee keinerlei Auflösungserscheinungen und keine panikartige Flucht gab. Die NS-Stellen amtierten auch in Feindnähe weiter und die dort eingesetzten Truppen setzten, unterstützt von der Bevölkerung, den Kampf fort.80 Man kann nicht sagen, dass sich die steirische NS-Elite vorzeitig aus dem Staub machte und die Zivilbevölkerung ihrem Schicksal überließ. Das Argument, diese Männer hätten nichts mehr zu verlieren gehabt, greift zu kurz, weil dies wohl überall im zusammenbrechenden „Großdeutschen Reich“ so war und dennoch die örtlichen NS-Funktionäre ganz unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag legten: von heilloser Flucht mit nachfolgendem Untertauchen bis zum Kampf bis zur letzten Patrone mit anschließendem Selbstmord. Als einen seiner allerletzten Einträge vor Inkrafttreten der deutschen Kapitulation verzeichnet das seit September 1939 geführte Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehr78 Eine Sammlung von Abschriften dieser Fernschreiben im StLA, ZGS, Karton 31. 79 Zitiert nach Mindler, Portschy ist Burgenländer (wie Anm. 12) 140. 80 Hierzu Felix Schneider, Die militärischen Operationen in der Steiermark. März bis Mai 1945, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25 (1994), 17–46.

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macht unter dem 6. Mai 1945 folgende Meldung aus Graz, gerichtet an Großadmiral Karl Dönitz, den Hitler kurz vor seinem Selbstmord am 30. April 1945 testamentarisch zu seinem Nachfolger als Staatsoberhaupt ernannt hatte:81 „Gauleiter Uiberreither bittet in einem Funkspruch den Großadmiral Dönitz, durchzusetzen, daß über die Ostmark nur als Bestandteil des Reiches und nicht als selbständiges Gebilde verhandelt wird.“82 Der Funkspruch aus Graz rief ausweislich der Quelle keinerlei aktenkundig gewordene Reaktion hervor, man wusste im Hauptquartier von Dönitz besser als in der Steiermark, dass es nichts mehr zu verhandeln gab, schon gar nicht über das Schicksal der „Ostmark“ als künftigen Bestandteil des Deutschen Reiches. In der steirischen Gauhauptstadt machten sich die dortigen NS-Eliten jedoch selbst zu diesem Zeitpunkt – eine Woche nach Hitlers Selbstmord – unverändert Sorgen über die Weiterexistenz Großdeutschlands unter Einbeziehung Österreichs. Alles spricht somit dafür, dass die im Reichsgau Steiermark amtierende NS-Elite von einem selbst im Vergleich außergewöhnlichen, ideologisch gespeisten Radikalismus geprägt war und dass dieser Umstand erheblich dazu beitrug, dass das sieben Jahre lang von diesen Männern regierte Land erst im Mai 1945, buchstäblich am letzten Tag der NS-Herrschaft, aus deren Griff befreit wurde.

81 Grundlegend hierzu immer noch Marlis G. Steinert, Die 23 Tage der Regierung Dönitz, Düsseldorf u. a. 1967. Neuerdings auch Dieter Hartwig, Großadmiral Karl Dönitz. Legende und Wirklichkeit, Paderborn u. a. 2010. 82 Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (wie Anm. 67) 1478.

„Die Zigeuner und die Juden sind seit der Gründung des Dritten Reiches untragbar.“ Das Südburgenland im Gau Steiermark und sein Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945

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„Nicht nur die burgenländischen Kroaten, sondern die Burgenländer überhaupt sind eine Belastung für das Großdeutsche Reich“,1 heißt es in einer in der NS-Zeit abgegebenen Stellungnahme des für das Gebiet der „Ostmark“ zuständigen Wehrkreiskommandos XVII.2 Einen der Gründe, warum „die Burgenländer“ als „Belastung“ empfunden wurden, sah man in der dort herrschenden „Mischlage der Nationalitäten“,3 wie es 1939 hieß: „Es ist im Grunde so, daß ein Großteil der Bevölkerung, der deutschen und der nichtdeutschen, in dieser Mischzone sich über seine völkische Zugehörigkeit selbst nicht im klaren ist. Es konnten Fälle nachgewiesen werden, in denen sich drei Brüder zu drei verschiedenen Nationalitäten bekannten; es konnten an Hand von Grabsteininschriften Fälle nachgewiesen werden, in denen die Nationalität generationenweise wechselt. […] Jede nationale, politische Arbeit in diesem Gebiet hat daher die Stärkung des Deutschtums in biologischem, in willensmäßigem und in wirtschaftlichem Sinne vor Augen zu haben.“4

Zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Zitates war es nun aber bereits so, dass „das Burgenland“ als politischer Begriff eigentlich bereits verschwunden war, dennoch aber als geographischer und historischer Begriff weiterhin existierte5 – die Frage der Sprachminderheiten 1

Stellungnahme des Wehrkreiskommandos XVII, ohne Ort, ohne Datum, ohne Quellenverweis. Zitiert in: Margit Nunner, Widerstand und Verfolgung im Bezirk Oberwart 1938–1945, phil. Dipl.-Arb. Graz 1991, 92. 2 Nach dem „Anschluss“ wurden für Österreich die Wehrkreiskommanden XVII (Wien) und XVIII (Salzburg) geschaffen. Die Steiermark war dem Wehrkreiskommando XVIII zugehörig. 3 Ernst Wenisch, Burgenland, in: Volkstum im Süd-Osten (April 1939), 105–108, hier 108. 4 Ebda. 5 Siehe dazu auch Roland Widder, Burgenland 1938–1945: eine Leermeldung?, in: Gerhard Hetzer/ Bodo Uhl (Hrsg.), Festschrift Hermann Rumschöttel zum 65. Geburtstag. 2. Teilband (Archivalische Zeitschrift 88), Wien–Köln–Weimar 2006, 1093–1104; Ursula Mindler, „Ich weiß eigentlich nicht, als was ich mich fühle.“ Zur Frage „burgenländischer“ „Identität(en)“ während der NS-Zeit, in: insich(t) & ansich(t). Das Burgenland von 1921 bis 2011. Tagungsband des Symposions des Burgenländischen

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blieb virulent, lebten dort doch Deutsch-, Kroatisch-, Ungarisch- und (noch) Romanessprachige. Der vorliegende Beitrag widmet sich der Frage der Verortung des Südburgenlandes im Gau (und später Reichsgau) Steiermark.6 Im Folgenden werden die Entstehung des Gaus Burgenland, die Auflösung desselben und seine Aufteilung auf die Gaue Niederdonau und Steiermark sowie die daraus resultierenden personellen und organisatorischen Änderungen kurz skizziert, ehe auf die von den NationalsozialistInnen gesetzten Verfolgungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung und die „Zigeuner“7 näher eingegangen und mit einem Resümee geschlossen wird. Nachdem manche Verfolgungsmaßnahmen der nationalsozialistischen Politik im Südburgenland im Jahr 1938 vor der Eingliederung des Südburgenlandes in den Gau Steiermark gesetzt wurden, wird auch dieser Zeitraum behandelt. Ferner konzentrieren sich die angeführten Beispiele auf den Kreis Oberwart: Erstens, weil dies jener Kreis/Bezirk ist, zu dem die meisten Forschungen in Bezug auf die NS-Zeit durchgeführt wurden;8 zweitens, weil er

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Landesarchivs von 26. bis 27. Mai 2011 (Burgenländische Forschungen [BF] Sonderband), erscheint im Herbst 2011. Siehe auch Gerhard Baumgartner, „Unsere besten Bauern verstehen manchmal unsere Worte schwer!“ Anspruch und Praxis der NS-Bodenpolitik im burgenländischen Bezirk Oberwart, in: ÖZG 2 (1992), 192–207; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934–1945, Wien 2. Aufl. 1983. – Die kroatische Minderheit wird im vorliegenden Aufsatz nicht explizit behandelt, zu diesem Thema siehe auch Anton Fennes/Stefan Schinkovits, Das Brot schmeckt mir wie noch nie im Leben… Die politische Situation der burgenländischen Kroaten von 1934–1945, [o. O.] 2007. Der in diesem Beitrag verwendete Begriff „Zigeuner“ war und ist stigmatisierend und diskriminierend, die Verwendung ethnisierender Bezeichnungen würde jedoch die Heterogenität der als „Zigeuner“ diffamierten Personen verschleiern, und so findet er, da es bislang keinen anderen operablen Begriff gibt, im Folgenden als Bezug auf den Originalterminus aus den Quellen zwar unter Anführungsstrichen Verwendung, ist aber kritisch und stets für beiderlei Geschlecht angewandt zu lesen. Zu Jennersdorf liegen keine Forschungen vor, zu Güssing siehe Susanne Uslu-Pauer/Eva Holpfer, Vor dem Volksgericht. Verfahren gegen burgenländische NS-Täter 1945–1955 (BF 96), Eisenstadt 2008, va. 186–192; Eva Holpfer, „Was ist Jingl, bist a no am Leben, hams dich nicht erschlagen?“ Nationalsozialistische Verbrechen an Juden und Jüdinnen im Burgenland und ihre Ahndung durch die Volksgerichte (1945–1955), in: befreien – besetzen – bestehen. Das Burgenland von 1945–1955 (BF 90), Eisenstadt 2005, 241–264, hier 255–256; Interviews mit vertriebenen Jüdinnen und Juden aus Güssing in: Alfred Lang/Barbara Tobler/Gert Tschögl (Hrsg.), Vertrieben. Erinnerungen burgenländischer Juden und Jüdinnen, Wien 2004; Gerhard Baumgartner, Die jüdische Gemeinde zu Güssing, in: Schlomo Spitzer (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Juden im Burgenland, Ramat-Gan 1994, 89–99. – Für das gesamte Südburgenland: Adolf Lang, NS-Regime, Kriegsende und russische Besatzungszeit im Südburgenland 1938–1955, Oberwart 2011; Peter F. N. Hörz, Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente – volkskundliche Analysen (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie

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als einziger der drei südlichen Bezirke in der NS-Zeit als selbstständiger Kreis erhalten blieb, und drittens, da dieser für das Südburgenland den höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil9 aufwies und dort die Hälfte aller burgenländischen „Zigeuner“ lebte.10

1. Vom Gau Burgenland zum Gau Steiermark Als 1921 „Deutschwestungarn“ als „Burgenland“ zu Österreich kam, spielte die NSDAP in der burgenländischen Politik keine Rolle.11 Erstmals kandidierte sie bei den Landtagswahlen 1930, wo sie nur 0,7 Prozent der Stimmen erreichte. Ab 1930 begann unter der Führung des Juristen Tobias Portschy (1905–1996)12 der sukzessive Aufbau der NSDAP im Südburgenland, das damals in der NSDAP-Hierarchie dem Gau Steiermark unterstand. der Universität Wien 26), Wien 2005; Israelitische Kultusgemeinde für Steiermark, Kärnten und die politischen Bezirke des Burgenlandes Oberwart, Güssing, Jennersdorf (Hrsg.): Geschichte der Juden in Südost-Österreich, Graz 1988. 9 Auch wenn gegenüber dem vorhandenen Zahlenmaterial eine gewisse Vorsicht geboten ist, so können daraus doch Größenverhältnisse abgelesen werden. Die Volkszählung von 1934 weist von den 3.632 im Burgenland ansässigen Juden und Jüdinnen 483 für den Bezirk Oberwart, 115 für den Bezirk Güssing und 31 für den Bezirk Jennersdorf aus. Bundesamt für Statistik (Hrsg.), Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Burgenland (Statistik des Bundesstaates Österreich 11), Wien 1935, 3, 5, 11. 10 Einer 1936 durchgeführten Zählung der Landeshauptmannschaft Burgenland zufolge lebten im Burgenland zum Stichtag 7.871 „Zigeuner“, davon 3.912 (49,7%) im Bezirk Oberwart. Auch diese Zahlen sind nicht absolut zu sehen, geben aber eine ungefähre Größenordnung an. Florian Freund/Gerhard Baumgartner/Harald Greifeneder, Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 23/2), Wien–München 2004, 27–31. 11 Der Abschnitt folgt den Ausführungen bei Ursula Mindler, Tobias Portschy. Biographie eines Nationalsozialisten. Die Jahre bis 1945 (BF 92), Eisenstadt 2006, va. Kapitel II.4. – Vergleicht man die Situation in Gesamtösterreich, so lässt sich für die Nationalratswahl 1920 feststellen, dass die „Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei“ in fast allen Wahlkreisen kandidierte und ca. 1,2 % der Stimmen errang. Im regionalen Vergleich war sie in der Steiermark 1919 und 1920 vor allem in einzelnen Industriegebieten der Mur-Mürz-Furche erfolgreich (u. a. Einzug in den Gemeinderat). Eduard Staudinger, Zur Entwicklung des Nationalsozialismus in Graz von seinen Anfängen bis 1938, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 31–74, hier 40. 12 Tobias Portschy studierte in Wien und Göttingen, wo er mit der NSDAP in Kontakt kam und sich für sie zu engagieren begann. Von 1932 bis 1935 war er NSDAP-Kreisleiter von Oberwart, anschließend „illegaler“ Gauleiter des Burgenlandes. Der Schwerpunkt seiner Agitation richtete sich gegen „Zigeuner“ und die jüdische Bevölkerung. Von 1938 bis 1945 war er Stellvertretender Gauleiter in Steiermark, 1940 trat er der SS bei. 1949 wurde er vom Volksgericht Graz zu 15 Jahren schweren Kerker verurteilt, aber 1951 begnadigt und entlassen. Mindler, Portschy (wie Anm. 11).

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Abb. 1: NSDAP Unterschützen, vor 1938, in der Mitte: Tobias Portschy. Quelle: Privatbesitz Heimo Portschy.

1935 wurde ein eigener (aufgrund des 1933 ausgesprochenen Betätigungsverbotes für die NSDAP zu diesem Zeitpunkt bereits „illegaler“) Gau Burgenland gegründet, dem Tobias Portschy als Gauleiter vorstand. Wie in anderen Bundesländern, agierten auch im Burgenland die NationalsozialistInnen13 nach dem Betätigungsverbot aus dem Untergrund heraus und machten vor allem durch Hakenkreuzschmierereien, das Streuen von Flugzetteln, aber auch durch Angriffe auf die Infrastruktur (wie Sprengungen von Telefonmasten) auf sich aufmerk13 Zwar gibt es bislang leider keine Studie zur nationalsozialistischen Betätigung von Frauen im Burgenland, jedoch legen Archivmaterialien nahe, dass Frauen, wenn auch in geringerer Zahl, ebenso aktiv waren. Eine von ihnen war die spätere NS-Frauenschaftsleiterin von Oberwart, Martha Zimmermann: „In ihrem Haus wurden in der Verbotszeit Fahnen geschneidert und geheime Zusammenkünfte abgehalten. Sie war eine fanatische Nationalsozialistin und arbeitete besonders aktiv für die Partei. Sie nahm an allen Veranstaltungen teil und tat sich besonders hervor. Sie empfing den [von 1938–1945] stellvertr. Gauleiter [von Steiermark, T. Portschy] als er [während des Ständestaates] aus [der Haft aus] Wöllersdorf zurückkam mit Blumen.“ Gendarmeriepostenkommando (GPK) Oberwart an die Bezirkshauptmannschaft (BH) Oberwart, Oberwart 2.3.1946. Burgenländisches Landesarchiv (BLA), BH Oberwart, 15.

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sam. Anfang 1938 kam es verstärkt zu nationalsozialistischen Aktionen14 – so fand bereits am 27. Februar 193815 eine Großdemonstration in Oberwart statt, bei der ohne Eingreifen der Polizei verbotene nationalsozialistische Symbole wie Hakenkreuzfahnen Verwendung fanden. Nachdem burgenländische Nationalsozialisten unter der Führung Portschys in Eisenstadt am Abend des 11. März 1938 die Mitglieder der Landesregierung festgenommen und die Macht ergriffen hatten, gab Portschy seine Ernennung zum Landeshauptmann bekannt – er war somit in Personalunion auf der Ebene der Parteiorganisation Gauleiter und auf der Ebene der staatlichen Verwaltung Landeshauptmann des Burgenlandes. Doch dies währte nur für kurze Zeit. Am 23. Mai 1938, mit Wirkung vom 22. Mai, verfügte Hitler die Aufteilung des Landes Österreich in sieben Gaue, und Portschy wurde Gauleiter-Stellvertreter von Steiermark. Nach 1945 notierte er in seinem „Rückblick“, in dem er seine Handlungen zu rechtfertigen versuchte: „Das Land und der Gau Burgenland verschwanden. Das Reich ging bei der Lösung der Burgenlandfrage keineswegs leichtfertig vor. [...] So unangenehm und schwer uns der Verlust der rechtlichen Eigenständigkeit unseres Heimatlandes auch fallen mochte, wir nahmen ihn Gesamt-Deutschland zuliebe hin. […] Ich aber unterwarf mich willig dem Schicksal meiner südburgenländischen Heimat und wählte das Los des Stellvertretenden Gauleiters in Steiermark.“16

14 Zu den Aktivitäten siehe va. Otto Fritsch, Die NSDAP im Burgenland 1933–1938, phil. Diss. Wien 1993. 15 Seit dem 19. Februar 1938 gab es nationalsozialistische Unruhen in ganz Österreich, welche sich nach Schuschniggs Rede vom 24. Februar 1938 noch verstärkten. Für den 27. Februar 1938 war in Graz eine nationalsozialistische Großkundgebung angekündigt, dann aber abgesagt worden [Staudinger, Entwicklung (wie Anm. 11) 69]. Der für den 27. Februar in Linz ausgerufene „Tag des Volkes“ wurde ebenfalls abgesagt [Peter Broucek (Hrsg.), Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. Bd. 2 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 70), Wien–Köln–Graz 1983, 232]. In Oberwart fanden die NS-Demonstrationen am 27. Februar dennoch statt. Es ist in der Literatur nicht geklärt, inwieweit diese Demonstrationen (mit der Fixierung auf den 27. Februar) zwischen den NationalsozialistInnen koordiniert waren. Die Literatur ist auch widersprüchlich bezüglich der geplanten Einberufung eines „Deutschen Tages“ in Graz – er wird mit 27. Februar (siehe Pars pro toto Joseph Buttinger, Am Beispiel Österreichs. Ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der sozialistischen Bewegung, Köln 1953, 498) oder mit 6. März angegeben [Zeugenaussage von Josef Helfrich, 23.3.1948. Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Landesgericht für Strafsachen (LGS) Graz, Vr 4785/47, 265. Ich danke Gerald Lamprecht für die Überlassung einer Kopie derselben]. Vielleicht sollte der 27. Februar auch an den Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 erinnern oder er bot sich deshalb an, da er ein Sonntag war, und es war unter Umständen nur ein Zufall in einer Zeit allgemeiner Unruhen, dass zum gleichen Zeitpunkt in verschiedenen Orten Demonstrationen angesetzt worden waren. 16 Tobias Portschy, o. T. („Rückblick“; unveröffentlichtes Manuskript), 119f, 123. Privatbesitz von Heimo

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Entgegen seiner schriftlichen Darstellung nach dem Ende der NS-Herrschaft hatte Portschy­sein Los nicht kampflos hingenommen.17 Er wollte diesen Machtverlust – die Degradierung vom Gauleiter zum stellvertretenden Gauleiter – nicht akzeptieren und hatte sich massiv für die Erhaltung eines selbstständigen burgenländischen Gaues eingesetzt. In seiner Denkschrift „Mission des Burgenlandes“ plädierte er dafür, den Gau Burgenland zu vergrößern, in „Gau Südost“ umzubenennen und den Sitz nach Graz zu verlegen, scheiterte letztlich aber: Am 24. und 25. Mai übernahmen mit Ausnahme von Wien die neuen Gauleiter – in der Steiermark Sigfried Uiberreither (1908–1984),18 in Niederösterreich (später Nieder­ donau) Hugo Jury (1887–1945)19 – die „Leitung der Landeshauptmannschaften“. Die Geschäfte der Landeshaupt­mann­schaft Eisenstadt sollten auf die Landeshauptmannschaft Graz übergehen, doch de facto amtierten Portschy und „seine Landesregierung“ bis 15. Oktober weiter.20 Portschy pendelte deshalb zwischen seinen Amtssitzen in Eisenstadt und Graz, wo sein Büro im Landhaus untergebracht war, während Uiberreither in der Burg residierte. Die noch im Mai von der Grazer „Tagespost“ präsentierten Zukunftspläne für den im Nordburgenland gelegenen Neusiedler See, der euphorisch als „größter See der Steiermark“21 bezeichnet wurde, zerschlugen sich rasch, denn das von der Reichsregierung am 1. Oktober 1938 beschlossene „Gesetz über Gebietsveränderungen im Lande Österreich“ besagte: „Das ehemals österreichische Land Burgenland wird aufgelöst. Von ihm fallen […] die Verwaltungsbezirke Güssing, Jennersdorf und Oberwart an das ehemals österreichische Land

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Portschy. Kopie im Besitz der Verfasserin. In früheren Werken als „Tagebuch II“ bezeichnet, fällt es eigentlich in das Genre der „bürgerlichen Autobiographik“ und wird daher hier so zitiert. Siehe Mindler, Portschy (wie Anm. 11) 149–150; Ursula Mindler, „… weil Portschy trotz seines hohen Ranges neben Uiberreither keine wesentliche Rolle in der NSDAP gespielt hat …“. Handlungsspielräume regionaler nationalsozialistischer Eliten am Beispiel der Biographie von Tobias Portschy, in: zeitgeschichte 36 (2009) 3, 165–182. Der Jurist Uiberreither wurde 1933 SA-Führer, 1938 Gauleiter von Steiermark, 1940 Reichsstatthalter und 1941 Chef der Zivilverwaltung der besetzten jugoslawischen Gebiete der Untersteiermark. Er war auch Reichsverteidigungskommissar. 1945 gelang ihm die Flucht und er lebte bis zu seinem Tod in Deutschland. Siehe Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 428–429. Der Lungenfacharzt Jury trat 1931 der NSDAP bei, war 1936 bis 1938 stellvertretender Landesleiter der „illegalen“ NSDAP in Österreich und ab Mai 1938 Gauleiter und Landeshauptmann von Niederösterreich/Niederdonau, ferner SS-Obergruppenführer, 1940 Reichsstatthalter, ab 1942 Reichsverteidigungskommissar. 1945 beging er Selbstmord. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt/Main 2003, 293. Gerhard Botz, Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses 1938–1940 (Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung 1), Wien 2 Aufl. 1976, 98 und 103. Tagespost, 28.5.1938, 14.

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Abb. 2: Die Aufteilung des ­Burgenlandes 1938. Quelle: BLA Fotosammlung.

Steiermark.“22 Als Rechtsnachfolger wurden für das Nord- und Mittelburgenland das Land Niederösterreich und für das Südburgenland das Land Steiermark eingesetzt. Dies brachte eine massive Gebietsveränderung im Südburgenland mit sich: die Bezirke Güssing und Jennersdorf wurden aufgelöst und den Bezirken Fürstenfeld und Feldbach zugeschlagen. Dem Bezirk Oberwart wurden wiederum einige Gemeinden des Pinkatales angegliedert. Die lokale „Oberwarther Sonntags-Zeitung“ titelte bezüglich der neu gewonnenen „Identität“:

22 Kundmachung des Reichsstatthalters in Österreich, wodurch das Gesetz über Gebietsveränderungen im Lande Österreich vom 1. Oktober 1938 bekannt gemacht wird. Gesetzblatt für das Land Österreich, 6.10.1938, 2227.

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„18 Jahre waren wir Burgenländer – nun sind wir Steirer geworden – nur eines sind wir gewesen und werden es immer bleiben – Deutsche – und so geloben wir nun als Steirer unserem heißgeliebten Führer wieder, was wir vor wenigen Wochen als Burgenländer feierlich erklärten: Führer befiehl, wir folgen – jetzt und immerdar!“23

Dass sich „Identitäten“ jedoch nicht so einfach wechseln und verschieben lassen, mussten letztlich auch die NationalsozialistInnen erkennen – so konnte de facto eine lückenlose Auslöschung des Namens „Burgenland“ nicht erreicht werden.24

Abb. 3: Gaueinteilung der „Ostmark“. Quelle: Ostmark-Jahrbuch 1939. Wien [1938], 128.

2. Personelle Änderungen Nachdem in der kurzen Zeit seines Bestehens fast alle Funktionen und Ämter des Gaus Burgenland besetzt worden waren, waren mit der Auflösung desselben 1938 die betroffenen NS-Eliten 23 Oberwarther Sonntags-Zeitung (OSZ), 23.10.1938, 2. 24 Widder, Burgenland (wie Anm. 5); Mindler, „Ich weiß eigentlich nicht …“ (wie Anm. 5).

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mit anderen Posten zu versorgen – sie wurden auf die Gaue Niederdonau und Steiermark aufgeteilt. So fanden sich neben Portschy noch weitere „Burgenländer“ in der steirischen Gauleitung wieder, wie Gustav Koczor (1909–wahrsch. 1948)25 als Leiter des Gau-Presseamts und Friedrich Schirk (1906–1984)26 als Leiter des Gau-Schatzamts, dem der bei der Gauwahlleitung in Eisenstadt beschäftigt gewesene Friedrich Dlabik (1917–1944)27 dienstzugeteilt wurde. Ebenso wurde der frühere Leiter der Güssinger, Oberwarter und Eisenstädter Bezirkshauptmannschaften, Ernst Mayrhofer (1885–1975),28 Leiter der Abteilung I der Reichsstatthalterei in Graz. Der einzige ehemals südburgenländische Bezirk, der seine Selbstständigkeit erhalten konnte und sogar eine Vergrößerung erfuhr, war Oberwart, wo der vormals „illegale“ Kreisleiter Eduard Nicka (1911– 1972)29 in seiner Funktion offiziell bestätigt wurde. Im August 1938 titelte die „Oberwarther Sonntags-Zeitung“: „Gauleiter Uiberreither zum erstenmal im steirischen [sic] Burgenland“ und zitierte aus dessen Rede: „Die Eigenart des Burgenländers sei aber auch in ihrem Aktivismus und Kampfeinsatz mit der des Steiermär25 Koczor war ein Ziehsohn des Superintendenten Dr. Theophil Beyer (1875–1952) in Oberschützen, wo er die Lehrerbildungsanstalt besuchte, um anschließend in Graz zu studieren. Er war SS-Obersturmführer, 1938 Gaupressechef und Mitglied des Landtages, ab 1938 Gau-Presseamtsleiter von Steiermark und Pressereferent des SS-Abschnitts XXXV. Siehe Mindler, Portschy (wie Anm. 11) 19. 26 Der Jurist Schirk war von 1935 bis 1938 illegal tätig, u. a. als Führer der Deutschen Arbeitsfront (DAF) des Burgenlandes. 1938/1939 war er Gauschatzmeister von Steiermark, danach bis 1940 DirektorStellvertreter der Hirmer Zuckerfabrik. Anschließend leistete er seinen Militärdienst ab, von dem er schwer verwundet 1945 zurückkehrte. S. Mindler, Portschy (wie Anm. 11) 181–182; s. a. Der Weg zum Anschluss. Burgenlandschicksal 1928–1938 (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 125), ­Eisenstadt 2008, 102–103. – Später wurde SA-Standartenführer Max Hruby (geb. 1889) Gaupresseamtsleiter und Gauschatzmeister im Gau Steiermark. StLA, LGS Graz, Vr-6542-1947 Hruby. 27 Dlabik war im Gauschatzamt mit dem Mitgliedschaftswesen betraut gewesen. StLA, LGS Graz, Vr 6281-1947. 28 Mayrhofer war gebürtiger Steirer und ab dem Anschluss des Burgenlandes an Österreich 1921 im Burgenland in der Verwaltung tätig gewesen. Seine „deutsche“ Einstellung verdeutlichte er 1942 in seiner freiwilligen Meldung für die Ostfront: „Da ich im alten Österreich 8 Jahre in der Untersteiermark bei der pollitischen [sic] Verwaltung Dienst machte und so im Kampfe mit dem steirischen Erbfeinde, den Slovenen, gelegen bin und dann nach dem Zusammenbruch ins Burgenland ging, um mitzuhelfen, diesen Landstrich dem Einflusse des Magyarentums zu entziehen und ihn wieder deutsch zu machen, so zieht es mich nun nach dem Osten, um dort meinen Mann zu stellen bei der Eindeutschung jenes Gebietes, das schon seiner Urbestimmung nach deutsches Schicksalsland zu sein hat.“ Mayrhofer an den Ministerialdirektor, Graz 26.3.1942. Bundesarchiv Berlin R 1501/208942, 65. – Sein Ansuchen wurde abgelehnt, da „derartig hohe Anforderungen in körperlicher Beziehung gestellt [werden], dass im allgemeinen Herren Ihres Alters dem nicht mehr gewachsen scheinen“. Ministerialdirektor Dr. von Helms an Mayrhofer, Berlin 29.4.1942. Ebda., 66. – Zur Biographie burgenländischer Verwaltungseliten (u. a. auch zu Mayrhofer) arbeitet derzeit Michael Hess (Burgenländische Landesbibliothek). 29 Nicka war von Beruf Müller und seit 1933 NSDAP-Mitglied. 1944/45 war er einer der Abschnittsleiter beim „Südostwallbau“. Zu Nicka siehe auch Uslu-Pauer/Holpfer, Volksgericht (wie Anm. 8) 54–60.

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kers enge verwandt. Auch der Gau Steiermark kann auf eine Tradition zurückblicken, die jeden Burgenländer mit Stolz erfüllen muss.“30 Wurde zwar wie hier propagandistisch ein „burgenländisch-steirischer Schulterschluss“ gefeiert, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis zwischen den „Burgenländern“ und den „Steirern“31 in der Gauleitung nicht immer ein inniges gewesen sein soll, wie mehrere Dokumente nahelegen, und auch das Verhältnis zwischen dem Gauleiter Uiberreither und seinem Stellvertreter aus dem Burgenland, Portschy, war stets recht angespannt und von persönlichen Animositäten geprägt.32 Einer der wenigen Punkte, in denen sie einer Meinung waren, stellte die Verfolgung der „Zigeuner“ dar, wie später noch ausgeführt werden wird.

3. Verfolgungsmassnahmen gegen die jüdische Bevölkerung im Südburgenland In seiner kurzen Amtszeit als Landeshauptmann und Gauleiter des Burgenlandes wollte Portschy zwei „Fragen“ gelöst wissen: die „Zigeunerfrage“ und die „Judenfrage“.33 Die kroatische und ungarische Minderheit des Burgenlandes trachtete er in die „Volksgemeinschaft“ zu integrieren – für die jüdische Bevölkerung und die „Zigeuner“ war seiner Meinung nach darin kein Platz. Dies brachte er auch deutlich zum Ausdruck, so im April 1938 in einer Rede: „Die Nationalsozialisten belassen jeder Volksgruppe ihr Volkstum, aber sie müssen natürlich den entsprechenden Respekt für das Deutschtum aufbringen. (Stürmische Zustimmung.) Zwei Minderheiten aber, Juden und Zigeuner, ähnlich in ihren Charakteren, können wir für die Dauer nicht dulden (brausender Beifall), da wir ein Volk sind, welches arbeitet und Werke schafft, jene aber sind Parasiten im deutschen Volkskörper, die von der ehrlichen Arbeit anderer ihr Dasein fristen. (Tosender Beifall).“34

Und eine Woche später verkündete er: „Die Zigeuner und die Juden sind seit der Gründung des Dritten Reiches untragbar. Glaubt uns, dass wir diese Frage mit nationalsozialistischer 30 OSZ, 28.8.1938, 1. 31 Zur Frage der Definitionen von Zugehörigkeiten siehe auch den Beitrag von Martin Moll im vorliegenden Band. Gauleiter Uiberreither kam jedenfalls eigentlich aus Salzburg. 32 Siehe Ursula Mindler, „Portschy ist Burgenländer, ich bin Steirer.“ Ein Burgenländer als GauleiterStellvertreter von Steiermark. Das Wirken Dr. Tobias Portschys im steirischen Raum, in: Blätter für Heimatkunde 80 (2006), 117–143. 33 Bezüglich Portschys Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung siehe Mindler, Portschy (wie Anm. 11) 63–91. 34 OSZ, 3.4.1938, 3.

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Konsequenz lösen werden.“35 Der Volkszählung von 1934 zufolge lebten über 3.600 Juden und Jüdinnen im Burgenland (rund 1,2 % der Bevölkerung), davon über 600 im südlichen Burgenland,36 wo sie den Israelitischen Kultusgemeinden von Güssing, Oberwart, Stadt Schlaining und Rechnitz angehörten.37 Im Zuge des „Anschlusses“ kam es auch hier zu Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung, zu Verhaftungen, Misshandlungen, Verleumdungen und Demütigungen sowie zum Boykott von als „jüdisch“ angesehenen Geschäften,38 was beispielsweise im folgenden Zeitzeugenbericht angesprochen wird: „Im Parkkino Oberwart, auf unserm Weg zum Bahnhof gelegen, wurde ein Internierungslager eingerichtet. Vor den Judengeschäften wachten uniformierte SA-Leute, die Kaufwillige am Betreten der Geschäfte hinderten bzw. hindern wollten. Auf dem Hauptplatz von Oberwart mussten öfters als bisher angesehene, wohlhabende und auch öffentliche Ehrenposten innehabende jüdische Mitbürger unter Bewachung Reinigungsarbeiten durchführen.“39

35 OSZ, 10.4.1938, 3. 36 Im politischen Bezirk Jennersdorf lebten 31, im Bezirk Güssing 115 und im Bezirk Oberwart 483 Juden und Jüdinnen. Von der Oberwarter jüdischen Bevölkerung lebten im Ort (nicht Kultusgemeinde!) Schlaining 19, in Rechnitz 170 und in Oberwart selbst 138 Juden und Jüdinnen. Bundesamt für Statistik (Hrsg.), Volkszählung (wie Anm. 9). 37 Siehe auch die Listen zur Erfassung der jüdischen Bevölkerung in den südburgenländischen Ortschaften (Stand: 13.3.1938) im StLA, Landesregierung (LReg.), Arisierung, Diverse Behelfe und Akten Bd. 1, Karton 3. 38 Die „Arisierungsakten“, Vermögensanmeldungen etc. befinden sich im BLA und StLA. Siehe u. a.: Ursula Mindler, Grenz-Setzungen im Zusammenleben. Verortungen jüdischer Geschichte in der ungarischen/österreichischen Provinz am Beispiel Oberwart/Felsőőr (Schriften des Centrums für Jüdische Studien 20), Innsbruck u. a. 2011; Ursula Mindler, „Ich hätte viel zu erzählen, aber dazu sage ich nichts …“. Oberwart 1938, Oberwart 2008; Edith Balázs (Hrsg.), Zsidó emlékek a Nyugat-Pannon Eurégióban. Jüdische Erinnerungen in der West-Pannonischen EuRegion, Szombathely 2008; Peter F. N. Hörz, Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente – volkskundliche Analysen (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien 26), Wien 2005; Lang/ Tobler/Tschögl (Hrsg.), Vertrieben (wie Anm. 8); Ursula Brustmann, „Wir waren Oberwarter, so wie alle anderen.“ Die Juden in Oberwart 1824–1938, Seminararb. Wien 1991; Gert Tschögl, Geschichte der Juden in Oberwart, in: Gerhard Baumgartner/Eva Müllner/Rainer Münz (Hrsg.), Identität und Lebenswelt. Ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt im Burgenland, Eisenstadt 1989, 116–127; Gert Tschögl, Die Geschichte der Oberwarter Juden, Hausarb. Wien 1988; Israelitische Kultusgemeinde für Steiermark, Kärnten und die politischen Bezirke des Burgenlandes Oberwart, Güssing, Jennersdorf (Hrsg.), Geschichte (wie Anm. 8); Gerhard Baumgartner, Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Schlaining, Schlaining 1988. 39 Josef Bertha, Oberschützen und das Jahr 1938, in: BG und BRG Oberschützen 1987/88, o. O. [Oberschützen] o. J. [1988] 75–78, hier 76.

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Ursula Mindler Abb. 4: Inserate „arisierter“ Geschäfte. Quelle: „Grenzlandzeitung“, 18.9.1938, 12.

Mit einer gezielten Vertreibungspolitik wollte Portschy so rasch wie möglich einen „judenreinen“ Gau schaffen, was durch seine Zusammenarbeit mit Gestapo, Polizei, lokalen NS-Eliten und nicht zuletzt Teilen der Bevölkerung auch gelang. Die meisten Juden und Jüdinnen flüchteten schon bald nach dem „Anschluss“ nach Wien und versuchten von dort ins Ausland zu emigrieren. Im Juli 1938 hieß es in einem Zeitungsbericht über das Burgenland: „Die Juden […] sind heute zur Gänze verschwunden.“40 Dies entspricht nicht ganz den Tatsachen, doch lebten zu diesem Zeitpunkt tatsächlich nur mehr wenige Juden und Jüdinnen dort, und Anfang Dezember 1938 befanden sich laut der nationalsozialistischen „Grenzland-Zeitung“ nur mehr rund 40 Juden und Jüdinnen auf dem Gebiet des ehemaligen Burgenlandes – in Wien wurden zu dieser Zeit knapp 1.500 burgenländische Juden und Jüdinnen von der Kultusgemeinde betreut.41 40 Tagespost, 17.7.1938, 18. 41 Grenzland-Zeitung, 4.12.1938, zit. in: DÖW (Hrsg.), Widerstand (wie Anm. 6) 319; Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945, Wien–München 1978, 91.

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Portschy war es mithilfe zahlreicher weiterer AkteurInnen gelungen, innerhalb von wenigen Monaten die jüdische Bevölkerung aus dem Burgenland zu vertreiben, sodass sich mit dem Anschluss des Südburgenlandes an die Steiermark für die steirische Gauleitung keine zusätzliche große „Belastung durch Juden“ ergab. Die Betroffenen waren zwar physisch nicht mehr anwesend – doch ihr Hab und Gut war noch vorhanden, und die „Arisierungen“ südburgenländischen Besitzes wurden im Gau Steiermark vorangetrieben.42 Zu Kriegsende wurden überdies auf dem Gebiet des heutigen Südburgenlandes im Rahmen des sogenannten „Südostwallbaus“ und der sogenannten „Todesmärsche“ an den aus Ungarn kommenden Jüdinnen und Juden Verbrechen begangen, welche mittlerweile Gegenstand zahlreicher neuerer Studien sind, jedoch nicht Eingang in den vorliegenden Aufsatz finden konnten.43 All diese Prozesse der Diskriminierung, Enteignung und Vertreibung waren nur möglich, da die Bevölkerung diese auch duldete und teilweise aktiv unterstützte bzw. vorantrieb. Nach 42 Uslu-Pauer/Hopfer, Volksgericht (wie Anm. 8); Gert Tschögl, „…soviel gestohlen, unterschlagen und veruntreut wie im Burgenland wurde nirgends.“, in: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Hrsg.), Arisierte Wirtschaft (Raub und Rückgabe. Österreich von 1938 bis heute 2), Wien 2005, 54–71; Gerhard Baumgartner/Anton Fennes/Harald Greifeneder et al., „Arisierungen“, beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen im Burgenland (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 17/3), Wien–München 2004; Gerhard Baumgartner, Die Arisierung jüdischen Vermögens im Bezirk Oberwart. Eine Fallstudie zu Ausmaß und Verfahrensvarianten der Arisierung im ländlichen Bereich anhand der Dokumentensammlung des Grundbucharchivs im Bezirksgericht Oberwart, in: Rudolf Kropf (Red.), Juden im Grenzraum. Geschichte, Kultur und Lebenswelt der Juden im burgenländisch-westungarischen Raum und in den angrenzenden Regionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart (Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland 92), Eisenstadt 1993, 339–362; Jonny Moser, Das Unwesen der kommissarischen Leiter. Ein Teilaspekt der Arisierungsgeschichte in Wien und im Burgenland, in: Helmut Konrad/Wolfgang Neugebauer (Hrsg.), Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbewusstsein, Wien–München–Zürich 1983, 89–97. 43 Siehe den Beitrag von Eleonore Lappin-Eppel im vorliegenden Band. Ferner: Walter Manoschek (Hrsg.), Der Fall Rechnitz. Das Massaker an Juden im März 1945, Wien 2009; Amt d. Bgld. Landesregierung (Hrsg.), Das Drama Südostwall am Beispiel Rechnitz (BF 98), Eisenstadt 2009; Eva Holpfer, Das Massaker an ungarischen Juden in Rechnitz als Beispiel für den Umgang der politischen Parteien im Burgenland mit der NS-Vergangenheit in den ersten Nachkriegsjahren, in: Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Keine „Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig–Wien 1998, 421–429; Harald Strassl/Wolfgang Vosko, Das Schicksal ungarischjüdischer Zwangsarbeiter am Beispiel des Südostwallbaus 1944/45 im Bezirk Oberwart, phil. Dipl.Arb. Wien 1999; vgl. auch die Arbeiten von Eleonore Lappin(-Eppel), v. a. Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen (Austria: Forschung und Wissenschaft: Geschichte 3), Wien u. a. 2010; ferner www.nachkriegsjustiz.at. – Zur Frage des Umgangs mit den ehemaligen ZwangsarbeiterInnen des Burgenlandes siehe Rita Münzer, Zwangsarbeiter und das Burgenland – der „pannonische“ Weg, in: scrinium (2001) 55, 577–578.

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1945 setzte sich dieses Klima fort, indem die Verfolgung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung ausgeblendet, schöngefärbt oder umgedeutet wurde, was es vielen Juden und Jüdinnen unmöglich machte, wieder in ihre ehemalige Heimat zurückzukehren. Wie unterschiedlich die Wahrnehmungen bezüglich der Vertreibungen 1938 sein konnten/wollten, zeigt das folgende Fallbeispiel aus Oberwart:44 Nach dem Krieg wurden zwei ehemalige Lehrer und eine ehemalige Mitschülerin der Oberwarter Jüdin Magdalene Stricker geb. Weber ersucht, zu bestätigen, dass Stricker bis 1938 die Wirtschaftsschule in Oberwart besucht hatte, ehe sie vertrieben wurde. Die Lehrer gaben an, sie könnten sich an die Schülerin nicht mehr erinnern, doch während der nunmehr in Linz lebende Professor Ströher meinte: „War sie Jüdin, dann wurde sie sicherlich aus rassischen Gründen an dem weiteren Besuch der Schule behindert, da damals – wie alle Welt weiß – allen nicht arischen Schülern der weitere Schulbesuch fast unmöglich gemacht wurde“,45 meinte der in einem Nachbardorf von Oberwart beheimatete Lehrer Schuh: „Meine Verbindung zu dieser Schule war sehr locker […] Deshalb erinnere ich mich nicht mehr daran, dass Frau Magdalene Stricker aus rassischen Gründen aus der Schule entfernt worden wäre. Ergänzend muss ich noch berichten, dass es manche infolge der einander überstürzenden politischen Ereignisse vorgezogen haben, die Stadt aus freien Stücken zu verlassen.“46

Die ebenfalls in einem Nachbardorf lebende ehemalige Klassenkameradin Steiner konnte sich eigenen Aussagen zufolge „sehr gut“ an Weber erinnern: „Wir waren sehr gute Freunde und haben uns sehr gut vertragen. Sie war eine nette Kameradin. Was ihre Entfernung aus der Schule betrifft, möchte ich behaupten, dass sie nicht aus rassischen Gründen erfolgt ist, sondern hat sie durch die Abwanderung ihrer Eltern aus Oberwart die Schule freiwillig verlassen. Zu dieser Zeit sind mehrere jüdische Familien aus Oberwart ausgewandert.“47

Dass das „freiwillige Verlassen“ der Schule damit zusammenhing, dass die Familie aufgrund der „Nürnberger Rassengesetze“ verfolgt und in die Emigration gezwungen wurde, bleibt auch nach dem Ende der NS-Herrschaft ausgeblendet. Diese Stellungnahmen verdeutlichen, dass in den Jahrzehnten nach Kriegsende die Realität des Geschehenen oftmals ignoriert und das eigene Verhalten nicht unbedingt kritisch reflektiert wurde – die Behauptung der „frei44 Das Fallbeispiel findet sich auch in Mindler, Grenz-Setzungen (wie Anm. 38) 220–221. 45 Ströher, zit. in: Amt der Burgenländischen Landesregierung an Dr. Hedda Bauersax, Eisenstadt, 24.9.1963. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik, 06, Bundesministerium für Finanzen, Hilfsfonds, Neuer Hilfsfonds, Kt. 2.009, GZ 8.078/7. 46 Schuh, zit. in: ebda. 47 Steiner, zit. in: ebda.

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willigen Abwanderung“ negiert die 1938 erfolgten Vertreibungen und ignoriert jegliche (Mit-) Schuld oder jegliches mögliche Fehlverhalten. Diese Haltung, die als Grundkonsens der burgenländischen Nachkriegsgesellschaft bezeichnet werden kann, trug nicht dazu bei, für Juden und Jüdinnen eine Rückkehr aus der Emigration attraktiv zu machen. Die jahrzehntelang vorherrschende Annahme, dass aufgrund ihrer so früh erfolgten Vertreibung fast allen burgenländischen Juden und Jüdinnen eine erfolgreiche Emigration gelungen sei, wurde in den letzten Jahren widerlegt.48 Zwar gelang vielen tatsächlich die Flucht, doch war nicht jedes Fluchtland auch ein sicheres: Jene Juden und Jüdinnen, die beispielsweise nach Ungarn geflüchtet waren, waren spätestens mit der deutschen Besetzung im März 1944 wieder in Lebensgefahr, als man versuchte alle in Ungarn befindlichen Juden und Jüdinnen zu ghettoisieren, zu deportieren und zu ermorden.

4. Verfolgung der „Zigeuner“ Hatte die Angliederung des Südburgenlandes für die Steiermark bezüglich ihrer jüdischen Bevölkerung so gut wie keine Auswirkungen, so stellt sich die Situation hinsichtlich der „Zigeuner“ gänzlich anders dar.49 Im Jahr 1938 lebten rund 8.000 „Zigeuner“ im Burgenland (österreichweit rund 11.000), wobei ungefähr die Hälfte von ihnen im Bezirk Oberwart hei48 Siehe auch Lang/Tobler/Tschögl (Hrsg.), Vertrieben (wie Anm. 8), sowie die von der Burgenländischen Forschungsgesellschaft erstellte Datenbank zu den burgenländisch-jüdischen Opfern der NSZeit (abrufbar auf www.forschungsgesellschaft.at), die DÖW-Datenbank zu den österreichischen Opfern des Holocaust (de.doew.braintrust.at/opferdb.html) und die Central Database of Shoah Victims’ Names (www.yadvashem.org). 49 Eine Auswahl der neueren Arbeiten: Roma-Service (Hrsg.), Mri Historija. Lebensgeschichten burgenländischer Roma. Eine Zeitzeugen-Dokumentation, Kleinbachselten o. J. [2009]; Gerhard Baumgartner/Florian Freund, Der Holocaust an den österreichischen Roma und Sinti, in: Michael Zimmermann (Hrsg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 3), Stuttgart 2007, 203–225; Susanne Uslu-Pauer, „Um solche Menschen ist nicht schade, denn einmal muss aufgeräumt werden.“ NS-Verbrechen an Roma und Sinti vor österreichischen Volksgerichten (1945–1955), in: befreien (wie Anm. 8) 265–288; Gerhard Baumgartner, „Arisierungen“ im Burgenland. Ausmaß und Verfahrensvarianten des Vermögensentzugs bei burgenländischen Juden sowie Roma und Sinti zwischen 1938 und 1945, phil. Diss. Wien 2004; Freund/Baumgartner/Greifeneder, Vermögensentzug (wie Anm. 10); Susanne Uslu-Pauer, „Keine Chance auf eine gerechte Behandlung vor Gericht“. Analyse von Volksgerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen an Roma und Sinti, in: Heimo Halbrainer/Martin Polaschek (Hrsg.), Kriegsverbrecherprozesse in Österreich. Eine Bestandsaufnahme, Graz 2003, 99–115; Helmut Samer, Die Roma von Oberwart, Oberwart 2001; siehe auch die Opferdatenbank http://www.burgenland.at/kultur/opferdatenbank/projekt [Abruf: 31.12.2010].

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matzuständig war. Viele arbeiteten in der Bau- und Landwirtschaft oder versuchten, nachdem auch die bäuerliche Bevölkerung zum Großteil am Rande des Existenzminimums lebte, durch Musizieren, Betteln und Stehlen zu überleben.50 Die sogenannte „Zigeunerfrage“ war ab dem 19. Jahrhundert zunehmend diskutiert worden, auch in der damals noch zum ungarischen Komitat Vas gehörenden Region um Oberwart,51 und hatte noch in der Ersten Republik die burgenländische Politik und Justiz beschäftigt – die Diskussionen verliefen allerdings vordergründig kirchen-, gesellschafts-, fürsorge- und sicherheitspolitisch, und erst in der nationalsozialistischen Diskussion wurde massiv rassistisch argumentiert.52 Die vor 1938 aufgeworfenen „Lösungsvorschläge“ der offiziellen politischen Stellen reichten von der Heranziehung von „Zigeunern“ zur Zwangsarbeit unter Aufsicht bis hin zur „Abgabe in eine Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalt“, doch fand vorerst keine Umsetzung auf juristischer Ebene statt,53 was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass „Zigeuner“ in dieser Zeit dennoch mannigfaltigen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Verschiedenste Versuche, alle „Zigeuner“ zu registrieren, gipfelten 1928 in der Einrichtung einer „Zigeunerkartothek“ 54 durch das Bundespolizeikommissariat Eisenstadt, die Daten (inklusive Fingerabdrücke) von rund 8.000 „Zigeunern“ enthielt und später von den NationalsozialistInnen übernommen und für die gezielte Verfolgung der „Zigeuner“ verwendet wurde.

50 Vgl. Susanne Fuchs-Nebel, Rom, das heißt Mensch, in: Elisabeth Deinhofer/Traude Horvath (Hrsg.), Grenzfall. Burgenland 1921–1991, Eisenstadt 1991, 127–136, hier 131. 51 Pars pro toto: „Zur Zigeunerplage. […] Der Zigeuner ist und bleibt unter den heutigen Verhältnissen ein Schandflecken für das 19. Jahrhundert und gemeingefährlich und schädlich für die ganze Gesellschaft. Das wissen wir Alle [sic] recht gut, wir sprechen es offen und unumwunden aus und die Zeitungen stimmen im Chorus mit uns in diese Jeremiade ein. Dass wir aber ernstlich daran gehen diesen Volksstamm der Zivilisation näher zu bringen und die Zigeuner zu nützlichen Gliedern des Staates zu machen, das fällt uns nicht ein, denn jeder Versuch scheitert an dem Vorurtheil, das wir diesem Volksstamme entgegen bringen.“ OSZ, 4.11.1888, 1–2. 52 Georg Gesellmann, Die Zigeuner im Burgenland in der Zwischenkriegszeit. Die Geschichte einer Diskriminierung, phil. Diss. Wien 1989; Norbert Tandl, Die Bekämpfung der vermeintlichen Zigeunerplage in Österreich (1848–1938), phil. Dipl.-Arb. Graz 1999; Florian Freund, Der polizeilichadministrative Zigeunerbegriff. Ein Beitrag zur Klärung des Begriffes „Zigeuner“, in: zeitgeschichte 30 (2003) 2, 76–90; Ursula Mindler, Die Kriminalisierung und Verfolgung von Randgruppen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der österreichischen „Zigeuner“, in: Christian Bachhiesl/ Sonja M. Bachhiesl (Hrsg.), Kriminologische Theorie und Praxis (Austria – Forschung und Wissenschaft Interdisziplinär 7), Berlin et al. 2011, 59–79. 53 Vgl. BLA, Polizeiakten IA, 1938, Zigeunerakten, 25, Presse zur Zigeunerfrage. 54 Darüber gibt es sogar Filmmaterial. Siehe „Das Burgenland und die Eisenstädter Polizei“ (Produktion: Bundespolizeikommissariat Wien, 1931), auf: Filmarchiv Austria (Hrsg.), Historisches Burgenland (Österreich in historischen Filmdokumenten, Edition Burgenland), VHS, Wien 2001.

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Abb. 5 und 6: „Zigeuner“ bei der Zwangsarbeit in Oberwart. Quelle: StLA, LReg., 384, L-Z, Kt. 2148, Jg. 1940.

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Die 1938 vom burgenländischen Landeshauptmann Tobias Portschy verfasste Denkschrift „Die Zigeunerfrage“ basierte auf den vor 1938 diskutierten „Lösungsvorschlägen“ und präsentierte sie in radikalisierter Form:55 Seine Vorschläge waren weitreichender und hatten die „Ausmer­zung der Zigeuner“ durch Zwangsarbeit, Deportation und Sterilisation zum Ziel. Darüber hinaus legalisierte er in seiner Funktion als Landeshauptmann im Laufe des Jahres Diskriminierungen gegen die „Zigeuner“ mittels Verordnungen und Gesetzen wie beispielsweise dem Musizierverbot, das vielen die Existenzgrundlage entzog, oder dem Verbot der Teilnahme an der „Volksabstimmung“ im April 1938, was einen Entzug ihrer bürgerlichen Rechte bedeutete.56 Mit manchen Anordnungen nahm er im nationalsozialistischen Sinne eine „Vorreiterrolle“ ein: Sein im September 1938 erlassenes Schulbesuchsverbot für „Zigeunerkinder“ wurde im gesamten Deutschen Reich erst im März 1941 durchgesetzt,57 und seine ab August 1938 geltende Verordnung „Zigeuner zur Straßenarbeit“ war – wie die Österreichische Historikerkommission feststellte – ein „burgenländisches Zwangsarbeitermodell für Zigeuner“, das besagte, dass alle arbeitsfähigen „Zigeuner“ zur Zwangsarbeit herangezogen werden konnten und an dem sich später auch andere Gaue orientierten.58 Im Rahmen dieser Zwangsarbeit wurde beispielsweise auf Initiative Portschys die Betonstraße zwischen Oberwart und Pinkafeld von „Zigeunern“ errichtet, wobei Portschy bei ihrer Eröffnung 1939 dies als „deutsche Leistung“ deklarierte: „Heute ist hier durch Tatkraft und deutschen Schaffensgeist trotz Krieg eine der schönsten Betonstraßen des Gaues entstanden, die eine Breite von 7 ½ Metern aufweist.“59 Einer der bei diesem Straßenbau tätig gewesenen Aufseher wurde im Dezember 1945 von der Oberwarter Gendarmerie festgenommen. Das Protokoll hielt fest: „Nach der Besetzung Österreich trat er [Emmerich Benkö] der SS bei. In dieser Eigenschaft war er Aufseher beim Straßenbau von Oberwart nach Pinkafeld. Bei dieser Aufsicht hat er in besonderer Weise die Zigeuner, die dort beschäftigt waren, schlecht behandelt. Benkö trug die meiste Zeit die Uniformen der SS und hat sich für die NSDAP besonders exponiert.“60

In Folge leitete die Staatsanwaltschaft Ermittlungen ein, ohne jedoch zu einem Ergebnis zu kommen. Die meisten Erhebungen wurden hinsichtlich Benkös NSDAP-Parteimitglied55 Tobias Portschy, Die Zigeunerfrage, Eisenstadt 1938 (unveröff. Manuskript). Kopie im Besitz der Verfasserin. 56 Vgl. Freund/Baumgartner/Greifeneder, Vermögensentzug (wie Anm. 10); Mindler, Portschy (wie Anm. 11). 57 Freund/Baumgartner/Greifeneder, Vermögensentzug (wie Anm. 10) 33. 58 Ebda., 97. 59 OSZ, 20.12.1939. 60 GPK Oberwart an die BH Oberwart, 24.12.1945, Exh.Nr. 1084, Benkö. BLA BH Oberwart 12.

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schaft geführt, nicht aber bezüglich seines Verhaltens gegenüber den „Zigeunern“. Benkö wurde im Dezember 1945 verhaftet und im Juli 1946 gegen Gelöbnis entlassen. Es kam zu keinem Gerichtsverfahren – die Voruntersuchungen wurden im Juli 1948 eingestellt.61 Doch zurück ins Jahr 1938: Durch die Auflösung des Burgenlandes im Herbst 1938 verlagerte sich die „Zigeunerfrage“ auf die Gaue Niederdonau und Steiermark, vor allem auf letzteren Gau, in dem nun rund zwei Drittel der „Burgenlandzigeuner“ lebten. Die darauf folgenden Diskriminierungs- und Verfolgungsmaßnahmen62 (Himmlers Erlass zur „Bekämpfung der Zigeunerfrage“ vom 8. Dezember 1938; Verhaftungen und Deportationen ab 1939; Heydrichs „Festsetzungserlass“ vom 17. Oktober 1939; die Errichtung von „Zigeunerlagern“63 auch in der Steiermark) resultierten aus einem „Zusammenspiel“ der Polizei-, Justiz-, politischen und Verwaltungseliten auf Gemeinde-, Kreisleitungs-, Landrats-, Gauleitungs- und Reichsebene mit der Bevölkerung, verbunden durch das gemeinsame Interesse an einer „Lösung der Zigeunerfrage“, auch wenn dies von einzelnen Stellen unterschiedlich forciert wurde.64 So wurde einerseits auf Vorgaben von oben reagiert, andererseits aber auch durch Intervenieren bei übergeordneten Stellen und Eingaben aktiv agiert. Erwähnt werden muss in diesem Kontext ebenso der Vermögensentzug, der während der NS-Zeit auch gegenüber „Zigeunern“ stattfand, wobei vor allem lokale NS-Eliten sowie die jeweilige Ortsbevölkerung massiv involviert waren.65 61 Wiener Stadt- und Landesarchiv, Vg Vr-Strafakten, Vg 8b Vr 655/46. Im BLA und StLA existieren keine Entnazifizierungsakten zu seiner Person; im ÖStA gibt es keine Wehrmachtsunterlagen zu ihm (ich danke Roman Eccher für diese Auskunft). – Benkö gab an, 1944/45 in einem KZ gewesen zu sein; laut Auskunft des BLA und StLA existieren keine Opferfürsorgeakten zu seiner Person; laut Auskunft des Muzeum Stutthof, das die Dokumente zum Lager Stutthof verwahrt, ist Benkö in den vorhandenen Materialien nicht aufgeführt (schriftliche Auskunft von Danuta Drywa, Sztutowo, 8.9.2011). – Im StLA existiert ein Staatsanwaltschaftsakt zu Benkö (StA-16973/1947), jedoch ist sein Verhalten in der NS-Zeit nicht Gegenstand der Erhebungen. Ich danke Elisabeth Schöggl-Ernst (StLA) für ihre Hilfe. – Die Recherchen im Bundesarchiv Berlin waren zur Drucklegung des Beitrages noch nicht abgeschlossen. 62 Siehe dazu v. a. Freund/Baumgartner/Greifeneder, Vermögensentzug (wie Anm. 10). 63 Siehe dazu auch den Beitrag von Roman Urbaner und Michael Teichmann im vorliegenden Band, ferner Freund/Baumgartner/Greifeneder, Vermögensentzug (wie Anm. 10) 113–120. 64 Anschauliche Quellenbeispiele liefern Freund/Baumgartner/Greifeneder, Vermögensentzug (wie Anm. 10); zur Frage der Täter und der Ahndung ihrer Verbrechen nach 1945 siehe Susanne Uslu-Pauer, „Verdrängtes Unrecht“. Eine Auseinandersetzung mit den in Zusammenhang mit NS-Verbrechen an Roma und Sinti stehenden Volksgerichtsverfahren (1945–1955) mit besonderer Berücksichtigung des Lagers Lackenbach im Burgenland. Beschreibung – Analyse – Auswirkungen nach 1945, phil. Dipl.-Arb. Wien 2002. – Namentlich waren auf den verschiedensten Ebenen führend aktiv (um nur einige zu nennen): der Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei Heinrich Himmler, der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Reinhard Heydrich, Gauleiter Uiberreither und sein Stellvertreter Portschy, die Landräte von Fürstenfeld, Feldbach und vor allem jener von Oberwart, Peter Hinterlechner, sowie der Kreisleiter von Oberwart, Eduard Nicka. 65 Freund/Baumgartner/Greifeneder, Vermögensentzug (wie Anm. 10) 138–211.

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Ab 1940 begann man „Zigeuner“ geschlossen aus dem Gau Steiermark zu deportieren.66 Eine der größten Deportationen (in der NS-Diktion euphemistisch als „Umsiedlungen“ bezeichnet) war jene nach Lódz/Litzmannstadt, wo zwischen dem 5. und 9. November 1941 über 5.000 „österreichische“ „Zigeuner“ aus den steirischen Sammellagern Hartberg, Fürstenfeld, Rotenturm und Oberwart sowie dem im Gau Niederdonau gelegenen Sammellager Mattersburg eintrafen. Jene von ihnen, die bis Dezember 1941 bzw. Jänner 1942 nicht aufgrund der katastrophalen Versorgungslage ums Leben gekommen waren, wurden im Vernichtungslager Chelmno/Kulmhof vergast. Als Folge von Himmlers „Auschwitz-Erlass“ und dessen Ausführungsbestimmungen vom 29. Jänner 1943 wurden im Laufe des Jahres 1943 schließlich sämtliche noch im Gau Steiermark verbliebenen „Zigeuner“ nach Auschwitz deportiert. Einem Bericht des Bezirksgendarmeriekommandos Oberwart zufolge überlebten von den „Zigeunern“ des Bezirkes Oberwart kaum 200 die NS-Herrschaft.67 In wenigen Fällen wurde nach Kriegsende gegen die an den Verbrechen gegen die jüdische Bevölkerung und die „Zigeuner“ Beteiligten polizeilich ermittelt. Die spärlichen Gendarmerieerhebungen zeigen jedoch die Verstrickung sowohl regionaler Eliten (wie beispielsweise im Kreis Oberwart Kreisleiter Eduard Nicka oder Landrat Peter Hinterlechner) als auch lokaler Anrainer in Verfolgungsmaßnahmen gegen und Misshandlungen von „Zigeunern“.68 So erstatteten einige wenige „Zigeuner“, die nach Kriegsende in das Burgenland zurückkehrten, Anzeige gegen jene, die sie in der NS-Zeit verfolgt und misshandelt hatten. Die zwei folgenden Fallbeispiele aus dem Bezirk Oberwart basieren auf der Anzeige von Zurückgekehrten und veranschaulichen die aktive Involvierung von Teilen der Bevölkerung – in diesem Fall einem Ehepaar – in Diskriminierungs- und Verfolgungsmaßnahmen. Am 19. August 1946 übermittelte der Gendarmerieposten Markt Allhau folgenden „Tat­ hergang“ an die Bezirkshauptmannschaft Oberwart: „Der frühere Ray. Insp. [Rayonsinspektor] der Gendarmerie Ernst Chwojka war illegal und SS Oberscharführer. Er hat am 31.10.1940 vormittags den Zigeuner Alois Karoly in Markt Allhau Nr. 307 durch wiederholte Stockhiebe misshandelt. Karoly wurde in der Nacht auf der Straße von Chwojka [an]getroffen und dafür am Morgen, als er zwecks Einlieferung in ein KZ festgenommen wurde, […] misshandelt. Am 26.6.1938 hat Chwojka bei der Verhaftung den [sic] Zigeuner Anton Pfeiffer in Markt-Allhau [sic] Nr. 307 angeblich ohne Ursache 4 Ohrfeigen versetzt. Pfeiffer[,] der damals nach Dachau

66 Für diesen Absatz siehe ebda., va. 145–155; Baumgartner/Freund, Holocaust (wie Anm. 49) 212–218; Mindler, Portschy (wie Anm. 11) 115–121; DÖW (Hrsg.), Widerstand (wie Anm. 6) 249–253. 67 Bericht des Bezirksgendarmeriekommandos Oberwart an das Landesgendarmeriekommando für das Burgenland, 30.5.1946, zit. in: DÖW (Hrsg.), Widerstand (wie Anm. 6) 279. 68 Pars pro toto: Uslu-Pauer, „Verdrängtes Unrecht“ (wie Anm. 64).

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verschafft werden sollte, konnte durch Chwojka bei der Aktion nicht angetroffen werden und meldete sich erst kurze Zeit später auf dem Gendarmerieposten, wobei er von Chwojka dann misshandelt worden sei. Seine Einlieferung erfolgt noch am gleichen Tage mit anderen festgenommenen Zigeunern.“69

Alois Karoly und Anton Pfeiffer gehörten zu den wenigen Roma, die die NS-Zeit überlebten und die versuchten, nach 1945 Gerechtigkeit zu erfahren. Im November 1945 erstatteten sie gegen Chwojka Anzeige wegen Misshandlung und Verletzung der Menschenwürde.70 Es kam zu einem Volksgerichtsverfahren in Wien, wo Ernst Chwojka im Juli 1947 zu einer Haftstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde – die Untersuchungshaft wurde ihm angerechnet, und so wurde er nach zwei Monaten aus der Haft entlassen.71 Er starb 1949.72 Susanne Uslu-Pauer bezeichnete Ernst Chwojka als „‚pflichtbewussten Befehlsausführer‘ […] [,] der die Anweisungen der Kripoleitstelle Wien, die Gemeinde ‚zigeunerfrei‘ zu machen, mit Hilfe eines Teils der Bevölkerung von Markt Allhau in die Realität umsetzte“.73 Chwojka hatte als Gendarmeriebeamter beruflich mit der Deportation der „Zigeuner“ zu tun, doch lag es in seinem persönlichen Ermessen, ob er Mitmenschen darüber hinaus misshandelte oder nicht, und wie Uslu-Pauer feststellte, war er nicht der Einzige, der seine Handlungsspielräume ausnutzte – überliefert ist, dass auch seine Ehefrau, die sich nicht auf einen beruflichen „Zwang“ berufen konnte, während der NS-Zeit in die Misshandlung eines „Zigeuners“ involviert gewesen war: „Der frühere SS-Mann Josef Papst, […] ist dringend verdächtigt, […] im September 1939 in Markt-Allhau [sic] während einer Zigeuneraktion [wider] den Zigeuner Franz Karoly vulgo Wildmann, Hilfsarbeiter in Markt Allhau, […] eine Handlung aus besonders verwerflicher Gesinnung […] begangen zu haben. Karoly sollte damals zwecks Überführung ins Kontentrationslager [sic] verhaftet werden. Er flüchtete aus dem Lager auf ein freies Feld, wo er von der Gendarmenfrau Marie Chwojka angehalten und gestellt wurde. Als sich die Chwojka mit Karoly herumbalgten [sic], kam Papst hinzu und misshandelte mit Gewehrkolbenhiebe[n] den Zigeuner derart, dass diesen [sic] dabei mehrere Rippen gebrochen worden sein sollen. Er war damals auch nicht transportfähig und wurde erst im Jahre 1943 in ein KZ eingeliefert.“74 69 GPK Markt Allhau an die BH in Oberwart, Markt Allhau 19.8.1946. BLA BH Oberwart 15. 70 Uslu-Pauer, „Verdrängtes Unrecht“ (wie Anm. 64) 146. 71 Ebda., 146. Siehe auch ihre Ausführungen zum Umgang der Nachkriegsgesellschaft und -justiz mit den Verbrechen an den „Zigeunern“. Ebda. – Chwojkas Volksgerichtsakt konnte im Wiener Stadtund Landesarchiv 2011 nicht gefunden werden, war aber zumindest um 2002 noch vorhanden, da Susanne Uslu-Pauer ihn als Quelle anführt. 72 BLA BH Oberwart 13; siehe ebenso BLA, LAD/I-N, 88/51. 73 Uslu-Pauer, „Verdrängtes Unrecht“ (wie Anm. 64) 147. 74 GPK Markt Allhau an die BH Oberwart, Markt Allau, 23.11.1945. BLA BH Oberwart 12. Die Einlieferung 1943 fällt mit dem „Auschwitz-Erlass“ zusammen.

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Franz Karoly überlebte als einer der wenigen Auschwitz;75 Marie Chwojka wurde nach Kriegsende von der Gendarmerie wegen ihrer „illegalen“ NSDAP-Zugehörigkeit im Zuge der Entnazifizierungsmaßnahmen registriert. Dass sie aktiv an der Verfolgung von „Zigeunern“ beteiligt gewesen war, wurde von der Gendarmerie nicht weiter verfolgt.76 Dies ist keine Ausnahmeerscheinung, ebenso finden sich auch Volksgerichtsurteile, wo NationalsozialistInnen, die nachweislich „Zigeuner“ misshandelt hatten, vom Vorwurf der Misshandlung freigesprochen worden waren, oftmals mit dem Argument, dass die Zeugenaussagen von „Zigeunern“ unglaubwürdig wären.77 Die Stigmatisierung und Kriminalisierung von „Zigeunern“ dauerte nach 1945 an. So waren „Zigeuner“ lange von der „Opferfürsorge“ ausgeschlossen, zum einen, da das Opferfürsorgegesetz von 1947 nur zwei Kategorien von Opfern kannte (WiderstandskämpferInnen und politisch Verfolgte), zum andern, da die Meinung weit verbreitet war, sie wären als „Arbeitsscheue“, „Asoziale“ und „Kriminelle“ zu Recht inhaftiert gewesen.78

5. Resümee Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach der Eingliederung des Südburgenlandes in den Gau Steiermark im Herbst 1938 zwischen den „burgenländischen“ und „steirischen“ NSFunktionären zwar Differenzen vorhanden waren, diese jedoch das gemeinsame politische Agieren in der Verfolgung jener, die aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen waren, nicht weiter behinderten. Die wesentlichen Maßnahmen zur Verfolgung der jüdischen Bevölkerung sowie der „Zigeuner“ waren bereits in der Phase der Selbstständigkeit des Gaues Burgenland getroffen worden. Als das Südburgenland im Herbst 1938 dem Gau Steiermark einge75 BLA BH Oberwart 12. 76 Es existiert kein Volksgerichtsakt zu ihr und sie ist auch nicht im burgenländischen Entnazifizierungsindex eingetragen. Die Gendarmerie Markt Allhau berichtete der Bezirkshauptmannschaft in Oberwart am 11.2.1946: „Marie Chwojka trat nach eigenen Angaben am 10. Mai 1946 [sic] in die NSDAP als Mitglied ein. […] Schon in der illegalen Zeit sympat[h]isierte sie sehr stark für die NSDAP. Nach der Machtübernahme und während der Naziherrschaft war sie eine sehr eifrige Nationalsozialistin. Sie benahm sich auffallend anmaßend und auch gehässig. Zur Anzeige hat sie jedoch niemand gebracht, auch niemanden geschädigt. Funktion hat sie keine bekleidet. Marie Chwojka ist in ihrem Haushalte tätig und geht außerdem Gelegenheitsarbeiten nach. Sie geniest [sic] in der Gemeinde Markt-Allhau [sic] einen sehr guten moralischen Leumund. Weil sie bis Kriegsende an [sic] einen Endsieg der Nazi hoffte, ist mit Sicherheit anzunehmen, dass sie noch vor der Befreiung Österreichs nicht positiv für eine unabhängige Republik Österreich eingestellt war.“ Die im Schreiben erwähnten Beilagen sind nicht mehr erhalten. BLA BH Oberwart Varia 10. 77 Siehe dazu vor allem die Arbeiten von Susanne Uslu-Pauer. 78 Siehe dazu auch den Beitrag von Andrea Strutz im vorliegenden Band.

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gliedert wurde, betraf dies die – physisch nicht mehr präsente – jüdische Bevölkerung „nur“ mehr durch die Abwicklung von „Arisierungen“. Die Verfolgung der „Zigeuner“ radikalisierte sich hingegen und reichte von der Verpflichtung zur Zwangsarbeit über die Internierung in steirischen Lagern bis hin zu ihrer Deportation und Vernichtung. Durch den Anschluss des Südburgenlandes erfolgte zwar ein Bruch in verwaltungstechnischer Hinsicht – die handelnden Personen vor Ort blieben aber dieselben, und die Verfolgungsmaßnahmen wurden auf allen Ebenen der Gesellschaft und Politik kontinuierlich vorangetrieben. Auch wenn das Burgenland zwischen 1938 und 1945 nicht in eigenständiger Gauform existierte, so wurden dennoch all diese Maßnahmen nicht ausschließlich von externen Eliten angeordnet, sondern ebenso von der ansässigen Bevölkerung und ihren politischen, Verwaltungs-, Justiz- und Polizeieliten initiiert, forciert und exekutiert, auch wenn man davon nach Kriegsende nichts mehr wissen wollte und sich, im Einklang mit der österreichischen „Opferthese“, mit dem Verweis auf die Nichtexistenz des Bundeslandes/Gaus zwischen 1938 und 1945 jeglicher Verantwortung zu entziehen suchte.

„Wenn Sie wollen, lasse ich mich jetzt einschreiben, wenn es gerade so sein muss!“1 Einige Aspekte nationalsozialistischer Herrschaftsausübung und Alltag am Beispiel des angegliederten Gebietes Untersteiermark 1941–1945

Monika Stromberger

Obwohl niemals juristisch integrierter Teil des Reichsgaus Steiermark ist die Erinnerung an die Entwicklungen in der Untersteiermark ein Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses des Landes. Historisch bis 1918 Teilgebiet der alten Steiermark wurden die Folgen der Weltkriege bzw. der nationalsozialistischen Herrschaftsausübung Teil der (ebenfalls historischen) Kons­ truktion der „Grenzlandidentität“ auf beiden Seiten und belaste(te)n als solche die Beziehungen zwischen der Steiermark respektive Österreich und Slowenien respektive Jugoslawien teilweise noch bis in die Gegenwart. Die jüngste Entdeckung von Massengräbern von ermordeten Gegnern und Gegnerinnen des kommunistischen Regimes fachte die Diskussion neu an, Konstruktionen von Feind und Gegenfeind spiegeln die Erinnerung an die schwierige Zeit des Nationalsozialismus wider und belegen damit den Wert des Modells „Kulturelles Gedächtnis“ für den nicht-akademischen Diskurs. Die vorliegende Darstellung ist ein Fallbeispiel für den Ansatz „Nationalsozialistische Herrschaftspraxis in der Steiermark. Herrschaft – Verfolgung – Widerstand – Alltag“, wobei eine vollständige Übersicht über die komplexe Situation in dieser Region den Rahmen des Möglichen sprengen würde und zudem in der Literatur mehrfach vorliegt. Gewählt wurden daher zwei Schwerpunkte, die nach einem kurzen Überblick über die Vorgänge in der Untersteiermark generell skizziert werden: die Frage der Staatsangehörigkeit – hier steht besonders die Gruppe der „Schutzangehörigen“, deren Klassifizierung zu zahlreichen Diskussionen im nationalsozialistischen Herrschaftsapparat führte, im Fokus der Aufmerksamkeit – sowie die Entwicklung des Strafrechts und des Umgangs einzelner Akteure mit diesem.

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Aussage eines „Schutzangehörigen“ in: Korrespondenz zwischen der Kreisführung und der Ortsgruppenführung des Steirischen Heimatbunds (SHB) Polstrau (Središče ob Dravi). AMNOM (Arhiv muzeja narodne osvoboditve Maribor/Archiv des Museums der Nationalen Befreiung Maribor), Bestand Lager Strnišče/Sterntal.

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Abb. 1: Gau Steiermark

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I. Das angegliederte Gebiet Untersteiermark: Ein kurzer Überblick Im Zuge des aus kriegsstrategischen Gründen erfolgten Einmarsches in Jugoslawien durch die „Achsenmächte“ wurde die sogenannte Slowenische Steiermark (Slovenska Štajerska) im April 1941 von der Deutschen Wehrmacht besetzt.2 Chef der rasch eingesetzten deutschen Zivilverwaltung wurde der Gauleiter der Steiermark, Siegfried Uiberreither. Der Geltungsbereich des Gebietes Untersteiermark, dessen immer wieder verschobene Eingliederung ins Deutsche Reich letztlich nie vollzogen wurde, bestand aus den 1918 von Österreich getrennten südlichen Regionen des historischen Landes Steiermark, erweitert um die Save-Gebiete und sechs oberkrainische Gemeinden. Die Region Prekmurje (Übermurgebiet) wurde unter ungarische Besatzung gestellt. In der Literatur gibt es Schätzungen über die Zahl der EinwohnerInnen: Im Kerngebiet lebten rund 530.000 bis 600.000 Menschen, im gesamten Territorium (einschließlich der erwähnten Erweiterungen) ungefähr 870.000 Menschen.3 Die ursprünglich zwölf Verwaltungsbezirke und drei Städte (Ptuj/Pettau, Maribor/Marburg, Celje/Cilli) wurden auf sechs Landkreise und einen Stadtkreis (Maribor/Marburg)4 reduziert und zunächst jeweils einem Politischen Kommissar, später einem Landrat bzw. im Fall von Maribor/Marburg einem Oberbürgermeister unterstellt. Ebenfalls im April 1941 – dies hatte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Herrschaft und Herrschaftspraxis in der Untersteiermark – wurde im italienisch besetzten Ljubljana die „Antiimperialistische Front“ gegründet, die wenig später in „Befreiungsfront des slowenischen Volkes“ (Osvobodilna fronta slovenskega naroda – OF) nach dem Vorbild anderer jugoslawischer Widerstandsgruppen umbenannt wurde. Ursprünglich eine Sammel2

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Der folgende Überblick basiert im Wesentlichen auf: Tone Ferenc, Nacistična raznarodovalna politika v Sloveniji v letih 1941–1945, Maribor 1968, insbes. 131–218; Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, Graz–Wien 1986, insbes. 123–166; Milan Ževart, Izganjanje Slovencev na Štajerskem in Koroškem: 1941–1945, Maribor 1991; Tamara Griesser-Pečar, Das zerrissene Volk. Slowenien 1941–1946. Okkupation, Kollaboration, Bürgerkrieg, Revolution (Studien zu Politik und Verwaltung 86), Wien–Köln– Graz 2003, insbes. 22–31; Tone Ferenc/Bojan Godeša, Die Slowenen unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1941–1945, in: Dušan Nećak et al. (Hrsg.), Slovensko-avstrijski odnosi v 20. stoletju. Slowenisch-österreichische Beziehungen im 20. Jahrhundert (Historia 8), Ljubljana 2004, 258–265; Slovenska novejša zgodovina 1848–1992, 1. Teil: 1848–1945, Ljubljana 2005, insbes. 575–798. Zahlen nach: Ževart, Izganjanje Slovencev (wie Anm. 2) 20; Mojca Šorn/Tadeja Tominšek Rihtar, Žrtve druge svetovne vojne in zaradi nje, in: Janvit Golob et al. (Hrsg.), Žrtve vojne in revolucije, Ljubljana 2005, 13–21, 18. Zu der Entwicklung von Maribor/Marburg vgl. die umfassende Darstellung: Marjan Žnidarič, Do pekla in nazaj: nacistična okupacija in narodoosvobodilni bor v Mariboru 1941–1945, Maribor 1997.

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bewegung verschiedener ideologischer Gruppierungen verwandelte sich die OF schließlich in eine kommunistisch dominierte Organisation, die nicht nur gegen die Okkupatoren kämpfte, sondern auch gegen ihren ideologischen Widerpart.5 Neben einem „Steirischen Bataillon“ als Teil des kommunistischen Widerstandes wurde auch von diesen ideologischen Gegnern ein solches (Štajerski bataljon oder auch Legija smrti/Todeslegion) gegründet, das sich sowohl gegen die Okkupatoren als auch gegen die OF stellte. Wie bedeutend der Einfluss der Widerstandsbewegungen auf die Herrschaftspraxis ist, könnte ein Vergleich zwischen der Ordnung der Staatsangehörigkeit in der Untersteiermark und in den krainischen Gebieten (Gorenjska) bieten. In Slovenska koroška/Slowenisch Kärnten bzw. in den krainischen Gebieten gestaltete sich die staatsbürgerliche Integration offenbar um einiges schwieriger, weil dort die Zentren des Widerstandes lagen.6 Die Nationalsozialisten begannen sofort mit einem gewaltigen Umsiedlungsprogramm, von dem rund 10 % der Bevölkerung direkt betroffen waren. Dieses Programm verfolgte vor allem die Schwächung der „Nationalslowen(inn)en“ bzw. die Germanisierungspolitik des Regimes sowie die Schaffung von „Lebensraum“ für „Volksdeutsche“, da in den frei werdenden Gebieten etwa die Gotscheer Deutschen angesiedelt wurden.7 Sammellager der sogenannten Volksdeutschen Mittelstelle wurden unter anderem in Brestanica/Rajhenburg, in der Kaserne von Melje (Maribor/Marburg), an der Eisenbahnstation von Slovenj Gradec/Windischgrätz, in Celje/Cilli, Ptuj/Pettau und auf der Burg Borl eingerichtet; zum Teil dienten diese als Zwischenstation für den Weitertransport in ähnliche Lager im Deutschen Reich. Als Leiter des Umsiedlungsstabs fungierte Otto Lurker. Um die Einziehung des Besitzes der Vertriebenen kümmerte sich vor allem die Deutsche Umsiedlungs- und Treuhandgesellschaft (DUT),8 die Einteilung der AussiedlerInnen in „Rasse-Klassen“ übernahm das Reichskommissariat für die Festigung des deutschen Volkstums (verantwortlicher Leiter in Berlin seit 1939: Heinrich Himmler). Die erste Phase der Deportationen erfolgte nach speziellen Auswahlkriterien und grosso modo in drei Etappen: 1. Gleich zu Beginn waren die slowenische Führungsschicht und die Intellektuellen (auch Geistliche, die traditionell als Träger der kulturellen Nationalisierung galten) betroffen. Neben „wilden“ Vertreibungen (vor allem in die Nachbarländer Kroatien und Italien so5 6

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Ferenc/Godeša, Die Slowenen unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1941–1945 (wie Anm 2). Vgl. etwa die Schwierigkeiten der Gauleitung von Kärnten mit diesen Regelungen: Schreiben des Reichsministeriums des Innern über die Regelung der Staatsangehörigkeit in den besetzten Gebieten, ed. in: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik in Slowenien 1941–1945. Viri o nacistični raznarodovalni politiki v Sloveniji 1941–1945, hrsg. v. Tone Ferenc, Maribor 1980, 395–399. Vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 2) 147–148. Dazu und im Folgenden vgl. Ževart, Izganjanje Slovencev (wie Anm. 2).

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wie nach Serbien und in die italienisch besetzten Gebiete) wurden systematische Deportationen besonders ins Deutsche Reich über die genannten Zwischenlager durchgeführt. Fast 600 körperlich und geistig Behinderte wurden nach Hartheim9 verschleppt und dort ermordet. 2. Im September 1941 wurde der Schwerpunkt auf die seit 1914 zugewanderten SlowenInnen gelegt. 3. In der dritten Welle wurde die zur Umsiedlung vorgesehene Bevölkerung aus den Regionen an der Save und Sotla in Lager nach Unterschlesien, Sachsen und Württemberg verbracht – zur Verwendung für die „Ostbesiedlung“, zu weiterer Deportation oder als Übergang in Konzentrationslager, je nach „Eignung für die Eindeutschung“ oder „Eignung für die Besiedlung in Osteuropa“10. Das dermaßen „entvölkerte“ Gebiet war für die Gottscheer Deutschen gedacht (die ihrerseits ebenfalls nach den „Rasse-Klassen“ eingeteilt wurden). Mit Zunahme des bewaffneten Widerstandes wurden schließlich ab 1942 die Angehörigen der WiderstandskämpferInnen und Wehrdienstverweigerer vertrieben (erste große „Aktion“ im August; vier weitere bis Juli 1943). Viele von ihnen kamen in AussiedlerInnenlager oder Konzentrationslager (vor allem nach Dachau und Auschwitz).11 Für Kinder bis zum Alter von zwölf Jahren, die als „eindeutschungsfähig“ galten, waren sogenannte Lebensborn-Lager vorgesehen als Zwischenstation zur Adoption durch deutsche Eltern. Eine erste Station dahin war das Umsiedlungslager Frohnleiten bei Graz.12 Im Hinblick auf die noch zu thematisierende Rolle des Chefs der Sicherheitspolizei, Otto Lurker, ist auch das brutale Vorgehen der Behörden gegen den Widerstand zu erwähnen, der nicht nur die Kämpfenden, sondern auch deren Angehörige und deren Umfeld betraf, „vergleichbar etwa mit den ‚Säuberungen‘ im Hinterland der Ostfront“:13 Massenerschießungen von Inhaftierten und Geiseln (Männer, Frauen, sogar Kinder), die erwähnten Deportationen ohne Rücksicht auf Familienstrukturen, Zwangsarbeit oder die zwangsweise Einberufung zum Kriegsdienst und die Einziehung oder Vernichtung von Besitz waren inhärenter Teil des Herrschaftssystems.14 9

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Schloss Hartheim liegt in der Nähe von Linz und wurde von 1940–1944 als „Euthanasie-Anstalt“ vor allem zur Ermordung von behinderten oder psychisch kranken Menschen geführt. In dieser Zeit wurden nach Schätzungen rund 30.000 Menschen ermordet. Vgl. u.a. http://www.schloss-hartheim. at/ (13.04.2010) Tone Ferenc, Viri o rasnih pregledih Slovencev pod nemško okupacijo, in: Prispevki za novejšo zgodovino (PNZ) 34 (1994) 2, 231–244, 237–238. Griesser-Pečar, Das zerrissene Volk (wie Anm. 2) 32. Einzelschicksale werden dargestellt in: Stane Terčak, Ukradeni otroci, Ljubljana 1973. Karner, Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 2) 159. Vgl. zu der speziellen Thematik der gewaltsamen Mobilisierung für die Wehrmacht u. a.: Ludvik Pu-

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Abb. 2: Dem Gau Steiermark angegliederte Untersteiermark

II. Zwischen Herrschaft und Verwirrung: Germanisierung, Staatsangehörigkeit und Sonderdienstpflicht Die Übernahme der Herrschaft durch die Nationalsozialisten bedeutete auch die Inangriffnahme der umfassenden Germanisierung des gesamten öffentlichen Bereiches von den Sprachregelungen in Schulen und Ämtern bis hin zur Auflösung slowenischer Vereine und zur Einziehung des Vermögens der Vertriebenen.15 Als zentrale Organisation und als Ersatz­ institution für die NSDAP fungierte der Steirische Heimatbund (SHB), der nach den Grundsätzen der NSDAP aufgebaut und die einzige erlaubte politische Gruppierung in diesem Gebiet war. Mit der Einbeziehung der gesamten Bevölkerung in dieses System „Heimatklavec (Hrsg.), Prisilne mobilizacije na Štajerskem, Celje 2003; zur Behandlung der Bevölkerung vgl. u. a.: Karner, Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 2) 156–163, und aus der umfangreichen slowenischen Literatur zu diesem Thema exemplarisch: Tone Ferenc, Okupatorjevo nasilje na Slovenskem. Bili so zaprti, pregnani, obešeni, ustreljeni na suženjskem delu uporni, Ljubljana 1981. 15 Vgl. dazu neben den in Fußnote 2 Genannten noch u. a.: Zdenko Čepič/Damijan Guštin/Jurij Perovšek (Hrsg.), Slovenci in leto 1941. Prispevki za novejšo zgodovino, 2 Bände, Ljubljana 2001; Marjan Žnidarič, Okupatorjevo šolstvo na Slovenskem Štajerskem (1941–1945), in: Časopis za zgodovino in narodopisje (ČZN) 76/41 (2005) 3–4, 443–450.

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bund“ wurden rund 95 % der UntersteirerInnen erfasst. Nicht nur Drohungen oder Begeisterung veranlassten die Bevölkerung, die Mitgliedschaft im SHB anzustreben. Diese staatliche Vorfeldorganisation diente auch und vor allem als Medium der Integration des/der Einzelnen in den Staatsverband: „Nach Auffassung des Chefs der Zivilverwaltung in der Untersteiermark ist es für eine erfolgreiche und umfassende Arbeit des Steirischen Heimatbundes notwendig, der Mitgliedschaft im Heimatbund einen massgeblichen Einfluss auf den Erwerb der Staatsangehörigkeit zu geben, um damit die Gesamtheit der Mitglieder fester zusammenzuhalten.“16

Diese Mitgliedschaft wurde damit Voraussetzung für die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft und aller damit verbundenen Rechte und Ansprüche auf erweiterte soziale Unterstützungen, die über den SHB verwaltet wurden.17 Bei der Festlegung des Verfahrens wurde betont, dass der Chef der Zivilverwaltung die Neuordnung der Staatsangehörigkeit vor dem „Führererlass über die Eingliederung des Gebietes“ betrieben hätte, was „ungewöhnlich“, aber rechtlich möglich wäre. Ein Grund für diese Beschleunigung lag explizit darin, „den Fortschritt der Rückgewinnung der rassisch wertvollen Windischen für das Deutschtum“ nicht zu behindern.18 Entworfen wurde eine Einteilung in vier Klassen von Zugehörigkeit19 (ähnlich der Deutschen Volksliste im polnischen Gebiet), wobei diese Strukturierung eher nach „rassischen“ als nach politischen Kriterien erfolgte:20 16 Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit in den besetzten slowenischen Gebieten [veröffentlicht im RGBl. I, Jg. 1941, Nr. 120, 24.10.1941], ed. in: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik (wie Anm. 6) 309–314, 311. 17 Vgl. Tone Ferenc, Politične in državljanske kategorije prebivalstva na Štajerskem pod nemško okupacijo, in: Prispevki za zgodovino delavskega gibanja 1 (1960) 2, 69–124; Karner, Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 2) 134–135; Aleksander Žižek, Kratek oris strukture in delovanje štajerske domovinske zveze na Celjskem v letih 1941 do 1945, in: Celjski Zbornik, Celje 1993, 199–274; Milan Ževart, Okupacija in državljanstvo na Štajerskem in v Prekmurju 1941–1945, in: Slovenci in država. Zbornik prispevkov z znanstvenega posveta na Slovenski akademiji znanosti in umetnosti, Ljubljana 1995, 225–233. 18 Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit (wie Anm. 15) 312. 19 Diese Einteilung ist nicht zu verwechseln mit der „rassischen“ Einteilung der Bevölkerung, die ebenfalls vier Klassen kannte und die auch auf die „Deutschen“ angewandt wurde. Allerdings hatte diese „rassische“ Markierung einen Einfluss auf die Erteilung einer Mitgliedschaft beim SHB: Die Angehörigen der Klasse IV („rassisch minderwertige Personen und Familien“) wurden in der Regel zu „Schutz­angehörigen“. Vgl. hierzu insbes.: Ferenc, Viri o rasnih pregledih Slovencev (wie Anm. 9) 231–244; Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland [Rösener] über die endgültige Erfassung der Schutzangehörigen in den besetzten Gebieten [Juli und August 1943], ed. in: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik (wie Anm. 6) 619–623, 620. 20 Ferenc, Politične in državljanske kategorije prebivalstva (wie Anm. 16) 69–124. – „Bei der augenblick-

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1. Deutsche Staatsbürger 2. Staatsbürger auf Widerruf 3. „Schutzangehörige des Deutschen Reiches“21 4. Ausländer, Staatenlose Als Deutsche StaatsbürgerInnen ohne jegliche Vorbehalte wurden die ehemaligen Mitglieder des aufgelösten und in den SHB überführten Schwäbisch-deutschen Kulturbundes, die Mitglieder der Auslandsorganisationen der NSDAP sowie die aus „beruflichen“ Gründen in diese Region versetzten „Reichsdeutschen“ klassifiziert.22 Staatsangehörige auf Widerruf – die „heimattreue“ gemischtsprachige Bevölkerung, die die „rassisch, politisch und kulturell erwünschten Bewohner der befreiten Gebiete“ umfasste – wurden „einem längeren Bewährungsverfahren“ unterzogen. Die Bewährungszeit betrug nach Verordnung höchstens zehn Jahre, die Endgültigkeit der Staatszugehörigkeit konnte aber schon früher festgelegt werden.23 Verringerte Bürgerrechte und die Abhängigkeit von der Zustimmung des SHB, der als Mittler zwischen ihnen und dem Chef der Zivilverwaltung diente, zu bestimmten Entscheidungen (Beispiel: im Falle eines Studiums war eine Unbedenklichkeitsbescheinigung des Chefs der Zivilverwaltung beizubringen; jene galt immer nur für ein Semester und war jederzeit widerrufbar24) waren ebenfalls Teil dieser Konstruktion. Und natürlich bestand jederzeit die Gefahr, zum „Schutzangehörigen“ degradiert zu werden. Einen Sonderfall stellten die Geistlichen dar. Zunächst als „Schutzangehörige“ eingeteilt,

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lichen letzten Bewertung spielte der politische Gesichtspunkt kaum noch eine Rolle, entscheidend war die rassische Wertung [...].“ Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland (wie Anm. 19) 619. Unklar ist die Verwendung des Begriffs „Schutzangehöriger“ in den besetzten Gebieten offenbar auch den Vertretern des NS-Systems: „Der Begriff Schutzangehöriger gilt nur für die Untersteiermark“. Diese Feststellung findet sich in: Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland (wie Anm. 19) 623. In den besetzten Gebieten Kärntens und Krains (Slovenska koroška, Gorenjska) wurde die Kategorisierung an die „Deutsche Volksliste“ aus den besetzten westpolnischen und ukrainischen Gebieten (Wartheland, Danzig, Ostpreußen u.a.) angepasst und ebenso der Ausdruck „Schutzangehöriger“ verwendet, wenn auch in anderem Zusammenhang. Siehe: Bericht der Dienststelle des Beauftragten des Reichskommissars für die Festigung des deutschen Volkstums in den besetzten Gebieten Kärntens und Krains über die Regelung der Staatsangehörigkeit, ed. in: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik (wie Anm. 6), 535–541. Karner, Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 2) 134. Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung über den Erwerb der Staatsangehörigkeit (wie Anm. 16) 313–314. Vermerk des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zur Besprechung über die Regelung des Besuches von deutschen Schulen durch Bewohner der besetzten slowenischen Gebiete, ed. in: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik (wie Anm. 6) 566–570, 569.

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wurde ihnen später die vorläufige Mitgliedschaft im SHB angeboten. Doch laut Kommandeur des Sicherheitsdienstes (SD) und der Sicherheitspolizei (Sipo) vom Juli 1943 machten sehr wenige davon Gebrauch. Der Bischof von Maribor/Marburg soll sogar mitteilen haben lassen, „das [sic] er gar keine Lust habe, um die Mitgliedschaft im St. H. B. [Steirischen Heimatbund] anzusuchen, da er sich als Schutzangehöriger sehr wohl fühle“.25 „Schutzangehörige des Deutschen Reiches“ Die „Schutzangehörigen“ waren noch schlechter gestellt als „Staatsangehörige auf Widerruf“, sie galten als „nicht eindeutschungsfähig“ und daher nicht integrierbar. Vor allem jene, denen aus „rassischen“ Gründen die Mitgliedschaft im SHB verweigert wurde, wurden hierhin zugeteilt, allerdings auch die, deren national-politische oder ideologische Einstellung als nicht angemessen klassifiziert wurde („NationalslowenInnen“ oder auch JugoslawInnen). Dazu kamen zunehmend als „Asoziale“ oder VerbrecherInnen klassifizierte ehemalige StaatsbürgerInnen auf Widerruf und „politisch Belastete“. Da sie keine staatsbürgerlichen Rechte besaßen und den „Nürnberger Rassengesetzen“ unterstanden, waren sie der Willkür der Behörden ausgesetzt. Verboten war ihnen demnach die Verehelichung oder der „außereheliche Verkehr“ mit „Deutschen“. Auf beruflicher Ebene war ihnen die Anstellung im öffentlichen Dienst verwehrt, sie erhielten keinerlei gewerbliche Konzessionen und durften keinerlei Besitz neu erwerben (ihren bisherigen Besitz durften sie jedoch behalten). Auch als VorarbeiterIn oder höherwertigeR ArbeiterIn sollten sie nicht fungieren. Allerdings gab es immer Ausnahmen wie etwa im Fall einer kriegswichtigen Tätigkeit. Die Verlegung des Aufenthaltes war an eine Genehmigung gebunden. Kinder „Schutzangehöriger“ durften nur die Volksschule und allenfalls Berufsschulen besuchen, keine Haupt- oder Hochschulen. Jene, die gerade dort studierten, hatten die Hochschulen sofort zu verlassen; dies galt auch für kirchliche Bildungsanstalten. Ausnahmen galten für „eindeutschungsfähige Kinder“, diese sollten jedoch den Familien entzogen und im Altreich „beschult“ werden.26 Ihre gesellschaftliche Eingliederung war prinzipiell nicht vorgesehen. Damit waren sie laut 25 Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland (wie Anm. 19) 622–623. 26 Aktenvermerk über eine Stabsbesprechung der deutschen Zivilverwaltung in der Untersteiermark, ed. in: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik (wie Anm. 6) 390–391; Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland (wie Anm. 19) 622; Vermerk des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zur Besprechung, ed. in: ebenda, 568–569; Stellungnahme des Reichssicherheitshauptamtes zur Regelung des Besuches von deutschen Schulen durch Bewohner der besetzten slowenischen Gebiete, ed. in: ebenda, 605–606; Brief des „Pg. [Parteigenossen] Dr. Henninger“, Landesarbeitsamt, an den Chef der Zivilverwaltung, Bereich für Arbeitsfragen. AMNOM, Lager Strnišče/Sterntal (wie Anm. 1).

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­ ationalsozialistischer Diktion außerhalb „der Gemeinschaft, in welcher allein menschliches Len ben möglich war“, ohne jedoch das Land verlassen zu dürfen. Erwogen wurde eine Kennzeichnung, diese letztlich jedoch nicht durchgeführt. Dies galt auch für die Massensterilisation, von der „aus technischen Gründen“ während des Krieges abgesehen wurde. Für den Fall der freiwilligen Sterilisation sollte dann allerdings die Aufnahme in den SHB in Aussicht gestellt werden. Soziale Zuteilungen wie Lebensmittel- oder Kleiderkarten erhielten sie sehr wohl, sie waren allerdings von Sonderzuteilungen ausgenommen und standen bei Bezugsscheinen an letzter Stelle.27 Um die zahlenmäßige Verteilung zwischen den vier Klassen der Staatsangehörigkeit zu illustrieren: 1942 wurden etwa 530.000 EinwohnerInnen im engeren Gebiet Untersteiermark erfasst. Davon wurden etwa 5 % als Deutsche Staatsangehörige (rund 27.000 Personen), etwa 78 % als Staatsangehörige auf Widerruf (rund 415.000 Personen) und etwa 15 % als „Schutzangehörige“ (rund 82.000 Personen) kategorisiert. Als AusländerInnen und Staatenlose galten etwa 2 % (rund 9.500 Personen).28 Im Juli 1943, bei der endgültigen Erfassung der „Schutzangehörigen“, wurde das Sinken ihrer Anzahl auf 25.000 gefordert. Erreicht werden sollte dies mit größerem Druck und der Verschärfung aller Maßnahmen gegen diese Gruppe, so dass ein Großteil nach dem Krieg „freiwillig“ die Untersteiermark verlassen (und im „Altreich“ arbeiten) würde. Interessant ist auch, dass die Anzahl der „politisch Belasteten“ im Bericht des SS- und Polizeiführers Alpenland, Erwin Rösener, als relativ gering bezeichnet wurde. Dafür fand der Kommandeur der Sicherheitspolizei eine dem Gedankengut des Nationalsozialismus genau entsprechende Erklärung: „Man nimmt hierbei, wie ein Referent von der Bundesführung des St. H. B. äussert, die Tatsache, dass rassisch Minderwertige in politischer Tätigkeit kaum in Erscheinung treten, da der kämpferische und rebellische Geist wieder nur in rassisch wertvollen Menschen stecke, zum Prinzip.“ 29

Zwar waren „Schutzangehörige“ vom Wehrdienst/Reichsarbeitsdienst formal ausgenommen, als Ersatz wurden sie allerdings zur sogenannten Arbeitssonderdienstpflicht herangezogen: bis 1943 auf Bauernhöfen, dann wurden eigene Lager eingerichtet als ein „Mittelding zwischen einem Arbeits-K.Z. und einem freien Arbeitslager ausländischer Arbeitskräfte im Hinblick auf die Führung“.30 Bekannt wurde besonders das Lager Strnišče/Sterntal (nahe Ptuj/Pettau), das als Lager für „Schutzangehörige“ und gleichzeitig als „Arbeitserziehungslager“ für straffällig gewordene SlowenInnen diente. Sternišče/Sterntal liegt in der heutigen Gemeinde Kidričevo (gegründet erst nach 1945) 27 28 29 30

Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland (wie Anm. 19) 621. Ferenc, Politične in državljanske kategorije (wie Anm. 17) 112. Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland (wie Anm. 19). Zit. nach: ebenda, Anmerkungen Ferenc, 622.

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nahe Ptuj/Pettau, war im Ersten Weltkrieg ein Flüchtlingslager gewesen und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Lager für politische Gefangene weiterverwendet. Hierher kamen neben den „Schutzangehörigen“ auch die Angehörigen von getöteten WiderstandskämpferInnen, nachdem deren Deportation mit Juli 1943 eingestellt worden war.31 Zunehmend wurde das Arbeitslager bei der örtlichen Tonerde-Fabrik zu einem Strafsonderdienstpflichtlager für „Schutzangehörige“, die sich den allgemeinen Regelungen nicht unterwarfen. Träger war hier der Landkreis Ptuj/Pettau, die Lagerleitung unterstand SA-Hauptsturmführer Fritz Munkelt – „normale“ Dienstpflichtlager unterstanden in der Regel dem jeweiligen Bezirksleiter. Der Lohn betrug 0,5 Reichsmark (RM) pro Tag bei „normaler Arbeitsleistung“, wobei aber der Anteil für „Verpflegung“ abgezogen wurde; die Arbeiter waren steuer- und sozialversicherungsabgabepflichtig, und die Zuweisung erfolgte durch das zuständige Arbeitsamt nach Entscheidung des „Beauftragten für Rassefragen“ (im Falle eines „Verbrechens“ war auch die Gestapo zuständig). Die Beendigung der Strafsonderdienstpflicht wurde vom Beauftragten für Arbeitsfragen ausgesprochen, die Dienstpflicht betrug mindestens ein Jahr, konnte aber unbegrenzt verlängert werden. Strnišče/Sterntal war im Vergleich zu einem normalen Arbeitslager jedoch bewacht und es wurden zusätzliche „besondere Maßnahmen für Schutzangehörige ohne Arbeitsdisziplin oder sonstigem Verhalten“ ergriffen. Harte Arbeit und Schikanen für die „Häftlinge“ standen an der Tagesordnung.32 Ab 1944 wurde zusätzlich ein Strafsonderdienstpflichtlager für Frauen hier eingerichtet, die zur landwirtschaftlichen und „zu allen übrigen Arbeiten – auch Bauarbeiten –, die Frauen zu leisten imstande sind“, herangezogen werden sollten.33 Das Sonderdienstpflichtlager Studenci/Brunndorf bei Maribor als weiteres Lager wurde 1944 eingerichtet, hier war der Oberbürgermeister von Maribor/Marburg der Leiter. Lohn und Arbeitsdienst waren gleich strukturiert wie in Strnišče/Sterntal (die Arbeit war zudem arbeitsbuchpflichtig). Das entsprechende Arbeitslager für Frauen war im Christinenhof in Celje/Cilli situiert. Die Schwierigkeiten und Diskrepanzen zwischen Normen der herrschaftlichen Ausübung

31 Bericht des Deutschen Roten Kreuzes über den Transport der ausgesiedelten slowenischen Kinder nach Frohnleiten, Anmerkungen Ferenc, ed. in: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik (wie Anm. 6), 485–486, 485; vgl. auch Lojze Penič, Taborišča v Strnišču, in: Ptujski zbornik, Ptuj 1962, o.S. 32 Vgl. Karner, Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 2) 162; Sonderdienstpflicht der Schutzangehörigen, 5. Durchführungserlass vom Chef der Zivilverwaltung, 7.1.1944. AMNOM, Lager Strnišče/ Sterntal (wie Anm. 1); eine umfassende Untersuchung der Strukturen und Vorgänge in Arbeitserziehungslagern am Beispiel des rheinisch-westfälischen Wehrkreises findet sich bei: Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart–München 2000. 33 Niederschrift über die Ergebnisse der Besprechung bez. Errichtung eines Lagers für weibliche StrafSonderdienstpflicht am 8. August 1944. AMNOM, Lager Strnišče/Sterntal (wie Anm. 1).

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von Gewalt über eine Minderheit und der Praxis dieser Ausübung wurden im Zusammenhang mit dem Wehrdienst oder der Zwangssterilisierung bereits angedeutet und lassen sich durch eine kurze Darstellung der diversen Vorschläge, Berichte und der Korrespondenz zwischen der Lagerleitung von Strnišče/Sterntal, verschiedenen Kreis- und Ortsleitungen sowie der Bundesleitung des SHB noch verdeutlichen:34 – Grundsätzlich bedeutete der Krieg die Installierung eines Provisoriums in der Behandlung von „Schutzangehörigen“. Viele Regelungen sollten erst nach dem Krieg in Kraft treten oder verschärft angewendet werden.35 So oblag es den Kreis- und den Ortsleitungen der agierenden Institutionen sowie den Leitern der Betriebe zu definieren, was „kriegswichtig“ war, und somit einen Ausnahmezustand in der Behandlung dieser Gruppe von Menschen festzulegen. Aufgrund des zunehmenden LandarbeiterInnenmangels erfolgte sogar das Ersuchen des Beauftragten für Ernährung und Landwirtschaft beim Chef der Zivilverwaltung selbst, keine Arbeiter während der Sommermonate zur Sonderdienstpflicht einzuziehen. – Der Kreisführer des SHB Pettau (Ptuj), Fritz Bauer, monierte 1942, dass die vorgenommene „rassische“ Einteilung zu streng und zu wenig nachvollziehbar sei. Etwa würde „zu sehr auf das äussere Erscheinungsbild der betreffenden zu überprüfenden Person Wert gelegt […]. Nach meiner Ansicht hätten nur ganz besonders krasse rassische Fälle herausgegriffen werden sollen.“ Dasselbe gelte für die Klassifizierung von Verbrechern und „Asozialen“, „da ja nach meiner Ansicht der Heimatbund nicht nur eine Auslese der Hochwertigen sein soll, sondern im grossen und ganzen die gesamte untersteirische Bevölkerung zu erfassen hat“. Die „Schutzangehörigen“ hätten darüber hinaus von ihrem Status nur Vorteile, da sie keine Beiträge und sonstige Pflichten leisten müssten und selbst im Sonderdienst auf Bauernhöfen gleich wie alle anderen behandelt würden. Bauer schließt mit einigen Vorschlägen, die darauf hinauslaufen, alle „Schutzangehörigen“ erneut zu überprüfen, die zuletzt als solche Verbliebenen zu sterilisieren und ins „Altreich“ zu verbringen.36 – Es kam zu irrtümlichen Einweisungen von „Staatsangehörigen auf Widerruf“ und damit verbundener nachträglicher Aberkennung der Staatsangehörigkeit zum Zwecke des Verbleibs im Lager.37 34 Die folgende Darstellung – sofern nicht extra durch eine eigene Fußnote anders gekennzeichnet – basiert auf der Analyse der Korrespondenz im Bestand des AMNOM, Lager Strnišče/Sterntal (wie Anm. 1) sowie auf ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik (wie Anm. 6). 35 Vgl. die Relativierungen des Kommandeurs des SD und der Sipo: Bericht des Höheren SS- und Polizeiführers Alpenland (wie Anm. 19). 36 Vorschläge der Kreisführung des Steirischen Heimatbundes Pettau (Ptuj) zur Behandlung von Schutzangehörigen in der Untersteiermark, ed. in: Quellen zur nationalsozialistischen Entnationalisierungspolitik (wie Anm. 6) 542–544. 37 Im konkreten Fall bezieht sich diese Aussage auf das Lager Sterntal/Strnišče, allerdings gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass es sich hierbei um eine verbreitete Vorgangsweise handelte.

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– Denunziationen spielten offenbar eine große Rolle beim Verlust der Staatsbürgerschaft. Einige Berichte der örtlichen SHB-Leitungen weisen darauf hin. – Es gab einige Unklarheiten bei den untergeordneten Instanzen des Heimatbundes über Prozedur und Vorgehensweise bei Lagereinweisungen: So beklagte sich beispielweise der Kreisführer von Trbovlje/Trifail, Heribert Eberhardt, bei der SHB-Bundesführung: „Ich bitte in diesem Zusammenhange überhaupt mir grundsätzlich mitzuteilen, wie es mit der Frage Sterntal, das als politisches K.Z. vom Bundesführer angedacht ist, aussieht. Der gesamte Vorgang der Einweisung nach Sterntal ist derart unklar, [sic] und wird derartig oberflächlich gehandhabt, dass für uns zur Zeit kaum Möglichkeiten bestehen, untragbare Schutzangehörige nach Sterntal einzuweisen.“38 – Durch die Zunahme der Partisanenangriffe, aber auch aufgrund von ArbeiterInnenmangel in den Betrieben erfolgten „präventive“ Einweisungen von als solche verdächtigten „Asozialen“, aber – neben den Verwandten von WiderstandskämpferInnen, wie erwähnt – auch von Angehörigen von Wehrmachtsdeserteuren. – Es gab Vorschläge, die Verweigerung der Sonderdienstpflicht oder die Flucht aus dem Lager als „Fahnenflucht“ zu werten, oder auch Wehrmänner, die „sich nicht bewährt haben“, aber Staatsangehörige auf Widerruf waren und bleiben sollten, für einige Monate einzuweisen.39 – Petitionen von Angehörigen der Lagerinsassen verweisen auf das Unverständnis der Bevölkerung (was auch SHB-Kreisführer Fritz Bauer in seinem oben zitierten Bericht bereits feststellte) gegenüber der Praxis der Einteilung in die Staatsangehörigkeitskategorien bzw. der Einziehung zur Sonderdienstpflicht. Gerade die Doppelfunktion des Lagers Strnišče/ Sterntal als Dienstpflichtlager und Straflager und die unklare Vorgangsweise der Behörden in diesem Fall verstärkten dieses Unverständnis. Beispielsweise wurde einem Tischlermeister aus dem Kreis Ptuj/Pettau (Staatsangehöriger auf Widerruf ), der um die Rückkehr des „durch Gendarmerie entführten“ Sohnes („Schutzangehöriger“) auf das landwirtschaftliche Gut ersuchte, da er gebrechlich sei, vom Kreisamt beschieden, dass jener „nicht zur Verbüssung einer Strafe nach Sterntal gebracht, sondern dort lediglich zur Leistung seiner Dienstverpflichtung als Schutzangehöriger gerufen wurde“.40 – Strafsonderdienstpflicht schien nicht genug: Es existieren Ansuchen der Lagerleitung, unbotmäßige „Schutzangehörige“ in ein Konzentrationslager zu überweisen.

38 Brief vom 23.02.1944. AMNOM, Lager Strnišče/Sterntal (wie Anm. 1). 39 Brief Arbeitsamt Rann an die Anklagebehörde der Untersteiermark, 16.1.1944, ebenda. 40 Korrespondenz zwischen Johann Petek und dem Chef der Zivilverwaltung, April 1943, ebenda.

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III. Zwischen Zivilverwaltung und Reichssicherheit: Die Strafgerichtsbarkeit 41 Ein weiterer Aspekt von Herrschaftspraxis ist die Ausformung eines neuen Rechtssystems. Für die Untersteiermark war von größter Bedeutung, dass kein formalrechtlicher Anschluss an das Deutsche Reich erfolgte, keine Einführung deutschen Rechts insgesamt also. Der Chef der Zivilverwaltung oder dessen Bevollmächtigte führten durch Verordnungen Rechtsvorschriften schrittweise ein. Besonders prominent beteiligt an diesen Vorgängen waren Juristen aus Graz wie Gerhard Amlacher, Walter Swoboda oder Walter Schweiger. In ihren späteren Aussagen bei den jugoslawischen Anklagebehörden verwiesen sie darauf, dass sie das Rechtswesen in der Untersteiermark geordnet, ordentliche Gerichtsbarkeit eingeführt und die Vertretung der DelinquentInnen durch Anwälte und deren Anhörungen erst ermöglicht hätten.42 Wie die Ausformung speziell der Strafgerichtsbarkeit konkret aussah, wird im Folgenden skizziert. Diese Skizze dient als Rahmen für die Darstellung des Umgangs mit dem NS-Rechtssystem am Beispiel eines prominenten Akteurs in der Untersteiermark, Otto Lurker, der schon von seinen ZeitgenossInnen als ein Symbol der Unterdrückung und des NS-Terrors gehandelt wurde. 1. Zivilgerichtsbarkeit: Einige Rechtsbereiche wurden erst nach dem Durchführungserlass vom Chef der Zivilverwaltung im Februar 1942 eingeführt, etwa die Gültigkeit der „Nürnberger Rassengesetze“ oder Gesetze zur Strukturierung des Gerichtswesens. Die Übernahme von Gesetzen und das Ins­ trument der Bevollmächtigung galten als Mittel der Rechtsausübung: Als Bevollmächtigter für Zivilrecht, später Bevollmächtigter für zivile Gerichtsbarkeit, wurde von Uiberreither Gerhard Amlacher eingesetzt: „Die Behörden des Bevollmächtigten für ziviles Rechtswesen bevollmächtigte er, dass sie über den vernünftigen Gebrauch des Rechts entscheiden, das in der Obersteiermark gilt, außer wenn er, der Chef der Zivilverwaltung, über ein spezielles Recht entscheide.“ Mehrere Reformen 1942 und 1943 wurden durchgeführt, aber „[a]lle Verfahren müssen den politischen Zielen entsprechen und dürfen ihnen niemals widersprechen“.43 41 Der folgende Abschnitt über die Gerichtsbarkeit basiert im Wesentlichen auf: Tone Ferenc, Sod­ stvo pod okupacijo 1941–1945, in: Pravo – zgodovina – arhivi. I. Prispevki za zgodovino pravosodja, Ljubljana 2000, 199–232, teilweise auf: Bericht über die Gerichtsbarkeit. AS (Arhiv Republike Slovenije) 353 Javno Tožilstvo LRS [Staatsanwaltschaft der Volksrepublik Slowenien], Faszikel 13. 42 Vgl. dazu beispielsweise die Aussagen von Lurker und Schweiger im Bestand AS 1931 Republiški sekretariat za notranje zadeve SRS [Republikssekretariat für innere Angelegenheiten der Sozialistischen Republik Slowenien], Faszikel 403, Dosje [Dossier] Schweiger sowie Faszikel 422, Dosje Lurker. 43 Ferenc, Sodstvo pod okupacijo (wie Anm. 41) 208 [Hervorhebungen Ferenc].

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2. Strafgerichtsbarkeit An den Beauftragten des Chefs der Sipo und des SD beim Chef der Zivilverwaltung in der Untersteiermark, SS-Standartenführer Otto Lurker, erging im Mai 1941 – noch vor der Durchführung der Neuordnung der Strafgerichtsbarkeit – der Erlass des Reichssicherheitshauptamtes über die „Sonderbehandlung“ von „fremdländischen Verbrechern“: „Grundsätzlich ist es notwendig, die Verbrecher – Gewalttäter, Saboteure und Räuber – für eine Sonderbehandlung vorzuschlagen, wenn die Tat besonders schwer und niederträchtig und die Sonderbehandlung aus sicherheitspolizeilichen Gründen nötig für die Einschüchterung breiter Kreise der Bevölkerung ist. Wenn sich das Verbrechen mit Gewalt oder Sabotageakten oder vergleichbaren Fällen nicht bis zum Ende aufklären und der Täter sich nicht feststellen läßt, kann man auch bis zu 20 Personen als Geiseln für die Sonderbehandlung vorschlagen. […] Die Sonderbehandlung wird prinzipiell im Konzentrationslager durchgeführt, falls sie aber aus Präventionsgründen am Ort selbst durchgeführt wird, ist es nötig, es im Vorschlag gesondert zu verlangen und auch gesondert die Erklärungen anzuführen.“44

Für jede „Sonderbehandlung“ – ein Synonym für Erschießung – musste ein Bericht nach Berlin gesandt und dessen Bestätigung durch das Reichssicherheitshauptamt eingeholt werden. Lurker übernahm zusätzlich zur Leitung von Gestapo, Kriminalpolizei, SD und Umsiedlungsstab auf Weisung Uiberreithers noch die Einrichtung einer Strafabteilung (Leitung: Walter Machule, später Karl Swoboda). Diese Strafabteilung war zuständig für unpolitische Strafangelegenheiten größeren Ausmaßes (Tatbestände mit Strafen ab sechs Wochen Kerker, über 1.000 RM); es gab genaue Anordnungen über die Strafprozesse und deren Ausführung. Für kleinere Vergehen waren die Politischen Kommissare in den Bezirken bzw. der Polizeidirektor in Maribor/Marburg zuständig. Die Exekution der Strafen oblag den jeweiligen Bezirksgendarmerieleitungen, in den Landeshaftanstalten Maribor/Marburg und Celje/Cilli allerdings der Strafabteilung. Politische Vergehen Haftstrafen wurden in verschiedenen Kategorien ausgesprochen: Kriminaldelikte, Bruch der Kriegsgesetze und politische Delikte. Letztere waren am häufigsten vertreten. Als politische Delikte galten „Deutschfeindlichkeit“, Sabotage oder aktive und passive Unterstützung des Widerstands. Unter dem Titel „Deutschfeindlichkeit“ wurden häufig Auszuweisende, An44 Zit. nach: ebenda, 202.

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gehörige der WiderstandskämpferInnen, Juden und Jüdinnen sowie als national-slowenisch bezeichnete Intellektuelle und Wirtschaftstreibende verhaftet, wenn sie nicht ohnehin vorher ausgewiesen worden waren.45 Für die „gerichtliche“ Verhandlung dieser politischen Vergehen war ein anderes Prozedere vorgesehen als für andere strafrechtlich relevante Taten: 1941 wurde die Gestapo als dafür zuständig erklärt. Ein Gestapobeamter führte das Verhör (auch „verschärftes Verhör“) durch und erbrachte den Vorschlag der Strafe: „Schutzhaft“ oder Todesstrafe. Letztere durfte nur der Kommandant des SD und Sipo selbst bestätigen oder ändern; der Chef der Zivilverwaltung behielt sich allerdings das Recht auf Begnadigung vor. Die Todesstrafe wurde meist sofort ausgeführt, die Namen der Exekutierten auf „Warnplakaten“ veröffentlicht. Ab 1942 durfte auch der Bevollmächtigte des Kommandanten des SD und der Sipo die Todesstrafe aussprechen, allerdings hatte er zwei Beisitzer hinzuzuziehen. Nach wie vor musste das Todesurteil vom Kommandanten selbst unterschrieben werden. Bei geringen Strafvergehen war das Verhör verzichtbar, der Angeklagte hatte jedoch das Recht auf Aussage und Vertretung durch einen Anwalt. Unterschiede existierten für deutsche Staatsbürger: In einigen Bereichen lag hier die Zuständigkeit beim Landesgericht in Graz, in einigen Fällen im Zuständigkeitsbereich des Chefs der Zivilverwaltung. Als zusätzliche Berater wurden die Politischen Kommissare herangezogen. 1943 wurde die Einführung eines eigenen Strafgerichtshofes im Zuge einer Neuordnung der Gerichtsbarkeit und der Zuständigkeiten insgesamt beschlossen: neue Zivilgerichte, die auch die Strafgerichtsbarkeit übernehmen sollten, wurden installiert. Drei Organe auf Grundlage der neuen Rechtsform wurden eingerichtet: ‚‚ Einzelrichter für Strafen bis zu fünf Jahren, Geldstrafen oder Beschlagnahmung ‚‚ eine Behörde zur Einreichung von Rechtsmitteln gegen deren Urteile ‚‚ eine Strafkammer in Maribor mit drei Richtern ohne Einspruchsrecht 1944 schließlich wurde nach längeren Überlegungen die Einrichtung eines Sondergerichts für politische Vergehen in Maribor initiiert. Dieses war dem Chef der Zivilverwaltung unterstellt. Drei Richter saßen vor, die Anklage wurde durch den Kommandanten des SD und der Sipo oder seinen Bevollmächtigten vertreten.46 Es gab kein Rechtsmittel gegen die richterlichen Entscheidungen. Als Vorsitzender fungierte Armin Gubo aus Graz. Dieser Sondergerichtshof

45 Dieser Abschnitt folgt vor allem den Darstellungen von Damijan Guštin, Prebivalstvo Slovenije v okupatorjih zaporih: vloga zaporov v okupacijski politiki, phil. Diss. Ljubljana 1998, 172–180 [publiziert als: Za zapahi. Prebivalstvo Slovenije v okupatorjevih zaporih 1941–1945, Ljubljana 2006]. 46 Nach Walter Schweigers Aussage waren die Richter aus dem Kreis der Partei oder aus der Wehrmacht, die Anklage wurde von der Gestapo vertreten. Vgl. Dosje Schweiger, Lebenslauf (wie Anm. 42).

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arbeitete von Dezember 1944 bis Februar oder März 1945 (etwa 30 bis 40 Verhandlungen sind belegbar; nach Zeugenaussagen könnten es allerdings mehr sein). Die zum Tode Verurteilten wurden alle in Graz enthauptet. In Ermangelung von Gerichtsakten ist hier eine Zeugenaussage des Arztes Milko Bedjanič, der wegen ärztlicher Hilfeleistung für PartisanInnen angeklagt war, als mögliche, wenn auch keineswegs erschöpfende Beschreibung aufgeführt: „Die meisten Häftlinge kamen nicht an dieses Gericht. Vor dieses Gericht kamen nur schwerere und sensationellere Verdächtige, ich habe damals nicht gehört, dass jemand außerhalb dieses Gerichts zum Tod verurteilt wurde. Als einziges ist mir das bekannt, dass Anfang April 1945 ungefähr 25 politische Verdächtige aus der Strafanstalt, die erst gewartet hatten auf die Verhandlung vor dem Sonder-Gericht, erschossen wurden. Erschossen wurden sie irgendwo in Radvanje. […].“47

Als Zusammenfassung der Strukturen der Gerichtsbarkeit kann eine Passage in der Aussage des Juristen Walter Schweiger dienen: „Die Untersteiermark war von Anfang an ein Versuchsfeld des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin, um die Justiz neu zu organisieren.“ Besonders die Staatsanwaltschaft sollte ganz in die Polizei überführt und Himmler unterstellt werden. „Jedoch wurden meines Wissens erstmalig im Reichsgebiet Mitglieder des SD und der Exekutive als Beisitzer und Ankläger im Strafverfahren bei kriminellen Handlungen verwendet.“48 3. Otto Lurker als Beispiel für den Handlungsspielraum von NS-Akteuren in einem ­besetzten Gebiet „Otto Lurker, a Robespierre who had tasted blood, continued to further the cause of German culture by signing death sentences on wholesale scale.“49 Diese Nachricht findet sich in einem Bericht des Daily Telegraph, der sich 1944 der Vorgangsweise der Nationalsozialisten in der Untersteiermark widmete. Lurker wurde bereits von einem Zeitgenossen (der nicht zugleich auch Mitwisser, Mittäter oder Opfer war wie jene Zeugen, die unten zitiert werden) als Symbol des nationalsozialistischen Terrors wahrgenommen. 47 Beilage 10 K ŠZ-330, Protokoll zusammengestellt am 5.9.1945 bei der Komisija pri predsedstvu SNOS za ugotavljanje zločinov okupatorjev in njegovih pomagačev (Kuzop) [Kommission beim Vorsitzenden SNOS für die Feststellung der Verbrechen der Okkupatoren und ihrer Helfer]. AS 220 Kuzop, Faszikel 2. 48 Dosje Schweiger, Lebenslauf (wie Anm. 42). 49 Noel Panter, Hitler’s Extermination Machine at Full Blast in Slovenia. Mass Murder as an Aid to “Germanising“ a People, in: Daily Telegraph 30.8.1944. (Beilage in AS 220 Kuzop, Faszikel 2). Dieser Bericht hebt zudem die Mittäterschaft anderer Juristen wie Schweiger, Swoboda und Machule hervor.

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Der bereits mehrfach erwähnte Otto Lurker ist ein bedeutender Akteur in Hinblick auf die durchgeführten Deportationen, den Umgang mit der Bevölkerung und mit dem Rechtssystem, das zwischen der Übernahme von Regelungen des Deutschen Reiches, speziellen Einrichtungen im angegliederten Gebiet, der Aktion und Reaktion gegen/auf den Widerstand und grundsätzlich zwischen Reichssicherheit und Zivilverwaltung viele gravierende Unklarheiten schuf. Diese Unschärfen und Unklarheiten verschafften gerade dem Chef der Sicherheitspolizei einen bedeutenden Handlungsspielraum, den Lurker auch nützte. Otto Lurker wurde 1896 in Griesheim bei Offenburg (heutiges Baden-Württemberg) geboren.50 Bäuerlicher Herkunft war er zunächst nach eigenen Angaben eher der Sozialdemokratie zugeneigt. Ein Schlüsselerlebnis dürfte die Begegnung mit Hitler in Landsberg gewesen sein, als er dort Aufseher war; darüber veröffentlichte er 1933 das Buch: „Hitler hinter Festungsmauern. Ein Bild aus trüben Tagen“. Jedenfalls trat er 1929 der NSDAP bei und 1930 der SS. Obwohl kein ausgebildeter Jurist, war er als politischer Organisator ausgezeichnet, brachte es zu mehreren Leitungsfunktionen in verschiedenen Sicherheitsdiensten in Deutschland und beteiligte sich am Aufbau des Nachrichtendienstes in Jugoslawien vor 1941. In Graz baute er den SD mit auf und blieb während seiner Tätigkeit in Maribor/Marburg dessen Leiter (und zusätzlich Stadtrat von Graz). Ab 1943 war er Kommandant des SS-Sonderkommandos „Haus Elbe“ (Bewachung des Königs Leopold von Belgien). Im Mai 1945 von US-Amerikanern verhaftet, wurde er 1948 an die jugoslawischen Behörden ausgeliefert und 1949 nach seinem Prozess hingerichtet. Im Folgenden werden drei Perspektiven auf die Ereignisse während des Einsatzes Lurkers im Gebiet Untersteiermark kurz erörtert: die der Anklagebehörde, die Verteidigung des Herrschaftsträgers selbst und die Zeugenaussagen von Beteiligten und Opfern. Die Anklagebehörde in Jugoslawien machte Lurker für folgende Verbrechen namentlich verantwortlich:51 ‚‚ Vorbereitung des Überfalls auf Jugoslawien ‚‚ 980 Morde ‚‚ alle während seiner Amtszeit gefällten Todesurteile ‚‚ alle Vorgänge im „Konzentrationslager“ Borl (bei Ptuj/Pettau), das ihm über seinen Stellvertreter Machule untergeordnet war ‚‚ Aussiedlungen und Deportationen ‚‚ Beschlagnahme des Besitzes der Ausgesiedelten und Getöteten ‚‚ Massengefangennahmen, gewaltsame „Umvolkung“ ‚‚ Brandlegung, Vernichtung und Plünderung von öffentlichem und privatem Eigentum ‚‚ unmenschlicher Umgang mit Kriegsgefangenen 50 Daten aus der Personalakte und aus dem Lebenslauf, in: Dosje Lurker (wie Anm. 42). 51 Ebenda.

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In seiner Aussage in Ljubljana betonte Lurker sein Pflichtbewusstsein und seine Loyalität zum „Vaterland“. Bei der Rechtfertigung seiner Taten verfolgte er im Wesentlichen zwei Strategien. Zum einen schob er die Verantwortung für die Anordnung der Befehle auf das Reichssicherheitshauptamt, den Chef der Zivilverwaltung oder auf Polizeigeneral Erwin Rösener, mit dem er einen Machtkonflikt ausgetragen hatte, ab. Zum anderen gestand er seine Beteiligung an Strafmaßnahmen zwar ein, berief sich aber auf das geltende Recht bzw. betonte, dass er (und hier folgte er auch den Aussagen von Schweiger und anderen) in diesem Gebiet für die Ordnung des Rechts und Rechtssystems überhaupt erst gesorgt hätte. Alle Verhandlungen wären nach geltenden Regeln durchgeführt worden. Explizit übernähme er „für die Durchführung dieser Erschießungen die volle Verantwortung. Ich werde wohl der einzige Kommandeur der Sicherheitspolizei sein, der im besetzten Gebiet zur Mitarbeit in staatspolitischen Belangen Fachjuristen von ordentlichen Gerichten aus dem Reich zur Mitarbeit heranzog. Sie hatten von mir nachweisbar die Weisung, nicht nach Vergeltung, sondern nach der tatsächlichen Schuld nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen ihre Arbeit auszurichten.“ 52

Dem gegenüber stehen Zeugenaussagen, die die überzogene Ausnützung des Handlungsspielraums durch Lurker thematisieren und seiner Verteidigungsstrategie damit widersprechen.53 – In allen vorliegenden Zeugenaussagen von Mitarbeitern und Opfern wird immer wieder deutlich, dass Todesurteile wegen sehr geringfügiger Zuwiderhandlungen ausgesprochen wurden. Um auf die von ihm selbst festgelegte Anzahl an Erschießungen zu kommen, verfügte Lurker darüber hinaus auch, „aus den vorhandenen Häftlingen eben Todeskandidaten zu machen“.54 – Um die Geiselerschießungen zu rechtfertigen, wurde auf Verlangen Uiberreithers ein „Standgericht“ gebildet, welches Lurker beschleunigte: „Das ganze Standgericht war nur eine Farce. […] Die ganze Formalität dauerte pro Häftling kaum einige Minuten.“ Die Genehmigung der „Terrorakte“ beim Chef der Zivilverwaltung wurde ebenso lose gehandhabt: Es „kann geschlossen werden, dass Uiberreither vor Durchführung der Terror­ erschießungen stets als letzter gefragt wurde“.55 Zudem gab es Willkürakte gegenüber den Entscheidungen der Sachbearbeiter der einzelnen Fälle. Lurker hätte (nach Aussage des Juristen Walter Schweiger56) „manchmal den Akt oder die betreffende Verfügung zerrissen 52 Lebenslauf Lurker, 14.2.1948, in: ebenda. 53 Basis dieser Darstellungen sind die Bestände in AS 220 (Kuzop), Faszikel 2 (wie Anm. 47) sowie Dosje Schweiger (wie Anm. 42) und Dosje Lurker (wie Anm. 42). 54 Aussage Georg Kramhöller, 7.5.1947, in: Dosje Lurker (wie Anm. 42). 55 Alle Zitate aus: Dosje Schweiger (Vogt-Wiegele-Aussage) (wie Anm. 42) sowie Dosje Lurker (wie Anm. 42). 56 Walter Schweiger wird in den Akten der aktiven Mittäterschaft beschuldigt. Viele Vorgänge, die unter

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und in den Papierkorb geworfen. Dies hatte zur Folge, dass der Beschuldigte entweder in ein Konzentrations- oder Anhaltelager kam […]. Diese Art der Urteilsfällung war ungesetzlich und widersprach allen Regeln der allgemeinen Rechtspflege.“57 Dies alles ging offenbar so weit, dass es Bestrebungen gab, die Strafsondergerichtsbarkeit aus den Händen des Chefs der Zivilverwaltung zu nehmen; das scheiterte jedoch am Widerstand Uiber­ reithers.58 – Lurker (wie Schweiger) hätten gemeinsam Interventionen für Häftlinge abgelehnt. „Dabei stellte ich auch fest, dass Lurker und Schweiger auf das Äußere viel Wert legten und einen Häftling, wenn er ihnen nicht rasisch [sic] einwandfrei oder recht vorkam, zum Tode verurteilt haben.“59 – Weitere Zeugenaussagen beschreiben Lurker als einen Sadisten, der sich bei den Erschießungen fotografieren und selbst Frauen exekutieren ließ, was unter seinen Nachfolgern nicht mehr vorgekommen wäre.60 Zudem galt er als besonders gewalttätig und unnachgiebig. So gab es eine Zelle im Gefängnis von Celje/Cilli, die „nur dann gebraucht wurde, wenn Kommandant Lurker kam“. Diese Zelle wäre geschlossen gewesen, „weil es nicht offiziell war, dass es Folterung im Gefängnis gab“.61 – Lurker selbst gab zu: „Die ganze meine Tätigkeit in der Untersteiermark führte ich aus eigener Iniziative [sic] durch“ und für „die vorgekommenen verschärften Vernehmungen bin ich verantwortlich und habe sie zum Zwecke der weiteren Entdeckung der OF erlaubt. Ich genehmigte jeden Vorschlag, der zur Schädigung der Widerstandsbewegung führte.“62

IV. Resümee Ziel dieser Abhandlung war die Darstellung einiger Aspekte der Thematik „Herrschaftspraxis in der Steiermark“ im angegliederten Gebiet Untersteiermark. Hervorgehoben wurde, dass sowohl die einander häufig aufhebenden Regelungen und Verordnungen durch die Zentralmacht wie durch untergeordnete Behörden, insbesondere des Chefs der Zivilverwaltung – im Lurkers Namen ausgeführt wurden, gestaltete er aktiv mit. Vgl. Dosje Schweiger (wie Anm. 42) sowie Dosje Lurker (wie Anm. 42). 57 Dosje Schweiger (Vogt-Wiegele-Aussage) (wie Anm. 42) sowie Dosje Lurker (wie Anm. 42). 58 Ebenda. 59 Ebenda, Zeuge Wiegele über Dr. Schweiger. 60 Z. B. Aussage Georg Kramhöller, 7.5.1947 (wie Anm. 54). 61 Beilage 9 ŠZ-330 – Expositur Celje, Zeuge Franc Kresnik, Dolmetscher im Dienst der Gestapo. AS 220 Kuzop, Faszikel 2 (wie Anm. 47). 62 Vernehmungsniederschrift 067418-25, in: Dosje Lurker (wie Anm. 42).

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Zeichen sowohl des Krieges wie auch des zunehmenden Widerstandes in der Bevölkerung –, und auch die widersprüchliche und teilweise von den untergeordneten Instanzen selbst undurchschaubare Praxis einerseits zur weiteren Einschüchterung und Verunsicherung der Bevölkerung, andererseits zu einem unklaren Handlungsspielraum für Einzelne führte. In Zusammenhang mit den brutal durchgeführten Deportationen, der Erschießung von Geiseln und Familienangehörigen von WiderstandskämpferInnen und den gewaltsamen Maßnahmen zur Germanisierung wurde somit Gewalt und Unterdrückung zu einem integralen Bestandteil des Alltags im besetzten Gebiet. Die ursprüngliche Absicht der Nationalsozialisten, den Großteil der SlowenInnen der Untersteiermark, soweit sie in ihrem System Platz fanden, zu integrieren (Staatsangehörigkeit auf Widerruf als Übergangsinstrument), wurde damit konterkariert. Die Behandlung der Gruppe der „Schutzangehörigen“, einer speziellen Kategorie der Staatsangehörigkeit, einer Minderheit, die ihren Alltag zwischen rechtlicher Willkür und der Gefahr der Einweisung in Straflager oder sogar Konzentrationslager fristete, wie auch die Stellung der (vor allem Grazer) Juristen bzw. der Handlungsspielräume der Akteure innerhalb des Rechtssystem würden noch weitere eingehende Analysen erfordern. Eine Sammelbiographie der tätigen Juristen wäre ein guter Ansatz, der Vergleich mit anderen besetzten Gebieten gerade auch in diesem Punkt sehr aufschlussreich. Ebenso verdienten die „Schutzangehörigen“ noch weitere Aufmerksamkeit, insbesondere auch ihr Schicksal nach 1945. Besonders interessant wären zudem Gerichtsaktenbestände zur Entwicklung des Sondergerichts für politische Vergehen, Akten, die bisher offenbar nicht auffindbar waren. Wenig Aufmerksamkeit wurde in der vorliegenden Abhandlung den WiderstandskämpferInnen und den politisch Verfolgten zuteil, allerdings gibt es hierzu bereits zahlreiche Annäherungen, dasselbe gilt für die Deportierten.63 Auch die Struktur und der Alltag in Strafanstalten und Gefängnissen wurden umfassend erforscht.64 Generell wird in den letzten Jahren der Opfergeschichte als Gesamtaufriss – also auch den Opfern, die aus nicht-kommunistischen Kontexten stammen – mehr Raum gegeben; vieles wird deutlicher im Kontext des Krieges (als in jenem des revolutionären Umbruches) neu beleuchtet. Aufgrund der ideologischen Konfliktlinien nach 1945 bleibt die Frage der Kollaboration zwischen Nationalsozialis63 Z. B. Milica Ostrovška, Kljub vsemu odpor, 3 Bände, Maribor 1963–1968; Metod Mikuž, Pregled zgodovine NOB v Sloveniji, 6 Bände, Ljubljana 1960–1973; Stana Gerk/Ivka Križnar/Štefanija RavnikarPodbevšek (Hrsg.), Slovenke v narodnoosvobodilnem boju. Zbornik dokumentov, člankov in spominov, 3 Bände, Ljubljana 1970; Überblick: Marija Oblak-Čarni, Arhivsko gradivo narodnoosvobodilnega boja 1941–1945 in njegova strokovna obdelava, in: PNZ 37 (1997) 2, 283–289; Milan Ževart, Narodnoombrambno in revolucionarno gibanje v ptujskem okroju med vojnama. NOB na Slovenskem Štajerskem 1941–1945, Maribor 1983. 64 Vor allem Guštin, Za zapahi: prebivalstvo Slovenije v okupatorjevih zaporih (wie Anm. 45).

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tInnen und SlowenInnen eine heftig debattierte.65 Die jüdische Minderheit Sloweniens war vor allem in Prekmurje angesiedelt und wurde darum hier ausgeklammert, eine umfassende Aufarbeitung dieser Thematik wurde zudem in letzter Zeit in Angriff genommen. Eine schwierige Frage ist und bleibt die Beziehung zwischen der deutschsprachigen und der slowenischsprachigen Bevölkerung in diesem Raum – ein Symptom dafür ist der schwierige Umgang mit den Ortsbezeichnungen, die Thema jeder Diskussion über die Slowenische Steiermark/Untersteiermark ist. Es gibt inzwischen sehr viele differenzierte Abhandlungen zu dieser Beziehung auf allen Ebenen, auch über die Phase der NS-Herrschaft.66 Pauschale Verurteilungen werden ebenso abgelehnt wie eine generelle Entschuldigung. Bis diese Differenzierung allerdings das kulturelle Gedächtnis beider Gesellschaften prägt, wird wohl noch einige Zeit vergehen.

65 Vgl. etwa: Josef Rausch, Widerstand und Kollaboration in Jugoslawien im Kontext von Jugoslawismus und partikulärem Nationalismus, in: Walter Lukan/Arnold Suppan (Hrsg.), Nationalitäten und Identitäten in Ostmitteleuropa. Festschrift aus Anlaß des 70. Geburtstags von Richard Georg Plaschka (Osthefte Sonderband 12), Wien–Köln–Weimar 1995, 195–219; Boris Mlakar, Oblike kolaboracije med drugo svetovno vojno s posebnim ozirom na dogajanje v večnacionalni Jugoslaviji, in: PNZ 45 (2005) 2, 59–74; derselbe, Slovensko domobranstvo 1943–1945, Ljubljana 2003; insbes. auch die Artikel in: Golob et al., Žrtve vojne in revolucije (wie Anm. 3). 66 Z. B. Stefan Karner, Die deutschsprachige Volksgruppe in Slowenien. Aspekte ihrer Entwicklung 1939–1997, Klagenfurt–Ljubljana–Wien 1998; Božo Repe, Odnos med Slovenci in nemško manjšino v Sloveniji v dinamiki okupacijskega leta 1941, in: PNZ 41 (2001) 2, 237–242; Dušan Nećak (Hrsg.), „Nemci“ na Slovenskem 1941–1955. Izsledki projekta, Ljubljana 2002.

Katholische Kirche und Nationalsozialismus in der Steiermark Forschungsstand und Forschungsdesiderate

Michaela Sohn-Kronthaler

Der folgende Beitrag fasst einerseits den Forschungsstand zur Rolle und Situation der katholischen Kirche während der NS-Herrschaft in der Steiermark zusammen, andererseits zeigt er Forschungsdesiderate und einige besonders klärungsbedürftige thematische Fragen auf. Die ersten grundlegenden Studien zu dieser Thematik begannen gegen Ende der 1970er-Jahre. Inzwischen erschienen zahlreiche Publikationen, vor allem am Institut für Kirchengeschichte (und Kirchliche Zeitgeschichte)1 an der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz, wobei ein besonderes Verdienst dem Kirchenhistoriker Maximilian Liebmann zukommt, der dort 1982 eine eigene Abteilung für Theologiegeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte und damit u. a. den Schwerpunkt der Erforschung des Verhältnisses von Kirchen und Nationalsozialismus in Österreich ins Leben rief. Von Liebmann liegt eine große Anzahl an Darstellungen und Spezialuntersuchungen über die dominierenden Ereignisse jener bedrückenden Ära, speziell auch zu Graz, vor.2 Bereits relativ gut erforscht ist das vielschichtige Verhalten geweihter kirchlicher Amtsträger gegenüber dem Nationalsozialismus. Auf dieses wird schwerpunktmäßig in den ersten drei Kapiteln des Beitrages eingegangen. Besonders hervorzuheben ist neben den Arbeiten

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Das Institut für Kirchengeschichte wurde 1999 in „Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte“ umbenannt. Somit wurden auch die Forschungsschwerpunkte der Abteilung für Theologiegeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte in die Institutsbezeichnung integriert. Aufgrund des UOG 93 wurde die damals als einzige am Institut bestehende Abteilung für Theologiegeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte aufgelassen. Eine sehr informative Zusammenfassung der Forschungsergebnisse bieten folgende Darstellungen: Maximilian Liebmann, Die Zeit Fürstbischof Pawlikowskis, in: Karl Amon/Maximilian Liebmann (Hrsg.), Kirchengeschichte der Steiermark, Graz–Wien–Köln 1993, 309–373; sowie ders., Die Katholische Kirche in turbulenten Zeiten, in: Josef F. Desput (Hrsg.), Kronland-Bundesland-Reichsgau. Die Steiermark von 1918 bis 1945 zwischen Demokratie, Ständestaat und Diktatur. Geschichte der Steiermark, Band 9, Graz (in Druck). Zu Graz 1938–1945 speziell siehe Maximilian Liebmann, Die Katholische Kirche in Graz 1938, in: HJStG 18/19 (1988) 167–201; ders., Die katholische Kirche in der Steiermark und besonders in Graz im Jahre 1945, in: HJStG 25 (1994) 475–526; ders., „Kulturpolitik aus Österreich“. Ein Bericht von Bischof Pawlikowski an die britische Besatzungsmacht vom 10. August 1945, in: Siegfried Beer (Hrsg.), Die „britische Steiermark“ 1945–1955, Graz 1995, 391–400; ders., Kirchlich-katholisches Leben in Graz, in: HJStG 34/35 (2005) 217–254.

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von Liebmann die grundlegende Studie von Oskar Veselsky.3 In Bezug auf die Anerkennung der NS-Machthaber und ihrer Ideologie verhielten sich die steirischen Priester – vor allem in der dominierenden Phase der „Anschluss“-Begeisterung des Jahres 1938 – keineswegs homogen. Unter dem Klerus finden sich enthusiastische Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung, deren Euphorie jedoch schon nach den ersten Monaten der Repressionen und der nachhaltigen Erfahrung der Unterdrückung des kirchlichen Lebens stark abebbte, aber auch nicht wenige, die von der NS-Diktatur wegen ihres nichtsystemkonformen Verhaltens und ihrer politischen Gegnerschaft verfolgt wurden.

I. Bischof Pawlikowski: Ideologiekritisch, aber nicht systemkritisch Steirischer Diözesanbischof jener einschneidenden Epoche war der gebürtige Wiener Dr. Ferdinand Stanislaus Pawlikowski.4 Er war der erste Weihbischof für das Bistum Seckau,5 aber auch der Erste, der nicht aufgrund des alten Privilegs durch den Salzburger Fürsterzbischof, sondern nach Inkrafttreten des kirchlichen Gesetzbuches von 1917 durch den Heiligen Stuhl im Frühjahr 1927 Diözesanbischof wurde. Pawlikowskis über zweieinhalb Jahrzehnte währende Amtszeit (Resignation 1953) war anfänglich geprägt von der innenpolitischen Entwicklung Österreichs in den 1930er-Jahren, überschattet von den dunklen Jahren der NS-Herrschaft und schließlich gezeichnet von den Bemühungen um den Wiederaufbau des kirchlichen Lebens in der Nachkriegszeit. Ab dem Jahr 1933 äußerte sich der steirische Bischof in diversen Hirtenworten kritisch und ablehnend gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie, ohne freilich den Begriff expressis verbis in seinen schriftlichen Äußerungen zu nennen. Unübersehbar war seine ablehnende Haltung hinsichtlich einer Vereinbarkeit von Katholizismus und Nationalsozialismus. Ebenso trug er die gemeinsamen negierenden Stellungnahmen der Österreichischen Bischofskonferenz gegenüber dem Nationalsozialismus mit und war ein überzeugter Anhänger des „Christlichen Ständestaats“.6 3 4

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Oskar Veselsky, Bischof und Klerus unter nationalsozialistischer Herrschaft (Dissertationen der KarlFranzens-Universität Graz 54), Graz 1981. Maximilian Liebmann, Ferdinand Stanislaus Pawlikowski (1877–1956), in: Michaela Kronthaler (Hrsg.), Lebensbilder steirischer Bischöfe (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 29), Graz 2002, 160–164. Eine umfassende Forschungsarbeit zur Persönlichkeit von Pawlikowski, aber auch seiner Amtszeit steht noch aus und wäre wünschenswert. Der Doppelname Graz-Seckau besteht erst seit 1963. Veselsky, Bischof und Klerus (wie Anm. 3) 16–39; Liebmann, Die Zeit Fürstbischof Pawlikowskis (wie Anm. 2) 320.

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Kein Geringerer als Pawlikowski selbst zählte neben dem Salzburger Metropoliten Dr. Sigismund Waitz7 zu den ersten Opfern der Nationalsozialisten – sie waren damals die einzigen Bischöfe, die bereits wenige Stunden nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich schwere demütigende Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Aggression machen mussten und in den ersten Stunden des „Anschluss“-Ereignisses unter Hausarrest gestellt wurden.8 Auf Befehl des späteren steirischen Gauleiters Sigfried Uiberreither, welcher explizit kirchenfeindlich eingestellt war, wurde Pawlikowski am 13. März 1938, „einem Verbrecher gleich behandelt“,9 von einer größeren SA-Abteilung unter Spott und Hohnrufen empathischer nationalsozialistischer Anhänger in das Grazer Gefangenenhaus am Paulustor eingeliefert und als damals einziger kirchlicher Oberhirte im deutschen Sprachraum vom nationalsozialistischem Regime für 24 Stunden inhaftiert. Völlig unerwartet ließ ihn tags darauf Polizeichef Erwin Schulz enthaften und chauffierte ihn persönlich in das Bischofspalais zurück.10 Dass Pawlikowski nach diesen schwerwiegenden negativen Erfahrungen mit dem NS-Regime nur wenige Tage später die fatale „Feierliche Erklärung“11 des österreichischen Episkopats vom 18. März 1938 in Wien trotzdem mitunterzeichnete, mutet heute für viele als kaum nachvollziehbar an. Bekanntlich wurde dieses problematische Dokument eineinhalb Wochen danach als vergrößertes Plakat an zahlreichen Litfaßsäulen angebracht und von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken missbraucht. In diesem im Büro des NS-Beauftragten Bürckel konzipierten episkopalen Aufruf an die Bevölkerung, bei der Volksabstimmung am 10. April 1938 mit Ja für den bereits vollzogenen „Anschluss“ zu stimmen, „anerkannten“ alle österreichischen Bischöfe „aus innerster Überzeugung und mit freiem Willen [sic!] …, dass die nationalsozialistische Bewegung auf dem Gebiet des völkischen und wirtschaftlichen

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Helmut Alexander (Hrsg.), Sigismund Waitz. Seelsorger, Theologe und Kirchenfürst. Innsbruck– Wien 2010. 8 Schon Mitte Februar 1938, als es nach dem folgenschweren Treffen Hitlers mit Bundeskanzler Schuschnigg in Berchtesgaden zu nationalsozialistischen Siegesfeiern in Graz kam, war auch das Bischofspalais davon betroffen. Vor dem Gebäude wurde demonstriert, die Hakenkreuzfahne angebracht und es wurden Fenster eingeschlagen. Liebmann, Graz 1938 (wie Anm. 2) 167–169. 9 So Pawlikowski in seiner Beschwerdeschrift, die an Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart adressiert war und bei der Bischofsversammlung Mitte März 1938 nationalsozialistischen Emissären überreicht wurde. Diese ist ediert bei Liebmann, Graz 1938 (wie Anm. 2) 174–180. 10 Ebd., 169–174; ders., Die Zeit Fürstbischof Pawlikowskis (wie Anm. 2) 323. 11 Maximilian Liebmann, Vom März zum Oktober 1938. Die katholischen Diözesanbischöfe und der Nationalsozialismus in Österreich. Hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der österreichischen Pastoralund Seelsorgeämter, St. Pölten 1988. Sehr ausführlich: Maximilian Liebmann, Theodor Innitzer und der Anschluß. Österreichs Kirche 1988 (Grazer Beiträge zur Theologie-Geschichte und kirchlichen Zeitgeschichte 3), Graz–Köln–Wien 1988, 61–143. Siehe bes. ders., Heil Hitler – Pastoral bedingt. Vom Politischen Katholizismus zum Pastoralkatholizismus, Graz–Wien–Köln 2009, 76–80.

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Aufbaues sowie der Sozial-Politik für das Deutsche Reich und Volk und namentlich für die ärmsten Schichten des Volkes Hervorragendes geleistet hat und leistet“. Dabei betonte der Gesamtepiskopat seine Überzeugung, dass er im Nationalsozialismus eine „Abwehr“ des „alles zerstörenden gottlosen Bolschewismus“ – des damaligen ideologischen Schreckgespenstes der katholischen Kirche – sehen würde. Die „Feierliche Erklärung“ bestand aus zwei weiteren Dokumenten, nämlich einem „Begleitbrief“ mit dem von Wiener Kardinal Theodor Innitzer12 beigefügten, handgeschriebenen „Heil Hitler“ und einem „Vorwort“. Von der Entstehung der beiden letzteren Dokumente wusste Pawlikowski nichts. Die Verlesung der „Feierlichen Erklärung“ am Sonntag, dem 27. März 1938, in den Kirchen Österreichs und somit auch in der Steiermark rief bei Klerus und Volk ein ambivalentes Echo hervor. Sie erzeugte bei einem Teil der KatholikInnen völlige Irritation, Verständnislosigkeit und Enttäuschung. Bei der außerordentlichen Pastoralkonferenz Ende Mai 1938 erläuterte Pawlikowski dem Klerus, dass sich aufgrund der bischöflichen „Erklärung“ ein Teil der Bevölkerung vor den Kopf gestoßen fühlte, einem anderen sie jedoch gelegen kam; „auf viele wirkte sie befremdend“.13 Andererseits gab es im Klerus nicht wenige, welche sich in den Frühjahrsmonaten 1938 als Sympathisanten der Nationalsozialisten besonders starkmachten, was im nachfolgenden Kapitel aufgezeigt werden wird. Der Vatikansender selbst hatte indes diese Fehleinschätzung und fatale Vorgangsweise des österreichischen Episkopats gegenüber dem „Anschluss“ und der anerkennenden Positionierung zur nationalsozialistischen Bewegung schwer verurteilt. In der Retrospektive wird immer wieder die Frage nach den Motiven für die Denkweise bzw. das Verhalten des Seckauer Bischofs in den Märzwochen 1938 wie überhaupt nach der dezidiert fehlenden Systemkritik gestellt. Wie konnte Pawlikowski trotz warnender Stimme vor der Gefahr der NS-Ideologie in den 1930er-Jahren und seiner persönlich erniedrigenden Erfahrungen in den „Anschluss“-Tagen den episkopalen Wahlaufruf eigenhändig mitunterschreiben? Dass zum einen der zeitliche Druck und die schwere Bedrängnis durch die nationalsozialistischen Emissäre die überhastete Entscheidung der „gutgläubigen“ Bischöfe mitbeeinflusste, lässt sich aus einem erklärenden Schreiben Pawlikowskis an Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII., am 11. August 1938 wohl angesichts der Vorhaltungen Roms deutlich herauslesen: „… Wir wurden ja durch die Entsandten des Gauleiters Bürckel förmlich überfallen, so daß wir nicht Zeit und Muße hatten, alle weiteren Folgerungen zu erwägen. Man ließ uns nicht einmal Zeit zu rechtem Überlegen. Ein Fehler war es vielleicht, daß wir uns trotz des ungestümen Drängens nicht einen Tag Bedenkzeit ausbedungen haben.“14 12 Liebmann, Innitzer (wie Anm. 11) 23–25. 13 Kirchliches Verordnungs-Blatt für die Diözese Seckau (= KVBl), Nr. XII, 11.6.1938, 63–66; wiedergegeben auch bei Liebmann, Graz 1938 (wie Anm. 2) 184–201. 14 Zit. nach Veselsky, Bischof und Klerus (wie Anm. 3) 79.

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Dieses Fehlverhalten sah Pawlikowski einige Wochen zuvor noch anders. Damals war er bei der außerordentlichen Pastoralkonferenz Ende Mai 1938 überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Gegenüber dem steirischen Klerus begründete er die gemeinsame episkopale Aktion damit, dass der „größte Teil der Katholiken sowohl in Intelligenzkreisen als auch unter dem einfachen Volke“ den „Anschluss“ „begrüßt“ hätten. Eine konträre Haltung der Bischöfe wäre daher „widersinnig und nutzlos“ gewesen.15 Es seien „alle Umstände gründlich erwogen worden […], die in dieser Lage zu prüfen waren“. In dieser Stellungnahme Pawlikowskis darf die „kirchliche Appeasementpolitik“ hinsichtlich der Anerkennung jedweder Staatsform, die vom primären Interesse der Sicherung der kirchlichen Rechte und des Schutzes der katholischen Religion geleitet war, nicht unterschätzt werden.16 Hinzu kam, dass Österreich von den Nationalsozialisten nach dem „Anschluss“ zum konkordatsfreien Raum erklärt worden war. Eine Rolle spielte das damals vorherrschende unkritische Autoritätsdenken der Oberhirten gegenüber jedweder staatlichen Obrigkeit,17 sodann die fehlende Erfahrung der Kirche mit totalitären Regimen und bei Pawlikowski wie auch bei breiten Bevölkerungsschichten das Faktum, dass ein Zusammenschluss Österreichs mit dem Deutschen Reich – nicht im Sinne eines „Anschlusses“ – sehr wohl positiv beurteilt worden war.18 Neben der völligen Unterschätzung der sich überstürzenden politischen Ereignisse kommt hinzu, dass bei den Bischöfen die „Pastoraldoktrin“19 bzw. der Pastoralkatholizismus überwog, das heißt die Konzentration auf seelsorgliche Belange. Die durch die Nationalsozialisten geschaffene politische Lage wurde von den Bischöfen als „endgültig und irreversibel“ angesehen.20 Pawlikowski selbst bezeichnete in seinem Referat vor der außerordentlichen Pastoralkonferenz die „Angliederung Österreichs“ an Deutschland als „Gottes Fügung“ und als neuen Zeitabschnitt. Der Bischof sagte weiter: „Es ist nicht Aufgabe des Klerus, sich um die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Belange zu kümmern; dessen Aufgabe ist es, Seelsorge auszuüben und Seelen für das ewige Heil zu gewinnen.“21 Die Nationalsozialisten spielten mit dem pastoral ausgerichteten, politisch abstinenten Epis­

15 Zit. in ebd. 78 16 „Für uns Bischöfe war zu prüfen, was zu tun war, um angesichts aller vorangegangenen Ereignisse die Rechte der Kirche und den Schutz der katholischen Religion zu sichern.“ Zit. in ebd. 79. 17 So auch Pawlikowski in seinen Ausführungen vor dem Klerus bei der außerordentlichen Pastoralkonferenz. Liebmann, Graz 1938 (wie Anm. 2) 188. Aufgrund der Quellenlage konnte bislang nicht festgestellt werden, ob Pawlikowski dem sogenannten Führer bei seiner Wahlreise am 3. April in „Graz, der Stadt der Volkserhebung“ seine Aufwartung gemacht hatte. 18 KVBl, Nr. 93, 1933. 19 Liebmann, Heil Hitler (wie Anm. 11) 77–79. 20 Liebmann, Graz 1938 (wie Anm. 2) 180. 21 KVBl, Nr. XII, 11.6.1938, 63.

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kopat, der noch ganz auf einen Modus vivendi zwischen Kirche und Machthabern eingestellt war, in den ersten Monaten nach dem „Anschluss“ ein Doppelspiel: Zum einen gaben sie sich bei den geheimen Verhandlungen22 um die Regelung der kirchlichen Materien als vertrauenswürdig und weniger antichristlich als befürchtet. Wie sehr sich Pawlikowski von den NS-Potentaten einschüchtern ließ und völlig jeder Systemkritik abhold war, zeigt augenscheinlich sein Referat vor der außerordentlichen Pastoralkonferenz im Frühjahr 1938. Zum anderen ergriffen die Nationalsozialisten in jenen Monaten zahlreiche Unterdrückungsmaßnahmen23 hinsichtlich des kirchlichen Lebens, womit sie ihren wahren Charakter im Kirchenkampf offenbarten. Dem Bischof selbst waren keine zwei Monate nach dem „Anschluss“ die Ehrenbürgerrechte der Landeshauptstadt Graz aberkannt worden.24 Spätestens nach dem Abbruch der Geheimverhandlungen zwischen Kirche und Partei/Staat im August 1938 sowie mit den kirchenfeindlichen Ereignissen und Kundgebungen im Oktober wurden Pawlikowski wie auch den übrigen Bischöfen die Augen geöffnet.25 Trotzdem kam es nicht zu einem Widerstand der österreichischen Kirche gegenüber der NS-Herrschaft, sieht man vom Widerstandsverhalten einzelner Kirchenmitglieder ab. Die Oberhirten deponierten die Gravamina in schriftlichen Eingaben und Beschwerden bei den neuen Machthabern, die nur teilweise von Erfolg gekennzeichnet waren.

II. Kleriker: Sympathisanten und Brückenbauer des Nationalsozialismus – Befürworter des „Anschlusses“ Während bereits einige Studien26 sich mit einzelnen Opfern unter dem Klerus, vor allem jenen, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden, auseinandersetzten, erscheint die relativ jün22 Diese wurden vonseiten der katholischen Kirche in Österreich schließlich auf den Druck Roms hin Mitte August 1938 beendet. 23 Siehe Kap. 4 in diesem Beitrag. 24 Liebmann, Graz 1938 (wie Anm. 2) 182–183. 25 Maximilian Liebmann, Von der Dominanz der katholischen Kirche zu freien Kirchen im freien Staat – vom Wiener Kongreß 1815 bis zur Gegenwart, in: Rudolf Leeb/Maximilian Liebmann/Georg Scheibelreiter/Peter Tropper (Hrsg.), Geschichte des Christentums in Österreich. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Wien 2003, 361–456, hier 433. 26 Eine Zusammenfassung wichtiger Beiträge zu den ermordeten steirischen Priestern durch die Nationalsozialisten: Maximilian Liebmann/Michaela Kronthaler (Hrsg.), Bedrängte Kirche – Bedrängt – Verfolgt – Befreit (Grazer Beiträge zur Theologiegeschichte und Kirchlichen Zeitgeschichte 9), Graz u. a. 1995. Eine gedruckte Übersicht mit den Namen der zahlreichen Opfer unter den Klerikern, welche ermordet, inhaftiert oder gauverwiesen wurden, erschien erst kürzlich: Franz Josef Rauch/ Michaela Sohn-Kronthaler/Alois Ruhri (Hrsg.), Memoria. Steirische Priester – Verfolgt durch die NSDiktatur, Graz 2010.

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gere Forschungsarbeit von Magnus Hofmüller beachtenswert, der die Kollaboration steirischer Kleriker mit der nationalsozialistischen Bewegung in den Fokus seiner Untersuchung stellte.27 Beschämend ist die Liste jener steirischen28 Priester, die sich mit der nationalsozialistischen Bewegung in recht unterschiedlichen Nuancierungen arrangierten: Sei es, dass sich Priester bereits vor 1938 als „Brückenbauer“ gaben, in der naiven Überzeugung, „den Nationalsozialismus ‚taufen‘ zu können“,29 und/oder die NS-Ideologie voll und ganz bejahten und darin keinen Widerspruch zur christlichen Lehre sahen. Sei es, dass Priester in den Wochen nach dem „Anschluss“ unter dem Vorzeichen der geänderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen ein Arrangement mit den Nationalsozialisten im Sinne eines religiös-kulturellen „Friedens“ für die Kirche zu treffen suchten. So beteiligte sich eine Gruppe von steirischen Klerikern an der „Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden“, die im August 1938 von den Bischöfen verboten wurde.30 Sei es, dass Priester sich mehr oder weniger öffentlich als Anwärter oder Mitglieder der NSDAP bzw. ihrer angeschlossenen Teilorganisationen bzw. Verbände deklarierten.31 Hofmüller hat in seiner Untersuchung die Profile von 28 Geistlichen herausgearbeitet, die mit dem Nationalsozialismus mehr oder weniger langfristig kollaborierten und in der Presse zwischen 1933 und 1938, vor allem aber zwischen dem 12. März und dem 10. April 1938, ihre „Anschluss“-Euphorie bekundeten. Die Gründe für eine Annährung jener Priester an den Nationalsozialismus, die ohne Diktat von außen oder einer Partei, sondern aus freien Stücken erfolgte, waren vielfältig. Bei den einen lagen sie in der eigenen, mit Krisen behafteten persönlichen Lebenssituation, oft verbunden mit dem Ringen um die priesterliche Berufung. Weiters spielten politische und kirchenstrukturelle Faktoren eine Rolle, wie die Ablehnung des austrofaschistischen Ständestaatssystems 1934–1938 oder die Auflehnung gegen die kirchlichen Vorgesetzten. Manche Priester sahen wohl in der nationalsozialistischen Ideologie einen Bündnispartner im Kampf gegen den Marxismus und atheistischen Liberalismus. Ein weiteres Motiv lag in der pastoralen Erwägung, dass sich die Kirche einer Massenbewegung nicht verschließen dürfe. Andere erhofften einen kirchlichen Neuaufbruch.32

27 Magnus Harald Anton Hofmüller, Steirische Priester befürworten den Nationalsozialismus und den Anschluß an das Deutsche Reich, theol. Diplomarbeit Graz 1997. 28 Gemeint sind damit jene Priester und Ordensleute, welche in der Diözese (Graz-)Seckau ihre Priesterweihe empfangen haben oder der Diözese durch Inkardination (zeitweilig) angehörten. 29 Ebd., 115. 30 Josef Lettl, Die Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden 1938, theol. Diplomarbeit Linz 1981, 62–67. 31 Eine Mitgliedschaft von Priestern entsprach eigentlich nicht dem sogenannten „Heß-Erlaß“ aus dem Jahr 1935, wonach ein Priester, solange er dem Priesterstand angehörte, nicht Parteimitglied sein konnte. Hofmüller, Priester (wie Anm. 27) 8. 32 Ebd., 188–189.

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Im Spektrum des „Brücken-bauenden“ und/oder „Anschluss“-begeisterten und/oder mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Welt- und Ordensklerus sind alle geistlichen Ränge und Berufsgruppen vertreten, hohe Würdenträger genauso wie der niedere Klerus:33 so Titularbischof Alois Hudal, gelehrte Theologieprofessoren wie Johannes Ude, Alois Closs, Johann Fischl und Andreas Posch, führende Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens wie der mit 14. März 1938 enthobene, bei der bäuerlichen Bevölkerung angesehene Direktor des Volksbildungsheimes St. Martin bei Graz, Monsignore Josef Steinberger, die Klostervorsteher Abt Ernest Kortschak von Rein, Abt Benedikt Reetz von Seckau und der Prager Abt Alban Schachleiter, der einst in Seckau studiert und dort die Priesterweihe empfangen hatte. Anzuführen sind weiters Dechanten wie Gustav Minichhofer von Köflach, Stadtpfarrer wie der Grazer Stadtpfarrpropst Franz Seraph Schellauf und Karl Grossauer von Graz-Graben, Landpfarrer wie Franz Klug von Loipersdorf, Franz Mandl von Lebing, Franz Auner von Vordernberg, Kapläne wie jener von Voitsberg Dr. Richard Lebitsch, Franz Xaver Durach aus St. Peter im Sulmtal, der ehemalige Franziskaner und damalige Kaplan aus St. Veit ob Graz Dr. Peter Klug, Johann Wascher von St. Erhard in der Breitenau, Christian Judmaier von Mürzzuschlag, Missar Franz Florian Zeller an der Schloßkapelle Brunnsee bei Mureck, Religionsprofessor Josef Schneiber und Dr. Blasius Reiter vom Bischöflichen Gymnasium und Seminar. Es gab auch Ordensmänner, die zu dieser Gruppe zu rechnen sind, so der ehemals als Redemptorist in der Steiermark wirkende P. Adolf Innerkofler, der Zisterzienserpater Hieronymus Mitterbacher, welcher Missar des Schlosses Hohenbrugg bei Fehring war. Der bekannteste geistliche Brückenbauer war zweifellos der aus Graz stammende, in seiner Geburtsstadt zunächst als Universitätsprofessor für alttestamentliches Bibelstudium wirkende Dr. Alois Hudal, seit 1923 als Rektor des Priesterkollegs S. Maria dell’Anima in Rom leitend tätig (1933 Ernennung zum Titularbischof von Ela).34 Mit seinem im September 1936 veröffentlichten Buch „Die Grundlagen des Nationalsozialismus“ strebte Hudal, der unterstützendes Mitglied der SS war, eine Aussöhnung von Kirche und Nationalsozialismus an. Dem waren im Sommer desselben Jahres Aufsätze in der „Reichspost“ zum deutsch-österreichischen Friedensabkommen vorausgegangen. Auf der Bischofskonferenz im Herbst 1936 konnte sich der österreichische Episkopat trotz Vorliegen des Dringlichkeitsantrags von Erzbischof Waitz zu einer gemeinsamen Stellungnahme zu Hudals berühmt-berüchtigtem Buch nicht durch-

33 Quellen- und Literaturhinweise zu den einzelnen Personen in: ebd. 34 Zu Alois Hudal (1885–1963) siehe die Literaturhinweise bei Martin Lätzel, Hudal, Alois, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon 21 (2003), 687–692; Dominik Burkard, Häresie und Mythus des 20. Jahrhunderts. Rosenbergs nationalsozialistische Weltanschauung vor dem Tribunal der Römischen Inquisition (Römische Inquisition und Indexkongregation 5), Paderborn 2005.

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ringen.35 Ablehnung erfuhren die Positionen Hudals sowohl durch Papst Pius XI. (1922–1939) wie auch durch die katholische Zeitschrift „Der Christliche Ständestaat“. Hudal schaltete sich bei den geheimen Verhandlungen zwischen der österreichischen Kirche und den Nationalsozialisten ab Juli 1938 ein, bis diese am 19. August 1938 endgültig von kirchlicher Seite abgebrochen wurden. Eine unheilvolle Rolle spielte Hudal, „der während der NS-Herrschaft zahlreichen Juden geholfen hatte, sich vor den NS-Schergen zu verstecken und in den Jahren 1943 und 1944 teilweise aufsehenerregende Aktionen zur Wiedererrichtung Österreichs unterstützte“, nach 1945, da er nachweislich Kriegsverbrechern bei ihrer Flucht nach Übersee behilflich war.36 Eklatant ist das Beispiel des aus Allerheiligen im Mürztal stammenden Priesters und später an der Grazer Universität lehrenden Slawisten Dr. Simon Pirchegger,37 eines Bruders des steirischen Landeshauptmanns der Nachkriegsjahre, Anton Pirchegger (1885–1949). Als kritische Reaktion und „Erwiderung“ auf den im Jänner 1933 vom Linzer Bischof Dr. Johannes Maria Gföllner38 veröffentlichten antinationalsozialistischen Hirtenbrief „Über den wahren und falschen Nationalismus“, worin der Oberhirte offenkundig die Unvereinbarkeit der nationalsozialistischen Rassenlehre mit dem Christentum vertrat,39 verfasste Simon Pirchegger eine in einem NSDAP-Verlag erschienene Broschüre mit dem Titel „Hitler und die katholische Kirche“.40 Auf dem Titelblatt seines Buches ließ sich der schon seit 1921 nach der Laisierung bzw. Weiheungültigkeit strebende, zwischenzeitlich immer wieder suspendierte Priester ­Pirchegger zu allem Überdruß auch noch mit priesterlicher Kleidung, römischem Kollar und mit NS-Parteiabzeichen abbilden. Den Gföllner-Hirtenbrief nannte er „eine bedauerliche Verirrung aus dem religiösen auf das rein staatspolitische Gebiet“.41 In den Reihen der sympathisierenden steirischen Priester findet sich auch Pircheggers ehemaliger Lehrer, der bekannte Lebensreformer und Grazer Sozialethiker DDDDr. Johannes Ude.42 Dieser wollte im April 1933 ernsthaft der NSDAP beitreten; ein voll ausformuliertes, 35 Protokoll über die Konferenz der österreichischen Bischöfe am 23. bis 25. November 1936 in Wien. Diözesanarchiv Graz, Bischofskonferenzen. Weiters Liebmann, Innitzer (siehe Anm. 12) 45–51. 36 Gerald Steinacher, Nazis auf der Flucht. Wie Kriegsverbrecher über Italien nach Übersee entkamen, Wien–Innsbruck–München 2008. 37 Zu Simon Pirchegger (1889–1946) siehe Hofmüller, Priester (wie Anm. 27) 100–110. 38 Rudolf Zinnhobler, Gföllner, Johannes Ev. Maria (1867–1941), in: Erwin Gatz (Hrsg.), Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945, Berlin 1983, 245–247. 39 Gföllner betonte darin, es sei „unmöglich, gleichzeitig guter Katholik und wirklicher Nationalsozialist zu sein“. Linzer Diözesanblatt, LXXIX. Jg, 1933, Nr. 1, S. 1–14. 40 Simon Pirchegger, Hitler und die katholische Kirche, Graz 1933. 41 Zit. nach Hofmüller, Priester (wie Anm. 27) 104. 42 Ihm wurde auf Betreiben Pawlikowskis die Professur an der Theologischen Fakultät aberkannt. Er war zwar mit einem Redeverbot belegt worden, hielt sich aber nicht daran. Zu Ude siehe Maximilian

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aber doch nicht abgeschicktes Beitrittsgesuch existiert noch. Seine Autobiographie erhellt die Motive, zu denen u. a. die „Abschaffung der Reglementierung und Bordellierung der Prostitution“ in Hitler-Deutschland zählte, „während unsere ‚christliche‘ und ‚katholische‘ Regierung immer noch das Unzuchtslaster staatlich regelt und so Gelegenheit zu angeblich ‚hygienisch‘ einwandfreier Geschlechtsbefriedigung schafft“, oder die Ablehnung „des ‚politischen Christentums‘, das ist der Mißbrauch des Christentums zu politischen Zwecken“.43 Ude, selbst überzeugter Pazifist, meinte, Hitlers Bestrebungen würden dahin gehen, „dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Frieden den Weg zu bereiten und dadurch die Abrüstung anzubahnen“. Gemeinsamkeiten sah er auch in Hitlers Lebensweise. Dieser lebte – so Udes Ansicht – „alkoholfrei, tabakfrei und vegetarisch“. Die „Ausführungen seines Freundes Pirchegger“ bejahte er „völlig“. Einen Widerspruch zwischen dem nationalsozialistischen Programm als solchem und den Lehren des Christentums bemerkte er nicht. Er berief sich auf die deutschen Bischöfe, die sich mit dem Nationalsozialismus abfanden und „ihre Gläubigen zur Mitarbeit in der nationalsozialistischen Regierung aufmuntern“. Johannes Ude zählte zu jenen Priestern, die im März 1938 als erste in den Tageszeitungen einen Aufruf zur Volksabstimmung am 10. April 1938 veröffentlichten. Er feierte das „vierte, nationalsozialistische Österreich“ und rechnete mit dem „dritten, dem sogenannten, ‚christlichen‘ Österreich“ ab, das „gar manchmal alles andere eher als christlich“ war. Somit gehörte Ude „zu jenem Priesterkreis, welcher zahlenmäßig weder gering noch einflußlos war, der meinte, mit dem NSRegime seien die Chancen für das pastorale Wirken der Kirche wesentlich günstiger geworden. Befreit vom politischen Katholizismus könne sie sich nun frei und uneingeschränkt ihrer eigentlichen Sendung widmen.“44 Die Pogromnacht im November 1938 war für Ude das Damaskuserlebnis schlechthin, das seine Abkehr vom Nationalsozialismus bewirkte. Er protestierte mit einem Brief bei Uiberreither und verurteilte „die banditenartigen, im gesamten Deutschen Reich, wie es scheint, wohl organisierten, in einer einzigen Nacht verübten Überfälle auf die jüdischen Synagogen, auf die jüdischen Zeremonienhallen und auf die jüdischen Geschäfte, die man in Brand geLiebmann, DDDDr. Johann Ude (1874–1965) – Prophet oder Querulant?, in: Karl-Franzens-Universität Graz (Hrsg.), Die Karl-Franzens-Universität (Fünfjahr-Buch 3), Graz 1982, 64–71; ders., Die „Reichskristallnacht“ – Johannes Ude war nicht zu feige, in: Michaela Kronthaler/Rudolf Zinnhobler/ Dieter A. Binder (Hrsg.), Maximilian Liebmann. Kirche in Gesellschaft und Politik. Beiträge zur Geschichte der Kirche in Österreich von der Reformation bis zur Gegenwart. Graz 1999, 307–317. 43 Die Österreichische Bischofskonferenz lehnte im Herbst 1922 die Aufforderung Udes an den Episkopat ab, bei der Regierung die Abschaffung der Reglementierung der Prostitution zu fordern. Protokoll über die Österreichische Bischofskonferenz am 21. und 22. November 1922. Diözesanarchiv Graz, Bischofskonferenzen. 44 Liebmann, Reichskristallnacht (wie Anm. 42) 310.

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steckt, zertrümmert und verunehrt hat. Das ist in meinen Augen kommunistisch-bolschewistisches Vorgehen, das in einem Rechtsstaat niemals in so ungeheurem Ausmaß vorkommen dürfte ... Es ist unmenschlich und entspricht meiner innersten Überzeugung nach in keiner Weise echter deutscher Art, wenn man ... Angehörige der jüdischen Rasse unterschiedslos des Nachts aus den Betten zerrt, sie wie wehrloses Vieh niederschlägt, Familien auseinanderreißt und deren Mitglieder verschleppt.“45 Seine Regimekritik brachte ihm zunächst Schutzhaft ein und wurde mit dem Gauverweis bestraft. Die Gestapo Linz verhaftete ihn im August 1944 wegen „Wehrkraftzersetzung und Feindbegünstigung“. Zu einem Prozess kam es nicht mehr, so dass er im April 1945 aus der Untersuchungshaft in Wels in die Obersteiermark zurückkehren konnte. Pfarrer Franz Mandl aus Lang verwendete als Wahlredner in einer Versammlung in Wildon Anfang April 1938 sogar das Bild von der symbolischen Vermählung mit dem „Bräutigam Adolf Hitler“, der „gegenwärtig geliebteste Mensch, den gegenwärtig die Erde trägt, und Österreich seine[r] getreuen Braut“.46 Der ehemals christlichsoziale Landtagsabgeordnete Monsignore Josef Steinberger anerkannte Hitler „durch Gottes Fügung“ als das „jetzt rechtmäßige Staatsoberhaupt“ und forderte von den Gläubigen ihm gegenüber „Achtung und Liebe, Gehorsam und Treue“.47 Gegen die politischen Deklarationen der „Anschluss“begeisterten Priester nahm erbost Pawlikowski Stellung. Er forderte vom Reichskommissar für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich Joseph Bürckel eine Verfügung, wonach die Geistlichen ihre Erklärungen nicht ohne die Zustimmung des Bischofs publizieren dürften.48 Noch im Mai 1938, als bereits die ersten negativen Erfahrungen mit der NS-Herrschaft gemacht worden waren, verfasste kein Geringerer als Ordinariatskanzler Josef Steiner eine Dankadresse über die „Feierliche Erklärung“.49 Martha Fischer schreibt in ihrer Studie, dass die Steiermark einen „überdurchschnittlich hohen“ Priesteranteil aufwies, der den „Anschluss“ in Pressezuschriften begrüßte.50 Diese Be-

45 Der Protestbrief ist wiedergegeben in: ebd., 312–315, hier 314. 46 Zu Mandl (1891–1938) siehe Hofmüller, Priester (wie Anm. 27) 111–123; die Rede Mandls „Oesterreich will Hochzeit machen“ ist wiedergegeben in: Ebd. 116–121. 47 Ebd., 50. 48 Liebmann, Innitzer (wie Anm. 11) 119–120. 49 Maximilian Liebmann, Kardinal Innitzer und der Anschluss. Kirche und Nationalsozialismus in Österreich (Grazer Beiträge zur Theologiegeschichte und Kirchlichen Zeitgeschichte 1), Graz 1982, 136 u. 157. 50 Martha Fischer, „Mythos oder historische Wirklichkeit?“ Die Haltung der „katholischen Amtskirche“ zum Nationalsozialismus in Österreich 1938–1945 im Spiegel der Forschung, geistesw. Diplomarbeit Wien 1995, 106.

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hauptung ist zu überprüfen. Vergleichsweise hoch war jedenfalls der Anteil jener Priester, welche sich in der „Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden“ engagierten oder mit ihr sympathisierten. Das Bistum (Graz-)Seckau wies im Jahr 1938 einen klerikalen Personalstand von insgesamt 1.106 Geistlichen (708 Weltpriester und 398 Ordenspriester) auf.51 Eine konkrete Zahl „Anschluss“-begeisterter Priester ist noch zu erforschen. Näher untersucht wurden bislang nur die von Hofmüller genannten 28 Geistlichen, die sich in der Presse in jenem Zeitraum äußerten; weiters liegen die Namen jener 31 Priester vor, die in einer Liste52 von Kaplan Johann Wascher dem Grazer Bischöflichen Ordinariat übermittelt wurden und in welcher sie als „positive Mitarbeiter“ der „Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden“ in der Steiermark genannt wurden. Jedoch sind bei letzterer Notiz zumindest einige Namen zu hinterfragen, da manche Personen nicht nur mit einem oder mehreren Fragezeichen versehen wurden, sondern auch solche darunter sind, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Dem bisherigen Forschungsstand zufolge konnten rund 5 % Kleriker namentlich eruiert werden, die sich in Pressezuschriften „Anschluss“-begeistert artikulierten und/oder in der „Arbeitsgemeinschaft für den religiösen Frieden“ mit dem Nationalsozialismus sympathisierten.

III. Wegen ihres politischen Widerstandsverhaltens ­v erfolgte Priester III.1. Ermordete Priester Anlässlich des 100. Geburtstages von Heinrich Dalla Rosa,53 der als einziger steirischer Pfarrer von den Nationalsozialisten im Jänner 1945 in Wien hingerichtet worden war, wurde im November 2009 eine Gedenktafel im Grazer Priesterseminar errichtet. Bei der durch Diözesanbischof Dr. Egon Kapellari am 27. Jänner 2010 erfolgten Segnung dieses Erinnerungs-

51 Personalstand der Säkular- und Regular-Geistlichkeit der Diözese Seckau in Steiermark im Jahr 1938. Abgeschlossen im Jänner 1938, Graz [1938], 720. 52 Hofmüller, Priester (wie Anm. 27) 167–178. Zweifel hinsichtlich der Namen dieser Liste meldet auch Veselsky an. U. a. werden Heinrich Dalla Rosa, der von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, und zwei Pfarrer, die in Schutzhaft genommen wurden, genannt. Veselsky, Bischof und Klerus (wie Anm. 3) 438–439. Bei den 28 Profilen der Geistlichen, die Hofmüller erarbeitet hat, muss weiters berücksichtigt werden, dass einige, wie Abt Schachleiter oder Bischof Hudal, im Jahr 1938 nicht mehr in der Diözese Seckau gewirkt haben. 53 Michaela Kronthaler, Heinrich Dalla Rosa, Pfarrer (1909–1945), in: Jan Mikrut (Hrsg.), Blutzeugen des Glaubens. Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Diözesen: Graz-Seckau, Linz, Wien 2000, 11–23; dies., Heinrich Dalla Rosa, in: Rauch/Sohn-Kronthaler/Ruhri, Memoria (wie Anm. 26) 12–15.

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zeichens, einem sehr zu begrüßenden, jedoch längst fälligen Akt der Memoria für die NSOpfer unter dem Klerus sowie des Dankes und der öffentlichen Anerkennung vonseiten der kirchlichen Obrigkeit für jene Priester, die während der NS-Herrschaft Widerstandsverhalten an den Tag gelegt hatten bzw. politischen Widerstand geleistet haben, wurde erstmals eine Broschüre präsentiert, welche in einer knappen Zusammenschau die Namen von über 120 durch die Nationalsozialisten verfolgten Priestern aus dem Gebiet der heutigen Steiermark dokumentiert.54 Insgesamt wurde während der NS-Herrschaft an sieben Priestern und Ordensmännern, die entweder in der Steiermark geboren worden waren, in der Diözese (Graz-)Seckau gewirkt oder an der Grazer Theologischen Fakultät studiert hatten, das Todesurteil vollstreckt.55 Der Kapfenberger Arbeiterkaplan Franz Eibel war bereits 1934 ein Opfer nationalsozialistischen Terrors geworden.56 Pfarrer Heinrich Dalla Rosa (1909–1945), der von 1930 bis 1935 Alumne des Grazer Priesterseminars war, zählt zu den bekanntesten Opfern unter dem steirischen Klerus. Bischof Pawlikowski nannte den „zu Unrecht und aus Haß“ verurteilten obersteirischen Pfarrer nach Ende des Zweiten Weltkrieges einen „Märtyrer dieser schrecklichen Zeit“, der spätere Wiener Bischofsvikar P. Josef Zeininger (1916–1995), der mit Dalla Rosa die Gefängniszelle teilte und die NS-Gräuel überlebte, bezeichnete ihn als einen „Priester-Märtyrer“.57 Die Verhaftung von Dalla Rosa, der zuletzt (seit 1939) als Pfarrer in St. Georgen am Schwarzenbach, heute St. Georgen bei Obdach, wirkte, erfolgte 1944. Zwei Begebenheiten wurden dem Priester, angeklagt wegen „Wehrkraftzersetzung“, im Prozess vor dem Wiener Landesgericht vorgeworfen: seine „staatsgefährdende Äußerung“, in welcher er „Zweifel an einem guten Ausgange des Krieges“ kundgetan hatte, sowie sein Besuch bei einer hochschwangeren Lehrersgattin, den Dalla Rosa selbst als rein religiöser Natur bezeichnete und wozu er sich als „verantwortlicher Seelsorger verpflichtet gefühlt“ hatte. In diesem Gespräch ersuchte er die Frau u. a., ihr Ehemann „möge seine Arbeit in der Partei aufgeben“. Erneut hätte Dalla Rosa einen „Sieg Deutschlands“ negiert. Die Nationalsozialisten legten dieses Gespräch des Pfarrers hochpolitisch aus. Das Todesurteil wurde an dem erst 35-Jährigen am 24. Jänner 1945 im Wiener Landesgericht mit dem Fallbeil vollstreckt.

54 Rauch/Sohn-Kronthaler/Ruhri, Memoria (wie Anm. 26). 55 Liebmann/Kronthaler, Bedrängte Kirche (wie Anm. 26). 56 Michaela Kronthaler, Franz Eibel, Arbeiterkaplan, Opfer des nationalsozialistischen Bombenterrors (1904–1934), in: Mikrut, Blutzeugen (wie Anm. 53) 25–32. 57 Michaela Sohn-Kronthaler, Steirische Priester – Verfolgt durch die NS-Diktatur, in: Rauch/SohnKronthaler/Ruhri, Memoria (wie Anm. 26) 5–8, hier 5.

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Den beiden Franziskanerpatres DDDr. Kapistran Pieller58 und Dr. Angelus Steinwender59 sowie dem Kärntner Pfarrer Dr. Anton Granig60 wurde deren Unterstützung für die „Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreichs“ zum Verhängnis. Vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, wurden sie drei Wochen vor der Befreiung von der NS-Herrschaft im April 1945 in Stein an der Donau erschossen. Steinwender war gebürtiger Weststeirer und Pfarrer in Graz, seit 1939 Ordensoberer (Provinzial) der Franziskaner in Österreich. Pieller, ein gebürtiger Wiener, war Studentenseelsorger in Graz und hatte wie der Kärntner Pfarrer Granig an der Karl-Franzens-Universität studiert. Der Karmeliterpater Paulus Wörndl61 verbrachte sein Noviziat in Graz. Als erster Pfarrer der Arbeiterpfarre St. Josef in St. Pölten wurde er zu einem beliebten und nachgefragten Seelsorger, der besonders auf die Jugend in Wort und Schrift großen Einfluss ausübte, was die Nationalsozialisten zu verhindern suchten. Bereits von der Gestapo ständig überwacht, wurde er aus fadenscheinigen Gründen – wegen seiner Korrespondenz mit Soldaten – im Sommer 1943 in seinem neuen Wirkungsort an der Karmeliterkirche in Linz verhaftet und 1944 wegen „Hochverrats und Wehrkraftzersetzung“ mit dem Fallbeil in Berlin-Brandenburg hingerichtet. Aus der Erzdiözese Freiburg im Breisgau kam der Priester Dr. Max Josef Metzger.62 Er hatte von 1917 bis 1927 in Graz gelebt und gewirkt, wo er als Generalsekretär des katholischen Kreuzbündnisses in der Abstinenz- und Nüchternheitsbewegung tätig war und eine Zeit lang engstens mit DDDDr. Johannes Ude kooperierte. In seinem ersten Wirkungsjahr in Graz gründete Metzger das „Weltfriedenswerk vom Weißen Kreuz“, woraus die bis heute bestehende geistliche Gemeinschaft „Societas Christi Regis“ (Christkönigs-Institut), seit 1928 in Meitingen bei Augsburg, erwuchs. Er exponierte sich während des Ersten Weltkrieges in der Friedensbewegung, was ihm Roland Freisler, Präsident des nationalsozialistischen Volks58 Thomas Wegleitner, Franziskaner und Nationalsozialismus. Zwei Beispiele bewußter Gegnerschaft zum NS-Regime, theol. Diplomarbeit Wien 1998; ders., P. Angelus Steinwender OFM, Ordenspries­ ter (1896–1945), in: Jan Mikrut (Hrsg.), Blutzeugen des Glaubens. Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Diözesen: Wien, Eisenstadt, St. Pölten, Wien 1999, 247–256. 59 Thomas Wegleitner, P. Kapistran Pieller OFM, Ordenspriester (1891–1945), in: Mikrut, Blutzeugen (wie Anm. 58) 291–293. 60 Peter Tropper, Anton Granig, in: Jan Mikrut (Hrsg.), Blutzeugen des Glaubens. Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Diözesen: Feldkirch, Innsbruck, Gurk, Salzburg, Wien 2000, 143–148; Wilhelm Baum, Granig, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (=BBKL) XXXII (2011) (in Druck). 61 Jan Mikrut, P. August Paulus Wörndl OCD, Pfarrer der Gemeinde St. Josef in St. Pölten und an der Karmelitenkirche in Linz (1894–1944), in: ders., Blutzeugen (wie Anm. 58) 319–332. 62 Michaela Kronthaler, Dr. Max Josef Metzger. Pfarrer, Pionier der Ökumene, Pazifist (1887–1944), in: Mikrut, Blutzeugen (wie Anm. 53) 41–53; Hans Lipp, Max Josef Metzger, Gottesmann, Eiferer, Märtyrer, Kevelaer 2007.

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gerichtshofs, beim Prozess eigens zum Vorwurf machte. Die Una-Sancta-Bewegung, ebenfalls mit ihrem Sitz in Meitingen, entstand aus seinem Ringen um die Gemeinsamkeiten der christlichen Kirchen zu Pfingsten 1939. Ob seiner scharfen Kritik am Nationalsozialismus wurde er 1934 und 1939 verhaftet. Nach einer abermaligen Verhaftung 1943 wegen seiner ökumenischen Friedensaktivitäten wurde der Pazifist und Ökumeniker am 17. April 1944 in Berlin durch Enthauptung hingerichtet. Der 1996 von Papst Johannes Paul II. seliggesprochene Priester Jakob Gapp aus dem Orden der Marianisten wirkte von 1921 bis 1925 zunächst als Erzieher am Marieninstitut in Graz. Nach den Theologischen Studien an der Universität Freiburg in der Schweiz und nach seiner Priesterweihe kam der gebürtige Tiroler 1934 abermals nach Graz, diesmal als Religionsprofessor an die ordenseigene Schule, wo er bis wenige Tage nach dem „Anschluss“ verblieb. Zudem war er Spiritual, Präsident der Vinzenzkonferenz, Leiter der Marianischen Kongregation und Bibliothekar. In beeindruckender Weise wandte er sich den Ärmsten in den sozialen Elendsvierteln der Stadt Graz zu. Aufgrund seiner kompromisslosen, öffentlich bekannten Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus musste er auf Geheiß seiner Ordensleitung Österreich verlassen. Von der Gestapo in Spanien überwacht, wurde er mittels Täuschung nach Frankreich gebracht und dort verhaftet. Gapp wurde zum Tode verurteilt und am 13. August 1943 in Berlin-Plötzensee mit dem Fallbeil hingerichtet.63

III.2. Priester in Konzentrations- und Arbeitslagern Beachtenswert ist die Zahl derjenigen steirischen Geistlichen, die während der NS-Diktatur in ein Konzentrationslager – die meisten von ihnen nach Dachau – deportiert wurden. Unter den vierzehn betroffenen Geistlichen waren sieben Pfarrer, fünf Kapläne und zwei Ordensleute; von ihnen überlebten elf.64 Das erste Opfer war der Weizberger Jugendkaplan Alfred Berchtold (1904–1985). Am 13. Mai 1938 wurde der in Bayrisch-Gmain geborene, ehemalige Salzburger Diözesanpriester von der Gestapo verhaftet. Schon zuvor hatte er Schulverbot erhalten und war seiner Vereinsaufgaben enthoben worden. Berchtold wurde ab Sommer 1938 63 Josef Levit, P. Jakob Gapp, Seliger Ordenspriester, in: Mikrut, Blutzeugen (wie Anm. 58) 73–87. 64 Die nachfolgenden kurzbiographischen Profile sind teilweise auch wiedergegeben in meinem Beitrag: Michaela Sohn-Kronthaler, Steirische Priester in Konzentrations- und Arbeitslagern, in: Rauch/SohnKronthaler/Ruhri, Memoria (wie Anm. 26) 16–19. Siehe weiters Veselsky, Bischof und Klerus (wie Anm. 3) 355–377. Mit dem Schicksal der aus den Konzentrationslagern heimgekehrten Priester befasst sich ausführlich mein Beitrag: Michaela Sohn-Kronthaler, Die katholische Memoria der NS-Opfer nach 1945 am Beispiel der Diözese Graz-Seckau (Drucklegung für die Theologisch-praktische Quartalschrift in Vorbereitung).

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in Dachau, dann in Buchenwald (1939/40) und schließlich wieder in Dachau bis zur Befreiung 1945 festgehalten. Die Predigten des aus Rumänien stammenden Kaplans Josef Hartinger (1910–1963) wurden schon längere Zeit überwacht. Dieser wirkte ab 1942 als Seelsorger in der Untersteiermark und ab Jahresanfang 1943 in Kaindorf bei Hartberg. Aufgrund einer politischen Äußerung in einer seiner Predigten65 wurde er im Sommer 1943 von einer Nationalsozialistin bei der Gestapo denunziert und in Haft gesetzt. Die Deportation nach Dachau erfolgte schließlich im April 1944. Beim Todesmarsch in der Umgebung von Wolfratshausen gelang ihm am 28. April 1945 die Flucht; er hielt sich dann beim Pfarrer in Wolfratshausen und später beim Erzbischof in Bamberg auf. Erst im Oktober 1945 erfolgte die Rückkehr in die Steiermark, wo Hartinger dann als Pfarrer in Hohentauern bis 1952 seinen Seelsorgedienst versah. Danach kehrte er wieder in die Erzdiözese Wien zurück. Einige Priester wurden des „Vergehens“ gegen die „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ beschuldigt, so der aus St. Veit am Vogau gebürtige Kaplan von Feldkirchen bei Graz Johann List (1911–2001). Im Februar 1940 verhaftet, wurde er im Gefangenenhaus Graz-Karlau eingesperrt. Von dort aus erfolgte seine Überstellung in das Konzentrationslager Theinwald im tschechischen Lundenburg sowie in das deutsche Lager Rodgau in Rollwald bei Dieburg in Hessen. „Völlig unvermutet“ kam es dort zur Entlassung. List verbrachte die letzten Kriegsjahre als Kaplan der untersteirischen Pfarre St. Peter bei Marburg (heute Slowenien). Des Rundfunkvergehens ebenso angeklagt wurde Pfarrer Viktor Pichler (1897–1966). Ab Juli 1940 in Haft, wurde der Pfarrer von Lang in verschiedene Arbeitslager deportiert, u. a. nach Aschendorfer Moor bei Papenburg im Emsland und nach Niederöfflingen bei Wittlich. Im Sommer 1943 wurde Pichler zum Wehrdienst einberufen. Da der aus Bayern gebürtige P. Josef Hornauer (1913–1972) gegenüber SchülerInnen auf die christliche Verpflichtung des Gebetes auch für Feinde hingewiesen und die Frage von Kindern, „ob man auch für Chamberlain beten müsse“, bejaht hatte, erhielt er Schulverbot im ganzen Gau. Er war zum damaligen Zeitpunkt Comboni-Missionar vom Herzen Jesu in 65 Erzbischöfliches Archiv Wien, Personenkartei Priester; Personalakten Priester. Die Hinweise zu den Akten im Landesgericht für Strafsachen Graz, Vr 5708/46 hinsichtlich der Denunzierung von Pfarrer Hartinger verdanke ich Dr. Heimo Halbrainer. Wörtlich heißt es dort, dass Pfarrer Hartinger in seiner Predigt „davon sprach, dass der Heiland am liebsten die Armen gehabt hatte. An zweiter Stelle seiner Lieblinge seien die Sünder gestanden, da er auf die Welt gekommen sei, um diese zu erlösen. Christus habe keine verstoßen, sondern allen verziehen, damit sie die Möglichkeit hatten, ein besseres Leben zu führen. Heute, da ist es ganz anders. Da wird jedem, der nur eine Kleinigkeit begeht, alles schwarz angekreidet und er wird zum Tode verurteilt, ehe er überhaupt schuldig ist. Diese Worte schrie er mit lauter Stimme heraus.“ StLA, LGS Graz, Vr 508/46.

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Messendorf bei Graz. Bald darauf wurde er verhaftet und im Februar 1940 in ein Lager in der Nähe von Leipzig, sodann ins Konzentrationslager Sachsenhausen und schließlich nach Dachau deportiert, wo er erst im April 1945 entlassen wurde.66 Mehrere Priester wurden aufgrund des „Heimtückegesetzes“ verfolgt. Kaplan Franz Petz (1906–1945) von St. Stefan im Rosental war schon im November 1938 in kurze Schutzhaft gesetzt worden. Im Jänner 1943 erfolgte seine Verurteilung „wegen staatsfeindlicher Hetze gegen Partei und Führer“ zu einer zweieinhalb Jahre währenden Gefängnisstrafe. Bald darauf wurde Petz in die Verwahrungsanstalt nach Bernau am Chiemsee transportiert. Im Dezember 1944 wurde er zu einer „Bewährungseinheit“ der Waffen-SS eingezogen. Sein weiteres Schicksal ist ungewiss. Wahrscheinlich ist Petz im April 1945 in der Nähe von Niederlausnitz gefallen. Drastisch war auch das Schicksal des in Wildon geborenen Pfarrers Karl Quaß (1891–1971) während der nationalsozialistischen Verfolgung. Schon vor seiner Deportation in das KZ Dachau wegen Verstoßes gegen das „Heimtückegesetz“ im September 1938 war er wegen seiner deutlichen Worte über das wahre Wesen des Nationalsozialismus zu zweiwöchiger Gefängnisstrafe verurteilt worden. Zu einer zweiten Verhaftung kam es am Peter-und-Paul-Tag des Jahres 1940. Quaß wurde „als offensichtlicher Gegner des nationalsozialistischen Staates“ angeklagt und verurteilt. Er verbüßte seine Strafe in der Männerstrafanstalt Graz-Karlau, danach in der Untersuchungsanstalt und im Gestapogefängnis in Essen (1941–1943). Ab 8. Jänner 1943 bis zum Ende des Krieges wurde er in Dachau festgehalten. Der Mürzsteger Pfarrer Alexander Seewald (1896–1982) wurde wiederum wegen Äußerungen in seiner Weihnachtspredigt im Jahr 1939 angezeigt. Darin betonte er, dass „die Geburt eines Menschen allein – ob dieser oder jener Herkunft –, noch gar nichts über den Wert eines Menschen aussage“.67 Noch im Jänner 1940 wurde er eingesperrt, erhielt Schulverbot im ganzen Gau und wurde ohne Gerichtsverfahren in ein Konzentrationslager deportiert, wo er, als „fanatischer Gegner der NSDAP“ tituliert, schreckliche Torturen zunächst in einer Strafkompanie, später in den Lagern Mauthausen und Gusen bei Mauthausen durchstehen musste, ehe er im Dezember 1940 nach Dachau überstellt wurde. Erst im Juli 1945 kam es zur Rückkehr. Alle Bittgesuche vonseiten der kirchlichen Hierarchie und auch Bischof Wienkens um Enthaftung wurden abgeschmettert, weil Seewald nach nationalsozialistischem Chargon als „jüdischer Mischling“ galt. Seine Mutter war nämlich jüdischer Herkunft. Der Aushilfskaplan Karl Neubauer (1905–1981) von Kapfenberg wurde in der ersten Jahreshälfte 1943 in Dachau interniert (vom 16. Jänner bis 18. Juni 1943). Er wirkte im Jahr 1942 in St. Urban in der Untersteiermark, wo ihm vorgeworfen wurde, dass er „Kenntnis von kommunistischen Banden“ gehabt hätte. Schon im Jahr 1939 hatte er einen Kreisverweis von 66 Archiv der Comboni-Missionare Graz-Messendorf. 67 Veselsky, Bischof und Klerus (wie Anm. 3) 365.

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Judenburg wegen seiner ihm vorgehaltenen politischen Äußerungen im Religionsunterricht – er sprach vom „Sieg des Christentums“ – und wegen unerlaubten Chorunterrichts erhalten. Er wurde als „voller Gegner des Nationalsozialismus“ eingestuft und erhielt damals auch Schulverbot. Der Pfarradministrator Josef Scherübl (1891–1961) von Altenmarkt bei Fürstenfeld wurde ab Frühjahr 1942 im Konzentrationslager Flossenbürg in der Oberpfalz und danach in ­Dachau interniert, wurde jedoch noch im Jahr 1943 entlassen. Alois Ruhri listet in seiner Darstellung mehr als 100 Namen von Priestern auf, die aus politischen Gründen verurteilt und gemaßregelt und/oder zeitweilig in Schutz- und Untersuchungshaft gesetzt und/oder „gauverwiesen“ wurden und welche noch einer näheren Erforschung bedürfen.68 Nachdenklich stimmt, dass einige ehemalige Priesterhäftlinge, die aufgrund ihrer mehrjährigen Haft nachhaltig physisch und psychisch Schaden erlitten hatten, in den Jahren nach 1945 mühevoll um die Wiedergutmachung finanzieller Schäden durch die kirchliche Obrigkeit kämpfen mussten, war doch mit der politischen Verhaftung auch die Resignation von deren kirchlichen Stellen und damit die Einstellung der Gehälter verbunden. Ein Wechsel in der kirchlichen Wahrnehmung dieser „unbequemen“ Mahner gegen den Nationalsozialismus erfolgte erst seit den 1980er-Jahren. Der Linzer Bischof Dr. Maximilian Aichern bedauerte im Gedenkjahr 1988, dass „selbst die Kirche mit ihren eigenen Märtyrern zur Zeit des Nationalsozialismus nicht zurecht gekommen [ist]“ und sprach sich für „eine ehrliche Versöhnung“ mit jenen aus, „die gegen das NS-Regime Widerstand geleistet haben“. Sie waren „durch ihr Verhalten eine unbequeme Herausforderung für die Mehrheit und manchmal auch ein geheimer Vorwurf an die Gleichgültigkeit der vielen“.69 Mit der Ehrung des damals einzigen Überlebenden jener steirischen Priester, die in KZHaft waren, setzte die Katholisch-Theologische Fakultät in Graz am 26. Jänner 2000 ein besonderes Zeichen. Sie ehrte ihren ehemaligen Absolventen Johann List, den langjährigen Pfarrer von Kapfenberg-Hl. Familie, mit dem Goldenen Ehrenring „stellvertretend für all die vielen anderen Angehörigen und Absolventen der Theologischen Fakultät“, die Opfer des nationalsozialistischen Terrors geworden waren und die nicht mehr am Leben waren. 70 68 Alois Ruhri, Aus politischen Gründen verurteilte und gemaßregelte Priester 1938–1945, in: Rauch/ Sohn-Kronthaler/Ruhri, Memoria (wie Anm. 26) 20–26; ders., Priester in Schutz- und Untersuchungshaft (Auswahl), in: ebd. 27–30; ders., Gauverweise, in: ebd., 31. Derzeit entsteht am Grazer Institut für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte eine Dissertation, welche steirische Priester als NS-Opfer zwischen 1938 und 1945 behandelt. 69 Die Predigt von Bischof Aichern am 13. März 1988 ist wiedergegeben in: Maximilian Liebmann (Hrsg.), Kirche in Österreich 1938–1988, Graz–Wien–Köln 1988, 86–90, hier 89. 70 KathPress Nr. 21, 27.1.2001, sowie Sonntagsblatt, 30.1.2000.

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Maximilian Liebmann regte 2001 an, im Gedenken an diese mutigen Priester pfarrliche Räume, Gebäude und Plätze in der Steiermark nach ihnen zu benennen. Es würden sich die Orte für solch ein Gedenken anbieten, an denen die Priester als Seelsorger gewirkt hätten.71

IV. Kirchliches und seelsorgliches Leben unter Schikanen und Repressionen IV.1. Kirchenaustritte Mit der Enteignung des Religionsfonds zerschlugen die nationalsozialistischen Machthaber die vom Staat wesentlich mitgetragene Regelung der Kirchenfinanzierung. Dadurch, dass das Kirchenbeitragsgesetz72 seit 1. Mai 1939 Gültigkeit hatte, zielte Hitler auf eine Beseitigung „der Stellung der katholischen Kirche als Staatskirche“,73 wie Bürckel wörtlich formulierte, und schließlich sollte die katholische Kirche endgültig liquidiert werden, indem Hitler mit diesem Gesetz zum einen eine bewusste Förderung der Kirchenaustrittstätigkeit anstrebte und zum anderen für beitragsunwillige Katholiken einen weiteren Anreiz für einen Austritt aus ihrer Glaubensgemeinschaft schaffen wollte. Die Pläne der Nationalsozialisten fielen nur partiell auf fruchtbaren Boden. Im Gegenteil, das Beitragssystem bewährte sich derart, dass es der österreichische Episkopat nach der Befreiung von der NS-Herrschaft als „Optimallösung“ akzeptierte, an der bis heute beinahe fraglos festgehalten wird.74 Der größere Anteil an Austritten war durch die gezielte antikirchliche NS-Propaganda bereits im Jahr 1938 zu verzeichnen – von März bis Dezember hatten ca. 44.000 Steirer die katholische Kirche verlassen.75 Mit vier Prozent an Austritten lag die Steiermark nur knapp hinter der Erzdiözese Wien (fünf Prozent).76 Insgesamt waren in den Jahren zwischen 1938 71 Maximilian Liebmann, Katholischer Widerstand – der Umgang mit Priestern, die aus den KZs zurückkamen, in: Stefan Karner/Karl Duffek (Hrsg.), Widerstand in Österreich 1938–1945, Graz–Wien 2007, 39–51. Die bislang errichteten kirchlichen Erinnerungszeichen listet Heimo Halbrainer in seiner Darstellung auf: Heimo Halbrainer (Hrsg.), Gedenken und Mahnen in der Steiermark. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung 1934–1945 (in Druck). 72 Maximilian Liebmann, Von der „Kirchensteuer“ zum Kulturbeitrag. Zur Geschichte des Kirchenbeitrages in Österreich, in: Hans Paarhammer/Franz Pototschnig/Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), 60 Jahre Österreichisches Konkordat, München 1994, 529–543. 73 Liebmann, Innitzer (wie Anm. 11) 253. 74 Liebmann, Die Zeit Fürstbischof Pawlikowskis (wie Anm. 2) 341. 75 Ebd., 361. 76 So aufgrund der Untersuchung von Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich. Aspekte ih-

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und 1945 zwischen 80.000 und 90.000 SteirerInnen sukzessive aus der katholischen Kirche ausgetreten, davon ein Drittel allein in Graz. Doch ein großer Teil kehrte schon in den letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahren wieder in die katholische Kirche zurück. Erfreulicherweise liegt mit der Arbeit von Ingrid Macher erstmals eine profunde Untersuchung zum Fragenkomplex Kirchenaustritte unter dem NS-Regime am Beispiel zentraler Pfarren der Stadt Graz vor, welche die nationalsozialistische Propaganda, ihre Methoden und Inhalte, aber auch kirchliche Gegenmaßnahmen analysierte.77 Die Austrittskampagne war „von den Parteigremien geschickt organisiert und gesteuert“, sodass der Kirchenleitung selbst ein „eindeutiger Nachweis ihrer Initiatorenrolle nie gelang“.78 Diese war zwar nicht immer gleich intensiv, doch stets latent vorhanden. „Da die Parteiführung bemüht war, den Schein der Unparteilichkeit zu wahren, hatte nicht der Einsatz äußerer Machtmittel Priorität, sondern die ‚Arbeit an der Basis‘, von Mensch zu Mensch, das ‚Ringen um die Seele‘, dem jede Stützung und Deckung gewährt wurde.“79 Dabei war die Wahl der Methoden nicht besonders von großem Einfallsreichtum gezeichnet: „Man verteilte einfach vorgedruckte Formulare, auf denen der Kirchenaustritt nur kurz anzumelden war, vor Betrieben, Ämtern, in privaten Kreisen, an die von der Partei abhängigen Organisationen SS, SA, HJ, deren Mitgliedern man in besonderem Maße zusetzte, in großen Unternehmungen, wo die Angestellten offen zum Kirchenaustritt aufgefordert wurden, etc. Den Beamten von der Landeshauptmannschaft bis in den letzten Landkreis legte man die Zettel direkt auf die Schreibtische. Bei den verschiedensten Gelegenheiten und Anlässen (Schule, Trauung, Versammlungen der DAF etc.) wurde der Austritt nahegelegt. Parallel dazu grassierte eine Flüster- und Mundpropaganda von Haus zu Haus, wobei man zum Teil unter Androhung von finanziellen und beruflichen Benachteiligungen Menschen bis in die katholische Landbevölkerung zum Kirchenaustritt bewegen wollte.“80 Als soziale Gruppen besonders betroffen waren Personen im Bildungs- und Unterrichtsbereich – LehrerInnen als die größte Berufsgruppe unter ihnen hatten bald nach dem „Anschluss“ die katholische Kirche verlassen. Kirchliche Gegenmaßnahmen zur nationalsozialistischen Abfallskampagne bzw. zum Kirchenkampf bestanden in Interventionen des Fürstbischöflichen Ordinariates, im rer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, Graz–Wien 1986, 119. Für eine statis­tische Übersicht der Aus- und Eintritte siehe auch Rudolf K. Höfer, Statistische Übersicht – Katholische Kirche in der Steiermark, in: Amon/Liebmann, Kirchengeschichte der Steiermark (wie Anm. 2) 616. 77 Ingrid Macher, Austritte aus der katholischen Kirche unter dem Nationalsozialismus am Beispiel der „Stadt der Volkserhebung“ (Dissertationen der Karl-Franzens-Universität Graz 99), Graz 1995. 78 Ebd., 272. 79 Ebd. 80 Ebd., 273.

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seelsorglichen Bemühen des Klerus und auch im eigenverantwortlichen Handeln einzelner mutiger ChristInnen, die Flugblätter u. Ä. verteilten. Graz, die „Stadt der Volkserhebung“, war für die aggressive Austrittspropaganda besonders anfällig, da es dort ein schon vorhandenes, traditionell antiklerikales Potenzial deutschnationaler und sozialdemokratischer Provenienz gab.81 Fast ein Fünftel der Grazer Katholiken verließ die katholische Kirche, davon erfolgte mehr als die Hälfte aller Austritte allein im Jahr 1938.82 Macher stellt fest, dass bei den austrittsanfälligen GrazerInnen der Männeranteil etwas gegenüber dem Frauenanteil überwog,83 vor allem jüngere Personen zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr die Kirche verließen, während ältere Personen ab dem 50. oder 60. Lebensjahr „schon eher ‚immun‘ gegen die nationalsozialistische Austrittspropaganda [waren]“.84 Beim Austrittsverhalten lässt sich nachweisen, dass auch der Anteil ganzer Familien bemerkenswert war. Dabei traten zuerst die Männer aus der Kirche aus, die übrigen Familienmitglieder folgten eher zu einem späteren Zeitpunkt. Die Zahl der Austritte war in traditionell stark national geprägten Gebieten wie auch Arbeitervierteln höher.

IV.2. Eingeschränktes Wirken des Caritasverbandes Bereits am 12. März 1938 erhielt der „Steiermärkische Caritasverband“85 in Graz vorübergehend einen kommissarischen Leiter, dessen Name aus den Akten nicht hervorgeht. Zehn Tage später ordnete die Gestapo die Übergabe des gesamten Vereinsvermögens zu treuhändischer Verwaltung an. Der damalige Caritasdirektor Anton Hradecky wurde zwangsweise bis auf Weiteres beurlaubt. Am 30. März 1938 wurde zwar der kommissarische Leiter wieder abberufen und die Beurlaubung des Caritasdirektors beendet. Doch das NS-Regime entzog 81 Dieter A. Binder, Zum Antiklerikalismus in der Ersten Republik, in: Herwig Ebner u. a. (Hrsg.), Forschungen zur Landes- und Kirchengeschichte. Festschrift Helmut Metzler-Andelberg zum 65. Geburtstag, Graz 1988, 63–74. 82 In ländlichen Gebieten ist ein Hochschnellen der Kirchenaustritte erst später, nämlich ab Herbst 1938 bzw. im Jahr 1939 festzustellen. Dazu Ingrid Macher, Nationalsozialismus in der Pfarre Weizberg, geistesw. Diplomarbeit Graz 1992, 114–115. 83 Im Gegensatz zu ländlichen Gebieten, wo der Frauenanteil wesentlich auffälliger war und in Weiz sogar weit hinter dem Männeranteil zurücklag. Macher, Weizberg (wie Anm. 82) 114–115. 84 Macher, Austritte (wie Anm. 77) 276. 85 Bernadette Blechinger, Die Entwicklung der Caritas in der Steiermark und ihrer Mitgliedsverbände unter konträren politischen Verhältnissen bis nach dem Zweiten Weltkrieg, theol. Diplomarbeit Graz 2001; Zum Österreichischen Caritasverband: Michaela Kronthaler, Der Schicksalsweg des Österreichischen Caritasverbandes vom „Anschluß“ Österreichs im März 1938 bis zu seiner Aufhebung 1942, in: Paarhammer/Pototschnig/Rinnerthaler, Staat und Kirche (wie Anm. 72) 171–206.

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allen diözesanen Caritasverbänden, die als die großen „Gegner“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) geortet wurden, Schritt für Schritt jegliche Autonomie. Zahlreiche Mitgliedsverbände des „Steiermärkischen Caritasverbandes“ wurden noch im Mai 1938 aufgelöst. Unter Druck musste er Mitte August Satzungsänderungen durchführen und der „Arbeitsgemeinschaft für freie Wohlfahrtspflege“ beitreten. Trotz aller sogenannten „Zusicherungen“ von nationalsozialistischer Seite wurden die Caritasverbände wenige Wochen später ihrer Selbständigkeit und fast aller ihrer Wirkmöglichkeiten beraubt. Zwar wurde der steirische Verband vereinsrechtlich nicht liquidiert wie der „Österreichische Caritasverband“ oder der Tiroler und Vorarlberger, er verlor jedoch durch die Beschlagnahmungen praktisch seine äußeren Hilfsmittel und Einrichtungen und konnte aufgrund immer wieder neu erfolgter Beschränkungen und Erschwernisse nur in begrenztem Maß Unterstützungen gewähren. So wurde beispielsweise bereits im Frühjahr 1938 von den Nationalsozialisten ein Sammelverbot erlassen, welches das Caritaswesen hart traf, da dieses überwiegend auf Spendengelder angewiesen war.86 Als sich Direktor Hradecky darüber hinwegsetzte und im Winter 1939/40 eine Kirchkollekte für notleidende Familien durchführte, wurde ihm auf Anordnung des Gauleiters durch das bischöfliche Ordinariat gekündigt.87 Sämtliche konfessionellen Schulen, Schülerheime und Tageskinderstätten mussten an die NSV übergeben werden, die Beteiligung an der Caritas-Sterbevorsorge wurde verboten. Finanzrevisoren wurden eingesetzt, öffentliche Sammlungen untersagt; Immobilienverkäufe, Verpachtungen, Vermietungen, Umwidmungen, Grundbuchsänderungen bedurften einer vorherigen Genehmigung. Die NSV übernahm mit 21. März 1939 das Monopol auf dem Gebiet der freien Wohlfahrtspflege und überließ dem Caritasverband nur die Fürsorge für alte und kranke Personen. Anstelle des Caritasverbandes und -sekretariates wurden die Pfarren während der Kriegszeit zu Hauptträgern karitativer Arbeit, soweit diese überhaupt noch möglich war.

IV.3. NS-Maßnahmen gegen das kirchliche Leben In den Kirchlichen Verordnungsblättern der Diözese (Graz-)Seckau jener Zeit finden sich nicht nur bischöfliche Anweisungen für das kirchliche und pfarrliche Leben bis hin zu den entsprechenden Verordnungen, sondern auch Niederschläge aus der nationalsozialistischen Gesetz-

86 Blechinger, Caritas (wie Anm. 85) 36. 87 Ebd., 36 u. 39.

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gebung. Zu nennen sind z. B. die „Nürnberger Rassengesetze“,88 das „Reichsflaggengesetz“,89 ferner rechtliche Bestimmungen zur Kanzleiführung des Pfarrers und des kirchlichen Matrikenwesens,90 vor allem zur zivilen Eheschließung91 als Vorzug vor der kirchlichen, aber auch zur Führung von Pfarrchroniken,92 zur Namensgebung,93 zu Glockenabnahmen, wobei besondere Glockenabnahmefeiern zu unterlassen waren,94 und auch zur Schließung der konfessionellen Schulen und Schülerheime.95 Für die Übernahme einer Pfarre waren der „Arier“Nachweis des Seelsorgers sowie der Nachweis der Reichszugehörigkeit erforderlich.96 Falls der Klerus sich der „Fürsorge des Staates nicht würdig genug“ verhielt, wurden die Bezugszahlungen eingestellt, auch wenn keine strafrechtliche Verfolgung vorlag.97 Schon 1939 wurden sieben Feiertage (Erscheinung des Herrn, Christi Himmelfahrt, Fronleichnam, Peter und Paul, Mariä Himmelfahrt, Allerheiligen, Unbefleckte Empfängnis) liquidiert bzw. zu Werktagen umgewandelt. Eine Verlegung auf den nachfolgenden Sonntag war jedoch möglich. Das Prozessionswesen wurde eingeschränkt. So waren Prozessionen zu melden, um die „Verkehrssicherheit“ nicht zu beeinträchtigen.98 Es bestand aber auch die Möglichkeit einer Dispens vom Sonntagsgottesdienst, speziell für SchülerInnen.99 Genaue Anweisungen gab es hinsichtlich des Läutens der Kirchenglocken.100 Diskriminierende Vorschriften wurden gegenüber ZwangsarbeiterInnen erlassen. Sie mussten bei den Gottesdiensten abgesonderte Plätze einnehmen.101 Das Kirchliche Verordnungsblatt enthielt auch Anweisungen betr. Teilnahme der Jugendlichen bei der Hitler-Jugend.102 Eine doppelte Mitgliedschaft in Parteijugend und katholischer Jugend war nicht erlaubt.103 Am Beginn des Religionsunterrichtes wie auch generell des Unterrichts wurde der „Hitler-Gruß“ angeordnet.104 Der Religionsunterricht wurde an

88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103 104

KVBl, Nr. 14, 18.7.1938, 84–87. KVBl, Nr. 5, 23.3.1938, 20; KVBl, Nr. 8, 28.4.1938, 46; KVBl, Nr. 10, 10.5.1938, 49. KVBl Nr. 19, 15.10.1938, 166. KVBl, Nr. 15, 27.7.1938, 95–109; KVBl, Nr. 17, 3.9.1938, 123–134. KVBl, Nr. 18, 7.11.1938, 244. KVBl, Nr. 2, 14.2. 1940, 13–14. KVBl, Nr. 10, 31.12.1941, 69–70. KVBl, Nr. 22, 20.12.1938, 203. KVBl, Nr. 8, 21.6.1940, 68–70. KVBl, Nr. 9, 10.5.1939, 106. KVBl, Nr. 5, 23.4.1940, 44. KVBl, Nr. 9, 6.5.1938, 50. KVBl, Nr. 9, 8.7.1940, 79. KVBl, Nr. 13, 12.11.1940, 108. KVBl, Nr. 10, 24.5.1939, 125. KVBl, Nr. 13, 8.7.1938, 73–74. KVBl, Nr. 7, 19.4.1938, 43–44.

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die letzte Stelle in den Klassenbüchern und Katalogen gesetzt.105 Mit vielen Einschränkungen war der Religionsunterricht versehen, so dass in den Pfarren die Erbauungs- bzw. Seelsorgestunden eingeführt wurden. Es war jedoch verboten, die Erbauungs- bzw. Seelsorgestunden als Religionsunterricht zu deklarieren.106 Die damalige Kirchenzeitung, das „Steirische Zweigroschenblatt“, das 1932 ins Leben gerufen worden war und unter der Schriftleitung des antinationalsozialistisch eingestellten Pfarrers Viktor Lipusch aus Teufenbach stand, wurde unmittelbar nach dem „Anschluss“ unter kommissarische Leitung gestellt. Lipusch wurde „entmachtet“. Obwohl das Blatt weiterhin unter der Nennung seiner Schriftleitung erschien, wurden fortan NS- und „Anschluss“-freundliche Artikel publiziert, worüber Lipusch empört an Pawlikowski berichtete.107 Mit Juli 1938 war die Einführung der obligatorischen Zivilehe verordnet worden, wogegen die katholische Kirche „90 Jahre lang … mit ihrem politischen Katholizismus erfolgreich … gekämpft [hatte]“ und welche heute in der Geschichtswissenschaft unterschiedlich bewertet wird – als erste unter den kirchenfeindlichen Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes oder als eine der „Indikatoren für die Modernisierung“, sieht man „von den rassistischen Bestimmungen“ ab.108 Vonseiten der Bischofskonferenz kam es ab dem „Anschlussjahr“ wiederholt zu Protestaktionen bei den Führungsspitzen von Staat und Partei gegen deren antikirchliche Anordnungen und Unterdrückung des religiös-seelsorglichen Wirkens. Eine Folge der Verhandlungen zwischen dem bischöflichen Ordinariat und der nationalsozialistischen Gauleitung im Frühjahr 1938 war, dass sämtliche konfessionellen Vereine aufgehoben wurden bzw. ihr Wirkungsbereich auf den rein religiösen Sektor beschränkt wurde.109 Aufgrund eines Erlasses des Ministers für innere und kulturelle Angelegenheiten wurden am 30. April 1939 die Kirchenkonkurrenzausschüsse, die ein Bindeglied zwischen den pfarrlichen und staatlichen Stellen darstellten, aufgelöst und bei jeder Pfarrkirche die Kirchenpröpste durch den Pfarrkirchenrat ersetzt. Somit wurden mit 1. Mai 1939 die kirchliche Vermögensverwaltung und das Stiftungswesen in der Pfarre neu geregelt; Bischof Pawlikowski erließ zu dieser Verordnung die entsprechenden Durchführungsbestimmungen. Die Aufgabe des Pfarrkirchenrates bestand in der Regelung der finanziellen Belange. Er hatte auch mit der Einhebung der Kirchenbeiträge zu tun, indem eine Liste der Beitragspflichtigen geführt, die Beiträge eingehoben und

105 KVBl, Nr. 20, 5.11.1938, 177. 106 KVBl, Nr. 7, 11.4.1939, 74; KVBl, Nr. 12, 13.7.1939, 153; KVBl, Nr. 2, 14.2.1940, 11–12. 107 Vermutlich erst im Herbst, das genaue Datum ist nicht bekannt, wurde ihm die Schriftleitung auch offiziell genommen. Hofmüller, Priester (wie Anm. 27) 183–187. 108 Liebmann, Dominanz (wie Anm. 25) 428. 109 Ders., Graz 1938 (wie Anm. 2) 192–194; Paarhammer/Pototschnig/Rinnerthaler, Staat und Kirche (wie Anm. 72).

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auch ordnungsgemäß abgerechnet wurden.110 Der Vorsitzende des Pfarrkirchenrates war zwar der Ortsgeistliche, meist der Pfarrer, doch wurde der Obmann aus dem Kreis der ausschließlich männlichen (!) Mitglieder für die Dauer von sechs Jahren gewählt.111 Infolge weiterer Entkonfessionalisierung wurde die Grazer Theologische Fakultät von der Karl-Franzens-Universität mit dem Ende des Wintersemesters 1938/39 verbannt bzw. mit der Wiener Theologischen Fakultät zusammengelegt. Um einigermaßen die Priesterausbildung aufrechterhalten zu können, wurde eine Diözesanlehranstalt im Priesterseminar errichtet, das bis 1938 die Bezeichnung „Priesterhaus“ getragen hatte.112 Gebäude, wie z. B. das Priesterheim in der Bergmanngasse in Graz, wurden enteignet, 25 Kirchen und Kapellen konfisziert, profaniert und teilweise als Museum oder als Magazine zweckentfremdet.113 Die Nationalsozialisten legten das kirchliche Pressewesen lahm, zahlreiche Klöster wurden aufgehoben und deren Einrichtungen beschlagnahmt.114 Trotz der Schließung des Knabenseminars und seines Gymnasiums wurde die Betreuung der Zöglinge im Untergrund effektiv organisiert.115 Das katholische (Privat-)Schulwesen wurde entkonfessionalisiert. Trotz der Schikanen und Repressalien116 ging das kirchliche Leben im Untergrund weiter, jüngere Menschen organisierten sich in kleineren Zirkeln und Gottesdienstgemeinden, deren heute bekannteste die „Barbaragemeinde“ am Grazer Dom war.117 Bemerkenswerte seelsorg110 KVBl, Nr. 10, 24.5.1939, 119–121. 111 KVBl, Nr. 8, 27.4.1939, 87–97. In den Pfarr- und Ortsgeschichten wird die Einführung des Pfarrkirchen­rates öfter erwähnt. Z. B. Gerhard Fischer, St. Katharina in der Wiel, St. Katharina in der Wiel 2002, 59; Friederike Niedereder u. a. (Red.), 300 Jahre Pfarrkirche Soboth, Festschrift 1704– 2004, Soboth–Deutschlandsberg [2004], 40; Franz Wohlgemuth, Geschichte der Pfarre Gaishorn und des Paltentales, Graz 1955, 123. 112 Maximilian Liebmann, Aufhebung und Wiedererrichtung der Theologischen Fakultät der Universität Graz, in: ders./Erich Renhart/Karl Matthäus Woschitz (Hrsg.), Metamorphosen des Eingedenkens. Gedenkschrift der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz 1945–1995, Graz–Wien–Köln 1995, 35–53. Überhaupt waren die Theologischen Fakultäten in Österreich auf eine einzige in Wien reduziert worden. 113 Veselsky, Bischof und Klerus (wie Anm. 3) 157. 114 Sebastian Bock (Hrsg. u. Bearb.), Österreichs Stifte unter dem Hakenkreuz. Zeugnisse und Dokumente aus der Zeit des Nationalsozialismus 1938 bis 1945 (Ordensnachrichten 34, Heft 4A), Wien 1995; weiters Ralf A. Höfer, Die katholischen steirischen Klöster- und Ordensgemeinschaften im 20. Jahrhundert, in: Ernst-Christian Gerhold/Ralf A. Höfer/Matthias Opis (Hrsg.), Konfession und Ökumene. Die christlichen Kirchen in der Steiermark im 20. Jahrhundert, Wien 2002, 55–80, hier besonders 62–69. 115 Josef Jamnig (Hrsg.), 150 Jahre Bischöfliches Seminar in Graz, Graz 1980, hier besonders 84–144. 116 Worauf der systematisch angelegte Kirchenkampf tatsächlich zielte und welche reale Züge er trug, zeigt das bei Liebmann veröffentlichte Dokument von Gauleiter Bürckel aus dem Jahr 1939 „Ein Jahr Entkonfessionalisierung der Ostmark“. Liebmann, Innitzer (wie Anm. 11) 240. 117 Gertraud Arnold/Heinrich Tschurtschenthaler u. a., Zur Geschichte der Barbaragemeinde. Samm-

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liche Hilfe leistete die Diözese Seckau für die vom Einmarsch der deutschen Truppen im Jahr 1941 schwer betroffene Nachbardiözese Maribor (Marburg-Lavant), wo über Nacht fast die gesamte Geistlichkeit aufgrund ihrer slowenisch-nationalen Einstellung „gauverwiesen“ wurde.118 Insgesamt waren 58 Priester aus der Diözese (Graz-)Seckau in der ehemaligen Untersteiermark im pastoralen Einsatz. Ein öffentlicher Aufruf des Episkopats an das Kirchenvolk zum aktiven Widerstand gegen das Gewaltregime fehlte indes, zumal „die Kirchenführung die Loyalität zum NS-Staat nie in Frage [stellte]“ und im Kampf gegen den „gottlosen Bolschewismus“ sogar „die Soldaten zur Treue gegenüber dem ‚Führer‘ [aufriefen]“.119

V. Forschungsdesiderate Die schon vorhandenen Forschungserträge sind zu würdigen. Doch bestehen noch Forschungsdesiderate. Einige Beispiele sind im Folgenden genannt. Die Aufarbeitung der Kirchenaustritte in der Steiermark und Untersuchungen für den lokalen bzw. regionalen Bereich, von den Grazer Pfarren abgesehen, stehen noch aus. Sind grundlegende Tendenzen hinsichtlich der zeitlichen Differenzierung der Kirchenaustritte (Höchstwerte) festzustellen? Wie sah die Austrittsbereitschaft unter den Geschlechtern hinsichtlich des Alters oder bestimmter Berufe aus? Wiesen Frauen aufgrund ihrer Kirchenbindung eine größere „Resistenz“ gegenüber der nationalsozialistischen Austrittskampagne auf?120 Wie artikulierte sich die Vehemenz der Austrittsbewegung im Stadt-Land-Gefälle bzw. hinsichtlich ihrer regionalen Differenzierung? Eine Rolle bei den Austritten spielte die antiklerikale Tradition und der Charakter der einzelnen Pfarren selbst, aber auch die Sozialstruktur der jeweiligen Pfarrbevölkerung. Notwendig sind Vergleichsanalysen bezüglich der zeitlichen Differenzierung der Austritte, der Austrittsbereitschaft im Hinblick auf Familie, Geschlecht, berufliches Milieu, soziale Gruppen, Alter und Wohnpfarre. Umfassendere Untersuchungen im Mikrobereich fehlen überhaupt fast zur Gänze, sieht man von nur wenigen Einzelstudien121 ab. Die Thematik Nationalsozialismus in den Pfarren

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lung und Aufbruch in Unterdrückung für große Aufgaben nachher, in: Carolinenblätter 27 (1987/88) 61–80. Oskar Veselsky, Steirische Priesterhilfe für die „Untersteiermark“ in der nationalsozialistischen Besetzung, in: Geschichte und Gegenwart 4 (1985) 141–164 u. 175–190. Liebmann, Dominanz (wie Anm. 25) 435. Siehe Michael H. Kater, Frauen in der NS-Bewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983) 2, 202–241. Siehe bes. die Diplomarbeiten von Macher, Weizberg (wie Anm. 82) und Simon Poier, Kirchliches

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spielt bei den von mir durchgesehenen Orts- und Pfarrgeschichten allenfalls eine marginale Rolle bzw. wird oft selten bis gar nicht erwähnt. Schul-, Gendarmerie- und Pfarrchroniken, Pfarrblätter und Pfarrakten, Nachlässe von religiös und kirchlich relevanten, lokalen Persönlichkeiten sind noch weitgehend unberücksichtigt geblieben und bedürfen einer näheren Untersuchung. Hinsichtlich der Bedeutung von kirchlichen Chroniken lässt sich zwar grundsätzlich sagen, dass viele Einträge in Pfarrchroniken meist erst nach der Befreiung 1945 verfasst wurden; doch haben sie aufgrund der zeitlichen Nähe des Erlebten große Relevanz. Nicht vergessen werden dürfen die Klosterchroniken, wie z. B. jene des Grazer Franziskanerklosters, die wichtige Quellen der Beobachtung und Erfahrung des Geschehenen darstellen. Eine wertvolle Quelle für das pfarrliche Leben bilden die noch wenig berücksichtigten kirchlichen Visitationsberichte (dechantlich und bischöflich) für jene Zeit. Zu erforschen sind die Verkündbücher, die über die Auswirkungen des nationalsozialistischen Kirchenkampfes im liturgischen und pfarrlichen Leben weiteren Aufschluss geben. Welche konkreten Änderungen, Einschränkungen, Verbote gab es vor Ort? Um z. B. nicht mit nationalsozialistischen Veranstaltungen terminlich zu kollidieren – so liest man in der über „St. Katharina in der Wiel“ verfassten Pfarrgeschichte –, veränderte bzw. setzte der dort ansässige Pfarrer die Gottesdienstordnung im Jahr 1940 offensichtlich wegen der heiklen politischen Lage zu einem späteren Zeitpunkt am Vormittag an. Damit konnten die Erbauungsstunden vor dem Gottesdienst abgehalten werden.122 Eine Sammlung von Fotomaterialien ist ebenso höchst notwendig, da Fotos oft nicht beschriftet wurden, lebende ZeitzeugInnen zur Identifizierung von abgebildeten Personen und zur Einordnung in den zeitlichen und lokalen Rahmen beitragen können. Ebenso methodisch von Bedeutung sind die noch zu führenden und aufzuzeichnenden Interviews mit den ZeitzeugInnen (oral history). Generell ist das Verhalten der katholischen Laien wenig untersucht. Die Geschichte der Katholikinnen in der NS-Herrschaft ist, bis auf wenige Ausnahmen, kaum erforscht. Einige Persönlichkeiten seien hier kurz vorgestellt. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung musste die konvertierte Benediktinerin Sr. Dr. Mirjam Prager123 von der Abtei St. Gabriel in der ehemaligen Burg Bertholdstein die Steiermark im Jahr 1938 verlassen und in das Exil nach Belgien gehen. Wie durch ein Wunder Lehren, Leben und Wirken unter konträren gesellschaftspolitischen Verhältnissen Österreichs dargestellt am Beispiel der Pfarren des Pölstales, theol. Diplomarbeit Graz 2001. In einigen wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten, die sich mit der Pfarrgeschichte befassen, gibt es oft auf nur wenigen Seiten Hinweise auf jene Epoche. 122 Fischer, St. Katharina in der Wiel (wie Anm. 111) 27–28. 123 Denise Schummi, Leben und Wirken der Benediktinerin Sr. Dr.in Mirjam Prager (1906–1987), theol. Diplomarbeit Graz 2005.

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entging Sr. Mirjam Prager der Verfolgung durch die Nationalsozialisten und konnte erst unter schwierigen Umständen nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in ihre Heimat Österreich zurückkehren. Fast vier Jahrzehnte wirkte sie dann als Literatin, Autorin und Bibelexegetin vor allem in der steirischen Diözese. Die Grazer Ärztin Dr. Hedwig Ehmann124 beherbergte während der Zeit des Nationalsozialismus in ihrem Haus Schüler aus dem 1938 liquidierten Knabenseminar und leistete vielen Menschen, vor allem Flüchtlingen und Kriegsgefangenen, oft unter Lebensgefahr Hilfe. Sie behandelte unentgeltlich alle PatientInnen, die arm und mittellos waren. Auch ließ sie ihnen Lebensmittel zukommen, schmuggelte „verbotene“ Gegenstände, wie zum Beispiel konse­ krierte Hostien, in die Gefangenenlager und vermittelte Briefkontakte zwischen den Gefangenen und ihren Familien. Die Oststeirerin Maria Lackner setzte sich über das strenge Verbot hinweg, jüdischen ZwangsarbeiterInnen aus Ungarn zu helfen, die 1944 und 1945 an der Grenze den „Ostwall“ von Wien bis Bad Radkersburg mitzubauen hatten. Sie steckte ihnen heimlich Essen zu, obwohl die Zivilbevölkerung nicht einmal mit ihnen hätte sprechen dürfen. Ihre Tat ist in der Holocoaust-Gedenkstätte in Yad Vashem in Jerusalem aufgezeichnet.125 Zu untersuchen ist das kirchliche Pressewesen in der Steiermark, so katholische Zeitungen, Zeitschriften wie auch Pfarrblätter, und sein Verhältnis gegenüber dem Nationalsozialismus, von den 1930er-Jahren bis zu seiner Unterdrückung während der NS-Herrschaft. Während die Geschichte der größeren Stifte, wie St. Lambrecht, Seckau, Vorau etc., bereits gut erforscht ist, fehlt es an Spezialuntersuchungen zu den übrigen männlichen Ordensgemeinschaften und -niederlassungen wie überhaupt zu den weiblichen Frauengemeinschaften und Kongregationen in jenen bedrückenden Jahren. Man denke nur an die Schulorden, wie z. B. an die Ursulinen, Schulschwestern und Sacré Cœur. Einige ZeitzeugInnen aus diesen Ordensgemeinschaften sind noch am Leben. Wie bereits erwähnt, ist eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Person und Rolle Bischof Pawlikowskis wünschenswert. Die vollständige Auswertung des PawlikowskiNachlasses im Grazer Diözesanarchiv wie auch seiner Korrespondenz in anderen kirchlichen und in staatlichen Archiven, u. a im Vatikanischen Archiv, ist anzustreben. Zu beachten sind ebenso die engsten Mitarbeiter Pawlikowskis, d. h. die Diözesanleitung, so Kanzler Josef Steiner und Generalvikar Johann Siener, bzw. überhaupt das Domkapitel. In Bezug auf den steirischen Klerus ist dezidiert die Frage nach jenen Priestern zu stellen, die sich schon vor 1938 warnend und kritisch mit der nationalsozialistischen Bewegung aus124 Andrea Wernhart, Dr.in Hedwig Ehmann (1906–1953) – Ärztin, Christin, Initiatorin der Pfarrgründung von Graz-Liebenau (St. Paul), theol. Diplomarbeit Graz 2006. 125 Johann A. Bauer, Maria Lackner – Steirerin mit Herz, in: Sonntagsbatt, 8.7.2007, 6.

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einander gesetzt haben. In den Wochen vor dem „Anschluss“ 1938, als die Wogen der Begeisterung für Hitler in Graz ungeahnt anschwollen, kam z. B. der Franziskanerpater Kapistran Pieller täglich zu seinen Studenten, um sie aufzumuntern, ihren Prinzipien treu zu bleiben und im Kampf gegen die nationalsozialistische Ideologie nicht nachzulassen. Einige klärungsbedürftige thematische Aspekte sind abschließend noch genannt: das Beziehungsgefüge kirchlicher Amtsträger und Laien zu den anderen Konfessionen und Religionen, auch zum Judentum, zu Flüchtlingen („Wandernde Kirche“) und ZwangsarbeiterInnen, ferner das Verhältnis der Kirche zum Krieg, wobei diesbezüglich die Militärseelsorge, die Verwundeten- und Krankenseelsorge, die Predigten während der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges und das theologische und religiöse Schrifttum näher zu untersuchen sind.

NS-Kulturpolitik in der Steiermark am Beispiel der Literatur

Uwe Baur, Karin Gradwohl-Schlacher

Der Artikel behandelt zunächst die kulturpolitischen Aspekte der Machtergreifung und die Etablierung eines neuen literarischen Systems, in das im zweiten Abschnitt die AutorInnen in Gruppen nach soziologischen Gesichtspunkten eingebettet werden.

I. Autoritäre Herrschaft über die Künste 1 1. Die Spaltung der Bevölkerung Am Tag der Volksabstimmung über die vermeintliche Weiterexistenz Österreichs am 10. April 1938 – vor mehr als 70 Jahren – veröffentlichte die mit ihrem Roman Das Grimmingtor (1926) berühmt gewordene obersteirische Schriftstellerin Paula Grogger ein hymnisches Gedicht, in dem sie beschwor, Hitler habe nun endlich den für die Entfaltung der Kunst nötigen Freiraum verwirklicht:2 „Nicht mehr zwischen Schmach und Gunst … Frei in den vier Winden Will nun auch die deutsche Kunst Ihren Eichkranz binden.“

In ihrer Nähe – nicht einmal zwanzig Kilometer von ihrem Wohnort Öblarn entfernt – war einige Tage zuvor, unmittelbar nach dem Einmarsch Deutscher Truppen am 13. März, Hermann Broch im Ausseer Land verhaftet worden. Er war von seinem Briefträger denunziert worden, der meinte, Broch müsse Kommunist sein, weil er die in Moskau erscheinende bedeutende Exilzeitschrift Das Wort bezog.3 1 2

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Eine detaillierte Darstellung der institutionellen Machtübernahme in der Steiermark enthält der Band: Uwe Baur/Karin Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems, Bd 1: Steiermark, Wien 2008, 11–46. Paula Grogger, Deutscher Gruß, in: Neue Freie Presse, 10.4.1938, in: Karin Gradwohl-Schlacher/Peter Langmann/Stefan Riesenfellner/Heinz Spörk, „Durch unsern Fleiß ward deutsch dies Land und deutsch woll’n wir’s bewahren“. Steirische Literatur im Nationalsozialismus. Einige Beispiele, Graz 1988, 11, Strophe 4. Viktor Suchy, Ausseerland – Zuflucht des schöpferischen Geistes, in: Hugo von Hofmannsthal und

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UWE bAUR, Karin gradwohl-schlacher

Der Fall – aus systematischer Perspektive kann man hier von einem Ereignis sprechen – illustriert eindrücklich eine tief greifende Zäsur in Österreichs politischer und zugleich kultureller Geschichte, die alle Lebensbereiche einschloss: Es war die Spaltung einer bis dahin gemeinsam lebenden Gesellschaft in den einen Teil der „Volksgenossen“ und in den anderen Teil der „Volksschädlinge“ und damit auch eine Zerstörung des gewachsenen kollektiven Zusammenlebens. Für das künstlerische System bedeutete dieser Vorgang die denkbar radikalste Teilung in eine zur Staatskunst erhobene und in eine zu beseitigende Kunst. Das künstlerische Leben in der Zeit des Hitler-Faschismus konnte sich nur monopolistisch ausbreiten, weil Platz geschaffen wurde, weil eine nicht genehme Kunst mit allen Mitteln der Gewalt „ausgekehrt“ wurde. Was hatte die tief gläubige, katholische, damals 46-jährige Paula Grogger bewogen, so bedenkenlos inhumane und – aus heutiger Sicht – zugleich fatal anmutende, historisch falsche Zeilen zu schreiben? Vielleicht hat sie die schon fünf Jahre früher begonnene Vertreibung der „Anderen“ aus Deutschland politisch naiv nicht bewusst wahrgenommen, die mit der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 begonnen hatte, vielleicht lehnte sie, auf dem Dorf lebend und Heimatkunst schreibend, die städtische, intellektuell reagierende moderne Literatur ab, ignorierte deren AutorInnen, die sich international orientierten, vielleicht erhoffte sie sich von der neuen Epoche des „Tausendjährigen Reiches“ Vorteile, weil Konkurrenz verringert wurde? Tatsache ist aber zugleich, dass die steirische Autorin alsbald Schwierigkeiten mit der lokalen NSDAP hatte und nach ihren hymnischen Beiträgen zum „Anschluss“ kein Buch mehr in der NS-Zeit publiziert hat. An diesem kleinen, sich in der Provinz abspielenden Beispiel zeigt sich: Das grundlegende gemeinsame Merkmal des nun zur Herrschaft gelangten Menschenbildes war ein geteilter Humanitätsbegriff und damit ein Bruch mit dem grundlegenden menschenrechtlichen Konsens der Demokratien Europas. Für die einen bedeutete die Okkupation Österreichs Freiheit und für die anderen Gefangenschaft und/oder Tod. Deutlich wird zugleich, dass die Täter­ Innen der Gewaltherrschaft einer breiten Unterstützung und der passiven Hinnahme ihrer Maßnahmen bis hinein in die Provinz des Ennstales oder Ausseer Landes bedurften, um sich durchzusetzen. Es ist landläufig bekannt, dass in der nationalsozialistischen Diktatur von der sogenannten Freiheit der Künste keine Rede sein konnte. Es gehört auch zum allgemeinen Wissen, dass die Bevölkerung und damit auch die Kunstschaffenden in zwei Gruppen getrennt wurden: in jene, die am humanitären Grundkonsens, der sich seit der Aufklärung in Europa entwickelt hatte, festhielten, und in jene, die ihn aufgaben, indem sie ihn rassisch, die Kultur im steirischen Salzkammergut, Bad Aussee 1979, 50. – Vgl. Hermann Broch, Briefe, Bd 1, Frankfurt/M. 1981, 502f., sowie Brochs Brief an Emmy Ferrand vom 17.8.1938. in: Hermann Broch, Briefe, Bd 2, Frankfurt/M 1981, 163ff.

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religiös und politisch einschränkten: Die einen mussten auswandern, wurden verfolgt, umgebracht oder sie mussten schweigen, die innere Emigration wählen oder sich verleugnen. Die andern nützten die neue, nur für sie gültige „Freiheit der Kunst“ – befreit von den „Anderen“. Dieser Bruch im demokratischen Grundkonsens ist das wichtigste Merkmal nationalsozialistischer Herrschaft und damit auch ihrer Kulturpolitik.

2. Die Auswirkung auf die Künstlervereine und die Machtergreifung über Kunstinstitutionen Um dies an einem zentralen Beispiel zu zeigen, möchten wir auf den Umgang des nationalsozialistischen Gewaltsystems mit den Künstlervereinen eingehen. Die gegenwärtige Vielfalt der Künste und Stilrichtungen beruht auf dem privatrechtlichen System der Vereinsfreiheit, die es jeder Kleingruppe ermöglicht, sich ohne politische Bevormundung formell zusammenzuschließen, um besondere Interessen zu pflegen und zu fördern. Der „freie Berufskünstler“ ist seit dem 19. Jahrhundert auf Vereine und vereinsähnliche Institutionen in besonderem Maße angewiesen, weil er eine nur im geringen Maße stabilisierte Figur ist: Er produziert für den freien Markt, das Einkommen ist – sieht man von den wenigen avancierten Persönlichkeiten ab – unkalkulierbar und hohen Schwankungen ausgesetzt, zumeist ist er unterversichert.4 Zu diesem Faktor kommt für die SchriftstellerInnen – sieht man von den trivialen ab – noch ein weiterer, der ihre Instabilität entscheidend verstärkt, dazu: Er beruht auf der besonderen Bedeutung, welche die als „Kunst” begriffene Arbeit für das Selbstbild der AutorInnen hat. Denn seit dem grundlegenden Postulat des Sturm und Drang im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, nach dem der Künstler seine Besonderheit gewinne, indem er seine Individualität ausbildet, er gewinne sie als „Originalgenie“, verschmilzt die gesellschaftliche Rolle als Künstler weitgehend mit der Ich-Identität, zugleich wird diese Originalität Markenzeichen für seine Ware („der neue Handke“). Durch diese Individualisierung ist das kritische Urteil der Gruppe über das Werk nicht bloß ein Urteil über eine Arbeit, sondern auch über einen Menschen, greift tief in die Ich-Identität ein.5 Dieses intime Bedürfnis kann speziell der/die nicht-etablierte KünstlerIn am sichersten in der Kleingruppe, dem Freundeskreis, dem Verein erfahren. Seine/Ihre hochindividualisierte Privatproduktion ohne Arbeitsteiligkeit bezieht ihren Wert entscheidend von den LeserInnen und KritikerInnen. Die Vereine – in der Literatur auch die Zeitschriften und Verlage und in der bildenden Kunst die Galerien, in der Musik die Bands und Kammermusikgruppen – haben hier ihre zentrale Funktion für ein vielfältiges künstlerisches Leben. 4 5

Friedhelm Kroll, Die Eigengruppe als Ort sozialer Identitätsbildung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 52 (1978), 659. Kroll, Eigengruppe (wie Anm. 4) 659.

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Der Nationalsozialismus hatte dagegen ein ganz anderes Bild von KünstlerInnen: Anstelle der „künstlerischen Freiheit“ gab er klare Normen vor, in ideologischer, rassischer aber auch in ästhetischer Hinsicht – man wusste, wie man zu malen, zu filmen, zu dichten und zu musizieren hatte, um Anerkennung zu finden und finanziell entlohnt zu werden. Man war in der öffentlich rechtlichen Reichskulturkammer abgesichert, ohne deren Placet es kein Gestalten/ Bauen/Malen/Musizieren/Schreiben/Sprechen für die Öffentlichkeit gab. Schwierig war dies für jene, die sich diesen Normen nicht fügen konnten oder wollten. Die totalitären Zwänge begünstigten die Spaltung von öffentlichem und privatem Verhalten. Man war einer formellen Zensur ausgeliefert – anders als heute, da man privatrechtlich organisiert ist und einer weniger greifbaren informellen Zensur unterliegt. Es ist klar, dass sich diese normierende Leitvorstellung von der KünstlerIn auf die Vereine in Österreich auswirken musste: Bereits am 14. März 1938 ordnete die deutsche Reichskulturkammer an, dass das Vermögen und die gesamten Unterlagen der musikalischen und literarischen Verwertungsgesellschaften in Österreich einzuziehen seien und dass ein von ihr eingesetzter Kommissar deren Leitung zu übernehmen habe. Als Begründung wird angeführt, diese Verwertungsgesellschaften seien der „geistige und wirtschaftliche Umschlagplatz der gesamten österreichischen Autoren und Verleger“ und Musikschaffenden, im Vorstand dieser Gesellschaften befänden sich zahlreiche „Nichtarier“ und es bestünde die Gefahr, dass man ihnen und politisch Unzuverlässigen Gelder und Verträge in die Hände spiele.6 Vier Tage später setzte der von Hitler persönlich zum Reorganisator der NSDAP und Beauftragten für die Durchführung der Volksabstimmung bestellte Josef Bürckel in Wien einen Stillhaltekommissar ein, der alle Vereine binnen Kurzem unter seine Kontrolle bekam, er löste alle Künstlervereine auf und zog deren Vermögen ein, das oft durch jahrelange ehrenamtliche Arbeit erworben worden war. Dieser Aspekt illustriert zunächst, dass die Zerstörung des österreichischen kulturellen Lebens an seinem ökonomischen Zentrum ansetzen sollte, am Nerv einer wirtschaftlich fragilen Berufsgruppe. Das Ergebnis war die atemberaubend schnelle Stilllegung und spätere Liquidierung des Kerns jeder Zivilgesellschaft, des Vereinswesens. Jene Doppelbotschaft der Propaganda, dass alle Mitglieder der „Volksgemeinschaft“ das Gleiche denken/wollen/tun und dies alles aus tiefster Seele, aus „rassischem“ Instinkt, hob die tradierte Funktion des Vereins als angesiedelt zwischen Privatheit und Öffentlichkeit auf. Hinzu kam die rasche Oktroyierung einer für Österreich neuen Vereinsstruktur: Die Einführung des Führerprinzips einerseits bedeutete, dass der Vereinsleiter nicht mehr gewählt, sondern – nach Begutachtung durch die NSDAP – ernannt wurde, andererseits führte der „Arierparagraph“ zum Ausschluss der Juden 6

Brief des Geschäftsführers der RSK Ihde an das RMVP v. 14.3.1938. Bundesarchiv (BArch) Koblenz (jetzt Berlin) R 56 V/57, 200.

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und Jüdinnen. Damit kam es zu einer Enteignung und Entrechtung der Mitglieder und des bis dahin selbst gewählten, verantwortlichen Vorstands. Der überfallsartige Vorgang macht aber auch deutlich, wie hoch man den propagandistischen und ideologischen Einfluss von Vereinen einschätzte. Diese im Vorfeld der Volksabstimmung vom 10. April 1938 einsetzende Entmachtung der damals insgesamt etwa 105.000 Vereine in Österreich liquidierte den Rest an Vielfalt des künstlerischen Lebens, welcher trotz der Monopolisierungsbestrebungen des Ständestaates und seines Parteienverbotes noch immer bestand. Anders als die Vereine unterlagen Rundfunk, Zeitungen und Theater nicht der StillhalteOrder, die Josef Bürckel sofort nach dem „Anschluss“ ausgegeben hatte, sie waren durch ihre Unmittelbarkeit und Aktualität höchstrangiges Propaganda-Instrument der neuen Machthaber.7 Die Theater bekamen mit Ausnahme des Linzer Landestheaters (Ignaz Brantner) allesamt – zumeist aus Deutschland – neue kommissarische Intendanten, Personal und Programm wurden von „Artfremden“ und politisch Unzuverlässigen „gereinigt“. In Graz wurde Willi Hanke (aus Münster) – erfahren in der „Gleichschaltung“ des Theaters von Dortmund8 – im Juni 1938 als Intendant und kommissarischer Landesleiter der Reichstheaterkammer eingesetzt. 9 Hanke ersetzte den seit 1936 amtierenden und angeblich mit einer „Halbjüdin“ verheirateten Intendanten Viktor Pruscha10, hatte aber beim Publikum wenig Erfolg und wurde ab der Spielzeit 1939/40 von Dr. Rudolf Meyer abgelöst. Nach Hankes Weggang nach Nürnberg 1939 übernahm Alfred Schütz dessen Funktion als steirischer Landesleiter der Reichstheaterkammer. Die Machtübernahme manifestierte sich hier bereits am 13. März 1938 im Spielplan: Für diesen Tag war im Stadttheater (heute Opernhaus) die Uraufführung von Fritz Kickingers Operette Mausi wird energisch geplant, sie wurde von den Nationalsozialisten abgesetzt,11 um in einem Festabend den ersehnten „Anschluss“ zu feiern. Man tat dies mit der Grenzlandkantate von Hermann Pferschy und Hanns Holenia, dem späteren Landesleiter der Reichsmusikkammer, in der noch nie dargebotenen Urfassung, gerahmt vom gemeinsamen Singen der deutschen Hymne und des Horst-Wessel-Lieds.12 7

Vgl. Lorenz Mikoletzky, Josef Bürckels Dienststelle und die Steiermark 1938/39, in: Gerhard Pferschy (Hrsg.), Siedlung, Macht und Wirtschaft. Festschrift für Fritz Posch, Graz 1981, 281–291. 8 Grazer Volksblatt, 12.5.1938, 1. 9 Schreiben des Präs. der RKK an das RMVP v. 25.1.1939. BArch Koblenz (jetzt Berlin) R 55/1008, 20. 10 Pruscha war aber von 1940–43 Intendant der Pfalzoper in Kaiserslautern. 11 Manfred Blumauer, Musiktheater-Uraufführungen im Grazer Opernhaus, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz (HJB Graz) 15 (1984), 155. 12 Tagespost (Graz), 14.3.1938, 2. – Vgl. auch die Darstellung in Kurt Wimmer, Damals 1938. Grazer Zeitgenossen erinnern sich, Graz 1988, 106. – Gehen musste der Schauspielleiter Bruno Schoenfeld, der als „Halbjude“ 1933 vom Stadttheater Koblenz beurlaubt worden und 1936 vor den Nationalsozialisten von Schleswig nach Graz geflüchtet war. Siehe: Hennig Rischbieter (Hrsg.), Theater im „Dritten Reich“, Seelze-Velber 2000, 111.

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3. Die Organisation der Kultur in den Gauen Um die Ideologie von der Unverträglichkeit des Zusammenlebens der „arteigenen Volksgenossen“ und der „Anderen“ umsetzen zu können, brauchte man nicht nur den breiten Konsens und das passive Stillhalten der Bevölkerung – Beispiel Paula Grogger –, sondern auch Strukturen, die eine ungehemmte Gewaltausübung ermöglichten. Die Aufhebung der demokratischen Gewaltentrennung haben wir schon an der „Gleichschaltung“ der künstlerischen Vereine und Institutionen beobachten können. In der politischen Realität bedeutete das ein Verbot der Vereine und aller anderen Parteien und – analog zum Ständestaat – zugleich die Einheit von Staat und Partei. Erste Phase: In dieser ersten Phase nach dem Einmarsch traten recht chaotisch zunächst jene im Ständestaat illegal agierenden Institutionen handelnd hervor, welche die Machtübernahme vorbereitet und geplant hatten, und das waren mehrere konkurrierende Instanzen: In Wien war dies in erster Linie das Landeskulturamt der NSDAP, das zuvor bereits Ableger in den Bundesländern gegründet hatte: Nur in der Steiermark umfasste dieser Klub alpenländischer Künstler und Kunstfreunde „Brücke“ (gegr. 1937) so wie das Landeskulturamt alle Kunstfächer, beide standen unter der Leitung des Germanisten Friedrich Pock, führender Vielfachfunktionär in den zentralen deutschnationalen Vorläuferorganisationen des Landes: Deutscher Schulverein Südmark, Kampfbund für deutsche Kultur, NSDAP, Vertrauensmann f. Schrifttumsfragen im Volkspolitischen Referat. Während sich das Landeskulturamt in Wien bei der Machtübernahme nicht nur der eigenen Vertrauensmänner bediente, sondern auch des Deutschen Turnvereins, der SA und anderer brachial geübter Gruppierungen, verlief die Machtübernahme in der Steiermark „ohne besondere Vorkommnisse“. Nach kurzer Zeit setzte sich aber in Österreich der schon genannte, nur Hitler persönlich unterstehende Josef Bürckel durch. Zweite Phase: Die Neuorganisation der nationalsozialistischen Kulturpolitik wurde mit der Einführung des Reichskulturkammergesetzes vom 18. Juni 1938 durch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) unter Joseph Goebbels eingeleitet. Die Zwangsstruktur des Deutschen Reiches wurde übernommen. Jeder mit der Herstellung und der Vermittlung künstlerischer, aber auch journalistischer Werke Befasste musste um die Mitgliedschaft ansuchen und aufgenommen werden, bei geringem Einkommen aus künstlerischer Produktion konnte man von den hohen Mitgliedsbeiträgen befreit werden. Für die Aufnahme war nicht die Zugehörigkeit zur NSDAP erforderlich, wohl aber ein parteiamtliches, positives Gutachten. Die Reichskulturkammer war in die Sparten Musik, Bildende Kunst, Theater, Schrifttum, Film, Presse und Rundfunk (ab Nov. 1939 trat an die Stelle dieser

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Kammer die Reichsrundfunkgesellschaft) gegliedert.13 Aber auch Verleger, Schriftleiter von Zeitungen und Zeitschriften und der Buchhandel wurden analog erfasst.

Organisation der Kultur im Gau/Reichsgau Steiermark (1938–45) 1. Landeshauptmannschaft und Reichsstatthalterei Landeshauptmann, ab 1.4.1940 Reichsstatthalter: Dr. Sigfried UiberReither Abt. II (Erziehung, Volksbildung, Kultur- und Gemeinschaftspflege): Dr. Josef Papesch 2. NSDAP Gauleiter: Dr. Sigfried UIBERREITHER (23.5.1938–1945) Gaupropagandaamt: Gustav Rudolf Alois Fischer; Stv. Siegfried Treml Hauptstelle Kultur: Dr. Josef Papesch (ab Mai 1938) a. Musik: Hanns Holenia b. Schrifttum: Dr. Friedrich Pock Gaupresseamt: Gustav Koczor; Stv. Dr. Franz GLATZER Hauptstelle Rundfunk: Alfons SIGL 3. Reichspropagandaamt Steiermark Leiter: Gustav Fischer 4. Reichskulturkammer Landeskulturwalter: Gustav Fischer Geschäftsführer: Dr. Karl Walenta (17.10.1938–1945)14 Landesleiter (Ll.) der Reichsmusikkammer: Hanns Holenia Ll. der Reichskammer der bildenden Künste: kommissarischer Leiter Dipl.Ing. Friedrich JÄCKEL, Ernst v. DOMBROWSKI; dann Hans Mauracher Ll. der Reichstheaterkammer: Willi HANKE (Juni 1938–Juni 1939), Alfred Schütz Ll. der Reichsschrifttumskammer: kommissarischer Leiter Dr. Friedrich Pock; ab 4.4.1939 Paul Anton Keller Ll. der Reichsfilmkammer: Georg Fleischmann, Vertreter Franz Döhrn Ll. der Reichspressekammer: Friedrich Emil Heine Ll. der Reichsrundfunkkammer (bis 28.10.1939): unbekannt

13 Vgl. das ausführlichere Organigramm für Steiermark in Baur/Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945 (wie Anm. 1) 41–44. 14 Geb. 1907 in Graz, eine eigenständige Persönlichkeit, die auch gegenüber Berlin kritisch auftrat und nicht unterwürfige Künstler schätzte.

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Besonderheiten: Die Steiermark war der einzige Gau des Deutschen Reiches, in dem der oberste Kultur-Beamte der Reichsstatthalterei, Dr. Josef Papesch, zugleich im NSDAP-Gaupropagandaamt die Hauptstelle Kultur leitete. Einen Sonderfall bildet auch der erwähnte Willi Hanke, denn es war in den österreichischen Gauen gänzlich unüblich, dass – wie in der Steiermark – ein Deutscher als Landesleiter einer der Kammern tätig war. Das Prozedere der Aufnahme in die Kammern dauerte oft erhebliche Zeit, da sämtliche KünstlerInnen Österreichs bald nach dem „Anschluss“ ihre Ansuchen stellten, um – neben der prinzipiellen Erlaubnis an die Öffentlichkeit treten zu dürfen – auch in den umfangreichen Förderungsbetrieb integriert zu werden. Aufgezählt seien hier nur jene Fördermaßnahmen für SchriftstellerInnen: Empfehlungslisten, herausgegeben von einer Unzahl von verschiedenen Institutionen (Amt Rosenberg, Deutsche Arbeitsfront und ihr Volksbildungswerk „Kraft durch Freude“, RMVP, Nationalsozialistischer Lehrerbund), auf die v. a. Bibliotheken und Lehrer zuzugreifen hatten; die äußerst lukrativen Empfehlungslisten für Lesereisen; die Aufnahme in Anthologien – man sprach alsbald von einem Überhandnehmen der Anthologien und trachtete sie ab 1941 zu beschränken. Am ergiebigsten erwiesen sich die unzähligen neu geschaffenen Kunstpreise, die bis zur Höhe des zehnfachen Jahreslohns eines Arbeiters hinaufschnellten. Während des Krieges war die Unabkömmlich-Stellung ein besonderes, oft lebensrettendes Privileg. Über die Mitgliedschaft wurde zwar in Berlin entschieden, aber bis zur Realisierung des Ostmark-Gesetzes wurde das bürokratische Prozedere bis etwa April 1939 von den Kammern in Wien aus betrieben (Ausnahme: Theater). Als konfliktreicher Dauerbrenner erwies sich die Absicht Berlins und Bürckels15, Wien als Kulturmetropole und Konkurrenten Berlins und Münchens auszuschalten und v. a. Linz und Graz aufzuwerten. In den Gauen gab es eine analoge Struktur: Das Reichspropagandaamt Steiermark entsprach dem RMVP, dem die Reichskulturkammer im Gau zugeordnet war. Um die Einheit von Partei und Staat auch in diesem Bereich zu gewährleisten, gab es auf Parteiebene noch das Gaupropagandaamt der NSDAP. Alle drei Institutionen wurden in Personalunion von einer Person geleitet, im Falle der Steiermark war dies der kulturfremde SA-Standartenführer Gustav Fischer, sein reichseinheitlicher Titel war Landeskulturwalter16. Die Leitung des kulturellen Lebens oblag aber nicht nur dem RMVP und der Partei, sondern auch der Kulturab15 Radomir Luza, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, Wien 1977, 178–185. 16 Kärnten: Ottokar Drumbl – Niederdonau: Hans Goger – Oberdonau: Dr. Ferry Pohl, ab 1941 Rudolf Irkowsky – Salzburg: Ing. Artur Salcher, ab 1942 Dr. Heinz Wolff – Tirol/Vorarlberg: Artur Lezuo, ab Sept. 1939 Dr. Karl LAPPER (bis 14.4.1941), Karl Margreiter – Wien: Hermann STUPPÄCK (geschäftsf. Landeskulturw. Aug. 1938), Wilhelm MAUL (Sept. 1938), Dr. Leopold TAVS (Feb.–Juni 1939); Fridolin GLASS (5.5.–Ende Sept.1939); Eduard FRAUENFELD (Okt. 1939); Hans ARNHOLD (1.11.1939–Okt. 1940), Günter KAUFMANN (27.10.1940–12.1.1942), Eduard FRAUENFELD (13.1.1942–1945).

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teilung der Reichsstatthalterei, die dem Reichsinnenministerium zugeordnet war. Ihr Leiter in Steiermark war der sachkundige, im kulturellen Leben bestens vernetzte Schriftsteller Josef Papesch, der fachlich und – wie bereits gesagt wurde – durch seine Funktion in der Partei überlegene Konkurrent des Landeskulturwalters Gustav Fischer. So weit zur Organisation der Kultur in den sieben Gauen Österreichs bis Kriegsende. 3. Die dritte Phase der kulturellen Umstrukturierung im „Dritten Reich“ setzte mit der Realisierung des Ostmarkgesetzes Mitte 1939 ein und stand unter dem Vorzeichen des Versuchs der Etablierung eines selbständigen künstlerischen Systems in den Gauen. Die grundlegende Basis bot der unterschiedliche Arbeitsbeginn der regionalen Reichskulturkammer mit der zumeist (Ausnahme Theaterkammer s. o.) von Wien aus bereits erfolgten bürokratischen Vereinnahmung aller KünstlerInnen. Die kulturellen Spitzen trachteten danach, im Gau eigene Einrichtungen zu schaffen und sich als Mäzene und große Event-Veranstalter zu gebärden. Nach der Hinrichtung des künstlerischen Vereinswesens in der ersten Phase wollte nun jeder Reichsgau seine fragwürdige Unabhängigkeit durch repräsentative Kulturverbände demonstrativ zur Schau stellen. In der Steiermark wurde die Kameradschaft steirischer Künstler und Kunstfreunde gegründet, ein langwieriger Prozess, der zu einem drei Jahre währenden Machtkampf zwischen der spezifisch steirischen Position Papeschs und dem hier siegreichen, Berlin zugeordneten Gaupropagandaleiter Gustav Fischer ausartete. Aber dieser Verein hatte nichts Privates an sich, er war nur ein Ableger der zentral gesteuerten Propaganda. Etwa ein Jahr lang entfaltete er zahlreiche repräsentative Aktivitäten v. a. in Anthologien und in der Malerei und bildenden Kunst; er hatte auch Außenstellen in der Obersteiermark und im besetzten Marburg/Maribor. Das genannte Mäzenatentum der Nationalsozialisten drückte sich unter anderem in der bedeutenden Vermehrung und Umstrukturierung der Preise für Künstler und deren hohen Dotation aus. Preise sind ein besonders augenfälliger und absatzträchtiger Indikator für die Einbindung von AutorInnen in das offizielle kulturelle System eines Staates. Es mag als signifikant gelten, dass nach der Durchführung des Ostmarkgesetzes die von Wien losgeeisten Reichsgaue auch danach strebten, Landespreise zu schaffen, so geschehen in Oberdonau (Oberösterreich) und Kärnten, aber auch einzelne Städte (Linz, Braunau, Salzburg, Villach) reihten sich ein, wie auch Graz, die „Stadt der Volkserhebung“. Soweit bekannt, war ihr „Kunstpreis“ der erste von offizieller Seite gestiftete Preis im Lande (der Journalist Hans von Dettelbach erhielt ihn 1943 als einziger Schriftsteller) immerhin etwa in der Höhe von mehr als des doppelten Jahresgehalts eines Arbeiters (3.300 Reichsmark).17 Jeder Gau versuchte, nicht nur über regionale Anthologien, sondern auch durch Periodika 17 Helga Strallhofer-Mitterbauer, NS-Literaturpreise für österreichische Autoren, Wien 1994, 66 ff.

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den AutorInnen und KünstlerInnen ein Publikationsforum zu bieten, in der Steiermark gab der Landesleiter der Reichsschrifttumskammer die Reihe Der Kranz. Aus Steiermarks schöpferischer Kraft (Graz 1941–1943) heraus; selbstverständlich blieb in der Praxis Wien das Zen­ trum, die Gaue brachten nicht viel zustande – nicht nur weil ausreichendes Publikum fehlte, sondern auch wegen der bereits 1939 einsetzenden Kriegshandlungen. Finanziell großzügig ging man mit dem Theater um, es erfreute sich der besonderen Wertschätzung von Joseph Goebbels. So wurden die für das ganze Großdeutsche Reich repräsentativen Reichstheaterwochen zwei Mal in Wien abgehalten (1938 und 1940). Neu war die Schaffung von Wandertheatern, im Gebiet des heutigen Niederösterreichs war dies die Gaubühne Niederdonau (Baden), in Braunau, dem Geburtsort Hitlers, die Landesbühne Oberösterreich. In der Steiermark schuf man in Leoben ein Wandertheater, die Alpengaubühne, die 63 theaterlose Orte bespielte. Im Zusammenhang mit der Selbständigkeit der Gaue legte man besonderen Wert auf groß angelegte Künstlerfeiern, welche die kulturelle Bedeutung identitätsstiftend untermauern sollten: In Wien galten sie Ferdinand Raimund (1940), Franz Grillparzer (1941), Wolfgang Amadeus Mozart (1941), Friedrich Hebbel (1942) und knapp vor dem „totalen Kriegseinsatz aller Kulturschaffenden“ (1. Sept. 1944) und der Schließung aller Theater feierte man noch Richard Strauß. In Oberösterreich besann man sich auf Adalbert Stifter (1939) und in der Steiermark natürlich auf Peter Rosegger, den man 1943 ein ganzes Jahr lang feierte. Es gehört zu den fragwürdigen Verdiensten der nationalsozialistischen Kulturpolitik, dass sie in den erstmals von Wien getrennten Gauen zumindest auf dem Gebiet des literarischen Schaffens erstmals ein ausdifferenziertes literarisches System schuf, dazu gehörten die Periodika, Preise, Ehrungen, die Kritik verkümmerte allerdings zur Buchbesprechung. Die SchriftstellerInnen wurden zu repräsentativen Größen aufgewertet durch einen Staat, der sich als Mäzen der „gleichgeschalteten“ KünstlerInnen gebärdete und sie propagandistisch für die ideologische Gleichschaltung und die Kriegsführung funktionalisierte. Zieht man Bilanz über die Auswirkungen dieser Politik, so lässt sich nicht verleugnen, dass nach der totalitären Machtübernahme in Phase 1 und 2 der „Neuaufbau“ nur zu einem staatlich subventionierten und kontrollierten Potemkinschen Dorf führte, analog zur „Kulturpolitikskultur“ (Robert Musil) des Ständestaats zu einer in der Propaganda hochgepuschten Blase, die schon vor dem Kriegsende platzte.

4. Politische ideologische Prämissen Die Reichskulturkammer war ein Organ des RMVP, die richtungweisenden, wichtigen Anliegen wurden dort entschieden. Im Nationalsozialismus war – wie tendenziell in jeder Diktatur

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– die Kunst mit der Propaganda kurzgeschlossen und wurde solcherart funktionalisiert, zu dem Zweck, für Absichten und Handlungen des Staates Rechtfertigungen zu formulieren, Werbung zu betreiben und Sinn zu stiften, wo es an Sinn mangelte – somit ideologische Arbeit zu leisten und kritische Stimmen auszuschalten, abzulenken, Trost zu spenden, Überlebenshilfe zu geben etc. Die Künste – insbesondere das Fronttheater und der Rundfunk – sollten auch Funktionen für Kriegsführung und Wehrmacht übernehmen – man denke nur an die Feldpostausgaben im Bereich der Literatur oder generell die für das Durchhaltevermögen der Soldaten wichtige, sogenannte „künstlerische Betreuung der Wehrmacht“ 18. Der Germanist Joseph Goebbels bemerkte schon zu Beginn seiner verheerenden Laufbahn, Kunst hätte Opium fürs Volk zu sein, hätte zu benebeln, rauschhafte Zustände zu erzeugen; alles Nachdenken, Infragestellen fiel unter das Verdikt der „volksverräterischen Dekadenz der Intellektuellen“19. In der Steiermark definierte der Landesrat für Kultur Josef Papesch 1943 in folgender Weise seine kulturelle Strategie: „Veranstaltungen müssen vor allem an das Herz und an das Gefühl der Gemeinschaft greifen, denn sie reagiert mit Herz und Gefühl und nicht mit dem Intellekt. Darum kein politischer Druck, sondern Heimatwerte, die allen lieb und teuer sind [...]“20

So vage diese Formulierungen sind, so klar bekennen sie sich zu jener Richtung, die bereits in der Kulturpolitik des Ständestaates zur geistigen „Aufforstung“ Wiens durch die „HeimatkünstlerInnen“ der Bundesländer nobilitiert worden war.21 Das Jahr 1938 markiert einen Paradigmenwechsel, der schon 1928 mit der Gründung des Steirischen Schriftstellerbunds institutionalisiert gegen das Wien der Moderne antrat und binnen zwei Jahren alle Bundesländer im Alpenländischen Schriftstellerverband gegen die Metropole mobilisiert hatte.22 Die neue Gaugliederung der Nationalsozialisten schuf nun den politischen Rahmen für einen „Aufstand der Provinz“. Ästhetisch und thematisch knüpfte man v. a. an die „Heimatkunst“ an und bettete sie in die staatstragende Blut-und-Boden-Ideologie ein. 18 Vgl. Frank Vossler, Propaganda in die eigene Truppe. Die Truppenbetreuung in der Wehrmacht 1939– 1945, Paderborn 2005. 19 Joseph Goebbels, Wege ins Dritte Reich. Briefe und Aufsätze für Zeitgenossen, München 1927, 5, zitiert nach Klaus Siebenhaar, Buch und Schwert, in: „Das war ein Vorspiel nur ...“. Bücherverbrennung Deutschland 1933: Voraussetzungen und Folgen, Berlin 1983, 81 [Ausstellungskatalog]. 20 Zit. nach Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, 2., erg. Aufl. Graz-Wien 1986, 200. 21 Vgl. Friedbert Aspetsberger, Literarisches Leben im Austrofaschismus. Der Staatspreis, Königstein/Ts. 1980, 89. 22 Vgl. Uwe Baur, Metropole und Provinz – österreichische Schriftstellervereine zwischen Erstem Weltkrieg und 1945, in: Anton Schwob (Hrsg.), „Und gehen auch Grenzen durch jedes Wort“. Grenzgänge und Globalisierung in der Germanistik, Wien 2001, 65–72.

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Die propagandistische Funktionsbestimmung der Künste bedeutete Zwang zur permanenten Parteinahme für das Regime. Diese monopolistische Funktionalisierung der Künste beruhte – wie eingangs erläutert – auf der Spaltung der Bevölkerung in jene Menschen, die der „Volksgemeinschaft“ angehörten und in jene, die „ausgesondert“ wurden. Das nationalsozialistische Regime brauchte und missbrauchte die KünstlerInnen „zur Durchsetzung seiner Kriegspolitik und der Völkervernichtung“23. Diese Realität wurde nach 1945 nicht nur von den KünstlerInnen selbst verdrängt, sondern v. a. vom Kulturbetrieb der Zweiten Republik – radikal ab dem Kalten Krieg, der, gedeckt durch das Feindbild Kommunismus, die keimende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unterdrückte, übertölpelte. Die Unzahl an offiziellen Preisen an die sich nicht als belastet empfindenden KünstlerInnen belegt dieses Faktum. Die Mittäterschaft der Künste war nicht mit der Kapitulation 1945 abgeschlossen,24 die Diskursmuster wirken bis heute weiter in Rechtfertigungsstrategien, an denen die SchriftstellerInnen während der NS-Zeit mitgewirkt, in Verdrängungsmustern, die sie in der Nachkriegszeit ihren LeserInnen angeboten haben, und in jener emotionalen Eliminierung der „anderen Seite“. Elfriede Jelinek sprach im Zusammenhang mit ihrem Stück „Burgtheater“ von der „unseligen Kontinuität im österreichischen Kulturbetrieb, über die nicht stattgefundene Entnazifizierung und Vergangenheitsbewältigung“25. Ein beschämendes Bild bietet z. B. die gegenwärtige Unzahl an Benennungen öffentlicher Einrichtungen in Graz nach regionalen Größen des NS-Kunstbetriebs, ohne dass deren seinerzeitige Rolle in einem Kommentar aufscheinen würde. Wir finden hier etwa die Namen Hans Mauracher, Hanns Holenia und Paul Anton Keller – allesamt Landesleiter der Reichskulturkammer, der höchsten künstlerischen repräsentativen Position im Gau Steiermark.

II. Steirische Autoren und Autorinnen im ­N ationalsozialismus Wie bereits ausgeführt, änderte sich mit dem „Anschluss“ Österreichs die Kulturpolitik radikal, Reichsschrifttumskammer (RSK) und RMVP bestimmten nun, wer in der „Ostmark“ Zugang zum offiziellen literarischen System bekam, wer am kulturellen Leben teilhaben durfte. Die radikale Spaltung der Literatur in einen akzeptierten, geförderten (oder zumindest geduldeten) Bereich und in einen anderen, ausgegrenzten und vernichteten, hatte auch Auswirkungen auf deren VerfasserInnen. Entscheidend war, auf welcher Seite man stand, aber: 23 Oliver Rathkolb, Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich. Wien 1991, 9. 24 Vgl. Karl Müller, Zäsuren ohne Folgen. Das lange Leben der literarischen Antimoderne Österreichs seit den 30er Jahren, Salzburg 1990. 25 Rathkolb, Führertreu (wie Anm. 24) 8.

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Personen jüdischer Herkunft und politisch missliebige hatten keine Wahl. So ist der „Anschluss“ auch durch jene geprägt, für die er „Ausschluss“ bedeutete, die in das Exil gezwungen wurden oder in Konzentrationslagern und Gefängnissen Misshandlungen erduldeten und ihr Leben ließen. Literarischen Außenseitern blieb die innere Emigration vorbehalten, vorausgesetzt, sie hielten sich politisch bedeckt und waren weder jüdischer Abstammung noch ökonomisch vom Schreiben abhängig. Der anfangs erwähnte Hermann Broch wurde Anfang April 1938 aus der Haft entlassen, im Herbst 1938 konnte er mithilfe von James Joyce, Albert Einstein und Thomas Mann in die USA ausreisen. Ohne prominente Fürsprecher in das rettende Ausland flüchten mussten jüdische Grazer AutorInnen, darunter Carl Mayer und Mela Hartwig. Beide emigrierten nach London, wo Mayer, einer der wichtigsten Drehbuchautoren des deutschen Stummfilms (z. B. Der letzte Mann, Regie: F. W. Murnau 1924), „arm wie eine Kirchenmaus“ 1944 verstarb26. Nach ihrer Heirat mit einem Rechtsanwalt kam die gebürtige Wienerin Mela Hartwig 1921 nach Graz. Mit ihrem Novellenband Ekstasen (1928) und dem Roman Das Weib ist ein Nichts (1929) erregte sie großes Aufsehen, für Letzteren erhielt sie den renommierten Julius-ReichDichterpreis. 1938 emigrierte die Autorin mit ihrem Ehemann nach Großbritannien, arbeitete in London als Deutschlehrerin und Übersetzerin; sie kehrte nicht mehr nach Österreich zurück.27 Der aus Weißrussland stammende hebräische Autor Gershon Shofman(n), ein Schüler Peter Altenbergs, lebte von 1921 bis 1938 in Graz-Wetzelsdorf, nach dem „Anschluss“ emigrierte er nach Palästina/Israel, wo er heute als einer der bedeutendsten Erzähler gehandelt wird (Bialikpreis 1946, Israelpreis 1957).28 Erich Herbert Schneider, aus Dresden gebürtig und in Thal bei Graz ansässig, wurde aufgrund seiner gegen den Nationalsozialismus gerichteten Publikation Erbauungsbuch für den deutschen Spießer (1937, Neuaufl. 2008) verhaftet und blieb bis Weihnachten 1938 im Polizeigefängnis Paulustor bzw. in einer Nervenheilanstalt interniert. Um nicht nochmals in das 26 Jürgen Kasten, Carl Mayer. Filmpoet. Ein Drehbuchautor schreibt Filmgeschichte, Berlin 1994. – Bernhard Frankfurter (Hrsg.), Carl Mayer. Im Spiegelkabinett des Dr. Caligari. Der Kampf zwischen Licht und Dunkel, Wien 1997. – Michael Omasta/Brigitte Mayr/Christian Cargnelli (Hrsg.), Carl Mayer Scenar[t]ist. Ein Script von ihm war schon ein Film, Wien 2003. 27 Vgl. Bettina Fraisl, Körper und Text, (De-)Konstruktion von Weiblichkeit und Leiblichkeit bei Mela Hartwig (Studien zur Moderne 17), Wien 2002. – Sigrid Schmidt-Bortenschlager: Exil und literarische Produktion. Das Beispiel Mela Hartwig, in: Charmian Brinson (Hrsg.), Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in Großbritannien 1933–1945 (Publications of the Institute of Germanic Studies 72), München [u. a.] 1998, 88–99. 28 Encyclopaedia judaica, Bd 14, Jerusalem 1971, 1448–1449. – Kol Kitve G. Shofman, [Collected Works] 1–5, Tel Aviv 1960 [Hebräisch]. – Nurit Govrin, Gershon Shofmann. From Horizon to Horizon. The Life and Work of Gershon Shofmann. 2 Bde, Tel Aviv University & Yahdav 1982 [Hebräisch]. – Norman Tarnor, The many Worlds of Gershon Shofman, West Orange/NJ 1989.

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Visier von Polizei oder Gestapo zu kommen, zog er sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, seinen Lebensunterhalt verdiente er mit der Produktion von Gemüsekonserven für die deutsche Wehrmacht. 1946 erschienen Gedichte aus dem Paulustor (Neuaufl. 2008), die er seinerzeit im Gefängnis „mit einem Nagel in den Koffer geritzt [...]“ seinem Freund Georges Walz mitgegeben hatte.29 Schneider fand niemals Eingang in die steirische Literaturszene der Nachkriegszeit, er starb 1989 völlig verarmt in der Nähe von Wildon.30 Im Widerstand gegen Hitler engagierte sich der junge Lehrer Richard Zach. Von der Gestapo verhaftet, verfasste er im Gefängnis Gedichte (z. B. Ich bin den anderen Weg gegangen), die er „durch Morsezeichen dem Zellennachbarn […] übermittelte“31. Wegen „Hochverrats“ und „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt, wurde er am 27. Jänner 1943, erst 23 Jahre alt, im Zuchthaus BerlinBrandenburg hingerichtet. Diese Beispiele zeigen, dass es auf dem Gebiet der Literatur auch eine „andere“ Steiermark gab. Durch die Ausgrenzung jüdischer AutorInnen rückten plötzlich jene in die erste Reihe, die nicht selten bereits vor 1938 Hitlers Anhänger gewesen waren. Für sie galt es nun, die Ernte einzufahren, sei es in Form von großzügigen Förderungen oder Ehrungen und Preisen, die das neue Regime reichlich unter seinen Vasallen verteilte. Einer der Nutznießer war Paul Anton Keller32, NSDAP-Mitglied seit 1933, der nach Inkrafttreten des Ostmarkgesetzes zum Landesleiter der RSK Steiermark avancierte, ein gewaltiger Karrieresprung für den bis dahin eher unbekannten Schriftsteller. Nachdem sich Josef Papesch vehement gegen den von der RSK Berlin favorisierten Doyen der steirischen Literatur, den fast 70-jährigen Hans Rudolf Bartsch, ausgesprochen hatte, brachte der kommissarische RSK-Leiter Friedrich Pock den jungen Kollegen Keller als Kompromisskandidaten ins Spiel – und setzte sich durch. Als RSK-Landesleiter entschied Paul Anton Keller ab April 1939 über die Aufnahme respektive Ablehnung von in der Steiermark ansässigen SchriftstellerInnen. Jede Person, die im „Dritten Reich“ literarisch in Erscheinung treten wollte, musste bei der RSK gemeldet sein, eine Ablehnung bedeutete Berufsverbot. 29 Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser, Lexikon der österreichischen Exilliteratur, Wien–München 2000, 572. – Uwe Baur befragte den Autor kurz vor dessen Tod, Unterlagen befinden sich in der Forschungsstelle österreichische Literatur im Nationalsozialismus, Universitätsarchiv Graz. 30 Zu allen im Beitrag erwähnten AutorInnen – ausgenommen jene des Exils – finden sich ausführliche bio-bibliografische Informationen in: Baur/Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945 (wie Anm. 1) 65–354. 31 Stefan Riesenfellner, Richard Zach, in: Gradwohl-Schlacher/Langmann/Riesenfellner/Spörk, „Durch unsern Fleiß“ (wie Anm. 2) 24. – Siehe auch Christian Hawle: Die Frage des Menschseins. Monographie zu Richard Zach (1919–1943), phil. Diss. Wien 1993. – Christian Hawle (Hrsg.), Richard Zach: Streut die Asche in den Wind! Ausgewählte Gedichte, Stuttgart 1988. 32 Vgl. Sabine Rupp, Die Lebensgeschichte des Autors Paul Anton Keller – ein endlos geflochtenes Band, in: HJB Graz 25 (1994), 421–441.

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In der Steiermark führend im kulturpolitischen Bereich war der bereits mehrfach genannte Josef Papesch, welcher in den 1920er-Jahren als junger Mittelschullehrer mit dem populären deutschnationalen Singspiel Der steirische Hammerherr (1921) Bekanntheit erlangt hatte. In Marburg/Maribor geboren, betätigte er sich mit seinem Jugendfreund Friedrich Pock in führender Position im einflussreichen Deutschen Schulverein Südmark, seine Nähe zum Nationalsozialismus demonstrierte er 1933 mit dem im Ständestaat verbotenen Pamphlet Fesseln um Österreich. Als Gauhauptstellenleiter für Kultur der NSDAP, Landesrat für Kultur, Leiter der Abteilung II (Erziehung, Volksbildung, Kultur- und Gemeinschaftspflege) und Regierungsdirektor bei der Reichsstatthalterei lenkte er 1938 bis 1945 quasi im Alleingang die kulturellen Belange der Steiermark. Papesch war auch Mitglied der SS (Hauptsturmführer),33 als jedoch seine behinderte Tochter 1941 aufgrund des Euthanasie-Gesetzes ermordet wurde, suchte er um Entlassung an.34 Bereits zur Zeit des Ständestaates hatten sich die mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden österreichischen AutorInnen in dem Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs (BDSÖ) zusammengefunden mit dem Ziel, den „Anschluss“ auf literaturpolitischem Gebiet voranzutreiben. Zur Volksabstimmung am 10. April 1938 lieferte der BDSÖ ein feierliches Bekenntnis der deutschen Dichter Österreichs, welches der – wie Papesch – aus Marburg/Maribor stammende Präsident Max Mell unterzeichnete: „In der feierlichen Stunde, in der sich das deutsche Volk in Österreich zum großdeutschen Reich […] bekennt, erachten es auch die Dichter des Landes für ihre Pflicht, einmütig ihr leidenschaftliches Bekenntnis zum Deutschland Adolf Hitlers auszusprechen [...]“35

Knapp vor der Vereinsauflösung durch den Stillhaltekommissar im Sommer 1938 gab der BDSÖ das Bekenntnisbuch österreichischer Dichter heraus, in welchem die Mitglieder Huldigungsadressen an Hitler-Deutschland richteten. Unter den BeiträgerInnen finden sich etliche steirische AutorInnen, wie z. B. Max Mell, der für diesen Anlass das Gedicht Am Tag der Abstimmung verfasste: Gewaltiger Mann, wie können wir dir danken? / Wenn wir von nun an eins sind ohne Wanken. / Volk, heilig Volk, wie können wir dir dienen?36 Neben Mell waren mit 33 Siehe Josef Papesch, Lebenslauf 1893–1968. Forschungsstelle (wie Anm. 30). 34 Vgl. Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 21) 179. 35 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 105 (1938) 83, 296. Der umfangreiche Text erschien unter dem Titel Bekenntnis des Bundes deutscher Schriftsteller zum Führer auch im Neuen Wiener Tagblatt, vgl. Gerhard Renner, Österreichische Schriftsteller und der Nationalsozialismus (1933–1940). Der „Bund der deutschen Schriftsteller Österreichs“ und der Aufbau der Reichsschrifttumskammer in der „Ostmark“, Frankfurt/Main 1986, 291. 36 Bekenntnisbuch österreichischer Dichter, hrsg. Bund der deutschen Dichter Österreichs, Wien 1938, 68.

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den BDSÖ-Mitgliedern Paula Grogger und Rudolf List weitere prominente AutorInnen aus der Steiermark vertreten, Grogger mit Haussegen, List mit Steirische Hymne. In der ebenfalls 1938 edierten zweiten Anthologie des BDSÖ, Gesänge der Ostmark, treten die drei nochmals in Erscheinung.37 Während sich Paula Grogger bald danach aus der Öffentlichkeit zurückzog, übersiedelte Rudolf List als Leiter des Kreispresseamtes und Redakteur des offiziellen NS-Organs Nikolsburger Kreisblatt nach Nikolsburg/Mikulov38, ab November 1940 leitete er das Ressort Kunst und Kultur beim Brünner Tagblatt im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Max Mell nahm nach dem „Anschluss“ eine ambivalente Haltung ein: Er lehnte zwar die ihm angetragene, ehrenamtliche Funktion als Landesleiter der RSK Wien ab, nahm jedoch 1941 den Grillparzer-Preis und 1942 den Ehrenring der Stadt Wien in Empfang; bereits 1937 hatte er den hochdotierten Mozart-Preis erhalten, einen der wichtigsten Literaturpreise des „Dritten Reiches“. Ein mächtiger Gegner erwuchs ihm in Propagandaminister Joseph Goebbels, vermutlich wegen seines guten Verhältnisses zu dessen Erzfeind, dem Wiener Gauleiter und Reichsstatthalter Baldur von Schirach39. 1940/41 verhängte Goebbels höchstpersönlich (temporäre) Aufführungsverbote für die Dramen Das Spiel von den deutschen Ahnen (1935) und Sieben gegen Theben (1932). Darüber hinaus widersetzte er sich der Zuerkennung des Grillparzer-Preises an den Autor, den Mell nach Interventionen prominenter Wiener Wissenschafter 1941 dennoch erhielt. Die Mitgliedschaft im BDSÖ lohnte sich nach dem „Anschluss“ für österreichische AutorInnen in vielfältiger Weise, erhielten sie nun doch kulturpolitische Förderung, fanden Aufnahme in Empfehlungslisten und profitierten solcherart vom ungleich größeren deutschen Buchmarkt in Form von steigender Popularität, gut bezahlten Lesungen, hohen Auflagen und daraus resultierenden finanziellen Vorteilen. Der bis dahin in Deutschland weitgehend unbekannte Franz Nabl, Kulturredakteur in Graz und ehemaliges Mitglied des Kampfbundes für deutsche Kultur, stieg quasi über Nacht zum „Epiker der ‚Ostmark‘ schlechthin“40 auf (u. a. Die Ortliebschen Frauen 1936). Seine Erzählung Griff ins Dunkel, 1936 erstmals erschienen,

37 Mell ist vertreten mit Weihnachts-Choral, Hochsommernacht u. Heimat; Grogger mit Der Vater u. Auferstehung; List mit Glück im Bergtal, Bauernhof im Gebirg, Mutter, Mittag im Dorf u. O süßes Dunkel himmelweit. 38 Die ehemals tschechoslowakische Stadt Nikolsburg/Mikulov gehörte seit Etablierung des Reichsgaus Sudetenland am 15.4.1939 zu Niederdonau. 39 Mell intervenierte bei Schirach u. a. für den Wiener Autor Wladimir von Hartlieb, BDSÖ-Mitglied der ersten Stunde, dessen Aufnahme die RSK ablehnte, weil er in zweiter und dritter Ehe mit Jüdinnen verheiratet gewesen war. Nach Mells Intervention genehmigte die RSK Hartliebs Aufnahme. Vgl. BArch Berlin, RSK-Personalakt Wladimir von Hartlieb geb. 19.2.1887. 40 Stefan Riesenfellner, „Grenzfeste“ deutscher Literatur? Einleitende Bemerkungen, in: GradwohlSchlacher/ Langmann/Riesenfellner/Spörk, „Durch unsern Fleiß“ (wie Anm. 2) 7.

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erlebte bis 1944 insgesamt 27 Auflagen. Nach der Annexion Österreichs erwies das „Dritte Reich“ dem Autor seine Reverenz, indem er, neben Hans Kloepfer, Sepp Keller u. a., bei der 9. Berliner Dichterwoche „Deutsch-Österreichische Dichtung der Zeit“ (25.–30. April 1938) die Literatur seiner Heimat repräsentieren durfte, auch beim 1. Großdeutschen Dichtertreffen in Weimar fehlte er nicht. Ebenfalls 1938 erhielt er, wie im Jahr zuvor Max Mell, den mit 10.000 RM dotierten Mozart-Preis der Goethe-Stiftung, 1943 das Ehrendoktorat der Reichsuniversität Graz. Dennoch verstand sich Franz Nabl „zeitlebens als unpolitischer Dichter“41. Ein enger Freund Nabls aus der informellen, aber einflussreichen „Südmarkrunde“ der 1920er-Jahre, der Köflacher Arzt Hans Kloepfer, setzte sich 1938, obwohl bereits 71-jährig, in Printmedien und auf Plakaten eifrig für die Volksabstimmung ein. Mit einschlägigen Gedichten ist er in praktisch allen „Anschluss“-Anthologien vertreten, gilt damit als der „aktivste Bekenner unter den bekannten steirischen Schriftstellern“42. 1939 erhielt auch er den Mozart-Preis, 1942 aus Anlass des 75. Geburtstags die angesehene Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft. Bis zu seinem Tod im Jahr 1944 blieb Kloepfer ein glühender Anhänger Adolf Hitlers. Neben Josef Papesch, der einer älteren Generation angehörte, engagierte sich eine Reihe von jungen Autoren in (para)militärischen Formationen wie SA, SS und Waffen-SS – und dies meist lange vor 1938. Zu nennen sind hier u. a. Erich Knud Kernmayr und Sepp Keller. Letzterer, SA-Mitglied seit 1932, studierte an der Hochschule für Bodenkultur in Wien, bevor er nach dem Juli-Putsch 1934 nach München flüchtete, wo sich seit dem Verbot der NSDAP in Österreich 1933 die österreichische Landesleitung der NSDAP befand.43 Er schloss sich der SA-Gruppe Österreich (= Österreichische Legion) an, brach das Studium ab und versuchte sich erfolgreich als Schriftsteller (Das ewige Leben 1937, Zwischen Nacht und Tag 1938). Keller galt als großes erzählerisches Talent, die Teilnahme an Dichtertreffen44 und Lesereisen sowie die Förderung seiner Werke durch das RMVP veranschaulichen seinen Stellenwert im Literaturbetrieb. Im Auftrag der Volksdeutschen Mittelstelle der SS nahm er 1939/40 an den von der SS durchgeführten Umsiedlungen von „Auslanddeutschen“ aus Wolhynien, Galizien und 41 Peter Langmann, Franz Nabl, in: Gradwohl-Schlacher/ Langmann/Riesenfellner/Spörk, „Durch unsern Fleiß“ (wie Anm. 2) 20. 42 Heinz Spörk, Hans Kloepfer, in: Gradwohl-Schlacher/Langmann/Riesenfellner/Spörk, „Durch unsern Fleiß“ (wie Anm. 2) 15. 43 Nach dem Juli-Putsch befahl Hitler die Auflösung der NSDAP-Landesleitung Österreich, die am 3.8.1934 in Kraft trat, gleichzeitig wurde ein Hilfswerk für österreichische Flüchtlinge und Hinterbliebene aufgebaut. Vgl. Gerhard Jagschitz, Der Putsch. Die Nationalsozialisten 1934 in Österreich, Graz–Wien–Köln 1976, 182. 44 Keller war – neben Nabl und Kloepfer – der dritte steirische Autor bei der 9. Berliner Dichterwoche 1938.

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dem Baltikum teil.45 Ab 1942 im Kriegseinsatz, verstarb Sepp Keller Ende 1944 in der Nähe von Verona an den Folgen eines Motorradunfalls.46 Der Zweite in diesem Kontext, Erich Knud Kernmayr, ist gleichzeitig einer jener Autoren, die ihre Karrieren den spezifischen Bedingungen des Nationalsozialismus verdanken. In Graz geboren und in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, geriet er als Jugendlicher auf die schiefe Bahn.47 Er wandte sich erst der Kommunistischen Partei zu („Affäre Kernmayr“48), ab ca. 1934/35 engagierte er sich für den Nationalsozialismus, trat der SA bei, übersiedelte nach Wien und reüssierte als Journalist und Mitarbeiter illegaler NS-Printmedien. Nach dem „Anschluss“ Hauptstellenleiter im Wiener Gaupresseamt, ging er 1940 mit dem scheidenden Wiener Gauleiter Josef Bürckel in die Saarpfalz (Westmark), wo er zum Leiter des dortigen Gaupresseamtes aufstieg. 1941 bis 1945 nahm Kernmayr im Dienst der Waffen-SS an Kriegseinsätzen teil, zumeist als Frontjournalist in einer SS-Kriegsberichterabteilung. Neben seiner politischen Tätigkeit veröffentlichte er Romane und Erzählungen, oft getragen von „Erlebnissen der Kampfzeit“ mit autobiografischem Charakter (u. a. Fahne im Sturm 1940, Der verratene Berg 1943); nach Kriegsende standen seine Werke auf dem Index. Wie zahlreiche ehemalige SS-Mitglieder wurde Kernmayr nach 1945 vom amerikanischen Geheimdienst Counter Intelligence Corps, dem Vorläufer der CIA49, angeworben; er gehörte zu jenem Nachrichtennetz, das als „Gmundner Kreis“ einschlägig bekannt war. Gemeinsam mit dem einstigen Mussolini-Befreier Otto Skorzeny betätigte er sich als Fluchthelfer für hochrangige Nationalsozialisten, Ende der 1940er-Jahre fungierte er als Proponent des Verbandes der Unabhängigen, Vorläuferpartei der späteren FPÖ. Ab 1948 publizierte er revisionistische Literatur unter dem Pseudonym „Erich Kern“ (u. a. Der große Rausch 1948, Verrat an Deutschland 1963); in der BRD galt er bis zu seinem Tod 1991 als einer der führenden Aktivisten der rechten Szene. Nur wenige steirische AutorInnen konnten vom Schreiben leben, sodass die meisten einem Brotberuf nachgingen und sich nur nebenbei schriftstellerisch betätigten. Fragt man 45 Als Angehöriger eines SS-Totenkopfregiments war auch der akademische Maler Heinz Reichenfelser an den Umsiedlungen beteiligt, in Sie folgten dem Ruf des Führers (1941) berichtet er davon. Siehe auch Baur/Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945 (wie Anm. 1) 297–301. 46 Vgl. Rebekka Dietl, Sepp Keller. Leben und Werk des Autors, Dipl.arb. Graz 1994. 47 Elf Verurteilungen (u. a. Eigentumsdelikte, politische Betätigung) bis 1935. Vgl. Karin GradwohlSchlacher, Der Grazer Journalist und Schriftsteller Erich Knud Kernmayr. Ein biographischer Versuch, in: HJB Graz 20 (1989), 111–125. 48 In der KP galt Kernmayr als Heimwehrspitzel, in NSDAP-Kreisen als Spitzel der KP, für den 1932 eine sogenannte Warnungskarte ausgestellt wurde. Parteiintern wurde eine internationale Kommission eingesetzt, die Kernmayr vom Verdacht des Spitzeltums freisprach. Vgl. Hans Schafranek, Das kurze Leben des Kurt Landau. Ein österreichischer Kommunist als Opfer der stalinistischen Geheimpolizei, Wien 1988. 49 Vgl. US National Archives and Records Administration, Group 263, Box 40, 2000/07/02. – Vgl. auch Christopher Simpson, Der amerikanische Bumerang. NS-Kriegsverbrecher im Sold der USA, Wien 1988.

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nach der beruflichen Orientierung, dominieren LehrerInnen und Journalisten (Journalistinnen gab es nur vereinzelt). Während LehrerInnen meist in der Steiermark wirkten, verschlug es eine Reihe von Journalisten50 nach Berlin, deren gemeinsames Merkmal die Herkunft aus der ehemaligen Untersteiermark ist. Dazu gehören u. a. Alfred Maderno, bürgerlich Schmidt und geboren in Marburg/Maribor, Kulturredakteur beim Berliner Lokal-Anzeiger, sowie Herbert Gigler, geboren in Cilli/Celje, nach dem Ersten Weltkrieg Vorreiter der Moderne im Grazer Werkbund Freiland (u. a. Der Gartengott 1918), der bis 1933 im Verlag Ullstein51, danach im Bildarchiv der Deutschen Arbeitsfront tätig war. Ebenfalls aus Marburg/Maribor kam der junge Mittelschullehrer Heinz Brunner, nach 1945 Direktor des Grazer Verlages Stocker, welcher 1931 in Graz zum Führer der Jugendverbände des Deutschen Schulvereins Südmark avancierte, bevor er in der NS-Zeit als leitender Jugendreferent an der Seite des mächtigen, aus Kärnten stammenden Bundesleiters und späteren ÖVP-Politikers Hans Steinacher im Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) Karriere machte. Brunner agierte als Verbindungsmann zu dem heimatlichen Schulverein, der vom VDA finanzielle Unterstützung erhielt.52 Nach der Entmachtung des VDA durch die Volksdeutsche Mittelstelle der SS und der Entlassung Steinachers 1937, lebte Brunner als Hochschullehrer in Bonn, ab 1940 war er im Kriegseinsatz. Neben geopolitischen Publikationen (u. a. Das Deutschtum im Südeuropa 1940) verfasste er den Roman Brücke über die Drau (1940), nach 1945 die Autobiografie Geblieben aber ist das Volk (1954). Hermann Pirich, ein aus Pettau/Ptuj stammender Jurist, lebte bereits seit 1929 als Journalist in Deutschland, 1937 ging er nach Berlin zu der von Joseph Goebbels gegründeten NSDAP-Zeitung Der Angriff. Im Krieg gehörte Pirich – wie Erich Kernmayr – als Mitglied der Waffen-SS einer SS-Standarte für Kriegsberichterstatter an, von seinen Einsätzen berichtet er in Wir sind gerade dabei. Erlebnisse und Randbemerkungen eines Kriegsberichters zwischen Leningrad und Gibraltar (1944). Anfang 1944 kam er mit einem Sonderkommando der Waffen-SS in die von deutschen Truppen besetzte Operationszone „Adriatisches Küstenland“, wo er in Triest als Chefredakteur der Deutschen Adria-Zeitung maßgeblichen Anteil an der deutschen Propagandaoffensive hatte. Im Wirkungsbereich von Goebbels’ Widersacher Alfred Rosenberg, dem Amt Rosenberg, gelang dem in Graz geborenen Bernhard Payr der Aufstieg zum Leiter des Hauptamtes Schrifttum53, einer zentralen Förderungs- und Zensurbehörde des „Dritten Reiches“. Nach der Besetzung Frankreichs reiste er als Sonderbeauftragter nach Paris, um französische AutorInnen für die Mitarbeit an der 50 Als eine der wenigen Frauen lebte Grete Scheuer in den 1930er-Jahren als Journalistin in Berlin. 51 Der jüdische Verlag Ullstein wurde „arisiert“ und als Deutscher Verlag weitergeführt. 52 Zu Brunner und Steinacher vgl. Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Hans Steinacher. Bundesleiter des VDA 1933–1937. Erinnerungen und Dokumente (Schriften des Bundesarchivs 19), Boppard 1970. 53 Vormals Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums (1933–1936) bzw. Amt Schrifttumspflege (1936–1941), ab 1941 Hauptamt Schrifttum.

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geplanten nationalsozialistischen Europäischen Schriftsteller-Vereinigung zu gewinnen. Resultat des Aufenthalts war das Buch Phönix aus der Asche? Frankreichs geistiges Ringen nach dem Zusammenbruch (1942), das nach 1945 „einen guten Überblick über die wichtigsten kollaborationsbereiten französischen Schriftsteller“ lieferte54 und in der späteren Auseinandersetzung mit der Vichy-Regierung in Frankreich eine gewisse Rolle spielte. Für Autorinnen war der Zugang zu literarischer Produktion im frauenfeindlichen „Führerstaat“ erheblich schwieriger als für ihre männlichen Kollegen, dementsprechend niedrig ist ihr Anteil auch in der Steiermark. Neben der schon erwähnten Paula Grogger sind Margarete Weinhandl, Hélène Haluschka, Grete Scheuer und Hilda Knobloch die bekanntesten. Margarete Weinhandl stammte aus Cilli/Celje, sie heiratete den Philosophen Ferdinand Weinhandl, der Anfang der 1920er-Jahre einem Ruf nach Kiel folgte. Dort arbeitete sie als Lehrerin, daneben erschienen erste Werk (u. a. Es ist ein Reis entsprungen 1921). Ab 1933 engagierte sich die Autorin in der NS-Frauenschaft Schleswig-Holstein; der Roman Moorsonne (1940) und die Kindheitserinnerungen Und deine Wälder rauschen fort (1942) fanden Aufnahme in Förderungs- und Empfehlungslisten. Ende 1944 kehrte das Ehepaar nach Graz zurück, 1946 stand Und deine Wälder rauschen fort auf deutschen und österreichischen Verbotslisten. Hilda Knobloch begann als Dramatikerin. Die Judasglocke (1918), unter männlichem Pseudonym geschrieben, lief sehr erfolgreich auf deutschen Bühnen, gelangte sogar als erstes deutsches Drama nach dem Ersten Weltkrieg in New York zur Aufführung.55 Danach verlegte sie sich auf epische Formen (u. a. Die Liebeschronik seiner Durchlaucht 1926) und versuchte sich im damals neuartigen Genre Hörspiel (u. a. Die Erfindung der Erfindungen 1927). In den 1930er-Jahren gestaltete Hilda Knobloch katholische Legendenstoffe für christliche Verlage des „Dritten Reiches“, wie den Christkönigsverlag56 (u. a. Der heilige Ignatius von Loyola 1936). Das ist erstaunlich, förderte doch der Ständestaat katholische Literatur, während das NS-Regime diese mit Misstrauen betrachtete. Alleinstehend, kränklich und auf publizistische Einkünfte angewiesen, durchlebte Knobloch während der NS-Ära schwierige Zeiten. Mit den Romanen Der Feuergeist (1941) und Die allwissenden Augen (1944) spezialisierte sie sich auf das Genre der historischen Biografie, dem sie auch nach 1945 treu blieb.57 54 Frank-Rutger Hausmann, „Dichte, Dichter, tage nicht!“ Die Europäische Schriftsteller-Vereinigung in Weimar 1941–1948, Frankfurt/Main 2004, 151. 55 BArch Berlin RSK-Personalakt Hilda Knobloch geb. 21.12.1880, RSK-Aufnahmeantrag vom 23.9.1938 (Lebenslauf ). 56 Der Gründer des Christkönigsverlages, der Priester Max Josef Metzger, wirkte 1915–1927 in Graz, engagierte sich im NS-Widerstand und wurde 1944 hingerichtet. Vgl. Walter Flemmer, Verlage in Bayern. Geschichte und Geschichten, Pullach–München 1974, 191–192. 57 Vgl. Silvia Königshofer-Teppan, Die Grazer Autorin Hilda Knobloch. Eine Bestandsaufnahme, Dipl.

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Um Deutsch zu lernen, war Hélène Grilliet aus Frankreich nach Graz gekommen, 1913 heiratete sie einen Rechtsanwalt und verblieb hier. Als Hélène Haluschka trat sie 1930 erstmals mit dem Roman Der Pfarrer von Lamotte in Erscheinung, nach dem „Anschluss“ Österreichs erschien unter ihrem Mädchennamen das Buch Eine Französin erlebt Großdeutschland (1938), das die NS-Behörden in besonderer Weise förderten (1938/39 sechs Auflagen). Nach der Besetzung Frankreichs durch deutsche Truppen zog sie das Werk zurück; ihr Sohn fiel im Zweiten Weltkrieg als deutscher Soldat.58 In Berlin lebte seit Anfang der 1930er-Jahre die in Aflenz geborene Grete Scheuer59 als Alleinerzieherin mit ihrem kleinen Sohn. Sie hatte gerade im journalistischen und literarischen Bereich Fuß gefasst (u. a. Filmkomparsin Maria Weidmann 1933), als ihre jüdische Abstammung60 zum Problem wurde und sie sich vermutlich aus diesem Grund zur Übersiedlung nach Wien entschloss. Diese Zeit war für die Autorin, die auch unter Grete Garzarolli (Name aus ihrer geschiedenen Ehe) publizierte, geprägt von erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, was die Auftragsarbeit für die Hermann-GöringWerke Erbarbeiter der Ostmark (1940) – ihr einziges Werk in NS-Diktion – erklärt. 1947 kehrte Grete Scheuer nach Graz zurück und avancierte in der Folge zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten im kulturellen Leben der Nachkriegszeit. Wie ging es nach Kriegsende weiter? Aufgrund österreichisch-alliierter Entnazifizierungsmaßnahmen verschwand ein Großteil der inkriminierten AutorInnen für etwa drei Jahre aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit. Doch spätestens im Zusammenhang mit der Minderbelastetenamnestie61 von 1948 traten die meisten von ihnen wieder in Erscheinung, darüber hinaus erwies sich die Entnazifizierung im Literaturbereich als weitgehend ineffektiv und bewirkte keine Änderung des Publikumsgeschmacks. In den beliebten Büchergilden tauchten verstärkt Namen der jüngeren Vergangenheit auf, die Rechtfertigungsliteratur boomte und bald gaben ehemals belastete Literaten wieder den Ton an.62

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arb. Graz 2002. – Karin Gradwohl-Schlacher, „Schriftstellerin und Menschenfreundin“. Zu Person und Werk Hilda Knoblochs, in: Carmen Unterholzer/Ilse Wieser (Hrsg.), Über den Dächern von Graz ist Liesl wahrhaftig (Dokumentation 15), Graz 1996, 237–247. Vgl. Sabine Rupp, „Frauen werden nicht gefragt.“ Ein Portrait der Autorin Hélène Haluschka, in: Unterholzer/Wieser, Über den Dächern (wie Anm. 58) 248–258. Vgl. Helga Hafner, Grete Scheuer. Eine monographische Einführung, Dipl.arb. Graz 2001. Ihr Großvater, ein Grazer Industrieller, war Jude gewesen. Bundesverfassungsgesetz über die vorzeitige Beendigung der im Nationalsozialistengesetz vorgesehenen Sühnefolgen für minderbelastete Personen vom 21. April 1948. Vgl. Karin Gradwohl-Schlacher, Neubeginn und Restauration. Der Grazer Literaturbetrieb 1945–1955, in: Graz 1955. HJB Graz 34/35 (2005), 303–333. – Johann Strutz, …die Dichter dichten, die Maler malen und die Komponisten komponieren. Über die Kulturpolitik der Steiermark in den fünfziger Jahren, in: Friedbert Aspetsberger/Norbert Frei/Hubert Lengauer (Hrsg.), Literatur der Nachkriegs-

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Die Ursachen dafür sind in der Politik zu suchen: Bei den steirischen Landtagswahlen im November 1945 erreichte die ÖVP die absolute Mehrheit und dominierte ab diesem Zeitpunkt für Jahrzehnte alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Begünstigt durch die These von Österreich als erstem Opfer der NS-Diktatur (Moskauer Deklaration vom 1. November 1943), herrschte sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens, den Diskurs über NS-Verstrickungen hintanzuhalten. Dazu kamen Kontinuitäten aus dem Ständestaat, und obwohl etliche Politiker in Konzentrationslagern interniert gewesen waren, plädierten sie aus politischem Kalkül für die rasche Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, lehnten aber die Rückkehr jüdischer Exilanten ab. Der heraufdämmernde Kalte Krieg tat ein Übriges und leistete dem Verdrängen und Vertuschen Vorschub. Vor diesem Hintergrund verfolgte die Politik in der Steiermark die Etablierung einer katholisch-nationalen Literatur mit dem Ziel, eine regionale, d. h. bewusst „steirische“ Identität zu schaffen, die das national(sozialistische) Element im Sinne von „heimattreu“ uminterpretierte. Identitätsstiftend agierten beinahe alle damaligen Printmedien, indem sie die „offizielle Förderung traditioneller – zum Teil bedenklich rechtslastiger Kulturgüter“ unterstützten und versuchten, „das Ansehen von national gesinnten Autoren wieder herzustellen oder zu erhalten“.63 Demselben Ziel dienten nicht zuletzt der neu geschaffene Peter-Rosegger-Preis des Landes Steiermark (ab 1951) und die Dichterwochen von Pürgg (1953–1955): Als Erste in den Genuss des Rosegger-Preises kamen 1951 Max Mell und Rudolf Hans Bartsch, zwei in der NS-Zeit hofierte Autoren, denen mit Margarete Weinhandl (1952), Franz Nabl (1953), Paul Anton Keller (1955), Rudolf List (1957) und Bruno Brehm (1961) weitere folgten. Erst die Verleihung an Josef Papesch rief 1963 massive Proteste hervor. Dennoch änderte sich wenig: Die fehlende Distanz offizieller Stellen zur jüngsten Vergangenheit offenbarte u. a. die Wahl des seinerzeitigen RSK-Landesleiters Paul Anton Keller zum Autor des Beitrags Schrifttum in der Steiermark in den Jahren 1938–1945 im Katalog zur Landesausstellung 1976. Ein weiteres Beispiel bildet die Benennung des im Grazer Literaturhaus angesiedelten, universitären Instituts für Literaturforschung nach dem Mozart-Preis-Träger des Jahres 1938, Franz Nabl (1990). Die RepräsentantInnen der „anderen“ Steiermark hingegen fielen der Vergessenheit anheim. Allumfassendes Schweigen dominierte die Nachkriegszeit, die Jahre der NS-Herrschaft blieben über Jahrzehnte ein Tabuthema. Erst 1989 deutete sich ein Paradigmenwechsel an,

zeit und der fünfziger Jahre in Österreich, Wien 1984, 139–154. – Alfred Holzinger, Große Hoffnungen und langsamer Neubeginn, in: Literatur in der Steiermark 1945–1976, hrsg. Steiermärkische Landesregierung, Graz 1978, 9–79 [Landesausstellung 1976]. 63 Elisabeth Welzig, Literaturkritik in den steirischen Tageszeitungen zwischen Kriegsende und Staatsvertrag (Mai 1945–Mai 1955), phil. Diss. Graz 1978, 34–35.

Ns-Politik IN DER sTEIERMARK am beispiel der literatur

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als das Kulturamt der Stadt Graz den Carl-Mayer-Drehbuchwettbewerb64 ins Leben rief. In der Folge entdeckte und edierte der Verlag Droschl die Werke Mela Hartwigs; nach Richard Zach, einem der wichtigsten Lyriker des Widerstandes, ist heute eine Straße in Graz-Andritz benannt. Diese und weitere beachtenswerte Initiativen, wie z. B. die Wiederentdeckung und Neuauflage der Werke Erich Herbert Schneiders65, haben es allerdings bis heute nicht geschafft, die Existenz jener „anderen“ Steiermark66 im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu verankern.

64 www.kulturserver-graz.at/carl-mayer-drehbuchwettbewerb [Abruf: 14.7.2009]. 65 Gerhard Fuchs (Hrsg. u. Nachwort), Erich Herbert Schneider, Erbauungsbuch für den deutschen Spießer, Graz 2008. – Heimo Halbrainer/Christian Teissl (Hrsg. u. Einleitung), Erich Herbert Schneider, Gedichte aus dem Paulustor, Graz 2008. 66 Siehe Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, un/-sichtbar. NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008.

Die Hochschulen in Graz in der NS-Zeit

Alois Kernbauer

Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland begann die Veränderung an den Hochschulen im Sinne der nationalsozialistischen Hochschulpolitik im Herbst 1933. Jüdische Hochschullehrer wurden systematisch diskriminiert und entlassen, womit Platz für oftmals in der NSDAP engagierte Wissenschaftler geschaffen wurde. In den Vorlesungen verlagerten sich die Schwerpunkte nach Möglichkeit auf nationalsozialistische Inhalte, und neue Lehrstühle, etwa für Rassenhygiene, wurden geschaffen.1 Angesichts der Auffassungsunterschiede beteiligter NS-Organisationen und NS-Gruppierungen dauerte es eine Weile, bis man sich auf eine grundsätzliche Konzeption zur Neustrukturierung der Universitäten festlegte. Der NS-Studentenbund hatte 1932 auf dem 15. Studententag in Königsberg ein „hochschulpolitisches Programm“ mit drei Zielsetzungen beschlossen: die Einführung des Führerprinzips anstelle demokratischer Willensbildung, die „Säuberung“ der Hochschulen und die Mitsprache der Studenten in Hochschulfragen, auch bei Lehrkanzelbesetzungen.2 In den Jahren 1933 und 1934 fanden die „Säuberungsaktionen“ statt. In der bis Herbst 1934 laufenden „Programmdebatte“ fehlte es nicht an radikalen Vorschlägen, die vor allem von der SA-Studentenschaft vorgebracht wurden und die bis zur Absage an das Prinzip der Wissenschaft reichten. Von anderer Seite kam der Vorschlag eines „politischen Semesters“, das jeder Studienanfänger zu absolvieren hätte, während wieder andere Konzeptionen auch Veränderungen in der Universitätsstruktur vorsahen, so etwa die „politische Fachgemeinschaft der Fakultäten“ im Falle der Schaffung einer „Akademie“ als unterster Stufe der Universität für die ersten Semester in den Plänen Adolf Reins oder Johann Wilhelm Mannhardts.3 Die Veränderungen waren von einer antibürgerlichen, antipositivistischen und antiintellektuellen Grundhaltung getragen und verfolgten die totale Ideologisierung, die in der institutionellen Form als „politische Hochschule“ realisiert werden sollte. Die wichtigsten der 1 Michael Kater, Medizinische Fakultäten und Medizinstudenten: Eine Skizze, in: Fridolf Kudlien (Hrsg.), Ärzte im Nationalsozialismus, Köln 1985, 83–85. 2 Volker Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, in: Die deutsche Universität im 20. Jahrhundert. Die Entwicklung einer Institution zwischen Tradition, Autonomie, historischen und sozialen Rahmenbedingungen (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 1), Greifswald 1994, 97–115. 3 Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, 98–99.

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Maßnahmen zielten auf die enge Bindung von Wissenschaft und „Volksgemeinschaft“, die politische Schulung in Kameradschaften des NS-Studentenbundes, die Fachschaftsarbeit von der lokalen Ebene bis zur Reichsfachschaft, den Vorrang „arischer“ Wissenschaft, den „Lehrdienst“ in der „Welt der Arbeit“, ferner auf Gemeinschaftserfahrungen in Arbeitsgemeinschaften. So manche der grundsätzlichen Forderungen, insbesondere im Zusammenhang mit dem studentischen Mitspracherecht, waren gegen die Ordinarienuniversität gerichtet. Von den Konzepten und Vorschlägen der Reformdebatte wurde nicht allzu viel realisiert. All die Vorhaben zur Reform der Universitätsstruktur traten hinter die Absicht der Machthaber nach politisch-weltanschaulicher Kontrolle der Hochschulangehörigen zurück. Walter Groß, der Leiter des Rassepolitischen Amtes und spätere Wissenschaftsfunktionär Rosenbergs, hielt im Jahre 1936 fest, dass es wohl noch zehn Jahre bis zur Verwirklichung der „politischen Hochschule“ dauern würde, wenn nämlich die damaligen Lehrstuhlinhaber, denen er „peinliche Bemühungen, Nationalsozialismus zu spielen“, nachsagte, durch einen „weltanschaulich einwandfreien Nachwuchs“ ersetzt seien.4 Zu allererst sollte also das soziale Profil der Studentenschaft verändert werden, indem man Arbeiter- und Bauernkindern den Zugang zum Hochschulstudium erleichterte und somit die Dominanz der Hochschulangehörigen mit einer liberalen bürgerlichen Grundhaltung beseitigte. Die „Fachschaftsarbeit“ ermöglichte eine Ideologisierung der Wissenschaft, wenn studentische Arbeitsgruppen zusammen mit Lehrenden Themen ihrer wissenschaftlichen Fachgebiete in einer mehrere Semester dauernden Zusammenarbeit mit Gegenwartsbezug und vor allem hinsichtlich „politisch-wissenschaftlicher“ und „praktisch-politischer“ Brauchbarkeit zu bearbeiten versuchten. Dabei kam es innerhalb der Fakultäten zu Ansätzen interdisziplinärer Zusammenarbeit. Das zentrale Anliegen bestand in der Förderung eines weltanschaulich zuverlässigen Nachwuchses an potenziellen Wissenschaftlern. Mit Kriegsbeginn wurde die „Fachschaftsarbeit“ eingestellt. Eine weitere Einrichtung zur Formung eines neuen Dozententyps, der an die Stelle der „krassen Materialisten oder blutleeren Papierseelen“ und „volksfremden Gelehrten“ 5 treten sollte, stellten die Wehr- und Geländesportlager sowie die Dozentenakademie dar, die als zusätzliche Qualifikationsstufen künftiger Dozenten gesehen wurden. In den Universitätsgremien regte sich bald Widerstand gegen die „Dozentenlager“, an deren Stelle nach ihrer Abschaffung im Juni 1938 ein dreiwöchiges „Reichslager für Beamte“ trat, das für angehende Hochschullehrer obligatorisch war.

4 Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, 101. 5 Dies waren die Formulierungen des Rektors der Technischen Hochschule Berlin im Jahre 1934. – Zitiert nach: Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, 104.

Die hochschulen in graz in der Ns-Zeit

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Den Berichten der Teilnehmer am „Dozentenlager“ zufolge wurde einzig die Verpflichtung zu einer Art Lehrprobe, „einem im Lager frei zu haltenden Vortrag mit einem Tag Vorbereitungszeit“6, wegen der sich anschließenden interdisziplinären Diskussion als positiv beurteilt, die übrigen Aufgaben wie Frühsport, Kampfspiele, Märsche, politische Exkursionen und breite politische Schulung, vor allem aber auch die Bespitzelung durch eingeschleuste „unechte“ Dozenten wurden mehrheitlich abgelehnt. Dieser neue „Dozententyp“ sollte im Lager „gestählt“ werden, in weltanschaulicher Hinsicht verlässlich und durch „körperliche Betätigung“ trainiert sein und so ein Bild der „Männlichkeit, Härte und Frische“ mit „besonderen Führer- und Erziehereigenschaften“7 abgeben. Wurden die Leistungen eines Teilnehmers im Dozentenlager negativ beurteilt, hatte dies gravierenden Einfluss auf seine akademische Laufbahn, die in Einzelfällen sogar zum Scheitern gebracht wurde. Der überwiegende Teil der Dozenten trachtete danach, dem Dozentenlager nach Möglichkeit auszuweichen. Schon 1935 hatte der württembergische Kultusminister Mergenthaler auf die unter diesen Gegebenheiten bestehende Gefahr hingewiesen, „dass die charakterlich und geistig Brauchbarsten von den Hochschulen abwandern, während einerseits nicht charakterfeste Streber mit politischer Farblosigkeit, andererseits wissenschaftlich schwächer Begabte die künftigen Professuren mangels geeigneter Bewerber zu ersitzen drohen“8. Dies war ja in der Tat der Fall, zumal es nach den Entlassungen von Hochschulpersonal zu einem Mangel an Nachwuchskräften kam. Die Reichshabilitationsordnung vom Dezember 1934 sah die Trennung von Habilitation und Erteilung der Lehrbefugnis nach Absolvierung einer öffentlichen „Lehrprobe“ vor. Diese Regelung blieb bis 1945 bestehen. Bis zum Kriegsende betrieb Alfred Rosenberg den Aufbau der sogenannten „Hohen Schule“ mit dem Ziel der Schaffung einer nationalsozialistischen Universität und der Realisierung des totalitären Anspruchs der NS-Hochschulpolitik. Über Institute bzw. Außenstellen der Hohen Schule in Universitätsstädten versuchte man, dieses Projekt in die Universitäten zu tragen. Rosenberg war dabei hinsichtlich der Inhalte, namentlich des „Weltanschauungskampfes“ gegen die Kirchen und der Intensivierung der Beschäftigung mit der germanischen Vorgeschichte, nicht sonderlich erfolgreich. Hitlers Anordnung vom 29. Jänner 1940 „über die vorbereitenden Arbeiten zur Hohen Schule“ beendete eine längere Planungsphase und sah vor, dass die „Hohe Schule“ als „zen­ trale Stätte der nationalsozialistischen Forschung, Lehre und Erziehung“ erst nach dem Krieg 6 Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, 105. 7 Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, 105. 8 Zitiert nach: Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, 106.

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eingerichtet werden sollte. Zugleich bestand die Möglichkeit, angelaufene Vorarbeiten „auf dem Gebiet der Forschung und Errichtung der Bibliothek“9 weiterzuführen. Rosenberg verstand es, diesen Erlass zu nützen, und erläuterte gegenüber dem Ministerium im August 1940 sein langfristiges Konzept, das die Gründung mancher Institute unabhängig von den Universitäten, der meisten allerdings in enger Zusammenarbeit mit den Hochschulen vorsah. Damit sei beiden Teilen geholfen: „Der Hohen Schule durch Heranziehen des akademischen Nachwuchses, den Hochschulen durch konkret gestellte Aufgaben neues wissenschaftliches Leben im Sinne unserer Weltanschauung zuzuführen.“10 Wenig erfolgreich waren die neuen Formen studentischer Arbeit, von denen sich die Mehrzahl der mit vielfachen Dienstpflichten belasteten Studierenden fernhielt. Die Nachwuchsarbeit im Sinne des Nationalsozialismus war damit im Bereich der Studierenden ebenso wenig erfolgreich wie bei den Dozenten, für die die „Lagerarbeit“ keinen Weg darstellte, einen neuen Hochschullehrertyp zu formen. Die nationalsozialistische Hochschulpolitik hatte nach dem März 1938 in Österreich die Möglichkeit, innerhalb recht kurzer Zeit eine neue Struktur zu schaffen und eine Personalpolitik nach weltanschaulichen Grundsätzen zu praktizieren. Mit den Entlassungen des Jahres 1938 war es aber nicht getan, man trachtete danach, möglichst zuverlässige Nationalsozialisten an die Universitäten zu holen. Somit gingen die Zielsetzungen also über die von Reichsminister Bernhard Rust im Mai 1938 als Notwendigkeit formulierte Entfernung „fremdrassiger“ Lehrkräfte und solcher Personen, „die in besonders gehässiger Form gegen das deutsche Volk und den Nationalsozialismus sich betätigt haben“11, hinaus. Ferner galt das Hauptaugenmerk des Nationalsozialismus den katholisch-theologischen Bildungsstätten, denn gerade der Katholizismus, der in Wissenschaftler- und Intellektuellenkreisen der Zwischenkriegszeit eine geringe Rolle spielte, machte in seiner Breitenwirkung in der Bevölkerung gegen die nationalsozialistische Ideologie immun. Die Umsetzung der nationalsozialistischen Prinzipien erwies sich insgesamt aber als schwieriger, als angesichts der mehrheitlich großdeutschen, ja deutschnationalen und anscheinend weitverbreiteten antisemitischen Grundstimmung unter den Universitätsangehörigen zu vermuten gewesen wäre. Die Absicht einer straff durchorganisierten Administration, die selbst vergleichsweise minder bedeutsame Fragen an einzelnen Hochschulen von „oben“, also von Berlin aus, steuern wollte, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass all den Maß9 Zitiert nach: Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, 107. 10 Zitiert nach: Losemann, Reformprojekte nationalsozialistischer Hochschulpolitik, 107–108. 11 Aus: Peter Weingand, Die Technische Hochschule Graz im Dritten Reich. Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus an einer Institution, Graz 1988, 34.

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nahmen nach dem März 1938 ein gerüttelt Maß an Improvisation anhaftete, welches durch die rasante Dynamik der Geschehnisse, durch die Rigorosität der gesetzten Maßnahmen und die Effizienz der Administration vor Ort erfolgreich kaschiert wurde. Erstaunlicherweise zeigten sich die an der Universität seit dem 19. Jahrhundert ausgeprägten Umgangsformen und Verhaltensmuster als hartnäckig resistent gegenüber manchen Neuerungen, die von vielen, darunter auch überzeugten Nationalsozialisten, als der universitären Welt unangemessen erachtet wurden. So wurde etwa der „Hitlergruß“ am Beginn der Vorlesungen nur von einigen wenigen Lehrenden stramm vollzogen; den Aussagen einer Zeitzeugin zufolge führten die meisten Vortragenden den Gruß nachlässig mit einer Handbewegung durch, also ob sie eine Fliege verscheuchen wollten. Dazu kam, dass der Mikrokosmos der Gelehrtenwelt besonders kleiner Universitäten ohne persönliche Bekanntschaften, ohne Freund- und Feindschaften nicht denkbar ist, die sich oft genug gerade eben nicht an ideologische Grenzen halten, sodass die Rigorosität so mancher generellen Maßnahme zumindest in der ersten Phase in einzelnen Fällen abgeschwächt wurde. Dem wussten die neuen Machthaber effizient zu begegnen, indem man Formen der Mehrfachkontrolle schuf, die eine freundschaftlich-schlampig-wohlwollende Durchführung der Anordnungen unmöglich machten und unter den Universitätsangehörigen ein großes Maß an Verunsicherung hervorriefen. Zugleich stellten die neuen Kontrollmechanismen die gängige Hierarchie in Frage: Nationalsozialistisch gesinnte Sekretärinnen, Studenten und Assistenten in SA-Uniform schüchterten mit großer Genugtuung nicht der Partei angehörige Vorgesetzte, also Professoren, ein, deren Autorität plötzlich infrage gestellt war. Einige zogen daraus die Konsequenzen und begaben sich in den Ruhestand,12 ein Einziger nur, der Theologe Johannes Ude, fand klare Worte zur „Reichskristallnacht“13. Zudem waren die Monate nach dem März 1938 eine Phase der Intrige und des Begleichens alter „persönlicher Rechnungen“ aus der „Systemzeit“. Wissenschaftliche Qualifikation, das Renommee in der Gelehrtenwelt, über das Wissenschaftler seit 1848 ihr Selbstverständnis definiert hatten, war plötzlich zu einem minder wichtigen Kriterium herabgesunken; entscheidend war die parteipolitische Zuverlässigkeit und die weltanschauliche Festigkeit. Dies zeitigte drastische Folgen. Der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs und der Rückgang der wissenschaftlich höchstqualifizierten Forschungstätigkeit wurden von den Nationalsozialisten selbst registriert. Namentlich in der Geschichtswissenschaft wurde ein „Stillstand“ 12 Herbert H. Egglmaier, Karl Prinz (1919–1939), in: Walter Höflechner (Hrsg.), Beiträge und Materialien zur Geschichte der Wissenschaften in Österreich (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 11), Graz 1981, 197–213. 13 Maximilian Liebmann, Die „Reichskristallnacht“ – Johannes Ude war nicht zu feige, in: Walter Höflechner/Helmut J. Mezler-Andelberg/Othmar Pickl (Hrsg.), Domus Austriae. Eine Festgabe Hermann Wiesflecker zum 70. Geburtstag, Graz 1983, 263–272.

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festgestellt, in naturwissenschaftlichen und technischen Disziplinen blieb die Forschung augenscheinlich vor allem hinter jener in den USA zurück.14 Der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs und die Maxime einer parteipolitisch ausgerichteten Personalpolitik führten zu Karrieresprüngen des „wissenschaftlich Mittelwertigen, ja Minderwertigen“15. Die Stellung des Rektors wurde durch die Einrichtung des Kurators der drei steirischen Hochschulen, des verlängerten Armes der nichtwissenschaftlichen Staatsverwaltung, im Jahre 1940 noch weiter geschwächt.16 Vom ursprünglich geplanten „Führer-Rektor“ verblieb nicht viel, Rektor und Professoren fühlten sich „unter Kuratel“ gestellt.17 Im Herbst 1940 bot die 125-Jahr-Feier der Wiener Technischen Hochschule dem Reichsminister Bernhard Rust einen willkommenen Anlass für Aussagen zur Wissenschafts- und Hochschulpolitik des „Dritten Reiches“. Er deutete an, dass die Hochschulen der „Ostmark“ in mancherlei Hinsicht jenen des „Altreiches“ vorausgeeilt seien, und meinte damit wohl die rasche Durchführung der strukturellen und personellen Änderungen seit dem März 1938. Die Universitäten und Hochschulen waren für Rust unverändert die zentralen Institutionen wissenschaftlicher Forschung, die „von innen her eine Wiedergeburt und neue Sinngebung“18 erfahren hätten. Rust sah Wiens zeitlose Aufgabe in der Vermittlung „deutschen Geistes“ an die Völker Südosteuropas und umgekehrt des Geistes und der Kultur der „jugendkräftigen Völker dieses bedeutsamen europäischen Raumes“19 an das Großdeutsche Reich. „Wien teilt diese Aufgabe mit Graz“20, hatte aber aufgrund der Tradition und des kulturellen Großranges dieser Stadt ganz außergewöhnliche Möglichkeiten. An der Grazer Technischen Hochschule löste der Übergang zur nationalsozialistischen 14 Gerald Lichtenegger, Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus an der Universität Graz, in: Steirische Gesellschaft für Kulturpolitik (Hrsg.), Grenzfeste Deutscher Wissenschaft. Über Faschismus und Vergangenheitsbewältigung an der Universität Graz, Graz 1985, 53. 15 Alois Kernbauer, Ein Fallbeispiel universitärer Entscheidungsfindung und der Karriere eines wissenschaftlich „Mittelwertigen, ja Minderwertigen“ im Nationalsozialismus. Die Nachbesetzung der Professur für Pharmakologie an der Universität Graz nach der Entlassung Otto Loewis, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 17 (1997), 131–139. 16 „Die damit eingeführte Struktur verfolgte ähnliche Zwecke wie das 1975 in Österreich geschaffene Universitätsdirektorat; nur hatte der Kurator mehrere Hochschulen im nichtwissenschaftlichen Bereich zu verwalten.“ Helmut Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs, Bd. 5: Von 1918 bis zur Gegenwart, Wien 1988, 328. 17 Engelbrecht, Geschichte des österreichischen Bildungswesens, Bd. 5, 328. 18 Rede des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, zur 125 JahrFeier der Technischen Hochschule Wien am 6. November 1940, in: Bernhard Rust, Reichsuniversität und Wissenschaft: Zwei Reden, gehalten in Wien am 6. November 1940, Berlin 1940. 19 Ebda. 20 Ebda.

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Herrschaft vergleichsweise geringe Änderungen in der Personalstruktur aus. Einige der Lehrenden stiegen zu hochrangingen Parteifunktionären auf: Rektor Adolf Härtel war zugleich Gaudozentenführer und gehörte als Multifunktionär der Partei auch der NSDAP-Gauleitung an.21 Professor Armin Dadieu wurde Gauhauptmann und ab 1943 Gaudozentenführer. Die Technik war in ihrer Gesamtheit ganz wesentlicher Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie und Propaganda. Wenige Wochen nach dem „Anschluss“ und nur einige Tage vor der Abstimmung vom 10. April 1938 veröffentlichte der Leiter des Hauptamtes der Technik und Reichswalter des NS-Bundes Deutscher Technik Fritz Todt einen Aufruf, der mit den Worten begann: „Der Führer hat die deutschen Ingenieure, Baumeister und Chemiker vor Aufgaben von gewaltiger Größe und kühnsten Ausmaßen gestellt.“ Im Folgenden war von der Lösung der sozialen Frage die Rede, von der Befreiung aus der Einengung übertriebener Spezialisierung und von Entgrenzung ganz allgemein, denn der Nationalsozialismus habe „das Leben, den Menschen selbst wieder zum Maß aller Dinge gemacht“. „Mit dem Einsatz für die größeren Ziele wurde die Technik auch von allen Fesseln kapitalistischen Mißbrauchs befreit.“22

Die Ereignisse nach dem „Anschluss“ Noch am 13. März 1938 wurde die 1933 aufgelöste Deutsche Studentenschaft wiederum errichtet, Gaustudentenführer war Wilhelm Danhofer.23 Sowohl an der Universität als auch an der Technischen Hochschule hielt die Studentenschaft demonstrativ triumphale Feiern ab.24 An der Karl-Franzens-Universität veranlassten die „nationalsozialistische Studentenschaft und Professorenschaft“ den amtierenden Rektor Josef Dobretsberger25 zurückzutreten; Prorektor Adolf Zauner26 übernahm die Führung der Geschäfte und setzte schon am 14. März anstelle Karl Stix’ den früheren, aus politischen Gründen in der „Verbotszeit“ in den Ruhe-

21 Weingand, Technische Hochschule, 45–47. 22 Fritz Todt, Männer der deutschen Technik!, in: Österreichische Chemiker-Zeitung 41 (1938), 137. 23 Zu Danhofer vgl.: Friedrich Bouvier, Wilhelm Danhofer, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 83 (1992), 495–496. 24 „In eindrucksvollen Feiern nahm die nationalsozialistische Studentenschaft von den Grazer Hochschulen Besitz. Die Machtübernahme war verbunden mit einem Gedenken an die im Weltkrieg gefallenen Studenten.“ Bilder-Welt Nr. 6/IX, 20.3.1938. 25 Zu Dobretsberger vgl.: Dieter A. Binder, Karl Maria Stepan – Josef Dobretsberger. Verlorene Positionen des christlichen Lagers (Reihe Kurzbiographien. Karl von Vogelsang-Institut), Wien 1992. 26 Adolf Zauner war Professor der Romanischen Philologie und hatte 1936/37 das Amt des Rektors innegehabt.

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stand versetzten Kanzleidirektor Ernst Waidmann wieder in sein Amt ein. In den folgenden Tagen wurden nahezu alle Inhaber akademischer Ämter ausgetauscht. Das Unterrichtsministerium nominierte Ende März 1938 die neuen Funktionsträger: Hans Reichelt als Rektor, Andreas Posch als Dekan der Katholisch-theologischen Fakultät, Arnold Pöschl als Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, Leopold Löhner als Dekan der Medizinischen Fakultät und Karl Polheim als Dekan der Philosophischen Fakultät.27 Als Direktor der Lehramtsprüfungskommission trat an die Stelle des Geologen Franz Heritsch der Anglist Albert Eichler.28 Mit Anfang April erfolgte eine weitere bedeutende Weichenstellung: Karl Brauner29, außerordentlicher Professor der Mathematik, wurde mit der Unterstützung des Rektors bei dessen wesentlichen Agenden betraut: Vorbereitung von Personalanträgen, Einstellung und Weiterbestellung wissenschaftlicher Hilfskräfte und Vorschläge für die Besetzung von Lehrkanzeln und Supplierungen sowie „Unterstützung des wissenschaftlichen Nachwuchses“.30 Als Dozentenbundführer war Brauner die einflussreichste Person der Universität, waren ihm doch alle Schriftstücke von Belang zur Kontrolle und Entscheidung vorzulegen. Gemeinsam mit Rektor Hans Reichelt erstellte er eine Liste von zu entlassenden Universitätsangehörigen.31 Am 17. März 1938 tagte der Akademische Senat. Der Antrag des nach Dobretsbergers Rücktritt amtierenden Prorektors Zauner, „den Führer und Reichskanzler“ zu bitten, „die Schirmherrschaft über die Universität Graz zu übernehmen und zu gestatten, dass sie den Titel „Adolf-Hitler-Universität“32 führen dürfe, fand keine Mehrheit. Als später klar wurde, dass dem Senat nur beratende Funktion zukam, dürfte Rektor Hans Reichelt33 diesen oder

27 Universitätsarchiv (UAG) Rektorat (Rekt.) Zl 1843 ex 1937/38. 28 Alois Kernbauer, Die Institutionelle Entwicklung des Englischunterrichts bzw. des Instituts für Anglis­ tik an der Universität Graz vor dem Hintergrund der Entwicklung des Faches an den Universitäten der Habsburgermonarchie, in: Alwin Fill/Alois Kernbauer (Hrsg.), 100 Jahre Anglistik an der Universität Graz (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 27), Graz 1993, besonders 92–107. 29 Alexander Aigner, Das Fach Mathematik an der Universität Graz (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 15), Graz 1985, 39–40. 30 UAG Rekt. Zl 1955 ex 1937/38. 31 Es ist in diesem Rahmen unmöglich, im Einzelnen darauf einzugehen. Einen knappen Hinweis gibt: Christian Fleck, „In seinem Felde alles Erreichbare zu leisten ...“ Zusammensetzung und Karrieren der Dozentenschaft der Karl-Franzens Reichsuniversität Graz, in: Steirische Gesellschaft für Kulturpolitik, Grenzfeste Deutscher Wissenschaft, 51. 32 UAG Rekt. Zl 1748 ex 1937/38. 33 Fritz Freiherr Lochner von Hüttenbach, Das Fach Vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Graz (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 5), Graz 1976, 46–56.

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einen ähnlichen Antrag34 an das Reichsministerium gesandt haben, das ihn ablehnte.35 In der Senatssitzung vom 17. März 1938 stand ferner die Aberkennung der Doktorate der beiden ehemaligen Funktionäre der Vaterländischen Front Karl Maria Stepan und Alfons Gorbach auf der Tagesordnung.36 Wenige Tage nach dem „Anschluss“ dankten die Rektoren der beiden Grazer Hochschulen telegrafisch dem „Führer“.37

Die Veränderungen an der Technischen Hochschule nach dem März 1938 An der Technischen Hochschule verliefen die Ereignisse undramatischer. Friedrich Zotter nahm als Rektor noch die Vereidigung des Lehrkörpers auf Adolf Hitler vor, trat am 26. März von seinem Amt zurück und wurde ebenso wie die Professoren Gustav Jantsch und Bernhard Baule von der Geheimen Staatspolizei in „Schutzhaft“ genommen und später entlassen. Abgesehen von diesen drei Professoren war niemand aus „rassischen oder politischen Gründen“ entfernt worden,38 zumal sich im Lehrkörper „bereits viele Nationalsozialisten bzw. praktisch keine exponierten Gegner des NS-Regimes befanden“39. Am 2. April erfolgte auch an der Technischen Hochschule der Wechsel der akademischen Funktionäre: Prorektor Hans Paul und die Dekane Paul Döll, Karl Hoffmann, Franz Fuhrmann, Adolf Härtel sowie als Vertreter Baules Karl Zaar legten ihre Ämter nieder. Als Rektor folgte Adolf Härtel nach.40 34 Dieser Schritt fand keinen Niederschlag in den amtlichen Protokollen der Universität. 35 Die Ablehnung traf im September 1938 an der Universität Graz ein. Das Original konnte nicht aufgefunden werden; so ist es nicht möglich festzustellen, welcher Antrag wirklich gestellt und ob bzw. wie die Ablehnung begründet wurde. UAG Rekt. Protokollbuch Zl 3630. 36 Von zehn Anwesenden stimmten acht für die Aberkennung des Doktorats Gorbachs, während man im Falle Stepans weitere Erhebungen über die Tatbestände pflegen wollte. UAG Rekt. Zl 1748 ex 1937/38. 37 „Der Rektor der Universität Zauner hat an den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler folgendes Telegramm gerichtet: ‚Mein Führer! Die Universität Graz dankt Ihnen jubelnd für die langersehnte Vereinigung mit dem Deutschen Reich im stolzen Bewusstsein, jetzt als südöstlichste deutsche und Grenzlanduniversität unmittelbar teilhaben zu dürfen am glücklichen Wirken des deutschen Volkes.‘ Der Rektor der Technischen Hochschule Zotter hat an den Führer und Reichskanzler nachstehende Depesche gerichtet: ‚Lehrer und Studenten der Technischen Hochschule Graz bitten ihren Führer, ihren tiefbewegten Dank entgegenzunehmen.‘“ Die Grazer Rektoren danken dem Führer, in: Neues Wiener Tagblatt, 16.3.1938. Die Originale der Telegramme konnten nicht gefunden werden. 38 Weingand, Technische Hochschule, 35. 39 Weingand, Technische Hochschule, 43. 40 Weingand, Technische Hochschule, 37.

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Am 9. April, also einen Tag vor der „Volksabstimmung“, sandte die Technische Hochschule an Hitler eine telegrafische Ergebenheitserklärung, des „Führers Geburtstag“ wurde derart überschwänglich gefeiert, dass sich die Landeshauptmannschaft weigerte, die Fahnenrechnungen zu begleichen, worauf Rektor Härtel dieses Vorgehen damit rechtfertigte, dass „an der politischen Einstellung der ... Belegschaft dieser Hochschule kein Zweifel aufkommen konnte. Selbstverständlich wirkte diese Art der Ausschmückung werbend und hat zweifellos dazu beigetragen, manchen Zögernden günstig zu beeinflussen.“41 Im April 1938 wurde Fritz Todt zum Ehrenbürger der Technischen Hochschule ernannt.42

Entlassungen, Reaktivierungen, personelle Veränderungen, „Verlegung“ der Katholisch-Theologischen Fakultät An der Universität Graz vollzogen sich die Entlassungen aus „rassischen“ bzw. politischen Gründen in mehreren Etappen von März bis zum Sommer 1938. In den nachfolgenden Jahren wurden immer wieder personelle Veränderungen mit dem Ziel einer einheitlichen parteipolitischen, weltanschaulichen Ausrichtung der Universitätsangehörigen vorgenommen. Die Entlassung und Vertreibung von Juden, politischen Nonkonformisten und exponierten Katholiken war nach Ansicht der Nationalsozialisten bei Weitem noch nicht hinreichend für die Verwirklichung ihrer Ziele. Das ganze Ausmaß des Misstrauens der Partei gegenüber den überwiegend deutschnational gesinnten, aber nichtsdestoweniger noch immer in der Nachwirkung einer liberalen Wissenschaftstradition stehenden Hochschullehrern kam in der von Dozentenbundführer und Rektor gemeinsam im Jänner 1939 getroffenen Feststellung zum Ausdruck: „Das Streben der Führung der Universität Graz geht nun dahin, durch allmähliche Erneuerung des Lehrkörpers jene Voraussetzungen zu schaffen, der die Universität Graz einmal nun bedarf, soll sie den Aufgaben, die ihr als südöstlichste Universität des Reiches gestellt sind, gewachsen sein. Dazu bedarf es unter anderem, dass von nun an freiwerdende Lehrstühle stets mit Männern besetzt werden, die nicht nur als Wissenschaftler ihren Mann stellen, sondern gleichzeitig einsatzbereite nationalsozialistische Kämpfer sind.“43

Ausdrücklich wurde festgestellt, dass nur ein Teil der zu diesem Zeitpunkt an der Universität Graz tätigen Persönlichkeiten diesen Anforderungen entsprach. 41 Weingand, Technische Hochschule, 38. 42 Weingand, Technische Hochschule, 45. 43 UAG Rekt. Zl 787 ex 1938/39.

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Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zog eine Fülle organisatorischer Änderungen zur Anpassung des österreichischen Hochschulwesens an die Bestimmungen des Deutschen Reiches nach sich. Die administrative Erfassung des Einzelnen erfolgte mit größter Präzision. Es ist in diesem Rahmen nicht möglich, die Maßnahmen des Regimes darzulegen, mit denen es alles und jedes zu regulieren trachtete. Schon mit Runderlass vom 15. März 1938 wurde eine Neufassung der Promotionsordnung in der Absicht veranlasst, die österreichischen Regelungen denen im „Altreich“ anzupassen; im letzten Absatz wurde das Zitieren jüdischer Verfasser angesprochen: „Ein grundsätzliches Verbot für Doktoranden auszusprechen, jüdische Autoren in ihren Arbeiten zu zitieren, ist nicht möglich. Dagegen sind jüdische Autoren stets mit Zurückhaltung anzuführen, und zwar auch dann, wenn andere Literatur nicht vorhanden ist. Dies zu prüfen, muss im Einzelfalle der Fakultät überlassen bleiben. Grundsätzlich bestehen keine Bedenken, jüdische Autoren dann zu zitieren, wenn es in der Absicht geschieht, ihre Auffassung zu widerlegen oder zu bekämpfen. In allen Fällen aber darf die Tatsache der Verwendung jüdischer Literatur nicht unerwähnt bleiben; das Literatur-Verzeichnis hinsichtlich der jüdischen Verfasser ist auf das unbedingt notwendige Material zu beschränken.“44 Mit den Ereignissen zu Mitte März und dem damit verbundenen „Erlösungstaumel“ ging auf der anderen Seite eine Verhaftungswelle einher; so mancher wurde wochenlang in „Schutzhaft“ gehalten. Unter den Entlassenen an der Karl-Franzens-Universität waren drei Nobelpreisträger, Otto Loewi45, der entfernt wurde, weil er Jude war, Viktor Franz Hess46, weil er Kulturrat im Ständestaat und gläubiger Katholik war und obendrein mit einer „ nicht ganz tragbaren“ Frau verheiratet war, und Erwin Schrödinger47 seiner politischen Haltung wegen, die er schon in seiner Berliner Zeit an den Tag gelegt hatte. Schrödingers Zeitungsaufruf, am 10. April mit „Ja“ zu stimmen,48 bewahrte ihn nicht vor der Entlassung. Schon am 15. März 1938 wurden die Richtlinien für die Vereidigung der Universitätsangehörigen auf Adolf Hitler erlassen, zu der – gemäß den Bestimmungen der „Nürnberger Rassengesetze“ – „Volljuden“ und „von drei jüdischen Großeltern abstammende jüdische Mischlinge“ nicht zugelassen waren. „Wer sich weigert, den Eid zu leisten, ist vom Dienst 44 UAG Rekt. Zl 2859 ex 1937/38. 45 Fred Lembeck/Wolfgang Giere, Otto Loewi. Ein Lebensbild in Dokumenten. Biographische Dokumentation und Bibliographie, Berlin–Heidelberg–New York 1968. 46 Rudolf Steinmaurer, Victor Franz Hess, in: Almanach Akad. Wiss. 116 (1966), 317–328. 47 Helmut Rechenberg, Erwin Schrödinger (1887–1961) und Louis Victor de Broglie (1892–1987), in: Karl von Meyenn (Hrsg.), Die großen Physiker, 2. Band von Maxwell bis Gell-Mann, München 1997, 285–300. 48 Die Hand jedem Willigen. Bekenntnis zum Führer. Ein hervorragender Wissenschafter meldet sich zum Dienst für Volk und Heimat, in: Tagespost, 31.3.1938, 8.

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zu entheben.“ Der Vorgang der Vereidigung war also der erste Ansatzpunkt, „Säuberungen“ durchzuführen. So manche Vereidigung wurde später rückgängig gemacht. Der Prozentsatz der Entlassenen betrug an der Juridischen Fakultät 36,8, an der Medizinischen Fakultät 18,0, an der Philosophischen Fakultät 12,7 Prozent, was für die Gesamtuniversität einen Durchschnitt von 16,8 Prozent ergab. Der Prozentsatz lag damit unter dem der Universität Wien und über dem der Universität Innsbruck.49 Aber auch nach 1939 schied der eine oder andere Universitätsangehörige aus.50 An der Technischen Hochschule wurde niemand aus „rassischen“ und nur ganz wenige aus politischen Gründen entlassen. Nach einigem Zögern wurde die Katholisch-theologische Fakultät mit Wirkung vom 1. April 1939 mit jener der Universität Wien „vereinigt“, was einer Aufhebung gleichkam: drei Professoren wurden tatsächlich an die Universität Wien überstellt, die übrigen entlassen. Folgen des politischen Umbruchs waren an der Karl-Franzens-Universität Anträge auf sofortige Beförderung von zwölf Universitätsangehörigen, die in den allermeisten Fällen allerdings erst im Verlaufe der nachfolgenden Jahre zu ordentlichen Professoren ernannt wurden. Auch Armin Dadieu, der spätere Gauhauptmann der Steiermark, wurde erst 1940 zum Ordinarius an der Technischen Hochschule befördert.51 Eine Welle von Reaktivierungen der seit 1934 aus politischen Gründen Entlassenen war die Folge. Der personelle Aderlass und die Skepsis der NSDAP-Funktionäre, namentlich der Dozentenbundführung bei Neuernennungen waren dergestalt groß, dass es trotz des größeren personellen Reservoirs des sogenannten „Altreichs“ nicht möglich war, einen auch nur einigermaßen adäquaten Ersatz zu finden. Viele der Professuren wurden nicht besetzt, sondern nur von Supplenten versehen. Das Provisorium hielt in vielen Fächern bis zum Kriegsende an. Gerade dieses Instrumentarium der Supplentur machte es aber möglich, einen Teil des Lehrkörpers auszutauschen. Die in den ersten Jahren erfolgten Ernennungen an der Universität Graz entsprachen nur allzu oft nicht den Wünschen der Fakultäten, wie sie von den jeweiligen, mit der Ausarbeitung von Vorschlägen betrauten Kommissionen und vom Dekan formuliert wurden. Ernannt wurden zumeist verlässliche Parteigenossen, auch wenn sie fachlich nicht sonderlich gut beschrieben waren. Manche der verbliebenen Angehörigen der medizinischen Fakultät legten 1938 und auch noch 1939 eine geradezu kaum zu fassende Naivität in ihrem Glauben an wissenschaftliche Qualifikation als Kriterium bei Besetzungsvorgängen an den Tag. 49 Walter Höflechner, Zur Geschichte der Universität Graz, in: Kurt Freisitzer/Walter Höflechner/HansLudwig Holzer/Wolfgang Mantl (Hrsg.), Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz, Graz 1985, 58. 50 Gustav Mittelbach, Die Innere Medizin in Graz, phil. Diss. Graz 1985, 129. 51 Alois Kernbauer, Das Fach Chemie an der Philosophischen Fakultät der Universität Graz (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 17), Graz 1985, 360–366.

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Der Einfluss der Fakultäten bei Personalentscheidungen schwand, maßgeblich waren die Parteiorgane, was Spannungen zwischen den Fakultäten und der Dozentenbundführung mit sich brachte, die sich bis zu feindseligen Bemerkungen des Dekans in den Akten steigerten, was wohl als Ausdruck eines zunehmenden Gefühls der Ohnmacht zu werten ist. Die personalpolitischen Maßnahmen der ersten Jahre nach 1938, vor allem der gigantische Aderlass an der Wiener Fakultät, und einige beiläufige Bemerkungen von Dozentenbundführern deuten darauf hin, dass die nationalsozialistische Führung langfristig die Schaffung dreier, ungefähr gleich großer und gleich ausgestatteter Universitäten in Wien, Graz und Innsbruck anstrebte, zumindest aber die überragende zahlen- und ausstattungsmäßige Dominanz der Wiener Universität deutlich zu senken beabsichtigte. Noch im März 1938 begann man mit der Erfassung der Studenten, allen voran der jüdischen Hörer, deren Zulassung zum Studium kraft eines ministeriellen Bescheides vom Mai 1938 fürs erste im Wirkungsbereich der Universitäten blieb.52 Zum Studium war nur zugelassen, wer den Kriterien der Partei entsprach. Die Studentenschaft wurde von „rassischen Fremdkörpern“ und von „politisch Unzuverlässigen“ gesäubert. Da es in den ersten Monaten unmöglich war, Ahnenpässe zu beschaffen, behalf man sich im Sommersemester damit, von den inskribierenden Studenten ein entsprechendes Formular ausfüllen und die darin gemachten Angaben ehrenwörtlich bestätigen zu lassen. Jüdische Hörer, die ihr Absolutorium im Verlauf des Studienjahres 1937/38 erlangen konnten, wurden zur Promotion zugelassen,53 wobei der Ablauf der Doktorgradsverleihung eigens geregelt wurde.54 Die Gesamthörerzahl der Karl-Franzens-Universität55 sank bis zum 2. Trimester 1940 rapide ab, nahm in der Folgezeit wiederum kontinuierlich zu, erreichte den tiefsten Wert im Wintersemester 1944/45 bzw. in dem schon nach Kriegsende stattfindenden Sommersemester 1945. In der Tendenz ganz ähnlich entwickelten sich die Hörerzahlen an der Technischen Hochschule.56 Die genaue statistische Untersuchung der Hörerschaft der Universität Graz ergab in den grundsätzlichen Entwicklungslinien – etwa bei der prozentuellen Zunahme des Frauenanteils – eine weitgehende Übereinstimmung mit der studentischen Entwicklung an den allermeisten reichsdeutschen hohen Schulen. Eine Besonderheit stellte jedoch die starke Zunahme des Anteils aus dem „Altreich“ stammender Hörer dar, aus dem mehr als die Hälfte der an der KarlFranzens-Universität erstmals inskribierenden Studenten kam. Dies bewirkte eine prozentuelle 52 UAG Rekt. Zl 2334 ex 1937/38. 53 UAG Rekt. Zl 2888 ex 1937/38. 54 Abgedruckt in: Höflechner, Zur Geschichte der Universität Graz, 59. 55 Monika Hofstätter, Die Studentenschaft der Universität Graz. Wintersemester 1937/38 – Sommersemester 1945, phil. Diplomarbeit Graz 1998. 56 Weingand, Technische Hochschule, 76.

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Abnahme des Anteils der aus dem „österreichischen Bundesgebiet“ stammenden Studenten. Von allen Fakultäten erlebte die Medizinische Fakultät den größten Zustrom.

Studentenkompanie der Wehrmacht Wie an den allermeisten medizinischen Fakultäten der Universitäten des Deutschen Reiches baute die Wehrmacht auch an der Universität Graz eine Studentenkompanie zum Studium der Medizin auf. Die Grazer Kompanie wurde am 27. März 1941 aufgestellt, unterstand der Sanitäts-Abteilung Graz, wurde mit 15. Oktober 1943 in zwei Kompanien geteilt und ein Teil davon am 24. März 1944 in „Sanitäts-Offiziers-Ergänzungs-Abteilung Graz“ umbenannt. Diese wurde am 20. November 1944 aufgelöst. Nach dem Bombardement vom November 1944 wurde der übrig gebliebene Teil der Grazer Kompanie nach Innsbruck verlegt und in die dort bestehende eingegliedert. Die Zahl der in Graz studierenden Wehrmachtsangehörigen schwankte zwischen 80 und 130. Ursprünglich war die Kompanie kaserniert, später waren die Angehörigen privat untergebracht. Der soldatische Dienstbetrieb bestand lediglich aus Appellen, die an Werktagen oftmals täglich in der Kaserne Gösting stattfanden. In den Semesterferien der Jahre 1943 und 1944 wurden Lehrgänge auf der Roßbachalpe und Hochgebirgsübungen am Großvenediger und in den Hohen Tauern durchgeführt.57

SS-Ärztliche Akademie Nach der Schaffung militärärztlicher Akademien für das Heer, die Luftwaffe und die Marine wurde im Jahre 1937 auch für die SS eine Sonderausbildungsstätte in Berlin eingerichtet. Im Herbst 1940 wurde diese SS-Ärztliche Akademie von Berlin nach Graz verlegt,58 wo die SSJunker im Unterschied zu Berlin kaserniert im Gebäude der Landes-Taubstummenanstalt, Rosenberggürtel 12, untergebracht waren. Die Akademie blieb in allen Belangen Teil der SS, die sich bekanntlich als „Staat im Staat“ verstand. Kurz vor Kriegsende wurde die Akademie in Graz aufgelöst. Da nur ein ganz schmaler, geschlossener Aktenbestand von schätzungsweise 1.000 Blättern59 zur Geschichte der SS-Ärztlichen Akademie erhalten geblieben ist, gestaltet sich die Er57 Wolfgang Bugs, Unternehmen Aesculap. Die Studenten-Kompanien der Wehrmacht 1939–1945, Osnabrück 1995, 27–28. 58 Harzer, Die SS-Ärztliche Akademie in Graz, in: Der Freiwillige 5 (1967), 9–10. 59 Diese Akten werden im Militärhistorischen Archiv in Prag verwahrt.

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forschung der Geschichte dieser Einrichtung als äußerst mühselig, zumal sich die meisten der vorhandenen Aktenstücke auf alltägliche Fragen beziehen. Erst nach Abschluss der laufenden Auswertung einer Fülle von Details, die aus allen infrage kommenden Archiven akribisch zusammengetragen worden sind, wird eine umfassende Aussage über die Rolle dieser Ausbildungsform und deren Angehörigen möglich. Alle SS-Junker hatten vor Eintritt in die Akademie im Unterschied zu den militärärztlichen Akademien der drei Waffengattungen die Ausbildung zum Truppenoffizier zu durchlaufen, was die Grundlage für einen einheitlichen Offiziersstand war und für Ärzte, Verwaltungsoffiziere und Offiziere des technischen Dienstes gleichermaßen galt. Die angehenden SS-Ärzte besuchten die Lehrveranstaltungen an der Medizinischen Fakultät üblicherweise in Zivil und hatten neben ihrem Studium ein zusätzliches, internes Ausbildungsprogramm zu absolvieren.60 Die Verschränkung mit der Grazer Medizinischen Fakultät bestand darin, dass zwei SSÄrzte, die ihre Lehrbefugnis in Berlin erhalten hatten, als Dozenten für Interne Medizin bzw. für Geschichte der Medizin an der Medizinischen Fakultät in Graz tätig waren und dass der Reichsarzt-SS Grawitz zum Honorarprofessor für Wehrmedizin ernannt wurde. Bei Prüfungen an der Medizinischen Fakultät war stets auch der Kommandeur oder ein Lehrgangsleiter der SS-Ärztlichen Akademie anwesend, was seitens der Universität als Bevormundung, seitens der Prüfungskandidaten als Überwachung ihres Lernerfolges durch die Vorgesetzten aufgefasst wurde. Das Ausbildungsziel war die Heranbildung aktiver Sanitätsoffiziere. „Diese späteren Truppenärzte sollten dann die San.Offz.Planstellen bei der SS-VT und bei der Deutschen Polizei besetzen. Durch die überhastete Vermehrung der Waffen-SS-Divisionen im 2. Weltkrieg kamen aber alle Absolventen der SS-Ärztl. Akademie Graz zur Waffen-SS. Der Kriegsausbruch störte dann stark den Ausbildungsgang der Sanitäts-Junker. Diese drängten alle zur Front, weil jeder glaubte, keine Frontbewährung bei den ‚Blitzkriegen‘ am Anfang zu erhalten. Auch die Junker ohne halben oder ganzen Studienabschluß drängten zur Front. Die klinischen Semester konnten nicht wie im 1. Weltkrieg als Feldunterarzt oder Feldhilfsarzt verwendet werden, da es derartige Stellen bei der Truppe im 2. Weltkrieg nicht mehr gab. Auch die vorklinischen Semester konnten wegen ihres Dienstgrades, den sie bei Eintritt in der SSAkademie als Ustuf. (Lt.) bereits erreicht hatten, nicht mehr als Sanitäter eingesetzt werden. Die Zwischenlösung, die Arztjunker in den großen Universitätsferien (hauptsächlich Juli-Okt. 1940 und 1941) jeweils als Zugführer zur Fronttruppe zu kommandieren, führte zu großen Ausfällen, während des gesamten Krieges etwa 12 Prozent der Angehörigen der Akademie.“61

60 Ein Curriculum bzw. eine Beschreibung der Lehrinhalte dieser Zusatzausbildung konnte in den Akten bislang nicht gefunden werden. 61 Harzer, Die SS-Ärztliche Akademie in Graz, 9.

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An der Akademie bestanden zwei Lehrgänge, ein fünfsemestriger vorklinischer und ein fünfsemestriger klinischer Lehrgang unter je einem Lehrgangsleiter. Nach Ablegung des Physikums erfolgte die Überstellung vom ersten in den zweiten Lehrgang. „Die einjährige Medizinalpraktikantenzeit wurde in einem SS-Lazarett anschl. abgeleistet. Die Gesamtausbildungszeit einschl. Truppenausbildung bis zur Approbation und Einstellung als Truppenarzt dauerte also 8–8 1/2 Jahre.“62 Zusätzlich zum Studium erhielten die SS-Junker während des vorklinischen Lehrganges die Ausbildung als Sanitätsdienstgrad für die Krankenpflege, erwarben den Kraftfahrzeugführerschein und das Reitsportabzeichen und hatten in den ersten beiden Semestern beim Fechtlehrer Unterricht im Säbelfechten zu nehmen. Die Akademie verfügte über einen Kfz-Park und über Reitpferde. In einer Fremdsprache (Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch) sollte das militärische Dolmetscherexamen abgelegt werden. Im klinischen Lehrgang bestand das zusätzliche Lehrprogramm in der Ausbildung in Sanitätstaktik, Berichtswesen, Truppenarztaufgaben, Truppenhygiene.63 Die Teilnahme als aktive Sportler bei Vereinssportkämpfen oder bei militärischen Leistungswettbewerben war gern gesehen. „Nach Ablegung des medizinischen Staatsexamens folgte die Beförderung zum SS-Ostuf. Auch bestand die Möglichkeit nach Ablegung des Physikums auf Wunsch an einer anderen Universität weiter zu studieren.“64

Zum Ausbildungsprogramm gehörten „Referats- und Diskussionsabende mit aktuellen Themen aus Wissenschaft, Politik und Kunst. Vom Reichsarzt der SS und Polizei, Prof. Dr. Grawitz, wurden diese Zusammenkünfte als ‚Verein der freien Aussprache‘ bezeichnet. Die Abende standen unter seiner persönlichen Leitung, bzw. der Leitung des Chefs des Sanitätswesens der Waffen-SS, Dr. Gensken, oder des K[omman]d[eu]r[s] der Akademie.“65 Über die Intensität dieses Ausbildungsprogrammes und die Referenten konnten bislang keine Unterlagen gefunden werden. Die Gesamtzahl der Sanitätsjunker an der SS-Akademie lag bei ungefähr 280, von denen während der viereinhalb Grazer Jahre ca. 15 das Studium an der Grazer Universität abschlossen. Die bislang bekannte Quellenbasis gibt Aufschluss über die von Berlin aus in allen Details gelenkte Administration der Akademie. Diese Akten vermitteln den Eindruck rigorosester Disziplin innerhalb der Akademie. 62 Harzer, Die SS-Ärztliche Akademie in Graz, 9. 63 Harzer, Die SS-Ärztliche Akademie in Graz, 9. 64 Harzer, Die SS-Ärztliche Akademie in Graz, 9. 65 Harzer, Die SS-Ärztliche Akademie in Graz, 9.

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Die Aussage, der zufolge Skelette von im Konzentrationslager Mauthausen Ermordeten in die Grazer Akademie geschickt wurden,66 findet sich in diesem Aktenbestand für einen Fall bestätigt.67

Der Neuanfang nach dem Kriegsende Im Frühjahr 1945 kam der Lehr- und Forschungsbetrieb an den beiden Grazer Hochschulen zum Erliegen. Viele der Institute waren in der Zeit des intensivierten Bombenkrieges von Graz zumeist in die Obersteiermark verlegt worden, und als die Front im April 1945 in der Oststeiermark verlief, verließen die meisten Wissenschaftler Graz. An der Karl-Franzens-Universität war der erst seit wenigen Wochen bestellte Rektor Anton Hafferl einer der wenigen, der seine Amtsgeschäfte fortführte.68 Im Juni 1945 begann sich an den Hochschulen wiederum neues Leben zu regen. Als erster Schritt wurden Organisation und Rechtsverhältnisse der Ersten Republik wiederhergestellt. Der Lehrbetrieb, der zu Anfang Juni 1945 im Umfang eines zweimonatigen „Übergangssemesters“ als Ersatz für das Sommersemester 1945 aufgenommen wurde, stand im Zeichen der Improvisation, zumal man über den Verbleib vieler Universitätsangehöriger nichts wusste. Die beachtlich große Zahl der nach dem 13. März 1938 aus dem „Altreich“ an die steirischen Hochschulen berufenen Wissenschaftler galt unter den geänderten Rechtsverhältnissen als nicht mehr angestellt. Die Universität forderte die Wiedereinsetzung der im Jahre 1938 Vertriebenen und erließ Aufrufe zur Rückkehr, von denen angesichts der Zeitumstände nicht klar war, ob sie die Adressaten erreichten. Die Theologische Fakultät wurde wiederhergestellt. Eine große Anzahl der 1938 Entlassenen wurde wieder eingestellt; von den in das Ausland Emigrierten folgten allerdings nur wenige dem Aufruf zur Rückkehr. An der kleineren Technischen Hochschule waren diese Probleme weitaus weniger gravierend, weil der prozentuelle Anteil der im Jahre 1938 Entlassenen erheblich geringer war als an der Universität. Ein geordneter Betrieb kam nur langsam zustande. Die schweren Zerstörungen an Gebäuden der Technischen Hochschule und die vielen geborstenen Fensterscheiben bei Universitätsgebäuden machten ab Herbst 1945 Wintermantel und Handschuhe in den Hörsälen unerlässlich. Viele Vortragende hielten die Lehrveranstaltungen als Supplenten oder provisorisch, weil das Entnazifizierungsverfahren noch nicht abgeschlossen war und politisch nicht 66 Ernst Klee, Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1997, 43. 67 Dies war bislang der einzige Fall, der aktenkundig geworden ist. 68 Alois Kernbauer, Von der Reichs- zur Karl-Franzens-Universität, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25 (1994), 361–398.

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belastete Wissenschaftler im jeweiligen Fach nicht zur Verfügung standen. Im Jahre 1946 waren an der Universität immer noch dreißig Lehrstühle unbesetzt. Von der rund zehnwöchigen Besatzung durch die sowjetischen Truppen nach Kriegsende war vor allem das Hauptgebäude der Karl-Franzens-Universität betroffen, in dem sich Angehörige der Roten Armee einquartierten. Abgesehen von einigen Übergriffen kamen die Hochschulbauten in Graz vergleichsweise glimpflich davon, wiewohl so manche Innenausstattung demoliert wurde. – Die britische Besatzungsmacht nahm die Chirurgische Klinik in Beschlag, räumte sie 1948 teilweise, im Jahre 1954 endgültig. In den ersten Monaten nach Kriegsende leisteten Professoren, Assistenten und Studenten über ihren unmittelbaren Aufgabenbereich hinaus Arbeitseinsätze bei den Aufräumungsarbeiten der Kriegsschäden in der Stadt. Zur Überwindung der ärgsten Not fanden sich die drei steirischen Hochschulen zum sogenannten „Bildungswerk“ zusammen. Die Brennstoffknappheit wurde durch die Initiative der Studenten erheblich gemildert. 200 Studenten der Grazer Universität arbeiteten zwei Monate lang freiwillig in den weststeirischen Kohlengruben und förderten 900 Tonnen Kohle zur Beheizung der Universität.69 Das Fehlen qualifizierten Lehrpersonals und die in jeder Hinsicht ungünstigen Rahmenbedingungen führten 1945 zu grundsätzlichen Diskussionen über den Weiterbestand der Grazer Universität. Wieder einmal trat das Land Steiermark, die Steiermärkische Landesregierung, für den Fortbestand ein.70 Der immense Hörerzustrom71 ließ denn auch eine Schließung als unrealistisch erscheinen, sodass der Weiterbestand der Universität nach kurzer Diskussion außer Frage gestellt war. Der Weiterbestand der Technischen Hochschule wurde allen Ernstes diskutiert. Auch offizielle Stellen ließen verlauten, dass Österreich mit einer einzigen, gut ausgestatteten Technischen Hochschule in Wien das Auslangen finden und auf eine zweite in Graz verzichten könne. In diesem Fall war es in erster Linie das Verdienst der Steiermärkischen Landesregierung und vor allem des Landeshauptmannes, Josef Krainer, dass die damals herrschenden tristen Umstände nicht zum alleinigen Maßstab für die anstehenden Entscheidungen genommen wurden, sondern dass es bei rigorosen Einsparungsmaßnahmen blieb. So war der Weiterbestand der Technischen Hochschule gesichert.72 In der Folge wurden gerade der Technischen 69 Ferdinand G. Smekal, Alma Universitas. Die Geschichte der Grazer Universität in vier Jahrhunderten, Wien 1967, 143–144. 70 Hermann Wiesflecker, Die Universität Graz in Vergangenheit und Gegenwart, in: Berthold Sutter (Red.), Die Steiermark. Land Leute Leistung, Graz 1971, 759. 71 Christian Klösch/Hans-Peter Weingand, Zur Lage der Studierenden in der Steiermark 1945–1955, in: Siegfried Beer (Hrsg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955 (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark XXXVIII), Graz 1995, 467–497, 468. 72 Tätigkeitsbericht der Technischen Hochschule Graz über die Studienjahre 1945–1950, Graz 1950; Tätigkeitsbericht der Technischen Hochschule Graz über die Studienjahre 1950–1955, Graz 1955.

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Hochschule erhebliche finanzielle Mittel zugeführt, um den Anschluss im Forschungsbereich wieder zu ermöglichen. So schwer der Neuanfang auch war, im Vergleich zu den völlig zerstörten Städten Deutschlands war Graz von den Bombardements wenig betroffen. Karl von Frisch, Nobelpreisträger des Jahres 1973 und im Übrigen der einzige Grazer Nobelpreisträger des letzten halben Jahrhunderts, der im Jahre 1946 im Alter von sechzig Jahren von München nach Graz berufen worden war, fasste die Situation der ersten Nachkriegsjahre in seinen Mitte der 50er-Jahre veröffentlichten Lebenserinnerungen folgendermaßen zusammen: „Graz hatte durch den Krieg wenig gelitten. Die schöne Stadt, an den Ausläufern der steiermärkischen Berge in reizvoller Hügellandschaft gelegen, ist klimatisch begünstigt. Tier- und Pflanzenwelt dieser Gegend überraschen den Biologen durch südliche Formen. Die Universität hatte eine ruhmvolle Tradition, die freilich nun in Gefahr stand abzureißen. Als deutscher Vorposten im Grenzland hatte sich die Stadt den nationalsozialistischen Leidenschaften in stärkstem Maße hingegeben und die Universität hatte bei der ‚Säuberungsaktion‘ keinen Respekt vor Leistungen gekannt. Nach dem Ende des Krieges fegte der eiserne Besen in umgekehrter Richtung abermals durch die Reihen der Dozenten. Ein Auffüllen der Lücken war um so schwerer, als Berufungen aus Deutschland nur selten in Frage kamen. Man mußte um die Zukunft der Universität besorgt sein.“73

Entnazifizierung Eine der ersten Maßnahmen im Frühsommer 1945 war die Bestellung neuer akademischer Funktionäre. Der Landeshauptmann ernannte den Juristen Karl Rauch zum Rektor der Universität und Bernhard Baule zum Rektor der Technischen Hochschule. An der Universität waren die personellen Veränderungen zahlenmäßig gravierend: Im Mai 1946 waren von den 175 Professoren und Dozenten der Universität 93 aus dem Lehrkörper ausgeschieden, in 10 Fällen stand die Entscheidung bezüglich der Entnazifizierung noch aus.74 Siebzig Prozent der Universitätslehrer wurden zu diesem Zeitpunkt entlassen.75 Erstaunlicherweise stand aber gerade die Universität im Mittelpunkt von vor allem in der „Wahrheit“, dem Organ der Kommunistischen Partei, veröffentlichten kritischen Stellungnahmen. Weniger drastisch fielen die Maßnahmen an der Technischen Hochschule aus, an der der prozentuelle Anteil an NS-Mitgliedschaften höher als an der Universität gewesen war, wo aber die Fachsituation eine andere Vorgangsweise nahelegte. 73 Karl von Frisch, Erinnerungen eines Biologen, Berlin–Göttingen–Heidelberg 1957, 131. 74 Kernbauer, Von der Reichs- zur Karl-Franzens-Universität, 374. 75 Höflechner, Zur Geschichte der Universität Graz, 70.

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An allen Hochschulen verblieben ehemalige Mitglieder der NSDAP unter ganz bestimmten Bedingungen in ihren Stellungen, namentlich wenn kein Ersatz vorhanden war und die nationalsozialistische Aktivität der fraglichen Persönlichkeiten sich auf die bloße Parteimitgliedschaft beschränkt hatte.76 Ungeachtet dieser „Kontinuität“ von vielen Universitätsangehörigen vollzog sich in den ersten Jahren nach dem Krieg ein personeller Neuansatz: eine große Zahl vergleichsweise junger Forscher wurde zu Professoren bestellt und war bis in die 70er- und frühen 80er-Jahre tätig. In diesen Jahren nach dem Weltkrieg wurde eine über die Hochschulen hinausgehende Neuordnung der politischen Landschaft im intellektuellen Milieu mit lang anhaltenden Folgewirkungen in der Zweiten Republik geschaffen. Im Zuge der Personalrochaden nach dem Weltkrieg schlug die Stunde des in der Zwischenkriegszeit unter der Studentenschaft zahlenmäßig stark in der Minderheit befindlichen, in der NS-Zeit verbotenen und verfolgten katholischen Cartellverbandes, der sich berufen sah, das neue Österreich aufzubauen und die Basis für einen einige Jahrzehnte währenden großen Einfluss legte. Der in der Nachkriegszeit zahlenmäßig weniger bedeutende Bund Sozialistischer Akademiker (BSA) zeigte sich gegenüber den ehemaligen NSDAP-Mitgliedern fallweise konzilianter. Im Jahre 1948 waren in der Steiermark 70 Prozent der BSA-Mitglieder ehemalige „Registrierte“.77 In den 50er-Jahren begann die Phase der erneuten Habilitierung ehemaliger nationalsozialistischer Professoren und Dozenten, die ihrer Stellung bzw. ihrer Lehrbefugnis verlustig gegangen waren, sodass zu guter Letzt die Zahl derer, die auf Dauer von den Hochschulen verbannt blieben, relativ gering war. Eine wenig erquickliche Folge dieser Situation war, dass die neuen Ministerialbeamten, die den beiden Großparteien zuzurechnen waren, den Universitätsprofessoren mit deutschnationaler bzw. nationalsozialistischer Vergangenheit deutlich die Vorgesetztenrolle der Ministerialbehörde gegenüber den Universitäten und Hochschulen spüren ließen und damit im Grunde aber die allzu enge Anbindung der Hohen Schulen an die Staatsbehörden und damit indirekt an politische Parteien bewirkten. Das selbstverständlich-partnerschaftliche Verhältnis zwischen Ministerium und Hohen Schulen in der Zeit der Monarchie und auch noch in der Ersten Republik bis zu Anfang der 30er-Jahre war einem eindeutigen hierarchischen Prinzip gewichen. Nach den sieben Jahren nationalsozialistischer Herrschaft mit rapide ablaufenden, die alten akademischen Gepflogenheiten über Bord werfenden Veränderungen waren die Hoch76 UAG Phil. Fak. Zl 1446 ex 1947/48. 77 Ulla Kremsmayer, Instrumentalisierte Intelligenz. Sozialdemokratie und Intellektuelle, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 18 (1989), 368.

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schulen wiederum um Distanz zur Politik bemüht und bestrebt, ihre alten Traditionen wieder aufleben zu lassen, ja besonders zu betonen. Demonstrativ kehrte man bei Promotionen vom Deutschen wiederum zum Lateinischen, der „lingua franca“ der Gelehrtenwelt, zurück. Die Inaugurationsrede Josef Dobretsbergers im Herbst 1946 zeigte durch die entschiedene Betonung gesellschaftlicher Fragen und deren Bedeutung für das Bildungswesen in eine neue, wiederum zutiefst politische Richtung: „Die krisenhaften Erscheinungen in unserem Bildungssystem sind nur die Ausstrahlungen jener viel größeren Krise unserer Gesellschaftsordnung.“78 Der Neuanfang knüpfte in manchem an Änderungsabsichten an, die schon seit geraumer Zeit unter unterschiedlichen Vorzeichen diskutiert worden waren und somit wohl Antworten auf Zeiterfordernisse darstellten. Nichtsdestoweniger beeindruckt die Radikalität des Neuansatzes und des Aufbauwillens.

78 Josef Dobretsberger, Der Intellektuelle in der modernen Gesellschaft, in: Die feierliche Inauguration des Rektors der Grazer Universität für das Studienjahr 1946/47, Graz 1947, 26.

NS-Terror in der Steiermark

Heimo Halbrainer

Wenn vom nationalsozialistischen Terror die Rede ist, verband man damit bis in die jüngste Zeit fast automatisch Verbrechen, die weit weg von der Steiermark verübt worden waren. Die Orte, Länder und Regionen, die dabei genannt wurden, sind Auschwitz, Birkenau, Treblinka, Majdanek, Theresienstadt, die Sowjetunion, der Balkan, zudem noch Dachau, Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen, Bergen-Belsen in Deutschland oder Mauthausen in Oberösterreich. Diese Externalisierung des NS-Terrors in andere Regionen des nationalsozialistischen Machtbereichs setzte nach 1945 bereits nach einer kurzen Phase ein, in der sehr wohl über den NS-Terror „vor der eigenen Haustüre“ in und um Graz, in der Süd-, in der West- und Obersteiermark diskutiert und NS-Verbrechen teilweise auch justiziell „aufgearbeitet“ wurden.1 So berichteten beispielsweise unmittelbar nach der Befreiung 1945 die Grazer antifaschistische Volkszeitung bzw. die Neue Steirische Zeitung über den NS-Terror in der Steiermark durch NSDAP-Gau- und Kreisleiter,2 über den Terror der NS-Justiz,3 der Gestapo4 und des Sicherheitsdienst der SS,5 über steirische Konzentrationslager6 und auch schon sehr früh über die NS-Euthanasie und die steirischen Opfer7. Am häufigsten in dieser frühen Phase berichtete die Neue Steirische Zeitung – bedingt auch durch das gehäufte Auffinden von Leichen – über

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Martin Polaschek, Im Namen der Republik Österreich! Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955 (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchivs 23), 2. Aufl., Graz 2002. „Massenhinrichtungen auf Befehl Uiberreiters. Ohne gerichtliches Verfahren schuldlos am Feliferhof erschossen“, in: Grazer antifaschistische Volkszeitung (GaV), 16.5.1945; „Aus dem Schandregister des Kreisleiters Dr. Suette“, in: Neue Steirische Zeitung (NStZ), 1.7.1945. „Aus finsteren Tagen der Nazijustiz“, in: NStZ, 31.5.1945; „Aus finsteren Tagen: Sondergericht und Volksgerichtshof in Graz“, in: NStZ, 7.6.1945; „Das Grazer Sondergericht“, in: NStZ, 15.6.1945; „Steirer als Opfer der Nazijustiz“, in: NStZ, 16.6.1945. „In Zelle 33 der Gestapo“, in: GaV, 22.5.1945; „… sind ohne standgerichtliches Verfahren sofort zu erschießen. Aus den letzten Tagen der Gestapo“, in: NStZ, „Wir spielen Aufhängen. Sonntagsvergnügen im Hof des Polizeigebäudes“, in: NStZ, 13.6.1945. „Ein Netz von Spitzeln über dem ganzen Lande. Organisation und Aufgabe des berüchtigten SDDienstes“, in: NStZ, 10.6.1945. „Zwei Mauthausen-Filialen in der Steiermark“, in: NStZ, 19.6.1945; „Gräber von erschossenen KZHäftlingen gefunden“, in: NStZ, 25.8.1945. „Steirer als Opfer der Nazibarbarei“, in: NStZ, 22.6.1945, 23.6.1945, 27.6.1945.

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die Ermordung von jüdischen „ungarischen“ Schanzarbeitern, die am sogenannten Südostwall Zwangsarbeit verrichten mussten und die im April 1945 in Todesmärschen durch die Steiermark nach Mauthausen getrieben und von lokalen „Volks- und Parteigenossen“ ermordet wurden.8 Dieser ersten Phase der Benennung des NS-Terrors und dessen Opfer in der Steiermark – wobei die steirischen Jüdinnen und Juden zu diesem Zeitpunkt kein Thema waren – folgte ein jahrzehntelanges Schweigen, was nicht nur einer späten Etablierung des Faches Zeitgeschichte an der Universität Graz geschuldet war. Selbst als 1988 im „Be- und Gedenkjahr 1938/88“ erstmals breit über den „Anschluss“, die Verfolgung und den Widerstand diskutiert wurde und die steirischen NS-Opfer ins Blickfeld gerückt wurden, blieben die NS-Täter sowie die Orte und Institutionen des NS-Terrors in der Steiermark weiterhin ausgeblendet.9 Auch die Mitte der 1980er-Jahre von Stefan Karner vorgelegte Studie „Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945“ geht auf den NS-Terror in der Steiermark kaum ein.10 Erst in den letzten Jahren sind erste Beiträge zu Teilaspekten des NS-Terrors in der Steiermark erschienen, wobei neben Detailstudien zu einzelnen Konzentrationslagern, also der institutionellen Form des Terrors, auch erste Arbeiten vorgelegt wurden über jene Formen des Terrors, die nicht von oben angeordnet wurden, sondern die von Teilen der „Partei- sowie Volksgenossen und -genossinnen“ ohne Befehl und Aufforderung ausgeübt wurden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang u. a. die Arbeiten zu den Todesmärschen „ungarischer“ Jüdinnen und Juden durch die Steiermark, die Arbeiten über die Partizipation von Teilen der Grazer bzw. steirischen nichtjüdischen Bevölkerung bei der Terrorisierung und Beraubung der jüdischen Bevölkerung sowie über Zuträgerdienste für die Gestapo und die Denunziationsbereitschaft der steirischen Bevölkerung.11 8

„Klein-Feliferhof“; „Exhumierung ermordeter Juden“; „Bestialischer SS-Mord an wehrlosen Juden“; „Neue Gräberfunde in der Oststeiermark“; „Die MP als Serum gegen Flecktyphus“; „Der Todesmarsch ungarischer Juden“, in: NStZ, 24.6.1945; 29.6.1945; 7.7.1945; 2.8.1945; 12.8.1945; 23.8.1945. 9 Eine Ausnahme bildete die temporäre künstlerische Intervention im Rahmen des Steirischen Herbstes: Steirischer Herbst (Hrsg.)‚ Bezugspunkte 38/88. Graz Innenstadt, 15. Oktober – 8. November 1988, Graz 1988. 10 Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlichsozialen und kulturellen Entwicklung, Graz–Wien 1986. 11 Dietmar Seiler, Die SS im Benediktinerstift. Aspekte der KZ-Außenlager St. Lambrecht und Schloß Lind, Graz 1994; Anita Farkas, „Sag mir, wer die Toten sind!“ Personalisierung des Opfergedenkens am Beispiel der NS-Opfer von Peggau, Klagenfurt 2002; Anita Farkas, Geschichte(n) ins Leben holen. Die Bibelforscherinnen des Frauenkonzentrationslagers St. Lambrecht, Graz 2004; Stefan Karner/ Heide Gsell/Philipp Lesiak, Schloss Lannach 1938–1949, Graz 2008; Eleonore Lappin, Die Todesmärsche ungarischer Juden durch den Gau Steiermark, in: Gerald Lamprecht (Hrsg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung, Auslöschung, Annäherung (Schriften des Centrums für Jüdische

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Der Rahmen: Ausgrenzung, Verfolgung, Terror Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde deren rassistische und menschenverachtende Ideologie offizielle Staatsideologie. Bislang gültige Normen und Rechte – teilweise bereits zwischen 1934 und 1938 aufgeweicht – wurden beseitigt und durch Kategorien wie „Volksgemeinschaft“ und „Rasse“ ersetzt. Eine Abweichung davon wie auch ein Auflehnen gegen das System wurde sanktioniert und bedeutete für die einzelne Person oder ganze Gruppen Verfolgung, Vertreibung und in vielen Fällen auch Tod. Im rassistischen Denken der Nationalsozialisten sollte es fortan kein Individuum mehr geben, sondern nur mehr die „klassenlose und egalitäre Volksgemeinschaft“, in die sich jeder Einzelne einzufügen hatte. Die Schaffung der „Volksgemeinschaft“ sollte dabei in zweifacher Weise erfolgen. Zum einen durch Integration, in dem ein dichtes Netz von Organisationen und Einrichtungen über die Österreicher und Österreicherinnen gelegt wurde und somit sämtliche Lebensbereiche der „Volksgenossinnen und -genossen“ erfasst wurden. Zum anderen wurde der Prozess der Integration aber auch durch die Ausgrenzung all jener, die nicht Teil dieser „Volksgemeinschaft“ sein konnten oder wollten, gefördert. Mit dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich erfolgte auch ein Anschluss an den Terror gegen „innere Feinde“ – gegen politisch Andersdenkende, alle „Nicht-Arier“ und sonstige „Rassenfeinde“. Die Basis für diese Ausgrenzung und die Verfolgung der „Volksfeinde“ und „Volksschädlinge“ – wie sie genannt wurden – war eine Reihe von politisch und rassistisch motivierten Verordnungen und Gesetzen. Das Hauptinstrument für die „Bekämpfung der Gegner“ und zur Durchsetzung der Rassenpolitik waren der SS- und Polizeiapparat mit seinen Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie die „Euthanasie“-Anstalten. Das Verfolgungs- und Terrorsystem war aber nicht nur auf den staatlichen Repressionsapparat beschränkt, sondern wurde von „Partei- und Volksgenossen und -genossinnen“ zu einem nicht geringen Teil mitgetragen. So wurden zum einen Unmutsäußerungen, kleine Widersetzlichkeiten, nonkonformes und oppositionelles Verhalten, aber auch die Menschlichkeit gegenüber den von den Nationalsozialisten Ausgegrenzten von Nachbarn, vermeintlichen Freunden, Familienangehörigen und anderen bei den nationalsozialistischen Funktionären, der Gestapo Studien 5), Innsbruck u. a. 2004, 263–289; Gerald Lamprecht, „Auf diese Art und Weise würde aus einer jüdischen Kultusstätte ein schönes Wohnhaus für einen alten Nazi erschaffen.“ Organisatorisches und Exemplarisches zum Vermögensentzug in der Steiermark, in: Margit Franz u. a. (Hrsg.), Mapping Contemporary History. Zeitgeschichten im Diskurs, Wien–Köln–Weimar 2008, 351–383; Heimo Halbrainer, „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Denunziation in der Steiermark 1938–1945 und der Umgang mit den Denunzianten in der Zweiten Republik, Graz 2007; Heimo Halbrainer, Widerstand und Verrat – Die Unterwanderung des steirischen Widerstands durch V-Leute der Gestapo, in: Franz u. a. (Hrsg.), Mapping Contemporary History, 321–349.

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oder staatlichen Stellen denunziert. Zum anderen gab es – nicht nur in der Steiermark – einen „spontanen“, nicht durch „gesetzliche“ Maßnahmen gedeckten Terror der einheimischen Nationalsozialisten, der SA und anderer nationalsozialistischer Organisationen.

„Spontaner“ Terror in der Steiermark Diese Form des Terrors in der Steiermark war speziell während der „Umbruchstage“ im März 1938 und anlässlich des Pogroms im November des gleichen Jahres sowie zu Kriegsende in den Monaten April und Mai 1945 bei den Todesmärschen „ungarischer“ Juden feststellbar. Während der Pogrom 1938 und die Todesmärsche in gesonderten Beiträgen behandelt werden,12 soll hier kurz auf den Terror der „Anschluss“-Tage eingegangen werden. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in den einzelnen Gemeinden wurden von lokalen SA- und SS-Männern eigenmächtig Tausende Menschen in der Steiermark verhaftet und in sogenannte „Schutzhaft“ genommen.13 Wie sehr diese Verhaftungen vom Gedanken der Rache diktiert waren, zeigen Schilderungen von Verfolgten.14 So berichtet beispielsweise der Leobner Max Muchitsch: „[Um zirka] 5 Uhr früh, da drosch jemand mit einem harten Gegenstand an unsere Wohnungstür und brüllte laut: ‚Aufmachen! Aufmachen – Polizei!‘ Als ich, nur mit der Turnhose bekleidet, die Tür aufmachte, standen so an die fünf, sechs SA-ler draußen mit aufgepflanztem Bajonett an ihrem 98er Gewehr.“15

Muchitsch musste zum Vordernberger Hauptplatz mitkommen, wo bereits über 20 weitere Sozialisten und Kommunisten standen. Diese wurden für Putzschartätigkeiten unter Beschimpfungen auf den Präbichl eskortiert.16 Neben Juden, Sozialisten und Kommunisten wurden vor allem Funktionäre des Ständestaats bzw. Führer militärischer Einheiten (Heimatschutz, Ostmärkische Sturmscharen) sowie 12 Siehe die Beiträge von Gerald Lamprecht und Eleonore Lappin-Eppel in diesem Band. 13 In einem Schreiben der Landeshauptmannschaft für Steiermark vom 10.5.1946 an das Bundeskanzleramt in Wien, das für die Herausgabe eines „Rot-weiß-rot-Buches“ Material sammelte, heißt es, dass mindestens 8.000 Personen in der Steiermark in den Märztagen verhaftet worden sein dürften. Siehe: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) 8342. 14 Nach 1945 sollten zahlreiche Personen wegen dieser Misshandlungen im März 1938 vor den zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen errichteten Volksgerichten angeklagt und verurteilt werden. 15 Max Muchitsch zitiert in: Geschichtswerkstatt Leoben, Leben und Arbeiten im Bezirk Leoben, Wien– Köln 1989, 34f. 16 Geschichtswerkstatt Leoben, Leben und Arbeiten im Bezirk Leoben, 34f.

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jene Personen, die für die Niederschlagung des NS-Putsches 1934 bzw. die Verfolgung der Putschisten verantwortlich gemacht wurden, verhaftet, teilweise misshandelt und gedemütigt. In Eggenberg bei Graz wurden beispielsweise zwei Männer verhaftet, die in Leoben als Henker nach dem Juliputsch 1934 Nationalsozialisten hingerichtet hatten.17 Diese Willkür lokaler NS-Stellen – rund um den 12. März 1938 durchaus auch ein Ventil für die bis zu diesem Zeitpunkt illegalen Nationalsozialisten – musste jedoch wieder in „geordnete“ Bahnen gelenkt werden, zumal zahlreiche Beschwerden bei den zentralen Stellen der neuen Machthaber eingingen. So heißt es beispielsweise im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden von zahlreichen Fällen von Beschimpfungen und Misshandlungen im Zuge von Putzschartätigkeiten in einem Rundschreiben der Gestapo Graz am 19. März 1938, dass „in Anbetracht der bevorstehenden Wahlen Vorsorge zu treffen [ist], dass weitere Vorkommnisse dieser oder ähnlicher Art unter allen Umständen unterbleiben“.18 Nur wenige Tage später ordnete der Chef der Sicherheitspolizei, Reinhard Heydrich, ein einheitliches Vorgehen gegen die politischen Gegner an. So heißt es in einem Schreiben der Gestapo Graz an die steirischen Bezirkshauptmänner vom 31. März 1938: „Bis auf weiteres bedürfen alle politischen Festnahmen der Genehmigung des Chefs der Sicherheitspolizei. Die bisher festgenommenen Personen sind ohne Verzug sofort durchzuprüfen und dann zu entlassen, sofern sie nicht besonders bedeutende Führer der Gegner waren und dies ohne Gefahr ihrer eigenen Person und ohne unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit erfolgen kann. Kleinere und mittlere Funktionäre der kommunistischen bezw. marxistischen Partei, der vaterländischen Front usw. sind zu entlassen, wenn nicht ganz besondere Umstände entgegenstehen. […] Ich mache es den Herren Bezirkshauptmännern zur besonderen Pflicht, sich sofort mit allen in Betracht kommenden Führern der Parteiformationen in Verbindung zu setzen und darauf hinzuweisen, dass auf Grund der bei den zentralen Stellen in Wien eingegangenen vielen Beschwerden in Zukunft rücksichtslos und ohne Ansehen der Parteimitgliedschaft gegen alle diejenigen staatspolizeilich eingeschritten wird, welche eigenmächtig Festnahmen, Haussuchungen oder sonstige staatspolizeiliche Maßnahmen vornehmen.“19

Während gemäß der Weisung von Heydrich viele der in den Tagen um den 12. März 1938 Festgenommenen bis April wieder entlassen wurden, wurden führende Vertreter des Ständestaats bzw. für die Niederschlagung des Juliputsches 1934 Verantwortliche entweder vor Ge-

17 Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Bezirkshauptmannschaft (BH) Graz, Kt. 354, 14 Schu 29/1938. 18 StLA, BH Murau, Kt. 312, 14 Pu 5/1938. 19 StLA, BH Graz, Kt. 353, 14 Ko 87/1938.

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richt gestellt20 oder in das 1933 errichtete Konzentrationslager Dachau überstellt.21 Das Schreiben Heydrichs macht auch klar, dass dezentral ausgeübter Terror auf Dauer nicht gewünscht wurde, sondern zentral in die Hand jener Organisation gelegt werden sollte, die als Inbegriff des Terrors zu sehen ist – in die Hand der Gestapo. Dennoch wurde diese Form des Terrors – die eigenmächtigen Festnahmen, Demütigungen und Mißhandlungen – vereinzelt weiterhin ausgeübt. So berichtete beispielsweise nach 1945 der aus Untergroßau (Sinabelkirchen) stammende Kaufmann Simon Gölles, er sei am 18. September 1938 von einer Gruppe von SAMännern aus seinem Geschäft abgeholt worden. „Beim Ortseingange in Sinabelkirchen wurde mir eine Tafel um den Hals gehangen mit der Aufschrift: Achtung! Schuschnigg, Otto und Stalin tanzen in seinem Schädel drinnen. Von dieser SA-Gruppe wurde ich zum Gelächter und Spott der Bevölkerung von Sinabelkirchen nach Gnies geführt.“22 Auch im Zusammenhang mit dem verbotenen Umgang von Frauen mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern lässt sich diese Form der eigenmächtigen Misshandlungen und Demütigung bis zum Kriegsende feststellen. Als Beispiel sei ein Fall aus Rein bei Gratwein erwähnt, wo die im Stift beschäftigte Klosterschwester Helene, die zwei notgelandete englische Soldaten versteckt hatte, von zwei Frauen aus dem Ort denunziert wurde. Daraufhin misshandelten und demütigten Angehörige der lokalen Hitlerjugend und Wehrmachtssoldaten sie, indem sie ihr die Haare abschnitten und sie am 13. April 1945 mit einer Tafel um den Hals durch den Ort trieben, auf der stand: „So sieht eine Hure aus, die flüchtige Kriegsgefangene längere Zeit verborgen hielt.“23

NS-Justiz Zentral für die Ausgrenzung und Verfolgung war der rechtliche Rahmen, den sich das NSRegime gab.24 Die Grundlage des nationalsozialistischen Rechtsverständnisses war aber nicht 20 Martin F. Polaschek, Wehe den Besiegten. Die strafrechtliche Verfolgung von Funktionären des autoritären Ständestaates durch das nationalsozialistische Regime, in: Martin F. Polaschek/Otto Fraydenegg-Monzello (Hrsg.), Festgabe für Gernot D. Hasiba zum 60. Geburtstag (Arbeiten zu Recht, Geschichte und Politik in Europa 4), Graz 2003, 107–128. 21 Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, „Stacheldraht, mit Tod geladen …“. Der erste Österreichertransport in das KZ Dachau 1938. Hg. v. der Arbeitsgemeinschaft der KZ-Verbände und Widerstandskämpfer Österreichs, Wien 2008. 22 StLA, Landesgericht für Strafsachen (LGS) Graz, Volksgericht Graz, Vr 1239/48. 23 StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 8582/47. 24 Vgl. dazu: Wolfgang Form, Politische NS-Strafjustiz in Deutschland und Österreich, in: Wolfgang Form/Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung in Österreich 1938 bis 1945. Die Verfahren vor dem Volksgerichtshof und den Oberlandesgerichten Wien und Graz. Erschließungsband zur Mikrofiche-Edition, München 2005, 9–26; Maria Szecsi/Karl Stadler, Die NSJustiz in Österreich und ihre Opfer, Wien–München 1962; Wolfgang Neugebauer, Politische Justiz

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mehr der Schutz der Einzelperson und die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, sondern die Vorrangigkeit der „Volksgemeinschaft“ und die Pflicht, dieser zu dienen, was auch in dem nationalsozialistischen Grundsatz „Recht ist, was dem Volke nützt“ zusammengefasst wurde. Die zu bewahrenden Rechtsgüter waren Rasse und Erbgut, Ehre und Treue, Wehrhaftigkeit und Arbeitskraft, Zucht und Ordnung. Eigens erlassene Sondergesetze erfassten daher all jene, die außerhalb der „Volksgemeinschaft“ standen. Dies waren neben den politischen Gegnern des Regimes – gegen die in Deutschland bereits im Februar und März 1933 erste Verordnungen und Gesetze25 erlassen worden waren und gegen die während des Krieges neue, so etwa die Kriegssonderstrafrechtsverordnung26, hinzukamen – vor allem jene, die entsprechend den rassistischen Grundsätzen des Nationalsozialismus als „nicht-deutsch“ und „nichtarisch“ oder als „minderwertig“ definiert wurden. So wurde durch das am 20. Dezember 1934 in Deutschland erlassene „Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform“ das Recht auf freie Meinungsäußerung abgeschafft, da jeder bestraft werden konnte, der „vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen“.27 Im „angeschlossenen“ Österreich erlangte das „Heimtückegesetz“ am 23. Jänner 1939 Rechtskraft.28 Eine weitere

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in Österreich 1934–45, in: Erika Weinzierl/Karl Stadler (Hrsg.), Justiz und Zeitgeschichte I, Salzburg 1977, 169–209; Helmut Gebhardt, Die Justiz in Graz 1938–1945, in: Stefan Karner (Hrsg.), Graz in der NS-Zeit 1938–1945, Graz 1998, 97–123. Reichsgesetzblatt (RGBl.) 1933, I, 35–41 („Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes vom 4. Februar 1933“); RGBl. 1933, I, 83 („Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933“); RGBl. 1933, I, 135 („Verordnung des Reichspräsidenten zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21. März 1933“); RGBl. 1933, I, 136–138; („Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933“). RGBl. 1939, I, 1455–1457 („Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz [Kriegssonderstrafrechtsverordnung] vom 17. August 1938“). Diese Verordnung wurde bereits im August 1938 beschlossen und am Vorabend des Zweiten Weltkriegs (26. August 1939) in Kraft gesetzt. RGBl. 1934, I, 1269–1271 („Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform vom 20. Dezember 1934“). Ebenfalls bestraft wurde, wer „öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP., über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben [...]. Den öffentlichen Äußerungen stehen nichtöffentliche böswillige Äußerungen gleich, wenn der Täter damit rechnet oder damit rechnen muss, dass die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde.“ RGBl. 1939, I, 80 („Verordnung über die Einführung strafrechtlicher Vorschriften im Lande Österreich vom 23. Januar 1939“).

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typisch nationalsozialistische Verordnung war jene von Reichspropagandaminister Goebbels ini­tiierte „Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ („Rundfunkverordnung“) vom 1. September 1939.29 Mit ihr wurde bei der Überwachung der Gesellschaft auch eine neue Qualität erreicht – die Kontrolle der Privatsphäre. Als Begründung für diese bis ins Wohnzimmer hineinreichende Verordnung wurde angegeben, dass „der Gegner nicht nur mit militärischen Waffen, sondern auch mit Mitteln, die das Volk seelisch beeinflussen und zermürben sollen“, kämpfe. Neben diesen politischen Gesetzen wurde auch eine Reihe von rassistisch motivierten Verordnungen und Gesetzen erlassen. Den Anfang machten die Sondergesetze gegen Juden, die als „Artfremde“ außerhalb der „Volksgemeinschaft“ gestellt wurden, was im „Reichsbürgergesetz“ und dem „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ („Blutschutzgesetz“), die beide 1935 auf dem Nürnberger Parteitag der NSDAP eingeführt wurden, zum Ausdruck kam. Die als „Nürnberger Rassengesetze“ bekannten Gesetze führten den Blutsgedanken und die daraus abgeleitete Definition des „Reichsbürgers“ als Ausgrenzungskriterium ein. Demnach konnten nur Staatsangehörige mit „deutschem oder artverwandtem Blute“ Reichsbürger sein, während alle anderen zwar Staatsbürger, jedoch nicht Reichsbürger sein konnten und sie deshalb auch keine politischen Rechte besaßen. Damit einhergehend waren Eheschließungen und „außerehelicher Verkehr“ zwischen Juden (Staatsbürgern) und „Reichsbürgern“ nach dem „Blutschutzgesetz“ verboten. Am 20. Mai 1938 wurden die im Deutschen Reich gegen die Juden erlassenen Gesetze auch im „angeschlossenen“ Österreich wirksam, wovon die Zeitungen ebenso ausführlich berichteten30 wie über erste „Rassenschandeprozesse“ in der Steiermark.31 Die Ahndung von „Verfehlungen“ gegen die nationalsozialistischen Gesetze und Verordnungen oblag Sondergerichten, die in Deutschland 1933 für die Aburteilung des Delikts der „Heimtücke“ errichtet worden waren. Mit diesen Sondergerichten sollte – wie es im NSJargon hieß – „das Verbrechertum, welches durch sein Treiben die Abwehrkraft des deutschen Volkes gefährdet und seinen Widerstandswillen zu lähmen versucht”32, verfolgt werden. In Österreich wurden mit der Verordnung vom 20. November 1938 Sondergerichte bei den Oberlandesgerichten geschaffen, die ab 13. Jänner 1939 nicht nur für die Ahndung von „politischen Straftaten“ – Vergehen nach dem „Heimtückegesetz“ oder ab 1. September 1939 der 29 RGBl. 1939, I, 1683 („Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939“). 30 „Die Nürnberger Rassengesetze in Österreich“, in: Tagespost, 26.5.1938; „Blut und Rasse als Lebensgesetze“, in: Der Ostmarkbrief, November 1938. 31 Beispielsweise: „3 Jahre für einen Rassenschänder“, in: Obersteirische Volkszeitung, 28.2.1939; „Wegen Rassenschande verurteilt“, in: Obersteirische Volkszeitung, 17.5.1939. 32 Neugebauer, Politische Justiz in Österreich, 187.

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„Rundfunkverordnung“ –, zuständig waren, sondern die eine rasche Verfolgung von Strafsachen ermöglichten, die „mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat die sofortige Aburteilung“ notwendig erscheinen ließen.33 Anlass für die Einführung der Sondergerichte in Österreich im November 1938 war ein Vierfachmord in der Steiermark. Ein Brüderpaar, 20 und 13 Jahre alt, hatte am 17. November 1938 als Wegelagerer einem Autofahrer am Obdacher Sattel eine Falle gestellt und ihm das Auto geraubt. Mit dem geraubten Auto fuhren sie nach Hüttenberg, wo sie am nächsten Tag erneut einem Autofahrer eine Falle stellten und dabei den Fahrer erschossen. Am Abend errichteten sie am Perchauer Sattel erneut eine Autofalle, wobei sie einen der Insassen erschossen und zwei weitere als Geisel nahmen. Während der Fahrt gelang es einer der Geiseln zu fliehen und daraufhin die Gendarmerie und die SA des Bezirkes zu alarmieren. Nachdem die beiden Brüder bei Unzmarkt mit dem Wagen in einen Graben gestürzt waren, gingen sie zu Fuß nach Unzmarkt, wo sie in der Nähe des Bahnhofs auf eine SA-Streife stießen. Im Zuge des folgenden Feuergefechts erschossen sie zwei SA-Männer aus Judenburg.34 Dies führte u. a. dazu, dass tags darauf die Verordnung über die Einführung der Sondergerichte in Österreich beschlossen und in der Presse kundgemacht wurde. In der Tagespost vom 22. November 1938 heißt es dazu: „Unter dem Eindruck der in letzter Zeit sich häufenden Gangsterverbrechen und namentlich des vierfachen Mordes in der Steiermark hat der Reichsminister der Justiz im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Inneren eine Verordnung erlassen, die die sofortige Aburteilung derartiger Taten in einem besonders schnellen und rechtsmittellosen Verfahren sicherstellt. Nach der Verordnung kann die Staatsanwaltschaft bei Verbrechen Anklage vor dem Sondergericht erheben, wenn sie der Auffassung ist, dass mit Rücksicht auf die Schwere und die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung sofortige Aburteilungen durch das Sondergericht geboten ist. […]“35

In der Steiermark gab es zwei Sondergerichte, eines in Graz und eines in Leoben, wo neben einer Vielzahl von „politischen Fällen“ während des Krieges immer mehr Delikte verhandelt wurden, die normalerweise von einem Strafgericht geahndet worden wären.36 Eine Aufstellung aus dem Jahr 1940 zeigt, dass 28 Prozent aller Verurteilungen nach dem „Heimtücke33 RGBl. 1938, I, 1632 („Verordnung über Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte vom 20. November 1938“). 34 „Vier Todesopfer eines Mörderpaares“, in: Tagespost, 19.11.1938; „Der vierfache Mord der Autobanditen“, in: Tagespost, 20.11.1938. 35 „Beschleunigte Aburteilung von Gangsterverbrechen“, in: Tagespost, 22.11.1938. 36 So wurde etwa am 5. Dezember 1939 die Verordnung gegen Gewaltverbrecher erlassen. RGBl. 1939, I, 2378.

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gesetz“, zehn Prozent nach der Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen und nur vier Prozent nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung erfolgten. Die sonstigen Verurteilungen vor den Sondergerichten erfolgten wegen der „Kriegsdelikte“ nach der Kriegswirtschafts- und der Verbrauchsregelungsstrafverordnung bzw. nach der Verordnung gegen „Volksschädlinge“. Dies sollte sich 1941 bzw. 1942 insofern stark verändern, als Anklagen und Verurteilungen nach der Rundfunkverordnung abnahmen, dafür aber Verfahren nach der Kriegswirtschafts- und der Verbrauchsregelungsstrafverordnung sowie wegen verbotenen Umgangs mit Kriegsgefangenen stark zunahmen. 37 Wie sehr sich die NS-Justiz in unpolitischen Strafverfahren von der Ideologie der „Volksgemeinschaft“ hat leiten lassen, sieht man u. a. daran, dass kleine Diebstähle oder Betrügereien, die auch von demokratischen Rechtssystemen geahndet worden wären, nun als Verrat am Siegeswillen des Volkes ausgelegt und daher vor den Sondergerichten verhandelt und mit immer strengeren Strafen – u. a. der Todesstrafe – bedroht wurden. Denn nach der am 5. September 1939 erlassenen Verordnung über „Volksschädlinge“38 galten alle Straftäter, die die Kriegssituation für das Begehen von Verbrechen ausnutzten, als „Volksschädlinge“ und konnten vom Sondergericht zum Tode verurteilt werden. So wurden vom Sondergericht Graz vor allem nach dieser und der am gleichen Tag erlassenen Verordnung gegen Gewaltverbrecher sowie der Kriegswirtschafts-Verordnung 84 Todesurteile verhängt, von denen 65 zur Vollstreckung gelangten.39 Das Sondergericht Leoben verurteilte weitere elf Personen, so etwa im März 1945 einen bis dahin unbescholtenen 32jährigen Hilfsarbeiter aus Niederwölz, der im Februar 1945 aus den Beständen des „Volksopfers“40 zwei Wollwesten und einen Sack mit Spinnstoffabfällen gestohlen hatte, zum Tode. Er habe sich, wie die Tagespost berichtete, „eines schweren Verbrechens gegen die deutsche Volksgemeinschaft schuldig“ gemacht, weshalb 37 Leider gibt es für die folgenden Jahre keine detaillierten Aufstellungen. In den Berichten des Präsidenten des Oberlandesgerichts Graz, Dr. Meldt, vom 7.7.1942 bzw. 26.11.1942 wird nur ein Anstieg konstatiert. Siehe Wolfgang Form/Oliver Uthe (Hrsg.), NS-Justiz in Österreich. Lage- und Reiseberichte 1938–1945 (Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten 3), Wien 2004, 145 bzw. 153. 38 RGBl. 1939, I, 1679 („Verordnung gegen Volksschädlinge vom 5. September 1939“). 39 Polaschek, Im Namen der Republik, 105 ff. Die Liste der zum Tode Verurteilten ist hier abgedruckt. Vgl. dazu Walter Brunner, Hinrichtungen und Tötungen durch Staatsorgane in der Steiermark 1938 bis 1945, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 80 (1989), 277–292; hier 281. Brunner nennt nur 37 Fälle. 40 Am 5. Januar 1945 wurde öffentlich zum „Volksopfer“, einer Sammelaktion von Kleidern und Ausrüstungsgegenständen für Angehörige des Volkssturms und der Wehrmacht, aufgerufen. Parallel dazu wurde die „Verordnung des Führers“ vom 10.1.1945 zum „Schutz der Volksopfer-Sammlung“ in den Zeitungen kundgemacht, wonach jeder, der sich daran vergreift, zum Tode verurteilt wird. Siehe bspw. „Schutz der Volksopfer-Sammlung. Verordnung des Führers“, in: Obersteirische Volkszeitung, 13.1.1945.

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die Todesstrafe „für ein Verbrechen, das sich in seiner Niederträchtigkeit nicht nur gegen die Frontsoldaten, Rückgeführte und Bombengeschädigte, sondern auch gegen den Opferwillen der Volksgemeinschaft richtet“, gerechtfertigt sei.41 Der wohl berühmteste und berüchtigtste Gerichtstyp der nationalsozialistischen Justiz war zweifellos der am 24. April 1934 eingerichtete Volksgerichtshof in Berlin, der vor allem für die Aburteilung von „Hoch- und Landesverrat“, aber auch für andere politische „Straftaten“ zuständig war. Im Laufe des Kriegs wurde der Volksgerichtshof zum obersten politischen Strafgericht.42 In Österreich wurden – nachdem am 20. Juni 1938 die österreichischen Bestimmungen über Hoch- und Landesverrat durch die deutschen ersetzt und die Zuständigkeit des Volksgerichtshofes in Berlin für Österreich bestimmt worden waren43 – zudem am Oberlandesgericht Wien besondere Senate zur Ahndung von Hoch- und Landesverrat eingerichtet, die bis Herbst 1944 auch in Graz tagten. Der Volksgerichtshof konnte sich die österreichischen „Hochverräter“ entweder nach Berlin kommen lassen, wie beispielsweise die Mitglieder der 1940 aufgerollten Widerstandsgruppe der KPÖ um Anton Buchalka in Kapfenberg,44 oder er entsandte umgekehrt seine „Fliegenden Senate“ nach Graz. Der erste Prozess des Volksgerichtshofs in Graz fand am 28. Juli 1942 gegen die führenden Köpfe der kommunistischen Widerstandsgruppe in Graz Karl Drews, Dr. Franz Weiß und Josef Neuhold statt. In den folgenden 12 Verhandlungstagen sprach der Volksgerichtshof 24 Todesurteile gegen steirische und weitere 19 Todesurteile gegen burgenländische Kommunisten aus.45 Insgesamt verurteilten der Volksgerichtshof und die besonderen Senate am Oberlandesgericht Wien in der Steiermark über 130 Widerstandskämpfer und -kämpferinnen, aber auch 41 „Todesstrafe für Diebstahl am Volksopfer“, in: Tagespost, 24.3.1945. 42 Klaus Marxen, Das Volk und sein Gerichtshof. Eine Studie zum nationalsozialistischen Volksgerichtshof, Frankfurt/Main 1994. 43 RGBl. 1938, I, 640–642 („Verordnung über die Einführung der Vorschriften über Hochverrat und Landesverrat im Lande Österreich vom 20. Juni 1938“). 44 Buchalka hatte in der Obersteiermark 1939/40 ein großes Widerstandsnetz der KPÖ aufgebaut und zahlreiche Flugschriften verfasst. Er sowie 250 weitere Personen dieses Netzwerkes wurden 1940 verhaftet und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ angeklagt. Buchalka wurde am 12. Februar 1941 zum Tode verurteilt und am 10. Juli 1941 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Die anderen wurden zu Freiheitsstrafen verurteilt. Siehe: 6 J 103/40 g: Anklage und Urteil gegen Anton Buchalka u. a. Im K. G. Saur-Verlag erschienen zwei Mikrofiche-Editionen der Anklagen und Urteile vor dem Volksgerichtshof bzw. den Oberlandesgerichten, die auch in einer Online-Datenbank „Nationalsozialismus, Holocaust, Widerstand und Exil 1933–1945“ (http://db.saur.de/DGO/login.faces) eingeflossen sind. Aktenkopien liegen auch im DÖW. 45 DÖW 897, Diensttagebuch von Egon Arthur Schmidt, 27. Juli 1942 bis April 1943. Allgemein zum Tagebuch von Egon Arthur Schmidt vgl. Helmut Konrad, Widerstand an Donau und Moldau. KPÖ und KPC zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, Wien–München–Zürich 1978, 207ff und 222ff.

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Personen, die wegen wehrkraftzersetzender Äußerungen angeklagt worden waren, zum Tode.46 Die in Graz vom Volksgerichtshof zum Tode Verurteilten wurden bis August 1943 in Wien im Landesgericht hingerichtet, nachdem sie 100 Tage in der Todeszelle zuwarten hatten müssen. Im Frühjahr 1943 wurde im Südtrakt des Grazer Straflandesgerichtes eine Guillotine aufgestellt, wo zwischen August 1943 und März 1945 156 Menschen hingerichtet wurden, die vom Volksgerichtshof, vom Oberlandesgericht, von den Sondergerichten in Graz, Leoben und Klagenfurt, vom Militärgericht 438-Zweigstelle Graz und vom „Sondergericht für politische Straftaten in der Untersteiermark“ in Marburg (Maribor) zum Tode verurteilt worden waren. Nachdem im März 1945 ein Justizbeamter das Fallbeil hatte verschwinden lassen, wurden bereits zum Tode verurteilte Häftlinge – unter ihnen Mitglieder einer Kapfenberger Widerstandsgruppe, die mit den Partisanen in Slowenien in Verbindung gestanden hatten – im April 1945 von der Gestapo in die SS-Kaserne Graz-Wetzelsdorf bzw. nach Maria Grün gebracht und dort erschossen. Zudem wurden über 1.000 weitere Steirerinnen und Steirer in Graz von den Senaten für Landes- und Hochverrat am Wiener Oberlandesgericht (716) bzw. vom Volksgerichtshof (300) zu zum Teil hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Zur Entlastung des Wiener Oberlandesgerichts und zur schnelleren Erledigung der stark zunehmenden Hoch- und Landesverratsfälle wurde am 1. Oktober 1944 in Graz am Oberlandesgericht ein eigener politischer Senat eingerichtet, der fallweise auch in Leoben und Klagenfurt tagte.47 Vor diesem Grazer Oberlandesgerichtssenat wurden über 100 Personen wegen Hoch- und Landesverrat bzw. wegen Fällen nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung angeklagt, wovon 13 zum Tode verurteilt wurden.48 Neben diesen Sondergerichten (Volksgerichtshof, den politischen Senaten am Oberlandesgericht, Sondergericht) gab es in der Steiermark noch ein SS- und Polizeigericht, Mili46 Dazu: Heimo Halbrainer, „In der Gewißheit, daß Ihr den Kampf weiterführen werdet.“ Briefe steirischer WiderstandskämpferInnen aus Todeszelle und KZ, Graz 2000, 221; Heimo Halbrainer, Steirer als Opfer der Wiener Blutjustiz 1942/43, in: Willi Weinert, „Mich könnt ihr löschen, aber nicht das Feuer“. Ein Führer durch den Ehrenhain der Gruppe 40 am Wiener Zentralfriedhof für die hingerichteten WiderstandskämpferInnen, Wien 2004, 148–150. Dabei handelt es sich um jene 63 Steirer und Burgenländer, die in Graz zum Tode verurteilt und in Wien hingerichtet wurden oder dort in Haft starben, um 15 zum Tode Verurteilte, die begnadigt wurden, und um 54 in Graz zum Tode Verurteilte und hier Hingerichtete bzw. um jene, die von einem der Sondergerichte zum Tode verurteilt und im April 1945 von der SS abgeholt und in der SS-Kaserne in Graz erschossen wurden. 47 Bericht der Generalstaatsanwaltschaft Graz vom 28. September 1944 und Bericht des Oberlandesgerichtspräsidenten Meldt vom 30. November 1944, in: Form/Uthe (Hrsg.), NS-Justiz in Österreich, 184f. 48 Heimo Halbrainer, „Zum Tode verurteilt“ – Die nationalsozialistischen Gerichte und seine Opfer in der Steiermark, Graz 2012 (in Druck).

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tärgerichte und in der Schlussphase der NS-Herrschaft auch noch sogenannte Standgerichte und Militärstandgerichte. Allein vom Militärgericht 438-Zweigstelle Graz wurden über 40 Personen zum Tode verurteilt und bei der Militärschießstätte Feliferhof in Wetzelsdorf bzw. im Landesgericht für Strafsachen exekutiert.49 Vor die in der Endphase des Krieges geschaffenen Militärstandgerichte bzw. Standgerichte wurden – wie es in der Ankündigung des Standgerichts heißt – all jene „Pflichtvergessenen“ gestellt, „die die deutsche Kampfkraft und Kampfentschlossenheit gefährden“50. Während das für Zivilisten zuständige, von Gauleiter Uiberreither gebildete Standgericht seinen Sitz in der Conrad von Hötzendorf-Straße in Graz hatte – also an jenem Ort, wo auch der Volksgerichtshof und das Sondergericht tagten –, wurde durch den Befehlshaber des Wehrkreises XVIII am 1. April 1945 in der Reiterkaserne in Graz ein Militärstandgericht errichtet, das für Soldaten zuständig war, die sich ab 4. April länger als 24 Stunden unerlaubt von ihrer Truppe entfernt hatten. Ähnliche Militärstandgerichte gab es in der Steiermark, aber auch noch in anderen Orten, wie z. B. in Göß, Zeltweg oder Hieflau, wo in einem als Verpflegungsstation getarnten Auffangkommando über 30 Soldaten wegen mangelnder Ausweisleistung standrechtlich erschossen wurden.51

Jenseits der Rechtssprechung – die Gestapo Die NS-Justiz war nur ein Teilbereich im Gesamtkomplex des nationalsozialistischen Verfolgungs- und Terrorapparates. So wurden beispielsweise rund 5.000 Steirer und Steirerinnen ohne je vor ein Sondergericht, das Oberlandesgericht oder den Volksgerichtshof gestellt worden zu sein, von der Gestapo Graz in ein Konzentrationslager eingeliefert.52 Der Hintergrund war, dass der nationalsozialistische Justizapparat, unter anderem auch um der ständigen Kritik des Reichsführers SS und Chefs der deutschen Polizei Heinrich Himmler nachzukommen, immer größere Zugeständnisse an den Polizei- und SS-Apparat machte. So wurde 1940 zwischen dem Volksgerichtshof und der Gestapo vereinbart, dass jede Person, die freigespro49 Heimo Halbrainer, „Der Verwalter der Schießstätte Feliferhof hat Sorge zu tragen …“. Hinrichtungen von Soldaten in Graz, in: Thomas Geldmacher u. a. (Hrsg.), „Da machen wir nicht mehr mit!“ Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010, 182–187. 50 Faksimile des Plakats in: Halbrainer, „In der Gewißheit“, 226. 51 Heimo Halbrainer, Terror und Erinnerung. Der Umgang mit Militärjustiz in der Steiermark nach 1945, in: Peter Pirker/Florian Wenninger (Hrsg.), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2011, 290–302; Obersteirisches Tagblatt, 2.6.1945, 25.6.1945; Obersteirische Rundschau, 9.2.1946. 52 StLA, Nachlass Rudolf Weissmann, Heft 2, 155a–m „Sicherheitsverhältnisse während des zweiten Weltkrieges“.

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chen oder aus der U-Haft entlassen werde, grundsätzlich der Gestapo zu übergeben sei, was für viele mit einer Einweisung in ein Konzentrationslager endete. Im Jahr 1942 beschlossen Himmler und Reichsjustizminister Otto Thierack zudem die Auslieferung „asozialer Elemente“ – darunter verstanden sie Juden, „Zigeuner“, Russen und Ukrainer – aus dem Strafvollzug an den Reichsführer SS zur „Vernichtung durch Arbeit“.53 So wurden beispielsweise wegen verbotenen Umgangs bzw. Geschlechtsverkehrs mit Fremd- und Zwangsarbeitern festgenommene Frauen wegen „Rassenschande“ vor das Sondergericht gestellt. Die Fremd- und Zwangsarbeiter wurden hingegen der Gestapo übergeben, die sie entweder in ein Konzentrationslager einwies oder wegen angeblicher Vergewaltigung hinrichtete.54 Die Gestapo war das wichtigste und effizienteste Instrument des NS-Terrors in Österreich. Die in den 1990er-Jahren einsetzende Auseinandersetzung mit der Gestapo hat den „Mythos der Gestapo“ als allwissende und allgegenwärtige Institution entzaubert. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass die Vorstellung, dass jeder Schritt beobachtet und jede gegen das NS-Regime getätigte Äußerung von dem vor der Tür lauernden Gestapobeamten registriert wurde und ein Netz von Spitzeln über dem Land ausgebreitet war, mit der Realität nichts zu tun hatte und nur von der nationalsozialistischen Presse – „Stapo sieht, hört und weiß alles“ 55 – propagiert wurde. Die Wirklichkeit sah anders aus. Die Gestapostellen waren – darüber sind sich alle Forscher einig – vollkommen unterpersonalisiert. Dennoch darf – worauf Bernward Dörner oder Wolfgang Neugebauer hingewiesen haben56 – nicht aus den Augen verloren werden, dass die Gestapo in Österreich „nicht nur Zehntausende verbale Regimegegner“ ausgeforscht, sondern auch mit „durchaus traditionellen Polizeimethoden, insbesondere den in totalitären Diktaturen üblichen Praktiken“ – Misshandlungen und Folter – den „Großteil des organisierten Widerstandes“ zerschlagen hat. Zudem gelang es ihr innerhalb kürzester Zeit, organisierte Widerstandsgruppen aufzurollen, wobei sie auf den systematischen Einsatz von Konfidenten zurückgriff. Dabei bediente sie sich zumeist politischer Gegner, die verhaftet und in der Folge um den Preis der Nichtabschiebung in ein Konzentrationslager wieder freigelassen 53 Wolfgang Neugebauer, Der NS-Terrorapparat, in: Emmerich Tálos u. a. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich, 721–743; Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo: Mythos und Realität, Darmstadt 1995. 54 So wurde der Pole Franz Kiec hingerichtet, da er fälschlich denunziert worden war, eine „deutsche Frau“ vergewaltigt zu haben. StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 333/46. Allgemein dazu: Brunner, Hinrichtungen und Tötungen, 286f. 55 Eric A. Johnson/Karl Heinz Reuband, Die populäre Einschätzung der Gestapo. Wie allgegenwärtig war sie wirklich?, in: Paul/Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo, 417–436. 56 Bernward Dörner, NS-Herrschaft und Denunziation. Anmerkungen zu Defiziten in der Denunziationsforschung, in: Inge Marszolek/Olaf Stieglitz (Hrsg.), Denunziation im 20. Jahrhundert: Zwischen Komparatistik und Interdisziplinarität. Sonderheft von Historische Sozialforschung 26 (2001) 2/3, 55–69; hier 64f.; Neugebauer, NS-Terrorapparat, 732.

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wurden, um in den Widerstandsorganisationen weiter tätig zu sein und das Nachrichtenreferat der Gestapo mit Informationen zu beliefern.57 Außerdem konnte die Gestapo sich auf die Zuträgerdienste von „Partei- und Volksgenossen und -genossinnen“ verlassen, die jede Form abweichenden Verhaltens – von „heimtückischen“ und „wehrkraftzersetzenden“ Reden über das verbotene Hören von „Feindsendern“ bis hin zu verbotenen Kontakten mit Zwangsarbeitern oder Kriegsgefangenen – denunzierten. Tausende „kleine“ Widersätzlichkeiten landeten so bei der Gestapo, wo eigene Referate die unterschiedlichen Delikte bearbeiteten. Sofort nach dem „Anschluss“ 1938 wurde in Wien im Hotel Metropol die Staatspolizeileitstelle errichtet, die die politisch-polizeilichen Aufgaben der bisherigen Generaldirektion für öffentliche Sicherheit und der Polizei- und Sicherheitsdirektion Wien übertragen erhielt. Gleichzeitig wurde mit dem Runderlass Heinrich Himmlers über die „Organisation der Geheimen Staatspolizei“ die ehemalige Sicherheitsdirektion für Steiermark zur Staatspolizeistelle, die einerseits direkt dem Geheimen Staatspolizeiamt Berlin unterstellt war und andererseits von der obersten Polizeibehörde in Wien – der Staatspolizeileitstelle – Weisungen erhalten konnte.58 Verdienstvolle ehemalige illegale Nationalsozialisten und anpassungsfähige Polizeibeamte bildeten in Graz den über 100 Personen umfassenden Gestapoapparat,59 der beim Paulustor, Parkring 4, seinen Sitz hatte. Erster provisorischer Chef und damit für die ersten Verhaftungen in der Steiermark im März 1938 zuständig war der spätere Gauleiter Sigfried Uiberreither, ehe er von Erwin Schulz abgelöst wurde. Schulz ließ sofort viele der Verhafteten wieder frei, wobei der bekannteste der Fürstbischof der Diözese Graz-Seckau, Ferdinand Pawlikowski, war.60 Als Leiter der Staatspolizeistelle Graz fungierten nacheinander folgende aus Deutschland kommende Personen: SSBrigadeführer Erwin Schulz (bis Ende 1939), SS-Sturmbannführer Gustav Nosske (bis Herbst 1940), SS-Sturmbannführer Walther Machule (bis Sommer 1943), SS-Obersturmbannführer Max Grosskopf (bis Dezember 1944) und zuletzt SS-Obersturmbannführer Josef Stüber. In Graz gliederte sich die Gestapo einer Aufstellung aus dem Jahre 1944 zufolge61 in ein 57 Halbrainer, Widerstand und Verrat, 321–349. 58 Ulrike Davy, Die Geheime Staatspolizei in Österreich. Organisation und Aufgaben der Geheimen Staatspolizei im „Dritten Reich“ und die Weiterführung ihrer Geschäfte durch österreichische Sicherheitsbehörden, Wien 1990; Franz Weiß, Personell vor allem ein „ständestaatlicher“ Polizeikörper. Die Gestapo in Österreich, in: Paul/Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo, 439–462; hier 443. 59 Allgemein zur personellen Zusammensetzung: Weiß, Personell vor allem ein „ständestaatlicher“ Polizeikörper, 439–462. 60 Maximilian Liebmann, Die katholische Kirche in Graz 1938, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 167–202. 61 Zum Aufbau und der personellen Besetzung: StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, 20 Vr 4842/47: Zeugenaussage des Gestapomitarbeiters Alois Nagler. Ein anderer Aufbau der Gestapo (jedoch ohne Datum) ergibt sich laut einer Legende für die Gestapo-Kartei Graz (Sammlung Halbrainer).

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Abwehrreferat, ein im August 1942 geschaffenes Nachrichtenreferat (IV N), in dem das Konfidentenwesen bearbeitet wurde, und in die Referate IV A bis IV C mit jeweils drei Unterabteilungen. Das Referat IV A war zuständig für die „Linksbewegung“, Verstöße gegen das „Rundfunk- und Heimtückegesetz“ und für „Partisanen und Widerstandstätigkeit“. Im Referat IV B wurden die „Rechtsbewegung“, „Religions-, Juden-, Schutzhaft- und KZAngelegenheiten“ sowie „Sabotage und Fallschirmspringerangelegenheiten“ bearbeitet. Im Referat IV C wurden schließlich die „Ausländerangelegenheiten“ erledigt. Ausländer unterlagen in Strafsachen einer „Sonderbehandlung“ durch das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin. Dabei kam es zu einer Arbeitsteilung zwischen der Gestapo Graz und dem RSHA in Berlin. Demnach war die Gestapo für Verhaftung, Einvernahme und Strafanträge zuständig, während das RSHA in Berlin den Vollzug der in den meisten Fällen beantragten Todesstrafe anordnete. Die Justifizierung fand letztlich wieder in Graz im hinteren Hof des Polizeipräsidiums statt.62 In der Endphase der NS-Herrschaft wurden in mehreren Bezirkshauptstädten (damals Kreisstädten) Stützpunkte der Gestapo errichtet. Zudem wurde in Leoben eine Außendienststelle der Gestapo eingerichtet, die im April 1941 kurzfristig aus Personalmangel – die dort tätigen Beamten wurden nach Jugoslawien abkommandiert – geschlossen und am 20. November 1942 wieder eröffnet wurde.63 Die Gestapo Graz unterhielt auch noch Grenzkommandos in Fürstenfeld, Rechnitz, Heiligenkreuz und Jennersdorf sowie das Lager St. Dionysen. Gegenüber „Volksgenossen“, die staatspolizeilich „auffällig“ geworden waren, besaß die Gestapo eine Reihe von Sanktionsmöglichkeiten. So konnte sie bei leichten „Vergehen“ eine Verwarnung oder eine Geldstrafe, das sogenannte Sicherungsgeld, aussprechen, das eine Kaution war, die auf ein Sperrkonto einbezahlt und bei Wohlverhalten nach zwei oder drei Jahren entweder wieder zurückbezahlt oder der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt bzw. dem Deutschen Roten Kreuz überwiesen wurde.64 Als weitere, eher leichtere Sanktionsmaßnahmen sind das Redeverbot sowie das Aufenthaltsverbot für bestimmte Regionen zu nennen, von denen vor allem Priester – als bekanntester etwa Johannes Ude, der 1939 des Gaues Steiermark verwiesen wurde und nach Grundlsee, damals „Oberdonau“, gehen musste – betroffen waren.65 Viele politisch Verdächtige wurden in die sogenannte „Schutzhaft“ genommen. Die 62 „Wir spielen Aufhängen“, in: NStZ, 13.6.1945; StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 1234/48. 63 StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 1138/46, Hauptverhandlungsprotokoll in der Strafsache gegen Johann Stelzl: Aussage Johann Stelzl in der Hauptverhandlung am 11.3.1947. 64 Beispielsweise: StLA, LGS Graz, Volksgericht Graz, Vr 3801/46; Vr 2620/46 in Vr 1703/51. 65 Vgl. Maximilian Liebmann, Die „Reichskristallnacht“ – Johannes Ude war nicht zu feige, in: Walter Höflechner/Helmut J. Mezler/Othmar Pickl (Hrsg.), Domus Austriae. Eine Festgabe. Hermann Wiesflecker zum 70. Geburtstag, Graz 1983, 263–272.

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„Schutzhaft“ war eine polizeiliche Maßnahme, die es der Polizei erlaubte, Personen ohne richterliche Anordnung kurzfristig festzunehmen. Während im Normalfall der Verhaftete binnen 48 Stunden dem Richter vorzuführen ist, war dies während der Zeit der NS-Herrschaft nicht der Fall. Im „Schutzhafterlass“ aus dem Jahr 1939 heißt es dazu: „Die Schutzhaft kann als Zwangsmaßnahme der Geheimen Staatspolizei zur Abwehr aller volks- und staatsfeindlichen Bestrebungen gegen Personen angeordnet werden, die durch ihr Verhalten den Bestand und die Sicherheit des Volkes und Staates gefährden.“ Diese sei „grundsätzlich in staatlichen Konzentrationslagern zu vollstrecken“.66 Am 24. Oktober 1939 – also bald nach Kriegsbeginn – teilte der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich in einem Runderlass mit, dass „Entlassungen von Häftlingen aus der Schutzhaft [...] während des Krieges im allgemeinen nicht“ stattfinden sollten.67 Einweisungen in Konzentrationslager erfolgten auch bei Personen, die zu zeitlich bedingten Freiheitsstrafen verurteilt und nach der Strafverbüßung der Gestapo überstellt worden waren.68 Neben der Einweisung in ein Konzentrationslager konnte die Gestapo auch Einweisungen in ein sogenanntes „Arbeitserziehungslager der Gestapo“ vornehmen, das es u. a. in der Steiermark in St. Dionysen (Gemeinde Oberaich, Bezirk Bruck/Mur) gab. Zwischen 12. März 1938 und dem Kriegsende waren in der Steiermark von der Gestapo sowie anderen Dienststellen insgesamt 46.730 Personen ins Gefangenenhaus beim Paulustor eingeliefert worden. Die einen – rund die Hälfte – wurden nach erfolgter Einvernahme wieder auf freien Fuß gesetzt, die anderen wurden den Gerichten übergeben (8.165) oder in ein KZ (5.416), ein Arbeitslager (2.431), ins Gaukrankenhaus (782) oder ins Sonderkrankenhaus Feldhof (161) eingeliefert bzw. an andere Gefangenenhäuser und Sicherheitsdienststellen übergeben. Unter den Gefangenen befanden sich 24.136 politische Häftlinge.69 Da das Gefangenenhaus zumeist voll belegt war, mussten 1941 sogar im Bezirksgericht Graz in der Paulustorgasse 15 zwei große Zellen angemietet werden. Durch den sprunghaften Anstieg an Verhaftungen nach dem Attentat auf Hitler 1944 wurden Häftlinge auch in einer Gefängnisbaracke in der Gendarmeriekaserne neben der Polizeidirektion untergebracht. In der Endphase der NS-Herrschaft wurden einige Häftlinge der Gestapo einer sogenannten „Sonderbehandlung“, einer euphemistischen Umschreibung für Mord, unterzogen. Kommandos der Grazer Gestapo überstellten zwischen 2. April und 2. Mai 1945 49 Gestapo-Häft66 Schutzhafterlass vom 25. Jänner 1939, zit. nach: Martin Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933–1945 5. Aufl. (Anatomie des SS-Staates 2), München 1989, 9–133; hier 74f. 67 Zitiert nach: Broszat, Nationalsozialistische Konzentrationslager, 120f. 68 Beispielsweise Franz Riegler. Siehe Faksimile des Schutzhaftbefehls gegen Franz Riegler, in: Halbrainer, „In der Gewißheit“, 184. 69 StLA, Nachlass Rudolf Weissmann, Heft 2, 155a–m „Sicherheitsverhältnisse während des zweiten Weltkrieges“.

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linge in die SS-Kaserne nach Wetzelsdorf, wo diese erschossen und am Feliferhof verscharrt wurden.70

Der Sicherheitsdienst der SS Der Sicherheitsdienst (SD) der SS71 war ein innen- und außenpolitischer Geheimdienst, der sowohl die Bevölkerung als auch die Partei und ihre Gliederungen, die Wehrmacht und andere Institutionen bespitzelte. Er lieferte an das RSHA in Berlin regelmäßig allgemeine Stimmungsberichte aus der Bevölkerung, die u. a. in „Allgemeine Stimmung und Lage“, „Hochschule und Wissenschaft“, „Recht und Verwaltung“ oder „Gegner“ untergliedert waren.72 Der Gauleiter und die Hauptdienststelle der SS in Salzburg erhielten ebenfalls die von den Außendienststellen gewonnenen Informationen. Der Abschnitt Graz des SD war in der Villa Hartenau, Leechgasse 52, untergebracht.73 Der erste Leiter war bis 1939 der nachmalige Leiter der Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“, SS-Untersturmführer Dr. Oskar Begusch.74 Diesem folgte SS-Standartenführer Otto Lurker, der im Frühjahr 1941 als Kommandeur der Sicherheitspolizei (Sipo) und des SD für die Untersteiermark nach Marburg (Maribor) ging. In dieser Zeit vertrat ihn SS-Hauptsturmführer Dr. Fritz Clement, der, nachdem Dr. Hans Zehlein im Jänner 1944 Leiter des SD-Abschnitts Graz geworden war, Stellvertretender Leiter wurde. Dem Leiter unterstand das Referat Personal und Verwaltung, für die „Gegnererfassung, Verwaltung und Recht“ war SS-Untersturmführer Dr. Walter Karnitschnig, für „Volkstum und Ausländerfragen“ Dr. Roland Petrischek, für „Kultur, Kunst, Wissenschaft“ SS-Hauptsturmführer Dr. Georg Bertaloth, für „Wirtschaft“ SS-Obersturmführer Karl Chudziak und für „Kirche, Juden“ SS-Untersturmführer 70 Hans Janeschitz (Hrsg.), Felieferhof. (!) Ein Bericht über die amtlichen Untersuchungen der Massenmorde in der Schießstätte Felieferhof, Graz 1946. 71 Hans Buchheim, Die SS – das Herrschaftsinstrument. Befehl und Gehorsam. 5. Aufl. (Anatomie des SS-Staates 1), München 1989. 72 Allgemein dazu: Heinz Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich 1938–1944. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS. 17 Bände, Herrsching 1984. Einzelne Berichte des SD-Abschnitts Graz aus dem Jahr 1941 sind erhalten geblieben. StLA, NSDAP Gauleitung, Kt. 10. 73 Siegfried Beer, NS-Bespitzelung und NS-Bevölkerungsüberwachung in der Steiermark. Zur Tätigkeit des SD-Abschnitts Graz 1944/45, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 23/24 (1992/93), 389–404; „Ein Netz von Spitzeln über dem ganzen Lande. Organisation und Aufgabe des berüchtigten SDDienstes“, in: NStZ, 10.6.1945. 74 Birgit Poier, Vergast im Schloss Hartheim – Die „T4“-PatientInnen aus der Grazer Heil- und Pflegeanstalt „Am Feldhof“, in: Wolfgang Freidl u. a. (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck u. a. 2001, 86–118; hier 99.

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Werner Mirtl zuständig. Diese Referate erhielten von den 16 Außenstellen (aus allen größeren Städten der Steiermark, des der Steiermark angegliederten Südburgenlands und der Untersteiermark) Informationen, wo etwa 180 „ehrenamtliche Mitarbeiter“ als Spitzel tätig waren. In Graz liest sich die Liste dieser „ehrenamtlichen Mitarbeiter“ wie ein „Who is Who“ der Grazer Gesellschaft. So finden wir hier u. a. den Direktor der Handelsakademie, Dr. Franz Oberegger, den Rektor und Prorektor der Technischen Hochschule, Prof. Armin Schoklitsch und Dr. Ing. Adolf Härtel, den Leiter der 2. Medizinischen Abteilung am Landeskrankenhaus, Dr. Julius Hartmann, den Direktor der Steweag, Karl Augustin, den Leiter des Landesarbeitsamtes Dr. Brussilowsky, Staatsanwälte und viele andere mehr.

Konzentrationslager in der Steiermark Über die hinlänglich bekannte Funktion der Konzentrationslager soll an dieser Stelle nicht mehr viel gesagt werden.75 Nur so viel: Das volle Ausmaß des von der Gestapo und anderen Stellen ausgeübten Terrors wurde erst durch die Errichtung und das Zusammenwirken mit den Konzentrationslagern erreicht. Die Einweisung in ein Konzentrationslager erfolgte dabei auf bloßen Verdacht, ohne Gerichtsverfahren, nur aufgrund eines „Schutzhaftbefehls“ der Gestapo. Ab dem Jahr 1942 kam den Konzentrationslagern aufgrund der auf Hochtouren laufenden Rüstungsanstrengungen einerseits und den durch militärische Rückschläge bedingten Schwierigkeiten bei der Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte anderseits im System der Zwangsarbeit eine besondere Rolle zu. Die KZ-Häftlinge waren für das NS-Regime eine der letzten verfügbaren Arbeitskräftereserven, weshalb ab diesem Zeitpunkt die meisten der 40 Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen errichtet wurden. Von den 24.136 politischen Gefangenen im Polizeigefangenenhaus Graz wurden von der Gestapo über 20 Prozent (5.416) direkt in ein Konzentrationslager eingewiesen. Einige Hundert Steirer und Steirerinnen kamen über Umwege – Strafanstalt, Arbeitslager oder französische Internierungslager – in Konzentrationslager. In der Steiermark gab es insgesamt acht kleinere bis kleinste Außenlager der Konzentrationslager Mauthausen, Dachau und Ravensbrück. Diese sind in mehrere Gruppen einzuteilen:

75 Allgemeines zu den österreichischen Konzentrationslagern: Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Band 4: FlossenbürgMauthausen-Ravensbrück, München 2007; Hans Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. 2. Aufl., Wien 1980; Gisela Rabitsch, Konzentrationslager in Österreich (1938–1945). Überblick und Geschehen, phil. Diss. Wien 1967.

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‚‚ frühe Lager in Bretstein, St. Lambrecht und Schloss Lind, wobei die beiden letzten als Außenlager des KZs Dachau errichtet wurden, ‚‚ Frauenkonzentrationslager, die ursprünglich als Außenlager des KZs Ravensbrück gegründet wurden, in St. Lambrecht und Schloss Lannach,76 ‚‚ Konzentrationslager, die im Umfeld von Rüstungsbetrieben errichtet wurden, in Eisenerz, Peggau und Aflenz bei Leibnitz. Das erste Konzentrationslager in der Steiermark und gleichzeitig eines der ersten Außenlager von Mauthausen überhaupt war jenes in Bretstein,77 das zwischen Juni 1941 und Juni 1943 bestanden hat. Im Bretsteingraben hatte die SS-eigene Deutsche Versuchsanstalt für Ernährung und Verpflegung GmbH 1939/40 Bergbauernhöfe „erworben“ und sie als Versuchsbauernhöfe geführt. Zweck war die Erprobung von landwirtschaftlichen Arbeitsweisen für sogenannte „Wehrbauernhöfe“ in Osteuropa. Daneben wurden für das Bergland geeignete Schaf- und Pferderassen gezüchtet und biologisch-dynamische Landwirtschaft betrieben. Für die verkehrstechnische Erschließung der Bauernhöfe und für Arbeiten auf den Höfen wurden KZ-Häftlinge aus Mauthausen nach Bretstein überstellt, die im Juni 1941 das Lager – vier Häftlingsbaracken und zwei SS-Unterkünfte – errichten mussten. Insgesamt waren in diesem Lager mindestens 170 vorwiegend spanische und deutsche Häftlinge inhaftiert. Als Außenlager von Dachau wurden im Mai und Juni 1942 die Lager im aufgelösten Benediktinerstift St. Lambrecht und im zum Stift gehörenden Schloss Lind bei Neumarkt gegründet.78 Die im beschlagnahmten Stift St. Lambrecht internierten rund 80 bis 100 Häftlinge – ursprünglich v. a. Polen sowie einige Jugoslawen, Tschechen, Österreicher und Deutsche – wurden wie auch jene rund 20 bis 30 im Schloss Lind konzentrierten Häftlinge vor allem in der Landwirtschaft und bei Bauarbeiten (Wegebau, Kanalisation, Wasserleitung, Siedlungsbauten) für den Deutschen Reichsverein für Volkspflege und Siedlerhilfe e.V. eingesetzt. Beide Lager wurden im November 1942 dem Konzentrationslager Mauthausen unterstellt, von wo im

76 Heimo Halbrainer, Von Ravensbrück in die Steiermark – Lila Winkel in den Konzentrationslagern der Grünen Mark, in: Maria Cäsar/Heimo Halbrainer (Hrsg.), „Die im Dunkeln sieht man doch.“ Frauen im Widerstand – Verfolgung von Frauen in der Steiermark, Graz 2007, 117–134; Andreas Baumgartner, Die vergessenen Frauen von Mauthausen. Die weiblichen Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen und ihre Geschichte, Wien 1997, 127ff. 77 Die Darstellung folgt: Bertrand Perz, Das KZ-Außenlager Bretstein, in: Heimo Halbrainer/Michael Schiestl (Hrsg.), „Adolfburg statt Judenburg“ – NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Region Aichfeld-Murboden, Graz 2011, 111–119. 78 Seiler, Die SS im Benediktinerstift; Bertrand Perz, St. Lambrecht (Männer), in: Benz/Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors 4, 431ff.; Bertrand Perz, Schloss Lind, in: Benz/Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors 4, 422f.

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Juli 1943 im Zuge eines Häftlingsaustausches spanische Häftlinge nach St. Lambrecht kamen. Im Mai 1945 wurden beide Lager von der britischen Armee befreit. Neben diesen drei bereits sehr früh errichteten Nebenlagern gab es zwei Frauenlager, die 1943 bzw. 1944 als Außenlager des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück gegründet wurden: das Außenlager St. Lambrecht79 und das Außenkommando im Schloss Lannach.80 In diesen beiden sehr kleinen Lagern waren nur Zeuginnen Jehovas interniert, die sogenannte frauenspezifische Tätigkeiten erledigen mussten. So wurden die im Mai 1943 nach St. Lambrecht überstellten 23 Frauen aus Deutschland, Belgien, Österreich und den Niederlanden für jene bislang von den männlichen KZ-Häftlingen verrichteten Arbeiten in der Küche, der Gärtnerei bzw. im Reinigungsdienst herangezogen. Dass hierfür ausschließlich „Bibelforscherinnen“, wie die Zeuginnen Jehovas von den Nationalsozialisten genannt wurden, eingesetzt wurden, hängt u. a. damit zusammen, dass diese aufgrund ihrer Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit bei all den Arbeiten, die nicht im Zusammenhang mit dem Kriegsdienst standen, wenig bis kein Wach- und Aufsichtspersonal erforderten. So schrieb Heinrich Himmler in einem Brief am 6. Jänner 1943 an SS-Standartenführer Oswald Pohl, den Leiter des SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamtes und damit Herrn über die Arbeitssklaven in den Konzentrationslagern: „Ich ersuche den Einsatz der Bibelforscher und Bibelforscherinnen in der Richtung zu lenken, dass sie alle in Arbeiten kommen – in der Landwirtschaft z. B. –, bei denen sie mit Krieg und allen ihren Tollpunkten nichts zu tun haben. Hierbei kann man sie bei richtigem Einsatz ohne Aufsicht lassen; sie werden nie weglaufen. Man kann ihnen selbständige Aufträge geben, sie werden die besten Verwalter und Arbeiter sein.“81 Zehn Monate nach der Überstellung von „Bibelforscherinnen“ nach St. Lambrecht wurde in Ravensbrück erneut eine Gruppe mit 15 Zeuginnen Jehovas zusammengestellt, die zu Arbeiten auf ein der SS unterstelltes Schloss nach Mittersill82 abkommandiert werden sollte. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in Mittersill wurden neun der 15 Frauen weiter nach Lannach in die Steiermark transportiert, wo Ende März 1944 im Schloss Lannach das zweite steirische Frauenlager als Außenstelle von Mittersill errichtet wurde. Auch hier wurden die Frauen für landwirtschaftliche Tätigkeiten, aber auch für Arbeiten im Labor im Rahmen des 1943 gegründeten Sven Hedin Instituts für Innerasienforschung eingesetzt. Dieses ab 1943 in 79 Farkas, Geschichte(n) ins Leben holen. 80 Heimo Halbrainer, Das „vergessene“ steirische KZ-Außenlager im Schloss Lannach, in: betrifft: Widerstand. Zeitschrift des Zeitgeschichte Museums Ebensee (Dezember 2006) 79, 14–16; Bertrand Perz, Schloss Lannach, in: Benz/Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors 4, 420–422; Karner/Gsell/Lesiak, Schloss Lannach 1938–1949. 81 Faksimile des Briefes vom 6.1.1943, in: Farkas, Geschichte(n) ins Leben holen, 34f. 82 Oskar Dohle/Nicole Slupetzky, Arbeiter für den Endsieg. Zwangsarbeit im Reichsgau Salzburg 1939– 1945, Wien–Köln–Weimar 2004, 221–226.

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Mittersill angesiedelte Institut war eine Abteilung der SS-Forschungseinrichtung Ahnenerbe, dessen Aufgabe es war, geeignete Pflanzensorten für den Anbau in eroberten und klimatisch wenig begünstigten Gebieten zu züchten. Beide Frauenkonzentrationslager, die seit dem 15. September 1944 unter der Verwaltung des Konzentrationslagers Mauthausen standen, wurden im Mai 1945 von den sowjetischen bzw. britischen Truppen befreit. Die drei größten steirischen Außenlager sind im Zusammenhang mit dem Arbeitskräftemangel und dem Luftkrieg und damit zusammenhängend der Verlagerung kriegswichtiger Produktionsstätten in unterirdische Anlagen zu sehen. So wurde Mitte Juni 1943 in Eisenerz, im Gsollgraben, ein Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen errichtet. 83 Die rund 400 Häftlinge dieses Lagers wurden zum Bau der Präbichl-Straße und am Erzberg, wo bereits rund 5.000 ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im Rahmen der Reichswerke Herman Göring arbeiteten, eingesetzt. Wegen der – im Vergleich zu den bislang genannten Lagern – sehr harten Arbeits- und Lebensbedingungen gab es in Eisenerz eine hohe Häftlingsfluktuation und zahlreiche Tote. Das Lager wurde Anfang März 1945 aufgelöst und die verbliebenen 230 Häftlinge wurden in das Konzentrationslager nach Peggau-Hinterberg transportiert, von wo diese gemeinsam mit den dortigen KZ-Häftlingen im April nach Mauthausen überstellt wurden. Die beiden in der näheren Umgebung von Graz gelegenen Konzentrationslager Aflenz bei Leibnitz und Peggau-Hinterberg wurden zwecks Verlagerung der Flugmotorenteileproduktion der Steyr-Daimler-Puch-AG Graz-Thondorf errichtet.84 Um die Produktionsanlagen vor Bombenangriffen zu schützen, wurde Ende 1943 mit der Suche nach geeigneten Standorten begonnen. Als mit den Stollenanlagen im südlich von Graz gelegenen Römer-Steinbruch die geeignete Stätte – Tarnname „Kalksteinwerke“ – gefunden worden war, wurden im Februar 1944 die ersten 200 Häftlinge nach Aflenz überstellt, die das Lager – vier Unterkunftsbaracken, eine Küche, Wachtürme und zwei SS-Baracken – aufbauen mussten. Für den Stollenbau und später in der Produktion wurden rund 900 KZ-Häftlinge – vor allem aus der Sowjetunion, Polen, Jugoslawien und dem Deutschen Reich – eingesetzt, wobei der Höchststand im Lager 711 Personen betrug. Anfang April 1945 wurde das Lager aufgelöst und die zu diesem Zeitpunkt noch im Konzentrationslager befindlichen Häftlinge wurden über das Gaberl und die Hohen Tauern ins Konzentrationslager Ebensee getrieben, wobei es in der Nähe von Voitsberg und Judenburg zu Fluchtversuchen und zur Ermordung von den Wiederaufgegriffenen kam. 83 Florian Freund, Eisenerz, in: Benz/Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors 4, 360ff. 84 Bertrand Perz, Leibnitz, in: Benz/Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors 4, 386ff; Bertrand Perz, Peggau, in: Benz/Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors 4, 414ff; Farkas, „Sag mir, wer die Toten sind!“

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Da offenbar ein weiterer Ausbau des Römersteinbruchs in Aflenz nicht möglich war, wurde nördlich von Graz die Peggauer-Wand als optimale Stätte für die Errichtung einer unterirdischen, bombensicheren Fabrikanlage für die Steyr-Daimler-Puch AG gefunden. So wurden am 14. August 1944 zirka 400 Häftlinge aus dem KZ Mauthausen geholt, die in Peggau-Hinterberg ein Außenlager errichten mussten. Für die Bewachung dieses Lagers wurden am 12. August 1944 15 Grazer Schutzpolizisten und 45 ukrainische Luftschutz-Polizisten als Wachkommando abgestellt. Rund 600 bis 700 KZ-Häftlinge mussten in zwei Zwölfstundenschichten sieben Meter hohe und ebenso breite Stollen in den Berg treiben. Die Stollenanlage mit dem Tarnnamen „Marmor“ war bis März 1945 fertig ausgebaut und die Werkzeugmaschinen hierher ausgelagert, sodass über 2.800 Arbeitskräfte aus dem Thondorfer Werk hier beschäftigt hätten werden können. Am 2. April 1945 wurde das Konzentrationslager evakuiert und die Häftlinge wurden – mit den vom KZ Eisenerz überstellten waren es 872 – in einem Fußmarsch nach Bruck/Mur getrieben und dann mit der Eisenbahn ins KZ Mauthausen überstellt. Misshandlungen und teilweise willkürliche Erschießungen durch die ukrainischen Wachmannschaften fanden täglich statt. Allein in den ersten drei Monaten wurden 32 Häftlinge ermordet. Das Morden ging weiter bis zuletzt, als anlässlich der Evakuierung alle nicht mehr marschfähigen Häftlinge aus dem Krankenrevier geholt und in der Nähe des Lagers erschossen wurden. Bei Exhumierungen nach der Befreiung fand man in mehreren Gräbern in und um Peggau 77 Leichen, sodass man davon ausgehen kann, dass mindestens 100 Häftlinge des Lagers Peggau in nur sieben Monaten ermordet worden waren.

Nachgeschichte Nach der Befreiung versuchte man im Rahmen von Strafverfahren den NS-Terror und die Verbrechen der Nationalsozialisten zu ahnden.85 Die für den Terror der NS-Justiz Verantwortlichen blieben in der Steiermark – mit Ausnahme von Verurteilungen wegen illegaler Mitgliedschaft in der NSDAP – unbehelligt.86 Führende Grazer Gestapo-Beamte, allesamt Deutsche, wurden wegen anderer Verbrechen – v. a. im Rahmen der Einsatzgruppen im Os85 Heimo Halbrainer/Martin F. Polaschek, NS-Gewaltverbrechen vor den Volksgerichten Graz und Leoben, in: Heimo Halbrainer/Claudia Kuretsidis-Haider (Hrsg.), Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag, Graz 2007, 236–250; Heimo Halbrainer/Martin F. Polaschek, „Zu Recht erkannt“. Kriegsverbrecher- und NS-Wiederbetätigungsprozesse in der Steiermark 1945–1970, in: Joseph F. Desput (Hrsg.), Vom Bundesland zur Europäischen Region. Die Steiermark von 1945 bis heute (Geschichte der Steiermark 10), Graz 2004, 99–136. 86 Polaschek, Im Namen der Republik, 123ff.

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ten – von alliierten Gerichten in Deutschland teilweise zum Tode bzw. zu langen Kerkerstrafen verurteilt. Ein Gestapobeamter, Johann Stelzl, wurde vom Volksgericht Graz wegen Misshandlungen und Verletzung der Menschenwürde zum Tode verurteilt und hingerichtet, andere steirische Gestapobeamte wurden zu teilweise hohen Haftstrafen verurteilt. Beamte des SD der SS wurden in der Steiermark nur wegen illegaler Mitgliedschaft in der NSDAP verurteilt. Der Leiter des SD-Abschnittes Graz, Otto Lurker, starb in der Untersuchungshaft in Ljubljana (Laibach), wohin er wegen seiner Verbrechen als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD für die Untersteiermark ausgeliefert worden war. Für die Verbrechen in den steirischen bzw. oberösterreichischen Konzentrationslagern (Mauthausen und Gusen) wurde SS-Untersturmführer Fritz Miroff, der für das Lager Bretstein und ab Juni 1944 für das KZ Aflenz bzw. danach auch für das KZ Peggau zuständig gewesen war, in den USamerikanischen Mauthausenprozessen in Dachau 1948 zum Tode verurteilt. Sein Vorgänger in Aflenz, der spätere Lagerführer von Mauthausen, SS-Obersturmführer Hans Altfuldisch, wurde ebenfalls zum Tode verurteilt.87 Miroffs Nachfolger in Aflenz, Paul Ricken, wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Vom steirischen Lagerpersonal wurde lediglich der Kommandant der Lagerwache Franz Weber vom Volksgericht Graz 1946 zu 20 Jahren Haft verurteilt; das Urteil wurde 1949 wieder aufgehoben und das Verfahren schließlich 1950 eingestellt.88 Die Verbrechen im Zusammenhang mit den Todesmärschen „ungarischer“ Juden durch die Steiermark wurden sowohl von britischen Militärgerichten als auch von österreichischen Volksgerichten geahndet. So war der erste Kriegsverbrecherprozess in der Steiermark der „Eisenerz-Prozess“, bei dem im April 1946 17 Angehörige des Volkssturms und der Leobener Kreisleiter vom britischen Militärgericht angeklagt und zehn der Angeklagten zum Tode verurteilt wurden. Bis Ende 1948 sollten dreizehn weitere britische Militärgerichtsprozesse wegen der Ermordung „ungarischer“ Juden folgen.89

87 Zu den KZ-Mauthausen-Prozessen: Robert Sigel, Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945–1948, Frankfurt/Main–New York 1992, 105–107. 88 StLA, LGS Graz, Vr 727/62. Verfahren gegen Franz Weber. Im Akt befinden sich auch die Akten Vr 166/45 und Vr 3555/50. 89 Zu den Prozessen allgemein: Eleonore Lappin, Die Ahndung von NS-Gewaltverbrechen im Zuge der Todesmärsche ungarischer Juden durch die Steiermark, in: Claudia Kuretsidis-Haider/Winfried R. Garscha (Hrsg.), Keine „Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig–Wien 1998, 32–53. Zu den Prozessen wegen der Morde in und um Eisenerz: Heimo Halbrainer, „Unsere Pflicht, wahrhaft und objektiv Gerechtigkeit zu sprechen“ – Die Ahndung nationalsozialistischer Verbrechen im Zuge des Todesmarschs ungarischer Juden durch den Bezirk Leoben, in: Heimo Halbrainer/Christian Ehetreiber (Hrsg.), Todesmarsch Eisenstraße 1945. Terror, Handlungsspielräume, Erinnerung: Menschliches Handeln unter Zwangsbedingungen, Graz 2005, 95–134.

Zwangsarbeit in der Steiermark

Peter Ruggenthaler

Die NS-Politik in der Steiermark wurde primär vom „Grenzland-Bewusstsein“, vom „Grenzer-Mythos“ und von der vermeintlichen „Höherwertigkeit des Deutschen gegenüber S­ lawen und Juden“ geprägt. Darüber hinaus verfolgte das NS-Regime in der „Südmark“ (Steiermark und Kärnten) in wirtschaftlicher Sicht eine „Entprovinzialisierung der Provinzen“, d. h. eine wirtschaftliche Stärkung der Grenzlandregionen. Dies begründete sich nicht nur in der akuten Arbeitslosigkeit der Zwischenkriegszeit in der Steiermark, die die Hinwendung der Arbeiterschaft zum Nationalsozialismus begünstigte, sondern fußte auch stark auf ideologischen Komponenten. Die Steiermark sollte modernisiert werden und wirtschaftlich rasch aufholen. Die Aufträge für die Wirtschaft erfolgten zahlreicher als anderswo, die Industrie wurde besonders gefördert, die Umschuldung der Landwirtschaft intensiv betrieben.1 Innerhalb kürzester Zeit wandelte sich die Situation gänzlich; einerseits die starke Abwanderung von steirischen Arbeitskräften in das „Altreich“ und andererseits die propagandistisch ausgeschlachtete NS-Beschäftigungspolitik, die die Arbeitslosigkeit binnen kürzester Zeit nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich beseitigte, bewirkten, dass im Sommer 1939 in der Steiermark eine Situation eintrat, die noch zwei Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Ähnlich wie im ganzen Deutschen Reich herrschte plötzlich ein eklatanter Arbeitskräftemangel, der sich nach dem Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 infolge der zunehmenden Einberufungen von Steirern zur Wehrmacht noch weiter verschärfte. Die NS-Wirtschaft versuchte auch in der Steiermark in der Folge mit dem Einsatz von Saisonarbeitern, bald auch mit zivilen Zwangsarbeitern sowie Kriegsgefangenen gegenzusteuern. Im gesamten Reichsgebiet wurden Millionen von Menschen physisch und psychisch, oftmals bis zum Tod ausgebeutet. Aus allen Teilen Europas verschleppt oder unter leeren Versprechungen ins „Dritte Reich“ verbracht, stellten zivile Zwangsarbeiter, aber auch

Der Beitrag entstand im Rahmen der Forschungsarbeiten des Autors am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung Graz, einem Institut der Ludwig Boltzmann Gesellschaft.

1

Siehe hierzu v. a. Stefan Karner, „… des Reiches Südmark“. Kärnten und Steiermark im „Dritten Reich“ 1938–1945, in: Emmerich Tálos u. a. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2002, 292–324, hier 308; Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, 3. Aufl., Graz 1994, der Anfang der 1980er-Jahre auch die ersten Zwangsarbeiter-Statistiken publizierte und sich bereits damals mit der Thematik, v. a. im Hinblick auf die Rüstungsindustrie, intensiv auseinandersetzte.

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Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge einen immer wichtigeren Faktor in der Rüstungsindustrie, in der Land- und Forstwirtschaft und in anderen Bereichen der Kriegswirtschaft dar. Im Folgenden soll auf der Basis eigener Untersuchungen und der Sekundärliteratur für die Steiermark ein allgemeiner Überblick über die Thematik gegeben werden. Er soll zugleich die Forschungsdesiderata aufzeigen, die trotz der intensiven Beschäftigung mit der Problematik vor allem innerhalb des letzten Jahrzehnts nach wie vor bestehen.

Ausmasse des Einsatzes von Zwangsarbeitern im Deutschen Reich, der „Ostmark“ und der „Südmark“ Während des Zweiten Weltkriegs waren im Deutschen Reich bis zu 13,5 Millionen ausländische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene in der NS-Kriegswirtschaft eingesetzt, von denen zumindest 80, eher jedoch 90 Prozent als Zwangsarbeiter zu bezeichnen sind.2 Von den ausländischen Arbeitskräften in der Kriegswirtschaft des „Dritten Reiches“ bildeten 8,4 Millionen Zivilisten und rund 4,6 Millionen Kriegsgefangene die große Masse. Das härteste Los aller Zwangsarbeiter im NS-Staat traf die etwa 1,7 Millionen KZ-Häftlinge und sogenannten „Arbeitsjuden“.3 Ungefähr eine Million ausländische Arbeitskräfte befanden sich im letzten Kriegsjahr auf dem Gebiet des heutigen Österreich.4 Zirka 580.000 waren zivile Zwangsarbeiter (von denen über 102.000 in der Steiermark zum Einsatz kamen),5 fast 309.000 Personen waren 2

3 4 5

Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945, Stuttgart–München 2001, 223. Generell zur Thematik siehe Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 1999, und Hans Pfahlmann, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene in der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945 (Beiträge zur Wehrforschung XVI/ XVII), Darmstadt 1968. Zur „Heimatfront“ siehe auch Gerhard L. Weinberg, Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Überarbeitete Neuauflage, Hamburg 2002, 509–515; ders., A World at Arms. A Global History of World War II. 2nd ed., Cambridge–New York 2005. Einen generellen Überblick geben Pertti Ahonen/Gustavo Corni/Jerzy Kochanowski/Rainer Schulze/ Tamás Stark/Barbara Stelzl-Marx, People on the Move. Forced Population Movements in Europe in the Second World War and its Aftermath, Oxford 2008. Circa 1,1 Millionen Zwangsarbeiter wurden doppelt erfasst. Zu den Schwierigkeiten bei der Eruierung von Gesamtzahlen siehe Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz (wie Anm. 2) 223. Florian Freund/Bertrand Perz/Mark Spoerer, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945 (Veröffentlichungen der Historikerkommission der Republik Österreich 26/1), Wien–München 2004, hier 346. Florian Freund/Bertrand Perz, Die Zahlenentwicklung der ausländischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945, in: Freund/Perz/Spoerer,

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Kriegsgefangene (fast jeder Zweite davon wurde bis zu Kriegsende in den Zivilarbeiterstatus übergeführt)6 und 200.000 waren im Lagersystem des KZ Mauthausen inhaftiert. Jeder zweite KZ-Häftling überlebte die Torturen nicht.7 Rund 3.000 Häftlinge aus dem KZ-System Mauthausen wurden in Außenlagern in der Steiermark zur Zwangsarbeit eingesetzt.8 Wie viele Kriegsgefangene in der Steiermark zum Arbeitseinsatz herangezogen wurden, ist aufgrund der Struktur des NS-Kriegsgefangenenwesens nicht präzise eruierbar. Während sich in Kärnten zwei Kriegsgefangenenstammlager (Stalag XVII A Wolfsberg und Stalag XVII B Spittal/Drau) befanden, gab es in der Steiermark ein Offizierslager (Stalag XVIII B – Oflag XVIII A) in Wagna bei Leibnitz und eines in der angegliederten Untersteiermark in Marburg/Maribor (Stalag XVII D).9 Statistiken der Landesarbeitsämter zufolge wurden Ende 1940 in der Steiermark und in Kärnten 22.486, 1941 26.622 und 1942 32.124 Kriegsgefangene zur Arbeit herangezogen.10 Eine Besonderheit weist der Landesarbeitsamtsbezirk Kärnten-Steiermark auf. Alle britischen Kriegsgefangenen, die in Kriegsgefangenenlagern auf dem Gebiet Österreichs untergebracht wurden, kamen bis Ende 1943 ausnahmslos in den beiden südlichsten Bundesländern zum Arbeitseinsatz.11 Der Einsatz von britischen Kriegsgefangenen in der Rüstungsindustrie war keine Ausnahme.12 Serbische Kriegsgefangene hingegen durften in der Steiermark nicht eingesetzt werden, um aufgrund der Nähe zu Jugoslawien den Anreiz zur Flucht zu unterbinden.13 Auf österreichischem Gebiet (Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge zusammengerechnet) stellten Ukrainer (ca. 163.800), Russen (ca. 90.675), Weißrussen (ca. 38.025), Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945 (wie Anm. 4) 35, 68–69. Siehe auch Statistik 1. 6 Ebda., 157–158, 174. 7 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 197, 219–220. 8 Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 4, München 2006, 351–353, 360–362, 386–389, 414–416, 420–422, 429–433. 9 Hubert Speckner, In der Gewalt des Feindes. Kriegsgefangenenlager in der „Ostmark“ 1939 bis 1945. (Kriegsfolgen-Forschung 3), Wien–München 2003; Roswitha H. Gatterbauer, Arbeitseinsatz und Behandlung der Kriegsgefangenen in der Ostmark während des Zweiten Weltkrieges, phil. Diss. Salzburg 1975. 10 Florian Freund/Bertrand Perz, Zwangsarbeit von zivilen AusländerInnen, Kriegsgefangenen, KZHäftlingen und ungarischen Juden in Österreich, in: Emmerich Tálos u. a. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich (wie Anm. 1) 652; dies., Zahlenentwicklung (wie Anm. 5), 160–163. 11 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5), 155–156. Ab Ende 1943 trafen britische Kriegsgefangene auch im Stalag XVII B Krems-Gneixendorf ein. Siehe Barbara Stelzl-Marx, Zwischen Fiktion und Zeitzeugenschaft. Amerikanische und sowjetische Kriegsgefangene im Stalag XVII B Krems-Gneixendorf, Tübingen 2000, 36–38. 12 Zu den britischen Kriegsgefangenen siehe grundlegend Edith Petschnigg, Von der Front aufs Feld. Britische Kriegsgefangene in der Steiermark 1941–1945 (Veröffentlichungen des Ludwig BoltzmannInstituts für Kriegsfolgen-Forschung 7), Graz–Wien–Klagenfurt, 2003, hier 71. 13 Gatterbauer, Arbeitseinsatz und Behandlung der Kriegsgefangenen in der Ostmark (wie Anm. 9) 301.

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Polen (ca. 104.400), Italiener (98.300), Franzosen (137.800), Slowaken (30.300), Tschechen (83.700), Kroaten (30.000) und Zwangsarbeiter aus dem sonstigen „jugoslawischen“ Raum (ca. 61.700) die zahlenmäßig größten Kontingente.14 Mehr als die Hälfte der Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ waren Frauen. Viele von ihnen waren zum Zeitpunkt ihrer Verschleppung erst zwölf oder dreizehn Jahre alt. Eine viertel Million Zwangsarbeiter, die auf dem Gebiet Österreichs zum Einsatz kamen, stammte aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion, weit mehr als die Hälfte dieser waren Ukrainer. Die Übergänge zwischen den drei unterschiedenen Kategorien von Zwangsarbeitern waren teilweise fließend. Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter wurden vielfach für verschiedenste „Vergehen“, unter anderem wegen sogenannter „GV-Verbrechen“,15 in Konzen­ trationslager eingewiesen16 und mussten dort Zwangsarbeit verrichten. Viele Kriegsgefangene wurden zudem bis Kriegsende in einen Zivilarbeiterstatus überführt. Hinzu kommen noch an die 55.000 ungarische Juden, die 1944 zur Zwangsarbeit aus Ungarn nach Ostösterreich, viele in die Steiermark, deportiert wurden, wo sie zum Bau des sogenannten Südostwalls eingesetzt wurden.17 Etwa jeder Zweite der ungarischen Juden überlebte die Torturen nicht.18 14 Mark Spoerer, Wie viele der zwischen 1939 und 1945 auf heutigem österreichischen Territorium eingesetzten Zwangsarbeiter leben noch im Jahre 2000?, in: Freund/Perz/Spoerer, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945 (wie Anm. 4) 346. Zum Einsatz der einzelnen Gruppen der Zivilarbeiter und Kriegsgefangenen in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs siehe Stefan Karner u. a., Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs 1939 bis 1945 (Veröffentlichungen der Historikerkommission der Republik Österreich 26/2), Wien–München 2004. Zur Gruppe der Franzosen siehe insbesondere die Arbeiten von Andreas Kusternig. Zuletzt Andreas Kusternig, Zwischen „Lageruniversität“ und Widerstand. Französische kriegsgefangene Offiziere im Oflag XVII A Edelbach, in: Günter Bischof/Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.), Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Zehn Jahre Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Unter Mitarbeit von Edith Petschnigg, (Kriegsfolgen-Forschung 4), Wien–München 2005, 352–397, und die dort zitierte Literatur. Zur Verschleppung weißrussischer „Ostarbeiter“ in die „Ostmark“ siehe „Ostarbeiter“. Weißrussische Zwangsarbeiter in Österreich, Dokumente und Materialien. Ostarbeitery. Prinuditel’nyj trud belorusskogo naselenija v Avstrii (Veröffentlichungen des Ludwig BoltzmannInstituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz Sb. 2), Graz–Minsk 2003. Zu kroatischen Zwangsarbeitern im Deutschen Reich siehe Anna-Maria Gruenfelder, „U radni stroj Velikoga Njemačkog Reicha!“ Prisilni radnici i radnice iz Hrvatske, Zagreb 2007, explizit zum Gebiet Österreichs, 139–200. 15 „GV“ steht für Geschlechtsverkehr. Gemäß dem Wahn der NS-Rassengesetze war Deutschen Geschlechtsverkehr nur mit „artgleichen Rassen“ erlaubt. 16 Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 54–58. 17 Siehe hierzu den Beitrag von Eleonore Lappin in diesem Band. Siehe auch Heimo Halbrainer/Chris­ tian Ehetreiber (Hrsg.), Todesmarsch Eisenstraße 1945. Terror, Handlungsspielräume, Erinnerung: Menschliches Handeln unter Zwangsbedingungen, Graz 2005. 18 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 219. Inklusive ungarischer Juden, die auf den Todes-

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In der „Südmark“ kamen 141.578 ausländische Zivilisten zum Einsatz, hiervon waren 45.527 Sowjetbürger und 30.791 Polen. Italiener stellten mit 16.008 Personen die drittgrößte Gruppe, ihnen folgten zahlenmäßig rund 8.500 Franzosen, 7.000 Kroaten und 5.000 „Jugoslawen“ (in erster Linie Serben).19 Im Herbst 1944 waren in der Steiermark zumindest 102.555 ausländische zivile Arbeitskräfte beschäftigt. Der größte Anteil von ihnen waren Zwangsarbeiter. „Ostarbeiter“ bildeten mit über 35.000 Personen die größte Gruppe, mehr als 19.000 waren Polen. Weitere große Kontingente in der Steiermark bildeten Italiener (ab 1943 als „Militärinternierte“) mit fast 10.000 und Franzosen (ca. 7.000). Rund 5.500 stammten aus Kroatien, weitere fast 3.000 aus dem übrigen besetzten Jugoslawien. Neben Ungarn (mehr als 3.000) und Griechen (fast 2.000) finden sich auch in der Steiermark die verschiedensten Nationalitäten in den Statistiken wieder. Neben Dänen, Finnen, Balten, Niederländern, Bulgaren kamen auch vereinzelt Türken, Portugiesen und Skandinavier in der steirischen Kriegswirtschaft zum Einsatz.20

märschen in der Steiermark ihr Leben verloren, wurden bislang 652 Personen namentlich erfasst. Archiv des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz (AdBIK), Datenbank „Kriegstote in Österreich“, Stand: 22.1.2009. Herrn Peter Sixl, der an der Erhebung aller Daten zu Kriegsopfern in Österreich arbeitet, danke ich für die Eruierung der aktuellen Zahlen. In dem vom Land Steiermark mitgeförderten Forschungsprojekt sind mittlerweile in Bezug auf die Steiermark rund 90 Prozent der Daten auf Basis von Sterbebüchern (Gemeinden, Friedhofsverwaltungen etc.), des Steiermärkischen Landesarchivs, der Israelitischen Kultusgemeinde, des Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge und des russischen Zentralarchivs des Ministeriums für Verteidigung (CAMO), Podol’sk, erfasst. Die Datenbank umfasst Angaben über während des Zweiten Weltkrieges zu Tode gekommene Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, gefallene Soldaten (insbesondere der Roten Armee und der Deutschen Wehrmacht) u. a. 19 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 69. 20 Ebd., 244–245. Zum Einsatz ziviler Zwangsarbeiter verschiedenster Nationalitäten im Deutschen Reich siehe grundlegend den Sammelband von Ulrich Herbert (Hrsg.), Europa und der „Reichseinsatz“, Essen 1991.

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Statistik 1: Anzahl der ausländischen zivilen Arbeitskräfte in der „Südmark“ (Landesarbeitsamt Steiermark und LAA Kärnten)

Quelle: Freund/Perz, Die Zahlenentwicklung der ausländischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich (wie Anm. 5), 224, 226, 228, 230f., 236f., 240f., 244f., 248–259. Stichtage der Erhebungen: 25.4.1941, 25.9.1941, 20.5.1942, 10.7.1942, 30.6.1943, 15.11.1943, 31.12.1943, 31.3.1944, 15.5.1944, 15.8.1944, 30.9.1944.21

Ab dem Sommer 1942 stieg der Einsatz ziviler Ausländer und Kriegsgefangener in der Steiermark stark an. Bereits im April 1941 war der Ausländeranteil in der „Ostmark“ mit über acht Prozent höher als im „Altreich“ (6,6 Prozent). Neben Niedersachsen, Pommern und Ostpreußen verzeichneten besonders Oberdonau, Kärnten und die Steiermark einen besonders hohen Ausländeranteil unter den Beschäftigten. In der „Ostmark“ wurden vor allem Südosteuropäer eingesetzt. 1941 erreichte diese Gruppe einen Anteil von 42,3 Prozent (restliches Reich: 9,5 Prozent).22 Im Gegensatz zum „Altreich“ wurden in den südlichen Gauen des Deutschen Reiches Italiener verhältnismäßig stark eingesetzt. Generell hatten die Steiermark und Kärnten einen beträchtlichen Anteil an ausländischen Arbeitskräften. 1941 war knapp ein Drittel aller auf dem Gebiet des heutigen Österreich beschäftigten Ausländer in Kärnten und in der Steiermark tätig. Dies änderte sich auch nach Beginn des Ostfeldzuges nicht grundlegend. Selbst nach 1941 blieb die „Ostmark“ vornehmlicher Einsatzort der Südosteuropäer (1943

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Getrennte Statistiken wurden erst ab 31.12.1943 geführt. Ab diesem Zeitpunkt lag der Anteil der ausländischen zivilen Zwangsarbeiter in der Steiermark bei 73,21, 72,75 und 72,44 Prozent (in Kärnten: 26,79, 27,25 und 27,56 Prozent). Die Steiermark-spezifischen Daten für die ersten drei Erhebungstermine wurden vom Autor auf Basis einer prozentuellen Verteilung von 73 zu 27 errechnet. Freund/Perz, Zwangsarbeit von zivilen AusländerInnen, Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen und ungarischen Juden in Österreich (wie Anm. 10) 653.

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stammte fast ein Drittel aller im Deutschen Reich eingesetzten Arbeiter aus Südosteuropa).23 Den Arbeitseinsatz in der Steiermark haben mindestens 1.873 Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter nicht überlebt.24 Von den 43 in den Reservelazaretten in Graz umgekommenen Kriegsgefangenen verstarben 37 an Krankheiten und drei an den Folgen von Unfällen. Zwei begingen Selbstmord. Ein Australier wurde erschossen.25 Sowjetische Kriegsgefangene befanden sich keine in den Reservelazaretten in Graz.

Zum Stand der Forschung Aufgrund der politischen Zielsetzungen hinsichtlich von „Wiedergutmachungs“-Zahlungen, allen voran durch Deutschland und Österreich, erschienen in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung in den letzten zehn Jahren zahlreiche Forschungsarbeiten und populärwissenschaftliche Publikationen zur Thematik der Zwangsarbeit in allen Bereichen der Kriegswirtschaft des Deutschen Reichs. Allerdings fehlt in den meisten Lokal- und Überblicksstudien die Behandlung und Berücksichtigung der NS-rechtlichen Grundlagen des Zwangsarbeitereinsatzes. Sie beziehen sich großteils auf das Standardwerk Ulrich Herberts.26 Eine Reihe aktueller Forschungen hat viele Themenkomplexe neu erforscht und weiter präzisiert.27 Der Lage der zivilen Zwangsarbeiter in der Land- und Forstwirtschaft widmeten sich im Rahmen der Arbeit der Österreichischen Historikerkommission zwei umfangreiche Projekte.28 Über den Einsatz ziviler Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie und in anderen 23 Florian Freund/Bertrand Perz, Industrialisierung durch Zwangsarbeit, in: Emmerich Talós u. a. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich (wie Anm. 1) 106. Mitte 1941 befand sich jede dritte zivile ausländische Arbeitskraft, die auf dem Gebiet Österreichs zum Einsatz kam, im LAA Kärnten-Steiermark. Dies., Zwangsarbeit von zivilen AusländerInnen, Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen und ungarischen Juden in Österreich (wie Anm. 10) 653; dies., Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 224–225. 24 AdBIK, DB „Kriegstote in Österreich“, Stand: 22.1.2009 (wie Anm. 18). 25 Archiv der Stadt Graz, Standesamt, Sterbebuch 1939–1945. Meinem Kollegen, Mag. Harald Knoll, danke ich an dieser Stelle für die Zahlenangaben. Nach Nationalität verteilen sich die 43 Kriegsgefangenen wie folgt: 25 französische, zwölf britische Kriegsgefangene, fünf italienische Militärinternierte und ein Belgier. 26 Siehe Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 2); weiterführend Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz (wie Anm. 2). 27 Hier v. a. Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz (wie Anm. 2). Zu den umfangreichen in Deutschland publizierten Studien siehe den Forschungsüberblick bei Ulrich Herbert, Zwangsarbeit im „Dritten Reich“. Kenntnisstand, offene Fragen, Forschungsprobleme, in: Wilfried Reininghaus/ Norbert Reimann (Hrsg.), Zwangsarbeit in Deutschland 1939–1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschießungsstrategien, Bielefeld 2001, 16–37. 28 Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14); Ela Hornung/Ernst Langthaler/Sabine Schweitzer, Zwangsarbeit

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Bereichen liegt bis heute kein allgemeiner Überblick vor,29 allerdings sind in den letzten Jahren aufschlussreiche Arbeiten zu einzelnen Sparten und Betrieben erschienen.30 Zum Schicksal der Kriegsgefangenen in deutscher Hand ist in Bezug auf Österreich insbesondere die detaillierte Überblicksarbeit von Hubert Speckner zu nennen.31 Die Lage der Kriegsgefangenen im Stalag XVII B Krems-Gneixendorf hatte bereits zuvor Barbara StelzlMarx in ihrer preisgekrönten Dissertation aufgearbeitet.32 Zur Spezifik der sowjetischen Zwangsarbeiter und der Stalin’schen Politik des Umgangs mit den „Verrätern der Heimat“ ist vor allem auf die Arbeiten Pavel Poljans zu verweisen, zur (Zwangs-)Repatriierung aus Österreich in die UdSSR auf eine Arbeit des Autors mit Stefan Karner.33

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in der Landwirtschaft in Niederösterreich und dem nördlichen Burgenland (Veröffentlichungen der Historikerkommission der Republik Österreich 26/3), Wien–München 2004. Grundlegend hierzu Freund/Perz, Zwangsarbeit von zivilen AusländerInnen, Kriegsgefangenen, KZHäftlingen und ungarischen Juden in Österreich (wie Anm. 10) 644–695. Oliver Rathkolb (Hrsg.), NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der Reichswerke Hermann Göring AG Berlin 1938–1945, 2 Bände, Wien–Köln–Weimar 2001; Stefan Lütgenau/Alexander Schröck, Zwangsarbeit in der österreichischen Bauindustrie. Die Teerag-Asdag AG 1938–1945, Innsbruck–Wien–München 2001; Stefan Karner/Peter Ruggenthaler/Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.), NS-Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Die Lapp-Finze AG in Kalsdorf bei Graz 1939–1945, Graz 2004; Oskar Dohle/Nicole Slupetzky (Hrsg.), Arbeiter für den Endsieg. Zwangsarbeit im Reichsgau Salzburg 1939–1945. Unter Mitarbeit von Gerda Dohle, Wien–Köln–Weimar 2004. Zur Steiermark auch Peter Ruggenthaler, „Ein Geschenk für den Führer“. Sowjetische Zwangsarbeiter in Kärnten und der Steiermark, 2. Auflage, Graz 2001; hinzuweisen ist auch auf folgende unveröffentlichte Studie: Stefan Karner, Ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im Wk. Zeltweg der Alpine-Montan (unveröffentlichtes Manuskript), Graz 1999. Kopie im Besitz der Bibliothek des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz; zu Vorarlberg wurde nunmehr doch die viel diskutierte Dissertation von Jens Gassmann öffentlich zugänglich gemacht. Siehe Jens Gassmann, Zwangsarbeit in Vorarlberg während der NS-Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Situation auf den Illwerke-Baustellen, phil. Diss. Wien 2005. Speckner, In der Gewalt des Feindes (wie Anm. 9). Während im Lager von 4.000 US-Amerikanern vier eines natürlichen Todes starben, kamen jenseits des Stacheldrahtes 2.000 der insgesamt 20.000 in Krems-Gneixendorf gefangen gehaltenen sowjetischen Kriegsgefangenen ums Leben. Siehe Stelzl-Marx, Zwischen Fiktion und Zeitzeugenschaft (wie Anm. 11). Ein weiteres Standardwerk auf diesem Gebiet sind die edierten Erinnerungen eines sowjetischen Kriegsgefangenen: Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.), Unter den Verschollenen. Erinnerungen von Dmitrij Čirov an das Kriegsgefangenenlager Krems-Gneixendorf 1941 bis 1945 (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 43), Horn–Waidhofen an der Thaya 2003. Pavel Polian, Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im „Dritten Reich“ und ihre Repatriierung (Kriegsfolgen-Forschung 2), Wien–München 2000; Pavel Poljan, Žertvy dvuch diktatur. Žizn’, trud, uniženie i smert’ sovetskich voennoplennych i ostarbajterov na čužbine i na rodine, Moskau 2002; siehe auch Ulrike Goeken, Repatriierung in den Terror? Die Rückkehr der sowjetischen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in ihre Heimat 1944–1956, in: Dachauer Hefte 16 (2000), 190–

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Größere Beachtung fand insgesamt in den letzten Jahren die Erforschung des Einsatzes von KZ-Häftlingen. Der aktuellste Stand der Forschung, auch zur Steiermark, findet sich in der umfangreichen Publikationsreihe „Der Ort des Terrors“.34 Konzentrierte sich die Forschung anfangs auf die Darstellung des SS-Apparates, dem die Organisation des Arbeitseinsatzes der Sklavenarbeiter überantwortet worden war,35 so verlegte sich die aktuellere Forschung vielfach auf Detailstudien zu den Hunderten Außenlagern, über welche Sklavenarbeiter der deutschen Wirtschaft zugeführt wurden.36 Obwohl das Gesamtsystem des Zwangsarbeitseinsatzes von KZ-Häftlingen grundsätzlich als gut erforscht betrachtet werden kann,37 verleihen die De-

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209; Stefan Karner/Peter Ruggenthaler, (Zwangs-)Repatriierungen sowjetischer Staatsbürger aus Österreich in die UdSSR, in: Stefan Karner/Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Sb. 4), Graz–Wien–München 2005, 243–273. Im Dezember 2006 fand an der Karl-Franzens-Universität zu diesem Thema eine vom Ludwig Boltzmann-Institut für KriegsfolgenForschung veranstaltete internationale Tagung statt. Siehe Peter Ruggenthaler – Walter M. Iber (Hg.), Hitlers Sklaven – Stalins „Verräter“. Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz. Unter Mitarbeit von Dieter Bacher. (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, 14), Innsbruck – Wien – Bozen 2010. Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der Nationalsozialistischen Konzentrationslager, 9 Bände, München 2005–2009. Hierzu beispielsweise Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS, Berlin 2003. Frühere Publikationen wie jene von Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, 5. Aufl., Frankfurt am Main 1946, und insbesondere das klassische Mauthausen-Werk von Hans Maršáłek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. Dokumentation, 3. erweiterte deutsche Aufl., Wien–Linz 1995, widmen dem Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen als Zwangsarbeiter für die NS-Kriegswirtschaft nur wenig Aufmerksamkeit. Breitere Forschungen zur Sklavenarbeit in Mauthausen wurden durchgeführt von Bertrand Perz, Der Arbeitseinsatz im KZ Mauthausen, in: Ulrich Herbert u. a. (Hrsg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Göttingen 1998, 533–557. Für das Gebiet des heutigen Österreich: Florian Freund, Arbeitslager Zement. Das Konzentrationslager Ebensee und die Raketenrüstung, Wien 1989; Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991; zur Steiermark: Dietmar Seiler, Die SS im Benediktinerstift. Aspekte der KZ-Außenlager St. Lambrecht und Schloß Lind, Graz 1994; Anita Farkas, Geschichte(n) ins Leben holen. Die Bibelforscherinnen des Frauenkonzentrationslagers St. Lambrecht, Graz 2004 und zuletzt Stefan Karner/Heide Gsell/Philipp Lesiak, Schloss Lannach 1938–1949 (Unserer Zeit Geschichte 7), Graz 2008. Siehe Florian Freund, Zum Stand der Forschung zu den Außenlagern von Mauthausen, in: Nouvelles recherches sur l’univers concentrationnaire et d’extermination nazi, Revue d’allemagne et des pays de langue allemande 27 (April–June 1995) 2, 275–282. Ein guter Überblick über das Außenlager-System findet sich bei Florian Freund, Mauthausen. Zu Strukturen von Haupt- und Außenlagern, in: Dachauer Hefte 15 (1999), 254–272. Die Ausnutzung weiblicher Sklavenarbeiter innerhalb des KZ-Systems Mauthausens wurde detailliert aufgearbeitet von Andreas Baumgartner, Die vergessenen Frauen von Mauthausen. Die weiblichen Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen und ihre Geschichte, Wien 1997.

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tailstudien, oftmals kombiniert mit Oral-History-Untersuchungen, den wissenschaftlichen Erkenntnissen die notwendige Präzision.

Zur Definition von Zwangsarbeit Zwangsarbeit kann zwar nicht als singuläres Phänomen des NS-Staates bezeichnet werden, erreichte allerdings im „Dritten Reich“, wie auch in der Sowjetunion unter Stalin, bis dahin ungekannte Ausmaße. Die Arbeitsleistung von Millionen Zwangsarbeitern wurde zu einem festen Bestandteil der deutschen Kriegswirtschaft, die in zunehmendem Maße von dieser abhängig wurde und sie ab 1943 auf einem hohen Niveau aufrechterhielt. Unter Zwangsarbeit versteht man jene Form von Arbeit, bei der eine Person zu einem Tun gegen den eigenen Willen durch physische oder psychische Gewalteinwirkung oder deren Androhung verpflichtet wird (ausgenommen Militärdienstpflicht, übliche Bürgerpflichten wie zum Beispiel Wegereinigung, Strafarbeit aufgrund gerichtlicher Verurteilungen bzw. Notstandspflichten). Da im „Dritten Reich“ generell alle zivilen ausländischen Arbeitnehmer Diskriminierungen in unterschiedlichsten Ausprägungen unterlagen, ist aus rechtlicher Sicht bei ihrem Einsatz von Zwangsarbeit zu sprechen, unabhängig davon, ob sie sich beispielsweise in den besetzten Gebieten der Sowjetunion freiwillig zum „Arbeitseinsatz im Reich“ meldeten oder als Flüchtlinge infolge von Evakuierungen etwa aus dem Baltikum ab 1944 im Deutschen Reich zu Arbeiten eingesetzt wurden.38 Die als „Fremdarbeiter“ bezeichneten Arbeitskräfte inkludieren beispielsweise auch ungarische und slowakische Saisonarbeiter, die nach Erfüllung eines mehrwöchigen oder -monatigen Arbeitsvertrages wieder in die Heimat zurückkehrten. Nicht alle „Fremdarbeiter“ „nichtdeutschen Volkstums“39 sind daher in ihrer Gesamtheit als Zwangsarbeiter einzustufen. In dem von der österreichischen Bundesregierung im Jahre 2000 beschlossenen Gesetz „über die Auszahlung von freiwilligen finanziellen Leistungen der Republik Österreich an ehemalige Sklaven- und Zwangsarbeiter des NS-Regimes“ bediente man sich der Lösung, dass es für einen Anspruch auf Auszahlung einen Mindestarbeitseinsatz von sechs Monaten nachzuweisen galt.40 Als Zwangsarbeiter im „Dritten Reich“ sind generell alle KZ-Häftlinge, mit gewissen 38 Siehe hierzu ausführlich Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 2) Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz (wie Anm. 2) 90–115; Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 33–89. Anzumerken gilt, dass es aber selbst in Estland und Lettland bis 1944 zu gewaltsamen Deportationen von Arbeitskräften ins Deutsche Reich kam. Ebda., 163–165. 39 Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, 470. 40 BGBl. I 74/2000, 8.8.2000.

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Präzisierungen alle ausländischen zivilen Arbeitskräfte und jene Kriegsgefangenen, die entgegen den Bestimmungen der Genfer Konvention von 1929 behandelt wurden, zu bezeichnen.41

Zivile Zwangsarbeiter Von den vielen Millionen im „Dritten Reich“ eingesetzten zivilen Zwangsarbeitern traten nur die wenigsten freiwillig eine Arbeitsstelle im Deutschen Reich an. In diesem Zusammenhang ist vor allem auf die traditionelle Arbeitsmigration von Polen, Tschechen und Slowaken nach Deutschland in den 1930er-Jahren hinzuweisen, die nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ein abruptes Ende fand und in zwangsweise Arbeitsverpflichtungen überging.42 Selbst in der besetzten Sowjetunion, vor allem in der West-Ukraine, in der die Wehrmacht vielerorts von der Bevölkerung mit Brot und Salz, der traditionellen Willkommensgeste, als „Befreier vom Bolschewismus“ begrüßt worden waren,43 meldeten sich viele junge Männer und Frauen freiwillig zum Arbeitseinsatz im Deutschen Reich. Nur bedingt freiwillig sind allerdings jene Verpflichtungsmeldungen zu nennen, wenn sie infolge der Zerstörungen der Industrie und Infrastruktur erfolgten. Insbesondere nach dem Überfall NS-Deutschlands auf die UdSSR waren der Bevölkerung vielerorts die Existenzgrundlagen entzogen worden. Dies führte vielfach zu „freiwilligen“ Arbeitsverpflichtungen. Die Versprechungen waren verheißungsvoll: guter Verdienst, auf ein halbes Jahr beschränkte Dienstverhältnisse, Urlaub, Geldüberweisungen in die Heimat.44 Im „Reich“ angekommen sah die Praxis anders aus. Eine Heimkehr wurde rasch unterbunden. Die „Ostarbeiter“ stellten die größte Gruppe der Zwangsarbeiter. Unter dem Begriff „Ostarbeiter“ sind im Wesentlichen jene Zivilisten zu verstehen, die aus den Gebieten der Sow­ jetunion ins Deutsche Reich verschleppt wurden und dort besonders diskriminierenden Bestimmungen unterlagen. Jeder dritte zivile Zwangsarbeiter im Deutschen Reich kam aus der Sowjetunion, die Hälfte davon waren Frauen. Das Durchschnittsalter lag „reichsweit“ bei 20 Jahren.45 Die „Ostarbeiter“ wurden zu Opfern zweier Diktaturen, zunächst von Hitler zur 41 Siehe hierzu weiter unten. 42 Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001, hier 123–127. 43 Joachim Hoffmann, Die Kriegsführung aus der Sicht der Sowjetunion, in: Horst Boog u. a. (Hrsg.), Der Angriff auf die Sowjetunion (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg 4), Stuttgart 1983, 713–809, hier 728. 44 Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 187. 45 Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 2) 11. Reichsweit stellten „Ostarbeiter“ einen Anteil von 36,4 Prozent aller zivilen Arbeitskräfte, auf dem Gebiet Österreichs 30,6 Prozent. Siehe Freund/Perz, Zwangs-

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Zwangsarbeit verschleppt, dann von Stalin als „Verräter der Heimat“ gebrandmarkt, weil sie für Deutschland gearbeitet und somit nicht aktiv zum Sieg der Sowjetunion über das Hakenkreuz beigetragen hätten. Den sowjetischen Kriegsgefangenen wurde zudem vorgehalten, nicht bis zum Tod gegen den Feind gekämpft zu haben.46 Die NS-Ideologie unterschied „Fremdarbeiter“ (und auch Kriegsgefangene) strikt gemäß der NS-Rassenlehre. „Fremdarbeiter“ waren nicht gleich „Fremdarbeiter“. Die Einstufung gemäß dem Rassenwahn bildete die rechtliche Grundlage für Fragen der Ernährung, Verpflegung, Unterbringung, Freizeitgestaltung, Bewegungsfreiheit und Entlohnung. An der Spitze der „rassischen“ Hierarchie standen die „artverwandten“, „blutgleichen“ Volksangehörigen: Skandinavier, Wallonen, Holländer, ganz unten Angehörige der slawischen Völker in unterschiedlichen Abstufungen.47 Am untersten Ende befanden sich, abgesehen von Juden, die als Zivilarbeiter nur in Ausnahmefällen zum Arbeitseinsatz kamen,48 Polen und „Ostarbeiter“, über die Göring sagte: „Deutsche Facharbeiter gehören in die Rüstung, Schippen und Steineklopfen ist nicht ihre Aufgabe, dafür ist der Russe da.“49 Alle anderen europäischen Völker nahmen in der Gruppe der zivilen Zwangsarbeiter eine Zwischenstellung ein, die ihnen gewisse Privilegien im Arbeitsalltag sicherte. Aufgrund des sich mit Kriegsbeginn zusehends verschärfenden Arbeitskräftemangels in der deutschen Kriegswirtschaft,50 der spätestens mit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 enorme Ausmaße annahm, kam es zu einem stetig sich ausweitenden Einsatz von Zwangsarbeitern. Mit den ersten Briefen in die Heimat, die sehr oft ungeprüft durch die Zensur gelangten, gingen die „freiwilligen“ Meldungen stark zurück. Im März 1942 wurde Fritz Sauckel von Adolf Hitler zum Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz ernannt. Damit wurden Verschleppungen von Zivilisten aus allen Teilen Europas nach Deutschland systematisiert. Millionen von Facharbeitern und einfachen Arbeitskräften wurden in der Folge erfasst, rekrutiert und verschleppt. Die vor dem Frühjahr 1942 zahlenmäßig geringeren Zwangsverschleppungen entwickelten sich zu regelrechten Massenvertreibungen und groß

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arbeit von zivilen AusländerInnen, Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen und ungarischen Juden in Österreich (wie Anm. 10) 659. Hierzu grundlegend Polian, Deportiert nach Hause (wie Anm. 33). Hierzu ausführlicher Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 38–89. Siehe insbesondere Wolf Gruner, Zwangsarbeit und Verfolgung. Österreichische Juden im NS-Staat 1938–45, Innsbruck–Wien–München 2000. Zit. n. Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Stuttgart 1978, 206. Zur Entwicklung der NS-deutschen Rüstungswirtschaft siehe Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, 3 Bände, Berlin 1999; Rolf Wagenführ, Die deutsche Industrie im Kriege 1939–1945. 3. Aufl. Berlin 2006; Alan S. Milward, The German economy at war, London 1965, sowie Richard J. Overy, War and economy in the Third Reich, Oxford 2002.

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angelegten Razzien. Vor allem die besetzten Gebiete der Sowjetunion wurden von diesem Zeitpunkt an ihrer arbeitenden Jugend beraubt, teils wurden ganze Dörfer entvölkert. An den Ostgrenzen zum Deutschen Reich wurden sogenannte Desinfektions- und Entwesungslager bzw. „Grenzentlausungslager“ eingerichtet.51 Die Entlausung war vor allem für Frauen ein demütigender Akt. Vielfach den Blicken der männlichen Wachmannschaften ausgesetzt, mussten sie Ganzkörperrasuren über sich ergehen lassen. Anschließend wurden die Zwangsarbeiter in Vieh- und Güterwaggons weiter in Richtung Deutsches Reich verschickt. Nach der Ankunft in einem der rund 50 Durchgangslager der Landesarbeitsämter wurden die Zwangsarbeiter schließlich auf Bezirke und Gemeinden, Fabriken, Rüstungsbetriebe und Bauernhöfe aufgeteilt. Wie auf Sklavenmärkten konnten sich Bauern, die die Arbeitskräfte infolge der immer häufiger werdenden Einberufungen dringendst benötigten, Arbeiterinnen und Arbeiter aussuchen und mitnehmen. Die „Arbeitgeber“ hatten für ihre Zwangsarbeiter Sozialversicherungsabgaben zu leisten und de jure auch einen Lohn zu zahlen, den „Ostarbeiter“ auch verzinslich sparen konnten. Nach Abzug der Abgaben blieben einem „Ostarbeiter“ in der Regel nur wenige Reichsmark übrig, so er sie überhaupt ausbezahlt bekam. Je schlechter die Frontlage wurde, umso mehr stiegen bis gegen Kriegsende auch die Löhne. Essenzielle Verbesserungen der Lebenslage brachte dies angesichts der zusammenbrechenden deutschen Wirtschaft mit den Folgen des Schwarzmarktes allerdings nicht mit sich.52 Doch selbst die massenhafte Verschleppung von Zivilisten aus den besetzten Gebieten in das Deutsche Reich konnte den stetig steigenden Bedarf der deutschen Kriegswirtschaft an Arbeitskräften nicht befriedigen. So wurden ab 1942 immer mehr KZ-Häftlinge als Sklavenarbeiter und auch Kriegsgefangene zur Rüstungsproduktion eingesetzt.53 Der Einsatz von Letzteren aus Osteuropa war von der NS-Führung aus ideologischen Gründen zunächst strikt abgelehnt worden.54 Der Einsatz von KZ-Häftlingen wurde durch das SS-WirtschaftsHauptamt verwaltet. Diese, im Gegensatz zu den zivilen Zwangsarbeitern, völlig entrechteten Arbeitskräfte wurden unter anderem auch an verschiedene Rüstungsbetriebe „vermietet“. Zumeist unter menschenunwürdigen Bedingungen wurden hier in der Folge Tausende Menschen durch Arbeit vernichtet. 51 1942/43 gab es 15 solcher Lager. Die wichtigsten befanden sich in Lemberg/L’viv, Przemyśl, Krakau/ Kraków und Białystok. Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 97–98. 52 Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz (wie Anm. 2) 151–166, Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 2) 198–203; Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 72–74, 88; Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) 338–339. 53 Freund/Perz, Zwangsarbeit von zivilen AusländerInnen, Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen und ungarischen Juden in Österreich (wie Anm. 10) 672. 54 Streit, Keine Kameraden (wie Anm. 50) 191–208.

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Die Behandlung der Polen, deren Zwangsarbeitseinsatz im Deutschen Reich im Herbst 1939 begann, richtete sich nach den NS-„Polenerlässen“. Polnische Zwangsarbeiter waren im NS-Staat die erste Gruppe, die öffentlich durch die Kennzeichnungspflicht mit einem „P“ stigmatisiert wurde.55 Die ab 1943 auch in der Steiermark größte Gruppe der zivilen Zwangsarbeiter bildeten aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion verschleppte „Ostarbeiter“. Waren Mitte 1942 in der Steiermark knapp über 6.000 „Ostarbeiter“ tätig,56 stieg die Zahl im Zuge der Massenverschleppungen aus der Sowjetunion 1943 rasant auf über 30.000 an. Die letzten Statistiken weisen in der Steiermark fast 36.000 „Ostarbeiter“ aus.57 Gewisse Privilegien im NS-Arbeitsrecht kamen West-Ukrainern zu.58 Das Kriterium der Einstufung als „Ostarbeiter“ bildete im Gegensatz zu den „Polenerlässen“ zunächst allerdings lediglich die geografische Herkunft. Selbst mit dem Deutschen Reich sympathisierende Völker, wie zum Beispiel im Kaukasus, unterlagen de jure denselben diskriminierenden Bestimmungen. Insbesondere slawische Zwangsarbeiter sollten von der „deutschen“ Bevölkerung scharf getrennt werden. In Zeitungen wurde die steirische Bevölkerung vor zu engem Kontakt mit „Fremdarbeitern“ gewarnt: „Der Umgang mit Fremdvölkischen, soweit sie nicht wie die Niederländer, Flamen und Angehörigen der skandinavischen Länder artgleichen Blutes sind, führt zu nichts Gutem und ist im Interesse der Reinhaltung der Rasse und der Erhaltung deutscher Art unbedingt zu vermeiden.“59 Auf größeren landwirtschaftlichen Gütern sollten Zwangsarbeiter zunächst sogar in eigenen Barackenlagern untergebracht werden, um den Kontakt zur Bevölkerung so minimal wie möglich zu halten. Gerade in der kleinflächig strukturierten Landwirtschaft der Ost- und Südsteiermark war dies jedoch undurchführbar. Ab 1942 wurden entsprechende Pläne auch reichsweit aufgegeben. Beim Einsatz in Rüstungsbetrieben waren „Ostarbeiter“ in eigenen Lagern unterzubringen, streng getrennt auch von anderen Nationalitäten. In der Praxis war das jedoch vielerorts nicht durchführbar.60 Die in der Steiermark eingesetzten (west)ukrainischen und sowjetischen Zwangsarbeiter stammten in erster Linie aus den Gebieten Ivano-Frankivs’k und Chmel’nyc’kyj sowie von 55 Der Judenstern wurde im September 1941 nach dem Muster des Polen-Abzeichens eingeführt. Siehe Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 2) 88. 56 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 228. Die allerersten „Ostarbeiter“ waren erst im Juni 1942 in der Steiermark eingetroffen und wurden am steirischen Erzberg eingesetzt. Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) 337. 57 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 228, 230–231, 244–245. 58 West-Ukrainer waren nach Meinung der NS-Ideologen vom „Bolschewismus nicht so beeinflusst“. Konnten West-Ukrainer einen „arischen“ Nachweis erbringen, unterlagen sie weder den diskriminierenden „Polen-Erlässen“ noch den „Ostarbeitererlässen“. In Wien gab es hierzu eine eigene „Ukrainische Vertrauensstelle im Deutschen Reich“. Siehe Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 39, 125–126. 59 Weststeirische Rundschau, 12.4.1942. 60 Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 53–54.

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der damals noch der Russischen Sowjetrepublik zugehörigen Krim.61 Von der Krim gelangten nicht nur ethnische Russen in die Steiermark, sondern auch Krimtataren. Ab 1944 sollten alle ins Deutsche Reich verschleppten Krimtataren in der Steiermark konzentriert werden (ähnlich Georgier in Salzburg und Kärnten, Kaukasier im Reichsgau Tirol-Vorarlberg). Sie sollten auch nicht mehr mit den übrigen „Ostarbeitern“ gemeinsam untergebracht werden. Die Krimtataren verdeutlichen die Diskrepanz der NS-Politik gegenüber turktatarischen und kaukasischen Völkern in der Sowjetunion. So waren beispielsweise weite Teile der Krimtataren bereit, gemeinsam mit deutschen Verbänden ihre Heimat gegen die Rote Armee zu verteidigen, nicht aber mittels „Reichseinsatz“. Offene Verschleppungen waren die Folge. Ab 1944 gestand man den verschleppten Angehörigen dieser Völker eine politische „Aufwertung“ im „Reich“ zu.62

Kriegsgefangene Neben KZ-Häftlingen wurde im „Dritten Reich“ auch systematisch die Arbeitskraft von Kriegsgefangenen ausgebeutet. Die Genfer Konvention von 1929 regelte aufbauend auf der Haager Landkriegsordnung (HLKO) erstmalig – zumindest rein rechtlich – viele Aspekte des Kriegsgefangenenwesens. Demnach durften Kriegsgefangene von der Gewahrsamsmacht generell nicht zu Arbeiten herangezogen werden, zu denen sie körperlich nicht in der Lage waren.63 Wurden Kriegsgefangene dennoch zum Arbeitseinsatz herangezogen, waren diese ebenso als Zwangsarbeiter zu bezeichnen. Darüber hinaus war es verboten, Kriegsgefangene für „unzuträgliche oder gefährliche Arbeiten“ einzusetzen. Ausdrücklich untersagt wurde der Arbeitseinsatz von Offizieren und Unteroffizieren.64 Ähnlich wie bei den zivilen Zwangsarbeitern stammten die meisten der auf dem Gebiet Österreichs festgehaltenen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, aus Serbien, Italien und Frankreich.65 Im LAA Steiermark-Kärnten wurden Mitte 1942 32.124 Kriegsgefangene zum Arbeitseinsatz herangezogen. Die überwiegende Mehrheit bildeten französische Kriegsgefangene (21.191). Ihnen folgten 6.050 britische, 4.274 sowjetische und 588 belgische sowie 21 pol-

61 Ruggenthaler, „Ein Geschenk für den Führer“ (wie Anm. 30) 62. AdBIK, Datenbank „Ostarbeiter“. 62 Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 121–125. 63 RGBl. 1934 II, Genfer Konvention, 240. Zum Alltag der Kriegsgefangenen auf dem Gebiet Österreichs siehe grundlegend die Studie zum Stalag XBVII B von Stelzl-Marx, Zwischen Fiktion und Zeitzeugenschaft (wie Anm. 11). 64 RGBl. 1934 II, Genfer Konvention, 239–240. 65 Speckner, In der Gewalt des Feindes (wie Anm. 9) 32–33.

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nische Kriegsgefangene.66 Im Gesamtkonzern der Alpine Montan „Hermann Göring“ waren Ende 1942 2.369 Kriegsgefangene eingesetzt, 791 davon am Erzberg, in der Hütte Donawitz Ende 1943 941. Im Herbst 1944 wurden im Konzern fast 7.000 Kriegsgefangene zur Arbeit herangezogen.67 Der Großteil der Kriegsgefangenen, zirka zwei Drittel, wurde allerdings in der Landwirtschaft eingesetzt.68 Die Ausnutzung von Zwangsarbeit durch Kriegsgefangene in der Baubranche blieb trotz zunehmendem Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs wesentlich höher als im Reichsdurchschnitt.69 Die Genfer Konvention von 1929 war auch für den NS-Staat grundsätzlich verbindlich. Die Konvention wurde von vierzig Nationen (darunter auch vom Deutschen Reich und allen großen Kriegsteilnehmern, außer der Sowjetunion) unterzeichnet. Zu den wichtigsten Bestimmungen zählten, dass Kriegsgefangene „jederzeit mit Menschlichkeit behandelt werden mussten“ und vor Gewalt, Beleidigungen und öffentlicher Neugier zu schützen waren. Kriegsgefangene hatten Anspruch auf „Achtung ihrer Person und Ehre“. In Bezug auf Frauen wurde zusätzlich festgehalten, dass diese „mit aller ihrem Geschlecht geschuldeten Rücksicht“ behandelt werden sollten. Die Unterbringungsstätte müsste Reinlichkeit und Zuträglichkeit bieten, die Verpflegung der Kriegsgefangenen sollte der der Ersatztruppen gleichgestellt sein.70 Im Wesentlichen fand die Genfer Konvention im „Dritten Reich“ auf US-amerikanische, belgische, britische, niederländische, norwegische, französische und auch serbische Kriegsgefangene Anwendung, jedoch wurden deren Offiziere und Unteroffiziere zum Teil zur „freiwilligen Arbeitsmeldung“ angehalten.71 Sowjetischen Kriegsgefangenen stand nach NSRechtsauffassung kein völkerrechtlicher Schutz zu,72 weil die UdSSR die Genfer Konvention 66 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 155, 162. Der Anteil der polnischen Kriegsgefangenen ist deshalb so niedrig, weil ab Mai 1940 90 Prozent der Polen in den Zivilarbeiterstatus überführt wurden. Siehe Hubert Speckner, Kriegsgefangenenlager in der ‚Ostmark‘ 1939–1945. Zur Geschichte der Mannschaftsstammlager und Offizierslager in den Wehrkreisen XVII und XVIII, phil. Diss. Wien 1999, 265. 67 Oliver Rathkolb, Am Beispiel Paul Pleigers und seiner Manager in Linz – Eliten zwischen Wirtschaftsträumen, NS-Eroberungs- und Rüstungspolitik, Zwangsarbeit und Nachkriegsjustiz, in: Rathkolb (Hrsg.), NS-Zwangsarbeit (wie Anm. 30) 308–310. 68 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 155, 162. 69 Freund/Perz, Zwangsarbeit von zivilen AusländerInnen, Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen und ungarischen Juden in Österreich (wie Anm. 10) 653. 70 RGBl. 1934 II, Genfer Konvention, 233, 235. 71 Die in der Landwirtschaft eingesetzten britischen Kriegsgefangenen können generell kaum als Zwangsarbeiter bezeichnet werden. Siehe Petschnigg, Von der Front aufs Feld (wie Anm. 12). 72 Siehe hierzu grundlegend Reinhard Otto, Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42 (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 77), München 1998, und Alfred Streim, Die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener im „Fall Barbarossa“. Eine Dokumentation. Unter Berücksichtigung der Unterlagen deutscher Strafverfolgungsbehörden und der Materialien der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltung zur Aufklärung von NS-Verbrechen (Motive – Texte – Materialien 13), Heidelberg–Karlsruhe 1981.

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nicht unterzeichnet hatte. Das Deutsche Reich ignorierte auch teilweise die Bestimmungen der HLKO von 1907,73 obwohl diese von Zar Nikolaus II. unterzeichnet worden war und die Sowjetunion 1941 den 1907 vollzogenen Beitritt zur HLKO ausdrücklich bestätigt hatte.74 Zu den Kriegsgefangenen, die nach NS-Auffassung nicht unter die Genfer Konvention fielen, zählten ab 1943 auch die 600.000 italienischen „Militärinternierten“. Nach dem Sturz Mussolinis waren sie vielfach dem Hass von Ortsbewohnern und Arbeitgebern ausgesetzt. Im Sommer 1944 wurden sie in den Status der „Zivilinternierten“ überführt.75 Hinzu kamen – ähnlich wie bei den sowjetischen Kriegsgefangenen – unzählige Vorurteile, auf denen das NS-Regime seine Propaganda und Stereotype entfalten konnte. Jüdische Kriegsgefangene aus westlichen Staaten wurden generell gleich behandelt wie übrige Kriegsgefangene aus diesen Staaten,76 nicht allerdings Juden, die in Armeen Polens oder der Sowjetunion gedient hatten und gefangen genommen wurden.77 Von den im September 1939 gefangenen 60.000 bis 65.000 jüdischen Soldaten der polnischen Armee überlebten nur wenige Hundert den Krieg. Jüdische Kriegsgefangene aus dem ehemaligen Jugoslawien wurden im Gegensatz zum Großteil der übrigen serbischen Kriegsgefangenen nicht aus der Gefangenschaft entlassen.78 73 Die Bestimmungen der HLKO sind viel allgemeiner gehalten als die der Genfer Konvention. Kriegsgefangene sollten demnach „mit Menschlichkeit behandelt werden“ (Art. 4). Artikel 6 sah vor, dass Kriegsgefangene zum Arbeitsdienst herangezogen werden dürfen, sofern die Arbeiten nicht „übermäßig“ sind und nicht in Beziehung zu Kriegsunternehmungen stehen. Für arbeitende Kriegsgefangene ist ein Lohnanspruch vorgesehen, den sie zum Teil zur „Besserung ihrer Lage“ verwenden dürfen. Der Rest des Lohnes sollte bei Freilassung ausbezahlt werden. RGBl. 1910, Haager Landkriegsordnung, 107–151. 74 Siehe hierzu Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sow­ jetunion 1941–1956 (Kriegsfolgen-Forschung 1), Wien–München 1995, 14–19. 75 Gabriele Hammermann, Zwangsarbeit für den „Verbündeten“. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Militärinternierten in Deutschland 1943–1945, Tübingen 2002; Gerhard Schreiber, Die italienischen Militärinternierten – Politische, humane und rassenideologische Gesichtspunkte einer besonderen Kriegsgefangenschaft, in: Günter Bischof/Rüdiger Overmans (Hrsg.), Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg. Eine vergleichende Perspektive, Ternitz 1999, 393–406; Luigi Cajani, Die italienischen Militär-Internierten im nationalsozialistischen Deutschland, in: Herbert, Europa und der „Reichseinsatz“ (wie Anm. 20) 295–316. 76 Israel Gutmann (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, München–Zürich 1998, 814. 77 Zu sowjetischen jüdischen Kriegsgefangenen siehe Pavel Polian, Sowjetische Juden als Kriegsgefangene. Die ersten Opfer des Holocaust?, in: Bischof/Karner/Stelzl-Marx (Hrsg.), Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges (wie Anm. 14) 488–505. 78 Speckner bezeichnet diesen Umstand sogar als Schutz, denn die nach Kroatien repatriierten Juden wurden in Kroatien, wie z. T. die Serben, von Ustašaverbänden ermordet. Siehe Speckner, Kriegsgefangenenlager (wie Anm. 66) 262; Israel Gutmann (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust (wie Anm. 76) 814–817.

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Im Gegensatz zu den zivilen Zwangsarbeitern durften Kriegsgefangene unabhängig von der Nationalität, auch wenn sie in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, nicht bei den „Arbeitgebern“ übernachten, was vor allem in inneralpinen Gebieten aufgrund der großen Entfernungen zu Problemen führte und in der Praxis auf Dauer nicht durchzuführen war. Die Ortsbauernführer hatten dafür Sorge zu tragen, dass der Kontakt zwischen Kriegsgefangenen und der Bevölkerung nicht über das Nötige hinausging.79 Von den 300.000 Kriegsgefangenen auf österreichischem Boden dürften bis zu rund 260.000 im Arbeitseinsatz gestanden sein. Wie viele Kriegsgefangene in den Zivilarbeiterstatus überführt wurden, kann mit heutigem Wissensstand nicht genau festgestellt werden.80 Zu Kriegsende belief sich die Zahl der Kriegsgefangenen noch auf 150.000.81 Nach wie vor unbekannt ist die Zahl der auf österreichischem Boden ums Leben gekommenen Kriegsgefangenen, Hubert Speckner nennt mindestens 23.039. 96 Prozent der Verstorbenen stammten aus der Sowjetunion.82 Hinzuzuzählen sind mindestens weitere 33.407 im KZ Mauthausen und seinen Außenlagern zu Tode gekommene sowjetische Kriegsgefangene, wobei unklar bleiben muss, wie hoch der Anteil ziviler, ins KZ eingewiesener ziviler Zwangsarbeiter und anderer Opfergruppen an letztgenannter Zahl ist.83 Unklar bleibt auch, wie viele Kriegsgefangene zu Kriegsende bei Evakuierungsmärschen ums Leben kamen.

79 Zur Praxis in der Land- und Forstwirtschaft siehe Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14). 80 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 157–158, 174. 81 Spoerer, Wie viele der zwischen 1939 und 1945 auf heutigem österreichischen Territorium eingesetzten Zwangsarbeiter leben noch im Jahre 2000? (wie Anm. 14) 346. 82 Speckner, In der Gewalt des Feindes (wie Anm. 9) 212; Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 174. Bevor sich die NS-Führung für den Arbeitseinsatz der sowjetischen Kriegsgefangenen im Deutschen Reich entschieden hatte, waren Millionen Menschen in den Lagern verhungert. Die Eruierung präziserer Zahlen als bislang in der Forschung gehandhabt, ist Gegenstand eines großen Forschungsprojektes. Siehe hierzu Reinhard Otto/Rolf Keller/Jens Nagel, Sowjetische Kriegsgefangene in deutschem Gewahrsam 1941–1945. Zahlen und Dimensionen, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (VJHfZG), 4 (2008), 557–602. 83 Peter Sixl, Sowjetische Kriegsgräber in Österreich (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz-Wien-Klagenfurt Sb. 6), Graz 2005, 29. Mittlerweile sind 28.000 auf dem Gebiet von ganz Österreich verstorbene sowjetische Kriegsgefangene und zivile Zwangsarbeiter namentlich erfasst. Peter Sixl danke ich an dieser Stelle für diese Angaben. Freund und Perz gehen von „mehr als 10.000 [… im KZ Mauthausen und seiner Außenlager] ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen“ aus. Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 174.

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Zwangsarbeit in der steirischen Rüstungsindustrie und Landwirtschaft Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie Die Steiermark hatte mit ihrer Eisen- und Stahlindustrie in der Mur-Mürz-Furche eine besondere Bedeutung für die Rüstungsindustrie des „Dritten Reichs“. Neben der begehrten Rohstoffquelle des Erzbergs war vor allem der steirische Magnesitabbau, der die Hälfte der gesamtdeutschen Erzeugung ausmachte, wichtig. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich wurden auch die neuen Gaue in die deutschen Rüstungspläne miteingeschlossen, steirische Industrieproduktionsstätten wurden in die Lieferungen für die Deutsche Wehrmacht miteinbezogen und mit Aufträgen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) bedacht. 82 steirische Firmen wurden zu Rüstungsbetrieben erklärt, 200 Betriebe in die Wehrmachtslieferungen eingeschaltet. In den Rüstungs- und Zulieferbetrieben in der Steiermark arbeiteten rund 100.000 Menschen für die deutsche Rüstung, mehr als die Hälfte davon in Graz.84 Abgesehen vom markantesten Beispiel für die enorme Ausweitung der Produktionskapazitäten – der „Hermann-Göring-Werke“ in Linz85 – wurden auch alle übrigen traditionellen Industrieregionen von der Umstellung auf die Produktion für den Vierjahresplan zur Sicherung der wehrwirtschaftlichen Autarkie mehr oder weniger stark erfasst. Infolge des Aufbaues großindustrieller Strukturen kam es im Reichsgau Oberdonau bereits 1940 zu einem erheblichen Arbeitskräftemangel. Hatte die Blitzkriegsstrategie in den ersten Kriegsjahren stets den erwünschten Erfolg gebracht und konnte ein Teil der Soldaten an seine Arbeitsplätze zurückkehren, so verschärfte sich die Situation am Arbeitsmarkt zusehends nach dem Überfall auf die UdSSR. Hatten Unternehmen zunächst über einen stärkeren Einsatz von Ausländern in der Industrie, insbesondere „aus dem Osten“, nicht weiter nachgedacht,86 so änderte sich dies nunmehr schlagartig. Bereits ab Ende 1941 wurden sowohl in Linz als auch in praktisch allen übrigen Rüstungsbetrieben der Donau- und Alpengaue Zehntausende Zwangsarbeiter eingesetzt. Doch auch in Industriebetrieben, die nicht für die deutsche Kriegsmaschinerie produzierten, waren zivile Zwangsarbeiter ab Ende 1941 nichts Außergewöhnliches. 1944 waren bereits 42 Prozent aller Arbeiter in der steirischen Rüstung Ausländer. Kriegsgefangene stell-

84 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) ab 245 und 469–471; ders., Österreichs Rüs­ tungsindustrie 1944. Ansätze zu einer Strukturanalyse, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, 25 (1980) 3, 179–206. 85 Hierzu Rathkolb (Hrsg.), NS-Zwangsarbeit (wie Anm. 30). 86 Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 2) 169–170.

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ten einen großen Anteil an Rüstungsarbeitern. In vielen Rüstungsbetrieben der Steiermark wurden die Einberufungen einheimischer Arbeiter zur Wehrmacht beinahe zur Hälfte mit ausländischen Arbeitskräften ausgeglichen.87 In der steirischen Rüstungsindustrie fehlten vor allem Metallfacharbeiter. In der Folge organisierte das Rüstungskommando Graz Umschulungs- und Anlernkurse vor allem für „Ostarbeiter“, Kroaten und Untersteirer. Der Bedarf an Arbeitskräften in der Rüstungsindustrie war bisweilen allerdings so groß, dass einer der ersten „Ostarbeiter“-Transporte, deren verschleppte Insassen eigentlich für den Einsatz in der Landwirtschaft vorgesehen waren, der steirischen Rüstungsindustrie zur Verfügung gestellt wurde. Dennoch konnte der Mehrbedarf an Arbeitskräften in der steirischen Kriegswirtschaft kaum abgedeckt werden,88 obwohl das Rüstungskommando Graz den Durchschnittswert des Ausländeranteils in der Rüstungsindustrie mit 16,8 Prozent bereits Ende 1941 um 4,8 Prozent deutlich überschritten hatte.89 Kurz nach dem „Anschluss“ erfolgte am 13. Mai 1938 der Spatenstich für den Bau der Hermann-Göring-Werke in Linz, benannt nach dem „Beauftragten für den Vierjahresplan“. Ab 1941 wurden in den Werken Panzerteile erzeugt und im nahe gelegenen „Nibelungenwerk“ in St. Valentin montiert. Der gesamte Industriekomplex wurde sukzessive zu einem der wichtigsten Panzerwerke des Deutschen Reiches ausgebaut. Zu Kriegsende waren drei Viertel der 20.000 Personen starken Belegschaft Zwangsarbeiter bzw. KZ-Häftlinge aus Mauthausen.90 Über den gesamten Zeitraum von 1938 bis 1945 betrachtet, waren von den knapp 40.000 beschäftigten Personen 22.254 Ausländer, von denen zumindest 2.450 dezidiert als „Ostarbeiter“ erfasst wurden.91 1944 erzeugten die Reichswerke „Hermann Göring“ circa ein Zehntel der Rohstahlproduktion des „Deutschen Reiches“.92 1939 war die Alpine Montan mit Sitz in Leoben in die Hermann-Göring-Werke eingegliedert worden.93 Der einst größte österreichische Industriekonzern hatte in der von hoher Arbeitslosigkeit geprägten Zwischenkriegszeit illegale Nationalsozialisten bei Anstellungen be-

87 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) 340. 88 Ebda., 337, 353–356. 89 Gatterbauer, Arbeitseinsatz und Behandlung der Kriegsgefangenen in der Ostmark (wie Anm. 9) 298, 300. 90 Rathkolb (Hrsg.), NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz (wie Anm. 30). 91 Eine ausführliche statistische Analyse über den Arbeiterstand in Linz findet sich bei Michaela C. Schober, ZwangsarbeiterInnen der Reichswerke Hermann Göring am Standort Linz – Statistikbericht unter Berücksichtigung der deutschen Staatsangehörigen, in: Rathkolb (Hrsg.), NS-Zwangsarbeit (wie Anm. 30) 147–286. 92 Karner, Ausländische Arbeitskräfte im Wk. Zeltweg (wie Anm. 30) 28. 93 Harald Wixforth/Dieter Ziegler, Die Expansion der Reichswerke „Hermann Göring“ in Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1 (2008), 257–278, hier 262.

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vorzugt.94 Die Firmenleitungen sympathisierten großteils mit dem NS-System, nicht zuletzt aufgrund der mit dem „Anschluss“ verbundenen Hoffnungen, die Vorteile einer Großraumwirtschaft ausnutzen zu können und so aus der wirtschaftlichen Randlage an der „halbtoten“ Grenze zu Jugoslawien zu kommen.95 Zur Zwangsarbeit in den 13 Zweigwerken96 der „Reichswerke Hermann Göring“ in der Steiermark liegt bislang lediglich eine Studie vor, nämlich zum Werk Zeltweg.97 Das Werk war 1940 in die Rüstungsfertigung des „Dritten Reiches“ einbezogen worden, konnte aber nie die Sollziffern im Ausstoß an Waffen – die wichtigste Waffenfertigung galt der Produktion der 15- und 8,8-cm-Granaten vor allem für die Luftabwehr) – erreichen. Der Gesamtbeschäftigtenstand belief sich zwischen 1938 und 1945 auf 1.300 bis 1.500 Arbeiter und Angestellte. Im Gegensatz zu anderen Werken der Alpine Montan wurden zur Wehrmacht eingerückte Männer in wesentlich geringerem Maß durch Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene ersetzt, was vermutlich auf die hohe Spezialisierung der Arbeiter in Zeltweg zurückzuführen ist. Insgesamt ist der Einsatz von 872 ausländischen Arbeitskräften (822 Männer und 50 Frauen), wovon der Großteil (mindestens 682) als Zwangsarbeiter per definitionem einzustufen ist, im Werk Zeltweg nachweisbar. Rund zwei Drittel der Zwangsarbeiter (ein Viertel kam aus Polen, jeder sechste aus der Sowjetunion) wurde im Schnitt ein Jahr im Werk eingesetzt. Der Großteil der ausländischen Arbeitskräfte war unter 20 Jahren alt, der jüngste erst 14. 1944 war jede vierte Arbeitskraft im Werk Zeltweg ein Kriegsgefangener, ein Fünftel der in den Karteien als Ausländer verzeichneten Arbeitskräfte waren keine Zwangsarbeiter, sondern aus dem „Altreich“ stammende Flieger, die sich zur Ausbildung in Zeltweg befanden und auch für Arbeiten im Zeltweger Werk eingesetzt wurden. Die „deutschen“ Flieger waren auch keineswegs in Lagern untergebracht, sondern im Fliegerhorst.98 Ab Februar 1944 wurde das Alpine-Werk in der Prioritätsstufe der Rüstungsbetriebe zurückgereiht. Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene wurden zwar nicht mehr vordringlich zugeteilt, ihr Anteil blieb aber hoch, weil einheimische Facharbeiter bei Bedarf an kriegswichtigere Betriebe abgegeben werden mussten.99 Die Unterbringung der Zwangsarbeiter aus den verschiedensten Ländern entsprach in Zeltweg nicht den Vorgaben des NS-Systems. Im „Ostarbeiterlager“ waren neben 25 Sowjetbür94 Eduard G. Staudinger, Die Alpine Montangesellschaft im Juli 1934, in: Blätter für Heimatkunde (BlHk), 1 (1984), 15–23. 95 Karner, „… des Reiches Südmark“ (wie Anm. 1) 296–297. 96 Gatterbauer, Arbeitseinsatz und Behandlung der Kriegsgefangenen in der Ostmark (wie Anm. 9) 314. 97 Karner, Ausländische Arbeitskräfte im Wk. Zeltweg (wie Anm. 30). Die bei Rathkolb in der Einleitung angekündigte „punktuelle“ Untersuchung der Zweigwerke in der Steiermark und Kärnten bleibt der Autor leider schuldig. Siehe Rathkolb, Am Beispiel Paul Pleigers und seiner Manager in Linz (wie Anm. 67). 98 Karner, Ausländische Arbeitskräfte im Wk. Zeltweg (wie Anm. 30) 29, 37, 46–47. 99 Ebda., 35.

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gern auch 48 Franzosen untergebracht, im „Ostlager“ 115 Italiener, 30 Franzosen und 61 „Ostarbeiter“. Das Werk Zeltweg ist ein Beispiel dafür, welche Machtbereiche sich auf Ebene von Betriebs- und Lagerleitung auftun konnten. So erzählte der ehemalige „Ostarbeiter“ Michail A. Karas 1999 in einem Interview dem Autor, seine Arbeit an der Seite der Westarbeiter verrichtet zu haben. Verspätete er sich einmal zur Arbeit, brachte dies keine Konsequenzen mit sich. Mit bis zu 120 Reichsmark, so Karas, sei er entlohnt worden. Mit dem Geld kaufte er sich zusätzliches Brot, meist auf dem Weg zur Arbeit. Als er an Bronchitis erkrankte, wurde er ins örtliche Spital gebracht, wo er in einem Zimmer mit drei Einheimischen gesundgepflegt wurde. Seine Zeit in Zeltweg hat er vor allem aufgrund des äußerst freundlichen Lagerkommandanten in guter Erinnerung. Das Schicksal, so Karas, hätte es gut mit ihm gemeint, den Krieg zu überleben, ohne je einen Toten gesehen haben zu müssen.100 Die sich hier darstellenden positiven Lebensumstände der Zwangsarbeiter in einem steirischen Rüstungsbetrieb dürften freilich nicht die Regel gewesen sein.101 In einem der größten Rüstungsbetriebe der Steiermark, dem Böhler-Konzern in Kapfenberg, dem es neben Schoeller Bleckmann als einzigem österreichischem Großunternehmen gelungen war, einer Übernahme durch die Hermann-Göring-Werke zu entgehen, war 1945 mehr als jeder zweite Arbeiter Ausländer (55 Prozent der knapp 16.000 Beschäftigten). Die größten Kontingente stellten „Ostarbeiter“ (1.881) und Italiener (1.850). Neben französischen, tschechischen und griechischen zivilen Zwangsarbeitern kamen bei Böhler auch Kriegsgefangene zum Arbeitseinsatz. Da der Einsatz von Kriegsgefangenen in der Rüstungsindustrie den Bestimmungen der Genfer Konvention widerspricht, ist in diesem Fall ausnahmslos von Zwangsarbeit zu sprechen.102 1945 wurden bei Böhler Kapfenberg 450 französische und 444 sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt. Böhler war auch der erste steirische Rüstungsbetrieb, dem Kriegsgefangene zugeteilt wurden. Im Juni 1940 wurden Böhler aus dem Stalag XVII A Kaisersteinbruch 350 belgische Kriegsgefangene vermittelt. Größtenteils Spezialfacharbeiter aus der belgischen Waffenindustrie, wurden sie jedoch wieder abgezogen. Die Rüstungsin­ spektion des Wehrkreises XVIII war bemüht, die Belgier zu halten bzw. als Zivilarbeiter erneut zugeteilt zu bekommen. Doch selbst ein „Vertrauensmann der Firma in Berlin“ hatte diesbezüglich keinen Erfolg.103 Eine eigene Untersuchung über den Einsatz von Zwangsar100 Peter Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der „Ostmark“. Deportation und Arbeitsverpflichtung ukrainischer OstarbeiterInnen in der Steiermark, unveröffentlichte SE-Arb., Graz 1999. Kopie im Besitz der Bibliothek des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz. 101 Siehe hierzu weiter unten die Statistik 2 . 102 Zu den rechtlichen Grundlagen des Kriegsgefangenenwesens siehe weiter unten. 103 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) 336–337, 347; Gebr. Böhler & Co. AG. Edelstahlwerke (Hrsg.), 100 Jahre Böhler Edelstahl, 137. Zu Kaisersteinbruch Speckner, In der Gewalt des Feindes (wie Anm. 9) 217–227.

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beitern bei Böhler steht bis heute aus, ebenso über die Flugmotorenwerke der Steyr-DaimlerPuch AG in Graz in der Puchstraße und in Thondorf. Über 6.000 ausländische Arbeitskräfte kamen in der Steiermark Mitte 1944 beim Bau von Luftfahrzeugen zum Einsatz. Dies waren 6,6 Prozent aller in der Steiermark eingesetzten Ausländer.104 Es ist anzunehmen, dass der Anteil der Zwangsarbeiter sehr groß war. Die Luftrüstung war auch eine der wenigen Ausnahmen beim Einsatz von KZ-Häftlingen in der steirischen Rüstung; in den verlagerten Betriebsstätten von Steyr-Daimler-Puch wurden KZ-Häftlinge in Peggau und Aflenz bei Leibnitz zur Zwangsarbeit eingesetzt.105 Ebenso unerforscht sind die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter bei den übrigen größten Rüstungsbetrieben der Steiermark, den Vereinigten Deutschen Maschinenwerken (VDM)-Luftfahrtwerken in Marburg/Maribor und den Elin-Werken in Weiz sowie der Metallbau Treiber AG in Graz.106 In der Steiermark wurde bislang lediglich eines der 23 bei Kriegsbeginn zu Rüstungsbetrieben erklärten Unternehmen107 breit erforscht. Im Zuge der Diskussion über die Auszahlung von „Entschädigungszahlungen“ vor zehn Jahren ergriff die damalige Betriebsführung der Roto Frank AG in Kalsdorf bei Graz die Initiative und bat Historiker, darunter den Autor, um wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas, insbesondere um die Auffindung noch lebender ehemaliger, bei dem Vorgängerbetrieb Lapp-Finze eingesetzter Zwangsarbeiter. In den beiden „Rüstungswerken“ der Lapp-Finze AG wurden Drahtstifte, Eisen- und Stahldraht, Eisenbahn-Oberbaustoffe, Schlösser und Beschläge etc. hergestellt.108 Von den insgesamt über alle Kriegsjahre hinweg bei der Lapp-Finze eingesetzten Arbeitskräften waren 521 „Österreicher“. 80 Arbeiter stammten aus Kroatien, 35 aus der Untersteiermark bzw. dem Übermurgebiet, 15 aus Frankreich, 18 waren „Volksdeutsche“ aus dem Banat, der Batschka und Siebenbürgen und elf aus der Bukowina. Die übrigen der 731 Arbeitskräfte stammten aus Slowenien, Serbien, Tschechien, Polen, Italien, Belgien, Litauen, den USA, der Schweiz und sogar aus China und Argentinien.109 „Ostarbeiter“ bildeten mit 89 Personen die Mehrheit unter den 104 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 258, 260. 105 Stefan Karner, Ökonomische Kriegsfolgen: Abrüstung im Betrieb. Die Rüstungskonversion bei SteyrDaimler-Puch, Werk Graz, 1945, in: Graz 1945, Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, 25 (1994), 255. Zur Zwangsarbeit bei Steyr allgemein siehe Bertrand Perz, Projekt Quarz. Steyr-Daimler-Puch und das Konzentrationslager Melk, Wien 1991, hier 75–81. Zum KZ-AL in Peggau und Aflenz bei Leibnitz siehe den Beitrag von Heimo Halbrainer in diesem Band. 106 Karner, Ökonomische Kriegsfolgen (wie Anm. 107) 253–264, hier 254–255. 107 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) 239–240. 108 Ebda., 556–560. 109 Bei neun Personen ist die Nationalität ungeklärt. Siehe Harald Knoll/Peter Ruggenthaler/Barbara Stelzl-Marx, Zwangsarbeit bei der Lapp-Finze AG, in: Karner/Ruggenthaler/Stelzl-Marx (Hrsg.), NSZwangsarbeit in der Rüstungsindustrie (wie Anm. 30) 115.

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Ausländern. Der Anteil der Frauen unter den „Ostarbeitern“ betrug über 60 Prozent. Der Altersdurchschnitt der „Ostarbeiterinnen“ lag bei Kriegsende bei 22 Jahren. Ab 1943 nahm der Anteil der Ausländer kontinuierlich zu. 1944 war bereits fast jeder zweite Stammarbeiter der Lapp-Finze zur Wehrmacht eingerückt. Neben zivilen Zwangsarbeitern kamen bei der Lapp-Finze auch 24 britische Kriegsgefangene zum Einsatz, die in einem Haus am Fabriksgelände untergebracht wurden. Die Arbeiter aus den Balkanländern wurden in einer Baracke einquartiert, die frei zugänglich war und keiner Bewachung unterlag. Die „Ostarbeiter“ wurden in drei Baracken untergebracht, Männer in einer separaten Einrichtung, Frauen in zwei Baracken. Die drei Baracken waren von Stacheldraht umgeben, als Schlafstätten dienten einfache Holzpritschen. Matratzen und Polster waren mit Stroh gefüllt. Die sanitären Anlagen, so die überlebenden Zeitzeugen übereinstimmend, waren zufriedenstellend, die Ernährung unzureichend. In guter Erinnerung haben die überlebenden Zwangsarbeiter die Kalsdorfer Bevölkerung, die immer wieder heimlich Lebensmittel vor den „Ostarbeiter“-Baracken hinterlegte. Besonders schmerzlich war für die „Ostarbeiter“ mitanzusehen, wie die französischen Zwangsarbeiter und britischen Kriegsgefangenen mit Lebensmittelpaketen vom Internationalen Roten Kreuz versorgt wurden und in der Kantine eigenes, besseres Essen erhielten. An den Wochenenden wurde es den „Ostarbeitern“ manchmal erlaubt, bei den örtlichen Bauern auszuhelfen, insbesondere bei Erntearbeiten. Unter gegebenen Umständen nahmen viele Lagerinsassen gerne Angebote dieser Art an, war es doch eine Möglichkeit, sich zusätzliche Nahrungsmittel zu sichern. Manchmal golten Bauern diese Arbeitsdienste sogar mit Geld ab. Im Betrieb waren die sowjetischen Zwangsarbeiter, sowohl Frauen als auch Männer, in erster Linie als Hilfsarbeiter eingesetzt. Die Arbeitsdisziplin wurde streng überwacht, Bestrafungen standen an der Tagesordnung. Infolge eines vermeintlichen Sabotageaktes wurde ein „Ostarbeiter“ des Lagers im Schnellverfahren in Graz hingerichtet. Sein bester Freund aus dem Lager musste der Exekution beiwohnen. Das Vorrücken der Alliierten und wohl auch Erlebnisse wie diese ließen die Lagergemeinschaft zusammenwachsen. Es kam sogar zu acht Lagerhochzeiten. Vielfach waren die sowjetischen Lagerinsassen nicht mehr bereit, sich erniedrigen zu lassen und riskierten dabei viel, wenn sie sich mutig dem Lagerführer entgegenstellten. Mit zunehmender Kriegsdauer änderten sich die Verhaltensmuster der Lagerleitung, die gegen Kriegsende einer Anbiederung an die Gefangenen gleichkamen. Die Befreiung durch ihre Landsleute, Angehörige der Roten Armee, erlebten viele „Ostarbeiterinnen“ in Kalsdorf wie zahlreiche einheimische Frauen. Sie wurden vergewaltigt. 110 Dem Kollektivvorwurf, sie hätten freiwillig für den Feind gearbeitet, sehen sie sich angesichts 110 Ebda., 115–177.

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der fehlenden Vergangenheitsbewältigung in Russland teilweise bis heute ausgesetzt. Hiergegen haben die öffentliche Diskussion und die Leistung von „Entschädigungszahlungen“ durch Deutschland und Österreich einen wertvollen Beitrag geleistet. Statistik 2: Beurteilung der Ernährungslage während des Zwangsarbeitereinsatzes in der Steiermark durch ehemalige „Ostarbeiter“ 111

Zwangsarbeit in der Landwirtschaft Zivile Zwangsarbeiter wurden im Deutschen Reich in allen Wirtschaftszweigen eingesetzt: in der Industrie, der gewerblichen Wirtschaft, in der Bau- und Elektrizitätswirtschaft und vor

111 Im Rahmen der Forschungen am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung wurden in den Jahren 1999 bis 2002 Fragebögen an ehemalige „Ostarbeiter“ versandt. Eine Auswertung der Angaben zum Gebiet des heutigen Österreich findet sich bei Harald Knoll, Statistische Auswertungen zum Zwangsarbeiter-Einsatz auf dem Gebiet des heutigen Österreich, in: Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 479–493. Der Fragebogen ist abgedruckt in: ebd., 555–560.

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allem in der Landwirtschaft, so auch in der Steiermark. Die in den 1930er-Jahren erfolgten wirtschaftlichen Sanktionen NS-Deutschlands gegen den autoritären Ständestaat Österreich hatten immense Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion der Steiermark. Die Absatzmöglichkeiten nach Deutschland wurden aus politischen Gründen unterbunden, obwohl Überschüsse aus Österreich dringend benötigt worden wären. Nach dem „Anschluss“ wurde die landwirtschaftliche Produktion stark forciert.112 Die hochgesteckten Ziele konnten dennoch nicht erfüllt werden und auch nicht über den eklatanten Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft hinwegtäuschen.113 Die Land- und Bauwirtschaft waren die ersten Wirtschaftssparten, in denen es auf dem Gebiet Österreichs bereits Anfang 1939 erste Anzeichen eines Arbeitskräftemangels gab. Über den Sommer 1939 wurde versucht, das Problem vor allem mithilfe von Saisonarbeitern aus der Slowakei, Ungarn, Jugoslawien und Italien zu lösen.114 In der Steiermark verursachte die Landflucht besonders nach dem „Anschluss“ große Probleme.115 1939 konnte der Arbeitermangel in der Landwirtschaft bereits durch den Einsatz polnischer Kriegsgefangener und Zivilarbeiter ausgeglichen werden.116 Der enorme Anstieg an zivilen Zwangsarbeitern in der Landwirtschaft in den Folgejahren lässt sich präzise aus den Statistiken zur Steiermark ablesen. Kamen in der Steiermark und Kärnten Mitte 1942 circa 26.000 Ausländer in der Landwirtschaft zum Einsatz, waren es Ende 1943 bereits über 50.000.117 1943/44 waren fast 38 Prozent aller in der Steiermark eingesetzten Arbeitskräfte Ausländer. Im August 1944 wurde ein vorläufiger Höchststand von 36.031 Personen verzeichnet.118 Damit war jede zweite ausländische Arbeitskraft in der Steiermark in der Landwirtschaft eingesetzt.119 Die ersten Kriegsgefangenen waren, wie erwähnt, bereits kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in die Steiermark gekommen. Ende 1939 vermeldete das Rüstungskommando Graz, dass der „Ersatz für Landarbeiter größtenteils durch polnische Kräfte“120 in der Land112 Günter R. Burkert-Dottolo, Das Land geprägt. Die Geschichte der steirischen Bauern und ihrer politischen Vertretung, Graz 1999, 117–120. 113 Karner, „des Reiches Südmark“ (wie Anm. 1) 478–479. 114 Freund/Perz, Zwangsarbeit von zivilen AusländerInnen, Kriegsgefangenen, KZ-Häftlingen und ungarischen Juden in Österreich (wie Anm. 10) 650–651. 115 Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) 275–278. 116 Ebda., 335. 117 Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 246, 250. 118 Im Mai 1942 waren dies 26.313 von 67.711 in der Steiermark und Kärnten in der Landwirtschaft eingesetzter ausländischer Arbeitskräfte. Folgende Daten ab November 1943 explizit zur Steiermark: 32.677 von 86.431 (37,8 %); Mai 1944: 34.682 von 91.642 (37,8 %); August 1944: 36.031 von 94.977 (37,9%). Freund/Perz, Zahlenentwicklung (wie Anm. 5) 248–261. 119 Ebda., 250–261. 120 Zit. n. Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) 335.

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wirtschaft der Steiermark gedeckt worden sei. Da der Umgang mit polnischen Arbeitskräften reichsweit noch nicht geregelt war, kam es mitunter vor, dass Polen vor Weihnachten 1939 die Lager heimlich verließen und in die Heimat abreisten, wie beispielsweise das LAA Liezen vermeldete.121 Mit der Verkündung der „Polen-Erlasse“ im März 1940 wurde solchen Begebenheiten entgegengetreten. Fortan galten strikte Richtlinien, die polnischen Zivilarbeitern, auch wenn sie freiwillig ins Deutsche Reich gekommen waren, ein Sklavendasein bescherten.122 Während die Zwangsarbeiter in der Industrie und Rüstung in eigenen Lagern größtenteils unter schrecklichsten Bedingungen untergebracht und somit von der Bevölkerung abgeschottet wurden, war die Situation am Land meist ganz anders. Dort war es freilich unmöglich, Zwangsarbeiter und andere ausländische Arbeitskräfte von der einheimischen Bevölkerung hermetisch abzuschotten. Fast jeder Bauer war froh, einen Ersatz für seine verlorenen Arbeitskräfte infolge der Einberufungen erhalten zu haben. Besonders in den katholisch dominierten Lebenswelten der Steiermark prägte sich die NS-Ideologie im Umgang mit den Zwangsarbeitern kaum in den Köpfen der Bevölkerung ein und die Bauern behandelten die ihnen zugewiesenen, zumeist slawischen Zwangsarbeiter nicht als „Untermenschen“, sondern menschlich und integrierten sie großteils in ihre Familien. Auch gemeinsame Kirchenbesuche waren üblich.123 Der geübten Praxis, „Fremdarbeiter“ in steirischer Tracht zu kleiden, versuchte Gauleiter Uiberreither einen Riegel vorzuschieben. Er erteilte Landesbauernführer Sepp Hainzl den Auftrag, dies zu unterbinden.124 Im Alltag oblag es den Ortsbauernführern zu prüfen, ob die rassistischen Reglementierungen umgesetzt wurden. Es lassen sich daher fallweise durchaus regionale Unterschiede in den Umgangsformen der NS-Staatsmacht vor Ort ausmachen. Nach den Vorgaben des Reichsnährstandes sollten Bauern und Gesinde nicht gemeinsam mit „Fremdarbeitern“ an einem Tisch sitzen. Die Praxis sah meistens anders aus. „Gemeinsam arbeiten, gemeinsam essen“, auch mit „Ostarbeitern“ und Polen war größtenteils üblich.125 Die vor allem in der Landwirtschaft eingesetzten, meist jungen Mädchen und Burschen wurden

121 Ebda. 122 Zu den „Polen-Erlassen“ siehe Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 2) 85–95. 123 Siehe hierzu v. a. die Befragungen Hunderter ehemaliger „Ostarbeiter“ bei Harald Knoll, Statistische Auswertungen zum Zwangsarbeiter-Einsatz auf dem Gebiet des heutigen Österreich, in: Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 479–493. 124 Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, unsichtbar. NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008, 190–191. Im Oktober 1942 wurde schließlich eine entsprechende Polizeiverordnung herausgegeben. AdP Graz, Nachrichtenblatt des Polizeipräsidenten in Graz, 44, 30.10.1942. Das Dokument ist abgedruckt in: „Ostarbeiter“. Weißrussische Zwangsarbeiter in Österreich (wie Anm. 14) 110–113. 125 Hierzu und im Folgenden Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14).

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vielfach in die Familien integriert und nahmen nicht selten die Rolle eines abwesenden Familienmitgliedes ein. Vielfach kamen die Ortsbauernführer ihren Pflichten nicht nach und ließen nicht den NS-rechtlichen Bestimmungen entsprechende Umgangsformen der Bauern mit ihren Zwangsarbeitern zu. Für Bauern waren die staatlich vorgegebenen Restriktionen ein zweischneidiges Schwert: einerseits galt es, übereifrige Ortsbauernführer zu besänftigen, andererseits wirkte sich ein strenger Umgang mit den Arbeitern am Hof auf die Arbeitsmoral und Arbeitsleistung aus. Aus Angst vor Denunziationen wurden freundliche Behandlung, Verhaltensmuster und die Integration in die Familie oft nicht öffentlich an den Tag gelegt, aber auch Übergriffe gegenüber Zwangsarbeitern, insbesondere gegenüber Frauen, wurden vielfach erst gar nicht bekannt.126 Wurden „Ostarbeiterinnen“ schwanger, liefen sie Gefahr, zur Abtreibung gezwungen zu werden, insbesondere wenn sie in Lagern untergebracht waren, in denen Frauen auf eine Schwangerschaft hin untersucht wurden. In Graz sind an die 500 Operationen an Zwangsarbeiterinnen, die auch zu medizinischen Experimenten herangezogen wurden, aktenkundig.127 Im Gegensatz zu zivilen Zwangsarbeitern wurden Kriegsgefangene beim Einsatz in der Landwirtschaft nicht am Hof untergebracht. Nächtigungen wurden nur in Ausnahmefällen genehmigt, wenn das Gehöft oder der Bauernhof zu weit vom Kriegsgefangenenlager entfernt war. Die Vermittlung von Kriegsgefangenen erfolgte ausschließlich über das Landesarbeitsamt, das sich im Bedarfsfall mit dem Wehrkreiskommando in Verbindung setzte. Mittels Arbeitskommandos wurden Kriegsgefangene schließlich zur täglichen Arbeit geführt. Die Besetzung der Arbeitskommandos oblag letztendlich dem Ortsbauernführer.128 Beging ein ziviler Zwangsarbeiter arbeitsrechtliche „Delikte“, etwa „Bummelei“, Fluchtversuche oder Sabotageakte, drohte eine Einweisung in ein „Arbeitserziehungslager“ (AEL).129 126 Ebda. 127 Frau Dr. Gabriele Czarnowski, die in Kürze die Ergebnisse ihrer jahrelangen Forschungen auf diesem Gebiet vorlegen wird, danke ich für diese Hinweise. Zur Thematik siehe v. a. die Arbeiten von Gabriella Hauch, Die Institutionalisierung der NS-Bevölkerungs- und Sexualpolitik gegen Ostarbeiterinnen und Polinnen: „Modell Oberdonau“?, in: Gabriella Hauch (Hrsg.), Frauen im Reichsgau Oberdonau. Geschlechtsspezifische Bruchlinien im Nationalsozialismus (Oberösterreich in der Zeit des Nationalsozialismus 5), Linz 2006, 215–226; dies., „…das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt“. Verbotener Geschlechtsverkehr mit „Anderen“ während des Nationalsozialismus, in: Hauch (Hrsg.), Frauen im Reichsgau Oberdonau , 245–270. Siehe auch Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 54–58, 125, 284–292, 328–329, 407–408, 436, 501–504. 128 Zum Einsatz britischer Kriegsgefangener in L-Kommandos in der Steiermark siehe Petschnigg, Von der Front aufs Feld (wie Anm. 12) 73–80; zu französischen Zwangsarbeitern (Zivilisten und Kriegsgefangene) auf dem Gebiet Österreichs siehe Gerald Hafner, Französische Zwangsarbeit auf dem Gebiet des heutigen Österreich von 1940 bis 1945, phil. DA, Graz 2005. 129 Hermann Rafetseder, „Ausländereinsatz“ zur Zeit des NS-Regimes am Beispiel der Stadt Linz, in: Fritz Mayrhofer/Walter Schuster (Hrsg.), Nationalsozialismus in Linz, Bd. 2, Linz 2001, 1107–1269. Zu den „Arbeitserziehungslagern“ siehe insbesondere 1193–1196.

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Die Strafe lag in der Regel bei acht Wochen Lageraufenthalt, der einer KZ-Haft gleichkam.130 In der Steiermark gab es mehrere AEL: in Eisenerz,131 Frauenberg,132 St. Dionysen, Niklasdorf133 und in Graz (Thondorf ).134 Hinzukommen jene in der Untersteiermark in Sternthal/ Strnišče bei Pettau/Ptuj, in St. Kunigund/Kungota, Pettau-Neudorf/Ptuj-Nova vas und beim Marburger Luftfahrtwerk.135 Die Insassen der AEL Niklasdorf und St. Dionysen wurden zu Arbeiten am Bau eines Kanals für das Kraftwerk Sankt Dionysen herangezogen. Beide Lager unterstanden der Staatspolizeistelle Graz.136 Das vielfach im Bewusstsein der Betroffenen gebliebene „Straflager“ in Eisenerz ist nicht mit dem KZ-Nebenlager zu verwechseln.137 Zeitzeugen bestätigen die Existenz eines AEL in Eisenerz, in dem sie mehrere Wochen zubringen mussten, ehe sie wieder an ihren „Arbeitsplatz“ zurückgebracht wurden oder anschließend ins KZ eingewiesen wurden. In schweren Krankheitsfällen dürften Patienten ins Krankenhaus nach Graz gebracht worden sein. Zumindest ein Insasse, ein griechischer Zwangsarbeiter, verstarb nach seiner Überstellung nach Graz.138 KZ-Häftlinge wurden in der Steiermark – wie im gesamten Deutschen Reich – nur fallweise in der Landwirtschaft eingesetzt. Zu erwähnen ist hier vor allem das KZ-Subkommando Lannach, in dem neun Zeuginnen Jehovas für das von der SS betriebene „Institut für Pflanzengenetik“ vor allem zur Feldarbeit eingesetzt wurden.139 130 Grundsätzlich zu den AEL siehe Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart–München 2000. 131 AdBIK, Datenbank „Ostarbeiter“; Archiv der Stadtgemeinde Judenburg, Lagerakte LiechtensteinMurdorf. 132 Das AEL in Frauenberg wurde vom „HSSPF Alpenland“ von der Kriminalpolizeistelle Graz für die Unterbringung von „Arbeitsscheuen und Trunkenen“ errichtet und im August 1939 eröffnet. Andrea Tech, Arbeitserziehungslager in Nordwestdeutschland 1940–1945, Göttingen 2003, 68. 133 Lotfi, KZ der Gestapo (wie Anm. 130) 440–441. 134 Martin Polaschek, Im Namen der Republik Österreich. Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955. Graz 1998, 161; Barbara Stelzl, Lager in Graz: Zur Unterbringung ausländischer Zivilarbeiter, Kriegsgefangener und KL-Häftlinge 1938–1945, in: Stefan Karner (Hrsg.), Graz in der NS-Zeit 1938–1945 (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Sb. 1), Graz 1998, 353–369, hier 359. 135 Stefan Karner, Arbeitsvertragsbrüche als Verletzung der Arbeitspflicht im „Dritten Reich“. Darstellung und EDV-Analyse am Beispiel des untersteirischen VDM-Luftfahrtwerkes Marburg/Maribor 1944, in: Archiv für Sozialgeschichte, 21 (1981), 269–328. 136 Martin Weinmann (Hrsg.), Das nationalsozialistische Lagersystem (CCP), 4. Aufl. Frankfurt am Main. 2001. 137 Siehe hierzu Lütgenau/ Schröck, Zwangsarbeit in der österreichischen Bauindustrie (wie Anm. 30) 84–86. 138 AdBIK, Datenbank „Ostarbeiter“, ST-JDB 18a; ebd., Datenbank „Stiftung Moskau“, PA 60.947; Stadtgemeinde Judenburg, Lagerakte Liechtenstein-Murdorf; Magistrat Graz, Sterbebuch, 1945/958. 139 Karner/Gsell/Lesiak, Schloss Lannach 1938–1949 (wie Anm. 36).

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Verfolgung und Hinrichtungen von Zwangsarbeitern Der Gestapo war der zu enge Kontakt mit den ausländischen Arbeitern von Anfang an ein Dorn im Auge. In skrupelloser Art und Weise wurden Einheimische, die Liebschaften mit Ausländern eingegangen waren, an den Pranger – und das nicht nur im übertragenen Sinn – und damit öffentlich zur Schau gestellt. Für die beteiligten Ausländer, insbesondere aus Osteuropa, konnte dies die Todesstrafe bedeuteten. Die Strafe für die „beteiligten“ Einheimischen lautete zumeist Einweisung in ein KZ. In den ersten Kriegsjahren wurden osteuropäische, vor allem polnische Zwangsarbeiter öffentlich hingerichtet. Zum Zwecke der Abschreckung mussten die in der Umgebung eingesetzten Zwangsarbeiter den Exekutionen am Galgen beiwohnen. Eine Praxis, die selbst in Gestapo-Kreisen auf Widerspruch traf und letztendlich abgeschafft wurde.140 Für die Steiermark sind mehrere öffentliche Hinrichtungen bekannt. In Großlobming wurde ein Pole gehängt, weil er eine Liebesbeziehung mit einer Einheimischen eingegangen war,141 in Niederschöckel ebenso ein Pole wegen Raub und ein weiterer Pole im Bezirk Judenburg wegen sexuellen Missbrauchs einer Minderjährigen.142 Im Grazer Landgericht ist eine Vielzahl weiterer, nicht öffentlicher Hinrichtungen von Ausländern aktenkundig. So wurde am 12. Februar 1944 ein 31-jähriger, aus Ostgalizien stammender Pole (mit Wohnandresse Bernau, Chiemsee) in Graz per Fallbeil hingerichtet, ebenso am 16. Februar 1945 ein anscheinend in Marburg/Maribor tätiger griechischer Friseur. Am 7. März 1942 war ein australischer Kriegsgefangener „wegen Widerstands“ erschossen worden.143 Im Juni 1943 wurden in Trofaiach vier Polen „wegen reichsfeindlicher Tätigkeit“ hingerichtet. Sie waren aus dem Lager geflüchtet und versuchten nach Jugoslawien zu flüchten.144 Zu einem Massaker an sechs ukrainischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern durch SS-Angehörige kam es in den letzten Kriegstagen in Ottendorf an der Rittschein.145 In Weißenegg bei Weiz wurde wenige Tage vor Kriegsende ein ukrainischer „Ostarbeiter“ von Einheiten der Deutschen Wehrmacht erschossen, weil er seine Freude über das Heranrücken der Roten Armee offen an den Tag legte.146 In Alpl wurden zwei Zwangsarbeiter auf der Flucht, vermutlich von der Feldgendarmerie, erschossen. Sie waren kurz vor dem Kriegsende aus einem Lager 140 Karner, Zwangsarbeit (wie Anm. 14) 54–56, 289. 141 AdBIK, DB „Kriegstote“ (wie Anm. 18). 142 Siehe die als Faksimile abgedruckten Dokumente bei Halbrainer/Lamprecht/Mindler, unsichtbar (wie Anm. 124) 185–189. 143 Archiv der Stadt Graz, Standesamt, Sterbebuch 1939–1945. 144 DÖW 13.114, 21.062/9. 145 Wolfram Dornik, ZwangsarbeiterInnen im Kollektiven Gedächtnis der II. Republik, phil. DA, Graz 2001, 53–54. 146 AdBIK, DB „Ostarbeiter“, ST-WEI 5; ebd., DB „Kriegstote“ (wie Anm. 18).

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in Kapfenberg ausgebrochen und geflüchtet, um sich hinter die Frontlinie zu Einheiten der Roten Armee durchzuschlagen.147

Zusammenfassung In der Steiermark kamen während des Zweiten Weltkrieges über 102.000 zivile Zwangsarbeiter zum Einsatz. Sie mussten vornehmlich in der Landwirtschaft und für die NS-Rüstungsindustrie arbeiten, wurden aber auch in allen anderen Bereichen der Kriegswirtschaft zur Zwangsarbeit eingesetzt. Die genaue Anzahl der in der Steiermark eingesetzten Kriegsgefangenen ist mangels Quellen bzw. aufgrund des Kriegsgefangenensystems im „Dritten Reich“ (Einsatz mittels Arbeitskommandos, hohe Fluktuation etc.) nicht eruierbar. KZ-Häftlinge wurden in der Steiermark verhältnismäßig selten zum Arbeitseinsatz in der Industrie herangezogen, was darin begründet sein dürfte, dass der Arbeitskräftemangel – trotz aller Unzufriedenheit der NS-Behörden – in der Steiermark, gemessen am Reichsdurchschnitt, überdurchschnittlich ausgeglichen wurde. Ohne die Ausbeutung der Zwangsarbeiter wäre es NS-Deutschland unmöglich gewesen, die Rüstungsproduktion bis zuletzt auf einem hohen Niveau und schlussendlich den Krieg so lange aufrechtzuerhalten.148 Einen wesentlichen Beitrag hierzu lieferte die steirische Rüstung, die mit ihrer Eisen- und Stahlindustrie der Mur-Mürz-Furche bis zuletzt von Kriegshandlungen auf dem Boden verschont geblieben war.149 Ähnliches gilt auch für die Landwirtschaft. Ohne den Einsatz der Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft wäre die Ernährung der steirischen Bevölkerung nicht aufrechtzuerhalten gewesen. Die Lage war zwar 1944 bereits ziemlich angespannt, zu echten Versorgungskrisen kam es – abgesehen vom kurzen Zusammenbrechen der Versorgung zu Kriegsende – allerdings nicht.150 Im Jahr 2000 beschloss die österreichische Regierung unter Bundeskanzler Wolfgang Schüssel das Gesetz „über den Fonds für freiwillige Leistungen der Republik Österreich an ehemalige Sklaven- und Zwangsarbeiter des nationalsozialistischen Regimes“, das international und besonders in Kreisen der Opfervereinigungen große Anerkennung fand. Bis 2005 wurden 131.578 Anträge auf Auszahlung einer finanziellen „Entschädigung“ in der Höhe von 1.453 bis 7.631 Euro aus aller Welt vom Versöhnungsfonds der Republik Österreich positiv

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AdBIK, DB „Kriegstote“ (wie Anm. 18). Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 2) 152. Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 1) 469–471. Ebd., 289 und 472.

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beschieden. Die meisten Anträge (42.661) wurden in der Ukraine gestellt.151 Kriegsgefangene waren gemäß dem Gesetz von einem Zahlungsempfang ausgeschlossen, unabhängig davon, ob sie gemäß den Bestimmungen der Genfer Konvention behandelt wurden oder nicht. Ein solcher einseitiger Schritt seitens Österreichs hätte in der ganzen Welt Regressansprüche ungeahnten Ausmaßes auslösen können. Spät, aber doch hat das offizielle Österreich moralische Mitverantwortung übernommen und mit einer symbolischen Geste einen wertvollen Beitrag zur Verständigung und Versöhnung geleistet.

151 Hubert Feichtlbauer, Zwangsarbeit in Österreich, Wien 2005, 322–323.

Widerstand in der Steiermark

Wolfgang Neugebauer

Zu Struktur, Stellenwert und Grössenordnung des ­s teirischen Widerstands Das Bild des Widerstandes in der Steiermark in den Jahren 1938 bis 1945 unterscheidet sich im Grund nicht wesentlich von dem des gesamtösterreichischen Widerstandes, wie ich es in meinem im Jahr 2008 erschienenen Buch gezeichnet habe.1 Das heißt, der Widerstand weist verschiedene Dimensionen auf, wie den organisierten Widerstand, differenziert in politischideologische Gruppierungen, den bewaffneten Widerstand, den Widerstand im Militär, den Widerstand von Einzelnen u. a. Bereiche, wobei unsere Sichtweise auch ein breites Spektrum von nonkonformen Verhaltensweisen einschließt. Dieses Bild des Widerstands wird im Übrigen auch in der 2008/09 in Graz gezeigten Ausstellung „Unsichtbar“ (bzw. in deren Katalog2) sichtbar. Ohne dass an dieser Stelle eine detaillierte quantitative Auswertung vorgenommen werden kann, ist aufgrund des vorliegenden Materials festzustellen, dass die Steiermark einen Schwerpunkt des österreichischen Widerstandes bildete, wobei Graz und die Obersteiermark nach Wien die Regionen mit dem stärksten Widerstand waren. Im Zuge von Kooperationsprojekten des DÖW mit der Universität Marburg zur Aufarbeitung der NS-Justiz in Österreich wurden die Verfahren des Volksgerichtshofs (VGH) und der Oberlandesgerichte (OLG) Wien und Graz gegen 6.300 WiderstandskämpferInnen, also den Großteil des organisierten politischen Widerstandes in Österreich, erfasst, statistisch und analytisch ausgewertet und in einer Mikrofiche-Edition veröffentlicht. Aus diesem durchaus repräsentativen Material geht Folgendes hervor: Bei den Tatorten in Hochverratssachen vor dem OLG stand die Steiermark mit 26 % hinter Wien (31 %) an zweiter Stelle, ebenso beim VGH mit 30 % (Wien 35 %).

1 2

Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand, Wien 2008. Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, Un/sichtbar. NS-Herrschaft: Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008.

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Quelle: Michael Lojowsky, Hochverat, in: Wolfgang Form/Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938-1945. Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und vor dem Oberlandesgericht Wien, München 2006, 154.

Quelle: Michael Lojowsky, Hochverat, in: Wolfgang Form/Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938-1945. Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und vor dem Oberlandesgericht Wien, München 2006, 213.

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301 Quelle: Michael Lojowsky, Hochverat, in: Wolfgang Form/ Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945. Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und vor dem Oberlandesgericht Wien, München 2006, 155.

Im Verhältnis zur Wohnbevölkerung rangiert die Steiermark bei den Hochverratsfällen vor dem VGH nach Salzburg (0,034 %) gleichfalls an zweiter Stelle (0,029 %); bei den VGH-Verfahren „Hochverrat als Wehrkraftzersetzung“ lag die Steiermark sowohl bei den Wohnorten (24 %) als auch bei den Tatorten mit 22 % an der Spitze. Quelle: Michael Lojowsky, Hochverat, in: Wolfgang Form/Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945. Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und vor dem Oberlandesgericht Wien, München 2006, 155.

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Bei der Verteilung der Tatorte der VGH-Hochverratsverfahren in der Steiermark ergibt sich eine nahezu vollständige Konzentration auf den Grazer Raum und die Industrieorte der Obersteiermark, womit die – von der Forschung noch weiter zu untersuchende – Korrelation zwischen Widerstand und industrieller Struktur deutlich sichtbar wird. Karl R. Stadler hat schon in den 1960er-Jahren in seinen klassischen Werken zum Widerstand herausgearbeitet,3 dass das NS-Regime entsprechend der politisch-gesellschaftlichen Struktur Österreichs zwei große potenzielle Hauptgegnergruppen vorfand: die organisierte Arbeiterbewegung, hauptsächlich in den Industriezentren im Osten Österreichs konzentriert, und das katholisch-konservativ-bürgerliche Lager. Zu Recht stellte Ernst Hanisch fest, dass die „für Österreich typische tiefe parteipolitische Fragmentierung“ auch den Widerstand prägte.4 Aufgrund der starken industriellen Ausrichtung war in der Steiermark der Arbeiterwiderstand noch dominanter als anderswo in Österreich. Bezogen auf die Zahl der österreichischen Angeklagten vor dem VGH und dem OLG habe ich für Österreich einen kommunistischen Anteil von über 60 % bzw. 75 % bezüglich des organisierten Hochverrats festgestellt;5 bei der Steiermark lag dieser Anteil nach meiner Grobschätzung aufgrund der vorhandenen Gerichtsverfahren bei über 90 %.

Sozialistischer Widerstand Bereits nach den Februarkämpfen 1934 hatten sich viele enttäuschte Sozialdemokraten der kommunistischen Bewegung angeschlossen, und darüber hinaus waren nach dem März 1938 viele ehemalige Angehörige der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP), der Revolutionären Sozialisten (RS) und der Freien Gewerkschaften infolge weitgehenden Fehlens eigener Organisationen bereit, mit KommunistInnen zusammenzuarbeiten bzw. in kommunistischen Organisationen mitzuwirken. Aus den Daten des Kooperationsprojekts Universität MarburgDÖW habe ich errechnet, dass von den 4.232 VGH- und OLG-Verurteilten mit früherer sozialdemokratischer Parteizugehörigkeit vor 1934 mindestens 2.700 WiderstandskämpferInnen zur kommunistischen Bewegung übergingen.6 Zugespitzt kann man formulieren: Die überwältigende Mehrheit der österreichischen WiderstandskämpferInnen waren ehemalige SozialdemokratInnen, die nach 1938 in kommunistischen Organisationen tätig wurden. Dieser enorme Transfer von der SP zur Kommunistischen Partei (KP) fand – wie die nachstehen3 4 5 6

Maria Szecsi/Karl Stadler, Die NS-Justiz in Österreich und ihre Opfer, Wien-München 1962; Karl R. Stadler, Österreich 1938–1945 im Spiegel der NS-Akten, Wien 1966. Ernst Hanisch, Gibt es einen spezifisch österreichischen Widerstand?, in: Peter Steinbach (Hrsg.), Widerstand. Ein Problem zwischen Theorie und Geschichte, Köln 1987, 163–176. Neugebauer, Widerstand, 68–69 Neugebauer, Widerstand, 67.

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de Aufstellung der politischen Zugehörigkeit der Hochverrats-Angeklagten zeigt – auch in der Steiermark statt. Mehr als 540 Personen mit früherer sozialdemokratischer Zugehörigkeit wurden – wie aus der nachstehenden Tabelle hervorgeht – als AktivistInnen kommunistischer Widerstandsgruppen vom VGH bzw. den OLG verurteilt.

Hochverratsdelikte (inklusive Hochverrat in Verbindung mit Wehrkraftzersetzung) von Personen mit Wohnort in der Steiermark – Gruppenzugehörigkeiten 7 Oberlandesgerichte Wien und Graz Basis: 721 wegen Hochverrats resp. Hochverrats und Wehrkraftzersetzung verurteilte Personen mit Wohnort Steiermark ohne Untersteiermark Sozialdemokratische Arbeiter­ partei und Unterorganisationen als SozialdemokratIn bekannt KPÖ und Unterorganisationen als KommunistIn bekannt

Mitgliedschaft vor 1934 443

38

Mitgliedschaft nach 1938 9 2 356 19

Volksgerichtshof Basis: 299 wegen Hochverrats resp. Hochverrats und Wehrkraftzersetzung verurteilte Personen mit Wohnort Steiermark ohne Untersteiermark Sozialdemokratische Arbeiter­ partei und Unterorganisationen KPÖ und Unterorganisationen Ehemalige Sozialdemokraten, die von der NS-Justiz in Kommunistenverfahren verurteilt wurden

Mitgliedschaft vor 1934 238 15

Mitgliedschaft nach 1938 9 (inkl. RS) 54 225

Am Beispiel des Urteils des OLG Wien gegen Josef Bauer und 18 weitere wegen kommunistischer Betätigung verurteilte Angeklagte aus dem Raum Unzmarkt-Pöls kann diese Statistik 7

Zusammengestellt von Dr.in Ursula Schwarz auf Basis der Daten des von der Volkswagen-Stiftung finanzierten Projekts „Hochverrat, Landesverrat, Wehrkraftzersetzung, Politische NS-Strafjustiz in Österreich“, das das DÖW in Kooperation mit den Instituten für Politikwissenschaften und Kriminalwissenschaften der Philipps-Universität Marburg/Lahn 1999–2005 durchgeführt hat.

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an Personen festgemacht werden: Von den 19 Angeklagten gehörten 18 vor 1934 sozialdemokratischen Organisationen an, vier von diesen waren zwischen 1934 und 1938 zur KPÖ gegangen, drei gehörten vorübergehend der NSDAP an. Der Angeklagte Franz Regner etwa, Jahrgang 1885, Sägewerksarbeiter aus Unzmarkt, war schon vor 1934 sozialdemokratischer Vize­bürgermeister und wurde 1948 SPÖ-Bürgermeister von Unzmarkt. Diese Gruppe war vom März 1938 bis zu ihrer Aufdeckung im Juni 1939 aktiv; der frühe Zeitpunkt des Urteils, 26. November 1940, und die für das NS-Regime relativ ungefährlichen Aktivitäten erklären das relativ milde Strafausmaß zwischen 1 Jahr und 2 Jahren 9 Monaten. Allerdings wurde der Erstangeklagte Josef Bauer vom VGH später zum Tode verurteilt und am 2. Februar 1945 in Graz hingerichtet, nachdem er sich nach seiner Haftentlassung der Partisanengruppe „Österreichische Freiheitsfront“ in Judenburg angeschlossen hatte.8 Über eigenständige sozialistische Widerstandsgruppen liegen hinsichtlich der Steiermark nur wenige Dokumente vor. So stand der führende steirische RS-Funktionär Andreas Stampler am 9./10. Juni 1939 vor dem VGH – es war der erste VGH-Prozess auf österreichischem Boden –, weil er gemeinsam mit Frieda Nödl und fünf weiteren RS-lerInnen für die Sozialistische Arbeiterhilfe tätig war. Er hatte von dem damaligen RS-Funktionär Erwin Scharf Unterstützungsgelder übernommen, die er u. a. an die Ehefrau des im KZ Dachau inhaftierten Hermann Lackner, des ehemaligen Schutzbund-Kommandanten von Bruck an der Mur, weitergab.9 In Hörbing existierte von 1938 bis 1940 eine illegale Gruppe der „Roten Falken“, deren Angehörige nach ihrer Festnahme aufgrund ihres jugendlichen Alters (zwischen 15 und 17 Jahren) glimpflich davonkamen.10 Die bedeutendste sozialistische Widerstandsgruppe formierte sich um den 1944 zu den jugoslawischen Partisanen geflüchteten nachmaligen Landeshauptmannstellvertreter Fritz Matzner. Seine durch Verrat aufgedeckte Mitkämpferin Dr. Julia Pongracic, eine Angestellte des Reichsstatthalters Uiberreither, wurde Anfang April 1945 gemeinsam mit anderen Häftlingen auf dem Feliferhof erschossen.11

8

DÖW 7701 (Urteil des OLG Wien, OJs 89/40); Urteil des VGH 6 H 254/44, in: Wolfgang Form/ Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller in Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung in Österreich 1938 bis 1945. Die Verfahren vor dem Volksgerichtshof und den Oberlandesgerichten Wien und Graz, Mikroficheedition, München 2004, Fiche 436. Die Informationen zu Franz Regner stammen von seiner Urenkeltochter Flavia Grossmann (E-Mail an den Verfasser, 10.1.2009). 9 DÖW 20.000/N160 (Urteil des VGH 1 H 18/39 gegen Friederike Nödl u. a.). 10 DÖW 12.300 (Urteil des Landesgerichts [LG] Graz 19 EVr 1372/41). 11 Siehe dazu das Volksgerichtsverfahren gegen den Widerstandskämpfer Johann Spiel aus Graz wegen Denunziation, DÖW 21.829/26 (Vg Graz Vr 4060/48).

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Kommunistischer Widerstand Das aus dem Urteil gegen die Gruppe Unzmarkt/Pöls ersichtliche Modell war für viele kommunistische Orts- und Betriebsgruppen charakteristisch: Schon vor 1938 bestehende Organisationen bzw. organisatorische Zusammenhänge wurden, meist von KP- oder Kommunistischer Jugendverband (KJV)-AktivistInnen, reaktiviert, SympathisantInnen durch Spendenleistung für die Rote Hilfe gewonnen und in die Organisationsarbeit einbezogen sowie gelegentlich illegale Zeitungen und Flugblätter verteilt. Diese im Grunde geringfügige Tätigkeit genügte, um das Delikt Vorbereitung zum Hochverrat zu erfüllen, das später in immer höherem Maße mit der Todesstrafe geahndet wurde. Die regionalen Zentren des Widerstandes waren neben Graz Bruck an der Mur, Kapfenberg, Leoben, Donawitz, Judenburg, Knittelfeld und Mürzzuschlag. Weitere Lokal- und Betriebsgruppen bestanden u. a. in Vordernberg, Eisenerz, Ollersdorf (ehemaliges Burgenland), Weiz, Gösting, Gratkorn, Kaindorf, Voitsberg, Kindberg, Wartberg, Veitsch, Admont, Deutschlandsberg, Buchberg/Feldbach und Oberwart (ehemaliges Burgenland)/Fürstenfeld. Allein für den Zeitraum Jänner bis Oktober 1940 wurden – laut Bericht der Gestapo Graz vom 10. Dezember 1940 – in der Obersteiermark 250 Personen festgenommen.12 Die zentralen KPÖ-Stellen in der Steiermark waren schon bald nach dem März 1938 mit Gestapospitzeln („V-Leuten“) durchsetzt. So steht etwa in einem Bericht der Gestapo Graz vom 31. Jänner 1939: „Durch das Einschalten einwandfreier und verlässlicher V-Leute sind wir über jede Tätigkeit der illegalen kommunistischen Partei informiert …“13 Besonders verhängnisvoll war die über den aus Ankara zurückgekehrten Architekten Herbert Eichholzer hergestellte Verbindung zur zentralen KPÖ-Leitung um Erwin Puschmann in Wien. Im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Gestapo-V-Mannes Kurt Koppel wurden circa 800 KP-AktivistInnen festgenommen, unter ihnen – neben Eichholzer – die später zum Tode verurteilten, führenden steirischen Funktionäre Karl Drews, Dr. Franz Weiss und Josef Neuhold. Sie hatten eine Reihe von antinationalsozialistischen Flugschriften hergestellt und verbreitet, darunter das einzige bekannte illegale Flugblatt gegen die NS-Euthanasie.14 12 DÖW 1571. 13 DÖW 1449. 14 Zu Kurt Koppels Spitzeltätigkeit siehe: Hans Schafranek, V-Leute und „Verräter“. Die Unterwanderung kommunistischer Widerstandsgruppen durch Konfidenten der Wiener Gestapo, in: IWK 36 (2000) 3, 300–349; Heimo Halbrainer, Widerstand und Verrat – Die Unterwanderung des steirischen Widerstands durch V-Leute der Gestapo, in: Margit Franz u.a. (Hrsg.), Mapping contemporary history. Zeitgeschichten im Diskurs, Wien 2008, 321–349. Zu Eichholzer siehe: Heimo Halbrainer (Hrsg.), Herbert Eichholzer 1903–1943. Architektur und Widerstand. Katalog zur Ausstellung, Graz 1998. Das Originalflugblatt lag der Anklage des Oberreichsanwaltes beim VGH 7 J 276/42 vom 25. 8. 1942 bei

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Neben den KPÖ-Organisationen entfaltete auch der KJV eine rege Tätigkeit; u. a. gab es Gruppen in Graz, Leoben, Donawitz, Knittelfeld, Judenburg, Bruck an der Mur, Kapfenberg und Mürzzuschlag. Zahlreiche Personen wurden auch wegen kommunistischer Mundpropaganda gerichtlich abgeurteilt, dazu genügte bereits der Gruß „Heil Moskau“ in einem Gasthaus.

Katholisch-konservativ-legitimistischer Widerstand Zu Verfolgung und Widerstand von Priestern und Ordensangehörigen liegt eine Fülle von Material vor, sodass auf Einzelfälle nicht eingegangen wird und hier nur die Kategorien der „Delikte“ angeführt werden können: Vergehen gegen die Feiertags- und Gottesdienstordnung, Verbreitung religiösen Schrifttums, Übertretung des Sammlungsgesetzes, Halten von antinationalsozialistischen Predigten, staatsfeindliche Äußerungen, Vergehen nach dem Heimtückegesetz, Wehrkraftzersetzung, Hochverrat, Rundfunkverbrechen und verbotener Umgang mit Kriegsgefangenen. Die 1938 einsetzenden antikatholischen Maßnahmen, insbesondere Kreuzentfernungen aus Schulen und das Vorgehen gegen einzelne Pfarrer, riefen mehrfach Proteste im katholisch-bäuerlichen Milieu hervor. Ein herausragendes Beispiel für das rigorose Vorgehen des NS-Regimes gegen missliebige Priester ist der Pfarrer der steirischen Berggemeinde St. Georgen (bei Obdach), Heinrich Dalla Rosa. Eine 1943 gegenüber dem NS-Lehrer Otto Hladnig getätigte harmlose defätistische Aussage genügte zu dem 1944 erfolgten und 1945 vollzogenen Todesurteil des VGH wegen „Wehrkraftzersetzung“. Die Gnadengesuche, u. a. von Diözesanbischof Pawlikowsky und Kardinal Innitzer, blieben erfolglos.15 Der organisierte politische Widerstand aus dem katholisch-konservativ-bürgerlichen Lager ist in der Steiermark im Vergleich etwa zu Wien oder Tirol eher gering. Wir haben sechs Widerstandsgruppen festgestellt, die alle eine mehr oder weniger ausgeprägte legitimistische Orientierung hatten. Jugendliche in Graz riefen 1938 ein „Österreichisches Freikorps“ ins Leben, das bis zur Aufdeckung im März 1939 eine Reihe antinazistischer Flugblätter verbreitete. Die Aktivisten wurden nach dem Gesetz gegen die Neubildung von Parteien vom Landgericht Graz milde bestraft (4 bis 9 Monate Haft).16 Nicht so milde kamen die Angehörigen der Salzburger Wi-

(DÖW 3222). 15 Michaela Kronthaler, Heinrich Dalla Rosa, in: Jan Mikrut (Hrsg.), Blutzeugen des Glaubens. Martyrologium des 20. Jahrhunderts Bd. 2, Wien 1999/2000, 11–23. Das VGH-Urteil findet sich unter DÖW 19.793/151. 16 DÖW 11.174 (Urteil LG Graz als Jugendschöffensenat 2 Vr 1207/39).

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derstandsgruppe „Heimatfront“ davon, die in ihrer illegalen Zeitschrift „Hör zu!“ 1940 zur Wiederherstellung eines „selbständigen österreichischen Staates“ aufrief. Der aus Graz stammende Bauingenieur und Oberleutnant der Reserve Otto Horst, ein ehemaliger Sozialdemokrat, wurde Ende 1943 zum Tode verurteilt und 1944 in München-Stadelheim hingerichtet.17 Eine sehr aktive Widerstandsgruppe mit legitimistischer Orientierung, die sich schon bald nach dem März 1938 um den Künstler Anselm Grand und den späteren OSS (Office of Strategic Services)-Agenten Alfons Laufer vor allem im Kreise Grazer Mittelschüler gebildet hatte, wurde noch im selben Jahr von der Gestapo weitgehend aufgedeckt. Fritz Holl und der Grazer Journalist Wolfgang Mayer-Gutenau errichteten mit Duldung jugoslawischer Behörden in Zagreb einen Stützpunkt, wo auch Kontakte mit französischen Abwehroffizieren gepflegt wurden. Mit Hilfe einer Konfidentin wurde Mayer-Gutenau im März 1940 an die deutsche Grenze gelockt, wobei die Begleiter Mayer-Gutenaus, zwei katholische Priester, erschossen wurden. Mayer-Gutenau und Gerhard Resseguier (Graf de Miremont) wurden vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und 1941 in Brandenburg hingerichtet; Hauptmann a. D. Alfred Mitkrois kam 1941 im KZ Dachau um.18 Die 1939 vor allem in Wien agierende legitimistische Widerstandsgruppe um Dr. Erich Thanner und Johann Müller, die in direkter Verbindung zu Otto von Habsburg stand, hatte in der Steiermark eine kleinere Gruppe um den städtischen Angestellten Franz Gaiser aus Graz aufgebaut, die 1940 von der Gestapo zerschlagen wurde. Drei Aktivisten erhielten 1944 vom VGH Zuchthausstrafen zwischen zwei und drei Jahren.19 Die wichtigste Widerstandsorganisation im katholisch-konservativen Lager nach der Zerschlagung der Gruppen Scholz, Lederer und Kastelic 1940 war die Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreichs (AFÖ). Die von dem Klagenfurter Pfarrer Anton Granig und dem ehemaligen Kärntner Landtagsabgeordneten und Sekretär der Vaterländischen Front Karl Krumpl gegründete Gruppe hatte in den Jahren 1941 bis 1943 ein weit verzweigtes Widerstandsnetz von Kärnten bis Wien aufgebaut, das auch in der Steiermark, insbesondere in Graz und Feldbach, Aktivitäten entfaltete. „Habsburgisch-separatistischer Hochverrat“ und „gewaltsame Wiederherstellung der Habsburgermonarchie“ waren laut VGH-Urteil die Ziele der Organisation. Die AFÖ wurde im Juli und August 1943 von der Gestapo zerschlagen; von 13 vor dem VGH Angeklagten wurden acht 1944 zum Tode verurteilt.20 17 18 19 20

DÖW 18.092 und 413. DÖW 19.627, 11.178, 20.000/L101, 4821, 3100. DÖW 4864, E 20.387/4, 8389. DÖW 19.793/143, 1432, 4173, 8389. Siehe dazu ausführlich: Maximilian Liebmann, Die „Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreichs“, in: Geschichte und Gegenwart 4 (1985), 255–281; ders., Planungen und Aktion der „Antifaschistischen Freiheitsbewegung Österreichs“ sowie die von Einzelnen ihrer Anhänger, in: Geschichte und Gegenwart 5 (1986), 108–138.

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Ähnliche legitimistische Zielsetzungen verfolgte eine 1943 von dem Grazer Finanzangestellten Wilhelm Ritter von Fritsch gegründete Widerstandsgruppe, die über Wehrmachtsangehörige slowenischen Partisanen Waffen und Munition zukommen ließ. Nach der Aufdeckung Ende 1943 ergingen mehrere Todesurteile des VGH und des Reichskriegsgerichts (RKG).21

Widerstand der Zeugen Jehovas und christlicher Kirchen Die in Österreich schon seit 1935/36 verbotene religiöse Kleingruppe „Zeugen Jehovas“, damaliger offizieller Name „Internationale Bibelforschervereinigung“, im NS-Jargon „Bibelforscher“ genannt, lehnte den nationalsozialistischen Staat kompromisslos ab, verweigerte den vorgeschriebenen „Deutschen Gruß“ ebenso wie den Dienst in der Hitler-Jugend. Das NS-Regime verfolgte die Zeugen Jehovas, die besonders im Industriearbeitermilieu der Steiermark verankert waren, vor allem wegen ihrer Ablehnung von Kriegsdienst und Rüstungsarbeit konsequent und brutal. Von den 157 umgekommenen österreichischen Zeugen Jehovas stammten 36 aus der Steiermark, 11 von diesen wurden als Wehr- oder Kriegsdienstverweigerer hingerichtet; 43 inhaftierte Zeugen Jehovas aus der Steiermark überlebten Gefängnis- oder KZ-Haft.22 Daran gemessen war der Widerstand der evangelischen und der altkatholischen Kirche in der Steiermark sehr gering, wiewohl auch sie – wie aus den Berichten zum Rot-Weiß-RotBuch 1946 hervorgeht – von den antikirchlichen Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes in Mitleidenschaft gezogen wurden. Derzeit liegt uns nur ein einziges Gerichtsurteil gegen einen evangelischen Priester vor, nämlich den Pastor von Voitsberg, Erwin Alfons Kock, der 1940 wegen Abhörens ausländischer Sender zu 15 Monaten Zuchthaus verurteilt wurde.23

Bewaffneter Widerstand/Partisanen Ohne eine politisch-moralische Wertung oder Hierarchisierung (etwa im Sinne von „höchster Form“ des Widerstandes) vorzunehmen, die andere Formen des Widerstandes relativieren 21 DÖW 10.998 und 1819. 22 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Zeugen Jehovas. Vergessene Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1998, 37; Thomas Walter, Standhaft bis in den Tod. Die Zeugen Jehovas und die NS-Militärgerichtsbarkeit, in: Walter Manoschek (Hrsg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis, Strafvollzug, Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003, 342–357; http://www. standhaft.at/. 23 DÖW 8388 und DÖW E 19.029b.

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oder bagatellisieren würde, kann festgestellt werden, dass der bewaffnete Widerstand in Europa Hitlerdeutschland und insbesondere dessen imperialistischer Kriegsführung am meisten schadete und letztlich – als Teil der siegreichen Anti-Hitler-Koalition – zur Niederlage des NS-Regimes beitrug. Der Partisanenkampf hatte zwar schon eine längere Tradition – das Wort Guerilla („kleiner Krieg“) leitet sich aus dem spanischen Unabhängigkeitskampf gegen Napoleon ab –, zu einer Ausweitung zum „Volkskrieg“ kam es aber erst im Laufe des Zweiten Weltkriegs, vor allem nach den deutschen Überfällen auf Jugoslawien und die Sowjetunion 1941, bzw. durch die Kriegs- und Bürgerkriegsereignisse in China und Vietnam. Ab 1942 formierten sich, meist auf Initiative von Kommunisten, auch in verschiedenen Teilen Österreichs bewaffnete Widerstandsgruppen. Die Partisanengruppe Leoben-Donawitz bildete sich 1943 aus den Überlebenden der zerschlagenen kommunistischen Widerstandsgruppen in der Obersteiermark und nannte sich – der kommunistischen Volksfrontlinie folgend – „Österreichische Freiheitsfront“ (ÖFF). Im Laufe des Jahres 1944 verübte die Gruppe mehrere Anschläge auf Bahnlinien und verlor bei Gefechten mit den sie verfolgenden NS-Kräften mehrere Kämpfer, unter ihnen der Mitbegründer der ÖFF Sylvester Heider. Zu den führenden Aktivisten zählten Max Muchitsch, Sepp Filz, Anton Wagner, Bruno Rauch und Hans Krenn – in NS-Dokumenten ist vielfach von der „Krenn-Bande“ die Rede. Insbesondere im bewaffneten Widerstand spielten Frauen eine hervorragende Rolle, indem sie – unter größtem Risiko – die Infra- und Kommunikationsstrukturen (Unterkünfte, Verpflegung, Nachschub, Informationen, Verbindungen etc.) aufbauten und aufrechterhielten. Dabei kam ihnen zugute, dass sie von den durch und durch patriarchalisch gesinnten NS-Behörden offenbar als Gegner nicht so gefährlich eingeschätzt und meist geringer bestraft wurden als Männer. Neben dem Raum Leoben war die ÖFF auch in der Gegend um Judenburg sowie in Eisenerz aktiv. In der zweiten Hälfte 1944 wurden die Gruppen, vor allem durch die Aufdeckung des zivilen Unterstützerumfelds, weitgehend aufgerieben. Einzelne Gruppen konnten sich aber trotz großer Verluste zum Teil bis 1945 behaupten und an der Befreiung mitwirken. Eine Reihe umfassender Gerichtsurteile, insbesondere gegen fahnenflüchtige Soldaten, zeugen neben zahlreichen Nachkriegsberichten von der beachtlichen Partisanentätigkeit. Die im sowjetischen Exil befindliche KPÖ-Führung bemühte sich, durch den Einsatz von kampferfahrenen und verlässlichen Funktionären, vor allem aus den Reihen der Februarund Spanienkämpfer, die meist mit dem Fallschirm abgesetzt wurden, bewaffnete Verbände aufzubauen. Vornehmlich aus ehemaligen Spanienkämpfern bestand die nach einer Ausbildung in Moskau Anfang August 1944 auf slowenischem Gebiet abgesetzte „Kampfgruppe Steiermark“, besser bekannt als „Koralmpartisanen“, die in der Gegend der Sau- und Koralpe aktiv kämpfte. Von den ursprünglich 24 Mann sind acht im Kampf gefallen, darunter einer

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der Anführer, Leo Engelmann. Im Unterschied zu den auf die Sympathie der slowenischen Bauern sich stützenden Kärntner Partisanen fiel es den mit Fallschirmen abgesetzten Kampfgruppen sehr schwer, in der Bevölkerung Fuß zu fassen, da hier die NS-Propaganda mit ihren antibolschewistischen Feindbildern stark wirksam war. Einzelne mutige Frauen und Männer halfen dennoch; so z. B. der katholisch-konservativ gesinnte Arzt Dr. Ludwig Mooslechner, Angehöriger der Cartellverband-Verbindung Carolina, der verwundete Partisanen behandelte und mit Medikamenten versorgte; er wurde auf Geheiß des NSDAP-Kreisleiters von Deutschlandsberg Dr. Hugo Suette mit 17 weiteren ZivilistInnen am 10. April 1945 auf der Hebalpe ermordet.24 Gegen einzelne Koralmpartisanen gab es nach Kriegsende – letztlich eingestellte – Gerichtsverfahren wegen angeblicher Übergriffe.25 Nur wenige Quellen liegen über eine im Raum Eibiswald/Pölfing-Brunn existierende bewaffnete Widerstandsgruppe vor. Gegen einen Angehörigen der Kampfgruppe Eibiswald Fritz Krampl wurde 1948 ein Mordprozess durchgeführt; der Schuldspruch wurde vom Obersten Gerichtshof 1950 aufgrund der Befreiungsamnestie 1945 aufgehoben. In dieser als „Brigade Kornriegel“ bezeichneten Gruppe war der nachmalige Landeshauptmann Josef Krainer, der mit der bürgerlichen Widerstandsgruppe „O5“ in Wien in Verbindung stand, führend tätig.26 Im Salzkammergut agierte – neben der im Raum Bad Ischl (Oberösterreich) aktiven Gruppe um den aus dem KZ-Außenlager Hallein geflüchteten kommunistischen Spanienkämpfer Sepp Plieseis – ab Ende April 1945 auch eine vom britischen SOE (Special Operations Executive) im Höllengebirge abgesetzte Kampfgruppe unter der Leitung des nachmaligen SPÖ-Abgeordneten Albrecht Gaiswinkler aus Bad Aussee. Beide Widerstandsgruppen traten im Zuge der Befreiung durch US-Truppen Anfang Mai 1945 politisch in Erscheinung und wirkten an der Rettung der aus ganz Europa geraubten Kunstwerke mit, die in einem Stollen des Salzbergwerks in Aussee eingelagert waren und auf Geheiß des Gauleiters von Oberdonau Eigruber vernichtet werden sollten. Auch an der Verhaftung von NS-Verbrechern wie Ernst Kaltenbrunner waren diese Widerstandskämpfer beteiligt.27 24 DÖW 13.025; siehe dazu: Herbert Fritz/Reinhard Handl/Peter Krause/Gerhard Taus, Farben tragen, Farbe bekennen. Katholische Korporierte in Widerstand und Verfolgung, Wien 1988, 261–262. 25 DÖW E 20.734/1 (Verfahren des LG Graz 15 Vr 4871/48). Siehe dazu ausführlich: Christian Fleck, Kor­almpartisanen. Über abweichende Karrieren politisch motivierter Widerstandskämpfer, Wien– Köln 1986. 26 DÖW 21.829/25 (Verfahren LG Graz 10 Vr 5217/47). Siehe dazu weiters: Willibald Ingo Holzer, Die österreichischen Bataillone im Verband der NOV I POJ. Die Kampfgruppe Avantgarde/Steiermark. Die Partisanengruppe Leoben-Donawitz, phil. Diss. Wien 1971. 27 Albrecht Gaiswinkler, Sprung in die Freiheit, Salzburg 1947; Helmut Kalss, Widerstand im Salzkammergut – Ausseerland, Altaussee 2008; Klaus Kienesberger/Michael Kienesberger/Wendelin Pressl,

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Eine größere Partisanengruppe bildete sich unter dem Kommando von Gustav Pfeiler im September 1944 im Raum Hartberg. Beim Versuch, den Hartberger NSDAP-Ortsgruppenleiter Heumann festzunehmen, kam es im April 1945 zu einem Feuergefecht, in dessen Verlauf mehrere Familienangehörige Heumanns erschossen wurden. Im Zuge von Repressionsmaßnahmen wurden im Mai 1945 zahlreiche SympathisantInnen und Familienangehörige der Partisanen in Hartberg ermordet. Auch hier gab es nach 1945 den Versuch einer strafrechtlichen Verfolgung von Widerstandskämpfern.28 Weitere bewaffnete Gruppen mit geringerem Umfang und Aktivitäten sind für Niklasdorf, St. Marein, Veitsch und Hafendorf dokumentiert. Für eine von Anselm Grand geführte Partisanengruppe im Semmering-Wechsel-Gebiet konnten noch keine Belege gefunden werden. Bei Leibnitz und Sallegg operierten offensiv größere Verbände slowenischer Partisanen.

Exilwiderstand Als integrierender Bestandteil des österreichischen Widerstandes gegen das NS-Regime ist auch die vielfältige Tätigkeit von Exilorganisationen und ExilantInnen zu verstehen. Dies gilt insbesondere für jene ÖsterreicherInnen, die nach Kriegsausbruch in besetzten europäischen Ländern Widerstandsaktivitäten setzten, in Widerstands- oder Partisanengruppen tätig wurden oder in Spanien gegen den europäischen Faschismus kämpften. Diese Qualifikation gilt ebenso für alle ÖsterreicherInnen aufseiten der alliierten Streitkräfte und Nachrichtendienste. Aufgrund eines Abkommens zwischen den kommunistischen Parteien Jugoslawiens und Österreichs wurden im Rahmen der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee (Tito-Partisanen) im Herbst 1944 fünf „Österreichische Bataillone“ in Slowenien aufgestellt, von denen zwei 1945 zum Kampfeinsatz kamen. Der Großteil der Kämpfer waren verlässliche Kader der KPÖ, Spanienkämpfer bzw. zur Roten Armee übergelaufene Deserteure, die mit Flugzeugen aus der Sowjetunion nach Slowenien gebracht wurden. Die Bataillone waren nicht als Verstärkung der Tito-Partisanen gedacht; vielmehr sollten sie nach Südösterreich vordringen und an der Befreiung Österreichs im Sinne der Moskauer Deklaration mitwirken. Nach den Wienern stellten die Steirer das stärkste Kontingent dieser Einheiten. Die politische Bedeutung der Österreichischen Bataillone in Slowenien liegt darin, dass sie die einzigen militärischen

Unsichtbar. Widerständiges im Salzkammergut, Wien 2008; Christian Topf, Auf den Spuren der Partisanen. Zeitgeschichtliche Wanderungen im Salzkammergut, Grünbach 1996; Peter Kammerstätter, Materialsammlung über die Widerstands- und Partisanenbewegung Willy Fred Freiheitsbewegung im oberen Ausseerland 1943–1945. Ein Beitrag zur Erforschung dieser Bewegung, Linz 1978. 28 DÖW 2124 und DÖW 8341.

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Einheiten unter österreichischem Kommando aufseiten der Anti-Hitler-Koalition waren. Eine längere Dauer des Krieges im Jahr 1945 hätte möglicherweise diesen bewaffneten Widerstandsgruppen ein größeres politisches und militärisches Gewicht, wie es in anderen Ländern der Fall war, gegeben.29 Nach vorsichtigen Schätzungen von Siegfried Beer kämpften rund 10.000 Österreicher in den Armeen Großbritanniens, Frankreichs, der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion. In den alliierten Armeen waren die Österreicher in der Regel über alle Truppenkörper verstreut, was die Ortung und die zahlenmäßige Erfassung dieser Rekrutierten, aber auch der Gefallenen schwierig macht. Österreicher, Exilanten wie Kriegsgefangene, wirkten auch in alliierten Kommandounternehmen mit, wo sie zum Zweck der Spionage-, Sabotage- und Partisanentätigkeit über österreichischem Gebiet abgesetzt wurden. Diese Aktivitäten können wir zahlenmäßig nicht erfassen, sondern nur anhand von Einzelfällen darlegen. So konnte sich z. B. der zur Wehrmacht eingezogene Widerstandskämpfer Alfons Laufer aus Graz in den Niederlanden nach England absetzen und kam 1945 als Fallschirmspringer mit einem Kommando des amerikanischen Kriegsgeheimdienstes OSS nach Österreich zurück.30 Nach den akribischen Forschungen des einstigen Spanienkämpfers und langjährigen DÖW-Mitarbeiters Hans Landauer kämpften im Spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 ca. 1.400 Österreicher aufseiten der Republik, vor allem in den Internationalen Brigaden, in denen auch ein Bataillon „12. Februar“ aufgestellt wurde.31 Die Österreicher, zum Großteil ehemalige Schutzbündler, die eines der stärksten Freiwilligenkontingente stellten, wollten den in Österreich im Februar 1934 verlorenen Kampf gegen den Faschismus in Spanien wieder aufnehmen. Unter den Spanienkämpfern waren mindestens 150 Steirer. Das Gros der Spanienkämpfer flüchtete nach der Niederlage im Frühjahr 1939 nach Frankreich; viele von ihnen wurden 1940 trotz Zusicherung von Straffreiheit durch die Deutsche Waffenstillstandskommission in Konzentrationslager eingewiesen.

29 Holzer, Bataillone. 30 Siegfried Beer, ÖsterreicherInnen in den westlichen Armeen und Geheimdiensten, in: Stefan Karner/ Karl Duffek (Hrsg.), Widerstand in Österreich 1938–1945, Graz–Wien 2007, 213–226; Peter LeightonLanger, X steht für unbekannt. Deutsche und Österreicher in den britischen Streitkräften im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1999; Siegwald Ganglmair, Österreicher in den alliierten Armeen, 1938 bis 1945, in: Truppendienst. Zeitschrift für Führung und Ausbildung im Bundesheer 6 (1990), 523–536; Wolfgang Muchitsch, Mit Spaten, Waffen und Worten. Die Einbindung österreichischer Flüchtlinge in die britischen Kriegsanstrengungen 1939–1945, Wien-Zürich 1992, 56–69. 31 Siehe dazu detailliert: Hans Landauer in Zusammenarbeit mit Erich Hackl, Lexikon der österreichischen Spanienkämpfer 1936–1939, Wien 2003.

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Widerstand im deutschen Militär Neben dem kommunistischen Widerstand bildeten Widerstandshandlungen von in die Wehrmacht eingezogenen Steirern die zahlenmäßig stärkste Gruppe. Die durchwegs mit der Todesstrafe geahndete Wehrdienst- und Kriegsdienstverweigerung fand zum Großteil in der ersten Phase des Krieges statt, wobei mit zwei Ausnahmen – Michael Lerpscher und Josef Ruf von der in der Nähe von Graz angesiedelten Laienbruderschaft Christkönigsgesellschaft – sämtliche Opfer Zeugen Jehovas waren. Das mit Abstand am häufigsten geahndete „Delikt“ gegen österreichische Soldaten war die Desertion oder Fahnenflucht. Deren Zahl wurde von Thomas Geldmacher mit 4.000 Urteilen auf der Basis von 400 erfassten hochgerechnet.32 Auch hier war die Bestrafung rigoros: In fast der Hälfte der Verfahren wurden Todesurteile verhängt, von denen mehr als 60 % vollstreckt wurden. Fahnenflucht von steirischen Soldaten spielte sich an allen Fronten, von Griechenland und Italien bis Norwegen und Russland ab; vielfach desertierten Soldaten bei einem Heimaturlaub und versteckten sich dann in der Umgebung. So berichten die Chroniken der Gendarmeriepostenkommanden Selzthal und Rottenmann, dass am 23. Dezember 1944 die Gendarmerie gegen fünf in einem Bunker am Mitterberg in Lassing versteckte Deserteure einschritt, wobei der Eisenbahner Max Winkler erschossen wurde; der involvierte Vater eines der Festgenommenen beging im Gemeindearrest Selbstmord.33 Eine der dramatischsten Aktionen spielte sich am Ende und nach Ende des Krieges in Norwegen ab. Im Gebirgs-Artillerie-Regiment 118 wurde bekannt, dass der Regimentskommandeur befohlen hatte, auch nach der am 8. Mai 1945 in Kraft tretenden bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht weiterzukämpfen. Eine ganze Batterie, insgesamt 60 Mann, überwiegend Österreicher, widersetzte sich diesem Befehl und versuchte unter der Führung des Obergefreiten Wilhelm Grimburg nach Schweden zu flüchten. Von „Fahnenflucht“ kann angesichts des mit der Kapitulation eingetretenen Untergang Hitlerdeutschlands und der am 27. April 1945 erfolgten Unabhängigkeitserklärung der Republik Österreich, in der alle dem Deutschen Reich geleisteten Gelöbnisse aufgehoben und die „staatsbürgerlichen Pflicht- und Treueverhältnisse“ wiederhergestellt worden waren, wohl nicht mehr gesprochen werden. Im Zuge der Flucht erschoss Grimburg zwei nazistisch gesinnte Offiziere, die sich dem Unternehmen entgegenstellen wollten. Der Großteil der Gruppe erreichte die rettende, 17 Kilometer entfernte schwedische Grenze. In Schweden half der sozialdemokratische Exilant Bruno Kreisky den Flüchtlingen, insbesondere wurde eine Auslieferung an die in Norwegen trotz Kapitulation und britischer Militärherrschaft weiter wirkende Wehrmachtsjustiz verhindert. 15 Soldaten, die auf der Flucht gefangen genom32 Thomas Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen!“ Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und das Problem, die Tatbestände auseinander zu halten, in: Manoschek (Hrsg.), NS-Militärjustiz, 133–194. 33 DÖW 13.114A.

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men worden waren, kamen am 9. Mai 1945 vor das Gericht der 6. Gebirgs-Division. Zwei Tage nach der deutschen Kapitulation, am 10. Mai 1945, wurden vier Todesurteile gegen österreichische Soldaten, darunter zwei Steirer, vollstreckt. Weitere neun Todesurteile erfolgten in Abwesenheit. Bei der Diffamierung dieser Widerstandskämpfer nach 1945 hat sich im Übrigen besonders die rechtsextreme steirische Zeitschrift „Neue Ordnung“ hervorgetan.34 Neben den Entziehungsdelikten gab es eine Fülle von „wehrkraftzersetzenden Äußerungen“, „Verratsdelikten“ und diversen Widersetzlichkeiten wie Gehorsamsverweigerung, Meuterei oder „Feigheit vor dem Feind“ sowie nicht wenige Selbstverstümmelungen, um dem Fronteinsatz zu entgehen. In der Endphase des Krieges, als die Niederlage Hitlerdeutschlands feststand, bemühten sich viele Soldaten und Offiziere der Wehrmacht, die sinnlos gewordenen, verlustreichen Kämpfe abzukürzen und die von Hitler in den Nero-Befehlen angeordneten Zerstörungen von Gebäuden, Betrieben, Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen etc. zu verhindern. In einzelnen Orten in der Steiermark, wie z. B. St. Georgen an der Stiefing, lösten sich Einheiten des Volkssturmes beim Heranrücken der Roten Armee auf; die Desertionen erreichten im April/Mai 1945 einen Höhepunkt. Bis in den Mai 1945 wurden diese Widerstandsaktivitäten durch Standgerichte von Wehrmacht, SS und NSDAP brutal zu unterdrücken versucht, wobei unzählige Soldaten und Offiziere, aber auch beteiligte Zivilisten in meist gar nicht mehr dokumentierten Schnellverfahren exekutiert wurden. Zu diesen Helden, die unter Einsatz ihres Lebens Menschen und Städte vor Schaden bewahren wollten, gehörte Oberstleutnant Josef (Ritter von) Gadolla aus Graz. Gadolla, bereits aktiver Offizier in der österreichischungarischen Monarchie, bei der Volkswehr und im österreichischen Bundesheer der Ersten Republik, versuchte Anfang April 1945 als Kampfkommandant von Gotha die Stadt kampflos den amerikanischen Streitkräften zu übergeben. Er wurde verhaftet, vom Standgericht der Wehrmachtskommandantur in Weimar zum Tode verurteilt und am 5. April 1945 erschossen. Gotha konnte dank Gadollas Verhalten am 4. April von der 3. US-Panzerdivision kampflos eingenommen werden und auch die US-Bomberverbände verschonten die Stadt.35

Überparteiliche Widerstandsgruppen Gegen Ende des Krieges formierten sich vielerorts überparteiliche Widerstandsgruppen, deren AktivistInnen aus verschiedenen politischen und sozialen Lagern stammten; die Ab34 DÖW 19.721 und 6947a. 35 Egon Ehrlich/Helga Raschke, Josef Ritter von Gadolla. Ein Grazer Offizier im militärischen Widerstand, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jahrbuch 2003, Wien 2003, 162– 191; Matthias Priestoph, Josef Ritter von Gadolla. Gedenkschrift der Residenzstadt Gotha, Gotha 1998.

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lehnung des Nationalsozialismus, die Abkürzung des Krieges, die Erkämpfung der Freiheit waren das einende Band. Da darüber meist keine Gestapo- und Gerichtsunterlagen vorhanden sind, ist man auf Nachkriegsquellen angewiesen, vielfach Gendarmeriechroniken bzw. -berichte für das Rot-Weiß-Rot-Buch, in denen der Widerstand übertrieben dargestellt wird. Solche Berichte liegen für Knittelfeld, Kainbach, Ratten, Stanz, Feldbach, Liezen, Heiligenkreuz am Waasen, Gleisdorf und Frauenthal vor. Von Aktivitäten der Gruppe O5 in der Steiermark ist nichts bekannt, doch kam ein führender Aktivist, der im Palais Auersperg in Wien versteckte Nikolaus von Maasburg, aus der Steiermark.36

Widerstand von ZwangsarbeiterInnen/Kriegsgefangenen Dass die großteils aus Ost- und Südosteuropa unter Zwang in das Deutsche Reich gebrachten FremdarbeiterInnen sowie die zur Zwangsarbeit eingesetzten Kriegsgefangenen ein erhebliches Widerstandspotenzial darstellten, war den NS-Machthabern bewusst – diesen Widerstand hatte bekanntlich der von Stauffenberg umfunktionierte Plan „Walküre“ im Visier. Für die Steiermark ist eine Fülle von Widerstandshandlungen von sogenannten FremdarbeiterInnen und Kriegsgefangenen dokumentiert; der Bogen reicht von antinazistischen Äußerungen über Sabotage bis zur Bildung bzw. Beteiligung in Widerstands- und Partisanengruppen. Die Repression erfolgte noch brutaler als gegen Einheimische: tödlicher Schusswaffengebrauch, Hinrichtungen und Morde waren keine Seltenheit. So wurden 1941 vier polnische Arbeiter aus Trofaiach vom VGH zum Tode verurteilt, weil sie sich 1940 über Jugoslawien zur polnischen Legion durchschlagen wollten.37 In einem Lagebericht des Generalstaatsanwaltes Graz, Dr. Meißner, an das Reichsjustizministerium vom 5. Juni 1944 hieß es in Bezug auf die Kriminalität von französischen Zivilarbeitern: „Ein Todesurteil ist in einem solchen Fall schon ergangen, weitere werden in Kürze folgen. Es wird dadurch gelingen, die fremde Arbeiterschaft im Zaum zu halten, selbst wenn im Arbeitseinsatz ein weiterer Import von französischen Verbrechern erfolgen sollte.“38

Widerstand und abweichendes Verhalten von Einzelnen Der nichtorganisierte Widerstand zeigte sich auch in der Steiermark in den verschiedensten Formen: Der Bogen reicht von antinazistischen Haltungen und Äußerungen, die in großer

36 DÖW 20.000/M1. 37 DÖW 21.062/9. 38 Wolfgang Form/Oliver Uthe (Hrsg.), NS-Justiz in Österreich. Lage- und Reiseberichte 1938–1945 (Schriftenreihe des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes zu Widerstand, NSVerfolgung und Nachkriegsaspekten 3), Wien 2004, 179.

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Zahl nach dem Heimtückegesetz oder als Wehrkraftzersetzung verfolgt wurden, über das verbotene Abhören ausländischer Sender bis zur Hilfeleistung für Verfolgte (Juden und Jüdinnen, FremdarbeiterInnen, Kriegsgefangene u. a.). Von den 85 als „Gerechte der Völker“ ausgezeichneten „Judenrettern“39 waren vier aus der Steiermark. Obwohl Sabotage zu den effizientesten Widerstandshandlungen zählt, waren Sabotagehandlungen eher selten. Es gab gelegentlich Aufrufe in illegalen Publikationen, doch die WiderstandskämpferInnen in den Betrieben beschädigten in der Regel nicht ihre Arbeitsgeräte oder ihre Produktion, solche Aktivitäten und Aktionen waren meist gegen Eisenbahnanlagen und Verkehrsverbindungen gerichtet. Schließlich gab es auch verschiedene Formen sogenannten „asozialen“ Verhaltens, die massenhaft abgeurteilte Pseudokriminalität (wie etwa Verstöße gegen die Kriegswirtschaftsverordnungen, also Schwarzschlachten, Nichtablieferung von bäuerlichen Produkten, „Schleichhandel“), Homosexualität, „Rassenschande“ sowie die terroristisch abgeurteilte „normale“ Kriminalität, um das ganze Ausmaß all jener Verhaltensweisen zu erfassen, die vom NS-Regime unerwünscht waren und verfolgt wurden. Die in der Forschung verwendeten Kategorien „Kollektive Systemopposition“ (Gerhard Botz) bzw. „Resistenzverhalten“ (Bayern-Projekt) sollen freilich die qualitativen Unterschiede zum Widerstand nicht einebnen.

Resümee Die hier skizzierten Widerstandsgruppen und -handlungen hatten alles in allem ein beachtliches Ausmaß und weisen die Steiermark – neben Wien – als die Hochburg des österreichischen Widerstandes aus. Der offenkundige Zusammenhang zwischen der industriellen Struktur der Steiermark, den traditionellen politischen Milieus und der Stärke des Widerstandes bedarf gewiss noch detaillierterer Arbeiten und tieferer Analysen. Ungeachtet der zahlenmäßigen Dominanz der KommunistInnen beim politisch organisierten Widerstand und beim Partisanenkampf waren Frauen und Männer aus verschiedenen politisch-weltanschaulichen Gruppierungen und in vielfältigen Formen und Aktivitäten in den Widerstand involviert. Eine Einschätzung des Stellenwerts, insbesondere in Bezug auf das Verhalten der Gesamtbevölkerung und die Stärke und Verankerung der NS-Bewegung, kann freilich nur in einer Gesamtschau erfolgen, die alle politisch-gesellschaftlichen Bereiche einbezieht. Angesichts der brutalen Repression aller Widerstandshandlungen durch das NS-Regime wäre dabei das hohe Risiko für die Einzelnen besonders zu berücksichtigen. 39 Erika Weinzierl, Zu wenig Gerechte. Österreicher und Judenverfolgung 1938–1945, 4., erweiterte Aufl., Graz–Wien–Köln 1997; Daniel Fraenkel/Sara Bender/Jakob Borut/Israel Gutman (Hrsg.), Lexikon der Gerechten unter den Völkern. Deutsche und Österreicher, Göttingen 2005.

Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in der Steiermark 1938 bis 1940

Gerald Lamprecht

Knapp ein Jahr nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich ging Anfang Jänner 1939 im Büro von Reichskommissar Josef Bürckel in Wien ein anonymes Schreiben aus der Steiermark ein, das sich mit der in Graz tatsächlich oder vermeintlich noch lebenden jüdischen Bevölkerung befasste. „Hochwohlgeborener Herr Bürckel! Erlaube mir als altes Parteimitglied eine Bitte zum Ausdruck zu bringen, die unser verehrter Bürckel erfüllen können. Nicht mir, nein der ganzen Bevölkerung wäre geholfen. In Graz befindet sich ein Kino, das Union Kino, das schon längst geräumt gehört, es ist der Zusammenkunftsort der Juden. Nirgends wird man so viele Juden ein- und ausgehen sehen als in diesem genannten Unternehmen. Ich bitte auf diesen Ort ein Augenmerk zu lenken damit man den Juden wenigstens das Handwerk legt. Geht man zur Vorstellung muss man neben solchen Elementen sitzen. Kein national denkender Mensch kann ein solches Juden Kino betreten, leider ahnen die Menschen nicht wo sie sich hinbegeben. Diese Räumung sind wir dem Führer schuldig. Ein Parteimitglied Heil Hitler unserem Führer.“1

Inwieweit dieses anonyme Denunziationsschreiben mit den weiteren Ereignissen in Graz in Verbindung gebracht werden kann, ist aufgrund der Aktenlage nicht mehr vollständig zu klären. Fest steht jedoch, dass der Geschäftsführer des Kinos, Alois Weil, bereits am 13. März 1938 als Jude verhaftet, kurz darauf nach Wien abgeschoben und schließlich im April 1942 von Wien nach Izbica im „Generalgouvernement“ deportiert und ermordet wurde.2 Zum Zeitpunkt des Schreibens wurde daher das seit 1936 mit einer Konzession ausgestattete Union-Kino vom kommissarischen Verwalter Rudolf Totter zugunsten der NSDAP und der Vermögensverkehrsstelle (VVSt.) Graz geführt und etwas später von der Reichsfilmkammer mit der Verordnung vom 13. Februar 1939 gesperrt.3 Die im Besitz von vier in Wien lebenden

1 2 3

ÖStA, AdR, Bürckel, Materie Kt. 219, Anonyme Schreiben Jänner 1939. Vgl. The Central Database of Shoah Victims’ Names. http://www.yadvashem.org/wps/portal/!ut/ p/_s.7_0_A/7_0_FL?last_name=Weil&first_name=Alois&location=&next_form=results (abgerufen 15.7.2011). Vgl. StLA, LG. f. ZRS Graz Rk 575/1948.

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Jüdinnen und Juden4 befindliche Betriebsgesellschaft wurde letztlich im September 1939 auf Antrag der Vermögensverkehrsstelle Graz aus dem Handelsregister zwangsgelöscht und in weiterer Folge die Spielbewilligung sowie die Liegenschaft „arisiert“.5 Das Schreiben selbst hatte demnach keinen unmittelbaren Bezug mehr zur Situation der jüdischen Bevölkerung in Graz, wie sie sich Anfang 1939 darstellte, und doch verdeutlicht es eindringlich einige zentrale Facetten nationalsozialistischer Judenverfolgung in der Steiermark. Dabei stehen zunächst nicht Deportation, Ermordung durch Einsatzgruppen der SS oder industrieller Massenmord in Vernichtungslagern im Zentrum, sondern die Vorgänge der Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung der Jüdinnen und Juden vor Ort sowie die Rolle, die Teile der nichtjüdischen Bevölkerung dabei einnahmen. Das Schreiben lenkt den Blick auf die Schritte von Steirerinnen und Steirern, die diese im Zeitraum vom Februar/März 1938 bis spätestens Mitte 1940, als alle Jüdinnen und Juden, die nicht in „geschützten Ehen“ lebten, die Steiermark verlassen mussten, im Rahmen der Judenverfolgung gesetzt haben. Es schärft den Blick für die Handlungsperspektiven innerhalb der steirischen Gesellschaft, die neben vereinzelter Hilfe für die verfolgten Jüdinnen und Juden über das gleichgültige Wegsehen bis zum aktiven Mitmachen reichen konnten, und legt zugleich einen zentralen Aspekt der Struktur nationalsozialistischer Herrschaft offen. Denn entgegen der bis zumindest in die 1980er-Jahre in Österreich vertretenen „Opferthese“, die zu einer Externalisierung der Verbrechen des Nationalsozialismus aus der Gesellschaft führte, muss davon ausgegangen werden, dass die Wirkmächtigkeit und Persistenz nationalsozialistischer Herrschaft bis zu ihrer militärischen Niederlage 1945 nicht allein auf den Terror von Partei, Gestapo und NS-Justiz zurückzuführen sind. Vielmehr war die Kraft der NS-Herrschaft, den Überlegungen von Alf Lüdtke folgend, einer sozialen Praxis der Menschen, der „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“, geschuldet.6 Nationalsozialistische Herrschaft ist, wie dies Götz Aly, Frank Bajohr oder Michael Wildt in ihren Arbeiten mehrfach gezeigt haben, nicht bloße Diktatur „von oben nach unten, die sich ausschließlich auf Zwang und Terror stützte und die Gesellschaft zur strikten Passivität verurteilte. Vielmehr war das ‚Dritte Reich‘ eine Zustimmungsdiktatur, die auf die ‚Volksstimmung‘ durchaus Rücksicht nahm und sich noch 1933 auf eine wachsende Konsensbereitschaft der Gesellschaft stützte.“7 Die deutsche, respektive österreichische 4 5 6 7

Von den vier Eigentümer/innen konnten zwei emigrieren und zwei wurden in Konzentrationslagern ermordet. Vgl. StLA, LG. f. ZRS Graz Rk 575/1948. Vgl. StLA, LReg. Arisierung LG 2165; StLA, LReg. Arisierung HG 3887. Zur sozialen Praxis vgl. Alf Lüdtke, Einleitung. Herrschaft als soziale Praxis, in: Alf Lüdtke (Hrsg.), Herrschaft als soziale Praxis (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 91), Göttingen 1991, 9–63. Frank Bajohr, Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen. Die deutsche Gesellschaft und die Judenverfolgung 1933–1945, in: Frank Bajohr/Dieter Pohl, Massenmord und schlechtes Gewissen.

die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung IN DER sTEIERMARK

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Gesellschaft war letztlich in vielfältiger Weise an der NS-Herrschaft beteiligt und das Zusammenwirken von Diktatur und Gesellschaft verlieh der Verfolgung der Jüdinnen und Juden eine spezifische Dynamik.8 „Zustimmungsdiktatur“ zielt in diesem Sinne auf zwei Ebenen ab, die im Bereich der Judenverfolgung zusammenwirkten. „Eine staatliche Verfolgungspolitik einerseits, der im Hintergrund zahlreiche Möglichkeiten des Zwangs und der Repression zur Verfügung standen [und] eine deutsche Gesellschaft andererseits, die aktiv am Verfolgungsprozess beteiligt war und ihre Interessen in diesen Prozess einbrachte.“9 Sichtbar wird das erneut an den Ereignissen rund um das Union-Kino, in der Grazer Annenstraße. Das Interesse von „Ariseuren“, Opportunisten und Antisemiten trifft sich mit dem staatlichen und parteilichen Interesse der Eliminierung der Jüdinnen und Juden aus dem öffentlichen und dem Wirtschaftsleben. Neben der Vorstellung der NS-Herrschaft als sozialer Praxis sind weiters noch die Idee und die Prozesse zur Schaffung der „Volksgemeinschaft“10 wie auch der tief in der österreichischen und deutschen Gesellschaft verwurzelte Antisemitismus von entscheidender Bedeutung für die Wirkmächtigkeit nationalsozialistischer Herrschaft sowohl im Bereich der Schaffung von Kohäsion nach innen wie rigoroser Gewalt nach außen. Die weit zurückreichenden Traditionslinien des Antisemitismus – zu nennen für die Steiermark sind hier exemplarisch die antisemitischen Agitationen des Leopold Stocker Verlags in den 1920er-Jahren11 – waren für einige sicherlich Antrieb ihres Tuns und für viele andere schufen sie jene notwendigen Plausibilitätsstrukturen, die es ermöglichten, die an den Jüdinnen und Juden verübten Verbrechen in einen erfahr- und bewältigbaren Sinnhorizont einzuordnen.12 Die deutsche Bevölkerung, die NS-Führung und der Holocaust, Frankfurt am Main 2008, 17. Vgl. auch: Frank Bajohr, „Arisierung“ als gesellschaftlicher Prozeß. Verhalten, Strategien und Handlungsspielräume jüdischer Eigentümer und „arischer“ Erwerber, in: Irmtrud Wojak/Peter Hayes (Hrsg.), „Arisierung“ im Nationalsozialismus. Volksgemeinschaft, Raub und Gedächtnis (Jahrbuch 2000 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust), Frankfurt am Main–New York 2000, 17. 8 Vgl. Frank Bajohr, Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen, 16. 9 Vgl. Frank Bajohr, Vom antijüdischen Konsens zum schlechten Gewissen, 17. 10 Die Relevanz des Konzepts der „Volksgemeinschaft“ für die Geschichtswissenschaft wurde in letzter Zeit vehement diskutiert. Vgl. u. a. Ian Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potential und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011) 1, 1–17; Michael Wildt, „Volksgemeinschaft“. Eine Antwort auf Ian Kershaw, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online Ausgabe, 8 (2011), 1, http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Wildt-1-2011 (abgerufen 15.7.2011). 11 Vgl. Herbert Rütgen, Der Leopold Stocker Verlag von der Verlagsgründung bis 1938, in: Dieter A. Binder/Gudrun Reitter/Herbert Rütgen, Judentum in einer antisemitischen Umwelt am Beispiel der Stadt Graz 1918–1938, Graz 1988, 173–202. 12 Zum Antisemitismus vgl. u. a. Bruce F. Pauley, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993; Herbert Rütgen, Antisemitismus in allen Lagern.

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War der Antisemitismus in seinen christlichen wie völkisch-rassistischen Traditionen zum Teil legitimatorisches Fundament, so trug die „Volksgemeinschaftsutopie“ maßgeblich zum Funktionieren des NS-Regimes bei. „Volksgemeinschaft“, der Prozess ihrer Schaffung, steht für Ein- und Ausschluss, Teilhabe und Ausgrenzung. Für „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ bedeutet es soziale Inklusion, die durch Gleichheitsversprechen, ökonomische Bereicherung und symbolische Anerkennung getragen wurde.13 Für all jene, die ihr auf Basis der Definitionen der „Nürnberger Rassengesetze“ von 1935 nicht angehören konnten oder aufgrund anderer Aspekte nicht angehören wollten, bedeutete sie diktatorischen Zwang, Geheime Staatspolizei, Konzentrationslager, Beraubung, Vertreibung und Ermordung. Und „in der Gemeinschaft vervielfachte sich die Gewalt gegenüber den Opfern und verringerte sich die Furcht des Täters, seinerseits verletzt zu werden, Schaden am eigenen Körper zu nehmen. In der kollektiven Gewalttat gegen Juden wurde die Ausgrenzung der ‚Anderen‘ auf brutale Weise exekutiert, und zugleich bildete sich in der Aktion jene Volksgemeinschaft, von der die NS-Propaganda sonst nur redete: eine Gemeinschaft, die sich nicht durch Gesetze definierte, die immer auch Grenzen hätte setzen können, sondern sich erst durch die Tat schuf.“14 So hielt beispielsweise der Gauleiter der Steiermark, Sigfried Uiberreither, gleichsam programmatisch in einer in der Grazer Tagespost veröffentlichten Rede vor politischen Leitern der Steiermark Anfang Juli 1938 in Bezug auf die Schaffung der „Volksgemeinschaft“ klar fest: „Mit derselben Energie, mit der wir die Volksgenossen an uns heranziehen und zu einer Einheit verschmelzen werden, werden wir aber anderseits das Volksfremde so lange abstoßen, bis es einfach nicht mehr da ist. Für den Volksgenossen, der ehemals politischer Gegner war, wird in diesem Staate in Zukunft immer Arbeit und Brot vorhanden sein, für den Juden dagegen nie.“15

Uiberreither machte damit sowohl den politischen Leitern des Gaues sowie den Leserinnen und Lesern der größten Tageszeitung der Steiermark das Prinzip des Ein- und Ausschlusses der „Volksgemeinschaft“ klar, und er forderte auch die aktive Teilnahme an diesem Prozess nicht nur von führenden Kadern der NSDAP, sondern von allen „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“. Eine Forderung, der nicht nur der eingangs zitierte anonym bleibende DePublizistische Dokumente zur Ersten Republik Österreich 1918–1938, Graz 1989; Hans Safrian/Hans Witek, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 2008. 13 Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, 12. 14 Michael Wildt, Gewalt als Partizipation. Der Nationalsozialismus als Ermächtigungsregime, in: Alf Lüdtke/Michael Wildt (Hrsg.), Staats-Gewalt: Ausnahmezustand und Sicherheitsregimes. Historische Perspektiven (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 27), Göttingen 2008, 238. 15 Tagespost, 3.7.1938, 2.

die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung IN DER sTEIERMARK

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nunziant nachkam, sondern auch viele weitere steirische „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“, die sich aktiv an der Verfolgung und Beraubung der jüdischen Bevölkerung beteiligten oder diese durch ihr gleichgültiges Zusehen stillschweigend akzeptierten. Die Schaffung der „Volksgemeinschaft“, und damit verbunden die Verfolgung, Beraubung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung sowie all jener, die nicht zur „Volksgemeinschaft“ gerechnet wurden (neben Juden, sogenannte „Zigeuner“, Homosexuelle, Kommunisten, Sozialisten, „Asoziale“, „lebensunwertes Leben“16), war nicht nur ein einseitiger Terrorakt von oben, sondern ein gesamtgesellschaftliches Unterfangen. Wie groß die Zahl jener war, die in der Steiermark von den Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen als „jüdisch“ im Sinne der seit dem 20. Mai 1938 in Österreich gültigen „Nürnberger Rassengesetze“17 aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen und verfolgt wurden, lässt sich aufgrund der Aktenlage nur noch schwer exakt bestimmen. Geht man zunächst von der Volkszählung des Jahres 1934 aus, so gaben in der Steiermark 2.195 Personen (1.720 in Graz) an, dass sie jüdisch seien.18 Der Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers-SS gab wiederum Bezug nehmend auf eine im Zuge des Pogroms aufgefundene Statistik in einem Bericht vom 15. November 1938 an, dass sich mit 20. März 1938 in Graz 1.599 Jüdinnen und Juden befunden hätten und die Zahl der in der restlichen Steiermark lebenden „unerheblich“ sei.19 Weiters ist diesem Bericht zu entnehmen, dass Mitte November 1938 in Graz noch 900 Jüdinnen und Juden lebten, während es am 4. November noch 1.182 gewesen waren. Nimmt man für diese Zahlen denselben Verteilungsschlüssel zwischen Stadt Graz und der restlichen Steiermark, wie im Jahr 1934, so kann angenommen werden, dass im März 1938 rund 2.040 Jüdinnen und Juden in der Steiermark lebten. Nachdem sich der SD bei diesen Angaben auf Zahlen der Kultusgemeinde gestützt hatte, ist zu vermuten, dass es sich dabei um all jene handelte, die sich zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ selbst als Jüdinnen und Juden verstanden und bei der Kultusgemeinde als solche auch gemeldet waren. Nicht erfasst sind somit all jene, die erst durch die Einführung der „Nürnberger Rassengesetze“ auf Basis rassistischer Kriterien zu „Jüdinnen“ und „Juden“ gemacht und ebenfalls verfolgt wurden. Bei dieser Gruppe kann man sich für den März 1938 letztlich nur auf vage Angaben stützen. Die ersten gesicherten Zahlen basieren auf den Ergebnissen der Volkszählung vom 17. Mai 1939, als auch in der Steiermark nach den rassistischen 16 Angelika Königseder, Volksschädlinge, in: Wolfgang Benz/Hermann Graml/Hermann Weiß (Hrsg.), Enzyklopädie des Nationalsozialismus, München 1997, 787–788. 17 Die Nürnberger Rassengesetze in Österreich, in: Tagespost, 26.5.1938, 5. 18 Vgl. Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, bearbeitet vom Bundesamt für Statistik. Textheft (Statistik des Bundesstaates Österreich 1), Wien 1935. 19 Bericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark an den SD-Führer des SS-Oberabschnitts Donau betreffend den Novemberpogrom in Graz, 15.11.1938. DÖW, 1780.

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Kriterien der Nationalsozialisten „Juden, jüdische Mischlinge 1. Grades und jüdische Mischlinge 2. Grades“ gezählt wurden.20 Für den Reichsgau Steiermark, dem nach der Auflösung des Burgenlandes die ehemaligen burgenländischen politischen Bezirke Oberwart, Güssing und Jennersdorf angegliedert worden waren, ergaben diese drei Gruppen zusammen eine Zahl von 1.261 Betroffenen. Eine weitere Auswertung dieser Volkszählung unterscheidet zwischen „Glaubensjuden“, jenen also, die sich selbst als Jüdinnen und Juden sahen, und „NichtGlaubensjuden“. Die zweite Gruppe umfasste all jene, die aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten waren, konfessionslos wurden oder zu einem anderen Glauben konvertiert waren. So waren im Mai 1939 in der Steiermark von den 1.261 „Juden“ 337 „Glaubensjuden“ und 924 Mitglieder anderer Konfessionen oder konfessionslos.21 (Siehe Tabelle 1) Tabelle 1: Volkszählung 1939: „Die Juden und jüdischen Mischlinge im Deutschen Reich und in den Reichsteilen nach der Abstammung und der Religionszugehörigkeit“: Reichsgau Steiermark.  

„Juden“ Män- Frauen ner

„Jüdische Mischlinge 1. Grades“

„Jüdische Mischlinge 2. Grades“

Gesamt

Gesamt

 

Gesamt

Män- Frauen ner

Män- Frauen ner

Insgesamt

597

247

350

357

162

195

307

157

150

„Glaubensjuden“

325

140

185

7

7

0

5

4

1

evangelische Landes- und Freikirche

36

13

23

86

35

51

77

46

31

römisch-katholische Christen

211

80

131

238

110

128

203

96

107

sonstige Religionsgemeinschaft

3

1

2

3

0

3

5

1

4

Gottgläubige

9

6

3

14

6

8

13

8

5

Glaubenslose

9

5

4

7

3

4

3

2

1

Ohne Angabe

4

2

2

2

1

1

1

0

1

20 Einführung, in: Volkszählung. Die Bevölkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939. Heft 4. Die Juden und jüdischen Mischlinge im Deutschen Reich, bearbeitet vom Statistischen Reichsamt (Statistik des Deutschen Reichs 552/4), Berlin 1944, 4/1. 21 Volkszählung. Die Bevölkerung des Deutschen Reichs nach den Ergebnissen der Volkszählung 1939, 4/8–4/9.

die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung IN DER sTEIERMARK

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In Verbindung mit den Angaben des SD, der seine Informationen auf Daten der jüdischen Gemeinde stützte, ergibt sich aus den Volkszählungsergebnissen, dass in der Steiermark ohne Berücksichtigung der ehemals burgenländischen Gebiete zumindest rund 2.900 bis 3.000 Personen auf Basis der „Nürnberger Rassengesetze“ von den Nationalsozialisten verfolgt wurden oder von Verfolgung bedroht waren.22 Wie viele davon in der Steiermark als U-Boote oder in „privilegierten Ehen“23 überleben konnten, ist nach bisherigem Forschungsstand nicht bekannt. Es kann jedoch angenommen werden, dass ihre Zahl sehr gering war. Nach neuesten Erkenntnissen steht fest, dass es aufgrund der nationalsozialistischen Verfolgung zumindest rund 750 „jüdische“ Opfer aus der Steiermark gab.24

22 Diese Schätzung ergibt sich aus den rund 2.040 Jüdinnen und Juden, die sich im März 1938 zum Judentum bekannten addiert mit all jenen, die die Volkszählung 1939 erhoben hat und die sich nicht zum Judentum bekannten, sondern durch die Nürnberger Gesetze zu Jüdinnen und Juden gemacht wurden (rund 900). Die Israelitische Kultusgemeinde Graz spricht in einem Bericht für das RotWeiß-Rot-Buch im April 1946 von 2.300 Jüdinnen und Juden, die 1938 Mitglieder der Gemeinde gewesen sind. DÖW, 1780. 23 Im Dezember 1938 wurden von Adolf Hitler die Kategorien der „privilegierten“ und „nichtprivilegierten“ Mischehe eingeführt, die jedoch nie rechtlich fixiert wurden. Dieser Unterscheidung zufolge waren all jene Jüdinnen und Juden, die in „privilegierten Mischehen“ lebten, erst zeitlich verzögert oder gar nicht von vielen Verfolgungsmaßnahmen betroffen. Als „privilegiert“ galten Paare, a.) wenn die Frau jüdisch, der Mann nichtjüdisch war, wenn sie keine oder nichtjüdische erzogene Kinder hatten, b.) wenn der Mann jüdisch, die Frau nichtjüdisch war, wenn nichtjüdisch erzogene Kinder existierten. Familien in diesen Zusammensetzungen durften in der bisherigen Wohnung verbleiben, das Vermögen konnte auf den nichtjüdischen Partner bzw. die Kinder übertragen werden. Vgl. dazu: Beate Meyer, „Jüdische Mischlinge“. Rassenpolitik und Verfolgungserfahrung 1933–1945 (Studien zur jüdischen Geschichte 6), Hamburg ²2002, 29–33. Als Beispiel einer „privilegierten“ Ehe kann jene zwischen Paula Presinger, geb. Rosenthal, und Alfred Presinger gelten. Paula Presinger, deren Eltern vor ihrer Geburt in Graz vom Judentum zum evangelischen Glauben konvertiert waren, wuchs in Graz deutschnational und christlich auf. In eben jenem Milieu bewegte sie sich bis zum „Anschluss“ im März 1938. Durch die „Nürnberger Gesetze“ bedroht, wurde das Eigentum der Familie unter Duldung der Behörden den Kindern übertragen und Paula Presinger konnte in Graz weiterleben. Nach dem Tod ihres nichtjüdischen Ehemannes verlor sie den Schutz der „privilegierten“ Mischehe und wurde im Jänner 1944 nach Theresienstadt deportiert. Paula Presinger konnte Theresienstadt im Gegensatz zu ihrer Schwerster Margit Frankau überleben. Vgl. dazu ausführlicher: Heimo Halbrainer/ Gerald Lamprecht, „So dass uns Kindern eine durchwegs christliche Umgebung geschaffen war.“ Die Heilandskirche Graz und ihre „Judenchristen“ zwischen 1880 und 1955, Graz 2010, 157–161. 24 Im Rahmen eines Projektes der Erfassung aller jüdischen Holocaustopfer der Steiermark wurde in verschiedensten Archiven und Datenbanken recherchiert und bislang eine Zahl von über 750 Opfer ausgemacht. Die Ergebnisse dieser Recherche sollen 2012 in einem eigenen Gedenkbuch im Verlag CLIO publiziert werden.

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Der „Anschluss“ – erste Schritte der Verfolgung „Österreich – nationalsozialistisch“25, „Oesterreich ist nationalsozialistisch!“26 titelten die beiden Grazer Tageszeitungen – Grazer Volksblatt und Tagespost – am 12. März 1938, als der in Graz bereits seit einigen Tagen durch Aufmärsche der Nationalsozialisten auf der Straße zumindest symbolisch vorweggenommene „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutschland zur Gewissheit geworden war. Hélène Grilliet fügte in ihren den „Anschuss“ verherrlichenden „Tagebüchern“ mit dem Titel „Eine Französin erlebt Großdeutschland“ die Situation des 12. März in Graz beschreibend hinzu: „Daß die heutige Begeisterung echt ist, muß jeder zugeben, alles geschieht wirklich spontan, überdies ist der Glaube an die Idee durch so viele Prüfungen gegangen, die Menschen haben dafür so viele Opfer, selbst das des Lebens gebracht, daß man felsenfest darauf bauen kann. Man wundert sich nur, wie viele Leute der Partei illegal zugehörten. […] Jetzt geht das ‚Bräunen‘ sehr leicht vor sich, es stellt sich heraus, daß alle ‚Schwarzen‘ nur dunkelbraun waren. Wenigstens versichern es viele.“27

Ausgeblendet bleibt bei all dieser „Anschluss“-Begeisterung, die auch in einer Vielzahl von Photographien festgehalten wurde, dass unmittelbar mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch die ersten Verfolgungsmaßnahmen gegen politische Gegner (Vertreter des austrofaschistischen Ständestaates und der politischen Linken) sowie Jüdinnen und Juden einsetzten. Nach vorgefertigten Listen wurden Menschen verhaftet und teils nach Dachau deportiert.28 Von der jüdischen Gemeinde betrafen diese Verhaftungen vor allem führende Vertreter der Kultusgemeinde, der jüdischen Vereine sowie bekannte Persönlichkeiten, wie beispielsweise den Nobelpreisträger Otto Loewi29 und Landesrabbiner David Herzog. Herzog beschrieb die „Anschluss“-Tage in seinen Lebenserinnerungen wie folgt: 25 Tagespost, 12.3.1938, 1 (Morgenblatt). 26 Grazer Volksblatt, 12.3.1938,1. 27 Hélène Grilliet (verh. Haluschka) wurde in Frankreich geboren und kam 1913 nach Graz. Hier heiratete sie und betätigte sich ab den 1930er Jahren als Schriftstellerin. 1938 publizierte sie mit Unterstützung der NSDAP das Buch „Eine Französin erlebt Großdeutschland“, in dem sie den „Anschluss“ verherrlichte und die Situation in Graz in Form von Tagebuchaufzeichnungen schilderte. Grilliet/Haluschka konnte auch nach 1945 publizieren und wurde 1959 mit dem Peter-Rosegger-Preis des Landes Steiermark ausgezeichnet. Vgl. Uwe Baur/Karin Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945. Handbuch eines literarischen Systems 1, Wien–Köln–Weimar 2008, 122–123; Hélène Grilliet, Eine Französin erlebt Großdeutschland. Tagebuchblätter vom 12. II. bis 11. IV. 1938, Graz 1938, 36–37. 28 Vgl. u. a. Stefan Karner, Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Graz–Wien–Köln 2000, 215–217, 235–236. 29 Otto Loewi war von 12. März bis zum 5. Mai inhaftiert. Vgl. u. a. Gerald Lamprecht, Causa Oser, in: Albert Kirchengast, Weiterbauen – Für eine besondere Baukultur, Graz 2010, 82–89; Elfriede Schmidt (Hrsg.), Nobelpreisträger Otto Loewi … Leben in zwei Welten, Graz 1993, 16,

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„Was ich jetzt zu schildern mich anschicke, gehört wohl zu den düstersten und traurigsten Kapiteln der Weltgeschichte, und daß ich einmal ein solches Kapitel werde schreiben müssen, hätte ich wohl nie geahnt. […] Als ich am Samstag gegen halb zehn Uhr vormittags in den Tempel ging, erkannte ich die Stadt nicht mehr. Von jedem Hause flatterten die Hakenkreuzfahnen, ja jedes Fenster war bespikt mit Hakenkreuzfähnchen und ich fragte mich und frage mich noch heute, wie kann man in so kurzer Zeit so viele Fahnen anfertigen? […] Was aber das Interessanteste an der ganzen Sache war, ist, daß die meisten Hitler darum so begeistert aufnahmen, weil er antisemitisch gewesen ist und weil man dachte, es ist wieder eine ‚Gaudi‘, den Juden etwas auszuwischen. […] Im Gotteshause war eine furchtbar gedrückte Stimmung. Im großen Tempel waren in der Nacht die meisten der wundervollen, von den bedeutendsten Künstlern geschaffenen Fenster, wahre Perlen der Künste, mit mehreren Kilo schweren Steinen eingeworfen worden. Es war gefährlich geworden, dort zu beten. Denn jeder Halunke, der vorbeikam, holte sich von einem Steinhaufen, den man, wie ich jetzt weiß, schon einige Tage vorher vor den Tempel schaffte, nicht um die Straße auszubessern, sondern um die Tempelfenster einzuschlagen und das Beten dort unmöglich zu machen, einen Stein. Das erreichten die Verbrecher, und wir mußten in unser kleineres, namentlich im Winter benütztes Gotteshaus uns zurückziehen. Aber auch dort waren die Scheiben nicht lange ganz geblieben. Wir verklebten die Fenster eben so gut es ging. Aber da konnte ich wieder einmal sehen, wie weit die Verrohung ging. Die meisten Vorbeigehenden lachten und freuten sich über die ausgehöhlten Fenster, über die zertrümmerten Eisengitter, über die mit den unflätigsten Beschimpfungen und Schweinereien besudelten Mauern. Nur selten sah ich einen Bürger verbeikommen, der still an diesen schmachvollen Zerstörungen vorbeiging. Das hat mir das Herz gebrochen.“30

Auch wenn Landesrabbiner David Herzog in seinen Schilderungen die offene Gewalt gegen jüdische Einrichtungen und einzelne Personen anspricht, so ist im Vergleich zu den Ereignissen in anderen Bundesländern festzuhalten, dass der „Anschluss“ in der Steiermark, und hier vor allem in Graz, nicht von einem „Anschlusspogrom“, wie beispielsweise in Wien31, begleitet wurde. Diese relative physische Gewaltlosigkeit gegen einzelne Personen spricht auch Ludwig Biró in seiner noch während der Emigration verfassten Autobiographie an, wenn er festhält:

30 David Herzog, Erinnerungen eines Rabbiners 1932–1940. Auf Grundlage einer Diplomarbeit von Andreas Schweiger herausgegeben von Walter Höflechner (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 32), Graz ²1997, 11–12. 31 Vgl. Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme, Herrschaftssicherung, Radikalisierung | 1938/39, Wien 2008, 126–156.

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„Um die Juden legte sich, wie um Aussätzige im Mittelalter, eine undurchdringliche Sphäre der Abstoßung, in allen Variationen, vom unbeherrschten, tödlichen Hass bis zum ohnmächtigen angstverzerrten Mitleid. Zu direkten Attacken des Publikums kam es selten, selbst die uniformierten Horden bewahrten eine ‚technische Disziplin‘, die dem wohlbegründeten Bewusstsein entsprang, dass die ‚Lösung der Judenfrage‘ in bewährten Händen lag, mit deren Sachkenntnis und Gründlichkeit man nicht zu konkurrieren brauchte. Man wollte die Rache kalt, eiskalt genießen, und in dieser Haltung des Nazipublikums lag eine Drohung und ein Schrecken, die fürchterlicher waren, als es noch so wilde spontane Ausschreitungen hätten sein können. […] Vorerst beschränkte sich die Aktion gegen die Juden auf ihre wirtschaftliche Vernichtung, wobei man darauf Wert legte, die wirtschaftlichen Objekte möglichst unversehrt und unter dem Anschein einer gewissen Legalität in Parteihände überzuführen. Die Zeit der ‚Arisierung‘ war gekommen und entfesselte einen wilden Wettbewerb unter den hungrigen Parteigenossen älterer und jüngerer Prägung; die Korruption blühte in einem bis dahin unvorstellbaren Maße. Die jüdischen Geschäfte und Unternehmungen waren die erste, lang versprochene und heiß ersehnte Beute und Hitler selbst hätte den Aasgeiern ihr Opfer nicht entreißen können. Da wurden alle Hemmungen fallen gelassen, alles Schamgefühl war erstorben. […] Man hatte schon eine ganze Reihe von Juden verhaftet, alle, die irgendwie im jüdischen öffentlichen Leben eine Rolle spielten; in Ermangelung besserer Informationen sperrte man alle Juden ein, die im polizeilichen Vereinsregister als Funktionäre aufschienen. Neben dem Präsidenten und dem Kassier der B‘nai B‘rith Loge wanderten so auch die Funktionäre der Chevra Kaddischa (der Beerdigungsgesellschaft), der zionistischen Organisationen, der Wohltätigkeitsvereine, aber auch des Sportklubs und des Schachklubs ins Polizeigefängnis, wo sie zusammen in einem adaptierten Keller des alten Gemäuers, das einen Teil des ‚Paulustores‘ bildete, untergebracht waren.“32

Auch wenn es in der physischen Gewaltausübung gegenüber der jüdischen Bevölkerung in der Steiermark im Vergleich zu Wien im Zuge das „Anschlusses“ zu einer gewissen Form der Zurückhaltung gekommen war, so darf doch nicht aus dem Blick geraten, dass die steirischen Nationalsozialisten, unterstützt von vielen „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“, mit dem März 1938 und zum Teil auch bereits zuvor alles daransetzten, die gesamte jüdische Bevölkerung so rasch wie möglich zu berauben und anschließend mittellos zu vertreiben. Davon zeugen neben den ersten Verfolgungsmaßnahmen auch die öffentliche Berichterstattung in den Grazer Tageszeitungen. Denn während in den Zeiten vor dem „Anschluss“ „das Judentum“ eine marginale Rolle in der Tagespost und dem Volksblatt einnahm, gab es ab dem März 1938 kaum einen Tag, an dem neben den Jubelmeldungen zur „neuen Zeit“ nicht über 32 Ludwig Biró, Die erste Hälfte meines Lebens. Erinnerungen eines Grazer jüdischen Rechtsanwaltes von 1900–1940. Herausgegeben von Christian Fleck, Graz 1998, 140, 141–142, 165.

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die nationalsozialistischen Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung berichtet wurde. So schrieb beispielsweise der Geschäftsführer des Landesfremdenverkehrsverbandes, der Historiker und Autor von touristischen Schriften und Zeitungskommentaren, Robert Baravalle33, in einem Leitartikel in der Tagespost im Juli 1938 mit dem Titel: „Juden hinaus“: „Obwohl das Deutsche Reich in seiner Großmut die Juden geradezu mit Samthandschuhen angefaßt hat, versucht die jüdische Journaille des Auslandes immer wieder den Frieden und die Aufbauarbeit des Reiches zu stören. […] Die Langmut des deutschen Volkes gegen diese Rasse ist nicht unerschöpflich. Sie könnte sich einmal, wenn die jüdische gemeine Hetze so weitergeht, entladen. Wir hören mit Vergnügen, daß die Juden Wien in Scharen verlassen, und wir werden uns freuen, dies auch vom ganzen Reich zu hören. Aber Ruhe wird es auf der Welt nicht früher geben, ehe der Ruf ‚Juden hinaus!‘ nicht in jedem Land der Erde erschallt, und man diese ganze Rasse auf irgend einer sicher bewachten Insel endgültig untergebracht und ihr Gift für alle Völker der Welt durch Isolierung unschädlich gemacht hat. Dann wird für die Erde das wahrhaft goldene Zeitalter anbrechen.“ 34

Der Text von Robert Baravalle steht hier stellvertretend für eine Vielzahl weiterer Kommentare und Berichte zur sogenannten „Judenfrage“, die alle das Feld aufbereiteten für das, was in den folgenden Jahren noch kommen sollte, und für das, was vor Ort in aller Öffentlichkeit und unter Beobachtung vieler geschah. Die propagierte „Lösung der Judenfrage“ betraf Jüdinnen und Juden dabei auf zumindest zwei Ebenen. Zunächst auf einer gemeinschaftlichen, indem ab dem März 1938 die religiöse, rituelle und kulturelle Infrastruktur der jüdischen Gemeinde und Vereine vollkommen zerstört oder in ihrer Funktion pervertiert wurde. Weiters auf einer individuellen, indem den einzelnen Menschen systematisch ihre Lebensgrundlage entzogen, diese zunächst aus der Gesellschaft und dem Deutschen Reich vertrieben oder schließlich deportiert wurden.

Entzug der Lebensgrundlage – der „soziale Tod“ Ziel der Nationalsozialisten war es, die jüdische Bevölkerung vollständig aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen, aus der Gesellschaft zu eliminieren, letztlich ihren „sozialen Tod“ 35 herbeizuführen. Dies erfolgte durch eine Vielzahl an Verboten und Repressionen, die zum einen alltägliche, kulturelle und religiöse Belange (Schächtverbot, Ausschluss aus Kulturveranstal-

33 Zu Baravalle: Uwe Baur/Karin Gradwohl-Schlacher, Literatur in Österreich 1938–1945, 71–74; StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 612/1950. 34 Robert Baravalle, „Juden hinaus“, in: Tagespost, 23.7.1938, 2. 35 Vgl. dazu Marion Kaplan, Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland, Berlin 2001, 14.

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tungen, Bäderverbot, Schulverbot36, Ausschluss aus der Universität37) und zum anderen die wirtschaftliche Lebensgrundlage (Berufsverbote38, Kündigungen39, „Arisierungen“) betrafen. Auch beinhaltete diese Ebene die Kündigung von Mietverträgen und damit den Rauswurf aus den Wohnungen; eine Maßnahme, die neben all den anderen nicht selten vor allem ältere Menschen völlig verzweifeln ließ. So schrieb beispielsweise der 1875 geborene Jakob Löwi im Jänner 1939 an Gauleiter Bürckel nach Wien: „Ich bin 64 Jahre alt, nach Graz zuständig und habe vom ersten bis zum letzten Tag Kriegsdienst an der Front geleistet, wofür ich auch ausgezeichnet wurde. […] Meine Frau ist röm. katholisch, ich jedoch mosaisch. Wir haben keine Kinder und sind 20 Jahre verehelicht. Seit einem Jahr ist meine Frau ununterbrochen krank und arbeitsunfähig sowie pflegebedürftig. […] In letzter Zeit musste ich meinen Gewerbeschein ablegen, sodass ich seit 2 Monaten ohne jedem Einkommen bin. Seit 30 Jahren bewohne ich im Haus Kindermanngasse 12/III in Graz eine bescheidene Zimmer und Küchenwohnung, die ich nun räumen soll, weil jemand meine Wohnung beim Wohnungsamte angefordert hat. Dies würde meinen vollständigen Untergang bedeuten, denn ich habe keine Mittel um die Kosten einer Uebersiedlung bestreiten zu können. […] Bitte helfen Sie mir, dass uns alten und kranken Leuten, zumindest die kleine Wohnung gewahrt bleibt, die wir nicht verlassen können.“40

36 Die jüdischen Schülerinnen und Schüler konnten zunächst noch das Schuljahr beenden. Im neuen Schuljahr wurden sie in zwei Sonderklassen zusammengezogen und in der israelitischen Volksschule zusammengefasst. Nach der Zerstörung der Synagoge und der Brandschatzung des Amts- und Schulgebäudes konnten auch diese Klassen nicht mehr weitergeführt werden. Vgl. dazu u. a. Tätigkeitsbericht vorgetragen von Herrn Oberbürgermeister Dr. Kaspar in der 1. ordentlichen Sitzung der Ratsherren am 10. Mai 1939, 22; Josepf Scheipl, Das Schulwesen in Graz im Jahr 1938, in: Universität – Bildung – Humanität. Festschrift für Alois Eder zum 70. Geburtstag, Wien 1989, 142. 37 Zur Situation an den Universitäten vergleiche die Texte von Christian Fleck und Alois Kernbauer in diesem Band. 38 Unmittelbar mit der Machtübernahme kam es durch die Verordnung zum Berufsbeamtentum zum Ausschluss von Jüdinnen und Juden aus verschiedenen Berufsgruppen. So beispielsweise aus dem Gerichtswesen oder durch Ausschluss aus der Rechtsanwaltskammer. So berichtete die Grazer Tagespost am 1. Jänner 1939, dass „27 Juden und Mischlinge aus der Anwaltsliste“ gelöscht worden seien. Vgl. Reinigung des steirischen Anwaltsstandes, in: Tagespost, 1.1.1939, 1. 39 Der Plan der Nationalsozialisten bestand darin, alle Juden, „Mischlinge I. Grades“, Personen, die mit Juden verheiratet waren, und Personen, „deren Verhalten während der Verbotszeit ein derartiges war, daß ihr weiteres Verbleiben in einer nationalsozialistischen Betriebsgemeinschaft unhaltbar erscheint“, mit 30. Juni 1938 auch aus den privatwirtschaftlichen Betrieben zu entfernen. Dieser Plan wurde jedoch aufgrund eines Einspruchs der Gewerbetreibenden wieder fallen gelassen. Vgl. ÖStA, AdR, 04, Bürckel-Materien 2160/1 Abbau des nichtarischen Personals in der Privatwirtschaft. 40 Jakob Löwi an Gauleiter Bürckel, 20.1.1939. ÖStA, AdR, Bürckel-Materien Ordner 394 Kt. 240. Unbearbeitete Gesuche von Juden L-Z.

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Auch wenn Jakob Löwi den Weg der Intervention und des Hilfsgesuchs bei Gauleiter Josef Bürckel in Wien einschlug, so half dies nichts. Sein Ansuchen wurde erst gar nicht bearbeitet und er selbst musste gemeinsam mit seiner Frau Aloisia die Wohnung im August 1939 verlassen. Im Meldezettel werden sie mit 15.8.1939 als nach Wien abgemeldet geführt.41 Drei Jahre später wurde Jakob Löwi am 27. August 1942 von der Seegasse 9 in Wien nach Theresienstadt deportiert. Er überlebte das Lager nicht.42 Zuständig für die Überwachung der Wohnungsvergabe von so genannten „Juden­ wohnungen“43 an nichtjüdische Mieter waren die Zweigstelle der „Wohnwirtschaftsstelle in der Ostmark“ in der Grazer Salzamtsgasse sowie das neu gegründete Wohnungsamt in der Sackstraße. Über die Vertreibung der Jüdinnen und Juden aus ihren Wohnungen berichtete Oberbürgermeister Dr. Julius Kaspar im Mai 1939 den Grazer Ratsherren: „Die Judenwohnungen sind zum Teil bereits geräumt und die Juden in Sammelwohnungen untergebracht. Wir hoffen aber noch, auf diesem Wege 200 weitere Wohnungen erfassen zu können.“44 Oberbürgermeister Kaspar legt somit auch in Bezug auf die Wohnungen der Jüdinnen und Juden die Bedeutung von Raub und Vertreibung für die Schaffung der „Volksgemeinschaft“ offen, ist doch ein zentrales Element des „Volksgemeinschaftsversprechens“ jenes von Wohlstand und sozialem Frieden für all jene, die ihr angehören können.45 Ein Versprechen, das auch durch den umfassenden Raubzug am Eigentum der Jüdinnen und Juden und der „Umverteilung“ des Eigentums an „Arier“ in die Tat umgesetzt werden sollte.

Der Raub des Eigentums Die „Arisierung“ als Prozess der umfassenden Beraubung und „Umverteilung“ des Eigentums von Jüdinnen und Juden verweist auch auf die gesamtgesellschaftliche Dimension des Verfolgungsprozesses. Dies nicht nur durch ihre Größenordnung, sondern vor allem durch die vielfältigen Formen der Beteiligung und Selbstermächtigung der „Volksgenossinnen“ und 41 Meldezettel Jakob Löwi, Meldeamt der Stadt Graz. 42 Angaben aus der Namentlichen Erfassung der österreichischen Holocaustopfer, DÖW. 43 Siehe dazu auch den Formularvordruck über die Vergabe von Wohnungen. Stadtarchiv Graz (StAG), Wohnwirtschaftsstelle (Schlichtungsstelle). 44 Tätigkeitsbericht vorgetragen von Herrn Oberbürgermeister Dr. Kaspar in der 1. ordentlichen Sitzung der Ratsherren am 10. Mai 1939, 36–37. 45 Zur „Arisierung“ von Wohnungen und Mietrechten vgl. u. a.: Eva Blimlinger, Innerhalb von einem Monat muss dann die Wohnung leer sein … Die Arisierung von Mietwohnungen in Wien, in: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Hrsg.), Ausgeschlossen und entrechtet (Raub und Rückgabe. Österreich von 1938 bis heute 4), Wien 2006, 185–201.

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„Volksgenossen“. Denn an der „Arisierung“ waren neben den Opfern nicht nur die „Arisieure“, sondern eine Vielzahl weiterer Protagonisten aktiv oder zumindest als indirekte Nutznießer beteiligt; kommissarische Verwalter, Gutachter, Abwickler, Rechtsanwälte, geschäftliche Konkurrenten, Partei und Staat, um nur einige zu nennen. Sie alle hatten in irgendeiner Form Interesse am Verschwinden und an der Beraubung der Jüdinnen und Juden und trugen damit aktiv zum Funktionieren der „Arisierung“ bei. Die „Arisierung“ selbst setzte bereits unmittelbar mit dem „Anschluss“ ein, als neben Automobilen, Geschäfte und Wohnungen von unterschiedlichen Parteiformationen oder selbsternannten kommissarischen Verwaltern beschlagnahmt wurden. So berichtete beispielsweise Richard Brücklmeier im Volksgerichtsverfahren gegen den „Ariseur“ seines Betriebes in Graz, Max Gerhold, über die ersten Schritte der Beraubung: „Ich bin von allen Seiten unter furchtbaren Druck gestanden. Das Geschäft in der Murgasse ist von der SA bewacht worden, es durfte kein Kunde eintreten, die Scheiben wurden mit Propagandamaterial überklebt und dadurch Judenhetze betrieben. Ich habe durch Vorsprache bei der Pol.[izei] Direktion erreicht, dass diese Posten vor dem Geschäft in der Murgasse abgezogen werden. An einem Tag, wann das genau war, weiss ich nicht, ist Herr Ranner mit 4 oder 5 SA-Männern, überfallsartig in der Prankergasse in unserem Betrieb erschienen. Darunter auch Herr Goriupp. Herr Ranner hat Herrn Goriupp als kommissarischen Verwalter vorgestellt und mussten Goriupp die Schlüssel übergeben werden. Herr Goriupp hat mich mit ‚Du‘ und ‚Jude‘ angesprochen. Er hat auch dritten Personen gegenüber gesagt, ‚Der Jud muss hinaus‘.“46

Um allen Passanten klarzumachen, dass der Einkauf in den „jüdischen“ Geschäften nicht erlaubt ist – eine zentrale Strategie, um den wirtschaftlichen Ruin der Jüdinnen und Juden herbeizuführen –, wurden die Auslagen der Geschäfte mit Plakaten versehen, auf denen zunächst „Dieses Geschäft steht unter kommissarischer Leitung“ und später „Jüdisches Geschäft“ stand.47 Alle nichtjüdischen Geschäfte brachten an ihrem Eingang wiederum die Plakette „Arisches Geschäft“ an. Diese konnten bei der Nationalsozialistischen Handels- und Gewerbeorganisation gegen Vorlage des Ahnennachweises besorgt werden.48 Weiters wurden kleine vorgedruckte Handzettel in Umlauf gebracht, die vor dem geschäftlichen Verkehr mit Juden warnten.

46 Zeugeneinvernahme Richard Brücklmeier, 28.10.1946. StLA, LG f. ZRS Graz Vr 2725/1946. 47 Max Gerhold an Gauwirtschaftsführung der NSDAP, am 6. Juni 1938. StLA, LReg. Arisierung Komm. 40 48 Vgl. An alle arischen Firmen!, in: Tagespost, 10.4.1938, 14; An alle arischen Firmen!, in: Tagespost, 23.4.1938, 3.

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„Deutscher Volksgenosse und Berufskamerad! Verkehr mit Juden: Berufskameraden die Parteigenossen sind, ist es unbedingt verboten, mit Juden einen Geschäftsverkehr irgendwelcher Art zu pflegen. Aber auch alle anderen arischen Geschäftsleute sollen unbedingt den Geschäftsverkehr mit Juden aufgeben. Einkauf bei Juden ist auch für jeden Geschäftsmann Verrat an der Volksgemeinschaft. Der Berufskamerad, der von seiner Kunde verlangt nicht bei Juden einzukaufen, muß aber selbst in erster Linie diesem Grundsatz nachkommen und jeden Verkehr mit Juden aufgeben. Jede Unterstützung der Tarnung jüdischer Gewerbebetriebe durch einen deutschen Staatsangehörigen wird mit Zuchthaus nicht unter einem Jahr bestraft. Ebenso wird bestraft, wer für einen Juden ein Rechtsgeschäft schließt und dabei unter Irreführung des anderen Teiles die Tatsache, daß er für einen Juden tätig ist, verschweigt.“49

Diese erste Phase des Vermögensentzuges und der Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz der Jüdinnen und Juden wird als „wilde Arisierung“ bezeichnet. Dabei übernahm in Graz SATruppführer Richard Ranner in Absprache mit der Kaufmannschaft Graz und dem Gauwirtschaftsamt als sogenannter Beauftragter der kommissarischen Verwalter die Aufgabe in den einzelnen jüdischen Betrieben kommissarische Verwalter einzuführen. Dies geschah in der Regel derart, dass Ranner in Begleitung des jeweiligen Kommissars und weiterer Personen das Geschäft aufsuchte, die Inhaber dazu zwang, die Schlüssel und alle Wertgegenstände sowie Kassen zu übergeben und sie anschließend des Geschäftes verwies. Häufig geschah dies auch unter massiver Gewaltandrohung und -anwendung.50 Nachdem die Ereignisse der ersten Wochen den nationalsozialistischen Machthabern – vor allem in Wien – jedoch zunehmend zu entgleiten begannen und diese um die öffentliche Sicherheit im Hinblick auf die bevorstehende „Volksabstimmung“ vom 10. April besorgt waren sowie aufgrund der Ausschreitungen ein Kippen des zunächst euphorischen Rückhaltes in der Bevölkerung befürchteten, wurden die gewaltsamen Übergriffe gegen die jüdische Bevölkerung per öffentlicher Strafandrohung unterbunden und zudem versucht, den offenen Raub 49 Hervorhebungen im Original. StLA, LG f. ZRS Graz Vr 2725/1946. 50 Richard Ranner, geb. 4.8.1886, war in Graz Schneidermeister und Geschäftsmann. Seit 1930 Mitglied der NSDAP und seit 1931 Mitglied der SA. In seinem Geschäft in der Neutorgasse trafen sich vor 1933 die lokalen NSDAP-Mitglieder. Ranner wurde Ende 1933 aufgrund seiner Parteitätigkeit verhaftet, floh 1934 nach Jugoslawien und später nach Berlin, wo er Mitglied der Österreichischen Legion wurde. Sein Geschäft wurde im Ständestaat geschlossen. 1938 kehrte Ranner nach Graz zurück, war einige Zeit für die Einführung der kommissarischen Verwalter zuständig, bis er Mitte 1938 das Kaufhaus Zilz in der Annenstraße „arisierte“. Nach 1945 wurde er vom Volksgericht angeklagt und wegen Vergehen gegen §11 und §6 VG zu 2 ½ Jahren Kerker verurteilt. Vgl. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5904/46; StLA, LReg. Arisierung HG 1686.

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Gerald Lamprecht Abbildung 1: NS-Posten vor dem Schuhhaus Bally, bekannt auch unter Schuhhaus Spitz, in der Herrengasse in Graz. © Universalmuseum Joanneum

durch Verordnungen und Gesetze in geregelte und „legale“ Bahnen zu lenken. Die dabei entscheidenden Schritte waren die Einführung des Gesetzes über die Bestellung von kommissarischen Verwaltern und kommissarischen Überwachungspersonen vom 13. April 1938 sowie die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden vom 26. April 1938.51 Durch Letztere wurden alle Jüdinnen und Juden dazu gezwungen, ihr Vermögen, sofern es 5.000 RM überstieg, anzumelden. Die daraus resultierenden Akten und Listen waren fortan die Basis für die weitere Beraubung bis hin zur Vertreibung und Vernichtung. Zugleich wurden mit dieser „Veramtlichung“ des Raubes jedoch auch die jüdischen Opfer aus dem Prozess der „Arisierung“ verdrängt. Ihnen wurde eine passive Rolle zugedacht, wonach sie alles zu akzeptieren, resp. zu unterschreiben hatten, was ihnen die Ämter, Kommissare und „Ariseure“ vorlegten. Die ehemaligen Eigentümer wurden zu Bittstellern gegenüber den kommissarischen Verwaltern, „Ariseuren“ und der Vermögensverkehrsstelle, wenn es darum ging, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten oder ihre Ausreise zu organisieren. So schrieb beispielsweise der 1876 51 Zur „Arisierung“ in der Steiermark vgl. Gerald Lamprecht, „Auf diese Art und Weise würde aus einer jüdischen Kultusstätte ein schönes Wohnhaus für einen alten Nazi erschaffen.“ Organisatorisches und Exemplarisches zum Vermögensentzug in der Steiermark, in: Margit Franz et al. (Hrsg.), Mapping Contemporary History, Wien 2008, 351–383.

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geborene Wilhelm Spielmann an den kommissarischen Verwalter seines Modegeschäftes in der Annenstraße, Johann Kneissl52, Anfang Oktober 1938: „Bitte höflichst um Gewährung und Auszahlung für meine in Arbeit befindliche Zahnprothese à RM 50,- und 1 Petroleumgasherd à RM 200,-. Hochachtend Wilhelm Spielmann“53

Der kommissarische Leiter gab daraufhin eine Empfehlung an die Vermögensverkehrsstelle ab, in der er die Zahnprothese befürwortete, den Herd jedoch ablehnte, da „es eigentümlich erscheint, gerade jetzt, wo Spielmann kommissarisch verwaltet wird, einen Petroleumofen zu kaufen, da er doch schon 25 Jahre in der Wohnung haust“.54 Zuständig für die Abwicklung der „Arisierung“ war die am 18. Mai 1938 im Bereich des Ministeriums für Handel und Verkehr (später Ministerium für Wirtschaft und Arbeit) in Wien eingerichtete Vermögensverkehrsstelle mit ihrem Leiter Dipl.-Ing. Walter Rafelsberger.55 In Graz wurden die „Arisierungen“ zunächst über das Gauwirtschaftsamt abgewickelt, ehe Mitte August 1938 unter der Leitung von Reinhard Brandner eine Zweigstelle der Vermögensverkehrsstelle in Graz (Schmiedgasse 34) eingerichtet wurde.56 Ihre Aufgaben beschrieb Brandner in einer Vernehmung Anfang November 1946 wie folgt:

52 Johann Kneissl, der Parteimitglied war, wurde am 27. August 1938 zum Kommissarischen Verwalter des Modehauses Spielmann ernannt. Die Vermögensverkehrsstelle Graz sprach Kneissl ein monatliches Entgelt von RM 400,- zu, während man Wilhelm Spielmann eine monatliche Zuwendung von RM 200,- zugestand. Offiziell wurde das Modehaus Spielmann liquidiert. Doch hinter den Kulissen bemühte sich der Schneider Josef Knilli aus Fehring um die „Arisierung“. Knilli, der beste Beziehungen zu NSDAP hatte, konnte das Geschäft schließlich noch 1938 „arisieren“. Vgl. StLA, LReg. Arisierung Komm. 202; LReg. Arisierung HG 1242. 53 Wilhelm Spielmann an Johann Kneissl, 3.10.1938. StLA, LReg. Arisierung Komm. 202. 54 Johann Kneissl an die VVSt. Graz, 4.10.1938. StLA, LReg. Arisierung Komm. 202. 55 Vgl. dazu u. a.: Gertraud Fuchs, Die Vermögensverkehrsstelle als Arisierungsbehörde jüdischer Betriebe, Dipl.-Arb. Wien 1989. 56 Reinhard Brandner, geb. 18. 9. 1905 in Stankovic/Böhmen war Kaufmann in Graz. Seit 1931 war er Mitglied der NSDAP. Ab 1934 lebte er in der CSR und dann in Berlin, ab März 1938 wieder in Graz. 1934 wurde Brandner wegen seiner nationalsozialistischen Tätigkeiten zu 6 Monaten Arrest im Anhaltelager Messendorf verurteilt. Brandner floh jedoch aus dem Anhaltelager. Seit Dezember 1938 war er Mitglied der SS und von Anfang 1939 bis 1945 Ratsherr der Stadt Graz. Nach 1945 wurde Brandner zunächst interniert und schließlich wegen seiner „illegalen“ Tätigkeiten, wie auch der Funktionen während der NS-Zeit und wegen der „Arisierung“ des Schotterwerkes Peggau vom Volksgericht nach dem Verbotsgesetz angeklagt und verurteilt. Das Urteil wurde schließlich vom Obersten Gerichtshof aufgehoben und Brandner freigesprochen. Vgl. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50.

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„Das war ungefähr im Juli oder August 1938 [Übernahme der Leitung des Vermögensverkehrsstelle, Anm. G.L.]. Ich habe dann diese Vermögensverkehrsstelle bis zum Feber 1939 als Geschäftsführer geführt, während der eigentliche Leiter Dadieu war. Ich habe meine Aufgabe darin gesehen, dass ich den ganzen Apparat streng von der Partei getrennt habe. Ich bin aus den Räumen, wo sie untergebracht war, nämlich beim Gauwirtschaftsberater, sofort ausgezogen, habe vom Personal nur einen geringen Teil übernommen und bin in die Schmiedgasse 34 gezogen. Die Hauptübergriffe und Schwierigkeiten und die mich damals zur Äußerung gegenüber [Dr. Alfred] Fleischmann [Gauinspektor, Anm. G.L.] veranlassten,57 bestanden darin, dass von den einzelnen Parteifunktionären jeder machte, was er wollte, jeder Ortgruppenleiter hatte einen Kommissar eingesetzt und die Leute waren vollkommen ohne Kontrolle. Ich habe in diese zerrütteten Verhältnisse, so rasch wie möglich Ordnung gebracht. Meine Funktion hat praktisch darin bestanden einmal dieses Kontrollsystem aufzubauen, dann eine Prüfstelle für Kom. Verwalter zu errichten und [ich] habe vor allem auch darauf gesehen, dass nichts mehr ohne Zustimmung eines gerichtl. beeideten Sachverständigen verkauft wurde.“58

Auch wenn Brandner in der Zeugeneinvernahme versuchte sich in ein besseres Licht zu rücken und die „Arisierung“ als scheinbar „normalen“ Vorgang darzustellen, handelte es sich um die systematische Zerstörung der Lebenswerke und Existenzen von Jüdinnen und Juden. Zur strukturierten Erledigung der Arbeiten unterteilte sich die Vermögensverkehrsstelle in mehrere Abteilungen. Die Abteilung „Handel und Gewerbe“ wurde von Dr. Anton Kleinoscheg geleitet.59 Dr. Josef Seak war bis zur Übernahme der Leitung der Abwicklungsstelle der Vermögensverkehrsstelle für die Abteilung „Liegenschaften und Industrie“ zuständig. Den Bereich der „Liquidationen“ hatte Karl Weichsel60 über, während Dr. Ro57 Brandner gab in der Vernehmung an, dass er eher durch Zufall die Leitung der VVSt. übertragen bekommen habe. „Ich wollte mir nun in Graz eine Existenz gründen und da kam mir im gewissen Sinne der Zufall insofern zu Hilfe, als ich den Gauinspektor Fleischmann traf, den ich auf die Missstände, die bei den Arisierungen vorkommen, aufmerksam machte und auf dessen Frage ich erklärte, ich glaube schon, dass ich das besser machen könnte. Ein paar Tage später wurde ich dann zum Gauleiter berufen, der mir den Auftrag gab, die Vermögensverkehrsstelle als Geschäftsführer zu übernehmen. Ich war damals zwar etwas überrascht, habe aber dann doch zugestimmt.“ Vernehmung von Reinhard Brandner am 6.11.1946. Ebda. 58 Vernehmung des Reinhard Brandner am Landesgericht für Strafsachen Graz, am 6.11.1946. Ebda. 59 Dr. Anton Kleinoscheg, geb. 11.4.1911 in Gösting bei Graz, war seit 1932 NSDAP- und seit 1933 SAMitglied (Obersturmführer). Kleinoscheg studierte an der Universität Graz und war innerhalb der NSDAP-Ortsgruppe Gösting aktiv. Von Juli 1938 bis März 1939 war er Mitarbeiter der VVSt. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 5038/46. 60 Karl Weichsel, geb. 21.2.1893, war Kleiderfabrikant in Graz, Herrengasse Nr. 13/II. Vernehmung von Dr. Seak am Landesgericht für Strafsachen Graz, am 5.12.1946. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. Gegen Weichsel wurde ein Verfahren vor dem Volksgericht geführt, doch ist der betreffende Akt verschollen.

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bert Ulcar61 Referent für „jüdische“ Liegenschaften und für die Geschäfte außerhalb von Graz war. Als weitere eigenständige Abteilung gab es noch die Prüfstelle für kommissarische Verwalter,62 die von Ing. Andreas Berger63 geleitet wurde, und schließlich einen eigenen Hausverwalter für „jüdische Liegenschaften“ in der Person von Oberstleutnant i. R. Franz von Morari.64 Über all diesen Abteilungen stand Reinhard Brandner, der wiederum der Vermögensverkehrsstelle Wien unterstellt war. Über die Größenordnung des Vermögensentzugs in der Steiermark geben unterschiedliche Quellen Auskunft. So gab beispielsweise der Grazer Gewerbetreibende und Stadtrat Patritz Dunkler, der für das Gewerbeamt sowie für das Amt für Bevölkerungs- und Kultuswesen sowie das Amt für Militär zuständig war, in einem Bericht für die Ratsherren im Mai 1939 bekannt: „Die im Zuge der Reinigung der gewerblichen Wirtschaft von jüdischem Einfluß durch das Gewerbeamt im Herbst vergangenen Jahres vorgenommene Verzeichnung jüdischer Gewerbebetriebe hatte folgendes Ergebnis: In das Verzeichnis wurden 466 jüdische Gewerbebetriebe aufgenommen. Bezeichnend ist, daß davon 354 Handelsbetriebe waren. Eine große Zahl jüdischer Betriebe ist bereits gelöscht, bezüglich der Löschung der restlichen wurde mit der Vermögensverkehrsstelle das Einvernehmen hergestellt.“65 61 Dr. Robert Ulcar, geb. 30.5.1910 in Triest, war von Mai 1938 bis 1943 Mitglied der NSDAP. 1943 wurde er wegen Wehrzersetzung und Schädigung des Ansehens der NSDAP aus dieser ausgeschlossen. Zudem war er SA-Mitglied im Range eines Rottenführers. StLA, LG. f. Strafsachen Graz Vr 5411/46. 62 Die Prüfstelle für kommissarische Verwalter gehörte nicht der Vermögensverkehrsstelle an, sondern war direkt Staatskommissar Rafelsberger unterstellt. Rundschreiben an alle Abteilungsleiter von Rafelsberger, am 1.9.1938. StLA, LReg. Arisierung Diverse Akten. Jg. 1937 -. 63 Ing. Andreas Berger, geb. 20. 1. 1884 in Kobnitz (Spittal an der Drau), war von März 1931 bis Mai 1945 Mitglied der NSDAP. Im Juni 1938 war er Berater für Bauwirtschaft im Gauwirtschaftsamt in Graz und ab August 1938 Leiter der Prüfstelle für kommissarische Verwalter. Vgl. Polizeidirektion Graz an die Staatsanwaltschaft Graz, am 19.9.1946. StLA, LG. f. Strafsachen Graz Vr 2875/49. Seine Tätigkeit beschrieb er folgendermaßen: „Ich bin glaublich im August 1938 auf Vorschlag des Beschuldigten (Brandner) vom Gauwirtschaftsamt in die Vermögensverkehrsstelle gekommen. Meine Tätigkeit im Gauwirtschaftsamt bestand darin, die eingesetzten komm. Verwalter hins. ihrer Geschäftsführung zu überprüfen, weil einige Unregelmäßigkeiten vorgekommen waren. Diese Tätigkeit habe ich auch in der Vermögensverkehrsstelle beibehalten. Offiziell hieß mein Referat Prüfstelle für komm. Verwalter.“ Zeugenvernehmung von Andreas Berger am Landesgericht für Strafsachen Graz, am 7.1.1947. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 2339/50. 64 Franz v. Morari, Oberstl. i.R., geb. 1. 3. 1883 in Zara-Dalmatien, trat der NSDAP 1936 bei. Er war von 1921 bis 1922 Herausgeber der nationalsozialistischen Zeitschrift „Sturmfahne“, Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP und der Ostmarkmedaille. 1941 war er Hauptabteilungsleiter bei der „Festigung des Deutschen Volkstums“ in Marburg/Maribor und dort mit der Verwaltung des beschlagnahmten Hausbesitzes und der Mobilien beschäftigt. StLA, LG f. Strafsachen Graz Vr 1834/47. 65 Tätigkeitsbericht über die Tätigkeit des Dezernates I/4 vorgetragen von Patritz Dunkler in der 1. ordentlichen Sitzung der Ratsherren am 10. Mai 1939, 3.

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Einer internen Aufstellung der Vermögensverkehrsstelle Graz vom Jänner 1941 folgend66 gab es in der gesamten Steiermark 513 Betriebe im Bereich „Handel und Gewerbe“, 52 in der Kategorie „Industrie“ und ein Geldinstitut, die alle von der „Arisierung“ betroffen waren. Weiters wurden 536 Liegenschaften von der Vermögensverkehrsstelle zur „Arisierung“ erfasst. Den Wert dieser Vermögenswerte beziffert ein Bericht des Staatskommissars in der Privatwirtschaft, Walter Rafelsberger, vom 1. Februar 1939, mit dem Titel „Entjudung in der Ostmark“67. Dieser basiert auf den Vermögensanmeldungen und benennt für die Steiermark einen Gesamtwert der zu „arisierenden“ Vermögen (Land- und Forstwirtschaft, Grundvermögen, Betriebsvermögen, sonstiges Vermögen abzüglich der Außenstände) von 39,521.000 RM.68 Zu erwähnen ist dabei jedoch, dass diese Aufstellung eine Momentaufnahme des ersten Halbjahres 1938 bildete.69

Die Zerstörung der religiösen und kulturellen Infrastruktur Die zweite Ebene der Verfolgung betrifft die Jüdinnen und Juden nicht als individuelle Personen, sondern zielt auf die Zerstörung der religiösen und kulturellen Infrastruktur der jüdischen Gemeinde ab. Während die jüdischen Vereine mehrheitlich mit März 1938 ihre Tätigkeit einstellen mussten und in weiterer Folge vom Stillhaltekommissar aufgelöst wurden (allein in Graz waren davon 19 Vereine mit je unterschiedlichen Vereinsvermögen, die mehrheitlich der Israelitischen Kultusgemeinde respektive der Fürsorgezentrale der Israelitischen Kultusgemein-

66 Vgl. Gerald Lamprecht, „Auf diese Art und Weise würde aus einer jüdischen Kultusstätte ein schönes Wohnhaus für einen alten Nazi erschaffen.“, 351–383. 67 Ich möchte mich beim Archiv der IKG Wien (Mag. Susanne Uslu-Paur) für die Überlassung der Statistik von Walter Rafelsberger bedanken. Das Original befindet sich im ÖStA im Bestand der Vermögensverkehrsstelle, Rafelsberger, Statistik. 68 Dieser Betrag entspricht laut der Währungskonvertierung der Oesterreichischen Nationalbank (1 RM im Jahr 1939 = 4,51 € im Jahr 2007) einem Wert von 178,239.710 €. 69 Zu bedenken ist, dass die wertmäßige Erfassung von mehreren Faktoren beeinflusst war. So kann auf jeden Fall davon ausgegangen werden, dass neben den bereits erwähnten Aspekten, die nicht in die Bewertung einflossen, die Jüdinnen und Juden bei den Vermögensanmeldungen möglichst niedrige Werte angaben. Weiters ist zu berücksichtigen, dass die Basis dieser Aufstellung die Vermögensanmeldungen waren und die Zahl der Betriebe mit späteren Zahlenangaben nicht übereinstimmt, was vor allem darauf zurückgeführt werden kann, dass der Informationsfluss zwischen Wien und Graz nicht einwandfrei funktioniert haben dürfte. Nichtsdestotrotz kann man aus diesen Angaben eine erste Größenordnung ablesen, wobei die Werte als untere Grenzen anzusehen sind.

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de Graz zugewiesen wurden, betroffen70), konnte die Israelitische Kultusgemeinde über den März hinaus bestehen. Allerdings wurde ihr spätestens ab April 1938 seitens der Nationalsozialisten eine neue Aufgabe zugewiesen; sie sollte eine tragende Rolle im Vertreibungsprozess spielen.71 Die Israelitische Kultusgemeinde (IKG), mit ihrer ab November 1938 am Entenplatz 9 untergebrachten „Auswanderungs-, Beratungs- und Fürsorgestelle“, sollte sich fortan einerseits um die durch den wirtschaftlichen Ruin mittellos gewordenen Mitglieder kümmern (Fürsorge, Wohnungen) und anderseits der Gestapo und dem SD bei der Umsetzung der Beraubungs- und Vertreibungsmaßnahmen zur Hand gehen. So wurde Elias Grünschlag, der als Obmann der Zionistischen Ortsgruppe und nach der Emigration von Präsident Dr. ­Robert Sonnenwald im September 1938 zum neuen Präsidenten der IKG gewählt werden sollte, bereits im Juni 1938 zur Gauleitung zitiert und mit der Organisation der Auswanderung der Grazer Jüdinnen und Juden beauftragt.72 Dabei wurde von der Gemeindeleitung neben einer uneingeschränkten Zusammenarbeit mit der Gestapo, dem SD und der seit August 1938 bestehenden „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ in Wien73 eine administrative wie auch finanzielle Hilfestellung erwartet. Dies betraf ganz konkret die Beschaffung von Dokumenten, die Begleichung von „Steuerrückständen“, das Zusammenstellen von Listen und die Organisation von legalen oder auch illegalen „Auswanderungsaktionen“ wie beispielsweise die sogenannte „Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark“. Parallel zur Abänderung der Aufgabengebiete wurde auch an der Auflösung der Kultusgemeinde gearbeitet. So war die IKG ebenfalls von den „Arisierungen“ betroffen, die vor allem ihre Liegenschaften betrafen. Dies waren neben der Synagoge und dem Amtsgebäude 70 Betroffen waren: Verein für fromme und wohltätige Zwecke „Chewra Kadischa“, Israelitischer Armenbeteiligungsverein „Matnos Anijim“, Krankenbesuchs- und Unterstützungsverein „Bikur Cholim“, Grazer Israelitischer Frauenverein, Jüdischer Gesangsverein Graz, Sportklub „Hakoah“ Graz, Bund jüdischer Frontsoldaten, Jüdisch akademische Vereinigung Graz zugehörig zum Verband jüdischer Studenten „Judäa“, Jüdisch akademische Verbindung „Charitas“ Graz, Verband der HerzlZionisten Revisionisten Judenstaatler, Vereinigung der Judenstaatszionisten Graz, Zionistische Ortsgruppe Graz, Wizo Organisation zionistischer Frauen Österreichs Graz, Keren Hajessod (Palästina Aufbaufonds der Jewish Agency) Gruppe Graz, Allgemeiner zionistischer Hechaluz im zionistischen Landesverband für Österreich, Jüdischer Pfadfinderbund „Techeleth Lavan“ „Blau Weiss“ Graz, Schachklub „Blau Weiss“, Jüdischer Pfadfinderbund „Berit Trumpeldor“, Reichsbund der jüdischen Legitimisten Österreichs, Landesgruppe Steiermark in Graz. 71 Zur Instrumentalisierung der Kultusgemeinden in Österreich vgl. v. a.: Doron Rabinovici, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt am Main 2000. 72 Zeugenaussage Elias Grünschlag, 16.1.1959. Yad Vashem 0.3/1208. 73 Zur Zentralstelle vgl. in kompakter Form: Dirk Rupnow, „Zur Förderung und beschleunigten Regelung der Auswanderung …“. Die Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien, in: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin (Hrsg.), Ausgeschlossen und entrechtet (Raub und Rückgabe. Österreich von 1938 bis heute 4), Wien 2006, 13–30.

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einige Wohnhäuser in Graz sowie die jüdischen Friedhöfe in der Steiermark.74 Nachdem die Liegenschaften der IKG unmittelbar nach der Reichspogromnacht am 10. November 1938 im Auftrag der Gestapo beschlagnahmt worden waren,75 trat im Dezember 1940 die Stadt Graz als Käufer des Amtsgebäudes samt Synagogenplatz, dem Friedhof und dem Gebäude in der Lagergasse auf.76 Alle übrigen Liegenschaften wurden in den folgenden Jahren von Privatpersonen „arisiert“. Die nicht zerstörten Ritualgegenstände wurden dem Landesmuseum Joanneum und die Samuel-Mühsam-Bibliothek der Nationalbibliothek übergeben.77 Ende Juni 1940 verfügte schließlich das Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten in Wien, dass „infolge der jüdischen Abwanderung“ den Kultusgemeinden in den „ostmärkischen Reichsgauen“ mit Ausnahme von Wien und Graz die staatliche Anerkennung mit 1. August 1940 entzogen werden sollte.78 Die Sprengel wie auch das Vermögen der ehemaligen Kultusgemeinden sollten in weiterer Folge der IKG Wien zugeordnet werden. Graz stellte zu diesem Zeitpunkt noch eine Ausnahme dar, da die vermögensrechtlichen Fragen im Bereich der „Arisierung“ des Gemeindeeigentums nicht restlos geklärt waren. Als dies erledigt war, wurde die Grazer Israelitische Kultusgemeinde am 8. September 1941 als eigenständige Körperschaft auf Grundlage des Israelitengesetzes von 1890 aufgelöst.79 Zu einem Zeitpunkt, als die IKG in Graz ihre Tätigkeit bereits eingestellt hatte,80 die verbleibenden Agenden von der IKG Wien übernommen worden waren und zudem in Graz nach Ansicht der jüdischen Gemeinde keine Jüdinnen und Juden mehr lebten, hatten diese die Steiermark doch bis Oktober 1939 zwangsweise verlassen.81 So berichtete die Gestapo Graz Ende Juli 1940 an den Reichsstatthalter in der Steiermark:

74 Zu den Friedhöfen vgl. Gerald Lamprecht, Jüdische Friedhöfe in der Steiermark im 19. und 20. Jahrhundert, in: Kulturabteilung der Steiermärkischen Landesregierung/Centrum für Jüdische Studien (Hrsg.), Jüdische Friedhöfe in Österreich. Aspekte der Erhaltung. Dokumentation einer Expertenkonferenz (Vorlesungen des Centrums für Jüdische Studien 2), Graz 2010, 49–70. 75 Vgl. StLA, LReg. 15-Ja 48/1947. 76 Vgl. StLA, Arisierung LG 8101; LG 2338. 77 Bürgermeister von Graz an die Landeshauptmannschaft Steiermark, 31.10.1939. StLA, LReg. 357 J 5 1939. 78 Ministerium für innere und kulturelle Angelegenheiten, Abt. IV an die Reichsstatthalter der Ostmark, 28.6.1940. StLA, LReg 357 Allg. 21/1940. 79 Zentralstelle für jüdische Auswanderung an Reichsstatthalter in der Steiermark, 21.5.1941. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. 80 Laut Gestapo Graz stellte die IKG Graz ihre Tätigkeit mit 8.10.1939 offiziell ein und alle weiteren Agenden wurden der IKG Wien übertragen. Gestapo Graz an Reichstatthalter in der Steiermark, 27.6.1941. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. 81 Bericht des Provinzreferates Steiermark an Gestapo Graz, 26.8.1940. StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940.

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„Die jüdische Kultusgemeinde in Graz hat sich mit 15. Oktober [1939] aufgelöst. Der letzte Vertreter Albert Israel Weiß ist nach Wien übersiedelt und hält sich in Wien IV., Prinz-Eugenstraße Nr. 22 (jüdische Auswanderungsstelle) auf. Das vorhanden gewesene Bargeld wurde restlos für die jüdische Auswanderung verwendet. Die übrigen Vermögenswerte wurden im Einvernehmen mit dem Stillhaltekommissar der jüdischen Auswanderungsstelle in Wien zur Verfügung gestellt. Es sind daher von der jüdischen Kultusgemeinde in Graz keine Vermögenswerte mehr vorhanden.“82

Die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung Verbunden mit der Beraubung war von Anbeginn an die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus der Steiermark und aus dem Deutschen Reich. Neben all den Versuchen, den Jüdinnen und Juden ihre Lebensgrundlage zu entziehen sowie ihre soziale Isolierung gewaltsam herbeizuführen, wurde vonseiten des NS-Apparates von Beginn an auf die Ausreise gedrängt. So schrieb die Gestapo Graz im Juni 1938 an die politischen Behörden der Steiermark: „Um die Auswanderung der Juden zu fördern, empfiehlt es sich, strafbare Handlungen derselben oder sonstige Beanständungen zum Anlass zu nehmen, um ihnen die Auswanderung, unter Setzung einer Frist von beiläufig 4 Monaten, nahezulegen.“83 Kriminalisierung und gesellschaftliche Isolation sollten die „Ausreisebereitschaft“ vorantreiben. Als dies jedoch den Nationalsozialisten zu schleppend voranging – auch in der Steiermark wurde das Ziel ausgegeben, bis zum Jahresende 1938 „judenrein“ zu sein84 –, wurde mit den Ereignissen des Novemberpogroms bewusst eine Radikalsierung herbeigeführt. Dem Pogrom fielen in Graz die Synagoge und die Zeremonienhalle am jüdischen Friedhof wie auch einzelne jüdische Geschäfte zum Opfer. Weiters wurden einzelne Persönlichkeiten wie David Herzog schwer misshandelt und zudem alle jüdischen Männer (an die 300) verhaftet – in der gesamten Steiermark waren es an die 350 – und zum Großteil am darauffolgenden Tag mit der Bahn in das Konzentrationslager Dachau verbracht.85 Von dort konnten sie auf Intervention der Leitung der Kultusgemeinde nur noch freikommen, wenn sie zu einer raschen Ausreise aus dem Deutschen Reich bereit waren. Eine Bedingung, die nicht leicht zu erfüllen 82 Gestapo Graz an Reichsstatthalter in der Steiermark, 27.7.1940, StLA, LReg. 357 Allg. 21/1940. 83 Gestapo Graz an die politischen Behörden der Steiermark, 15.6.1938. StLA, BH Graz Umgebung, 14 H-R/1938. 84 Erfahrungsbericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark, an den SD-Führer des SS-Oberabschnitts Donau über „Protestaktionen gegen die Juden“, 23.11.1938. DÖW 1780. 85 Bericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark, an den SD-Führer des SS-Oberabschnitts Donau betreffend den Novemberpogrom in Graz, 15.11.1938. DÖW 1780.

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war, mussten doch eine Anzahl an Bestätigungen und Dokumenten organisiert werden. Elias Grünschlag, der mit der Abwicklung der Auswanderung betraut worden war, schilderte die Ereignisse wie folgt: „Zugleich wurden fast alle jüdischen Männer verhaftet, darunter auch ich und mein Sohn ­Josef und etwa 60086 nach dem KL [Konzentrationslager, Anm. G.L.] Dachau deportiert. Einem glücklichen Umstand ist es zu verdanken und denkwürdig, dass von diesen 600 Menschen, bis auf drei, welche in Dachau starben, nach der Befreiung alle nach Graz zurückkehren konnten.“87

Der, wie sein Vater Alfred, ebenfalls in die Bemühungen um die Ausreise der Inhaftierten involvierte Otto Günther Klein berichtete über diese Aktivitäten, dass im Anschluss an den Pogrom, „Herr Grünschlag den Chef der Gestapo, Leitstelle Graz, Polizeirat Dr. Hillinger, [klarzumachen versuchte], daß dessen Ziel, die Juden aus der Steiermark zu entfernen, so lange nicht zu verwirklichen sei, so lange der größte Teil der männlichen Juden in Dachau […] festgehalten werde. Präsident Grünschlag erreichte schließlich die Zusage, Juden aus Dachau zurückkommen zu lassen, wenn er persönlich mit seinem Leben einstünde, daß die Entlassenen binnen 24 Stunden das Reichsgebiet verlassen würden. Herr Grünschlag erstellte nun in Zusammenarbeit mit den Herren des Vorstandes, den beiden Sekretärinnen, die Schwestern Wechsler (ich durfte dabei mithelfen, da Mangel an Helfern war) in mühevoller Arbeit Listen von Gemeindemitgliedern, die teils bereits gültige Aus- resp. Einwanderungsdokumente besaßen, teils auf Grund ihrer Jugend für eine Teilnahme an einem, nach damaliger Diktion ‚illegalen‘ Transport in Frage kamen.“88

Häufig war an eine „legale“ Ausreise der Abschluss der „Arisierung“ sowie die Begleichung aller diskriminierenden Sondersteuern (Reichsfluchtsteuer, Judenvermögensabgabe, Sühneleistung, …) gebunden, womit erneut der enge Konnex von Vertreibung und Beraubung/Aneignung unterstrichen wurde. Abseits dieser Schwierigkeiten wurde es gegen Ende 1938 für die Menschen immer schwieriger, neben den notwendigen Aus- auch entsprechende Ein- bzw. Durchreisepapiere zu erhalten. All das führte dazu, dass neben der „legalen“ Ausreise zunehmend versucht wurde, „illegal“ außer Landes zu kommen. Eine bedeutende Rolle spielten dabei zionistische Organisationen, die von Wien aus illegale Palästinatransporte, wie den für die Steiermark bedeutenden im Frühjahr 1939 durchgeführten „Lisl-Transport“, organisierten.89 86 87 88 89

Die Zahlenangaben variieren in den Aussagen mehrfach. Aussage Elias Grünschlag, 16.1.1959. Vad Vashem 03/1208. Otto Günther Klein an Herbert Rosenkranz, 19.9.1984. Privatbesitz Prof. Otto Günther Klein. Vgl. dazu Gabriele Anderl, Emigration und Vertreibung, in: Erika Weinzierl/Otto D. Kulka (Hrsg.),

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Abb. 2: In den Tagen nach dem Pogrom wurden die Überreste der Grazer Synagoge gesprengt und eingerissen. Die Ziegel der Synagoge wurden zum Bau von Garagen in Graz verwendet. (© DÖW)

Aber auch professionelle Schlepper, wie der aus Graz stammende Josef Schleich, waren an der Flucht beteiligt, wobei ihre Motive in den seltensten Fällen philanthropischer Natur waren.90

„Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark“ Ein weiteres Instrument bei der forcierten Auswanderung und gleichzeitigen Beraubung stellten eigens gegründete „Ausreise-“, resp. „Vertreibungsprogramme“ dar. Eines dieser Programme war die nach dem Niederländer Frank van Gheel-Gildemeester benannte „GildemeesterAktion“91. Als „Auswanderungshilfsfonds“ kombinierte sie die beschleunigte Auswanderung bei gleichzeitiger Beraubung der Jüdinnen und Juden. Die Grundidee bestand darin, dass Jüdinnen und Juden für die treuhändische Überlassung eines Teils ihres Vermögens erleichterte Ausreise- und Vermögenstransfermöglichkeiten erhielten, wobei mit Teilen des Vermögens ein eigener Fonds gespeist wurde, der wiederum die Ausreise von mittellosen Jüdinnen und Juden finanzieren sollte. Mit der Abwicklung der Aktion wurde vom Staatskommissar in der Vertreibung und Neubeginn. Israelische Bürger österreichischer Herkunft, Wien–Köln–Weimar 1992, 282–284. 90 Vgl. zu Josef Schleich: Heimo Halbrainer, Josef Schleich – ein „Judenschlepper“ an der Grenze zu Jugoslawien 1938–1941, in: Zwischenwelt 27 (Februar 2011) 4, 32–40. 91 Theodor Venus/Alexandra Eileen Wenck, Die Entziehung jüdischen Vermögens im Rahmen der Aktion Gildemeester: eine empirische Studie über Organisation, Form und Wandel von „Arisierung“ und jüdischer Auswanderung in Österreich 1938–1941 (Veröffentlichungen der österreichischen Historikerkommission 20/2. Nationalsozialistische Institutionen des Vermögensentzuges 2), Wien–München 2004, 122–131.

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Privatwirtschaft, Dr. Walter Rafelsberger, das Bankhaus Krentschker & Co. mit Hauptsitz in Graz beauftragt. Dazu wurde noch 1938 in den Räumlichkeiten des „liquidierten“ Bankhauses Langer & Co. in Wien eine Zweigstelle errichtet. Bereits 1938 erwirtschaftete das Bankhaus Krentschker & Co., das mittels Verwaltungsgebühren an den Transfers verdiente, seinen Haupterlös aus der „Aktion Gildemeester“.92 In der Steiermark wurde zudem zur „Aktion Gildemeester“ im Februar 1939 die „Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark“ ins Leben gerufen, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Übersiedlung von Juden nach Palästina zu organisieren.93 Ausgangspunkt waren Bemühungen von Elias Grünschlag, die in das Jahr 1938 zurückreichten und über die er berichtete: „Ein weiteres sehr einschneidendes Problem ergab sich 1938. Ich hatte mit meinen Grazer Freunden einen Transfer von 5 Millionen Reichsmark ausgearbeitet, dergestalt, dass die Deutschen für diesen Betrag ganz bestimmte, freigegebene Waren nach Palästina liefern sollten. Das Geld war von den Grazer Juden aufzubringen, die dafür Zertifikate bekommen und – in Erez angekommen – die in Graz eingezahlten Gelder erhalten sollten. Der Reichswirtschaftsminister befasste sich – auf besondere Empfehlung gerade Eichmanns, der auch dadurch die jüdische Auswanderung zu beschleunigen wünschte – ernsthaft mit dem Transfer, genehmigte ihn schließlich in voller Höhe und stellte uns eine Liste über die Waren zur Verfügung, die aus Deutschland geliefert werden sollten.“94

Zur Durchführung wurde in Graz im Februar, nachdem der Transfer am 24. Jänner 1939 genehmigt worden war ein eigenes Büro gegründet, das die Abwicklung in Angriff nahm.95 Demnach sollten laut Unterlagen zwischen 400 und 700 Jüdinnen und Juden aus der Steiermark nach Palästina übersiedeln. Diese Zahlen variierten, doch berichtete die Auswanderungsstelle der IKG Graz im Oktober 1938, dass für die geplante Aktion insgesamt 245

92 ÖStA, AdR, Bürckel, Materien, Zl. 2165/2/4. 93 In einer Besprechung Mitte September 1938 in Graz wird festgehalten: „Das Projekt ca. 200 jüdische Familien, die in der Steiermark ansässig sind, mit Hilfe eines zusätzlichen Warenexportes auf legale Weise in Palästina anzusiedeln, wird gesondert von den Normalfällen im Rahmen der Gildemeester Aktion behandelt. Die grundsätzliche Zustimmung des Reichswirtschaftsministeriums liegt bereits vor. Im Falle der Durchführung dieses Projektes würden unter Heranziehung der Mittel von 124 vermögenden jüdischen Familien 74 vollständig mittellose Familien zur Auswanderung gebracht werden. […] Durch dieses Projekt werden ungefähr 700 Juden erfasst.“ Aktenvermerk einer Besprechung in der VVSt. Wien am 15.9.1938. StLA, LReg. Arisierung Diverse Behelfe und Akten Bd. 2 1939 -. 94 Aussage Elias Grünschlag, 16.1.1959. Vad Vashem 0.3/1208. 95 Auswanderungs-, Beratungs- und Fürsorgestelle der Israelitischen Kultusgemeinde Graz an Isidor Preminger, 14.2.1939. Yad Vashem 1/7.

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Familien (ca. 800 Köpfe) vorgemerkt seien.96 Letztlich ist einer Aufstellung der Vermögensverkehrsstelle vom 1. Juli 1941 zu entnehmen, dass nur 81 Personen (76 „Fälle“) durch die „Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark“ erfasst wurden. Nicht geklärt ist, ob alle auch tatsächlich nach Palästina gelangten.97 Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten unverzüglich ihren gesamten Vermögensstand dem Bankhaus Krentschker & Co., das für den Transfer zuständig war, melden und gleichzeitig die Erklärung abgeben, dass sie mit der Übertragung und Liquidierung des Gesamtvermögens durch das Bankhaus einverstanden seien. Aus den daraus gewonnenen Vermögenswerten sollte, so der Plan, in weiterer Folge aufgrund eines vom Deutschen Reich bewilligten Warentransfers nach Palästina für die Rural and Suburban Settlement Company & Co. (Rassco) ein Akkreditiv bis zur Höhe vom 600.000 RM für Warenbezug nach Palästina eröffnet werden. Im Zuge dieser Abwicklung sollten schließlich den Auswanderungswerbern Zertifikate zur Auswanderung resp. zu Siedlungszwecken zur Verfügung gestellt werden.98 Allerdings konnten aufgrund verschiedenster Probleme wie auch des Kriegsbeginns im September 1939 nur Waren im Wert von rund 50.000 RM geliefert werden. Zudem wurden mit Kriegsbeginn 1939 kaum noch Zertifikate für Palästina ausgestellt, weshalb sich die Teilnehmer der „Aktion“ um deren Auflösung bemühten. Ein Unterfangen, das allerdings auf Widerstand des Bankhauses Krentschker & Co. stieß und in weiterer Folge verheerende Auswirkungen auf die Aktionsmitglieder hatte. Diese saßen in Wien fest und hatten keinerlei Möglichkeiten, auf ihre Guthaben zuzugreifen, was dazu führte, dass sie kaum noch in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.99 Schließlich wurde die gesamte „Aktion“ im Auftrag der „Zentralstelle für Jüdische Auswanderung“ Wien mit 15. Juli 1941 aufgelöst.100 Wohin die steirischen Jüdinnen und Juden fliehen konnten, ist bislang nur ansatzweise erforscht worden. Aus einer Aufstellung der IKG Graz von Mitte Oktober 1938, die alle bei der IKG registrierten und bis zum Erstellungszeitpunkt abgewanderten Jüdinnen und Juden enthält (354), geht nachfolgende Auflistung (Tabelle 2) der Emigrationsziele hervor. Nimmt man zu diesen Personen noch jene des sogenannten Lisl-Transportes (rund 220) sowie die 96 IKG Graz, Auswanderungsstelle an „Rassco“, 13.10.1938. Yad Vashem 1/7. 97 Aktion Judenauswanderung aus der Steiermark. StLA, LReg. Arisierung Vermögensverkehr. Diverser Schriftverkehr 1938–1945. 98 StLA, LReg. Arisierung Diverse Behelfe und Akten Bd. 2 1939-. 99 Provinzreferat für Steiermark bei der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, 10.1.1941. Archiv der IKG Wien, Bestand Jerusalem, A/W 2521. 100 Zentralstelle für Jüdische Auswanderung an Reichsstatthalter in der Steiermark. Abwicklungsstelle der VVSt., 26.7.1941. StLA, LReg. Arisierung Diverse Behelfe und Akten Bd. 2 1939 -.

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Gerald Lamprecht

Beteiligten der „Aktion Judenauswanderung“ aus der Steiermark (76 Fälle/Familien) hinzu, so erhöht sich vor allem die Zahl jener, die nach Palästina emigrieren konnten.101 Tabelle 2: Aufstellung der Emigrations- und Abwanderungsziele der bis Oktober 1938 Graz verlassenden Gemeindemitglieder:102 Palästina

63

Türkei

5

Tschechoslowakei

38

Rumänien

4

England

35

Belgien

3

Österreich

34

Holland

3

Jugoslawien

31

Dänemark

2

unbekannt

26

Deutschland

2

Italien

24

Irak

2

USA

18

Polen

2

Frankreich

15

Brasilien

1

Ungarn

11

Indien

1

Schweiz

10

Lettland

1

Kolumbien

8

Luxemburg

1

Portugal

7

Mexiko

1

China

5

Paraguay

1

Conclusio Auch wenn in Bezug auf die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in der Steiermark viele Vorgänge im Detail nicht mehr dargestellt werden können und wahrscheinlich immer im Verborgenen bleiben werden, steht doch fest, dass bis Anfang 1938 mindestens 417 Jüdinnen und Juden die Steiermark verlassen hatten.103 In den nächsten Monaten kamen schließlich noch weitere rund 150 hinzu. Somit waren von den ursprünglich circa 1.600 Jüdinnen und 101 Nicht berücksichtigt sind dabei all jene Kinder, die im Zuge von Kindertransporten nach England entkommen konnten. Ihre Zahl ist bislang für die Steiermark nicht bekannt. Zur Frage der Emigration/Flucht aus der Steiermark nach Palästina wird derzeit von Victoria Kumar am Institut für Geschichte der Universität Graz eine Dissertation verfasst, die dieses bislang nur spärlich bearbeitete Themenfeld neu beleuchten wird. 102 Basis der Tabelle ist eine Liste mit den aus Graz abgewanderten Jüdinnen und Juden, die von der IKG im Herbst 1938 zusammengestellt wurde. Vielen Dank an Prof. Klein für die Überlassung dieser Liste. 103 Bericht des SD des Reichsführers-SS, SD-Unterabschnitt Steiermark, an den SD-Führer des SSOberabschnitts Donau betreffend den Novemberpogrom in Graz, 15.11.1938. DÖW, 1780.

die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung IN DER sTEIERMARK

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Abb. 3: Inserat in der Tagespost am 6. November 1938.

Juden laut einer Aufstellung der IKG Graz Mitte November 1938 noch 984 in Graz wohnhaft.104 Diese Zahl reduzierte sich bis Mitte September 1939 auf 11 Personen.105 Das Ende der jüdischen Gemeinde in der Steiermark ist schließlich mit Mitte 1940 anzusetzen, als die letzten Jüdinnen und Juden Graz verließen106 und damit in knapp eineinhalb Jahren zerstört wurde, was seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mühsam aufgebaut worden war; ein erfolgreiches und blühendes jüdisches Leben in Graz und der Steiermark. Der Weg dorthin kann als vielschichtiger Prozess betrachtet werden, wobei vor allem die nationalsozialistischen Machthaber mit Unterstützung vieler „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ ihr Ziel, die vollständige Beraubung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung mit grausamer und unermüdlicher Konsequenz im Auge behielten und verfolgten. Dies alles geschah nicht im Abseits oder Dunkel der Nacht, sondern inmitten der Gesellschaft und vor den Augen all jener, die sehen und hören konnten. Denn die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung stand auch in der Steiermark im Zentrum nationalsozialistischer Politik und ihr Fortschritt wurde kontinuierlich in den Tageszeitungen veröffentlicht, so wie die erfolgreichen Raubzüge der „Ariseure“. „Schuhhaus Kurt Mandl, Graz, Griesgasse 27, neben Sandwirt arisiert! Bei Ihrem nächsten Schuhbedarf bitte ich, auch mein Geschäft besuchen zu wollen. Franz Duller“107, lautete beispielsweise eine Annonce in der Tagespost vom 6. November 1938. Während der nationalsozialistische Verfolgungsapparat in aller Öffentlichkeit operierte, wurde mit Fortdauer des NS-Regimes der Handlungsspielraum der Jüdinnen und Juden immer geringer. Sie konnten nur noch am Rande und eingeschränkt über ihre Lebensoptionen entscheiden. Vielmehr noch wurden sie, wie auch die Synagogen und Friedhöfe, weitgehend

104 Vgl. Verzeichnis über sämtliche in Graz noch wohnhaften Juden, Dez. 1938. Privatbesitz Prof. A. G. Klein. 105 Vgl. Archiv der IKG Wien, A/W 400 und A/W 401. 106 Vgl. Bericht Elias Grünschlag, 16.1.1959. Vgl. Yad Vashem, 0.3/1208. 107 Tagespost, 6.11.1938, 21.

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aus dem kollektiven Gedächtnis, auch über das Jahr 1945 hinaus, gelöscht oder großteils verdrängt. Umso wichtiger ist es daher im Sinne von Saul Friedländer, eine „integrierte Geschichte“ des Holocaust, die zwei Geschichten, jene der Täter und jene der Opfer in einem Gesamtbild vereint, im Auge zu haben.108

108 Vgl. Saul Friedländer, Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen 2007, 7–27.

„(... dass) die Zigeuner wenigstens aus dem Landschaftsbilde verschwinden“1 Die NS-Verfolgung der Roma im Gau Steiermark am Beispiel zweier steirischer ­„Zigeunerlager“. Das Arbeitslager Kobenz (bei Knittelfeld) und das Sammellager Dietersdorf (bei Fürstenfeld)

Michael Teichmann, Roman Urbaner

Eine Dokumentation der nationalsozialistischen „Zigeuner“-Verfolgung und -Vernichtung auf lokal- bzw. regionalhistorischer Ebene ist für die Steiermark2 bis dato nur sehr unzureichend erfolgt. Dies erstaunt umso mehr, als der Gau Steiermark in besonderem Maße in die NS-„Zigeunerpolitik“ involviert war. Denn der Steiermark, die bis zu diesem Zeitpunkt keinen größeren Roma-Anteil aufwies, wurde durch die administrative Neugliederung vom Oktober 1938 ein Teil des ehemals eigenständigen Burgenlandes einverleibt, wodurch der Großteil der sogenannten Burgenlandroma in den Zuständigkeitsbereich des Gaues Steiermark fiel; der kleinere Teil unterstand fortan dem Gau Niederdonau.3 Auf diese Weise wurden die steirischen Stellen nicht nur zu bedeutenden Akteuren bei der Ausformulierung und Umsetzung der „Zigeunerpolitik“, sondern darüber hinaus zu Dreh- und Angelpunkten entscheidender Verfolgungsschritte. Anhand der exemplarischen Untersuchung von zwei auf steirischem Gebiet errichteten Lagern werden im Folgenden zwei Phasen im Verlauf der nationalsozialistischen „Zigeunerpolitik“ beleuchtet: Als eines von mehreren obersteirischen „Zigeunerlagern“ war das Lager Kobenz bei Knittelfeld in den Jahren 1940/41 Teil des NS-Zwangsarbeitssystems, und das Sammellager Dietersdorf bei Fürstenfeld erfüllte im Ablauf der Vernichtungspolitik die Funktion 1 2

3

Landrat Oberwart, Dr. Peter Hinterlechner, an Kriminalpolizeistelle Graz, 2.11.1940; Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Landesregierung (L.Reg), 384 Zi/1 1940, 2. Heft. Die einzig umfassende Darstellung, die auch den Raum Steiermark berührt und Archivquellen des StLA berücksichtigt, ist: Florian Freund/Gerhard Baumgartner/Harald Greifeneder, Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti, Wien 2002, 101. Dieser Arbeit liegt allerdings ein viel weiter gefasster und kein regionalgeschichtlicher Ansatz zugrunde. Emmerich Tálos, Von der Liquidierung der Eigenstaatlichkeit zur Etablierung der Reichsgaue der „Ostmark“. Zum Umbau der politisch-administrativen Struktur; in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/ Wolfgang Neugebauer/Reinhard Sieder (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2002, 55–72; hier: 59.

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Michael Teichmann, Roman Urbaner

der temporären Internierung mit dem Ziel der Deportation in die Vernichtungslager. Neben der Dokumentation der beiden Lager wird untersucht, in welcher Form sich der Übergang von der Verfolgungs- zur Vernichtungspolitik in den konkreten Beispielen wiederfinden lässt. Hinsichtlich der schriftlichen Quellen stützt sich diese Arbeit in erster Linie auf Archivalien des Steiermärkischen Landesarchivs (StLA); dabei erwiesen sich insbesondere die Landesregierungs-Akten als zu manchen Abschnitten der NS-„Zigeunerpolitik“ äußerst ergiebig; andere Phasen wie die Deportationen 1943 fanden sich hingegen nicht dokumentiert.4 Ergänzend konnte bezüglich des Lagers bei Fürstenfeld auf Materialien der Volksdeutschen Mittelstelle, archiviert im StLA in der sogenannten Zeitgeschichtlichen Sammlung, Karton Umsiedlerlager, zurückgegriffen werden.5 Als wertvoll haben sich weiters die im Gemeindearchiv von Kobenz erhaltenen Unterlagen zum Lager bzw. zum Einsatz von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern erwiesen. Diese – hier vorwiegend aus regionalgeschichtlicher Perspektive ausgewerteten – Archivbestände finden ihre Entsprechung in einer Reihe von Zeitzeugeninterviews. Dabei konnten wir zum Teil auf Interviewmaterial zurückgreifen, das uns aufgrund der Mitwirkung an einem breiter angelegten Oral-history-Projekt des burgenländischen Vereins „Roma-Service“ („Mri historija“) zur Verfügung stand.6 Insgesamt fanden jeweils drei Interviews mit zwei den Holocaust überlebt habenden Roma Eingang in diese Arbeit. Weitere Informationen über das Lager Kobenz erbrachten zwei ergänzende Interviews mit Kobenzer Zeitzeugen.7 Die Berichte der Roma haben besondere Bedeutung insofern, als es in dieser Ausführlichkeit gerade für die Verfolgungsgeschichte der Burgenlandroma kaum vergleichbares Interviewmaterial gibt. Zudem handelt es sich bei den Brüdern Anton Müller (geb. 1924 als Anton Sarközi) und Karl Sarközi (geb. 1928, gest. 2007) vermutlich um die einzigen Personen, die als Überlebende über die Lager Kobenz und Fürstenfeld Auskunft geben können. Um dem Stellenwert ihrer Berichte Rechnung zu tragen, sind den weiteren Ausführungen die Kurzbiografien der RomaZeitzeugen vorangestellt. Bei der anschließenden Darstellung der NS-Verfolgung bis zur Einrichtung der ersten „Zigeunerlager“ im Herbst 1940 wird versucht, immer wieder auch die konkreten Etappen in den Verfolgungsgeschichten Anton Müllers und Karl Sarközis zu streifen, die – mit den weiteren Stationen Auschwitz, Buchenwald, Ravensbrück und Mauthausen – exemplarisch auch die „Lagerkarriere“ eines Großteils der Volksgruppe widerspiegeln. 4 5 6 7

StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940 sowie StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. StLA, Zeitgeschichtliche Sammlung (ZGS), Kart. 179 (VoMi [Volksdeutsche Mittelstelle] 1940/1944; Umsiedlerlager A–H), Umsiedlerlager Fürstenfeld. Die Gesamtedition der Interviews wurde im November 2009 der Öffentlichkeit präsentiert; Auszüge aus diversen Zeitzeugeninterviews sind seit 2006 in der Zeitschrift dROMa (http://www.roma-service. at) erschienen. O. O., geb. 1926, und H. H., geb. 1924.

„(... dass) die zigeuner ... aus dem Landschaftsbild verschwinden“

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I. Kurzbiografien der Brüder Anton Müller und Karl Sarközi Anton Müller (ursprünglich Anton Sarközi) wurde am 27. März 1924 als zweites von fünf Kindern im südburgenländischen Dorf Zahling (Eltendorf, Bezirk Jennersdorf ) geboren. Die dort beheimateten Roma-Familien lebten von Gelegenheitsarbeiten der Männer und vom Betteln der Frauen; die Kinder waren zumeist gezwungen, bei den Bauern in „Dienst“ zu gehen. Auch der Vater Anton Müllers, Paul Sarközi (geb. 1888), konnte, obwohl er als Musiker über ein geringes Zusatzeinkommen verfügte, seine Familie nicht ernähren. Anton Müller arbeitete vom siebten bis zum vierzehnten Lebensjahr als Knecht bei einem benachbarten Bauern. Sein Lohn waren regelmäßige Mahlzeiten und ein Schlafplatz im Kuhstall. Gelegentlich spielte er auch bei der Musik-Gruppe seines Vaters mit. Soweit es die Arbeit erlaubte, besuchte Anton Müller nebenbei die Volksschule. Als im Juli 1938 die Zwangsarbeit für Burgenlandroma eingeführt wurde,8 wurde Anton Müller zusammen mit seinem Vater zu Bachregulierungsarbeiten im Nachbarort Königsdorf verpflichtet. Etwa Ende 1939, nachdem bereits ein Teil der Zahlinger Roma in die Konzentrationslager Ravensbrück und Dachau deportiert worden war, entschloss sich die Familie Sarközi, in das obersteirische Industriegebiet zu fliehen. Sie fand Unterschlupf bei einem Bergbauern in Leoben und blieb vorerst unbehelligt. Anton Müller, sein Vater und sein älterer Bruder Franz wurden von einer Hoch- und Tiefbaufirma in Leoben-Seegraben angestellt, die übrigen Familienmitglieder (die Mutter, zwei Schwestern und ein Bruder [Karl]) arbeiteten am Hof des Bergbauern. Einige Monate später, im Herbst 1940, wurden alle männlichen Familienmitglieder – bis auf den jüngeren Bruder Karl – verhaftet und ins neu errichtete „Zigeunerarbeitslager“ Kobenz bei Knittelfeld gebracht. Dort wurden sie Arbeitskolonnen zugeteilt und zu Straßenbauarbeiten verpflichtet. Vermutlich Mitte 1941 erfolgte die Überstellung ins „Zigeunerarbeitslager“ Zeltweg, wo sie zu Asphaltierungsarbeiten am Flughafenfeld eingeteilt wurden. Mit den Deportationen ins Ghetto Łódź/Litzmannstadt im November 1941 wurden die „Zigeunerarbeitslager“ in Kobenz und Zeltweg aufgelöst.9 Anton Müller wurde ins Sammellager Fürstenfeld transportiert. Bei der dortigen personellen Überprüfung für den Weitertransport nach Łódź kam der Großteil der Familie Sarközi aufgrund des „Arierausweises“ der Mutter (geb. 1889), einer Grazer Nichtromni, und der Einflussnahme des Zahlinger Bürgermeisters, der Arbeitskräfte vor Ort benötigte, frei.10 Anton Müller wurde daraufhin zum 8 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 101. 9 Ebenda, 42, 148. 10 Hingegen wurde der ältere Bruder Franz Sarközi im November 1941 zusammen mit seiner Familie nach Łódź deportiert. Vgl. Gerhard Baumgartner/Florian Freund, Der Holocaust an den österreichischen Roma und Sinti; in: Michael Zimmermann (Hrsg.), Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, 203–225; hier: 215.

350

Michael Teichmann, Roman Urbaner

Reichsarbeitsdienst (RAD) einberufen und dem RAD-Lager Maxglan11 bei Salzburg zugewiesen. Er absolvierte dort die sechsmonatige Grundausbildung und wäre eigentlich für den Fronteinsatz vorgesehen gewesen. Durch die Intervention des Kompaniechefs, eines früheren Freundes seines Vaters, gelang es Anton Müller jedoch, den Abrüstungsbescheid zu erhalten. Er kam im Herbst 1942 zurück nach Zahling und arbeitete noch ein paar Monate bei einer Frachtfirma. Karl Sarközi wurde am 28. Jänner 1928 in Zahling geboren. Sein Leben verlief bis 1945 weitgehend parallel zu jenem seines Bruders Anton. Ab dem sechsten Lebensjahr arbeitete er bei den Bauern der Gegend, die Schule konnte auch er nur sporadisch besuchen. 1939, als die Familie Sarközi bei einer Bergbauernfamilie in Leoben Unterschlupf fand, blieb Karl im Unterschied zu seinen älteren Brüdern und seinem Vater am Hof und half bei den landwirtschaftlichen Arbeiten. Die weiteren Stationen (Sammellager Fürstenfeld, RAD-Lager Maxglan) waren wiederum ident. Rekonstruieren lässt sich weiters, dass sich alle Familienmitglieder bis auf den älteren Bruder, der zu diesem Zeitpunkt (Ende 1942/Anfang 1943) bereits verstorben war, noch einmal in Zahling trafen. Sie wurden dann aber im Frühjahr 1943 neuerlich verhaftet und über das Sammellager Fürstenfeld nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie bis kurz vor der Auflösung des „Zigeunerfamilienlagers“ am 2. August 194412 zusammen interniert waren. Dann trennten sich ihre Wege: Anton Müller wurde im August 1944 von Auschwitz-Birkenau über Ravensbrück nach Mauthausen überstellt, wo er am 5. Mai 1945 von amerikanischen Truppen befreit wurde. Karl Sarközi wurde gemeinsam mit seinem Vater nach Buchenwald deportiert, dort jedoch einer anderen Arbeiterkolonne zugeteilt. Er sah seinen Vater ab diesem Zeitpunkt nicht wieder. Wann und in welchem KZ Paul Sarközi starb, konnte nicht geklärt werden. Die Mutter Karl Sarközis und eine Schwester überlebten die NS-Herrschaft; in welche Konzentrationslager sie nach Auschwitz deportiert worden waren, liegt ebenfalls im Dunklen. Karl Sarközi wurde schließlich am 11. April 1945 aus dem KZ Buchenwald befreit. Es folgte ein fünfmonatiger Lazarettaufenthalt und erst Ende 1945 kehrte er nach Zahling zurück.

11 In Maxglan befand sich auch ein im Herbst 1940 errichtetes „Zigeunerzwangsarbeitslager“. Im Unterschied zu den steirischen Lagern wurde es erst anlässlich der Deportationen nach Auschwitz-Birkenau aufgelöst. Als sich Anton Müller beim RAD in Maxglan befand, bestand das Arbeitslager noch. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 131, 148; vgl. Erika Thurner, Ein Zigeunerleben? Als Sinto, Sintiza, Rom und Romni in Salzburg, in: Mozes F. Heinschink/Ursula Hemetek, Roma. Das unbekannte Volk. Schicksal und Kultur, Wien 1994, 61–70. 12 Michael Zimmermann, Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“ (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 33), Hamburg 1996, 342–344.

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II. Die Verfolgung der „Zigeuner“ 1938 bis 1940 Im Burgenland, seit 1921 jüngstes österreichisches Bundesland, lebten zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ ca. 8.000 Roma; die Schätzungen für das übrige Österreich beliefen sich auf etwa 3.000 Roma und Sinti.13 Die Lage für die ohnedies marginalisierte burgenländische Volksgruppe verschärfte sich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten drastisch: „An das Volk kann ich mich erinnern“, schildert Anton Müller die bedrohliche Zuspitzung des gesellschaftlichen Klimas im März 1938: „Es hat uns nicht mehr angesehen, wenn wir vorbeigegangen sind. Meinen Vater haben sie oft angespuckt, sie haben uns angespuckt, daran kann ich mich erinnern. Wir waren abgeschnitten von den übrigen Leuten, so, als wären wir niemand.“14 Schon zwischen April und Juni 1938, unmittelbar nach dem „Anschluss“ und unmittelbar vor der Einführung der Zwangsarbeit, kam es zu den ersten Verhaftungsaktionen und Deportationen burgenländischer Roma. Im Rahmen des „Erlasses zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ wurden neben „4 Juden und 89 Nichtzigeunern“ zumindest 200 Roma in „Vorbeugungshaft“ genommen. In der „Denkschrift“ des damaligen Gauleiters Tobias Portschy „Zur Zigeunerfrage“15 ist von 232 Roma die Rede, die von der Kriminalpolizeistelle Eisenstadt in Konzentrationslager eingewiesen wurden. Der „Völkische Beobachter“ spricht hingegen sogar von insgesamt 430 „Zigeunern“, die im Juni 1938 in ein Sammellager in Fischa­mend gebracht worden seien.16 Im Anschluss an diese Deportationen verfügte Portschy die Einführung der Zwangsarbeit für Roma. Noch im Juli 1938 wurde daher im Burgenland „die Arbeitspflicht für alle arbeitsfähigen Zigeuner in geschlossenen Gruppen bei öffentlichen Bauten, die [sic] für solche liefernden Privatunternehmen, wie Steinbrüche usw., eingeführt. Diese Arbeitsgruppen sind getrennt von den übrigen Arbeitern eingesetzt. Die Arbeitszeit beträgt 10 Stunden. Der Arbeitsgeber hat für die geleistete Arbeitsstunde den üblichen Betrag von RM 0,51 zu bezahlen. Von diesem Betrag erhält der Arbeitnehmer RM 0,27, an Sozialabgaben sind rund RM 0,03 zu entrichten. Der Restbetrag von RM 0,21 ist an jene Gemeinde zu überweisen, in welcher der arbeitende Zigeuner heimatberechtigt ist.“ 17 13 Im Folgenden wird vereinfachend auf den (auch für Sinti, Lovara usw.) international gebräuchlichen Sammelbegriff Roma zurückgegriffen. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 19; Erika Thurner, Nationalsozialismus und Zigeuner in Österreich, Wien–Salzburg 1983, 220. 14 Anton Müller, 3. Interview, 17.11.2007. 15 Tobias Portschy, Die Zigeunerfrage, Eisenstadt 1938; siehe dazu: Ursula Mindler, Tobias Portschy. Biographie eines Nationalsozialisten. Die Jahre bis 1945 (Burgenländische Forschungen 92), Eisenstadt 2006, 105–110. 16 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 109. 17 Portschy, Zigeunerfrage (wie Anm. 15) 7; zit. nach Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 102.

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Anton Müller arbeitete als Knecht bei einem benachbarten Bauern, bevor er zusammen mit seinem Vater zur Zwangsarbeit herangezogen wurde: „Unter SS-Aufsicht ist zum Beispiel hier der Bach in Königsdorf reguliert worden, das war 1938. Den großen Bach, der heute durch die Ortschaft führt, haben die ,Zigeuner‘ als Zwangsarbeiter händisch gegraben. Ich bin vom ‚Dienst‘ beim Bauern dort hingebracht und als sogenannter Wasserbub, als Zuträger, eingesetzt worden. Die SSler, die die Aufsicht hatten, haben alle aus der Gegend gestammt.“18 Außer zu Bachregulierungsarbeiten wurden die Roma auch beim Straßenbau und zu Steinbruchtätigkeiten eingesetzt, wo sie, getrennt von den übrigen Arbeitern, in geschlossenen und bewachten Gruppen Zwangsarbeit verrichteten. Die tatsächlich ausbezahlten Löhne dürften hierbei noch wesentlich geringer gewesen sein als ursprünglich von Portschy angeordnet: Vom Stundenlohn von RM 0,30 erhielten die Gemeinden RM 0,18, die Roma hingegen nur RM 0,12.19 Dr. Sieber, Landrat von Feldbach, hebt in einem Bericht an die Landeshauptmannschaft Steiermark die „großen Fortschritte durch die einschneidenden Maßnahmen“ hervor: „Die arbeitsfähigen Zigeuner wurden in der Bausaison 1938 bei Strassenbauten [sic] eingesetzt und haben sich hierbei gut bewährt; in den Wintermonaten leben sie äußerst notdürftig, erhalten seitens der NSV [Nationalsozialistische Volkswohlfahrt] keine Unterstützung. Öffentlichrechtliche Fürsorge wird nur in besonders krassen Fällen geübt. Sie fügen sich ihrem Schicksal und geben keinen Anlass zu Beschwerden, insbesondere wurde die Wahrnehmung gemacht, dass seit den Umbruchstagen keine Eigentumsdelikte mehr festgestellt wurden.“20

Obwohl durch die Einführung der Zwangsarbeit die Möglichkeiten für Roma, in den Wintermonaten Arbeit zu finden, eingeschränkt wurden, verweigerte die öffentliche Fürsorge demnach ihre Unterstützung. Die angeblich immensen Fürsorgekosten wurden später jedoch zum Hauptargument für eine „radikale Lösung der Zigeunerfrage“. Zum Missfallen der Machthaber versuchten viele Roma sich der Zwangsarbeit und der geringen Entlohnung zu entziehen und in den steirischen Industriegebieten und im Gau Niederdonau Arbeit zu suchen. Portschy forderte daraufhin alle Landeshauptmannschaften auf, diese Entwicklung zu unterbinden.21 Drei Monate später, im Dezember 1938, trat dann in der Steiermark eine Verordnung in Kraft, die Portschys Appell auf eine gesetzliche Basis stellte und gleichzeitig den im Oktober 1939 folgenden „Festsetzungserlass“22 vorwegnahm: 18 Anton Müller, 3. Interview, 17.11.2007. 19 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 105–106. 20 Landrat Dr. Sieber (Feldbach) an die Landeshauptmannschaft, 11.2.1939; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft. 21 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 104. 22 Martin Luchterhand, Der Weg nach Birkenau. Entstehung und Verlauf der nationalsozialistischen Verfolgung der „Zigeuner“, Lübeck 2000, 141.

„(... dass) die zigeuner ... aus dem Landschaftsbild verschwinden“

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„Wenn auch die Frage des Zigeunerwesens einer durchgreifenden, grundsätzlichen Lösung bedarf, so sehe ich mich doch veranlasst, für den Gau Steiermark entsprechende Anordnungen zu treffen, die das Einwandern von Zigeunern aus anderen Gauen und das Umherziehen der im ehemaligen südlichen Burgenland ansässigen Zigeuner im Gaue Steiermark zu verhindern bezwecken.“23

Die „durchgreifende, grundsätzliche Lösung“ wurde nur wenige Tage später, am 8. Dezember 1938, mit einem von Himmler unterzeichneten Erlass des Reichskriminalpolizeiamtes (RKPA) eingeleitet. Darin wird erstmals die „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus“ zum Programm erklärt. Die „Zigeuner“-Verfolgung blieb vorerst zwar auch weiterhin Teil der „Asozialenverfolgung“, war nun jedoch von einem genozidalen Konzept überlagert.24 a) Die unversorgten Kinder „Auf Befehl des Reichsführer-SS und Chefs der Deutschen Polizei sind alsbald die arbeitsscheuen und in besonderem Maße asozialen Zigeuner oder Zigeunermischlinge des Burgenlandes in polizeiliche Vorbeugehaft zu nehmen. (…) Nach dem hier vorliegenden Material werden etwa 2.000 männliche Personen über 16 Jahre für die Einweisung in Frage kommen. Ausgenommen sind alle Zigeuner und Zigeunermischlinge, die seit längerer Zeit in fester, insbesondere landwirtschaftlicher Arbeit stehen oder die für die Einbringung der Ernte unentbehrlich sind.“25

Mit diesem Erlass ordnete das Reichskriminalpolizeiamt am 5. Juni 1939 diese erste Massendeportation burgenländischer Roma an. Die Folgen der Verhaftungswelle vorausahnend heißt es im Erlass weiter: „Die Kinder der festgenommenen Personen dürfen unter keinen Umständen sich selbst überlassen bleiben. (…) Da Kosten nicht entstehen dürfen, wird es Sache einer geschickten Verhandlungsführung mit den in Frage kommenden Stellen sein, die unentgeltliche Unterbringung durchzusetzen.“ Das Reichskriminalpolizeiamt (RKPA) war neben dem SS-Amt „Ahnenerbe“26, der Rassenhygienischen Forschungsstelle im Reichsgesundheitsamt (RHF) und dem Kriminalbio23 Uiberreither an die Landräte des Gaues Steiermark, 3.12.1938; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft. 24 Michael Zimmermann, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zigeuner. Ein Überblick, in: Yaron Matras/Hans Winterberg/Michael Zimmermann (Hrsg.), Sinti, Roma, Gypsies. Sprache – Geschichte – Gegenwart, Berlin 2003, 115–153; hier: 120–121. 25 RKPA an die Staatliche Kriminalpolizei; Kriminalpolizeileitstelle Wien, Erlass des Reichskriminalpolizeiamtes in Berlin, 5.6.1939; StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940, 1. Heft. 26 Siehe dazu insbesondere: Guenter Lewy, „Rückkehr nicht erwünscht“. Die Verfolgung der Zigeuner im Dritten Reich, München–Berlin 2001.

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logischen Institut der Sicherheitspolizei die wesentlichste Säule der nationalsozialistischen „Zigeuner“-Verfolgung. 1937 gegründet, zeichnet das RKPA unter seinem Leiter SS-Brigadeführer Arthur Nebe27 zwischen 1938 und 1945 für die Deportation von etwa 100.000 Menschen in die Konzentrationslager verantwortlich.28 Unter ihnen befanden sich etwa 30.000 „Zigeuner“. Das RKPA verstand sich als gesellschaftsbiologisch motivierter „Schutzkorps der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ gegen zerstörerische Einflüsse durch „staatsfeindliche Elemente“ und als „asozial“ Stigmatisierte. Seine Methode war die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“, das Hauptmittel die „Vorbeugehaft“. Sie richtete sich gegen „Berufsverbrecher“, „Gewohnheitsverbrecher“, „Gemeingefährliche“ oder „Gemeinschädliche“.29 Insgesamt wurden im Juni 1939 1.142 österreichische Roma verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau (Männer) und Ravensbrück (Frauen) deportiert. Was den Gau Steiermark betrifft, kann man von einer Gesamtzahl von über 700 Personen ausgehen.30 Anton Müller und Karl Sarközi, deren Eltern um die Jahreswende 1939/40 diese Verhaftungswelle bzw. Gerüchte über weitere bevorstehende Deportationen zum Anlass nahmen, in das obersteirische Industriegebiet zu fliehen, sprechen unisono davon, dass ca. die Hälfte der Zahlinger Roma-Frauen und -Männer von diesen frühen Deportationen betroffen war: „1939 haben sie ja schon die Roma fort nach Ravensbrück gebracht. Und die Kinder sind zurückgeblieben und waren ohne Eltern.“31 Die lokalen Behörden standen vor einem Problem, das über Monate Gegenstand intensiver Korrespondenz war: Zum einen war die Vorgabe von 2.000 zu verhaftenden Personen nicht erfüllt worden, zum anderen scheiterte der Versuch, die vielen Hundert Kinder, die infolge der Deportationen ihrer Eltern unversorgt zurückgeblieben waren, der konfessionellen Fürsorge zu übergeben. Hinzu kam, dass der überwiegende Teil der ca. 350 Männer dank der kriegsvorbereitenden Konjunkturphase sehr wohl einer Beschäftigung nachgegangen war. Selbst der steirische Gauleiter Uiberreither formulierte in einer Reaktion auf den Erlass am 5. Juni 1939 eine deutliche Kritik an der Vorgehensweise und kam zu dem Schluss: „Es sind daher nicht nur arbeitsscheue und in besonderem Maße asoziale Zigeuner und Zigeunermischlinge, sondern in zahlreichen Fällen Personen wahllos und der ausdrücklichen Anord27 Zu Nebe siehe insbes.: Ronald Rathert, Verbrechen und Verschwörung. Arthur Nebe, der Kripochef des Dritten Reiches, Münster 2001. 28 Patrick Wagner, Kriminalprävention qua Massenmord. Die gesellschaftsbiologische Konzeption der NS-Kriminalpolizei und ihre Bedeutung für die Zigeunerverfolgung; in: Zimmermann, Zwischen Erziehung und Vernichtung (wie Anm. 10) 379–391; hier: 379. 29 Michael Zimmermann, Die Entscheidung für ein Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau; in: Zimmermann, Zwischen Erziehung und Vernichtung (wie Anm. 10) 392–424, hier: 398. 30 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 111–112. 31 Karl Sarközi. 1. Interview, 5.1.2006.

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nung des Erlasses zuwider in Vorbeugehaft genommen worden, die seit langer Zeit fest in Arbeit standen.“32

Die Folge der Deportationen – und nicht deren Ursache, wie der eingangs zitierte RKPAErlass impliziert – waren somit höhere Fürsorgekosten, die die Gemeinden zu tragen hatten. Sie stiegen möglicherweise auch deshalb, weil offenbar viele Bauern die ohnehin geringen Löhne der Roma um die Hälfte kürzten: „Nach Mitteilung des Kreisleiters Nicka hat auch außerdem die Zigeunerfahndungsaktion dahin geführt, dass Landwirte Zigeunern, die bisher monatlich RM 40.- an Barlohn verdient haben, nur noch RM 20.- monatlich mit dem Bemerken bezahlen, dass die Zigeuner in Dachau untergebracht werden, wenn sie nicht für diesen geringen Lohn arbeiten.“33

Der schlagartig angestiegene Fürsorgebedarf diente den lokalen Stellen jedenfalls als Beleg für die behauptete „Asozialität“ der „Zigeuner“, der mit Nachdruck ins Treffen geführt wurde, um die zentralen Behörden zu einem radikaleren Vorgehen zu animieren. Der Oberwarter Landrat Peter Hinterlechner forderte etwa Ende September 1939 in einem Schreiben an die Landeshauptmannschaft in Graz, die „Regelung der Zigeunerfrage ehebaldigst durchzusetzen“, denn auch wenn die Deportationen zwar seine grundsätzliche Zustimmung fänden, hätten diese seiner Meinung nach doch auch Probleme geschaffen, „die niemals Zweck der letzten Razzia gewesen sein [können]. Im vergangenen Winter habe ich die Zigeuner aus Mitteln des Bezirksfürsorgeverbandes mit einer einmaligen Unterstützung mit je 3 RM pro Kopf bedacht. Diese einmalige Zuwendung, die wohl nicht wirklich ins Gewicht fallen kann, hat dem Bezirksfürsorgeverband ungefähr 13.000 RM gekostet. (...) Im kommenden Winter würde meiner Ansicht nach mindestens das Fünffache gebraucht werden, falls man die Zigeuner und insbesondere die Kinder nicht einfach ihrem Schicksal überlässt.“34

Allein im Landkreis Oberwart zählte man 300 Kinder und eine „nicht festgestellte“ Anzahl von Jugendlichen, die unversorgt zurückgeblieben waren.35 Sie bestätigten damit das vorurteilsbeladene Bild des „Zigeuners“, erweckten jedoch auch das Mitleid eines Teils der länd32 Uiberreither an das RKPA, 5.6.1939; StLA, L.Reg, 384, Zi/1 1940, 1. Heft. 33 Uiberreither an Kronabetter, Landesregierung Graz, 7.8.1939; StLA, L.Reg, 384, Zi/1 1940, 1. Heft. Uiberreither gibt hier eine Mitteilung des Oberwarter Kreisleiters Eduard Nicka wieder. Wie bereits dargestellt, betrug der gesetzliche Stundenlohn für einen Zwangsarbeiter 0,27 RM. Geht man von einer Wochenarbeitszeit von 50 Stunden aus, ergibt sich ein Monatslohn von ca. 57 RM; d. h. eine fast dreimal so hohe Summe wie der von den Bauern bezahlte Lohn. 34 Hinterlechner an die Landeshauptmannschaft Steiermark, Abt. 10, 28.9.1939; StLA, L.Reg, 384 Zi/11940, 1. Heft. 35 Reichsstatthalter an RSHA, 24.11.1939; StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940. 1. Heft.

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lichen Bevölkerung: „Auch Frauen mit mehreren Kindern sind in größerer Zahl in Haft genommen worden und die Kinder (...) hilflos zurückgelassen worden. Die Kinder, die sich bettelnd und stehlend umhertrieben, sind dann von Bauernfrauen, die in der Erntezeit selbst alle Hände voll zu tun hatten, aus Mitleid betreut worden (…).“36 In diesem Sinne äußerte sich auch der Leiter der Abt. 12 der Landeshauptmannschaft und Dezernent für Volkstumsangelegenheiten Dorfmeister: „Psychologisch und propagandistisch war diese Aktion verfehlt, da die Bauern und vor allem die Bäuerinnen mit den Hunger leidenden und sich allein herumtreibenden Zigeunerkindern Mitleid bekommen haben.“37 Was mit den Kindern und Jugendlichen in weiterer Folge geschah, geht aus den Akten nicht hervor. Die Bandbreite der angeregten Maßnahmen reichte von Deportationen in Konzentrationslager über die Unterbringung in Sammellagern bis zum Versuch, sie bei Verwandten oder Nachbarn in Pflegschaft zu geben. Anton Müller erinnert sich: „Von einem Fall weiß ich, wo die Eltern ins KZ gekommen sind, hier in Zahling, und drei Kinder sind zurückgeblieben. Eine andere Familie hat dann für sie sorgen müssen. (…) Ich denke, dass sie von der Gemeinde Lebensmittel bekommen haben für die Kinder.“38 Fürsorgeleistungen, die den Kindern und Jugendlichen vom Gesetz her zugestanden wären, dürften jedoch nur in geringem Ausmaß erbracht worden sein, denn den Gemeinde- und Gendarmeriemitteilungen mehrerer südburgenländischer Orte zufolge kam es in dieser Zeit zu keiner finanziellen Mehrbelastung.39 Ab Herbst 1939 war es „Zigeunern“ nicht mehr erlaubt, ihren jeweiligen Wohn- bzw. Aufenthaltsort zu verlassen. Dieser vom Berliner Reichssicherheitshauptamt (RSHA), dem das RKPA nun als Amt V angehörte, am 17. Oktober 1939 verfügte „Festsetzungserlass“ erhöhte den Druck auf die „Zigeuner“ auch insofern, als nun zusätzlich auch solche Gemeinden für die Versorgung und Unterbringung der Roma zuständig waren, die bislang „zigeunerfrei“ gewesen waren. Die Beschwerden der Lokalstellen drangen in der Folge bis zum RSHA nach Berlin vor, das daraufhin die Einrichtung von Arbeitslagern für „Zigeuner“ vorschlug.40

36 Hinterlechner an die Landeshauptmannschaft Steiermark, Abt. 10, 28.9.1939; StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940, 1. Heft. 37 Leiter der Abt. 12 der Landeshauptmannschaft und Dezernent für Volkstumsangelegenheiten Dorfmeister; Aktennotiz, undatiert; StLA. L.Reg, 384 Zi/1 1940, 1. Heft. 38 Anton Müller, 3. Interview, 17.11.2007. 39 Gendarmerieposten Jennersdorf an Landrat Jennersdorf, 2.1.1939; StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940; siehe auch: Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 92. 40 Luchterhand, Der Weg nach Birkenau (wie Anm. 22) 141; Baumgartner/Freund, Holocaust (wie Anm. 10) 214.

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b) Deportationspläne und Fluchtbewegung Immer wieder versuchten die steirischen Stellen in Berlin eine „endgültige Lösung der Zigeunerfrage“ im Burgenland zu erwirken und sparten dabei auch nicht mit konkreten Anregungen: So unterbreitete Gauleiter Uiberreither im September 1939 dem Berliner RKPA den Vorschlag, man könne doch alle rund 6.500 bis 6.600 burgenländischen „Zigeuner“ in norddeutsche Arbeitslager deportieren: „Wenn man sie nicht einfach geschlossen in ein KZ bringen will oder kann, dann wäre, (...) einer Anregung des Reichsarbeitsdiensts folgend, der geschlossene Abtransport der Zigeuner in die norddeutschen Moorkultivierungsgebiete in Erwägung zu ziehen. Hier könnten die Zigeuner, nach Geschlechtern getrennt, in durch SA oder SS streng bewachten Lagern untergebracht und auch ihre Sterilisation durchgeführt werden.“41

Als vorübergehende Sofortmaßnahme vor Ort schwebte dem steirischen Gauleiter die Errichtung von „zwei bis drei streng bewachten Arbeitslagern“ vor; dafür kämen auch jene männlichen „Zigeuner“ in Betracht, „die weder vorbestraft noch arbeitsscheu sind oder in anderer Art der Allgemeinheit zur Last fallen“, weil „ein Zigeuner als außerhalb der Volksgemeinschaft stehend stets asozial ist“.42 Auch gegenüber dem Kärntner Gauleiter, der auf der Suche nach Arbeitskräften für den Autobahnbau vorgeschlagen hatte, dass man eventuell sogar auf „etliche hundert“ „Zigeuner“ aus dem Nachbargau zurückgreifen könnte, erklärte Uiberrei­ ther, dass ihm nach der Verhaftungsaktion vom Sommer 1939 überhaupt keine arbeitslosen „Zigeuner“ zur Verfügung stünden und er darüber hinaus anstrebe, „auch die arbeitslos werdenden Zigeuner als asoziale Elemente in Vorbeugehaft zu nehmen und in Zwangsarbeits­ lagern unterzubringen“.43 Berlin scheint auf die steirischen Vorstöße jedoch nicht weiter reagiert zu haben. Im November 1939, kurz nach Inkrafttreten des „Festsetzungserlasses“, rief der Gauleiter deshalb den Zentralstellen neuerlich die Dringlichkeit seines Anliegens „aus bevölkerungspolitischen, staatspolitischen und wirtschaftlichen Gründen“ in Erinnerung und übermittelte diverse Lageberichte zur burgenländischen „Zigeunerfrage“, darunter auch die Denkschrift Portschys.44 Erst im Jänner 1940 schien mit der in Aussicht gestellten Deportation ins Generalgouvernement ein neuer Anlauf einer umfassenden Vorgangsweise plötzlich Gestalt anzunehmen. Am 41 Gauleiter Uiberreither an Reichskriminalpolizeiamt Berlin, 11.9.1939; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft (eine frühere Fassung des Schreibens ist mit 22.8.1939 datiert). 42 Ebenda. 43 Gauleiter der Steiermark an Gauleiter Kärntens, 11.9.1939; bzw. Gauleiter Kärntens an Gauleiter der Steiermark, 15.8.1939; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft. 44 Büro des Gauleiters an RSHA Berlin, Dr. Zindel, 11.4.1939; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft.

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12. Jänner 1940 wurden je ein Vertreter des RSHA und der Kriminalpolizeileitstelle Wien in Graz vorstellig, um die Gauleitung darüber in Kenntnis zu setzen, dass die „Entfernung“ der „Zigeuner“ aus dem Burgenland unmittelbar bevorstehe. Schon im Februar werde eine „Umsiedlung“ ins ehemalige Polen durchgeführt werden.45 Die steirischen Stellen drängten darauf, auch die Personengruppe jener „Zigeuner“ in die Aktion miteinzubeziehen, die sich aufgrund des „Festsetzungserlasses“ seit vielen Wochen in den Gemeinden des Gaus aufhielten. 46 In ihren Augen galt es zu verhindern, dass diese Roma „jene Dörfer, die bisher frei von Zigeunern waren, auch noch verseuchen können“.47 Eine Konkretisierung dieses Deportationsvorhabens blieb jedoch aus. Für die Berliner Zentralstellen hatte der auf Drängen des Oberkommandos der Wehrmacht schließlich Ende Mai 1940 durchgeführte Abtransport von 2.800 „Zigeunern“ von der Westgrenze nach Polen Priorität gegenüber den angekündigten Deportationen aus dem Gau Steiermark.48 Dennoch scheinen Gerüchte über die bevorstehenden Maßnahmen zahlreiche Burgenlandroma dazu veranlasst zu haben, sich – unter Missachtung der Festsetzungsauflagen – Anfang 1940 in die Obersteiermark abzusetzen: Im März 1940 berichtete man dem RSHA in Berlin, dass „diese angekündigte Konzentrierung der Zigeuner in Polen der Bevölkerung und vor allem den Zigeunern selbst bekannt geworden zu sein scheint, da von einzelnen Gendarmerieposten eine auffallende Abwanderung von Zigeunern, vor allem in die Industriegebiete der oberen Steiermark gemeldet wird“.49 Der Zeitpunkt dieser Fluchtbewegung legt in der Tat einen Zusammenhang mit den geplanten Deportationen nahe – noch zu Jahresbeginn hatte beispielsweise der Landrat von Judenburg mitgeteilt, dass der „Zuzug umherziehender Zigeuner (...) im abgelaufenen Jahre 1939 nahezu gänzlich aufgehört“ habe.50 Allerdings führten die Behörden diese Abwanderung auch darauf zurück, dass das Bewegungsverbot des Festsetzungserlasses 45 Es handelt sich um Dr. Zaucke (RSHA Berlin) und Kriminalkommissar Junge (KPLSt. Wien); StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft: Landeshauptmann der Stmk., Abt. 1, Unterabt. 1a an Hauptdezernat für Polizeiangelegenheiten, 22.1.1940. 46 Ebenda; diese Ankündigung dürfte von den Grazer Stellen bereits erwartet worden sein; schon in einem Schreiben vom 6.1.1940 war die Rede von der Festhaltung der „Zigeuner“ „bis zu ihrer Verschickung ins Generalgouvernement“. StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft: Landeshauptmannschaft an Generalpolizeidezernat Graz, 6.1.1940. 47 Landeshauptmannschaft an Generalpolizeidezernat Graz, 6.1.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft. 48 Zimmermann, Die nationalsozialistische Verfolgung der Zigeuner (wie Anm. 24) 121. 49 Diese Fluchtbewegung war vom Landrat in Fürstenfeld schon Anfang März 1940 nach Graz gemeldet worden. Landeshauptmann d. Stmk. an RSHA, z. Hd. Reichskriminaldirektor Hahn (?), Berlin, 30.3.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft. 50 Landrat Kreis Judenburg an Landeshauptmannschaft Graz, 2.1.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 1. Heft.

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nicht immer streng gehandhabt worden sei,51 sogar die Arbeitsämter hätten den „Zigeunern“ auswärtige Arbeitsstellen vermittelt.52 Das Bild, das sich aus dem dokumentierten Behördenverkehr ergibt, hat seine Entsprechung in den Erzählungen Anton Müllers, die nicht nur die Flucht aus dem ehemaligen Burgenland und die Arbeitsmöglichkeiten im obersteirischen Industriegebiet zur Sprache brachten, sondern auch die Hilfeleistung, welche die von der NS-Verfolgung bedrohten Roma bisweilen vonseiten der bäuerlichen Bevölkerung fanden: „Mit den Eltern (…) sind wir geflüchtet. Und dann sind wir nach Leoben gekommen und haben gearbeitet. (…) Wir haben Unterschlupf bei einem Bergbauern gefunden. Der Bauer war ein guter Mensch. Er hat ein separates Gebäude gehabt, ein altes Holzhaus, in dem wir haben wohnen können, und mein Vater, mein älterer Bruder und ich haben Arbeit bei einer Firma in LeobenSeegraben gefunden. Wir gingen ja früher [Anm.: aus Zahling fort], weil wir gehört hatten, dass viele in die KZs kamen und dass für uns also auch kein Platz mehr daheim war.“53

Nach mehrmaligen Anfragen beim RSHA, die auch die jüngste Fluchtbewegung von einigen Hundert burgenländischen „Zigeunern“ ins Treffen führten,54 wurde den Grazer Stellen schließlich Mitte Juni 1940 knapp mitgeteilt, dass „eine weitere Umsiedlung (...) derzeit nicht möglich“ sei, allerdings sei die „schwierige Lage hinsichtlich der Zigeuner im Burgenland (...) hier durchaus bekannt und eine bevorzugte Entlastung ist vorgemerkt, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet“.55 Schon drei Wochen später schien sich das Blatt jedoch gewendet zu haben. Die steirischen Behörden wurden nun vom RSHA (bzw. parallel auch von der Kriminalpolizeileitstelle Wien) darüber informiert, dass ein neuer Termin für Ende August bzw. Anfang September anberaumt worden sei: „Vorausgesetzt, dass die verkehrstechnische Lage bei der Reichsbahn es gestattet, ist beabsichtigt, (...) 6.000 Zigeuner und Zigeunermischlinge aus dem Burgenlande in das Generalgouvernement umzusiedeln. Falls diese Zahl nicht erreicht wird, sollen Zigeuner aus weiteren Gebieten der Ostmark mit berücksichtigt werden.“56 Innerhalb kürzester Zeit liefen die organisatorischen Vorbereitungen der regionalen und lokalen Stellen auf Hochtouren. Am 29. Juli 1940 wurden bei einer Geheimbesprechung beim Reichsstatthalter 51 Vgl. Oliver Seifert, Roma und Sinti im Gau Tirol-Vorarlberg. Die „Zigeunerpolitik“ von 1938 bis 1945, Innsbruck–Wien–Bozen 2005, 79. 52 Aktenvermerk des Polizeidezernenten Schmidinger, 12.6.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 53 Anton Müller, 3. Interview, 17.11.2007. Diese Ausführungen über die Flucht der Familie decken sich mit den Angaben seines jüngeren Bruders Karl Sarközi: Karl Sarközi, 1. Interview, 5.1.2006. 54 Z. B.: Reichsstatthalter an RSHA (A. Nebe), 24.6.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 55 RSHA Berlin an Landeshauptmann d. Stmk., 17.6.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 56 RSHA Berlin an Reichsstatthalter, 16.7.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft.

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die Grundlagen für Sammlung und Abtransport festgelegt. Eine neuerliche Erfassungsaktion der Kriminalpolizeistelle Graz ergab für den Gau Steiermark eine Gesamtzahl von rund 4.000 „Zigeunern“, wovon 3.600 auf die Kreise Oberwart, Feldbach, Fürstenfeld und Hartberg entfielen. Ein detailliertes Verzeichnis sah vier Transporte zu je rund 1.000 Personen vor; die Vorbereitungen vor Ort sollte von lokalen Organisationsstäben getroffen werden.57 Man ersuchte das RSHA, die Verpflegungskosten für diese „Säuberungsaktion“, die als gesamtstaatliche Angelegenheit der „Reichssicherheit“ anzusehen sei, nicht den betroffenen Gemeinden aufzuhalsen,58 und „darauf hinzuwirken, dass aus dem Reichsgau Steiermark nicht nur, wie aus den bisherigen Besprechungen hervorging, 3.000 Zigeuner zum Abtransport kommen, sondern dass sämtliche 4.051 Zigeuner abtransportiert werden können.“ Das sei „die einmütige Auffassung aller für die Mitwirkung bei der Lösung der Zigeunerfrage in Betracht kommenden Stellen des Reichsgaues Steiermark“.59 Mit besonderem Nachdruck forderte auch bei dieser Gelegenheit der Landrat von Oberwart die endgültige „Entfernung“ der Burgenlandroma: „Damit nicht durch eine halbe Lösung das Zigeunerproblem immer wieder auftaucht, wäre unbedingt ein radikales Durchgreifen erforderlich.“60 Während sich die Lokalstellen also bereits in die Detailerörterung der Kostendeckung vertieften, wurde die gesamte Planung der Deportationsaktion jedoch am 15. August 1940 plötzlich von Himmler gestoppt. Der Chef des Amtes V des Berliner RSHA, Arthur Nebe, und der Leiter der Kriminalpolizeistelle Wien, Reichskriminaldirektor Thiele, reisten nach Graz, um den Leiter der Kriminalpolizeistelle Graz von der Entscheidung Himmlers in Kenntnis zu setzen. Die steirischen Stellen wurden darauf vertröstet, dass die Aktion „zu einem späteren Zeitpunkt in einem noch grösseren [sic] Maßstabe erfolgen“ werde.61 Und abermals wurde versichert, „dass das Burgenland bei der Endregelung bevorzugt berücksichtigt wird“. Allerdings seien „neuerdings Umstände eingetreten, die eine sofortige Umsiedlung der Zigeuner nicht ratsam erscheinen lassen“; das „Zigeunerproblem“ im Burgenland sei also „zunächst als

57 Aktenvermerk des Polizeidezernenten über die Besprechung vom 29.7.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft; dem Akt liegt die undatierte Aufstellung der Kriminalpolizeistelle Graz bei. 58 Reichsstatthalter an RSHA (Nebe), 29.7.1940 bzw. Kriminalpolizeistelle Graz (Clahs) an RSHA (Nebe), 1.8.1940; weiters: Reichsstatthalter an Reichsinnenministerium, 9.8.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 59 Kriminalpolizeistelle Graz (Clahs) an RSHA (Nebe), 1.8.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. Laut einer dem Akt beiliegenden (undatierten) Kostenschätzung des Reichsstatthalters beläuft sich die Summe auf RM ca. 75.000 für die Gesamtzahl von 3.528 zu deportierenden Personen (2514 aus dem Kreis Oberwart, 245 aus Feldbach sowie 769 aus dem Kreis Fürstenfeld). 60 Landrat von Oberwart an Reichsstatthalter/Abt. Ia, 8.8.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 61 Abschrift der Aufzeichnung der Besprechung vom 15.8.1940 (gez. Clahs); StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft.

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eine örtliche Aufgabe“ in Angriff zu nehmen.62 Um welche konkreten „Umstände“ es sich dabei handelte, blieb im Behördenverkehr unausgesprochen. Freund u. a. zufolge verbargen sich dahinter „Konflikte um die Fortführung der antijüdischen Politik“, die zur Folge hatten, dass eine groß angelegte, zentral gesteuerte Deportation der Roma und Sinti vorerst auf Eis gelegt wurde. Gleichzeitig vergrößerte sich somit für die folgende Übergangsphase allerdings auch der Spielraum der lokalen Behörden.63 c) Errichtung von Zwangsarbeitslagern Mit einem Mal gewannen somit wieder alte Überlegungen die Oberhand, welche die Einrichtung lokaler Zwangsarbeitslager zum Gegenstand gehabt hatten. Diese neue Etappe der „Zigeuner“-Verfolgung zielte darauf ab, „die männlichen arbeitsfähigen Zigeuner zum geschlossenen Arbeitseinsatz zu bringen und sie in Barackenlagern unter entsprechender Bewachung zusammenzufassen“.64 Ab Oktober 1940 wurden vor allem in den Gauen Niederdonau und Steiermark innerhalb weniger Wochen ca. ein Dutzend Zwangsarbeitslager für „Zigeuner“ errichtet, ein großer Teil von ihnen im obersteirischen Industriegebiet.65 Noch bevor ein entsprechender Erlass die genauen Richtlinien festlegte, traten Kriminaldirektor Friedrich Clahs und der Grazer Polizeipräsident Max Brand in Verhandlungen über den Zwangsarbeitseinsatz.66 Schon am 24. Oktober 1940 berichtete der Landrat von Oberwart, Peter Hinterlechner, dass „über Erlass der Kriminalpolizeistelle in Graz (...) alle männlichen arbeitsfähigen Zigeuner von vierzehn bis 65 Jahren in ein Lager nach Judenburg abgeschoben (wurden). Hierdurch wurden 322 Zigeuner aus dem Bezirk Oberwart entfernt.“ Die Festnahme unter „Heranziehung der SA/SS und sonstige(r) Gliederungen“ verlief „vollkommen plangemäß“.67 Allerdings merkt Hinterlechner auch an:

62 RSHA Berlin an Reichsstatthalter Graz, 21.8.1940. Siehe: Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 35–36; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 63 Vgl. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 36. 64 Abschrift der Aufzeichnung der Besprechung vom 15.8.1940 (gez. Clahs); StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 65 Weitere Lager gab es in Maxglan bei Salzburg, in Weyer (Oberdonau), Karlhof, Fischamend, GroßGlobnitz und Lackenbach (Niederdonau). Im Unterschied zu den übrigen Lagern waren in Lackenbach, dem mit Abstand größten Lager, sowie in Weyer und Maxglan auch Familien interniert. Siehe z. B.: Baumgartner/Freund, Holocaust (wie Anm. 10) 214.; Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 146. 66 Vgl. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 121. 67 Landrat Oberwart an Regierungspräs. Müller-Haccius, 24.10.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft.

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„Dadurch aber, dass die meisten Zigeuner von Arbeitsplätzen weggenommen wurden, musste ich am Tage des Abtransports mehrere Beschwerden über die Wegnahme dieser Arbeitskräfte (...) entgegennehmen. In einzelnen Fällen war der Ausfall augenblicklich wohl sehr spürbar, was umso unangenehmer empfunden wurde, da nur die Arbeitskräfte weggenommen wurden, während alles übrige zurückblieb und (...) die Ansicht entstand, dass die Fürsorgelasten in Hinkunft noch größer werden würden. Es herrscht in dieser Hinsicht eine ziemliche Erbitterung.“68

Hinterlechner drängte deshalb neuerlich zu einem radikaleren Vorgehen, damit man „nicht den Anschein erweckt, als ob man auf halbem Wege stecken bleiben würde“. Und er fügte hinzu, „dass es für die Steiermark bestimmt ein kleines Ehrenblatt bedeuten (würde), wenn man sagen könnte, dass gerade der Gau Steiermark eine Gesamtlösung der Zigeunerfrage durchgesetzt habe“.69 Die formelle Absegnung des RSHA erfuhren die geleisteten Vorarbeiten durch einen Erlass Heydrichs vom 31. Oktober 1940, der die „Zigeunerpolitik“ der „Ostmark“ in den kommenden Monaten als vor Ort zu behandelnde Übergangsphase bestimmte.70 Kleinere „Zigeunersiedlungen“ sollten aufgelöst und deren Bewohner in die größeren Siedlungen transferiert werden, die ab nun unter ständiger Bewachung zweier Ordnungspolizisten zu stehen hätten. Was die Bezahlung und Bewachung der Zwangsarbeiter betraf, konnte Heydrich auf die Erfahrungen des burgenländischen Zwangsarbeitermodells zurückgreifen. Als Leiter der Arbeitslager waren Kriminalbeamte vorgesehen, die dafür verantwortlich waren, die einbehaltenen Löhne „zum Unterhalt der Angehörigen und weiteren Stammesgenossen“ an die Fürsorgestellen weiterzuleiten.71 Neben der Kriminalpolizei kam somit der Gaufürsorge unter ihrem Leiter Viktor KastnerPöhr eine entscheidende Rolle zu. Noch vor dem Erlass bestand bereits ein detailliertes Konzept, was mit den Löhnen der Zwangsarbeiter zu geschehen habe: „Das gesamte Einkommen dieser Lagerinsassen (...) wird nach Abzug der sozialen Lasten, Steuern, Lagerkosten (…) und des Taschengeldes auf ein zu errichtendes Konto bei der Landes-Hypotheken-Anstalt zur Verfügung des Gaues Steiermark (Gaufürsorgeamt) eingezahlt. (...) Von diesen eingehenden Beträgen werden die Lagerkosten und das Taschengeld der arbeitsunfähigen Lagerinsassen bestritten, sowie etwaige Anschaffungen für Kleidung und Schuhe.“72 68 Ebenda. 69 Landrat Oberwart an Regierungspräs. Müller-Haccius, 24.10.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 70 Schnellbrief Heydrichs, 31.10.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940. 71 Ebenda. 72 Schreiben Landesregierung gez. Kastner-Pöhr an die Neubauleitung der Reichsstraße 116 in Judenburg, 18.10.1940; StLA, L.Reg, 120 Zi/1 1940. Vgl. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 122.

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Zwangsarbeitslager für „Zigeuner“ wurden ab Oktober 1940 an folgenden Orten in der Obersteiermark eingerichtet: Triebendorf (Murau), Unzmarkt, Zeltweg, Kobenz (Knittelfeld), St. Georgen ob Judenburg, Hinterberg, Preg und St. Lambrecht bei Neumarkt. Eingesetzt wurden die „Zigeuner“ bei verschiedenen Baufirmen und für Flughafenasphaltierungsarbeiten (Zeltweg), der Großteil der Zwangsarbeiter dürfte jedoch im Straßenbau gearbeitet haben.73 Ursprünglich war beabsichtigt, „im Laufe der Zeit rund 1.000 männliche Zigeuner zum Arbeitseinsatz“ zu bringen.74 Über die tatsächliche Zahl sowie die genauen Einsätze geben die Akten jedoch nur unzureichend Auskunft. Eine detaillierte Auflistung besteht lediglich für Sommer 1941, wonach insgesamt 535 „Zigeuner“ inhaftiert waren: in St. Lambrecht 47, in Triebendorf 145, in Kobenz 124, in Hinterberg 204, in Preg 35.75 In Zeltweg arbeiteten Ende 1940 258 „Zigeuner“ als Zwangsarbeiter für die Allgemeine Straßenbau AG und für die S­ TUAG.76 Einer Bilanz der Kriminalpolizeistelle, die unmittelbar nach den Łódź-Deportationen im November 1941 erstellt wurde, ist zu entnehmen, dass sich die Gesamtzahl der in den obersteirischen Arbeitslagern befindlichen „Zigeuner“ vor Durchführung der Transporte auf 597 belaufen hatte, rund zwei Drittel von ihnen stammten aus dem Kreis Oberwart.77

III. Das Lager Kobenz Im Folgenden sollen nun die Lager- und Arbeitsbedingungen sowie die Praxis der Entlohnung am Beispiel des „Zigeunerarbeitslagers“ Kobenz untersucht werden.78 Die Gemeinde Kobenz liegt an der Schnellstraße 36, ca. fünf Kilometer von der Bezirkshauptstadt Knittelfeld entfernt. Das Lager befand sich beinahe mitten im Ort, in unmittelbarer Nähe zur Kirche, zum Gemeindeplatz und zu den Wohnhäusern der höchsten nationalsozialistischen Ortsrepräsentanten: Bürgermeister Horner, Ortsgruppenleiter Rainer, Ortsbauernführer Bä73 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 123. 74 Aktenvermerk des Reichsstatthalters über die Besprechung beim Regierungspräsidenten am 6.11.1940, 7.11.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 75 Die Lager St. Georgen und Unzmarkt waren zu diesem Zeitpunkt bereits aufgelöst. Landrat Hinterlechner an den Reichsstatthalter in der Steiermark, 30.11.1940; StLA L.Reg., 120 Zi/1 1940. 76 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 124. 77 Leiter der Kriminalpolizeistelle Graz an den Reichsstatthalter (z. Hd. Schmidinger), 13.11.1941; StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940. Dies deckt sich mit einer weiteren internen Aufstellung, in der für die Abrechnung bis 31.12.1940 die Summe von 604 Personen (davon 409 aus dem Kreis Oberwart bzw. 93 aus Fürstenfeld und 39 aus Feldbach) genannt wird; siehe: Kontoabrechnung, interner Vermerk, undatiert (vermutl. Februar 1941); StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940. 78 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 124.

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renfeind. Letzterem gehörte auch das Areal, das er nach dem „Anschluss“ zum Zweck der Errichtung eines Barackenlagers an die Gemeinde verkauft hatte.79 Das Lager geht auf die Wohnbaracken der für den Straßenbau80 engagierten Bauarbeiter zurück, die sich zu einem großen Teil aus steirischen und – kurz vor Kriegsbeginn – auch aus slowakischen Arbeitskräften zusammensetzten.81 Die zunächst drei Baracken standen im rechten Winkel zueinander und umschlossen einen Innenhof. Laut Auskunft der Zeitzeugen befanden sich nach den Straßenarbeitern schon bald auch polnische und französische bzw. belgische Gefangene im Lager.82 Bis spätestens Ende April 1940 dürfte das Lager dann aber geräumt worden sein,83 um Platz für rund 100 jüdische Zwangsarbeiter aus Wien zu schaffen. Ein im Gemeindearchiv Kobenz aufgefundenes Verzeichnis vom 7. Juni 1940 gibt Aufschluss über die Namen der „Gefolgschaft der jüdischen Arbeiter im Lager Kobenz“, das am 8. bzw. 18. Mai 1940 mit der Überstellung von 98 Personen neu belegt wurde. Zwölf von ihnen waren mit 31. Mai 1940 schon wieder aus Kobenz abgegangen.84 Wie lange genau sich die übrigen jüdischen Häftlinge hier aufhielten bzw. wohin sie danach verbracht wurden, geht aus den Quellen nicht hervor. Es ist allerdings anzunehmen, dass die jüdischen Insassen – nur wenige Wochen später – bereits wieder abtransportiert worden waren, als das Lager aufgrund der Neuorientierung der „Zigeunerpolitik“ in ein „Zigeunerarbeitslager“ umfunktioniert wurde. In zumindest einem Fall konnte jedoch nachgewiesen werden, dass einzelne Juden auch noch nach dem Abgang der jüdischen Häftlinge, nun gemeinsam mit den „Zigeunern“, im Lager verblieben.85 Unter Letzteren befand sich auch Anton Müller, der zusammen mit seinem Vater bis zur Festnahme im Herbst 1940 bei einer Hoch- und Tiefbaufirma in Leoben gearbeitet hatte.86 79 H. H., Interview, 23.1.2008; siehe: Gemeindearchiv Kobenz, Materialien zum Lager, diverse Lagepläne. 80 Es handelt sich um die heutige B78 zwischen Knittelfeld und Leoben. 81 Es handelte sich hier noch nicht um Zwangsarbeit, sondern um reguläre Lohnarbeit. Siehe z.B.: Verzeichnis über die beim Strassenbau [sic] in Kobenz beschäftigten Slowaken, Stand vom 24.5.1939 bzw. vom 5.6.1939; Gemeindearchiv Kobenz, Materialien zum Lager, grüne Mappe. 82 H. H. bzw. O. O., Interviews, 23.1.2008. 83 Darauf deuten zwei erhaltene Personallisten hin, die für März und April 1940 den Abgang einer Reihe von Bauarbeitern belegen; Veränderungsmeldungen, 24.4.1940 und 30.4.1940; Gemeindearchiv Kobenz, Materialien zum Lager, grüne Mappe. 84 Verzeichnis „Gefolgschaft der jüdischen Arbeiter in [sic] Lager Kobenz“, 7.6.1940; Gemeindearchiv Kobenz, Materialien zum Lager, grüne Mappe. 85 So scheint Sigmund Drucker, geb. 9.9.1886 (gemeldet in Wien), später auch auf einer nicht weiter zuordenbaren „Zigeuner“-Häftlingsliste auf. Tabelle, undatiert; Gemeindearchiv Kobenz, Materialien zum Lager, grüne Mappe. 86 „Eines Tages ist dann die Gestapo gekommen und hat uns mitgenommen. Wir wurden ins Arbeitslager Kobenz gebracht. Wahrscheinlich haben sie erfahren, dass wir Roma sind. Dort mussten wir im

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Bezüglich der Bewachung bei den Bauarbeiten heißt es in einer Weisung Kastner-Pöhrs: „Jeder eingesetzten Zigeunergruppe ist eine Polizeiwachmannschaft zugeteilt und habe [sic] die Bauunternehmungen mit den Wachkommandanten ständig Fühlung zu halten. Event. Strafmaßnahmen gegen Zigeuner sind nur im Einvernehmen mit den Wachkommandanten durchzuführen und sind der Neubauleitung hievon Berichte zu machen.“87 Eine Miteinbeziehung der Sicherheitspolizei bei der Bewachung lehnte das RSHA wegen Personalmangels ab, beschloss jedoch, „eine Reihe von Zigeunern zu [sic] Barackenältesten einzusetzen. (...) Zur Erreichung dieses Ziels ist die Entlassung von 60 Zigeunern, die schon in Konzentrationslagern erzogen worden sind (...), eingeleitet worden.“88 Ein Kobenzer Zeitzeuge gab an, dass das Bewachungspersonal des Lagers – auch zur Zeit der „Zigeuner“-Zwangsarbeiter – von der Wehrmacht gestellt worden sei, SS-Männer hätten sich nicht im Ort befunden. Aus Kobenz selbst sei niemand zur Bewachung der „Zigeuner“ herangezogen worden.89 Für die Bewachung von Kriegsgefangenen dürften allerdings schon seit 1940 Hilfspolizeikräfte aus der Dorfbevölkerung rekrutiert worden sein, ein Einsatz auch in diesem Zusammenhang scheint so zumindest nicht gänzlich ausgeschlossen.90 „Nein, SS oder so etwas gab es dort nicht“, gab auch Anton Müller an: „Es war nur der Lagerälteste (...), der war in Zivil. Das war ein guter Kerl, der hat das ganze Lager geführt. Hin und wieder ist er zu uns gekommen und hat mit uns Karten gespielt. Der hat das Essen und alles organisiert, das Essen haben wir vom Flughafen bekommen und das war nicht schlecht.“91

Tatsächlich dürfte es sich hierbei um den Lagerführer, einen Kriminalpolizisten namens Konwalina, und bei der Wachmannschaft um Polizeipersonal gehandelt haben.92 Mehrere

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Straßenbau arbeiten, bei der STUAG.“ Anton Müller, 3. Interview, 17.11.2007. Dass die Gestapo die Festnahme vornahm, war nicht die Regel und hatte normalerweise die Einweisung in ein Konzentrationslager zur Folge. Neubauleitung der Reichsstraße 116, Judenburg, an alle Ortsbauführer und Bauunternehmungen; StLA, LReg., 120 Zi/1 1940; vgl. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 126. Abschrift eines Schreibens des RSHA Berlin vom 25.4.1941 an Hauptamt Ordnungspolizei, 9.5.1941; StLA, LReg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. H. H., Interview, 23.1.2008. Die Lagerakten des Gemeindearchivs Kobenz enthalten einige Schreiben bezüglich des Einsatzes von Hilfspolizei für die Kriegsgefangenenbewachung; vgl. bspw.: Rundschreiben des Landrats Judenburg an sämtliche Bürgermeister v. 24.9.1940. Anton Müller, 3. Interview, 17.11.2007. „Ja, bewacht sind wir worden. Von Leuten in grauer Uniform, (...) keine schwarzen SS-Uniformen.“ Anton Müller, 2. Interview, 25.8.2007. Nur für die Lager Kobenz und Triebendorf war ein eigener Lagerführer bestellt worden. Rundschreiben der Neubauleitung für den Ausbau der Reichsstraße 116 an alle Ortsbauführer und Bauunternehmungen, 28.10.1940; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940.

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Rundschreiben unterrichteten die Bauunternehmen, denen „Zigeuner“ zugeteilt waren, über die Regelung der Bewachung und die immer wieder abgeänderten Modalitäten der Lohnverrechnungen. Am 20. November 1940 wurde angeordnet, dass die Bewachung allein den Polizeiorganen obliege. Um diesen „die Überwachung der Zigeuner auf den Baustellen zu erleichtern“, sei „jeder einzelne Zigeuner sofort am Rock (Rücken und Revers) und auf der Hose (Hosenboden und Oberschenkel) mit einem weißen ‚Z‘ zu kennzeichnen“. 93 Auch die Einrichtung einer eigenen Gendarmeriestelle im Ort, die in einem Bauernhof in der Nähe des Lagers eingerichtet wurde, von wo aus man die Straße überblicken konnte, war vor allem auf die Anwesenheit von Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen zurückzuführen.94 Bezüglich des Arbeitseinsatzes verfügte der Grazer Polizeipräsident, dass die „Zigeuner (…) frühestens um 7 Uhr das Lager“ verlassen und „spätestens um 19 Uhr wieder im Lager zu sein“ hatten.95 Die beim Straßenbau eingesetzten Zwangsarbeiter kamen dabei gruppenweise zum Einsatz.96 Den Baufirmen wurde eingeschärft, dass die „Zigeuner“, auch wenn sie „als Häftlinge zu betrachten und als solche trotz allem zu behandeln sind“, gesetzmäßig zu entlohnen seien,97 zudem hätten sie Anspruch auf Krankengeld und Schlechtwetterzulagen.98 Allerdings wurden diese Zahlungen nicht an die Internierten ausbezahlt: Durch den Arbeitseinsatz in den Lagern hätten die „Zigeuner“ selbst für die Fürsorgeauslagen für die gesamten Roma aufkommen sollen. Die angeblich enormen Fürsorgekosten hatten stets dazu gedient, die Forderung nach weiter reichenden Maßnahmen zu untermauern. Dabei ergab die für die zwölf Monate vor Oktober 1940 erstellte Kostenbilanz lediglich eine Gesamtsumme von rund 67.900 RM;99 dies entspricht – für den gesamten Gau – in etwa den Fürsorgekosten 93 3. Rundschreiben der Neubauleitung an alle Bauunternehmungen, 20.11.1940; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. Über eine solche Kennzeichnung haben die Zeitzeugen jedoch nichts berichtet. 94 Die Einrichtung des Postens findet in der Chronik des Postens Knittelfeld keine Erwähnung. Die Auflassung der Kobenzer Gendarmeriestelle mit 15.1.1949 hingegen ist verzeichnet; ebenso geht aus der Personalliste der Chronik hervor, dass Johann Sturm von 15.3.1941 bis 1.1.1943, also zur Zeit des „Zigeunerlagers“, als Postenführer fungierte. Siehe: Gendarmeriechronik des Postens Knittelfeld, einsehbar beim Bezirkspolizeikommando Knittelfeld. Eine eigene Chronik für Kobenz existiert laut Bezirkspolizeikommando Knittelfeld nicht. O. O., Interview, 23.1.2008. 95 3. Rundschreiben der Neubauleitung an alle Bauunternehmungen, 20.11.1940; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. 96 O. O., Interview, 23.1.2008. 97 Neubauleitung Reichsstraße 116 an alle Ortsbauführer, an alle Bauunternehmungen, 28.10.1940; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. 98 Kranke Arbeiter wurden aus den anderen Lagern ins Lager Kobenz überstellt, das somit als eine Art Lazarett diente; diesbezüglich konnten die Zeitzeugen allerdings nicht Auskunft geben. 2. Rundschreiben der Neubauleitung Judenburg vom 4.11.1940; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. 99 Sammelbögen bezüglich d. Aufwendungen für Zigeunerfürsorge vom 1.10.1939 bis 30.9.1940; 1.12.1940; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940.

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von nicht mehr als rund 50 Familien.100 Statt die Fürsorgestellen zu entlasten, bewirkte das Zwangsarbeitssystem nun das Gegenteil: „Durch die in der letzten Zeit erfolgte Abtransportierung aller arbeitsfähigen männlichen Zigeuner in Arbeitslager ist die Zahl der hilfs- und unterstützungsbedürftigen Zigeunerangehörigen (...) sprunghaft angewachsen, da durch diese Aktion nun nahezu alle zurückgebliebenen Zigeunerfamilien ihrer Ernährer beraubt sind und somit mit einem Schlag etwa 2000 Zigeunerköpfe (...) hilfsbedürftig geworden sind.“101

Die Anfangsregelung, wonach die Löhne über das Gaufürsorgeamt weitergeleitet wurden, hatte dazu geführt, dass „die Angehörigen nur in den seltensten Fällen zu ihrer Unterstützung kamen“.102 Ende Februar 1941 musste man eingestehen, dass auch die direkte Überweisung der Lohnüberschüsse an die Bezirksfürsorgestellen, die im Jänner 1941 die Zahlungen an das Gaufürsorgeamt abgelöst hatte, „die beabsichtigte Auswirkung nicht gezeitigt“ habe und „die Arbeitsfreudigkeit der in den Lagern eingesetzten Zigeuner wegen des Ausbleibens der entsprechenden Befürsorgung in ihren Familien so stark nachgelassen hat, dass der Arbeitserfolg und damit der Arbeitsverdienst auf ein Mindestmass [sic] gesunken ist“. 103 Für die Zeit bis Jahresende 1940 flossen dem Fürsorgekonto lediglich 39.500 RM zu: ein lächerlicher Bruchteil des angestrebten Betrages.104 Statt, wie bei den Planungen vorgesehen, nach Abzug der Lagerkosten Einnahmen von 12.000 RM wöchentlich (also rund 624.000 RM pro Jahr), zu erbringen, die an die Bezirksfürsorgeämter abgeführt werden sollten, 105 konnten die Erträge nicht einmal überall die laufenden Kosten abdecken. Das war insbesondere dann der Fall, wenn die Bautätigkeit im Winter über längere Zeit eingestellt werden musste. So berichtete das Baulos Knittelfeld-Zeltweg, dass „in der Zeit vom 26.12.40 bis 10.2.41 die Zigeuner im Lager behalten wurden und keine Arbeitsleistung verrichten konnten, weil in der strengen Winterzeit Belagsarbeiten und Humusierungen nicht durchgeführt werden konnten“.106 Die Firma Vianova Straßenbau AG Wien gab ebenfalls an, dass „infolge

100 Der Schätzung liegt der Richtwert von rund 1.250 RM/Jahr für die „Zigeunerfamilie“ Krieger in Murau zugrunde (andere im Akt verzeichnete Beispielfälle für Familien liegen im selben Bereich). Landrat Murau an Reichsstatthalter, 2.12.1940; StLA, L.Reg, 120 Zi/1 1940. 101 Landrat Oberwart an Reichsstatthalter, 30.11.1940; StLA, L.Reg, 120 Zi/1 1940. 102 Allg. Straßenbau AG/Zeltweg an Straßenbauamt Judenburg, 12.11.1941; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. 103 Rundschreiben an Landräte und Neubauleitung in Judenburg, 25.2.1941; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. 104 Interne Aufstellung (undatiert) der von den Baufirmen eingegangenen Zahlungen, Abrechnung bis 31.12.1941; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. 105 Aktenvermerk des Reichsstatthalters über die Besprechung beim Regierungspräsidenten am 6.11.1940, 7.11.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 106 Straßenbauamt Judenburg an den Reichsstatthalter, IIIb, 6.10.1941; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940.

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nicht produktiver Arbeitsleistung der bei uns auf der Baustelle Judenburg beschäftigten, im Lager Zeltweg untergebrachten Zigeunerarbeiter“ ein Defizit entstanden sei.107 Daraufhin sollte ein Teil des Lohnes bar an die Zwangsarbeiter (80% des Nettolohns bei den Lagerinsassen, die für Angehörige aufzukommen hatten, bzw. 50% für die übrigen) zur Weiterleitung an ihre Familien ausbezahlt werden.108 Damit reagierte man auch auf Vorschläge der Bauunternehmen. So heißt es in einem Schreiben der Firma Beyer & Co. von Mitte Februar 1941: „Es ist (...) der einzig richtige Weg, um den Leistungsabfall, – der ein sehr großes Ausmaß angenommen hat, seit die Zigeuner der Meinung sind, dass das Geld ihre Familien nicht erreicht, – wieder wettzumachen, den Zigeunern das Geld auf die Hand auszuzahlen.“109 Doch die Beschwerden, dass die Löhne nie bei den bedürftigen Angehörigen in den Heimatgemeinden ankamen, rissen auch in der Folge nicht ab.110 Die Lebensumstände der Häftlinge selbst scheinen hingegen vergleichsweise erträglich gewesen zu sein: Die Zwangsarbeiter waren zwar im Lager interniert und jeder persönliche Kontakt zur Bevölkerung war ihnen untersagt, sie konnten sich aber, wie sich ein Zeitzeuge aus der Nachbarschaft erinnert, tagsüber zum Teil relativ frei bewegen; eine strengere Bewachung sei erst später bei der Internierung der Kriegsgefangenen eingeführt worden.111 Laut den Erinnerungen dieses Kobenzer Bauern hatten die Angehörigen sogar die Möglichkeit, die Inhaftierten an den Wochenenden zu besuchen: „Am Anfang waren auch Frauen immer wieder zu Besuch da, die haben bei uns im Stall geschlafen, es hat ja keine andere Möglichkeit gegeben. (...) Oben im Stall, im Stroh. Die haben für ihre Männer Sachen mitgebracht. Sie sind hergekommen und haben gefragt, ob sie hier übernachten können. (...) Der Vater hat ihnen Decken gegeben. Sonntag haben sie Ausgang gehabt, da sind sie spazieren gegangen mit den Frauen. Am Montag haben sie wieder arbeiten müssen und die Frauen waren fort.“112

Dass sich die Romafrauen gerade an diesen Bauern wandten, dürfte damit zusammenhängen, dass auch in früheren Jahren fahrende Roma und Sinti hier immer wieder Aufnahme gefunden hatten. Die Besuche der Roma spielten sich direkt vor den Augen und mit der Duldung der Gendarmerie ab, die im selben Bauernhof einquartiert war.113 Dies ist umso bemerkens107 108 109 110

Firma Vianova an Gaufürsorgeamt, 6.8.1941; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. Rundschreiben an Landräte und Neubauleitung in Judenburg, 25.2.1941; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. Beyer & Co. an den Reichsstatthalter, IIIb, 17.2.1941; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. Josef Baranyai an Gauleiter Uiberreither, 2.10.1941 (liegt dem Schreiben des persönlichen Dezernenten beim Reichsstatthalter an den Leiter IIIb, 6.10.1941 bei); StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. 111 O. O., Interview, 23.1.2008. 112 Ebenda. 113 Ebenda.

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werter, als den „Zigeunern“ durch den „Festsetzungserlass“ eigentlich jede Entfernung von ihrem Aufenthaltsort untersagt war. Der ehemalige Zwangsarbeiter Anton Müller, der sich „ungefähr ein Jahr“ im Kobenzer Lager befand, erinnert sich, dass es auch den Häftlingen gestattet war, ihre Familien außerhalb des Ortes zu besuchen. „Nur wenn man die Erlaubnis des Lagerältesten gehabt hat, haben wir können am Samstag zu Besuch hinauffahren (Anm.: zur Mutter nach Leoben). Aber um die vereinbarte Uhrzeit haben wir müssen wieder da sein.“114 Von Fluchtversuchen wussten die Zeitzeugen dennoch nicht zu berichten: „Nein, es hat keiner probiert, obwohl es leicht gegangen wäre. (...) Man hat gedacht, uns geht es eh gut, wir bleiben da. Man hat das Vertrauen gehabt, dass es einem besser geht, wenn man bleibt. Da wäre keiner gegangen. Wir sind ja auch die Mutter besuchen gegangen, und wir hätten auch abhauen können. (...) Wir wären sowieso nicht fortgegangen, weil wo hätten wir hin sollen? Wir waren froh, dass er (Anm.: der Lagerführer) so gut war zu uns. Und wir waren froh, dass wir dort arbeiten haben können, natürlich, bezahlt haben wir nichts bekommen. Moment, am Wochenende hat jeder eine Schachtel Zigaretten bekommen, das war alles.“115

Es kam daher, im Gegensatz zu bisherigen Annahmen,116 offenbar nur sehr vereinzelt zur Flucht aus den steirischen „Zigeunerlagern“.117 Die vergleichsweise offenen Lagerverhältnisse und der Verzicht auf eine rigidere Bewachungspraxis wiegten die internierten „Zigeuner“ erfolgreich in falscher Sicherheit. Genau das könnte – sofern es sich nicht nur um ein Spezifikum des Kobenzer Lagers handelte – von den NS-Stellen bezweckt worden sein. Indem man nämlich auf diese Weise eventuellen Fluchtversuchen zuvorkam, konnte die Zeit bis zur Wiederaufnahme der Deportationen möglichst reibungslos überbrückt werden.118 Alles deutet darauf hin, dass die steirischen „Zigeunerarbeitslager“ als solche infolge der Łódź-Deportationen aufgelöst wurden.119 Allerdings ergab sich der Befund, dass immerhin rund 45 % der in der Obersteiermark eingesetzten „Zigeuner“, nämlich 270 der 597 Personen,

114 Anton Müller, 3. Interview, 17.11.2007. 115 Ebenda. 116 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 142. 117 So meldete die Bauunternehmung in Unzmarkt im Jänner 1941, dass zwei der Arbeiter aus dem Lager geflohen waren; Bauunternehmung Josef Takács & Co. an Reichsstatthalter, 31.1.1941; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. 118 Dieser Einschätzung widerspricht die bei Freund u. a. vorgenommene Charakterisierung der Lager, der zufolge sich in ihnen „– historisch gesehen – bereits die nächste Stufe der Verfolgung andeutete: Die Unterwerfung unter die absolute Macht in den Konzentrationslagern und die Vernichtung in Kulmhof und Auschwitz“. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 148. 119 Nicht ganz korrekt die Angaben bei Freund u. a., wonach die Lager schon kurz vor der Deportationsaktion aufgelöst worden seien. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 125.

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von den Transporten gar nicht betroffen waren.120 Offenbar war man bestrebt, die Kontinuität der Zwangsarbeit zu gewährleisten: „Der Abzug von 327 Zigeunern aus den Arbeitslagern der Obersteiermark ist im Einvernehmen mit dem Landesarbeitsamt erfolgt, (…) für die es alsdann russische Kriegsgefangene einsetzen wollte.“121 Nachweisbar ist, dass auch „Zigeuner“ weiterhin – wenn auch bei anderen Einsatzstellen – Zwangsarbeit leisteten.122 Zumindest bis Dezember 1941 ist der Aufenthalt von „Zigeunern“ in Kobenz belegt,123 wobei nicht ganz auszuschließen ist, dass sich einzelne sogar bis weit in das Jahr 1942 dort aufhielten.124 Fest steht jedenfalls, dass es auch noch lange nach Auflösung der „Zigeunerlager“ zahlreiche „Zigeuner“ gab, die – gemeinsam mit sonstigen Häftlingen in anderen steirischen Arbeitslagern interniert – zur Zwangsarbeit herangezogen wurden. Eine karteimäßige Erfassung aller am Stichtag 5. Oktober 1942 im Reichsgau Steiermark befindlichen „Zigeuner“ ergab eine Gesamtzahl von 2.491 Personen, wovon sich immerhin noch 213 in diversen „Arbeitslagern in der Obersteiermark (Frohnleiten, Leoben usw.)“ aufhielten. Da in der Aufstellung keines der 1940 gegründeten „Zigeunerlager“ mehr aufscheint, handelte es sich also hierbei nicht um „Zigeunerlager“, sondern um Arbeitslager, in denen neben anderen auch „Zigeuner“ interniert waren. Dies stützt die Annahme, dass alle eigentlichen „Zigeunerarbeitslager“ tatsächlich schon im Rahmen der Łódź-Deportationen bzw. kurz nachher aufgelöst wurden.125 Bald nach dem Ende des Kobenzer „Zigeunerlagers“ wurde das nun leer stehende Lager vergrößert, wobei man (auch) auf Arbeitskräfte aus dem Ort zurückgriff.126 Mitte 1942 scheinen dann französische bzw. belgische Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter auf.127 In den Folgejahren128, eventuell schon als Ersatz für die deportierten „Zigeuner“, wurde das ausgebau-

120 Leiter der Kriminalpolizeileitstelle Graz an den Reichsstatthalter, 13.11.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 121 Bericht des Leiters der Kriminalpolizeistelle Graz an den Reichsstatthalter, z. Hd. Schmidinger, 13.11.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 122 Verzeichnet ist etwa Mayreder Keil und List, Judenburg. 123 Gemeindearchiv Kobenz, Materialien zum Lager; siehe inbes. grüne Mappe. Die dort enthaltenen Personenlisten und Notizen sind allerdings nur meist undatierte Bruchstücke und lassen eindeutige Schlüsse kaum zu. 124 Ebenda. Darauf könnten spätere „Wohnungswechselbekanntgaben“ an das Arbeitsamt Judenburg bzw. Arbeitsbuchbestätigungen für „Zigeuner“ hindeuten, die zum Teil sogar mit 21.12.1942 datiert sind; wahrscheinlicher ist, dass es sich um nachträgliche Meldungen handelte. 125 Reichsstatthalter an den Polizeidezernenten, 5.10.1942; StLA, LReg 384 Zi/1 1940, Heft 3. 126 H. H., Interview, 23.1.2008. 127 Mappe Kriegsgefangene 1939–1945; Gemeindearchiv Kobenz. 128 Harald Berger, Kobenz. Eine Gemeinde zwischen Anschluss und Besatzungszeit, Fachbereichsarbeit aus dem Fach Geschichte, Kobenz 2000, 25; H. H., Interview, 23.1.2008, O. O., Interview, 23.1.2008.

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te Lager auch mit sowjetischen Kriegsgefangenen bzw. sogenannten „Ostarbeitern“ belegt. Unmittelbar nach Kriegsende diente es dann kurzzeitig als Internierungslager für führende Nationalsozialisten, u. a. angeblich auch für die „NS-Größen“ von Kobenz.129 Später waren in der Gemeinde Kobenz über längere Zeit jüdische Displaced Persons untergebracht.130 Ein Kobenzer Zeitzeuge deutet allerdings an, dass diese in anderen, später errichteten Baracken einquartiert waren.131 Vermutlich beziehen sich diese Schilderungen aber nur auf die Erweiterung des bekannten Lagers vom Sommer 1942. Eine der Baracken des früheren „Zigeunerlagers“ wurde nach dem Krieg vorübergehend als Veranstaltungssaal genutzt; später wurde dort, mit Spielbeginn 1951, vom Pächter Rupert Mayer ein Kino eingerichtet.132

IV. Das Sammellager Fürstenfeld Während also die Einrichtung der Zwangsarbeitslager im Herbst 1940 umgehend in die Tat umgesetzt wurde, schmiedete man in Graz und Oberwart noch weiter reichende Pläne, welche auch die restlichen Roma – durch die Schaffung eigener Arbeitslager für die einsatzfähigen Frauen und in Form von Konzentrationslagern für die Arbeitsunfähigen – erfassen sollte.133 In dieser Phase der Neujustierung der regionalen „Zigeunerpolitik“ versuchte der nunmehrige steirische Vizegauleiter Tobias Portschy, dessen Denkschrift und Maßnahmenkatalog 1938 die NS-„Zigeunerpolitik“ im Burgenland auf neue Grundlagen gestellt hatte, sich wieder als tonangebenden Experten ins Spiel zu bringen. Ende November 1940 reiste Portschy sogar zu einer Unterredung mit Heydrich, Innenminister Frick und SS-Oberführer Nebe vom RSHA nach Berlin, um „dort gewisse Abmachungen hinsichtlich der Errichtung der Zigeunerlager“ zu erwirken.134 Angesichts der irritierten internen Reaktionen der Grazer Stellen vermutlich ein Vorstoß Portschys, der mit ihnen nicht ausreichend abgesprochen war. Im Frühjahr 1941 beabsichtigte man, „bestehende größere Zigeunerdörfer zu geschlossenen Lagern umzubauen“. Die noch im Südburgenland lebenden „Zigeuner“ sollten „auf wenige 129 H. H., Interview, 23.1.2008. 130 Gabriela Stieber, Flüchtlingswesen in Österreich, unter besonderer Berücksichtigung der Lager in Kärnten und der Steiermark, phil. Diss. Graz 1994. Das Lager Kobenz wird hier nur flüchtig erwähnt. 131 O. O., Interview, 23.1.2008. 132 Gemeindearchiv Kobenz, Materialien zum Lager, Mappe 320–22 „Lichtspielwesen (Gemeinde)“; vgl. Berger, Kobenz (wie Anm. 128) 16. 133 Vgl. zu parallelen Plänen in Salzburg und Lackenbach: Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 35 f. 134 Mindler, Tobias Portschy (wie Anm. 15) 117. Z.B. Aktenvermerk nach telefonischer Mitteilung von Clahs, 1.11.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft.

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Siedlungen zusammengezogen und dort bei öffentlichen Arbeiten beschäftigt werden“.135 Am 26. Mai 1941 kam ein Erlass Himmlers diesen Plänen jedoch überraschend zuvor: Zwar hatte Heydrichs Schnellbrief im Oktober 1940 noch davon gesprochen, dass die Deportationen zu unterbleiben hätten, „weil nach dem Krieg eine andere Regelung der gesamten Zigeunerfrage vorgesehen ist“;136 doch nun stellte Himmler plötzlich den Abtransport von 7.000 burgenländischen „Zigeunern“ (davon 4.000 aus dem Gau Steiermark) bereits für Juli 1941 in Aussicht.137 Diesmal zielte die „Umsiedlungsaktion“ jedoch darauf ab, die Roma statt ins Generalgouvernement nach Serbien zu deportieren, wo die Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden und „Zigeuner“ mit besonderer Härte vorangetrieben wurden. Doch auch dieser Anlauf stieß auf Hindernisse und war bis spätestens Mitte August 1941 endgültig „auf ein totes Geleise geraten“, nachdem der Militärbefehlshaber in Serbien, General Schröder, der den Plänen zugestimmt hatte, tödlich verunglückt war.138 a) Die Deportationen nach Łódź Nach dem Scheitern der Serbienpläne setzte Himmlers Deportationserlass vom 1. Oktober 1941 plötzlich wieder das Generalgouvernement auf die Tagesordnung.139 Nachdem zuvor die unkoordinierten Deportationen ins besetzte Polen zunehmend auf den Widerstand des dortigen Generalgouverneurs Frank gestoßen und in der Folge – mit wenigen Ausnahmen140 – ab März 1940 vollends zum Erliegen gekommen waren, hatten sich die Rahmenbedingungen jetzt mit dem Überfall auf die Sowjetunion grundlegend geändert. Über die Entscheidungsabläufe in Berlin, etwa die Umstände der offenbar nachträglichen Miteinbeziehung von 5.000 österreichischen „Zigeunern“ in die Planungen der Judendeportationen ins Ghetto Łódź/ Litzmannstadt, ist allerdings kaum etwas bekannt.141 135 Reichsstatthalter an Regierungspräs. Müller-Haccius, 24.3.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 136 Schnellbrief Heydrichs, 31.10.1940; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 137 Schnellbrief Himmlers, 26.5.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft; vgl. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 41. 138 Die Versuche, die „Zigeuner“ statt nach „Altserbien“ nach Kroatien zu deportieren, scheiterten an der mangelnden Bereitschaft Kroatiens. Geheimer Bericht des Polizeidezernenten an den Reichsstatthalter, 21.6.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft; Aktenvermerk bezüglich telefon. Auskunft Clahs’, 12.8.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 139 Schnellbrief Himmlers an den Leiter der Kriminalpolizeileitstelle Wien und den Leiter der Kriminalpolizeistelle Graz, 1.10.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 140 Die einzigen „Zigeunertransporte“ erfolgten im Mai 1940 aus dem west- und nordwestlichen Grenzgebiet des Deutschen Reiches; von dieser Deportationsaktion waren allerdings keine Roma aus Österreich betroffen. 141 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 41.

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Diese folgenschwerste Deportation österreichischer Roma wurde zwischen dem 4. und 8. November 1941 durchgeführt. Angeordnet wurde sie am 1. Oktober 1941 durch Heinrich Himmler, der nahezu ausschließlich Burgenlandroma für die Deportation vorsah: 1.188 Frauen, 1.130 Männer und 2.689 Kinder, insgesamt 5.007 Personen. Rund 2.000 „Zigeuner“ wurden aus den in Lackenbach (im Gau Niederdonau) Internierten ausgewählt, die übrigen 3.015 stammten aus dem Gau Steiermark: 2.011 davon aus dem Bezirk Oberwart (deren Abtransport erfolgte aus dem Sammellager Pinkafeld), 1.004 aus den restlichen Gaubezirken (Abtransport aus dem Sammellager Fürstenfeld). Für die Selektion waren die jeweiligen Landräte verantwortlich.142 Da die Anzahl der Deportierten von ursprünglich 7.000 auf 5.000 reduziert wurde, kam es zu einem regelrechten Feilschen um die Kontingentverteilung zwischen dem Gau Niederdonau und dem Gau Steiermark. So wurde etwa Kriminaldirektor Friedrich Clahs aufgefordert, gegenüber der Kriminalpolizeileitstelle Wien darauf hinzuweisen, „dass die Initiative in der Zigeunerangelegenheit von der Steiermark ausgegangen ist und daher auch die Steiermark vorzugsweise zu berücksichtigen ist“; eventuell werde es „notwendig sein, den Herrn Reichsstatthalter selbst zu bitten, beim Reichssicherheitshauptamt in Berlin zu intervenieren“.143 Mit der Deportation von über 60 % der Roma kamen die steirischen Nationalsozialisten ihrem Ideal eines Gaus, aus dem alle „Zigeuner“ „aus dem Landschaftsbilde“144 verschwunden waren, einen bedeutenden Schritt näher. Das Vorhaben, im Südburgenland sechs bis sieben größere Lager einzurichten, wurde jedoch nicht mehr realisiert. Die Auflösung kleinerer Romasiedlungen wurde indes weiterverfolgt;145 viele Siedlungen wurden geschliffen und geplündert.146 Laut Kriminalpolizeistelle Graz waren nach den Deportationen nach Łódź noch 1.897 „Zigeuner“ im Gau Steiermark registriert, davon entfielen auf die Landkreise Oberwart 1.289, Fürstenfeld 176, Feldbach 116, Hartberg 20 und Graz 26. Zudem waren, wie erwähnt, noch 270 Männer in den obersteirischen „Zigeunerarbeitslagern“ gemeldet.147 Von den 5.007 nach 142 Bericht des Leiters der Kriminalpolizeistelle Graz an Reichsstatthalter, z. Hd. Schmidinger, v. 13.11.1941; StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940, 2. Heft; vgl. Baumgartner/Freund, Holocaust (wie Anm. 10) 215. 143 Gedächtnisniederschrift des Reichsstatthalters, Polizeidezernent, 9.10.1941; StLA L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 144 Landrat Oberwart an Kriminalpolizeistelle Graz, 2.11.1940; StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 145 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 40. 146 Ebenda, 159–160. Wie aus einem ca. ein Jahr später geschriebenen Bericht hervorgeht, blieb der Großteil der kleineren Siedlungen, „etwa 40 bis 50“, aufgrund von Materialmangel und fehlenden Transportmitteln allerdings bestehen. Reichsstatthalter an den Polizeidezernenten, 5.10.1942; StLA, L.Reg. 384 Zi/1 1940, 3. Heft. 147 Leiter der Kriminalpolizeileitstelle Graz an Reichsstatthalter, 13.11.1941; StLA, LReg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft.

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Łódź Deportierten hingegen überlebte kein einziger. Elf Personen starben bereits während des Transports, 613 kamen in den ersten Lagerwochen, großteils durch eine Fleckfieberepidemie, ums Leben, die restlichen 4.383 „Zigeuner“ wurden ins Vernichtungslager Chełmno/Kulmhof überstellt und im Jänner 1942 in Gaswägen ermordet.148 „Am Ende waren die in Łódź Festgehaltenen so ausgehungert, krank und schwach, dass sie den Verursachern dieses schrecklichen Zustandes vollends als ‚Untermenschen‘ galten, die im Gas zu ersticken das einzig Mögliche sei.“149 Über die konkrete Abwicklung des Abtransportes nach Polen war bislang – abgesehen von den fünf Abfahrstationen Hartberg, Fürstenfeld, Mattersburg, Rotenturm und Oberwart – nur wenig bekannt;150 auch Zeitzeugenberichte fehlten bis heute nahezu völlig.151 Der Fürstenfelder Zeithistoriker Franz Timischl gibt an, dass ihm zwar vereinzelt Gerüchte über Lagerhäftlinge und Deportationen zu Ohren gekommen seien; allerdings sei es nicht möglich gewesen, diese mit zuverlässigen Zeitzeugenaussagen zu belegen. In seinen Ausführungen zur „Zigeuner“-Verfolgung beklagte Timischl die dürftige Quellenlage und das fast gänzliche Fehlen von Berichten der Betroffenen; denn „nur wenige Überlebende aus dieser Volksgruppe in den letzten Jahren waren bereit, über ihre Erlebnisse zu sprechen“.152 Selbst eine eindeutige Bestimmung des Standorts des Lagers Fürstenfeld konnte bis jetzt nicht vorgenommen werden. Die entscheidenden Hinweise geben hier nun aber die Angaben in den Zeitzeugeninterviews mit Karl Sarközi und Anton Müller sowie die Akten der Volksdeutschen Mittelstelle in Graz: Demnach befand sich das im NS-Behördenverkehr unpräzise als „Lager Fürstenfeld“ bezeichnete Barackenlager nicht im eigentlichen Stadtgebiet von Fürstenfeld, sondern etwas außerhalb in der kleinen Ortschaft Dietersdorf (heute Gemeinde Loipersdorf ) unweit des Fürstenfelder Bahnhofs im Südosten der Bezirkshauptstadt. Anton Müller, der auch unter den Häftlingen war, die ins Sammellager Fürstenfeld gebracht wurden, beschreibt das Lager folgendermaßen:

148 Isabel Fonseca, Begrabt mich aufrecht. Auf den Spuren der Zigeuner, München 1996, 355–357; Michael Zimmermann. Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma, Essen 1989, 47. 149 Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet (wie Anm. 148) 50. 150 Vgl. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 42. 151 Eine Ausnahme stellen die Darstellungen des Kriminalpolizisten Ernst Friedrich Binder von 1979 dar: Eidesstattliche Erklärung zur „Zigeuneraktion“, 31.3.1979; Sammlung Ernst Friedrich Binder, Privatbestand Karner; siehe: Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung, 2. erg. Aufl., Graz–Wien 1986, 175– 177. 152 Franz Timischl, Fürstenfeld im Nationalsozialismus, in: Gerhard Pferschy u. a. (Hrsg.), Fürstenfeld. Die Stadtgeschichte, Fürstenfeld 2000, 444–461; hier: 447.

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„Das Lager war aus Holzbaracken, so regelmäßige Holzbaracken. Und um zwei sind wir hingekommen, und über Nacht haben sie dann geschrieben – die Roma wurden familienweise aufgerufen und dann ist ein jeder aufgenommen worden. (...) Da waren nur südliche Burgenländer. (…) Und wir waren nur eine Nacht da, vielleicht, dass die anderen nach uns dann länger geblieben sind, aber wir waren nur eine Nacht da. Aber alle waren dort, Frauen, Kinder, alle – bestimmt 300.“153

Dort diente ein erst Ende 1940 für „volksdeutsche Umsiedler“ errichtetes Barackenlager den NS-Stellen für einige Tage als Sammellager für die Łódź-Deportation. So erwähnt die geheime Durchführungsdirektive der Kriminalpolizeistelle Graz, dass die „beiden (...) bereits vorhandenen Barackenlager“ in Pinkafeld und Fürstenfeld „der Kriminalpolizeistelle Graz mit Genehmigung des Reichsstatthalters in der Steiermark von der Volksdeutschen Mittelstelle – Umsiedlung Gau Steiermark – unter den besonders vereinbarten Bedingungen vorübergehend zur Benutzung überlassen“ wurden.154 Dies hat seine Entsprechung in einem Schreiben der Lagerverwaltung an die Volksdeutsche Mittelstelle in Graz, in dem dieser mitgeteilt wurde, dass die Kosten, die dem Umsiedlerlager durch diverse Instandsetzungsarbeiten nach dem „Sondereinsatz“ durch die Aufnahme der „Zigeuner“ entstanden waren, umgehend der Polizeidirektion Graz zu verrechnen seien.155 Das Umsiedlerlager verfügte laut einer internen Aufstellung anlässlich seiner Auflösung im Dezember 1943 über 20 Gebäude bzw. 30 bewohnbare Räume mit einer Aufnahmekapazität von 400 bzw. „bei äußerster Belegung“ 450 Personen.156 Bei seiner zwischenzeitlichen Nutzung als „Zigeunersammellager“ waren hier im November 1941 jedoch mehr als doppelt so viele Personen interniert worden. Bislang war nur bekannt, dass in Dietersdorf ein Barackenlager des Reichsarbeitsdienstes bestanden hatte. Dieses Lager war bald nach dem „Anschluss“ in einem Waldstück errichtet worden und wies einen mittleren Mannschaftsstand von 200 bis 250 Mann auf. Es umfasste zwölf Holzbaracken, davon fünf Mannschaftsbaracken, hatte fließendes Wasser, betonierte Straßen, einen Sportplatz und Kanalisation. Bisher ging man davon aus, dass es bis ins Frühjahr 1945 in Betrieb geblieben war und sich die RAD-Führer erst kurz vor Eintreffen der Roten Armee überstürzt in die Obersteiermark abgesetzt hatten.157 Nicht nur der Standort 153 Anton Müller, 3. Interview, 17.11.2007; vgl. Anton Müller, 2. Interview, 25.8.2007. 154 Geheime Durchführungsregelung des Leiters der Kriminalpolizeistelle Graz v. 30.10.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 155 Einsatzverwaltungsführer Siwek an Volksdeutsche Mittelstelle, 6.11.1941; StLA, ZGS, Kart. 179 (VoMi 1940/1944; Umsiedlungslager A–H). 156 Ebenda; Lagerbeschreibung, undatiert (vermutlich Nov. 1943). 157 Insgesamt hätten bis Kriegsende rund 8.000 Männer die RAD-Lager in Dietersdorf bzw. Gillersdorf durchlaufen; Franz Timischl, Loipersdorf, Dietersdorf, Gillersdorf, Loipersdorf 2006, 98–101. Siehe

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am Rande der Gemeinde Dietersdorf spricht für eine Verbindung zwischen der Anlage des RAD-Lagers und dem Umsiedler- bzw. Sammellager. Auch Karl Sarközi berichtet, dass die vorhandene Einrichtung des RAD aus dem Lager entfernt worden sei: Die internierten „Zigeuner“ mussten auf dem Barackenboden schlafen, „auf dem Stroh, Betten waren da keine – weil die RAD-Betten, die Eisenbetten, die da waren, wurden ins Spital hinaufgebracht“.158 Der erwähnte Akt der Volksdeutschen Mittelstelle legt eine Neuerrichtung bzw. eine Erweiterung zum älteren RAD-Lager nahe, wobei die Arbeiten für die Schaffung des Umsiedlerlagers Ende 1940 durch RAD-Angehörige durchgeführt wurden.159 Den geplanten Ablauf bei der Ankunft schildert die Durchführungsregelung der Kriminalpolizei folgendermaßen: „Die in den Sammellagern eintreffenden Zigeuner sind zunächst in der Reihenfolge ihres Eintreffens gemeinde- und sippenweise auf den in der Mitte der Lager befindlichen Plätzen zu gruppieren und dann unter Mitnahme ihres Gepäcks in den Aufnahme- und Abfertigungsraum zu führen.“160 Sechzehn Kriminalbeamte und vier Schreibkräfte waren für die Abwicklung der Registrierung im Lager Fürstenfeld vorgesehen. Ein Sonderzug, der am 31. Oktober 1941 von Unzmarkt über Graz nach Fürstenfeld und Alt-Pinkafeld geführt wurde, transportierte die „Zigeuner“ aus den Arbeitslagern zu den Sammellagern,161 die Zubringung zu den Bahnhöfen erfolgte durch das Bewachungskommando der Arbeitslager.162 Etwas mehr als die Hälfte der insgesamt etwa 600 sich in den obersteirischen Arbeitslagern befindlichen „Zigeuner“ wurde so zu den Sammelstellen verbracht.163 Die Festnahmen der Roma in den Kreisen Oberwart, Fürstenfeld und Feldbach erauch: Astrid Huber, Fürstenfeld von 1934 bis 1938, phil. Dipl.-Arb. Graz 1995, 206–210; Franz Payerl, Geschichte der Gemeinde Übersbach, Übersbach 1988, 142. 158 Karl Sarközi, 3. Interview, 7.5.2007. Auch der – in seinem Quellenwert ansonsten fragwürdige – Bericht des ehemaligen Kriminalbeamten Ernst Friedrich Binder spricht davon, dass das „Zigeunerlager“ in einem aufgelassenen RAD-Lager untergebracht war. Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 151) 175–177. 159 Akte zum Umsiedlerlager Fürstenfeld; Anmerkung vom Nov. 1940; StLA, ZGS, Kart. 179 (VoMi 1940/1944; Umsiedlerlager A–H). Dies deckt sich auch mit der von Timischl zitierten Statistik, wonach sich am 25.7.1940 in Dietersdorf mit einer Ausnahme noch keine Umsiedler aufhielten: Franz Timischl, Fürstenfeld und Umgebung von 1930 bis 1950. Ein zeitgeschichtliches Forschungsprojekt der Volkshochschule Fürstenfeld, Fürstenfeld 1994, 156. 160 Geheime Durchführungsregelung des Leiters der Kriminalpolizeistelle Graz v. 30.10.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. Als Lagerführer nennt diese Direktive Kriminalkommissar Stocker (Pinkafeld) und Kriminalinspektor Christ (Fürstenfeld). 161 Ebenda; die Begleitung bestand aus einem Offizier, 30 Hilfspolizeibeamten und zwei Kriminalbeamten. 162 Ebenda. 163 Bericht des Leiters der Kriminalpolizeistelle Graz an Reichsstatthalter, z. Hd. Schmidinger, v. 13.11.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1, 1940, 2. Heft.

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folgten am 1. November, also erst nach dem Eintreffen des Sammeltransportes aus der Obersteiermark und Graz, „durch Gendarmerie unter Hinzuziehung der erforderlichen Hilfskräfte (SA, SS und Politischer Leiter)“. Die Verhaftungsaktion im Bereich Graz wurde von Kriminal- und Schutzpolizei gemeinsam durchgeführt.164 Ursprünglich hatte man beabsichtigt, neben Gendarmerie und Polizei auch die Wehrmacht hinzuzuziehen.165 Die Bewachung der Sammellager wurde von den Begleitkommandos der Transporte mit übernommen, in Fürstenfeld bestand dieses aus einem Offizier und 20 Beamten (gestellt von der Gendarmerie in Niederdonau), verstärkt durch 20 Hilfspolizeibeamte der Polizeiverwaltung Graz.166 Vom Lager in Dietersdorf aus wurden daraufhin 1.004 „Zigeuner“ in der Dunkelheit der frühen Morgenstunden des 5. November 1941 mit Lastwägen zum in rund zwei Kilometern Entfernung gelegenen Bahnhof Fürstenfeld verbracht, von wo der Transport um 6 Uhr 32 nach Łódź abging. Die Gesamtkosten, die dem Gaufürsorgeverband durch die Deportationen entstanden, beliefen sich auf 22.500 RM.167 Unter den Deportierten befand sich auch ein Bruder Anton Müllers mit seiner Familie.168 „Die halbe Siedlung haben sie abgeräumt damals. Nach Fürstenfeld haben sie sie gebracht, dort in die Waggons hinein und dann haben sie sie nach Litzmannstadt. (...) Angeblich waren sie am selben Tag noch tot.“169 Anton Müller selbst war diesem Schicksal 1941 jedoch entgangen. Als einer von sehr wenigen wurde er im letzten Moment vom Transport ausgenommen und stattdessen für sechs Monate zum Reichsarbeitsdienst einberufen: „Dann haben wir den Ahnenpass gehabt (...). Und mit dem bin ich von Fürstenfeld heimgekommen. Meine Mutter ist ja keine Romni gewesen. (...) Und dann haben wir den Ahnenpass bekommen, weil ich nur 50 Prozent Rom war.“170 Auch sein Bruder Karl Sarközi war nach der Überstellung nach Fürstenfeld wieder entlassen worden: „Aber nicht alle wurden freigelassen – nur wir und noch eine Familie. Das ging von unserem Bürgermeister aus, er hat Arbeiter gebraucht in der Gemeinde. Und so haben sie uns heim gelassen.“171 164 Geheime Durchführungsregelung des Leiters der Kriminalpolizeistelle Graz v. 30.10.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 165 Gedächtnisniederschrift des Polizeidezernenten beim Reichsstatthalter, Besprechung v. 9.10.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 166 Zehn weitere steirische Hilfspolizisten waren dem Lager Pinkafeld zugeteilt. Geheime Durchführungsregelung des Leiters der Kriminalpolizeistelle Graz v. 30.10.1941; StLA, L.Reg., 384 Zi/1 1940, 2. Heft. 167 NSDAP-Gauleitung Steiermark, Amt für Volkswohlfahrt an Gaufürsorgeverband, 7.1.1942; StLA, L.Reg., 120 Zi/1 1940. Das Schreiben enthält mehrere Kostenaufstellungen. 168 Es handelt sich um Franz Sarközi. Anton Müller, 1. Interview, 3.4.2006. 169 Anton Müller, 1. Interview, 3.4.2006. 170 Ebenda. 171 Karl Sarközi, 1. Interview, 5.1.2006.

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b) Die Auschwitztransporte 1943 Das Lager Fürstenfeld war also im Herbst 1941 als Sammellager zur Abwicklung der ŁódźDeportationen genützt worden, zu deren Anlaufen die Aussagen Anton Müllers und Karl Sarközis die einzig bekannten Überlebendenberichte darstellen. Einen besonderen Stellenwert haben ihre Schilderungen auch deshalb, weil sich beide – nach ihrer Entlassung 1941 – im Frühjahr 1943 ein zweites Mal im Lager aufhielten, sie also über beide Deportationsaktionen Auskunft geben können. Allerdings erschwert gerade der wiederholte Lageraufenthalt die chronologische Entwirrung der Angaben. Dennoch lassen ihre Aussagen keinen anderen Schluss zu, als dass es sich – 1941 wie 1943 – tatsächlich um ein und dasselbe Lager handelte. Dies ist umso bedeutender, als für den zweiten Zeitpunkt weder auf regionaler noch auf lokaler Ebene schriftliche Quellen über das Fürstenfelder Sammellager bekannt sind. So ist etwa die Gendarmeriechronik von Dietersdorf, die eventuell über die Errichtung und Nutzung des Lagers sowie die jeweiligen Deportationsaktionen hätte Auskunft geben können, für die NS-Jahre nicht erhalten; ebenso sind von der Chronik des Gendarmeriepostens Fürstenfeld für die Zeit 1938 bis 1945 nur noch unbedeutende Ausschnitte vorhanden.172 Die Pfarrchronik von Loipersdorf, die ausführlich auf das RAD-Lager in Dietersdorf zu sprechen kommt, berichtet auch nichts über die Internierung und Deportation der Roma.173 Und die Akte zum Umsiedlerlager, in der man hinsichtlich der Łódź-Aktion 1941 fündig wird, enthält ebenfalls keine Hinweise auf eine neuerliche Belegung mit „Zigeunern“. Allerdings ist darin überhaupt die weitere Nutzung des Areals nur sehr lückenhaft dokumentiert; insofern steht also auch diese Quelle der Annahme, dass es 1943 ein zweites Mal als „Zigeunerlager“ fungierte, nicht entgegen. Am 16. Dezember 1942 ordnete Himmler die Deportation von „Zigeunermischlingen, Rom-Zigeunern und balkanischen Zigeunern“ nach Auschwitz-Birkenau an; die Umsetzung der Transporte wurde im sogenannten Auschwitzerlass vom 29. Jänner 1943 festgelegt,174 Bestimmungsort war das sogenannte „Zigeunerfamilienlager“ (BIIe) in Birkenau.175 Zwischen 172 Schriftliche Auskunft des Bezirkspolizeikommandos Fürstenfeld, 2.2.2008. 173 Pfarrchronik Loipersdorf, Bd. 2, 1945; zit. in: Timischl: Loipersdorf, Dietersdorf, Gillersdorf (wie Anm. 157) 202. 174 Zimmermann, Die nationalsozialistische Verfolgung (wie Anm. 24) 125. Der Erlass vom 16. Dezember 1942 ist zur Gänze zitiert bei: Hans-Joachim Döring, Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat (Kriminologische Schriftenreihe 12), Hamburg 1964, 215. 175 Franciszek Piper, „Familienlager“ für Juden und „Zigeuner“ im KL Auschwitz-Birkenau. Ähnlichkeiten und Unterschiede, in: Wacław Długoborski (Hrsg.), Sinti und Roma im KL Auschwitz-Birkenau 1943–44. Vor dem Hintergrund ihrer Verfolgung unter der Naziherrschaft, Oświęcim 1998, 293–299, hier: 293.

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dem 1. März 1943 und dem 20. Juli 1944 wurden 22.600 „Zigeuner“, zum überwiegenden Teil aus Deutschland und Österreich, nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Über 90 % von ihnen sollten die Liquidierung des Lagers am 2. August 1944 nicht mehr erleben.176 Der Großteil der aus der „Ostmark“ Deportierten (1.909 von 2.900)177 waren südburgenländische Roma, die mit den Transporten aus dem Gau Steiermark zwischen dem 3. und 16. April 1943 in Auschwitz eintrafen178 – unter ihnen auch Karl Sarközi und Anton Müller. Bei der Begehung des ehemaligen Lagergeländes bei Fürstenfeld, das sich heute ohne erkennbare Hinweise in einem Waldstück etwas außerhalb der Stadt befindet, erläuterte Karl Sarközi die Anordnung der Baracken. Vom Siedlungsgebiet und der Bevölkerung war das Lagerareal, das insgesamt weit über 1.000 Personen gefasst habe, strikt abgeriegelt: „Und wir waren drüben in dem Wald und dort waren sechs Baracken und das war genau so wie ein KZ-Lager. (...) Stacheldraht war schon, aber nicht unter Strom. (...) Da waren sechs Baracken und in jeder waren ungefähr 200 drinnen. (...) Da war ein Schranken und da sind sie gestanden und rundherum ein Draht. (...) Die Leute in Fürstenfeld, und die hier auch nicht, haben nicht einmal gewusst, dass dort ein Lager war. (...) Und oben war es abgesperrt, du hast niemanden von der Ortschaft da gesehen. Nur die Aufsicht und den Portschy. Ich glaube nicht, dass da im Ort 20 Leute waren, die gewusst haben, dass hier ein Lager war. Vielleicht nach dem Krieg, als sie die Baracken leer gesehen hatten, die zusammengeschlagenen. Aber damals, als wir da drinnen waren, hat es sicher keiner gewusst, dass da ein Sammellager war und dass dort die meisten Transporte weggekommen sind. Von 100 glaube ich nicht, dass es einer gewusst hat.“ 179

Nach der Überstellung Karl Sarközis nach Fürstenfeld 1943 folgte auf eine kurze Internierung, die mit einer neuerlichen Registrierung einherging, seine Deportation nach Auschwitz. Den Lageraufenthalt, der 1941 auf wenige Tage beschränkt gewesen war, bezifferte er für 1943 mit zwei bis drei Wochen:

176 Zimmermann, Rassenutopie und Genozid (wie Anm. 12) 326–328. 177 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 167. Eine Erfassung aller im Gau Steiermark befindlichen „Zigeuner“ hatte für den Stichtag 5.10.1942 eine Gesamtzahl von 2.491 ergeben. D. h., dass nach diesen Deportationen nur noch ca. 600 Roma im Gau zurückblieben. Reichsstatthalter an den Polizeidezernenten, 5.10.1942; StLA, L.Reg, 384 Zi/1 1940, 3. Heft. 178 Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 48–49. 179 Karl Sarközi, 2. Interview, 15.4.2006. Dabei betonte er mehrfach, dass auch Vizegauleiter Portschy direkt vor Ort anwesend gewesen sei: „Diese Baracke (Anm.: heute ein Wohngebäude) war vom Gauleiter Portschy aus Graz. Also so haben wir es damals gehört.“ Nach neuestem Forschungsstand scheint dies nicht sehr wahrscheinlich. Mindler fand keinerlei Indizien, die auf solche Aufenthalte Portschys hindeuten könnten. Mindler, Tobias Portschy (wie Anm. 15) 118–120.

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„Mit dem Lastwagen wurden wir hergebracht. Der Zahlinger Bürgermeister (…) hat uns hergefahren. Jede Gemeinde hat ihre Roma zusammenfangen müssen und herbringen (...), und die haben von dem gesamten Bezirk die Roma, die übrig geblieben sind, hier hergebracht. Und von hier aus sind dann alle Leute zum Fürstenfelder Bahnhof gebracht worden und in die Gitterwägen hinein und nach Auschwitz (...) Drei Wochen, 14 Tage und dann, so wie sie es gebraucht haben, haben sie dich von da weggeschickt.“ 180

Einige Rätsel gibt der von dem Zeithistoriker Stefan Karner in Auszügen zitierte eidesstattliche Bericht des Kriminalpolizisten Ernst Friedrich Binder auf, der als ehemaliger Mitarbeiter des Grazer „Zigeunerkommissariats“ 1979 angab, im März 1940 der gewaltsamen Auflösung einer „Zigeunersiedlung“ am linken Grazer Murufer und der Überstellung der Bewohner in ein Sammellager bei Fürstenfeld beigewohnt zu haben.181 In Viehwaggons seien die „Zigeuner“ abtransportiert und in einem aufgelassenen RAD-Lager interniert worden, wo sich erschütternde Szenen abgespielt haben sollen: „Es gab nur Lehmboden, aber kein Stroh oder sonst irgend etwas. Teils waren die Scheiben an den Fenstern eingeschlagen. Kein Licht, keine Decken, kein Essen und auch nichts zu trinken. Als es dunkel war, hörte man Schreie, Schüsse und sah das Aufblitzen von Pistolenmündungen. Wiederum waren die SS, die Gestapo und der Staatssicherheitsdienst am Werk.“182

Etwa eine Woche hätte – unter der Leitung der SS – die Erfassung und Überprüfung der eintreffenden Roma gedauert, wobei Fragen nach dem Aufenthaltsort weiterer Familienangehöriger sowie rassische und körperliche Untersuchungen im Mittelpunkt standen: „Alle mußten sich ausziehen, gleich welchen Geschlechtes, ob Erwachsene oder Kinder. Jetzt waren ohnedies schon viel [sic] dezimiert worden, teils durch Mord am Bahnhof und teils durch die Schießereien des Nachts und im Lager und in den Baracken. Aber dies war noch immer nicht genug. Aus der Menschenschlange, die vor der Schreibstube stand, und auch in den Reihen vor unseren Augen, sind Menschen grundlos, wahllos und ohne Rücksicht auf das Geschlecht, ob Greis, Kind oder Schwangere, erschossen worden. Die Liquidierungen nahm immer die SS vor. Wer krank war, oder wem schlecht wurde, erhielt einen Genickschuß. So schleifte man Tote aus unserer Schreibbaracke hinaus. Ingeborg Harten, wie sie jetzt heißt, weiß ich nicht, wird mir dies wohl bestätigen. So dürften wohl in Fürstenfeld ein Drittel der ihrer Freiheit beraubten Zigeuner 180 Karl Sarközi, 2. Interview, 15.4.2006; Sarközi nennt neben Auschwitz irrtümlich auch Buchenwald und Mauthausen als Transportziele. Auch Anton Müller spricht von Privatlastwägen, die die Roma von Zahling ins Lager bei Fürstenfeld brachten; Anton Müller, 1. Interview, 3.4.2006. 181 Eidesstattliche Erklärung Ernst Friedrich Binders v. 31.3.1979; in großen Auszügen abgedruckt in: Karner, Die Steiermark im Dritten Reich (wie Anm. 151) 175–177. 182 Ebenda, 176–177.

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erschossen worden sein. Ich habe an Lagerinsassen ungf. 200 bis 300 Zigeuner im Gedächtnis. Sie waren ja von der ganzen Steiermark gesammelt worden. (...)“183

Die Zahlenangaben und die Aussage, dass die Aktion unter dem Kommando von SS, SD und Gestapo (und nicht unter Federführung der Kriminalpolizeistelle Graz) abgewickelt wurde, stehen im Widerspruch zum bekannten Ablauf.184 Auch stehen die Angaben zum Wachpersonal im Widerspruch zu den Aussagen Sarközis, demzufolge seien nämlich Wehrmacht und Gendarmerie für die Lagerbewachung zuständig gewesen: „Da waren keine SSler, sondern deutsche Soldaten. Und die Gendarmerie, wie man sagt, also die mit den Helmen waren da.“185 Vor allem aber lässt sich die scheinbar präzise Datierung der Aktion auf März 1940 mit den übrigen Quellen, wonach die Schaffung des Sammellagers erst für Herbst 1941 anzusetzen ist, nicht in Einklang bringen. Ebenso wenig kann stimmen, dass die Roma weiter nach Lackenbach gebracht wurden, entstand dieses Lager – wie auch das Umsiedler- bzw. „Zigeunerlager“ Fürstenfeld – doch erst im Herbst 1940.186 Zudem ist kein weiterer Beleg bekannt, der die Schilderung tagelanger Massenerschießungen stützen könnte; auch Müller und Sarközi berichten nichts von solchen Übergriffen. Karl Sarközi schließt für seinen zweiten Lageraufenthalt sogar dezidiert aus, dass es zu Erschießungen gekommen sei.187 Ungeachtet dieser zahlreichen Ungereimtheiten weist der Bericht aber durchaus auch Übereinstimmungen auf. Unbeantwortet bleibt allerdings nach wie vor die quellenkritische Frage nach Entstehungshintergrund und Intention des Berichtes.

V. Resümee Die für die Makroebene bereits vorliegenden Erkenntnisse werden nun erstmals auf die Steiermark als gesonderten Untersuchungsraum übertragen. Das unscharfe und lückenhafte Bild,

183 Ebenda, 177. 184 Ebenda, 176. Dies könnte eine reine Schutzbehauptung darstellen – unterstreicht Binder doch, dass die Kriminalbeamten „nur Assistenzleistung zu vollbringen“ hatten und sich den SS-Verbrechen zum Teil sogar mutig in den Weg gestellt hätten. Im StLA ließ sich für Binder jedoch kein Volksgerichtsverfahren aufgrund seiner damaligen Mitwirkung finden, das einen möglichen Hintergrund einer späteren schriftlichen Erklärung hätte darstellen können. 185 Ebenda. 186 Siehe v. a.: Erika Thurner, Kurzgeschichte des nationalsozialistischen Zigeunerlagers in Lackenbach (1940 bis 1945), Eisenstadt 1984. 187 „Ich war allerdings nur 14 Tage da, und in dieser Zeit wurde hier keiner ermordet.“ Karl Sarközi, 2. Interview, 15.4.2006.

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Michael Teichmann, Roman Urbaner

das in der Forschung hinsichtlich der einzelnen „Zigeunerlager“, in diesem Fall Kobenz und Fürstenfeld, besteht, konnte dank der Zeitzeugenberichte und der lokal fokussierten Fragestellung einer detaillierten Darstellung unterzogen werden. Anhand dieser Beispiele wurde der Phasenverlauf der NS-„Zigeuner“-Verfolgung auf der Ebene der steirischen Regionalbehörden nachgezeichnet. Die Verknüpfung mit erstmals ausgewerteten Oral-history-Berichten zweier überlebender Burgenlandroma ermöglichte eine Überprüfung und Vervollständigung des bisherigen Bildes der nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen. Deren Planung und Umsetzung erfolgten stets im Zusammenwirken unterschiedlicher Ins­titutionen und Behörden, wobei neben den politischen Verantwortungsträgern und Polizei- bzw. Parteigliederungen etwa auch Fürsorge- und Arbeitsämter hinzugezogen wurden. Als zentrale Schnittstelle zu den Berliner (RSHA) bzw. Wiener (Kriminalpolizeileitstelle Wien) Zentralstellen fungierte die Kriminalpolizeistelle Graz unter ihrem Leiter Friedrich Clahs. Auf örtlicher Ebene bestätigte sich einmal mehr, dass die Radikalisierung der Verfolgungspolitik nicht zuletzt durch das Kesseltreiben der lokalen Stellen, insbesondere des Oberwarter Landrates Dr. Peter Hinterlechner, vorangetrieben wurde. Die permanente Konstruktion neuer Sachzwänge diente dabei als Scheinargument für die Forderung immer radikalerer Schritte, die als Wirkung oft erst jene Missstände (wie die explodierenden Fürsorgekosten durch die Internierung der arbeitenden Männer) hervorriefen, als deren Lösung sie gedacht waren. Die Phasen der Verfolgung, die vom Entzug der Bürgerrechte über Zwangsarbeit bis zum Genozid in Auschwitz reichten, folgten dabei jedoch nicht zur Gänze einer fortschreitenden Eskalierungslogik, sondern waren immer wieder geprägt von Übergangslösungen, Verzögerungen und nicht realisierten Plänen. Gerade das Beispiel der steirischen „Zigeunerarbeitslager“ zeigt, dass diese Phase nicht nur die Vorstufe der Vernichtung darstellte, sondern überhaupt erst infolge gescheiterter Deportationsvorhaben zustande kam. Bei der Wiederaufnahme der Vernichtungspläne diente dann im November 1941 das Lager bei Fürstenfeld als Drehscheibe für die Transporte. Beide Lager – das Zwangsarbeitslager Kobenz und das Sammellager Fürstenfeld – stehen exemplarisch für einen bestimmten Typus im NS-Lagersystem bzw. innerhalb des Phasenverlaufs. Unter anderem kann nun der zeitliche Rahmen und genaue Standort dieser Lager abgesteckt werden. Bei der Errichtung beider Lager wurde auf bestehende Infrastruktur (das Umsiedlerlager in Dietersdorf bzw. die früheren Wohnbaracken für Straßenarbeiter) zurückgegriffen, wobei das Lager Fürstenfeld zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten (Herbst 1941, Frühjahr 1943) als „Zigeunersammellager“ genützt wurde. Erstmals kann zudem für Sommer 1940 die kurzzeitige Nutzung des Lagers Kobenz für jüdische Zwangsarbeiter belegt werden. Hinweise auf Massenerschießungen, wie sie etwa der Bericht des Kriminalbeamten Ernst Friedrich Binder über Fürstenfeld enthält, haben sich nicht bestätigt. Für Kobenz ergab sich

„(... dass) die zigeuner ... aus dem Landschaftsbild verschwinden“

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sogar der überraschende Befund vergleichsweise erträglicher Lagerbedingungen, was auf die Intention der NS-Stellen zurückgehen könnte, die Internierten bis zum Ergreifen neuer Verfolgungsschritte in Sicherheit zu wiegen, um einer Fluchtwelle vorzubeugen. Ebenso wenig bestätigte sich die Annahme, dass mit der Auflösung der obersteirischen Zwangsarbeitslager alle Betroffenen nach Łódź deportiert wurden; ca. 45 % der Personen verblieben weiterhin in Arbeitslagern bzw. wurden zu anderen Einsatzstellen verlegt. 327 der rund 600 vormals dort Internierten wurden hingegen in Łódź bzw. Chełmno ermordet. Das von den Grazer Stellen etablierte Zwangsarbeitssystem zielte darauf ab, dass die Arbeiter selbst – durch die Einbehaltung ihrer Löhne – die Fürsorgekosten für die ganzen Roma aufbringen sollten. Das ökonomische Konzept erwies sich jedoch als völlig unrealistisch und erbrachte nur einen Bruchteil der vorgesehenen Einnahmen. Zwischen den Deportationen nach Łódź im Herbst 1941 und den Deportationen im Frühjahr 1943 nach Auschwitz-Birkenau ließen die Machthaber dann erneut trügerische Ruhe einkehren. So wurde etwa die von langer Hand geplante Zusammenlegung der burgenländischen Romasiedlungen nie systematisch umgesetzt. Mit den Auschwitztransporten 1943 reduzierte sich die Zahl der noch im Gau befindlichen Roma schließlich ein weiteres Mal auf weniger als ein Viertel, das heißt auf nur noch 600 Personen. Von den Deportierten kehrten nur sehr wenige zurück: Die Gesamtzahl der ermordeten österreichischen Roma wird heute mit ca. 9.500 angeben: Die Wahrscheinlichkeit, die NS-Herrschaft zu überleben, lag demnach bei nur rund zehn Prozent.188

188 Die Gesamtopferzahl ergibt sich aus der Summe aller ins KZ Deportierten abzüglich der Überlebenden (ca. zehn Prozent), den in Łódź bzw. Chełmno Ermordeten sowie den LackenbachOpfern; Baumgartner/Freund, Holocaust (wie Anm. 10) 218; vgl. Freund u. a., Vermögensentzug (wie Anm. 2) 49–50.

Die Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und Juden durch die Steiermark

Eleonore Lappin-Eppel

Der Einsatz ungarischer Jüdinnen und Juden beim Bau des „Südostwalls“ Am 19. März 1944 okkupierten deutsche Truppen Ungarn, weil dieses aufgrund der schlechten militärischen Lage kriegsmüde und ein zunehmend unverlässlicher Verbündeter war. Das rasche Vorrücken der Roten Armee hinderte die NS-Führung nicht daran, die „Endlösung der Judenfrage“ auch in Ungarn rigoros durchzuführen. Mithilfe der ungarischen Regierung, welche die betreffenden Gesetze erließ, und der ungarischen Gendarmerie, welche die jüdische Bevölkerung in die Ghettos trieb, bewachte und schließlich auf die Deportationszüge verlud, gelang es dem lediglich etwa zweihundert Mann zählenden und unter der Leitung Adolf Eichmanns stehenden „Sondereinsatzkommando der Sicherheitspolizei und des SD in Ungarn“ zwischen dem 15. Mai und dem 9. Juli 1944 mehr als 430.000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz zu deportieren, wo drei Viertel sofort vergast wurden.1 Als das ungarische Staatsoberhaupt, Miklós Horthy, in- und ausländischem Druck nachgab und am 7. Juli 1944 weitere Deportationen verbot, war die ungarische Provinz bereits „judenrein“, lediglich die jüdische Bevölkerung Budapests sowie die jüdischen Arbeitsdienstler in der ungarischen Armee waren von den Deportationen verschont geblieben. Am 15. Oktober 1944 erklärte Horthy Ungarns Kriegsaustritt und einen Waffenstillstand mit der Sowjetunion.2 Dies gab den Nyílas, den faschistischen Pfeilkreuzlern, den Vorwand, um mit deutscher Hilfe in einem seit langem geplanten Putsch die Macht an sich zu reißen. Zwischen dem 6. November und dem 1. Dezember 1944 übergaben sie 76.209 Juden, welche angeblich bis Kriegsende in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden sollten, „leihweise“ dem Deutschen Reich:3 Etwa 30.000 waren zwangsrekrutierte jüdische Frauen und Männer aus Budapest, der Rest Arbeitsdienstler der ungarischen Armee. Die BudapesterInnen mussten den Weg zum Grenzort Hegyeshalom 1

2 3

Die Angaben zur Zahl der Deportierten schwanken. Die wohl verlässlichste Studie stammt von László Varga, der angibt, dass die Zahl der bis Oktober 1944 aus Ungarn Deportierten auf 444.152 betrug. László Varga, Ungarn, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Dimension des Völkermords, München 1991, ­331–352, hier: 344. Randolph L. Braham, The Politics of Genocide. The Holocaust in Hungary, New York 1981, 820–829. Varga, Ungarn (wie Anm. 1), 349.

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Eleonore Lappin-Eppel

unter grausamsten Bedingungen zu Fuß zurücklegen. Tausende erlagen den Entbehrungen oder wurden von Pfeilkreuzler-Wachen ermordet. Über die nach dem 1. Dezember Ausgelieferten liegen keine Zahlen vor.4 In Hegyeshalom übernahm die SS die „Leihjuden“ und überstellte sie per Bahn nach Zurndorf. Von dort wurde ein Teil in Konzentrations- und Arbeitslager im Deutschen Reich deportiert,5 die anderen kamen in Lager entlang der heutigen Grenze Österreichs zur Slowakei, Ungarn und Slowenien, um am sogenannten „Südostwall“6 mitzuschanzen. Mit der Errichtung dieses Systems von Panzersperren und Befestigungsanlagen, welche die Rote Armee bei ihrem Vormarsch auf Wien und Graz stoppen sollte, war im Oktober 1944 begonnen worden. Es wurde unter monatelangem Einsatz Zehntausender Arbeitskräfte errichtet: deutsche und österreichische ZivilistInnen, Hitlerjugend, FremdarbeiterInnen, Kriegsgefangene, kroatische Waffen-SS und ungarische Juden und Jüdinnen,7 erwies sich aber militärisch als nutzlos. Die Baulinie Niederdonau des „Südostwalls“ verlief von Bratislava bis zum Geschriebenstein, südlich davon lag die Baulinie Steiermark. Die Baustellen in den Gauen Niederdonau und Steiermark unterstanden ihren Gauleitungen. Lediglich für den Abschnitt Nord der Baulinie Niederdonau (Einsatzstelle Bruck an der Leitha) war die Gauleitung von Wien zuständig. Der Abschnitt Ödenburg (Sopron) hingegen unterstand der Gauleitung Niederdonau, der Abschnitt Güns (Kőszeg) der Gauleitung Steiermark. Während die ersten ungarisch-jüdischen SchanzarbeiterInnen bereits Anfang November nach Westungarn und in den Gau Niederdonau verlegt wurden, begann ihr Einsatz im Gau Steiermark erst um Weihnachten 1944.8 Im Gau Niederdonau schanzten neun- bis zehntausend Jüdinnen und Juden, zehntausend jüdische Arbeitskräfte waren im Abschnitt Ödenburg (Sopron) eingesetzt, achttausend in Kőszeg (Abschnitt Güns) und siebentausend im Gau Steiermark. Genaue Zahlenangaben sind nicht möglich, da wiederholt Gruppen von Arbeitern von einem Lager in ein anderes 4 5 6 7 8

Laut Braham wurden den Deutschen 50.000 Arbeitsdienstler übergeben. Braham, Politics (wie Anm. 2), 844. Das KZ Mauthausen verzeichnete am 26.11.1944 einen Zugang von 495 Budapester Juden. Hans Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen, 2. Auflage, Wien 1980, 127. Dieser wurde auch als „Reichsschutzstellung“ bzw. „Ostwall“ bezeichnet. Leopold Banny, Schild im Osten. Der „Südostwall“ zwischen Donau und Untersteiermark 1944/45, Lackenbach 1985. Siehe dazu: Szabolcs Szita, The Forced Labor of Hungarian Jews at the Fortification of the Western Border Regions of Hungary, 1944–1945, in: Randolph L. Braham (Hrsg.), Studies On the Holocaust in Hungary (Social Science Monographies, Bolder and the Csengeri Institute for Holocaust Studies of the Graduate School and University Center of the City University of New York) New York 1990, 175–193; ders., Verschleppt, verhungert, vernichtet. Die Deportation von ungarischen Juden auf das Gebiet des annektierten Österreich 1944–1945, Wien 1999; Landesgericht (im folgenden LG) Wien als Volksgericht (im folgenden Vg) 2f Vr 2832/45 gegen Stefan Beigelböck u. a.

Die Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und juden

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verlegt wurden. So war die Mehrheit der ab Weihnachten 1944 im Gau Steiermark schanzenden jüdischen Arbeitskräfte zuvor in Westungarn oder im Gau Niederdonau eingesetzt gewesen. Vereinzelte Gruppen jüdischer Arbeitsdienstsoldaten wurden aus anderen Teilen Ungarns in den Gau Steiermark verlegt.9 Außerdem wurde die überwiegende Mehrheit der jüdischen Frauen wenige Wochen nach Beginn des Einsatzes wieder abgezogen und in Konzentrationslager im Deutschen Reich oder ins sogenannte „Erholungslager“ Lichtenwörth bei Wiener Neustadt überstellt.10 Die meisten verbliebenen Frauen arbeiteten in Westungarn, während ihre Zahl in Niederdonau und Steiermark marginal war. Die von den Juden und Jüdinnen geforderten Erd- und Holzarbeiten waren sehr anstrengend. Die Verpflegung reichte nicht aus, um sie bei Kräften zu halten. Die Wachmannschaften waren angehalten, sie gnadenlos zur Arbeit anzutreiben. Misshandlungen sollten die Leistungen der Erschöpften erhöhen. Ihre Unterkünfte – Scheunen, Ställe, Baracken, Keller, Dachböden, Ziegeleien u. dgl. – waren meist unbeheizt und die ZwangsarbeiterInnen mussten auf Brettern oder auf dem nackten Boden schlafen. Bisweilen waren sie in geräumten Schulen untergebracht, doch auch hier herrschte große Enge. Oft waren die primitiven Behausungen halb verfallen, meist boten sie wenig Schutz gegen Kälte und Nässe. Erfrieren, insbesondere nachts in den eisigkalten Unterkünften, gehörte zu den häufigsten Todesursachen. Aber auch bei der Arbeit erlitten die eingesetzten Jüdinnen und Juden oft schwere Erfrierungen, da sie keine geeignete Kleidung besaßen, nicht zuletzt deshalb, weil sie auf dem Weg zu ihrem Einsatzort am „Südostwall“ von diversen Wachmannschaften beraubt worden waren. Als im Winter die Brunnen zufroren, konnten sich die Insassen vieler Lager monatelang nicht reinigen. In den engen, unhygienischen Unterkünften grassierten bald Krankheiten, in einigen auch Flecktyphus. Die Häftlinge wurden zum Teil entlaust und die kranken von den gesunden isoliert. Die medizinische Betreuung oblag jüdischen Ärzten aus den Reihen der Deportierten, die aber fast keine Medikamente erhielten. Nichtarbeitsfähigen wurden die Hungerrationen weiter gekürzt, die Zustände in den „Lazaretten“ oder „Sanatorien“ beschleunigten das Sterben. Als die Zahl der Kranken weiter stieg, befahl die steirische Gauleitung die Erschießung der Kranken – angeblich um die Seuche einzudämmen,11 doch wurden keineswegs nur Typhuskranke ermordet. 9

Einvernahme des Ludwig Groll beim BG Wolfsberg, 4.10.1947, fortgesetzt 10.10.1947, LG Wien Vg 12e Vr 2832/45. 10 Zu Lichtenwörth siehe: Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien 2010, 371–374; Eleonore Lappin, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Niedreösterreich, in: dies., Susanne Uslu-Pauer und Manfred Wieninger, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Niederösterreich 1944/45, St. Pölten 2006, 11–102, hier: 92–95. 11 Siehe dazu: Eleonore Lappin, Die Rolle der Waffen-SS beim Zwangsarbeitseinsatz ungarischer Juden im Gau Steiermark und bei den Todesmärschen ins KZ Mauthausen (1944/45), in: Dokumentations­

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Eleonore Lappin-Eppel

Der Rückzug aus den Lagern Als sich im Frühjahr 1945 die Rote Armee bedrohlich der österreichischen Grenze näherte, sollten die ungarisch-jüdischen SchanzarbeiterInnen ins KZ Mauthausen „evakuiert“ werden, um ihre Befreiung durch die sowjetischen Truppen zu verhindern. Um den 20. März 1945 begann der Rückzug aus den westungarischen Lagern. Sie wurden aufgelöst und die ArbeiterInnen per Bahn oder zu Fuß in Richtung Österreich in Marsch gesetzt. Wenige Tage später, Ende März, wurden auch in den Gauen Niederdonau und Steiermark die Arbeiten eingestellt und die Juden und Jüdinnen nach Westen zurückgezogen. Die ZwangsarbeiterInnen aus dem Bauabschnitt Ödenburg (Sopron) und aus dem Gau Niederdonau mussten nach Gramatneusiedl marschieren, wo sie in Züge verladen und nach Mauthausen transportiert wurden.12 Die Arbeiter aus dem Abschnitt Nord (Bruck/Leitha) wurden auf Schleppkähnen von Bad Deutsch-Altenburg nach Mauthausen verbracht.13 In der ersten Aprilwoche trafen bereits mehr als 8.000 „evakuierte“ ungarische Juden und Jüdinnen in Mauthausen ein.14 Einzelne Gruppen von Nachzüglern aus Lagern der nördlichen Bauabschnitte mussten jedoch längere Strecken zu Fuß zurücklegen, wobei das Donautal eine wichtige Route war.15 Die Jüdinnen und Juden aus den Lagern in und um Kőszeg und im Gau Steiermark hingegen mussten alle zu Fuß durch das heutige Burgenland, die Steiermark und Oberösterreich nach Mauthausen marschieren. Sie waren daher entsprechend länger unterwegs und hatten dabei Tausende Opfer zu beklagen. In den Kőszeger Lagern wurden die jüdischen ArbeiterInnen vor dem Abmarsch in drei Gruppen geteilt: Die Kräftigeren mussten zu Fuß über die Grenze marschieren, während die Schwächeren per Bahn in den Unterabschnitt Burg gebracht wurden.16 Etwa zweihundert Kranke blieben in Kőszeg zurück und wurden zwischen dem 22. und 25. März 1945 von Wachmannschaften und SS liquidiert.17

12 13 14 15 16 17

archiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) (Hrsg.), Jahrbuch 2004. Schwerpunkt: Mauthausen, Wien 2004, 77–112. Siehe dazu: Eleonore Lappin, The Death Marches of Hungarian Jews Through Austria in the Spring of 1945, in: Yad Vashem Studies XXVIII (2000), 203–242, hier: 224–226. LG Wien Vg 1a Vr 564/45 gegen Rudolf Kronberger u. a.; LG Wien Vg 1b Vr 3015/45 gegen Emanuel Albrecht u. a. Maršálek, Mauthausen (wie Anm. 5), 143 ff., S. 283; Peter Kammerstätter, Der Todesmarsch ungarischer­Juden vom KZ Mauthausen nach Gunskirchen, April 1945. Eine Materialsammlung mit Bildern (unv.), Linz 1971, 11. Vgl. Eleonore Lappin, Die Opfer von Hofamtes Priel, in: dies., Uslu-Pauer und Wieninger, Niederösterreich (wie Anm. 10), 133–173, hier: 134–141. Der Abend, 12.7.1948, Bericht von A.K., 1995. Sammlung des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs (Injoest); LG Wien Vg 2f Vr 2832/45. Braham, Politics (wie Anm. 2) 343; LG Wien Vg 1a Vr 1010/45 gegen Johann Hölzl; LG Wien Vg 1 b Vr 1018/45 gegen Johann Zemlicka; LG Wien Vg 2f Vr 2832/45.

Die Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und juden

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Die ArbeiterInnen aus Kőszeg wurden zunächst auf der österreichischen Seite der Grenze auf Lager zwischen Rechnitz und Reinersdorf aufgeteilt.18 Die ArbeiterInnen, die nicht in Rechnitz blieben, marschierten ab Burg in die südlich gelegenen Lager, wo immer wieder Gruppen von Deportierten zurückgelassen wurden und zum Teil noch einige Tage lang arbeiten mussten. Der körperliche Zustand dieser TransportteilnehmerInnen war zum Teil sehr schlecht, waren da­ runter doch auch jene, die per Bahn von Kőszeg abtransportiert worden waren, weil sie als nicht marschfähig galten. Die Eskorten von Burg in die neuen Lager, 16- und 17-jährige Hitlerjungen und Wachmannschaften aus den „Judenlagern“ in Strem und Reinersdorf, hatten den Befehl, Nichtmarschfähige zu erschießen, sodass es bei diesen Transporten zu einer ganzen Reihe von Morden kam.19 Der berüchtigtste Fall ereignete sich jedoch in Rechnitz. Am 24. März kam ein Zug mit tausend bis zwölfhundert Personen aus Kőszeg nach Burg. Von diesen waren etwa zweihundert zu schwach, um weitermarschieren zu können. Im Auftrag der Kreisleitung wurden sie per Bahn nach Rechnitz zurückgebracht. In den frühen Morgenstunden des 25. März ermordete sie ein Kommando, zusammengestellt aus Gästen eines im Schloss Batthyány aus Anlass des bevorstehenden Rückzugs abgehaltenen Abschiedsfests der Stellungsbau-Prominenz.20 Im westungarischen Lager Bucsu, das zum Bauabschnitt Güns gehörte, wurden ebenfalls die Nichtmarschfähigen ermordet, nachdem ihre Kameraden in Richtung Rechnitz in Marsch gesetzt worden waren.21 Ebenso mussten Hunderte Schanzarbeiter aus Bozsok über Rechnitz und den Gau Steiermark nach Mauthausen marschieren.22 18 Bericht von Juditta Hruza, 1995. Injoest. 19 Siehe dazu: LG Graz Vg 1 Vr 900/45 gegen Paul Schmidt u. a.; LG Graz Vg 1 Vr 9122/47 gegen Bruno Strebinger u. a. Das Urteil in diesem Verfahren ist tw. abgedruckt in: DÖW (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934–1945. Eine Dokumentation, 2. Auflage, Wien 1983, 340 f.; Eleonore Lappin, Rechnitz gedenkt der Opfer der NS-Herrschaft, in: DÖW (Hrsg.), Jahrbuch 1992, Wien 1992, 50–70, hier: 65–70. 20 Vgl. ebda; LG Wien Vg 11g Vr 190/48 gegen Eduard Nicka (Oberwart) später gegen: Stefan Beiglböck, Ludwig Groll, Josef Muralter, Hildegard Stadler und Hermann Schwarz (Rechnitz). Die Anklageschrift zu diesem Verfahren ist teilweise abgedruckt in: DÖW (Hrsg.), Widerstand und Verfolgung im Burgenland (wie Anm. 19), 336–339; LG Wien Vg 12 e Vr 2832/45; Harald Straßl/Wolfgang Vosko, Das Schicksal ungarisch-jüdischer Zwangsarbeiter am Beispiel des „Südostwallbaus“ 1944/45 im Bezirk Oberwart. Unter besonderer Berücksichtigung der Massenverbrechen bei Rechnitz und Deutsch Schützen, Diplomarbeit. Wien 1999; Walter Manoschek (Hrsg.), Der Fall Rechnitz. Das Massaker an Juden im März 1945, Wien 2009. 21 Protokoll, aufgenommen mit Dezsö Lanyi, geb. am 2.2.1906, am 8.8.1945. Yad Vashem Archiv, Jerusalem (YVA) 05/89b. Zoltan Diamant wusste von der Erschießung von 25 Kranken. Abschrift. Protokoll aufgenommen am 10.8.1945 mit Zoltan Diamant, geb. 2.1.1922 in Budapest. Public Record Office, London (PRO) War Office (WO) 310/143. 22 Niederschrift aufgenommen mit Josef Mandel in Rechnitz, 22.3.1946. Österreichisches Staatsarchiv – Archiv der Republik (ÖStA AdR) Nr. 162.

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Abb. 1: Rückzugsrouten der ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen im Frühjahr 1945 © Grafik Patric Kment

Die Todesmärsche ungarischer Jüdinnen und juden

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Um den 29. März wurden sämtliche Lager für ungarisch-jüdische SchanzarbeiterInnen im Gau Steiermark aufgelöst. Im Kreis Fürstenfeld wurden auf Befehl der Kreisleitung in einigen Lagern Nichtmarschfähige ermordet. In Strem blieben 32 Kranke in ihrem Lager im Meierhof zurück. Dieser soll nach Angaben der Ortsbevölkerung am 30. März von SS-Leuten angezündet worden sein. Leichenfunde von Angehörigen der Roten Armee vom 17. Mai 1945 bestätigen diese Aussagen.23 In Reinersdorf und Inzenhof sollten die Wachmannschaften die Kranken mit Vorschlaghämmern ermorden, um Munition für unterwegs zu sparen.24 In Reinersdorf unterblieb die von Kreis- und Abschnittsleiter Eduard Meissl angeordnete Mordaktion bis auf zwei Ausnahmen, weil sich die selektierten Kranken wieder unter die Gesunden mischten und von den Wachmannschaften mitgenommen wurden.25 Im benachbarten Inzenhof erschlug ein nicht näher bekanntes Mordkommando 15 Menschen.26 Auch im Abschnitt Feldbach wurden Kranke zurückgelassen und zum Teil ermordet. Als am 30. März 1945 die Arbeiter aus Klöch abmarschierten,27 sperrten die Wachmannschaften 22 Kranke in ein Zimmer des Schulhauses.28 DorfbewohnerInnen entdeckten und verpflegten sie. Kurz vor dem Einmarsch der Roten Arme29 holten sie vermutlich Angehörige einer Einheit der Waffen-SS ab und erschossen sie im Steinriegelwald bei Röhrl.30 In St. Anna am Aigen und Kalch retteten die einmarschierenden sowjetischen Truppen die zurückgelassenen Kranken.31 23 Landesgendarmeriekommando f. d. Burgenland Erhebungsabteilung in Eisenstadt. Niederschrift aufgenommen mit dem Bürgermeister der Gemeinde Strem, Bezirk Güssing, Burgenland, Felix Gregorich, 4.6.1946. ÖStA AdR Bundesministerium des Inneren (BuMinI) 54.370-18/70 betreffend Eduard Meissl u. a. 24 Polizeiliche Vernehmung des Bruno Strebinger, Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft bei dem Land­ gericht Stuttgart, 15 Js 27/64, 17.4.1964. ÖStA AdR BuMinI 54.370-18/70. 25 Urteil vom 14.9.1948 gegen Bruno Strebinger. LG Graz Vg 1 Vr 9122/47. 26 Schreiben des Bundesministeriums für Inneres an das Jüdische KZ-Grabstätten-Eruierungs- und Fürsorgekomitee, Zl. 68.143 –/48, 6.6.1948. YVA 05/12. 27 Helmut Pulko, 750 Jahre Markt Gnas (1229–1979), Gnas 1979, 64. 28 Die Zahl der Kranken wird unterschiedlich, meist aber mit 17 angegeben. Beamte der Israelitischen Kultusgemeinde Graz exhumierten in Hürth 22 Leichen jüdischer Arbeiter. Dabei dürfte es sich um diese Opfer handeln, da Röhrl zur Gemeinde Hürth gehörte. Schreiben der IKG Graz an das Jüdische Grabstätten-Eruierungs- und Fürsorgekomitée, 12.11.1948. YVA 05/13; Bundesamt für Statistik (Hrsg.), Ortsverzeichnis von Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorarlberg und Burgenland. Bearbeitet auf Grund der Ergebnisse der Volkszählung vom 7. März 1923, Wien 1930. Ich danke Franz Josef Schober für diesen sowie zahlreiche weitere wichtige Hinweise. 29 Dieser erfolgte in der Nacht vom 4. auf den 5.4.1945, vgl.: Interview Franz Josef Schobers mit Anna Hinterholzer, Klöch, 12.2.1985. Sammlung Franz Josef Schober. 30 Ebda.; Schulchronik Klöch, Kopie. Injoest; Auszug aus der Chronik des Gendarmeriepostens Klöch, Militärwissenschaftliches Institut Wien, MWI 1945/11. Sammlung Franz Josef Schober; LG Graz Vg 17 Vr 2482/47 gegen Anton Rutte u.a. 31 Bericht Sandor Vandor, 1995. Injoest; Bericht Sandor Vandors vom 14.2.2005. Sammlung Franz Josef

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Die Organisation der Evakuierungsmärsche Vermutlich am 28. März 1945 hielt Heinrich Himmler in Wien eine Besprechung mit den Gauleitern Baldur von Schirach (Wien), Hugo Jury (Niederdonau), Sigfried Uiberreither (Steiermark) und August Eigruber (Oberdonau) sowie dem Kommandanten des KZ Mauthausen, Franz Ziereis, sowie Vertretern von Eichmanns „Sondereinsatzkommando“ und der Gestapo ab. Dabei gab Himmler den endgültigen Rückzugsbefehl für die ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen nach Mauthausen. Gleichzeitig ordnete er an, dass die Evakuierung „ordentlich“ per Bahn, LKW oder Schiff unter möglichster Schonung des Lebens der Juden zu erfolgen habe.32 Doch nach wie vor hatte der bei der Evakuierung von Konzentrations- und Arbeitslagern übliche Befehl Gültigkeit, dass kein Häftling lebend in die Hände des Feindes fallen dürfe, war dies doch der eigentlich Grund dafür, die jüdischen ArbeiterInnen weiter ins Landesinnere zu verschleppen. Die Gauleitungen gaben die Befehle an die betroffenen Kreisleiter weiter, welche die Eskorten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet zu stellen hatten. Während der ersten Etappen begleiteten die Wachmannschaften vom „Südostwall“ die Transporte, danach übernahm sie der lokale Volkssturm. Bei den großen Transporten hinter Graz wurden die „Parteiformationen“ durch Polizei und Gendarmerie sowie ukrainische Waffen-SS verstärkt. Da die jüdischen SchanzarbeiterInnen „Schutzhäftlinge“ waren,33 stellten SS- oder Gestapo-Männer die „Transportleitung“, welche sie über längere Distanzen begleitete. Die Angehörigen des Volkssturms, der Polizei und der Gendarmerie hingegen wechselten an den Rayonsgrenzen. Volkssturm, Gendarmerie, Gestapo und Waffen-SS erhielten ihre Befehle von den ihnen übergeordneten Stellen und unterstanden jeweils eigenen Kommandanten, was in der Regel die Zusammenarbeit nicht störte. Bei der Befehlsübergabe an die Kreisleitungen betonten die Gauleiter offenbar weniger den Wunsch Himmlers, jüdisches Leben zu schonen, als die Anordnung, Nachzügler und

Schober; E-Mail von Alan Brown an Franz Josef Schober, November 2006, ebda. Siehe auch: Franz Josef Schober, Eine Begegnung – oder „Wer immer ein Menschenleben rettet …“ Eine Gerechte unter den Völkern aus dem südoststeirisch-südburgenländischen Grenzraum, in: Signal. Jahresschrift des Pavel-Hauses – Letni zbornik Pavlove hiše (Winter/Zima 2006/2007), 100–108. 32 Vgl. dazu: Befragung des Sigfried Uiberreither durch Lord Schuster am 5.3.1946 über die Verantwortung der Ermordung von 7.000 ungarischen Juden im April 1945, in der Steiermark. DÖW 12.697; Aussage von Franz Ziereis, 24.5.1945, in: Kammerstätter, Der Todesmarsch (wie Anm. 14), 8; Aussage von Baldur von Schirach, in: Maršálek, Mauthausen (wie Anm. 5), 144. 33 Telegramm Edmund Veesenmayers an das Deutsche Außenamt vom 21.11.1944, in: Randolph L. Braham, The Destruction of Hungarian Jewry. A Documentary Account, New York 1963, Dokument 242, 532 f.

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Flüchtlinge zu erschießen. Denn während der „Schonungsbefehl“ Himmlers, wie Gerichtsverfahren nach Kriegsende zeigten, war dieser den hochrangigen Funktionären der Kreisleitungen sehr wohl bekannt, wurde aber offenbar von den zuständigen Dienststellen der Kreisleitungen nicht an die Volkssturmkommandanten weitergegeben, welche die Wachmannschaften instruierten. Denn diese kannten den „Schonungsbefehl“ ebenso wenig wie ihre Untergebenen.34 Das bedeutete, dass sich die führenden Dienststellen der Partei bewusst und systematisch über den Befehl Himmlers hinwegsetzten. Das einzige erhaltene Dokument, das Aufschluss über die Organisation der Evakuierungsmärsche gibt, ist die „Geheime Dienstanweisung“ aus dem Kreis Fürstenfeld vom 22. März 1945.35 Sie zeigt, dass die Planung der Routen, die Tagesetappen, das einzusetzende Wachpersonal und die Kommandanten bereits eine Woche vor Erlass von Himmlers Rückzugsbefehl vom Kreisorganisationsleiter ausgearbeitet und den für den Rückzug Verantwortlichen bekannt gegeben worden waren, gleichzeitig wurden „weitere Befehle“ vom Kreisstabsführer angekündigt. Die Behandlung der Häftlinge wird in dieser „Dienstanweisung“ nicht erwähnt. Solche sensiblen Befehle wurden telefonisch oder bei Besprechungen, jedenfalls jedoch mündlich erteilt.36 Die „Geheime Dienstanweisung“ regelte auch nicht die Verpflegung der TransportteilnehmerInnen. Dafür war die Deutsche Arbeitsfont (DAF) zuständig, der die ausländischen „Zivilarbeiter“, meist osteuropäische ZwangsarbeiterInnen (OstarbeiterInnen), unterstanden.37 Die Verpflegung der ungarischen Juden und Jüdinnen war unregelmäßig und kärglich: In oft tagelangen Abständen erhielten sie dünne Suppe oder „Kaffee“ und eine Scheibe Brot.38 Bisweilen kam das Essen von der NSV39 oder aus Werks- bzw. Lagerküchen.40 Die Wachmannschaften hatten Befehl, Kontakte zwischen den Juden und Jüdinnen und der Zivilbevölkerung sowie Hilfeleistungen zu unterbinden. Mitleidige ZivilistInnen, welche den Hungernden Essen zusteckten oder zuwarfen, wurden bedroht und vertrieben. Den MarschteilnehmerInnen war sogar verboten, aus Brunnen zu trinken. Dies konnte als Fluchtversuch gedeutet und mit Erschießen, sicher aber mit Misshandlungen geahndet werden. Un-

34 Ein gutes Beispiel dafür ist die Aussage von Oskar Reitter, ehemaliger Kreisamtsleiter von Graz-Land, 8.2.1960. LG Graz 13 Vr 20/60 gegen Oskar Reitter. Bei den Volksgerichtsverfahren wegen Gewaltverbrechen gegen ungarische Juden ist von Himmlers „Schonungsbefehl“ nicht einmal die Rede. 35 Geheime Dienstanweisung Nr. 24, Kreis Fürstenfeld, 22.3.1945. PRO FO 1020/2063. 36 Vgl. Niederschrift des Polizeikommisariats Leoben aufgenommen mit Josef Wallner, 11.3.1946. LG Graz Vg 14 Vr 8562/47 gegen Josef Wallner. 37 LG Graz Vg 1 Vr 83/48 gegen Tobias Portschy; War Crimes Investigators, Graz an ADJAG, BTA, 23.2.1946, Report on the Eisenerz March. PRO WO 310/143. 38 Das Steirerblatt, 9.9.1947. 39 LG Graz Vg 1 Vr 6791/47 gegen Josef Isker, Johann Sommer und Adolf Wagner. 40 Aussage von Dipl.-Ing. Hans Böhm, 21.1.1946. PRO FO 1020/2056.

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terkünfte gab es für die Deportierten keine. Sie mussten die feuchten, kalten Frühlingsnächte im Freien verbringen.

Die Todesmärsche von der Grenze nach Graz Der erste Durchbruch der Roten Armee auf österreichisches Gebiet erfolgte am 29. März 1945 bei Klostermarienberg.41 Zwischen dem 27. und dem 29. März erfolgte der Rückzug der ungarisch-jüdischen SchanzarbeiterInnen aus den Bauabschnitten Rechnitz und Burg, deren Zahl aufgrund der Evakuierungstransporte aus Köszeg vermutlich in die Tausende ging.42 Sie wurden etappenweise auf unterschiedlichen Routen abgezogen. Unterabschnittsleiter Josef Muralter gab an, Rechnitz mit vierhundert Insassen des Lagers im Schloss Batthyány am Gründonnerstag (29. März 1945) verlassen zu haben. Sie marschierten über Weiden nach Bad Tatzmannsdorf, am nächsten Tag über Riedlingsdorf nach Hartberg, wo Muralter den Transport übergab.43 Andere Kolonnen wurden über Markt Neuhodis, Oberwart,44 Markt Allhau45 und Penzendorf46 nach Hartberg geführt. Es ist anzunehmen, dass auch die ArbeiterInnen aus Schachendorf auf diesem Weg nach Hartberg gingen. Hartberg war der erste Sammelpunkt in der Steiermark, wo Kolonnen aus verschiedenen Lagern zusammengelegt bzw. neu eingeteilt und auf verschiedenen Routen weitergeschleust wurden.47 So wurden hier die Deportierten aus Schachendorf und Rechnitz mit jenen aus Deutsch Schützen zusammengelegt, die über St. Kathrein, Kirchfidisch, einen Wald bei Kohfidisch, Mischendorf und Jabing, 41 Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich 1945, 2. bearbeitete und erweiterte Auflage, Wien 1984, 126. 42 LG Wien Vg 2f Vr 2832/45, LG Wien Vg 2d Vr 2059/45 gegen Franz Dobesberger, Alfred Ehrlich, Johann Kainz, Walter Feigl, Fritz Hagenauer, Karl Bundschuh und LG Wien Vg 8e Vr 661/55 sowie 20a Vr 661/55 gegen Alfred Weber. 43 Aussage des Angeklagten Josef Muralter, Hauptverhandlung, 12.7.1948. LG Wien Vg 12 e Vr 2832/46; vgl. auch: Niederschrift des Sicherheitsdirektors für das Burgenland aufgenommen mit Emmerich Cserer, Bürgermeister von Rechnitz, 21.3.1946. ÖStA AdR BuMinI Nr. 146. 44 Benedikt Friedmann, Iwan, hau die Juden. Die Todesmärsche ungarischer Juden durch Österreich nach Mauthausen im April 1945 (Augenzeugen berichten 1), St. Pölten 1989, 54 f. 45 Gendarmeriepostenkommando Markt Allhau, Bezirk Oberwart, Bgld. an die Polizeidirektion in Graz, 18.9.1945. LG Wien Vg 1a Vr 6402/46 gegen Johann Schiller, Kurt Engelhardt, Gustav Koch, Michael Ringbauer. 46 Liste des Bundesministeriums für Inneres vom 14.6.1948 über jüdische Grabstätten zu Zahl 79.7719/48. YVA 05/89. 47 Zu den Routen siehe: Eleonore Lappin, Die Todesmärsche ungarischer Juden durch den Gau Steiermark, in: Gerald Lamprecht (Hrsg.), Jüdisches Leben in der Steiermark. Marginalisierung, Aus­ löschung, Annäherung, Innsbruck–Wien–München–Bozen 2004, 263–290.

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sowie am nächsten Tag über Rotenturm a. d. Pinka und Oberdorf, Litzelsdorf, Mitterberg und Wolfau nach Hartberg gekommen waren.48 Eine Route verlief weiter über Pischelsdorf nach Großpesendorf und Gleisdorf,49 zwei weitere steirische Sammelpunkte. Hinter Großpesendorf kam es zu zahlreichen Fluchten. In dem kleinen steirischen Ort Kalch wurden mindestens 14 Juden von DorfbewohnerInnen versteckt und gerettet.50 In der Umgebung Prebensdorf ging der Volkssturm im Auftrag der Kreisleitung von Weiz auf die Suche nach Flüchtlingen und nahm zwanzig Personen fest, die dann zwischen dem 7. und 11. April 1945 von Angehörigen der Waffen-SS-Division „Wiking“ erschossen wurden.51 Diese Flüchtlinge hatten ihre Transporte vermutlich auf dem Weg von Großpesendorf nach Sinabelkirchen52 verlassen. Dank der erhalten gebliebenen „Geheimen Dienstanweisung“ für den Kreis Fürstenfeld vom 22. März 194553 sind die Rückzugsrouten aus diesem Bauabschnitt bekannt. Den Plan für die Evakuierung der ungarischen Juden hatte Rudolf Stanz ausgearbeitet, der als Kreisorganisationsleiter von Fürstenfeld u. a. für die Koordinierung der Arbeitskräfte beim Stellungsbau zuständig war.54 Als Bewachungsmannschaften waren die „auswärtigen und kreiseigenen Führungskräfte, soweit sie nicht im Volkssturm Dienst machen müssen,“ vorgesehen.55 Die Leitung der Transporte oblag den Unterabschnittsleitern. Am 28. März wurden die Insassen der Lager Eberau, Moschendorf, Strem und Reinersdorf zunächst in Strem gesammelt und marschierten am nächsten Tag über Güssing, Sulz, Rehgraben, Neusiedel und Deutsch-Kaltenbrunn nach Bierbaum. Sammelpunkt für die Insassen der Lager Inzenhof und Heiligenkreuz war das „Judenlager Buchmannmühle“ bei Poppendorf, von dort ging es am nächsten Tag über Rudersdorf und Deutsch-Kaltenbrunn weiter nach Bierbaum.56 In Bierbaum kamen mehrere Tausend Evakuierte an, allerdings keineswegs gleichzeitig. Denn nicht alle Transporte konnten das tägliche Marschpensum bewältigen. Ein Transport musste bereits in Güssing nächtigen, ein anderer im nahe gelegenen Steingraben. Dieser Transport, der ursprünglich 48 LG Wien Vg 2d Vr 2059/45; LG Wien Vg 8e Vr 661/55 sowie LG Wien 20a Vr 661/55. Vgl. auch Friedmann, Iwan hau die Juden (wie Anm. 44), 53. 49 Aussage von Naftali Berkowits vom 12. 4. 1947. Injoest, tw. veröffentlicht in: Friedmann, Iwan, hau die Juden (wie Anm. 42), 58–60; Judith Hruza, MD, Interview mit Michael Zuzanek o. D. Injoest. 50 Schreiben von Alois Grauper an die IKG Wien vom 30.8.1989. DÖW E 21.224. 51 Gendarmeriepostenkommando Pischelsdorf, Ex.Nr. 1034 wegen Erschießung von Juden in Prebensdorf an die Bezirkshauptmannschaft in Weiz, 7.12.1945. LG Graz Vg 13 Vr 4566/46 gegen Gerhard Rach und Genossen. 52 Report on the Eisenerz March. PRO WO 310/143. 53 Geheime Dienstanweisung Nr. 24, Kreis Fürstenfeld, 22.3.1945. PRO FO 1020/2063. 54 ÖStA AdR BuMinI 54.370-18/70, betreffend Eduard Meissl u. a. 55 Geheime Dienstanweisung Nr. 24, Kreis Fürstenfeld, 22.3.1945. PRO FO 1020/2063. 56 Ebda.

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aus Moschendorf gekommen war, erreichte auch tags darauf nur Kukmirn und erst am dritten Tag Bierbaum.57 Der Unterabschnittsleiter von Moschendorf, Franz Reichl, der diesen Transport leitete, passte die Marschgeschwindigkeit offenbar dem geschwächten Zustand der ArbeiterInnen an. In Bierbaum wurden die ArbeiterInnen neuerlich verschiedenen Transporten zugeteilt, welche auf unterschiedlichen Routen weitermarschierten. Eine Route führte über Groß Wilfersdorf nach Ilz,58 eine andere über Blumau und Lindegg59 nach Ilz.60 Die nächste Tagesetappe ging nach Gneis bei Sinabelkirchen. Erst hier wurden die Wachmannschaften aus den Lagern am „Südostwall“ vom örtlichen Volkssturm abgelöst, um zur Grenze zurückzukehren, wo inzwischen die Rote Armee durchgebrochen war.61 Andere Transporte marschierten von Lindegg nach Hainersdorf, wo sich die Routen wieder teilten.62 Einige Kolonnen begaben sich direkt von Hainersdorf nach Ilz und von dort auf der Hauptstraße nach Gleisdorf und Graz. Andere gingen auf Umwegen über Großsteinbach,63 Pischelsdorf, Großpesendorf, Prebensdorf und Egelsdorf64 nach Sinabelkirchen. Dort übernahm sie eine Volkssturmeinheit aus Gleisdorf und leitete sie weiter nach Nestelbach, von wo sie Angehörige des Grazer Volkssturms nach Graz-Liebenau brachten. 65 Eine andere Route von Großpesendorf führte über die Hauptstraße nach Gleisdorf.66 Die Routen aus dem Abschnitt Feldbach sind weniger genau überliefert. Die Marschfähigen aus Klöch marschierten um den 29. März über Hürth,67 Ratschendorf68 und Leibnitz.69 Ein Teil der Evakuierten war so langsam unterwegs, dass er bereits in Leoben befreit wurde.70 57 LG Wien Vg 6a Vr 3434/46 gegen Franz Peischl. 58 LG Graz Vg 1 Vr 900/45. 59 Franz Timischl, Fürstenfeld und Umgebung von 1930–1950. Ein zeitgeschichtliches Forschungsprojekt der Volkshochschule Fürstenfeld, Fürstenfeld 1994, 197. Nach dem Krieg entdeckte die Gendarmerie auf diesem Teilstück zwei Gräber, vgl.: LG Graz Vg 1 Vr 900/45. 60 In Ilz wurden nach dem Krieg fünf Einzelgräber jüdischer Arbeiter aufgefunden, vgl.: Liste des Bundesministeriums für Inneres vom 14.6.1948 über jüdische Grabstätten zu Zahl 79.771-9/48. YVA 05/89. 61 LG Graz Vg 1 Vr 9122/47. 62 Report on the Eisenerz March. PRO WO 310/143. 63 Ebda.; LG Graz Vg 1 Vr 900/45. 64 Das Steirerblatt, 16.10.1946. 65 Report on the Eisenerz March. PRO WO 310/143. 66 Das Steirerblatt, 16.10.1946. 67 Schulchronik Klöch: Schulbericht 1944/45. Injoest. 68 Franz Josef Schober, Das Kriegsende rund um den Königsberg im Bezirk Radkersburg, in: Feldbacher Beiträge zur Heimatkunde der Südoststeiermark 4 (1989), 119. 69 Bericht von Robert O. Fish, 2.9.1995. Injoest. 70 Schober, Kriegsende (wie Anm. 68), 119.

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Abb. 2: Die Todesmärsche von der Grenze nach Graz © Grafik Patric Kment

Die Arbeiter, die in St. Anna am Aigen eingesetzt gewesen waren, wurden zunächst nach Gnas getrieben,71 wobei sie vermutlich Bad Gleichenberg passierten.72 Von den nahe gelegenen Lagern Kalch, Bonisdorf, Neuhaus, Minihof-Liebau, Windisch-Minihof und St. Martin an der Raab fehlen Hinweise auf Rückzugsrouten, doch dürfte zumindest ein Teil der Evakuierungstransporte aus diesen Lagern durch Gnas gekommen sein. Am 30. März sollen dort 700–1.000 ungarische Juden genächtigt haben,73 von denen drei verstarben.74 Eine weitere Station auf diesem Marsch war vermutlich Paldau, wo nach dem Krieg ein Massengrab mit 14 71 72 73 74

Protokoll aufgenommen mit Tibor Weiss, 1.9.1945. PRO WO 310/143. Erni Karzanowitsch, Die Brücke, Ein österreichisches Schicksal, Graz 1988. Pulko, 750 Jahre Markt Gnas, 64 (wie Anm. 27). Franz Josef Schober, Antisemitismus, Zwangsarbeit und „Endlösung“. Jüdisches Schicksal an der Grenze. In: ders., Vom Leben an der Grenze. O življenju ob meji. Aufsätze zur Zeitgeschichte der südoststeirisch-slowenischen Grenzräume, 2 Teile, 2. Teil, Laafeld 2009, 153–217, hier: 190.

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Toten gefunden wurde. Die große Zahl an Opfern lässt auf Morde schließen, die jedoch nie aufgeklärt wurden.75 Am 6. April passierte ein aus Jagerberg kommender Transport St. Stefan im Rosental auf dem Weg nach Kirchbach,76 was auf eine weitere Rückzugsroute aus diesem Gebiet hinweist.

Von Graz zum Präbichl Anfang April erreichten die ersten Transporte Graz. Die Tausenden ArbeiterInnen wurden auf die sogenannten „Ausländerlager“77 Andritz, Graz-Wetzelsdorf und Graz-Liebenau aufgeteilt. Sie mussten zwar weiterhin im Freien übernachten,78 wurden jedoch von den Lagerküchen verpflegt – für viele war dies die erste Mahlzeit seit dem Abmarsch von der Grenze.79 In Graz wurden neue Transporte zusammengestellt und nach wenigen Tagen Aufenthalt meist in nördliche Richtung nach Bruck an der Mur in Marsch gesetzt. Lediglich ein Transport mit etwa tausend bis zwölfhundert Personen marschierte von Graz-Liebenau über die Stubalpe nach Trieben und Liezen.80 Auch in Graz wurden Nichtmarschfähige ermordet. Im Lager Graz-Wetzelsdorf wurden nach dem Krieg die sterblichen Überreste von 15 Ermordeten entdeckt.81 Neuere Forschungen setzen die Zahl der Opfer noch höher an.82 Im Mai 1947 berichteten Zeitungen mehrmals über Morde im Lager Graz-Liebenau: am 13. Mai schrieben die Grazer Wahrheit und die Österreichische Volksstimme von 150 Toten.83 Bei den folgenden Exhumierungen wurden

75 Liste des Bundesministeriums für Inneres vom 14.6.1948 über jüdische Grabstätten zu Zahl 79.7719/48, YVA 05/89. In einer anderen Quelle wird die Zahl mit 14 Verstorbenen angegeben. BuMinI an Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Zl. 80.488 – 9/54, Jüdische Ansprüche an Österreich, zu Zahl 2-411 J1/60-1954, 5.7.1954, Sammlung Sixl, Steirische Kriegsgräberfürsorge, Kopie Sammlung Franz Josef Schober. 76 Chronik des Gendarmeriepostens St. Stefan im Rosental, 6. 4. 1945, DÖW 13.114a. 77 In diesen Lagern waren osteuropäische Zivilarbeiter und Kriegsgefangene interniert, die in der Grazer Rüstungsindustrie arbeiteten. 78 Aussage von Nikolaus Pichler, 25.7.1947. PRO FO 1020/2077. 79 Report on the Eisenerz March, War Crimes Investigators, Graz, an ADJAG, BTA, 23.2.1946. PRO WO 310/143. 80 Verfahren des Allgemeinen Gerichts der Militärregierung, abgehalten in Graz, 25.9.1947. ÖStA AdR Bundesministerium für Justiz (BuMinJu) 68.763/55. 81 Officer IC War Crimes Section, JAG Branch, BTA CMF to DJAG GHQ CMF, 13.7.1946. PRO WO 310/5. 82 Massenmorde auf dem Kasernenhof, Kleine Zeitung, Graz, 10.3.2010. 83 Die Wahrheit, 14.5.1947; Österreichische Volksstimme, 17.5.1947.

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am 27. Mai 30 Leichen entdeckt,84 bis 20. Juni belief sich die Zahl der Toten dann auf 53.85 Die meisten Opfer waren ungarische Jüdinnen und Juden, doch befanden sich auch andere ZwangsarbeiterInnen unter den Toten. Besonders tragisch war die Entdeckung der Leichen von drei Säuglingen im Alter von zwei bis fünf Monaten.86 Ein aus Weiz87 kommender Transport marschierte über St. Radegund und Oberschöckl88 in das Lager Andritz am Stadtrand von Graz und von hier weiter über Semriach89 nach Badl und Frohnleiten, wo er am 3. April ankam.90 Dort wechselten die Volkssturm-Begleiter, die neuen Mannschaften gingen bis Mixnitz mit. Hinter Frohnleiten erhielten die TransportteilnehmerInnen Verpflegung, waren aber so ausgehungert, dass sie sich trotzdem auf die Kadaver von Pferden stürzten, die drei Tage zuvor bei einem Luftangriff getötet worden waren. Die Volkssturmmänner missachteten geschlossen den Mordbefehl ihres Kommandanten Josef Isker und zeigten vielmehr Mitleid mit den Häftlingen. Die Morde auf dieser Etappe verübten ukrainische Waffen-SS-Männer.91 Am 4. April 1945 verließen etwa sechstausend ungarische Juden, darunter mehrere Hundert Frauen,92 Graz. Die Transportleitung lag bei drei Beamten der Grazer Gestapo, als Begleitmannschaften dienten Angehörige des Volkssturms, die jeweils an der Grenze ihres Gendarmerierayons ausgewechselt wurden, sowie zwölf Angehörige der ukrainischen Waffen-SS.93 Die Transporte kamen aus verschiedenen Grazer Lagern, zum Teil schlossen sich Kolonnen erst hinter der Stadt an.94 Der Transport wurde geteilt, sodass Gruppen sich entlang beider Murufer in Richtung Norden bewegten. Diesem großen Transport folgten andere 84 Österreichische Volksstimme; Das Steirerblatt, beide: 29.5.1947. 85 Bericht des Instituts für forensische Medizin der Universität Graz über die Exhumierungen zwischen dem 29.5. und dem 20.6.1947 im Lager Graz-Liebenau, PRO FO 1020/2077. 86 Die Wahrheit, 13.9.1947; Österreichische Volksstimme, 19.9.1947; Legal Division an HQ Civil Affairs Land Steiermark, Confirmation of Death Sentences Nikolaus Pichler und Alois Frühwirt, 10.10.1947. PRO FO 1020/2077. 87 „Am 2.4.1945 wurde von Bewohnern auf dem Güttelsberg im sogenannten Angstenwalde bei Weiz ein jüdischer Zivilarbeiter erschossen aufgefunden.“ Chronik des Gendarmeriepostens Weiz, Übergangsbericht, DÖW 13.114a. 88 In diesen Orten wurden nach dem Krieg Gräber entdeckt, vgl.: Wiesenthal-Liste, 1948, Kopie Injoest. 89 Grab angeführt in ebda. 90 Protokoll des Sicherheitskommissariats Frohnleiten, 27.8.1945, PRO WO 310/143 sowie LG Graz Vg 1 Vr 6791/47. 91 Josef Isker wurde lediglich wegen Misshandlung verurteilt. LG Graz Vg 1 Vr 6791/47. 92 Director Legal Division (Leiter der britischen Rechtsabteilung in Österreich) an den Commander-inChief (britischen Oberkommandierenden), o. D., Ergebnisse und Urteile des Eisenerzer Mordprozesses vom 1.–29.4.1946. PRO FO 1020/2034. 93 Ermittlungsbericht der Kriminalpolizei Graz, 5.7.1945. PRO WO 310/155. 94 Zeugenaussage von Samuel Rozenberg beim Eisenerzer Mordprozess, 1.4.1946. PRO FO 1020/2055.

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unterschiedlicher Größe. Durch Frohnleiten sollen fünf oder sechs Kolonnen mit jeweils über hundert Personen gekommen sein. Außerdem passierten noch kleinere Gruppen erschöpfter NachzüglerInnen sowie mindestens ein großer Transport mit etwa tausend TeilnehmerInnen den Ort.95 Dieser etappenweise Durchmarsch ungarischer Juden und Jüdinnen durch das Murtal zog sich mehrere Wochen lang hin. Ein größerer Transport verließ Graz-Liebenau erst am 26. oder 28. April.96 Einige Nachzüglergruppen wurden noch in der Steiermark von sowjetischen Truppen befreit.97 Jüdische Überlebende, aber auch österreichische ZeitzeugInnen erwähnen immer wieder die Brutalität der ukrainischen Waffen-SS-Männer, die zwischen Graz und Leoben die Transporte begleiteten und sich dabei Morde und Misshandlungen zuschulden kommen ließen.98 Angehörige der Waffen-SS-Division „Wiking“ forschten Flüchtlinge aus und ermordeten sie.99 Auch ein ungarischer Offizier soll einen erschöpften jüdischen Landsmann ermordet haben.100 Doch die meisten Morde verübten österreichische Volkssturmmänner und Gendarmen.101 Auch das Verhalten der Zivilbevölkerung war unterschiedlich. Obwohl es immer wieder zu Hilfeleistungen kam, zeigten viele ZivilistInnen einen erschreckend aggressiven Antisemitismus.102 Die meisten standen den Transporten gleichgültig gegenüber. ZeitzeugInnen berichten immer wieder, dass die MarschteilnehmerInnen bei Rasten das Gras von den Wiesen aßen, so auch bei der Ankunft des großen Transports in Bruck an der Mur am 5. April.103 Die erwähnte Verpflegung bei Frohnleiten hatten nur wenige TransportteilnehmerInnen erhalten, die meisten mussten auf ihre erste Mahlzeit bis Trofaiach warten.104 Bei der Übernachtung des großen Transports in St. Peter-Freienstein verhungerten neun Menschen.105 Zwei erschöpfte Marschteilnehmer hatten Glück: Sie wurden von Josef Juwanschitz

95 LG Graz Vg 8 Vr 6791/47. 96 War Crimes Section to Legal Division, 11.2.1946. PRO FO 1020/1899; Officer IC War Crimes Section, JAG Branch, HQ British Troops in Austria, CMF am 12.2.1946. PRO WO 310/143. 97 Schober, Kriegsende (wie Anm. 68), 119; Bericht von Shimshon Schvarc an Franz Josef Schober, 9.3.2005. Sammlung Franz Josef Schober. 98 Siehe z.B.: Protokoll aufgenommen mit Tibor Weiss, geb. am 21.8.1921 in Nyírábrány, 1.9.1945. PRO WO 310/143; Ermittlungsbericht der Kriminalpolizei Graz, 5.7.1945. PRO WO 310/155. 99 Ermittlungsbericht der Kriminalpolizei Graz, 5.7.1945. PRO WO 310/155. 100 LG Graz Vg 1 Vr 6791/47. 101 Siehe dazu: Lappin, Waffen-SS (wie Anm. 11) 93–105, dies., Todesmärsche Gau Steiermark (wie Anm. 47) 275–279. 102 LG Graz Vg 1 Vr 6791/47. 103 Josef Buchinger, Das Ende des tausendjährigen Reichs. Dokumentation über das Kriegsgeschehen, Wien 1972, 2. Bd., 96. 104 LG Graz Vg 1 Vr 6791/47. 105 Gendarmeriepostenchronik von St. Peter-Freienstein, Übergangsbericht 1942–45, DÖW 13.114.a.

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bis Kriegsende versteckt und gerettet.106 Je länger der Marsch dauerte und je schwieriger das Gelände wurde – hinter Leoben mussten sich die Kolonnen Bergstraßen hinaufschleppen –, desto mehr Opfer forderten Hunger, Kälte und Erschöpfung. Am 7. April erreichte der große Transport Trofaiach. Trotz der warmen Verpflegung, welche die Juden und Jüdinnen vom dortigen Fremdarbeiter- und Kriegsgefangenenlager erhielten, waren viele so schwach, dass sie den Aufstieg nach Gladen nur mit Mühe schafften. Wer zu langsam war oder zusammenbrach, wurde von den Eskorten erschossen. Von Hafning bis zur Passhöhe des Präbichls begleiteten Angehörige des Vordernberger Volkssturms den Transport, was auch nicht ohne Morde vonstatten ging. Einige Erschöpfte wurden von den Wachmannschaften in der eisigen Kälte einfach liegengelassen.107

Das Massaker am Präbichl Am 6. April wurde der Chef der Eisenerzer Polizei, Revierinspektor Ernst Bilke, benachrichtigt, dass am nächsten Tag ein Transport mit fünf- bis siebentausend Jüdinnen und Juden auf dem Präbichl zu übernehmen sei. Daraufhin forderte er beim Standortältesten des Eisenerzer Volkssturms, Adolf Schumann, die nötigen Volkssturm-Eskorten an108 und teilte zwei Polizisten ein, die den Transport vom Präbichl nach Eisenerz leiten sollten. Als VolkssturmBegleitmannschaft bestellte Schumann vierzig Mitglieder der sogenannten „Alarm“- oder „Polizeikompanie“, die aus 150 „verlässlich“ nationalsozialistisch gesinnten SA-Männern bestand.109 Schumann sagte nach dem Krieg aus, den SA-Männern den bei Gefangenentransporten üblichen Befehl erteilt zu haben, „nur in Fällen von Widerstand und Flucht von den Waffen Gebrauch zu machen“.110 Von einem „Schonungsbefehl“ hatte Schumann nicht gehört. Am gleichen Abend des 6. April fand in der Kantine der Kaserne von Eisenerz-Trofeng eine Versammlung der „Alarmkompanie“ statt. Nach dem Essen hielt ihr Kommandant, Ludwig Krenn, eine Rede, in welcher er die Wachmannschaften unter Drohungen aufforderte, am kommenden Tag möglichst viele Juden und Jüdinnen zu erschießen. Danach feierten die

106 Übersetzung eines abgefangenen Briefes von Juwanschitz Josef, St. Peter Freienstein 13, an Tarjan Denes, Budapest, 1.11.45., 18.2.1946. PRO FO 1020/2034. Siehe dazu auch: Die Wahrheit, 19.4.1946. 107 Verfahren gegen Clement Frettensattel vor dem Allgemeinen Gericht der britischen Militärregierung wegen Ermordung zweier Juden bei Friedauwerk, Todesstrafe am 13.3.1947. PRO FO 1020/2070. 108 Director Legal Division to Commander-in-Chief, o. D.. PRO FO 1020/2034. 109 Niederschrift aufgenommen mit Herbert Neumann, 12.9.1946. PRO FO 1020/2065. 110 Aussage von Adolf Schumann, ‚B‘ Detachment, 92 Section, SIB, CM Police, 21 8.1945. PRO FO 1020/2056.

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Volkssturmmänner ein Gelage bis in die frühen Morgenstunden.111 Beim Appell am nächsten Morgen, als die Eskorten Munition fassten, wiederholte Krenn seinen Befehl.112 Wegen des geschwächten Zustands der Häftlinge und des einsetzenden Schneefalls verzögerte sich die Ankunft des Transports am Präbichl.113 Bei der Passhöhe übernahmen ihn die „Alarmkompanie“ und die zwei Polizisten. Nachdem die TransportteilnehmerInnen vergleichsweise reichlich verpflegt worden waren, ließ Polizeirevierinspektor Maximilian Modlik sie in Dreierreihen antreten, wobei er darauf geachtet haben will, dass jeweils zwei Marschfähige eineN ErschöpfteN in ihrer Mitte unterstützten. Seine Zählung ergab vier- bis fünftausend Personen. Kurz nach Abmarsch des Transports hörten die Polizisten, die an dessen Anfang und Ende gingen, Schüsse. Der an der Spitze gehende Polizist, Anton Müller, benachrichtigte seinen Vorgesetzten Ernst Bilke telefonisch, dass Mitglieder des Eisenerzer Volkssturms wahllos auf die marschierenden TransportteilnehmerInnen schossen. Bilke wies ihn an, ihnen das Verbot, Juden und Jüdinnen zu erschießen, einzuschärfen, was dieser auch tat. Ob dies ein generelles Schießverbot war oder sich nur auf wahlloses Erschießen marschierender Häftlinge bezog, ist nicht klar.114 Bilke forderte auch den Volkssturm-Bataillonskommandanten Anton Eberl auf, einzuschreiten, doch blieb dieser untätig. Eberl wurde später von einem britischen Gericht der Beteiligung an der Planung des Massakers überführt.115 Daraufhin ersuchte Bilke den Standortältesten Adolf Schumann, gegen die Schießerei einzuschreiten. Nachdem diese eine halbe oder Dreiviertelstunde angedauert und mindestens zweihundert Menschenleben gefordert hatte, gelang schließlich dem Gestapo-Beamten, der die Transportleitung überhatte, dem Gemetzel Einhalt zu gebieten. Ein Volkssturmmann wurde Zeuge, wie zwei SS-Männer Krenn aufforderten, die Schießerei einzustellen. Krenn habe darauf geantwortet, dass nur tausend Juden Hieflau erreichen sollten.116 Überlebende des Massakers erinnerten sich später, dass schließlich unter den Wächtern die Meldung weitergegeben wurde, die SS fordere die Einstellung des Schießens.117 In Bilkes Büro in Eisenerz teilte der Transportführer diesem und Schumann mit, die Gauleitung habe am Vortag weitere Erschießungen verboten. Daraufhin meldete er die Vor111 Aussage von Anna Feda, 28.1.1946. PRO FO 1020/2056. 112 Aussage von Johann Auer, 18.1.1946; Aussage von Fritz Stampfer, 19.1.1946; Aussage Heinrich Thaller, 23.1.1946, alle: PRO FO 1020/2056. 113 Director Legal Division to Commander-in-Chief, o. D.. PRO FO 1020/2034. 114 Aussage von Polizeirevierinspektor Maximilian Modlik, aufgezeichnet von C.J. Wright, 418 FSS Eisenerz Detachment Intelligence Corps, 28.1.1946. PRO FO 1020/2056. 115 Director Legal Division an Commander-in-Chief, o. D., Ergebnisse und Urteile des Eisenerzer Mordprozesse, der vom 1.-29. April 1946. PRO FO 1020/2034. 116 Aussage von Wilhelm Mair, o. D.. PRO FO 1020/2056. 117 Aussage von Wolf Gancz, 22.6.1946. PRO FO 1020/2056.

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kommnisse bei der Grazer Gestapo. Diese ordnete die Verhaftung Krenns an. Ob und warum die Gauleitung diesen Befehl erließ, ist nicht klar. Allerdings setzten die den Gauleitungen unterstehenden Volkssturmmänner die Morde an Nichtmarschfähigen sowohl in der Steiermark als auch in Oberösterreich fort. Die Polizei hingegen dürfte tatsächlich Befehl gehabt haben, Erschießungen, wenn schon nicht zu verhindern, so doch auf ein Minimum zu reduzieren. Das Massaker am Präbichl stellte jedoch eine Exzesstat dar, die auch ohne das angebliche Schießverbot der Gauleitung den geltenden Befehlen zuwiderlief. Denn diese sahen „nur“ Morde an Nichtmarschfähigen, Flüchtlingen und „Renitenten“ vor, was Wachmannschaften ohnehin schon einen sehr großen Ermessensspielraum gab. Schüsse in marschierende Kolonnen waren verboten. Aber auch die Erschießung von Gruppen von Straffälligen oder Kranken durch den Volkssturm war offenbar unerwünscht. Daher übergaben die Volkssturmmänner die von ihnen bei Prebensdorf festgenommenen Flüchtlinge der Waffen-SS zur Liquidierung, was keineswegs ein Einzelfall war.118 Um den Anschein von legalem Vorgehen zu bewahren, behauptete Ludwig Krenn bei seiner Verhaftung, die Opfer hätten sich seinen Befehlen widersetzt.119 Noch während des Massakers war durch die Reihen der Volkssturmmänner die Anweisung weitergegeben worden, später auszusagen, die Häftlinge wären auf der Flucht erschossen worden.120 Schuldbewusstsein zeigten die Mörder nach der Tat keines.121 Einige Täter töteten aus Furcht vor Strafe wegen Nichterfüllung eines Befehls, doch die meisten handelten aus Mordlust, wobei Krenns Reden ihre Hemmschwelle herabgesetzt hatte. Rudolf Mitterböck hatte am Massaker teilgenommen, obwohl er nicht als Eskorte eingeteilt war, jedoch von den Plänen Krenns bei der Versammlung am 6. April erfahren hatte.122 Dennoch stellten die Mörder eine Minderheit unter den Mitgliedern der „Alarmkompanie“ dar, einige verweigerten den Mordbefehl ausdrücklich, ohne dass sich daraus nachteilige Folgen für sie ergaben.123 Auf Intervention des Kreisleiters von Leoben, Otto Christandl, kam Ludwig Krenn nach wenigen Stunden wieder frei.124 Während seiner Haft brachte auf Befehl Schumanns eine

118 Siehe: Lappin, Waffen-SS (wie Anm. 11). 119 Aussage von Adolf Schumann, ‚B‘ Detachment, 92 Section, SIB, CM Police, 21.8.1945. PRO FO 1020/2056. 120 Aussage Heinrich Thaller, 23.1.1946. PRO FO 1020/2056. 121 Aussage von Adolf Schumann, ‚B‘ Detachment, 92 Section, SIB, CM Police, 21.8.1945. PRO FO 1020/2056. 122 Director Legal Division an Commander-in-Chief, o. D., Ergebnisse und Urteile des Eisenerzer Mordprozesse, der vom 1.–29.4.1946. PRO FO 1020/2034. 123 Aussage von Johann Auer, 18.1.1946; Aussage von Josef Sassmann, o. D.; Aussage von Wilhelm Mair, o. D., alle: PRO FO 1020/2056. 124 Theo Turner, Advice on Evidence (Eisenerz 1), 20.2.1946. PRO FO 1020/2056.

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andere Volkssturmkompanie einen NachzüglerInnentransport unbeschadet nach Eisenerz.125 Dessen TeilnehmerInnen sahen auf der Präbichlstraße Tote sowie Habseligkeiten liegen, welche die um ihr Leben Laufenden weggeworfen hatten.126 Die Überlebenden des Massakers und die kurz danach eingetroffenen Transporte wurden auf zwei Rastplätze in Eisenerz aufgeteilt: achtzehnhundert bis zweitausend Männer und Frauen127 kamen in das erst kürzlich aufgelöste Außenlager von Mauthausen Gsöll, die anderen nächtigten auf einer großen Wiese in Münichtal. Verpflegung erhielten sie erst wieder am nächsten Nachmittag.128 Am 8. April bestatteten Volkssturmmänner mithilfe von dreißig Häftlingen aus dem Lager Gsöll, denen man Extrarationen versprochen hatte, ohne die verlangte Arbeit genauer zu beschreiben, die sterblichen Überreste der mehr als zweihundert Opfer in der Seeau bei Eisenerz.129 Als der Transport am 9. April weitermarschierte, blieben im Lager Gsöll neun kranke oder verletzte Juden und Jüdinnen zurück.130 Auch sie wurden von den Mitgliedern der „Alarmkompanie“ Herbert Neumann, Max Mitter und Anton Hebenstreit erschossen.131 In Münichtal wurden zwölf weitere ermordet, ob auch diese wegen Marschunfähigkeit zurückgeblieben waren oder bereits während der Rast erschossen wurden, ist nicht geklärt.132 In den Tagen nach dem 7. April passierten noch mehrere kleinere Transporte den Präbichl. Wie der große vom 7. April wurden auch sie bei der Passhöhe verpflegt und in der Regel von Mitgliedern der „Alarmkompanie“ und einem Polizisten nach Eisenerz begleitet. Bei diesen Transporten bemühten sich die Polizisten jedoch mehr als beim ersten Transport, Morde zu verhindern.133 Dies gelang ihnen nur zum Teil und hing von der Einstellung des Kommandanten der Volkssturmeinheit ab. Am 10. April holten Mitglieder der „Alarmkompanie“ zehn 125 Aussage von Adolf Schumann, ‚B‘ Detachment, 92 Section, SIB, CM Police, 21.8.1945. PRO FO 1020/2056. 126 I.W., geb. 8.4.1928 in Mezötur, Ungarn. Injoest. 127 Aussage von Emmerich Schnabl, o. D. PRO FO 1020/2056. 128 Aussage von Hanns J. Birks; 5.1.1946. PRO FO 1020/2056. 129 Theo Turner, Eisenerz Narrative, 9.2.1946. PRO FO 1020/2034; Anklageschriften für den Ersten Eisenerzer Mordprozess, 2.3.1946. PRO FO 1020/2049; Aussagen Raimund Windhager und Konrad Oberhauser, beide: o. D.; Aussage von Franz Taucher, 10.1.1946; Aussage von Anton Hirner, 17.1.1946, alle: PRO FO 1020/2056; Protokoll aufgenommen mit Tibor Weiss am 1.9.1945. PRO WO 310/143. 130 Aussage von Hans J. Birks, 5.1.1946. PRO FO 1020/2065. 131 Aussage von Franz Schönberger, o. D.. PRO FO 1020/2056; Director Legal Division an Commanderin-Chief, o. D., Ergebnisse und Urteile des Eisenerzer Mordprozesse, der vom 1.–29. April 1946. PRO FO 1020/2034. 132 Oberstaatsanwalt Leoben an das BuMinJu, 10.1.1946. ÖStA AdR BuMinJu 99459/73. 133 Aussage von Maximilian Modlik, 28.1.1946. PRO FO 1020/2056.

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Abb. 3: Die Todesmärsche von Graz nach Oberdonau © Grafik Patric Kment

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Kranke, die per Bahn nach Eisenerz gebracht worden waren, vom Bahnhof ab und erschossen sie in der Seeau.134 Ein letzter Transport erreichte den Präbichl am 21. April. Diesmal war wieder die ursprüngliche Gruppe der „Alarmkompanie“ unter der Führung von Ludwig Krenn als Begleitmannschaft eingeteilt. Krenn ließ bereits bei Vordernberg etwa zwanzig Marschunfähige auf einen Lastwagen laden und in die Seeau führen, wo sie erschossen wurden.135 Franz Wilding und Franz Taucher, die bereits am 7. April gemordet hatten, fingen fünf Nachzügler ab, führten sie mit einem LKW zum Müllabladeplatz bei Neustückel und erschossen sie.136 Von den kleineren Transporten, die den Präbichl dazwischen passierten, sind keine Gräueltaten bekannt.

Die Todesmärsche von Eisenerz nach Oberdonau Die Überlebenden das Massakers am Präbichl marschierten am 9. April nach Jassingau weiter, wo sie übernachteten. Die Begleitmannschaften waren großteils dieselben wie am 7. April. Neuerlich eskalierte die Situation. Nichtmarschfähige wurden tot, aber auch lebendig in den Erzbach geworfen.137 Hinter Jassingau begleiteten auch Gendarmen aus Hieflau und Jassing­au den Transport.138 Die Hieflauer Gendarmen hatten aus Eisenerz den Befehl erhalten, Nichtmarschfähige zu erschießen,139 weshalb sich auch diese Wachmannschaften Morde an Erschöpften zuschulden kommen ließen.140 Allerdings gab es unter ihnen auch Männer, die sich den unmenschlichen Befehlen widersetzten.141 134 Legal Division and Public Safety Officer, Northern Styria, Leoben, 5.10.1946, Betreff: Second Eisenerz Trial – Herbert Neumann. PRO FO 1020/2058; Niederschrift aufgenommen mit Franz Schönberger, 22.8.1945. ÖStA AdR BuMinJu 99.054-11/71. 135 Eisenerz Narrative, 12.2.1946. PRO FO 1020/2034. Krenn wurde im ersten Eisenerzer Mordprozess zum Tod verurteilt. Director Legal Division to Commander-in-Chief, o. D., Ergebnisse und Urteile des Eisenerzer Mordprozesses vom 1.–29.4.1946. PRO FO 1020/2034. 136 Oberstaatsanwaltschaft Leoben an das BuMinJu in Wien, Anzeige gegen Ludwig Krenn u. a., 10.1.1946. ÖStA AdR BuMinJu 99459/73. 137 Aussage von Raimund Windhager. PRO FO 1020/2056; Aussage von Rudolf Pirmann, 5.2. und 21.8.1946. PRO FO 1020/2065; Schreiben des Director Legal Division an Public Safety Officer, Leoben, 15.8.1946 und 19.8.1946. PRO FO 1020/2058. 138 Polizeistation Eisenerz an FSS Eisenerz, 4.12.1945. Betreff: Johann Gatterbauer. PRO FO 1020/2057. 139 Aussage von Rupert Pregartner, o. D.. PRO FO 1020/2056. 140 Niederschrift aufgenommen mit Monika Illmayer, 5 9.1946. PRO FO 1020/2054; Aussage von Juli Huber, 9.2.1946. PRO FO 1020/2056; Aussage von Josefine Lödl, 18.2.1946. PRO FO 1020/2065; Director Legal Division an Commander-in-Chief, o. D., Ergebnisse und Urteile des Eisenerzer Mordprozesse, 1.–29. April 1946. PRO FO 1020/2034. 141 Aussagen von Gustav Pehn, o. D.. PRO FO 1020/2056.

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Am 10. April übernahm eine Volkssturmeinheit unter dem Kommando von Ernst Feistl 250 Juden und Jüdinnen in Eisenerz, um sie nach Hieflau zu führen. Dabei kam es neuerlich zu mehreren Morden, die Toten wurden in den Erzbach geworfen.142 Ein Volkssturmann erklärte nach dem Krieg, wie es ihm gelang, sich dem Mordbefehl zu entziehen: „Ich ging wieder ziemlich weit vorne, da die Kranken und Fußmaroden, die am Ende der Kolonne marschierten, erschossen werden mussten.“143 Ein oder zwei Tage später war Wilhelm Mair, der sich bereits am 7. April auf dem Präbichl geweigert hatte, auf MarschteilnehmerInnen zu schießen,144 für einen Transport mit vier- bis fünfhundert Personen verantwortlich. Mair führte auch diese Gruppe ohne Zwischenfälle von Eisenerz nach Hieflau.145 Trotz scheinbar eindeutiger Befehle hatten die Eskorten erhebliche Handlungsspielräume. Am 10. April übernahm der Volkssturm aus Landl den großen Transport in Lainbach.146 In Landl sah Maria Maunz, wie etwa 1.500 halb verhungerte Jüdinnen und Juden auf einer Wiese nahe dem Haus ihrer Eltern inmitten von Lacken mit Schmelzwasser übernachten mussten.147 Die Häftlinge gruben Kartoffeln aus den Feldern. Trotz des strengen Verbots des Ortsgruppenführers steckten Frauen ihnen Nahrungsmittel zu, dennoch starben MarschteilnehmerInnen an Hunger und Erschöpfung.148 Wurden Juden und Jüdinnen dabei ertappt, wie sie zusätzliche Nahrung besorgten, drohten ihnen Misshandlungen bis hin zu Mord durch die Wachmannschaften.149 Die Routen lassen sich nicht zuletzt anhand der nach dem Krieg entdeckten Gräber von Opfern, die entweder an Erschöpfung starben oder ermordet wurden, rekonstruieren: In Mooslandl150 und Kirchenlandl151 wurden jeweils zwei Tote entdeckt, in Großreifling drei.152 142 Aussage von Franz Spannring, o. D.. PRO FO 1020/2056; Niederschrift aufgenommen mit Franz Mayer, 22.8.1946; Theo Turner, Advice on Evidence, 20.2.1946, beide: PRO FO 1020/2056. Beim Eisenerzer Mordprozess konnte nur ein Mord nachgewiesen werden. Ernst Feistl wurde aufgrund dessen zum Tod verurteilt. Eisenerz Narrative, 9.2.1946. PRO FO 1020/2034. 143 Legal Division an Public Safety Office, Northern Styria, Leoben, 1.10.1946, Betreff: Rudolf Pirmann. PRO FO 1020/2058. 144 Aussage von Wilhelm Mair, o. D.. PRO FO 1020/2056. 145 Niederschrift aufgenommen mit Franz Mayer, 22.8.1946. PRO FO 1020/2065. 146 Aussage von Michael Leonhardsberger, 12.1.1946. PRO FO 1020/2056. 147 Aussage von Tiberiusz Glass, 4.4.1947, Sammlung Friedmann, Kopie. Injoest. 148 Waltraud Neuhauser-Pfeiffer/Karl Ramsmaier, Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr, Linz 1998, 131. 149 Vgl. Friedmann, Iwan, hau die Juden (wie Anm. 44). 150 Liste des Bundesministeriums für Inneres vom 14.6.1948 über jüdische Grabstätten zu Zahl 79.7719/48. YVA 05/89. 151 Schreiben der Bezirkshauptmannschaft Liezen an das Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abt. 2, 18.11.1948. YVA 05/13. 152 Liste des Bundesministeriums für Inneres vom 14.6.1948 über jüdische Grabstätten zu Zahl 79.7719/48. YVA 05/89.

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Es ist nicht wahrscheinlich, dass alle Opfer entdeckt wurden. Hinter Großreifling marschierten die Transporte auf zwei verschiedenen Routen nach Altenmarkt, dem ersten Ort in Oberdonau (heute: Oberösterreich), weiter. Ein Teil musste durch Kroppau153 das Ennstal entlang, der andere über St. Gallen gehen.154 Da sie nach wie vor nicht regelmäßig verpflegt wurden und auch der lange Marsch an ihren Kräften zehrte, stieg die Zahl der an Hunger und Erschöpfung Verstorbenen rasant an. Dazu kamen aber nach wie vor die Morde an jenen, die sich nicht mehr weiterschleppen konnten.155 Die Pfarrchronik von Kleinreifling in Oberösterreich berichtet von drei Transporten mit 1.800, 2.600 und 560 Personen, welche den Ort in der Woche nach dem 8. April 1945 durchquerten.156

Der Transport von Graz nach Liezen Nachdem der große Transport und einige Nachzüglertransporte von Graz in Richtung Bruck an der Mur abmarschiert waren, wurde eine tausend bis zwölfhundert Personen zählende Gruppe über die Stubalpe nach Trieben und Liezen umgeleitet.157 Die erste Erwähnung dieses Transports stammt vom 9. April aus Salla, wo bereits zwei Personen ums Leben kamen.158 Am selben Tag übernahm beim Gaberl (Stubalpe) eine zwanzig Mann zählende Fohnsdorfer Volkssturmeinheit unter der Leitung von Franz Lindenbaum den Transport. 159 Um das Marschtempo auf dieser gebirgigen Strecke zu erhöhen, wies Lindenbaum seine Männer an, Schwache bereits möglichst bald zu erschießen. Vorsorglich stellte er aus Angehörigen des Volkssturms und einigen Juden einen Beerdingungstrupp zusammen, der, ausgerüstet mit Schaufeln, am Ende des Transports marschierte.160 Die Leitung dieses Transports lag bei 153 Bezirkshauptmannschaft Liezen an das Jüdische KZ-Grabstätten-Eruierungs- und Fürsorge-Komitee, Zahl: 7G 4/6-48, Betreff: Grabstätten der Opfer des NS-Terrors, 7.2.1949. YVA 05/13. 154 Friedmann, Iwan, hau die Juden (wie Anm. 44), 58 f. 155 Neuhauser-Pfeiffer/Ramsmaier, Vergessene Spuren (wie Anm. 148). Zur Route Hieflau–St. Gallen vgl. auch Friedmann, Iwan, hau die Juden (wie Anm. 44), 48–52. Die Zahl der Opfer kann nicht festgestellt werden, da keine Gräberfunde aus St. Gallen überliefert sind. 156 Neuhauser-Pfeiffer/Ramsmaier, Vergessene Spuren (wie Anm. 148). 157 Controller Mil Gov. Courts Branch to Director, 6.6.1947. PRO FO 1020/2063. 158 DÖW 13.114a. 159 Bericht des Gendarmeriepostens Pöls vom 28.7.1945. PRO WO 310/155 und Verfahren des Allgemeinen Gerichts der Militärregierung, abgehalten in Graz am 25.9.1947 gegen Josef Egger, Albin Grossmann, Karl Leitenmüller und Franz Puchner. ÖStA AdR BuMinJu 68.763/55. 160 Strafsachen Albin Grossmann, Viktor Abschner, Valentin Gries, Matthias Mitter und Johann Wöhry wegen §§ 3,4, KVG und § 134 StG; Vg 1 Vr 2841/46 des LG für Strafsachen Graz. ÖStA AdR BuMinJu 68.763/55.

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einem Gestapo-Beamten, der diese Vorgangsweise billigte, wenn er sie nicht sogar angeregt hatte. In der Folge kam es zwar zu keinem Massaker ähnlich dem am Präbichl, doch zu zahlreichen Misshandlungen und Morden. Ebenso wie am Präbichl war auch hier die Gruppe der Täter klein, während andere Volkssturmmänner Mitleid zeigten.161 Bei der Nächtigung in Thaling (Gemeinde Oberkurzheim) vom 10. auf den 11. April162 wurde ein Teil der Fohnsdorfer Eskorten, darunter Franz Lindenbaum, abgelöst. Neben den verbliebenen Fohnsdorfern begleiteten nun auch zwei Volkssturmmänner und drei SA-Männer aus Pöls den Transport weiter nach Hohentauern. Das Kommando übernahm der Fohnsdorfer Franz Puchner, die Mordbefehle blieben aufrecht, die Misshandlungen und Morde an Erschöpften oder als Strafe für „Vergehen“ wie Betteln wurden entlang der Strecke über Götzendorf, Unterzeiring, Möderbrugg, Weingruberbrück, Hohentauern und bei Sunk fortgesetzt.163 Auch nach der Übernahme des Transports durch Triebener Volkssturmmänner in Trieben164 ging das Sterben weiter: in Rottenmann wurden nach dem Krieg drei jüdische Opfer gefunden.165 Der Transport traf am späten Nachmittag des 13. April in Liezen ein, wo er bereits seit dem 11. erwartet worden war.166 Die erschöpften TransportteilnehmerInnen wurden zu einer Scheune am Ortseingang gebracht, die aber nur Platz für 25 Personen bot. Die anderen mussten trotz Regen und Kälte neuerlich im Freien übernachten.167 Am 14. April mussten sie bereits um sieben Uhr früh weitermarschieren und erreichten am Nachmittag die Gaugrenze.168 In Oberdonau führte die Route weiter über den Phyrnpass nach St. Pankraz, Kirchdorf an der Krems, Schlierbach, Neuhofen an der Krems und St. Marien169 nach Mauthausen. 161 Ebda. 162 Ebda. sowie Bericht des Gendarmeriepostens Pöls, am 17.7.1945. PRO WO 310/155. 163 Bericht des Gendarmeriepostens Pöls, am 28. 7. 1945. PRO WO 310/155; Strafsachen Albin Grossmann u. a. ÖStA AdR BuMinJu 68.763/55; Gnadensachen Viktor Abschner, Valentin Gries; Matthias Mitter, Johann Wöhry. Niederschlagung des Verfahrens. Bericht der OStA Graz. ÖStA AdR BuMinJu 30.514/53. 164 Gnadensachen Viktor Abschner u. a. ÖStA AdR BuMinJu 30.514/53. 165 Liste des Bundesministeriums für Inneres vom 14.6.1948 über jüdische Grabstätten zu Zahl 79.7719/48, YVA 05/89. 166 Gendarmeriekommando Leoben Nr. 4, E. Nr. 705/47 ad. an das LdGendKdo in Graz betreffend Anschuldigungen gegen Revierinspektor Vinzenz Heinrich u.a. Volkssturmmänner wegen Kriegsverbrechen, 15.4.1947, LG Graz Vg 1 Vr 2116/49, gegen Otto Maessing, Karl Pauritsch, Josef Hartner. 167 Das Steirerblatt, 14.10.1947. 168 LG Graz Vg 1 Vr 2116/49. 169 Schreiben der Jewish Historical Documentation, Linz, an das Jüdische KZ- und Grabstätten-Eruie­ rungs-Komitee, Wien, 31.3.1948. YVA 05/89; Gegenstand: Zemanek Hugo, vom jüdischen Dokumentationszentrum des vierfachen Mordes beschuldigt; Erhebungen ergaben Haltlosigkeit der Beschuldigungen. ÖStA AdR BuMinJu 20.304/2-A/63.

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13 erschöpfte Juden blieben in Liezen zurück, angeblich um einem Nachzüglertransport angeschlossen zu werden. Unter dem Vorwand des Fleckfieberverdachts ließ der Leiter des Lagers Schmidthütte, Nikolaus Been, sie erschießen. Am selben Tag kehrten noch 26 oder 27 weitere Erschöpfte, welche dem Transport nicht hatten folgen können, zurück. Sie blieben unbehelligt und wurden später von Polizei- und Gendarmeriebeamten mit Fuhrwerken zur Gaugrenze gebracht.170 In Oberösterreich erreichte das Leiden und Sterben der ungarischen Jüdinnen und Juden seinen Höhepunkt. Mauthausen war noch nicht die Endstation. Die meisten mussten einen neuerlichen Todesmarsch ins Waldlager von Gunskirchen erdulden, wo sie bis zu ihrer Befreiung am 5. Mai 1945 keine Verpflegung erhielten und den grassierenden Seuchen ausgesetzt waren. Hunderte starben in den ersten Nachkriegswochen an den Folgen der erlittenen Entbehrungen und an Krankheiten.171

170 LG Graz Vg 1 Vr 2116/49. 171 Zum weiteren Schicksal der ungarischen Jüdinnen und Juden siehe: Eleonore Lappin, Todesmärsche durch den Gau Oberdonau, in: Siegfried Haider/Gerhard Marckhgott (Red.), Oberösterreichische Gedenkstätten für KZ-Opfer, Linz 2001, 77–91, hier: 83–91. Für eine Gesamtdarstellung siehe: Lappin-Eppel, Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45 (wie Anm. 10 ).

Entnazifizierung und Kriegsverbrecherprozesse in der Steiermark

Martin F. Polaschek

1. Die „Entnazifizierung“ Sofort nach dem Kriegsende begann man sich in Österreich aktiv mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Diejenigen, welche das Regime mitgetragen oder unterstützt hatten, sollten zur Verantwortung gezogen werden. Es kam allerdings nicht wie in manchen anderen Ländern zu einer gewaltsamen „Abrechnung“; Racheakte kamen nur vereinzelt vor. Der Übergang erfolgte verhältnismäßig ruhig, die einrückenden Besatzungsmächte waren sehr daran interessiert, Ruhe und Ordnung herzustellen beziehungsweise aufrechtzuerhalten. Die österreichischen Behörden begannen rasch, Beweismaterial für NS-Gräueltaten zu sammeln und Kriegsverbrecherlisten zu erstellen. Daneben fanden unter anderem Verhaftungen höherer NS-Funktionäre und bekannter „Illegaler“ statt. So gab etwa das Landesgendarmeriekommando Steiermark am 22. Mai 1945, etwa zwei Wochen nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen, den Befehl heraus, „besonders aggressive nationalsozialistische Funktionäre“ zu verhaften und nach Graz zu überstellen.1

1.1. Entnazifizierungsmaßnahmen durch die Besatzungsbehörden In der knapp zehn Wochen dauernden Zeit der sowjetischen Besatzung konnten die österreichischen Behörden in einem relativen Freiraum arbeiten. Die Besatzungstruppen waren reguläre Militäreinheiten, die unmittelbar aus dem Fronteinsatz gekommen und deshalb nicht auf eine systematische Entnazifizierung vorbereitet waren.2 Außerdem verfügten die österreichischen Einrichtungen zu diesem Zeitpunkt mit dem Verbotsgesetz und dem Kriegsverbrecher1 2

Martin F. Polaschek, Im Namen der Republik Österreich. Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955, 2. Aufl. Graz 2002, 77 FN 192. Siegfried Beer, Das sowjetische „Intermezzo“. Die „Russenzeit“ in der Steiermark. 8. Mai bis 23. Juli 1945, in: Joseph F. Desput (Hrsg.), Vom Bundesland zur europäischen Region. Die Steiermark von 1945 bis heute, Graz 2004, 53. Bezeichnend die Vorstellung der Sowjets, die Registrierung in Graz hätte am 15. Juni 1945 beginnen und binnen einer Woche abgeschlossen werden sollen; Meinhard Brunner, Allgemeine politische und soziale Entwicklung von Graz 1850 bis 2003, in: Walter Brunner (Hrsg.), Geschichte der Stadt Graz, Bd 1: Lebensraum – Stadt – Verwaltung, Graz 2003, 281.

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gesetz bereits über entsprechende rechtliche Grundlagen. Die Briten, die in der Nacht vom 23. zum 24. Juli vereinbarungsgemäß die Steiermark besetzten, begannen gemeinsam mit den USA und Frankreich mit einer systematischen Entnazifizierungspolitik.3 So wie die anderen westlichen Alliierten anerkannten sie das Verbotsgesetz und das Kriegsverbrechergesetz nicht, die österreichischen Behörden wurden zu ausführenden Organen, Verhaftungen mussten beispielsweise nun durch die Field Security Section (FSS)-Stellen genehmigt werden. Das Hauptziel der neuen Besatzer war, das Land wieder in geregelte demokratische Bahnen zu bringen. Dazu gehörten das Entfernen der (ehemaligen) Nationalsozialisten aus den Schaltstellen der Macht und andere Maßnahmen, um ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus zu verhindern. Die Durchführung dieser Maßnahmen erfolgte in der Steiermark durch ein dichtes Netz von FSS-Dienststellen.4 Die britischen Besatzungseinheiten verfügten über Verhaftungslisten, daneben versuchten sie – ähnlich wie die Amerikaner – mittels Fragebögen eine Bestandsaufnahme der (ehemaligen) Nationalsozialisten zu machen. So wie die österreichischen Behörden entließen sie Personen und sprachen Beschäftigungsverbote aus.5 Außerdem internierten sie zahlreiche Nationalsozialisten, vor allem in einem großen Lager in Wolfsberg, in dem bis 1948 drei- bis viertausend Personen untergebracht waren. Ausweichlager wurden darüber hinaus auch in Federaun, in Ebenthal und Weissenstein in Kärnten sowie im Grazer Bezirk Wetzelsdorf eingerichtet. Bis Mitte Oktober 1945 hatten die Briten rund 2.300 Personen aus dem öffentlichen Bereich (Justiz, Verwaltung und so weiter) entfernt.6 Das Problem dabei war, dass die Internierungen und Entlassungen zu einem eklatanten Mangel im Bereich der höher qualifizierten Posten führten. Deshalb setzten die Briten hier bewusst „minderbelastete“ Nationalsozialisten ein, was ihnen Kritik vonseiten der Sowjets, aber auch Österreichs eintrug.7 Wie aufwendig und gründlich die Briten vorgingen, macht eine Mitte 1946 beim Britischen Element der Alliierten Kommission verfasste Statistik über eigene Entnazifizierungs3

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Dazu eingehend Alexander Josef Mayr: Denazification – British Element. Entnazifizierungsmaßnahmen der Briten in Österreich, phil. Dipl.-Arb. Wien 2008. Zur Entnazifizierung durch die Westalliierten Winfried Garscha, Entnazifizierung und gerichtliche Ahndung von NS-Verbrechen, in: Emmerich Tálos/Ernst Hanisch/Wolfgang Sieder (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 855ff. Felix Schneider, Aspekte britischer Sicherheitspolitik zur Zeit der Besatzung in Österreich 1945–1948, phil. Dipl.Arb. Graz 1993, 68. Allied Commission for Austria (British Element), Austria Military Government Handbook, o. O. o. J., Annex 5. Felix Schneider, Britische Besatzungs- und Sicherheitspolitik in der Steiermark, in: Desput (Hrsg.), Bundesland (wie Anm. 2) 66. Mayr, Denazification (wie Anm. 3) 67f.

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maßnahmen in der Zone beziehungsweise in den Wiener Sektoren im ersten Besatzungsjahr deutlich:8 Insgesamt wurden 7.500 Verhaftungen vorgenommen, davon 7.200 in der Steiermark und in Kärnten. Ende Juni 1946 waren 6.850 Personen interniert, von denen 450 als hochgradige Sicherheitsverhaftungen/Kriegsverbrecher charakterisiert wurden. Es waren rund 75.000 Fragebögen untersucht worden, davon 65.000 in der Steiermark und in Kärnten. 5.000 Entlassungen beziehungsweise Arbeitsverbote hatte man veranlasst. Bis November 1946 stieg die Zahl auf fast 90.000 Fragebögen und mehr als 6.000 Berufsverbote und Entlassungen.9 Zweck und Sinnhaftigkeit dieser administrativen Entnazifizierung sowie der zahlreichen Internierungen wurden nicht nur von österreichischer Seite bezweifelt, sondern auch innerhalb der britischen Besatzungsmacht. Die Wohnungsnot (bedingt unter anderem durch den Raumbedarf der Besatzungsmächte) führte außerdem zur Beschlagnahme von Wohnungen ehemaliger NSDAP-Mitglieder und Reichsdeutscher. Diesen Personen wurde nur der halbe Raumbedarf zugestanden, sie mussten entsprechend Platz in ihren Wohnungen schaffen, konnten aber auch umquartiert werden. Die Verfügungsgewalt oblag dem städtischen Wohnungsamt (Bürgermeister).10 Die Briten führten auch Prozesse durch – allerdings nur wegen (Kriegs-)Verbrechen, deren Opfer Alliierte oder Angehörige „befreundeter“ Staaten waren. Die Ahndung der Ermordung ungarischer Juden bei Kriegsende wurde (bis Mitte 1947) damit begründet, dass diese Personen der zweiten Gruppe gleichzustellen waren.11 Das Gros der Strafverfahren im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus wurde jedoch durch die österreichische Justiz abgewickelt.

8

Siegfried Beer, Kriegsende und Besatzung, in: Josef Riegler (Hrsg.), Die neue Steiermark. Unser Weg 1945–2005, Graz 2005, 31. 9 Siegfried Beer, Die britische Entnazifizierung in Österreich 1945–1948, in: Walter Schuster/Wolfgang Weber (Hrsg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, insbes. 408. 10 Verordnung der Militärregierung Österreich, Land Steiermark, Nr. 1, sowie Verordnung des Landeshauptmannes über die Beschlagnahme von Wohnungen und Wohnräumen vom 5. Oktober 1945, Verordnungs- und Amtsblatt für das Land Steiermark 1945, Nr. 23, 101ff. 11 Siegfried Beer, Aspekte der britischen Militärgerichtsbarkeit in Österreich 1945–1950, in: Claudia Kuretsidis-Haider/Winfried R. Garscha (Hrsg.), Keine „Abrechnung“. NS-Verbrechen, Justiz und Gesellschaft in Europa nach 1945, Leipzig–Wien 1998, 54ff; Claudia Kuretsidis-Haider, Todesurteile wegen NS-Verbrechen durch österreichische und alliierte Gerichte, in: Claudia Kuretsidis-Haider/ Heimo Halbrainer/Elisabeth Ebner (Hrsg.), Mit dem Tode bestraft. Historische und rechtspolitische Aspekte zur Todesstrafe in Österreich im 20. Jahrhundert und der Kampf um ihre weltweite Abschaffung, Graz 2008,106f.

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1.2. Entnazifizierungsmassnahmen durch die ­ö sterreichischen Behörden 1.2.1. Das Verbotsgesetz 1945 Von österreichischer Seite wurde man, wie bereits angedeutet, sehr früh aktiv; schon die Regierungserklärung vom 27. April 1945 setzte sich ausdrücklich auch mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit auseinander: Jene, „welche aus Verachtung der Demokratie und der demokratischen Freiheiten ein Regime der Gewalttätigkeit, des Spitzeltums, der Verfolgung und Unterdrückung über unserem Volke aufgerichtet und erhalten, welche das Land in diesen abenteuerlichen Krieg gestürzt und es der Verwüstung preisgegeben haben und noch weiter preisgeben wollen“, hätten keine Milde zu erwarten.12 Es wurde aber auch festgehalten, dass bloße „Mitläufer“, die sich nichts zuschulden kommen lassen hatten, keine Sanktionen befürchten müssten. Am 8. Mai 1945 erließ die Provisorische Staatsregierung das „Verfassungsgesetz über das Verbot der NSDAP“.13 In diesem „Verbotsgesetz“ wurden die NSDAP, ihre Wehrverbände (SA, SS, NSKK, NSFK) und alle anderen nationalsozialistischen Organisationen und Einrichtungen für aufgelöst erklärt und deren Neubildung verboten (§ 1). Wer sich dennoch weiterhin nationalsozialistisch betätigte, sollte dafür mit dem Tod und dem Verfall des gesamten Vermögens bestraft werden (§ 3); nur in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen konnte eine Freiheitsstrafe zwischen zehn und 20 Jahren verhängt werden. Die folgenden Bestimmungen enthielten das eigentliche Ausnahmerecht gegen die Nationalsozialisten: Jeder, der zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 27. April 1945 der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände angehört hatte oder zumindest Parteianwärter gewesen war, musste sich registrieren lassen. Wer es nicht tat oder unrichtige Informationen gab, hatte mit einer ein- bis fünfjährigen Kerkerstrafe zu rechnen (§ 8). Ein besonderes Anliegen war die Verfolgung der sogenannten „Illegalen“. Wer zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 der NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände beigetreten war oder weiter angehört hatte, war nun mit schwerem Kerker in der Dauer von fünf bis zehn Jahren zu bestrafen, da darin das Verbrechen des Hochverrates im Sinne des § 58 des österreichischen Strafgesetzes gesehen wurde. Eine Verfolgung sollte aber erst dann stattfinden, wenn sich der Täter neuerlich nationalsozialistisch betätigt, sich bestimmter Verbrechen schuldig gemacht oder eine „auf verwerflichen Beweggründen beruhende Handlung“ begangen hatte (§ 10 Absatz 3 Verbotsgesetz). Damit sollte verhindert werden, dass jener Personen12 Staatsgesetzblatt Nr. 3/1945. 13 Staatsgesetzblatt Nr. 13/1945.

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kreis, der sich bereits einmal gegen den Bestand des österreichischen Staates gewandt hatte, dies erneut tat. Der Abschreckungscharakter dieser Bestimmung wurde noch verdeutlicht durch die Feststellung, dass eine Verfolgung wegen dieses Tatbestandes auf jeden Fall dann stattfände, wenn sie von der Provisorischen Staatsregierung „im Falle des Überhandnehmens hochverräterischer Umtriebe“ allgemein angeordnet würde. – Eine solche Anordnung wurde aber nie ausgesprochen. Zu einer Kerkerstrafe von zehn bis 20 Jahren sowie dem Verfall des gesamten Vermögens sollten alle jene verurteilt werden, die über die gewöhnliche „Illegalität“ hinaus Träger einer Parteiauszeichnung waren, höhere Ämter innerhalb des nationalsozialistischen Organisationsapparates bekleidet oder damit in Zusammenhang stehend „Handlungen aus besonders verwerflicher Gesinnung, besonders schimpfliche Handlungen oder Handlungen, die den Gesetzen der Menschlichkeit gröblich widersprechen“, begangen hatten (§ 11). Unter die genannten Strafbestimmungen fielen auch jene Personen, die den Nationalsozialismus zwischen dem 1. Juli 1933 und dem 13. März 1938 finanziell oder auf anderem Wege unterstützt oder das österreichische Wirtschaftsleben geschädigt und somit ebenfalls Hochverrat begangen hatten. „Illegale“ konnten zu Zwangsarbeiten herangezogen werden, sie durften nur eingeschränkt ihr Vermögen veräußern oder belasten. Wenn sie während der NS-Herrschaft im öffentlichen Dienst eine Anstellung gefunden hatten, wurde diese widerrufen. Ehemalige Nationalsozialisten waren außerdem vom Wahlrecht ausgeschlossen.14 In der Steiermark wie in ganz Österreich war eine Unzahl von Ämtern und Einrichtungen mit den verschiedenen Aspekten der Entnazifizierung befasst: Verwaltungsbehörden, Finanz-, Arbeitsämter, und nicht zuletzt Polizei und Justiz. Die tatsächliche Durchführung der Entnazifizierung sowie die konkreten Auswirkungen auf die österreichische Gesellschaft sind noch immer weitgehend unerforscht. Detailstudien liegen bislang nur für einzelne Bereiche vor; umfassendere Untersuchungen sind in erster Linie an der Masse der Quellen wie auch deren unterschiedlicher Dichte gescheitert.15 Um die gesetzlichen Vorgaben umzusetzen, musste zuerst erhoben werden, welche Personen überhaupt Nationalsozialisten beziehungsweise „Illegale“ gewesen waren. Diese Arbeit geriet ins Stocken, als die Steiermark Teil der britischen Besatzungszone wurde, da die Westalliierten die Provisorische Staatsregierung nicht anerkannten, da sie als verlängerter Arm der 14 § 7 Wahlgesetz, StGBl. 198/1945. Durch das Nationalsozialistengesetz (NSG) wurde den Belasteten das aktive Wahlrecht bis 30. April 1950 aberkannt, vom passiven Wahlrecht blieben sie auf Lebenszeit ausgeschlossen. Minderbelastete waren bis zum 30. April 1950 vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen, durften aber ab nun wählen (§§ 18, 19 NSG). 15 Siehe dazu insbesondere die Beiträge in Walter Schuster/Wolfgang Weber (Hrsg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004. Zur Quellenlage in der Steiermark Elisabeth Schöggl-Ernst, Entnazifizierung in der Steiermark unter besonderer Berücksichtigung der Justiz, in: ebda., 244ff

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Sowjets angesehen wurde. Die von ihr erlassenen Gesetze wurden deshalb vorerst aufgehoben; das Verbotsgesetz wurde so wie das Kriegsverbrechergesetz erst Anfang 1946 wieder in Kraft gesetzt. Die bisherige Annahme, dass das Verbotsgesetz in der britischen Zone bis dahin nicht angewendet wurde, kann jedoch nur bedingt aufrechterhalten werden: Ein Erlass des Landeshauptmannes von Steiermark vom 15. Oktober 1945 enthält eine detaillierte Anordnung an die Bezirkshauptmannschaften zur Registrierung von Nationalsozialisten, erlassen im ausdrücklichen Einvernehmen mit der Britischen Militärregierung.16 Diese Anordnung gibt nahezu wortident den § 4 des Verbotsgesetzes wieder. In einem ergänzenden Erlass wird die Einrichtung der Registrierungskommissionen, wie sie in der zweiten NS-Registrierungsverordnung vorgesehen war, unter ausdrücklicher Berufung auf diese angeordnet.17 Auch wenn die Briten das Verbotsgesetz formal nicht anerkannten, griff man offenbar doch inoffiziell darauf zurück. Es ist anzunehmen, dass dies im Hinblick darauf erfolgte, dass man davon ausging, dass es früher oder später auch in der Steiermark offiziell in Kraft gesetzt würde und man dann bereits auf die Registrierungslisten zurückgreifen konnte. Das Verbotsgesetz 1945 sah vor, dass Personen um Nachsicht von der Registrierung ­ansuchen konnten, wenn sie ihre Zugehörigkeit zur NSDAP oder deren Teilorganisationen ­niemals missbraucht hatten und ihr Verhalten bereits vor der Befreiung Österreichs „auf eine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreich mit Sicherheit“ schließen ließ (§ 27 Verbotsgesetz). Diese als Ausnahme für bestimmte Härtefälle gedachte Bestimmung wurde von einer dermaßen großen Zahl von Personen für sich beansprucht, sodass die Ansuchen das System praktisch lahmlegten.18 In der Steiermark versuchte man, Ende Oktober 1945 der Antragsflut auf folgendem Weg Herr zu werden: Jeder Mann zwischen 18 und 55, der ein Ansuchen um Nachsicht von der Registrierung einbrachte, hatte dafür zwei Tage Arbeit im öffentlichen Interesse zu leisten, in erster Linie Aufräumungsarbeiten. Nur wenn eine Bestätigung über diese Arbeit vorgelegt wurde, wurde der Antrag behandelt.19 Eine Woche später wurden Ausnahmen dazu festgelegt. Diese betrafen unter anderem Personen im Dienste der britischen Militärbehörden sowie 16 Erlass des Landeshauptmannes vom 15. Oktober 1945, Landesamtsdirektion (LAD) Reg. Allg. 2/11945, Verordnungs- und Amtsblatt für das Land Steiermark 1945, Nr. 39, 136. 17 Erlass des Landeshauptmannes vom 12. Oktober 1945, LAD Reg. Allg. 2/2 -1945, Verordnungs- und Amtsblatt für das Land Steiermark 1945, Nr. 38, 136. 18 Dieter Stiefel, Der Prozeß der Entnazifizierung in Österreich, in: Klaus Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, 129. 19 Verordnung des Landeshauptmannes vom 24. Oktober 1945, Verordnungs- und Amtsblatt für das Land Steiermark 1945, Nr. 37, 135f; Neue Steirische Zeitung, 25.10.1945.

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„unabkömmliche“ öffentlich Bedienstete.20 Am 10. November erfolgte eine weitere Ergänzung der Verordnung. Die Arbeitspflicht der Antragsteller wurde auf vier Tage erhöht und die Ausnahme für die öffentlich Bediensteten widerrufen. Sollten diese Maßnahmen „nicht den gewünschten Erfolg erzielen“, wurde angekündigt, dass auch die Frauen zu diesen Arbeiten verpflichtet würden.21 Bis zum Jänner 1946 wurden jedenfalls in der Steiermark fast 93.000 Personen registriert. Der Einwohnerstand betrug damals rund 1,1 Millionen. 1942 waren 107.000 Steirerinnen und Steirer NSDAP-Mitglieder gewesen, davon 30.400 „Illegale“. Die Steiermark hatte also mit 15,5 % aller österreichischen Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen einen sehr hohen Anteil an Parteimitgliedern. Die Koordination der Registrierungen und Entregistrierungen erfolgte durch die Landesamtsdirektion der Steiermärkischen Landesregierung. Sie hatte auch die Einsprüche und Ausnahmeregelungen abzuwickeln. Es gab Senate für die verschiedenen Berufsgruppen, eine eigene Beschwerdekommission sowie ein „Landesberatungskomitee“.22 Daneben war die Rechtsabteilung 11 mit der Erfassung und Verwaltung des einzuziehenden Vermögens gemäß § 11 VG (Verbotsgesetz) befasst. Ihr oblag weiters die Kontrolle der Tätigkeit der öffentlichen Verwalter und Aufsichtspersonen über diese Vermögen und die Durchführung des Vermögensverfalls. Die Registrierung und Entregistrierung selbst erfolgte auf Ebene der Bezirksverwaltungsbehörden. Für „überregionale“ Fälle wurde eine „Landesberatungskommission“ geschaffen.23 Sie sollte der britischen Militärregierung Empfehlungen zur Entnazifizierungspolitik geben, sowohl was die Freilassung/Rehabilitierung von internierten/entlassenen Personen anging als auch die Entlassung/Internierung von Personen, welche die Briten bislang nicht verfolgt hatten. In Graz wurde außerdem Ende Jänner 1946 – so wie in den anderen Verwaltungsbezirken auch – eine eigene „Bezirksberatungskommission Graz-Stadt zur Säuberung von Nationalsozialisten“ etabliert.24 Sie bestand aus dem Magistratsdirektor Dr. Franz Haring als Vorsitzendem, je einem Vertreter von SPÖ, ÖVP und KPÖ sowie einem Vertreter des Richterstandes. Im ersten Jahr wurden 958 Fälle behandelt: 424 Enthaftungsansuchen, 155 Einsprüche gegen britische Entlassungsverfügungen und 379 sonstige „politische Überprüfungsfälle“.25 Für die einzelnen Bereiche des öffentlichen Dienstes wurden Sonderkommissionen eingerichtet.26 20 21 22 23 24 25 26

Neue Steirische Zeitung, 25.10.1945. Neue Steirische Zeitung, 10. 11.1945. Schöggl-Ernst, Entnazifizierung (wie Anm. 15) 245. Wahrheit, 24.1.1946, 2. Schöggl-Ernst, Entnazifizierung (wie Anm. 15) 247f. Wahrheit, 6.3.1947, 3. Verbotsgesetznovelle vom 15. August 1945, StGBl. 127/1945, 3. Durchführungsverordnung zum Ver-

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Mit dem Inkrafttreten des Nationalsozialistengesetzes (NSG) 1947 erübrigte sich die Tätigkeit der Kommissionen. Zu den Registrierungen, insbesondere den Nachsichten, finden sich in den Akten zahlreiche Kuriositäten, welche einen Eindruck von den Schwierigkeiten vermitteln, welche die Entnazifizierung begleiteten. So grassierte etwa im Sommer 1946 das Gerücht, dass es eine Vereinbarung zwischen Landeshauptmann Anton Pirchegger (ÖVP), Landeshauptmannstellvertreter Reinhard Marchold (SPÖ) und der KPÖ gäbe, wonach nur eine bestimmte geringe Zahl von Registrierungen durchzuführen sei, unabhängig von der rechtlichen Beurteilung. Es sei für die Landesregistrierungskommission eine Kopfquote von 100 Fällen vereinbart worden, welche auf die Parteien gleichmäßig aufgeteilt wurden. Es kamen nun Anfragen aus den Bezirken, ob diese Quoten auch für die Bezirke gelten würden.27

1.2.2. Das Nationalsozialistengesetz 1947 Schon 1946 begann ein „Wettbewerb“ der Parteien um die Gunst der ehemaligen „einfachen“ Parteimitglieder, die – nicht zuletzt gemeinsam mit ihren Angehörigen – ein großes Wählerpotenzial darstellten. Das besondere Augenmerk, das von Anfang an auf die „Illegalen“ gelegt wurde, zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Prozess der Entnazifizierung. Da man bald nach der Erlassung des Verbotsgesetzes dessen Undurchführbarkeit erkannte, erfolgte Ende März 1946 die Einigung der drei Parteien auf eine Reform der Entnazifizierung, die insbesondere die Unterscheidung von „Belasteten“ und „Minderbelasteten“ zum Thema hatte. Als „belastet“ galt, wer ein relativ hohes Amt in der Partei bekleidet hatte, Mitglied der SS oder Offizier in der SA gewesen war beziehungsweise bestimmte NS-Auszeichnungen erhalten hatte. Die Bezeichnung dieser Personen als „Hochverräter“ und „Kollaborateure mit dem NS-Regime“ ermöglichte eine Darstellung der übrigen Österreicher (so wie des österreichischen Staates überhaupt) als Antifaschisten und Gegner des NS-Regimes. Die wiedererstandene Republik Österreich konnte sich dadurch als demokratisch gefestigter Staat präsentieren, der sich von einem neuerlichen Anschluss an Deutschland distanzierte und jegliche Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus (an denen ja ehemalige Österbotsgesetz, StGBl. 131/1945; Stiefel, Entnazifizierung (wie Anm. 18) 131ff. Siehe auch den Erlass Nr. 12 der britischen Militärregierung betreffend die Säuberung gewisser Verwaltungszweige von Nationalsozialisten, Verordnungs- und Amtsblatt für das Land Steiermark vom 23. November 1945, 166ff. Dieser Erlass war bis Anfang Juni 1946 in Kraft; Verordnungs- und Amtsblatt für das Land Steiermark vom 4. Juni 1946, 185. 27 Schreiben der Bezirkshauptmannschaft (BH) Fürstenfeld an die Landeshauptmannschaft, 16. Mai 1946. Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), BH Fürstenfeld 14/II, Karton 303.

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reicher in zum Teil sehr wichtigen Funktionen mit beteiligt gewesen waren) von sich wies. Die Nationalsozialisten, die erst nach dem „Anschluss“ beigetreten waren, wurden (außer sie hatten die bereits erwähnten Kriterien eines „Belasteten“ erfüllt) durch beruflichen Druck, die „Verführung“ durch die NS-Propaganda und Ähnliches entschuldigt. Nach dem Verbotsgesetz 1945 wäre etwa eine halbe Million Menschen registrierungspflichtig gewesen. Es erwies sich jedoch als unmöglich, eine so große Personenmenge dauernd von der Anteilnahme am öffentlichen Leben auszuschließen und zu einer Gruppe minderen Rechtes herabzustufen. All diese Überlegungen führten schließlich zur Reform der Entnazifizierungsbestimmungen im Frühjahr 1947. Mit dem „Nationalsozialistengesetz“28 ging man vom Prinzip der „Illegalität“ ab. Nicht mehr das Datum des Beitritts war entscheidend, sondern die Funktion im NS-Staat. So unterschied man nun zwischen Belasteten und Minderbelasteten; die Einordnung wurde den Entnazifizierungskommissionen übertragen. In ganz Österreich schrumpfte so die Zahl der vom Gesetz her besonders belasteten Nationalsozialisten von 18 auf acht Prozent der Registrierten. Für diese Personen waren „Sühnemaßnahmen“ vorgesehen, die vom Verlust politischer Rechte, von Entlassung und Berufsverbot bis zu „Sühneabgaben“ (einem Zuschlag zur Lohn- und Einkommensteuer) reichten. Die Sühnefolgen sollten aber nach einer gewissen Zeit automatisch auslaufen, da man rund eine halbe Million Personen nicht für immer an der Teilnahme am öffentlichen Leben ausschließen wollte. So liefen diese Maßnahmen bei Minderbelasteten nach drei Jahren (also 1948) und bei Belasteten nach fünf Jahren (1950) aus. Die härteren Sühnefolgen für Belastete lagen außer bei der längeren Geltung vor allem in der pensionslosen Entlassung aus dem öffentlichen Dienst und im Ausschluss vom aktiven und passiven Wahlrecht. In den Jahren 1945 und 1946 wurden in der Steiermark 68.067 Männer und 27.923 Frauen registriert – insgesamt 95.990 Personen. Den neuen Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes folgend wurden 71.640 Männer und 27.818 Frauen (zusammen 99.458 Menschen) als Nationalsozialisten registriert. Von diesen wurden 5.896 Männer und 148 Frauen (gesamt 6.044) als belastet gemäß § 17 Abs 2 Verbotsgesetz (in der durch das NSG geänderten Fassung) klassifiziert, 84.982 als minderbelastet (59.016 Männer, 25.966 Frauen). Die Zahl der Minderbelasteten war in der Steiermark nach Wien am größten. Von der Sühnepflicht wegen Versehrtheit (beziehungsweise weil sie über 70 Jahre alt waren) ausgenommen waren 3.223 Personen (2.414 Männer, 809 Frauen).29 Die Veränderungen der Registrierungen durch das Nationalsozialistengesetz 1947 waren gravierend. Im Jänner 1947 waren österreichweit 549.353 Personen registriert, im Mai 1947 28 Bundesverfassungsgesetz vom 6. Februar 1947 über die Behandlung der Nationalsozialisten, BGBl. 25/1947. 29 Schöggl-Ernst, Entnazifizierung (wie Anm. 15) 219.

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523.833 (also rund 26.000 weniger). Setzt man die Bevölkerungszahl ins Verhältnis zur Zahl der Registrierten, ist der Prozentsatz in den kleineren Bundesländern höher (Tirol: 10,8% bei rund 434.000 Einwohnern). Was die Bundesländer mit mehr als 1 Million Einwohnern angeht, hatte die Steiermark den höchsten Anteil (8,4% bei rund 1,116.000 Einwohnern; Wien 6,8%, Niederösterreich 6,4%, Oberösterreich 7,0%; Österreich-Durchschnitt 7,5%).30 Besonders deutlich wird die Veränderung durch das Nationalsozialistengesetz, wenn man die Zahl der „Illegalen“, die im Verbotsgesetz 1945 die Haupt-„Schuldigen“ waren, mit jener der Belasteten vergleicht: Waren in der Steiermark 22,2% der Registrierten „Illegale“ gewesen (Österreich-Durchschnitt 18,3%), betrug der Anteil der „Belasteten“ an den Registrierten nur 7,1% (Österreich-Durchschnitt 8,2%).31 Dies bedeutete, dass österreichweit mehr als die Hälfte der ehemaligen Nationalsozialisten „entkriminalisiert“ wurde, da der Status des „Minderbelasteten“ de facto einer Amnestie gleich kam.

Inkurs. Die Entnazifizierung im öffentlichen Dienst Der Nationalsozialismus hatte für einzelne Berufszweige besonderes Interesse gezeigt, vor allem für den öffentlichen Dienst sowie Ärzte und Juristen. Die Beamtenschaft galt als der Garant für eine funktionierende Verwaltung, weshalb man hier besonderes Augenmerk auf eine „Säuberung“ vom Nationalsozialismus legte. Dies war umso wichtiger, als der öffentliche Dienst neben der Partei, der Armee und der Industrie zu den vier tragenden Säulen der Herrschaft des Nationalsozialismus gehört hatte. Bei der Entnazifizierung kam es deshalb auf die formale Bindung der öffentlich Bediensteten an die NSDAP an. Nicht die Erfüllung der dienstlichen Pflichten wurde verfolgt, sondern das politische Bekenntnis zum NS-System. Im Sinne der staatstragenden Funktion dieser Gruppe musste die Entnazifizierung gerade bei den öffentlich Bediensteten besonders streng ausfallen. Bis zum April 1946 wurden fast 53.000 öffentlich Bedienstete wegen ihrer NS-Vergangenheit entlassen. Weiters durften nach dem Nationalsozialistengesetz 1947 die Minderbelasteten bis 30. April 1950 nur auf niederen Posten oder auf höheren Posten mit geringerem Bezug beschäftigt werden. Auch Beförderungen waren nicht erlaubt. In der Steiermark waren Anfang Jänner 1948 7.811 Minderbelastete im öffentlichen Dienst beschäftigt (34.515 Unbelastete) – die Steiermark hatte insgesamt nach Wien den höchsten Anteil an öffentlich Bediensteten.32 In der Steiermark betrug der Anteil an Minderbelasteten 30 Stiefel, Entnazifizierung (wie Anm. 18) 117. 31 Stiefel, Entnazifizierung (wie Anm. 18) 119. 32 Österreichisches Jahrbuch 1948, Wien 1949, 155.

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im öffentlichen Dienst Anfang Juli 1947 20,9% (Österreich-Durchschnitt 15,6%); Anfang Juni 1948 waren es nur mehr 16,1% (Österreich-Durchschnitt 11,1%).33 An der Universität Graz waren im Mai 1946 von den 175 Professoren und Dozenten 93 außer Dienst gestellt worden; zehn Verfahren waren in Gang. Insgesamt wurden 70% des wissenschaftlichen Personals entlassen.34 Ende August 1945 arbeiteten Rektor Karl Rauch, die britische Besatzung sowie die Österreichische Demokratische Studentenschaft (sie war bis Herbst 1945 die Studentenvertretung) gemeinsam Kriterien hinsichtlich der Nichtzulassung ehemaliger Nationalsozialisten aus, die jenen des Verbotsgesetzes ähnlich waren.35 Die Entscheidung fällte der (studentische) Inskriptionsreferent, im Zweifel entschied ein „Ehrenrat“, der aus fünf durch den Nationalsozialismus geschädigten Studenten bestand. An der Universität wurden im Wintersemester 1945/46 92 Studierende ausgeschlossen, an der Technischen Hochschule 14. Insgesamt 268 Studenten und 319 Studentinnen mussten einen viermonatigen Sühnedienst leisten, 492 drei oder weniger Monate (Frauen in der Landwirtschaft, Männer im Wiederaufbau und bei Schuttaufräumarbeiten). Mit dem Inkrafttreten des Verbotsgesetzes verschärften sich die Inskriptionsbedingungen für das Sommersemester, nun wurden auch höhere HJ- beziehungsweise BDM-FunktionärInnen ausgeschlossen. Der Ehrenrat wurde durch eine Kommission, bestehend aus dem Rektor und drei Parteienvertretern der ÖH, abgelöst. Sie überprüfte an der Karl Franzens-Universität im Sommersemester 1946 1.686 Studierende. 79 wurden vom Studium ausgeschlossen, 673 mussten Sühnedienst zwischen einem und sechs Monaten leisten.36 Das Nationalsozialistengesetz 1947 – nun waren auch Minderbelastete betroffen – führte zum Ausschluss von insgesamt 810 Studierenden aus den Grazer Hochschulen.37 1.2.4. Amnestien Im Frühjahr 1948 wurde vom österreichischen Parlament (mit Zustimmung des Alliierten Rates) eine generelle Amnestie der Minderbelasteten beschlossen. Dies betraf mehr als 90% der registrierten Nationalsozialisten, die Entnazifizierung als Maßnahme der „politischen Säuberung“ war somit beendet. Die Amnestie betraf rund 490.000 Personen, für sie galten die im Verbotsgesetz und in anderen Sondergesetzen festgelegten Sühnefolgen nicht mehr. Sie sollten nun in staatsbürgerlicher wie in wirtschaftlicher Hinsicht den anderen Bundesbür33 Stiefel, Entnazifizierung (wie Anm. 18) 138. 34 Alois Kernbauer, Universitäten und Wissenschaft, in: Desput (Hrsg.), Bundesland (wie Anm. 2) 553. 35 Christian Klösch/Hans-Peter Weingand, Zur Lage der Studierenden in der Steiermark, in: Siegfried Beer (Hrsg.), Die „britische“ Steiermark 1945–1955, Graz 1995, 474. 36 Klösch/Weingand, Zur Lage (wie Anm. 35) 475. 37 Österreichisches Jahrbuch 1948 (wie Anm. 32) 141.

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gern gleichgestellt sein. Eine Rückwirkung war allerdings nicht vorgesehen: Sühnefolgen, die bis zur Amnestie durchgeführt worden waren (Wohnungen, Entlassungen, Sühnezahlungen) blieben weiterhin aufrecht. Von der Minderbelastetenamnestie 1948 waren in der Steiermark 86.945 Personen (60.730 Männer, 26.215 Frauen) betroffen – die größte Personenzahl nach Wien. Spezielles Augenmerk wurde auf die Jugendlichen (Jahrgang 1919 und jünger) gelegt. In der Steiermark waren 350 Jugendliche belastet, 8.414 minderbelastet – österreichweit am meisten, vor Oberösterreich und Wien. Der Anteil der Frauen ist bemerkenswert: 3.950 minderbelasteten Männern standen 4.464 Frauen gegenüber; auch letztere Zahl war österreichweit die größte. Die Frauen waren bei den Minderbelasteten ebenfalls in Oberösterreich, Wien, Tirol und den anderen Bundesländern in der Mehrheit; einen deutlichen „Männerüberschuss“ gab es nur in Kärnten und im Burgenland.38 Am 14. März 1957 beschloss der Nationalrat die generelle NS-Amnestie, mit der das Verbotsgesetz (bis auf jene Bestimmungen betreffend die nationalsozialistische Wiederbetätigung) sowie das Kriegsverbrechergesetz aufgehoben wurden. Somit war die Entnazifizierung offiziell beendet.

2. Volksgerichtsprozesse Die justizielle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit oblag den Volksgerichten. Sie setzten sich aus drei Laien- und zwei Berufsrichtern zusammen und wurden an den (Straf-)Landesgerichten in Wien, Linz, Innsbruck und Graz eingerichtet. Daneben gab es Außensenate wie beispielsweise in Klagenfurt oder Leoben. Sie nahmen als Ausnahmegerichte eine prozessrechtliche Sonderstellung ein, waren aber administrativ und personell in die normale Strafjustiz eingegliedert.39 Die Rechtsgrundlagen dafür waren mit dem Verbotsgesetz und dem Kriegsverbrechergesetz bereits im Mai beziehungsweise Juni 1945 geschaffen worden. Die Bandbreite der Delikte reichte vom „Registrierungsbetrug“ über die Denunziation bis zum Massenmord. Die Strafrahmen waren hoch, als Zusatzstrafe wurde das Vermögen des Verurteilten für verfallen erklärt. Dies konnte auch in einem selbständigen Verfahren verfügt werden, also wenn der Täter nicht mehr am Leben war oder aus einem anderen Grund nicht vor Gericht gestellt werden konnte.

38 Stiefel, Entnazifizierung (wie Anm. 18) 309. 39 Polaschek, Im Namen der Republik (wie Anm. 1) 12f.

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Statistische Erhebungen des Bundesministeriums für Justiz ergeben für ganz Österreich bis Ende 1955 insgesamt fast 137.000 Volksgerichtsfälle, von denen rund 51.000 im Sprengel des Oberlandesgerichtes Graz (zuständig für die Steiermark, Kärnten und die britisch besetzten Gebiete Osttirols) angefallen waren.40 Etwa 6.600 der in Graz und Leoben angefallenen Volksgerichtssachen gegen 4.700 Angeklagte endeten mit einem Urteil (durch Wiederaufnahme des Verfahrens und Ähnliches gab es oft mehrere Urteile), 3.800 standen in Graz vor Gericht, 900 in Leoben. Etwas mehr als die Hälfte der Urteile (3.900) waren Schuldsprüche. Nur in den wenigsten Fällen wurden schwere Strafen verhängt. In Graz wurden sieben Personen zum Tod verurteilt, drei von ihnen tatsächlich hingerichtet. Fünf Personen wurden zu lebenslangem Kerker verurteilt, 45 zu zehn bis zwanzig Jahren, 43 zu fünf bis zehn Jahren. Die meisten Freiheitsstrafen, nämlich fast 1.500, befanden sich allerdings in einem Strafrahmen zwischen einem und fünf Jahren, rund 980 betrugen weniger als ein Jahr.41 Die meisten Verurteilungen erfolgten wegen sogenannter „Formaldelikte“ gemäß § 11 VG oder Denunziation. Die rund 200 Verfahren wegen NS-Gewaltverbrechen (Mord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und so weiter; §§ 1, 3, 4 KVG) betrafen Verbrechen in Arbeits- und Konzentrationslagern beziehungsweise Gefängnissen, Gestapoverbrechen, Fememorde vor 1938 und Massenverbrechen an den ungarischen Juden im Frühjahr 1945. § 4 KVG normierte ein für das österreichische Recht neuartiges Delikt: „Verletzungen der Menschlichkeit und der Menschenwürde“. Hatte jemand in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft „aus politischer Gehässigkeit oder unter Ausnützung dienstlicher oder sonstiger Gewalt jemanden in seiner Menschenwürde gekränkt oder beleidigt“, so drohte eine ein- bis fünfjährige Kerkerstrafe. Abhängig von der Schwere der Tat waren auch höhere Strafen bis hin zum Todesurteil vorgesehen. 63% der in Graz und 74,4% der in Leoben ausgesprochenen Urteile (Schuld- und Freisprüche) betrafen keine Gewaltverbrechen, sondern ergingen wegen §§ 8, 10 und 11 Verbotsgesetz.42 Alle „Illegalen“, welche darüber hinaus Träger einer Parteiauszeichnung waren, höhere Ämter innerhalb des nationalsozialistischen Organisationsapparates bekleidet oder damit in Zusammenhang stehend Handlungen aus besonders verwerflicher Gesinnung, besonders schimpfliche Handlungen oder Handlungen, die den Gesetzen der Menschlichkeit gröblich widersprechen, begangen hatten, sollten zu einer Kerkerstrafe von zehn bis zwanzig Jahren 40 Karl Marschall, Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich, 2. Aufl. Wien 1987, 34f. 41 Heimo Halbrainer/Martin F. Polaschek, „… zu Recht erkannt“. Kriegsverbrecher- und NS-Wiederbetätigungsprozesse in der Steiermark 1945–1970, in: Desput (Hrsg.), Bundesland (wie Anm. 2) 107ff. 42 Martin F. Polaschek/Heimo Halbrainer, „… an derartige Bestialitäten hat der Gesetzgeber nicht gedacht“. Kriegsverbrecherprozesse in der Steiermark 1945–1970, in: Heimo Halbrainer/Martin F. Polaschek (Hrsg.), Kriegsverbrecherprozesse in Österreich. Eine Bestandsaufnahme, Graz 2003, 47.

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sowie dem Verfall des gesamten Vermögens verurteilt werden. Ebenfalls wegen ihrer Funktion wurden die Mitglieder der Reichsregierung, Hoheitsträger der NSDAP vom Gauleiter (ab 1947 vom Kreisleiter) oder Gleichgestellten aufwärts, Reichsstatthalter und die höheren SSund Waffen-SS-Führer vom Standartenführer aufwärts bestraft (§ 1 Abs. 6 KVG). Die meisten hohen NS-Funktionäre hatten die Steiermark jedoch Anfang Mai 1945 beim Herankommen der Front verlassen; Einzelne nahmen sich das Leben. Die „kleinen“ Nationalsozialisten (Ortsgruppenleiter und so weiter) blieben größtenteils. Dies hatte familiäre und/oder wirtschaftliche Gründe, außerdem rechneten die wenigsten damit, wegen ihrer Funktion vor Gericht gestellt zu werden. Gerade jene „Illegalen“, die im „Dritten Reich“ eine (kleine) politische Karriere gemacht hatten, waren aber von der Neufassung des Verbotsgesetzes durch das Nationalsozialistengesetz am meisten betroffen. In Graz waren rund die Hälfte aller Schuldsprüche solche nach § 11 VG (53%), in Leoben drei Viertel (74%). Der Großteil der Strafen betrug zwischen einem und zwei Jahren Kerker. Viele von ihnen behaupteten, dass sie nicht wirklich „Illegale“ gewesen seien. Sie hätten sich nach dem „Anschluss“ fälschlich als solche deklariert, um sich dadurch gewisse Vorteile zu verschaffen. Offenbar war es leicht gewesen, entsprechende Bestätigungen von NS-Funktionären zu erhalten; nun bemühten sich die Menschen, Bestätigungen dafür zu erhalten, dass sie nicht „Illegale“ gewesen wären. In der Steiermark wurden über 2.800 Verfahren wegen solcher „Formaldelikte“ durchgeführt, 1.500 – ein Drittel aller Volksgerichtsurteile – endete mit einem Freispruch.43 Von den wenigen „prominenten“ Nationalsozialisten, welche abgeurteilt wurden, seien hier nur der erste NS-Landeshauptmann nach dem „Anschluss“ und zeitweilige „illegale“ Gauleiter Sepp Helfrich – vier Jahre schwerer Kerker – und Tobias Portschy („illegaler“ Gauleiter des Burgenlandes und anschließend stellvertretender Gauleiter der Steiermark) – fünfzehn Jahre schwerer Kerker – erwähnt. Gegen den steirischen Gauleiter Sigfried Uiberreither wurden mehrere Verfahren eingeleitet, er konnte aber aus der Haft fliehen und untertauchen. Im Februar 1950 wurde sein (geringes) Vermögen für verfallen erklärt. Käthe Uiberreither, seine Frau, erhielt im Juli 1948 wegen ihrer Tätigkeit als Ringführerin im BdM und Registrierungsbetruges eine 21-monatige Haftstrafe.44 Ebenfalls sehr hoch war die Zahl der Verfahren wegen Denunziation (§ 7 KVG). Auf sie entfiel ein Fünftel der Urteile, die Rate der Schuldsprüche war mit 67% (Graz) und 81 % (Leoben) sehr hoch. Die meisten Denunziationen erfolgten im unmittelbaren sozialen Umfeld; die verhängten Strafen waren zumeist mild. Härtere Strafen wurden in jenen Fällen verhängt, wo Menschen aufgrund der Denunziation ihr Leben verloren hatten.45 43 Halbrainer/Polaschek, „… zu Recht erkannt“ (wie Anm. 41) 120f. 44 Zu diesen Verfahren eingehend Polaschek, Im Namen der Republik (wie Anm. 1) 78ff. 45 Heimo Halbrainer, „Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant“. Denunzi-

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3. Conclusio Um nach Ende des Krieges einen demokratischen Staat aufbauen zu können, war die Beseitigung der Nationalsozialisten aus der öffentlichen Verwaltung und sämtlichen Führungspositionen in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft ein wesentliches Ziel der Besatzungsmächte. Die Entnazifizierung erfolgte nach bürokratischen, formalen Kriterien. Problematisch an dieser Methode war, dass durch die starke Schematisierung des Verfahrens (Erfassung mittels Fragebogen, Amnestien) eine auf die Einzelperson zugeschnittene Bewertung zu kurz kam. Durch die bürokratische Herangehensweise kam es nicht zu jener politischen, kulturellen und ideologischen Umerziehung der Gesellschaft, die notwendig gewesen wäre. In der ersten, bis Februar 1946 andauernden Phase erfolgte eine autonome Entnazifizierung durch die Alliierten. Danach erhielt die österreichische Regierung die alleinige Verantwortung für die Entnazifizierung übertragen, als deren Grundlagen das Verbotsgesetz, das Kriegsverbrechergesetz und das Wirtschaftssäuberungsgesetz von 1945 herangezogen wurden. Die Alliierten behielten eine Kontrollfunktion bei. Zwischen Februar 1947 und Mai 1948 wurde die Entnazifizierung auf Grundlage des Nationalsozialistengesetzes von 1947 durchgeführt, nach dem im Rahmen eines kollektiven Verfahrens eine Einteilung in Belastete, Minderbelastete und Amnestierte erfolgte. Die Jahre 1948 bis 1957 schließlich gelten als Zeit der großen Amnestien, in denen allein bis 1949 von den 538.000 österreichischen registrierten Nationalsozialisten 482.000 amnestiert wurden. Sie waren bei den Wahlen 1949 ein wichtiges, neues Wählerpotenzial, um das alle Parteien (einschließlich der KPÖ) buhlten. Differenzierter ist die Bedeutung der Justiz zu sehen. In den ersten Nachkriegsjahren erbrachten die Volksgerichte eine im internationalen Vergleich durchaus beachtliche Leistung, insbesondere bei der Verfolgung von NS-Gewaltverbrechern. Insgesamt ist die Entnazifizierung in Österreich aber als nur teilweise bis nicht gelungen zu beurteilen. Zählt man die Familienangehörigen dazu, war nahezu ein Viertel der Österreicher von der Entnazifizierung betroffen; insbesondere große Teile der Elite des Landes hatten der NSDAP angehört. Die österreichischen Behörden führten die Entnazifizierung nicht immer konsequent durch; zuweilen nahm man es mit den rechtlichen Vorgaben nicht so genau. Die österreichische Bevölkerung selbst vertrat die Meinung, dass alle Kraft in den Wiederaufbau und die Versorgung der Allgemeinheit gesteckt werden sollte und die Entnazifizierung als zweitrangiges Problem zu behandeln sei. Die „wirtschaftliche Vernunft“ und das Credo des Wiederaufbaus siegten schließlich über das demokratische Erfordernis der Entnazifizieation in der Steiermark 1938–1945 und der Umgang mit den Denunzianten in der Zweiten Republik, Graz 2007, 185ff.

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rung. Der Umgang der österreichischen Gesellschaft mit der NS-Vergangenheit stand deshalb lange Zeit in einem engen Zusammenhang mit Begriffen wie „Verdrängen“, „Vergessen“ oder „Tabuisierung“.

Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus am Beispiel der ­Opferfürsorge in der Steiermark Andrea Strutz

Einleitung Die Entwicklung der österreichischen Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung spiegelt die politischen Rahmenbedingungen der ersten Nachkriegsjahre wider. Eine zentrale Rolle in der Haltung des „offiziellen Österreich“ gegenüber einer „Wiedergutmachung“ spielte dabei die „Opferthese“, also die Sicht, Österreich wäre das „erste Opfer“ Hitlers gewesen.1 Die damit einhergegangene Verdrängung der Verantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus erodierte erst in den 1980er-Jahren, als die „Waldheim-Diskussion“ (1986) Österreich in „zwei geschichtspolitische Lager – Verteidiger der Opferthese auf der einen, das ‚andere Österreich‘ mit seiner Forderung nach Auseinandersetzung mit der verdrängten NS-Vergangenheit auf der anderen Seite“2 – spaltete. Langfristig bewirkte dieser Diskurs über die eigene Vergangenheit einen Perspektivenwechsel und eine – lange ausstehende – Akzeptanz einer Mitverantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Diese Neuorientierung veränderte auf politischer Ebene die Einstellung in Entschädigungs- und Restitutionsfragen entscheidend, wodurch die Implementierung neuer Entschädigungsleistungen für die Opfer des Nationalsozialismus möglich wurde.3 Seit der „Waldheim-Debatte“ und dem Gedenkjahr 1988 ist ein gesteigertes wissenschaftliches Interesse an einer zeithistorischen Aufarbeitung der österreichischen „Vergangenheitsbewältigung“ beobachtbar, war diese Fragestellung doch zuvor lediglich ein Nischenthema. 1

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Vgl. Heidemarie Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese: NS-Herrschaft, Krieg und Holocaust im „österreichischen Gedächtnis“, in: Christian Gerbel et al. (Hrsg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur österreichischen Gedächtnisgeschichte (Kultur.Wissenschaften 9), Wien 2005, 50–85, 54–60. Dieselbe, „Anschluss“-Gedanken 2008: Abschied von der Opferthese, , 16. Juli 2009. Folgende Fonds zur Erbringung von „Wiedergutmachungs“-Leistungen wurden seither durch die Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet: „Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus“ (1995), der „Österreichische Versöhnungsfonds“ (2000) und der „Allgemeine Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus durch die Republik Österreich“ (2001), vgl. , 28. Mai 2009.

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Unterdessen wurden zahlreiche Arbeiten publiziert, die sich eingehend mit Aspekten der Entstehung und der Praxis einer österreichischen „Wiedergutmachung“ beschäftigten.4 Eine systematische Aufarbeitung des Vermögensentzuges während der NS-Zeit auf dem Gebiet des heutigen Österreich und die Beurteilung der durch die Zweite Republik getätigten Entschädigungsmaßnahmen wurde durch die Einsetzung einer Historikerkommission seitens der Republik Österreich im Jahr 1998 möglich. Nach fünfjähriger intensiver Forschungsarbeit wurde im Jahr 2003 der Schlussbericht vorgelegt; seither wurden insgesamt 49 Ergebnisbände durch die Historikerkommission publiziert.5 Nach 1945 wurden in Österreich zwei unterschiedliche Gruppen von Maßnahmen zugunsten der Opfer des Nationalsozialismus geschaffen: Zum einen handelt es sich dabei um solche zur Entschädigung materieller Verluste wie die sieben Rückstellungsgesetze (1946–1949), die die Rückgabe des während der NS-Zeit entzogenen Eigentums und Vermögens regelten, und zum anderen wurden sozialrechtliche Maßnahmen getroffen. Zu dieser Rechtsmaterie zählt auch das Opferfürsorgegesetz (OFG), das im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen steht. Seit den frühen 1990er-Jahren setzte sich insbesondere Brigitte Bailer(-Galanda) auf wissenschaftlicher Ebene mit der Entwicklung der Opferfürsorgegesetzgebung und dem Umgang der Zweiten Republik mit NS-Verfolgten anhand dieser Maßnahme auseinander. In zahlreichen Publikationen analysierte sie die Gesetzesentwicklung, aber auch die Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten, mit denen NS-Opfer im Vollzug des Opferfürsorgegesetzes konfrontiert wurden.6 Ferner setzte sich eine Forschungsgruppe der Historikerkommission mit der Thematik auseinander und erstellte, abgesehen von einer juristischen Analyse des Sozialrechts,7 auch eine empirische Untersuchung über den praktischen Vollzug des Opfer4

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Siehe u. a. Robert Knight (Hrsg.), „Ich bin dafür die Sache in die Länge zu ziehen.“ Die Wortprotokolle der österreichischen Bundesregierung von 1945–1952 über die Entschädigung der Juden, Wien 2000, 2. erw. Aufl.; Albert Sternfeld, Betrifft: Österreich. Von Österreich betroffen, Wien 1990; Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993; David Forster, „Wiedergutmachung“ in Österreich und der BRD im Vergleich, Innsbruck 2001. Vgl. Clemens Jabloner et al., Schlussbericht der Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 1), Wien–München 2003. Siehe Bailer, Wiedergutmachung kein Thema (wie Anm. 4); dieselbe, Die Entstehung der Rückstellungsund Entschädigungsgesetzgebung. Die Republik Österreich und das in der NS-Zeit entzogene Vermögen (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NSZeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 3), Wien–München 2003. Vgl. Walter J. Pfeil, Die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus im österreichischen Sozialrecht. Entschädigung im Sozialrecht nach 1945 in Österreich 1 (Veröffentlichungen der österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 29/1), Wien–München 2004.

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fürsorgegesetzes seit 1945.8 Zwar wurden in die Studie auch Opferfürsorgefälle aus den Bundesländern Burgenland, Kärnten, Steiermark und Vorarlberg miteinbezogen,9 jedoch bestand der überwiegende Teil der untersuchten Stichprobe aus Wiener Opferfürsorge-(OF-)Akten (80%). Die Bundeshauptstadt besitzt den größten Anteil an OF-Akten unter den österreichischen Bundesländern. Speziell auf Bundesländerebene liegt bislang nur eine Untersuchung, und zwar für die Steiermark vor,10 die einen vertiefenden Einblick in die regionale Vollzugspraxis der Opferfürsorge bietet.11 Der vorliegende Artikel basiert auf dieser datenbankgestützten Untersuchung und bietet mit Fokus auf die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte einen Abriss über die Entwicklung des Opferfürsorgegesetzes sowie einen konzisen Überblick über die Vollzugspraxis des Opferfürsorgegesetzes in der Steiermark anhand von Anerkennungs-, Renten- und Entschädigungsverfahren. Es werden zentrale Problematiken diskutiert, die im Zuge der Verfahrenserledigung bzw. aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen für steirische AntragstellerInnen zwischen 1945 und 1964 auftraten.

Die Genese des Opferfürsorgegesetzes Rahmenbedingungen für die Entstehung des Opferfürsorgegesetzes nach 1945 Die politischen Rahmenbedingungen der Nachkriegsjahre in Österreich hatten wesentlichen Einfluss auf Genese und Ausgestaltung des Opferfürsorgegesetzes. Wie bereits eingangs an8

Vgl. Karin Berger et al., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“. Analyse der praktischen Vollziehung des einschlägigen Sozialrechts (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 29/2), Wien–München 2004. 9 Für die Historikerkommission waren v. a. die ethnische Zusammensetzung, regionale Spezifika bzw. sozioökonomische Strukturen für die Auswahl der Bundesländer entscheidend, vgl. ebda., 28–29. 10 Vgl. Andrea Strutz, Wieder gut gemacht? Opferfürsorge in Österreich am Beispiel der Steiermark, Wien 2006. 11 Weitere regionale Untersuchungen wären wünschenswert, um aufgrund der ethnischen Spezifika der österreichischen Bundesländer die Erkenntnisse über die Opferfürsorgepraxis bei bestimmten NS-Verfolgten noch zu verdichten (z. B. über national verfolgte Kärntner Sloweninnen und Slowenen). Für das Burgenland existiert eine im Rahmen des Arbeitsprogrammes der Historikerkommission durchgeführte Analyse über in Österreich als „ZigeunerInnen“ verfolgte Personen und ihre Behandlung in der Opferfürsorgepraxis; vgl. Florian Freund/Gerhard Baumgartner/Harald Greifeneder, Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti. Nationale Minderheiten im Nationalsozialismus 2 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, Band 23/2), Wien–München 2004.

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gesprochen, fungierte der „Opfermythos“ als zentrales Gründungsnarrativ der Zweiten Republik. Von offizieller Seite wurde die Opferthese auch dazu herangezogen, Forderungen auf Entschädigungsleistungen der NS-Opfer resp. ihrer Opferverbände abzuwehren bzw. nur zögerlich zu gewähren.12 Während von politischer Seite kaum Aktivitäten ausgingen, um die 1938 Vertriebenen wieder nach Österreich zurückzuholen, gab es Integrationsangebote gegenüber ehemaligen NationalsozialistInnen. Nach Kriegsende wurden in Österreich rund 550.000 Personen als „Ehemalige“ registriert; diese Gruppe stellte in den späten 1940er-Jahren ein attraktives WählerInnenpotenzial für die österreichischen Parteien dar. Daher drängten die politischen Parteien auf einen möglichst raschen Abschluss der Entnazifizierungsmaßnahmen, die durch eine milde Praxis bzw. mehrere Amnestien (z. B. die „Minderbelasteten-Amnestie“ 1948) gekennzeichnet sind.13 Diese intensiven Anstrengungen um Integration ehemaliger NS-Mitglieder riefen zwar bei jenen politischen Abgeordneten, die sich für Belange von NS-Verfolgten einsetzten, heftige Kritik hervor, führten aber zu keiner Veränderung der generellen Einstellung gegenüber einer „Wiedergutmachung“. Mehrfach verwiesen Rosa Jochmann (SPÖ), Ernst Fischer und Viktor Elser (beide KPÖ) in Parlamentsdebatten auf die unangemessene Behandlung der NS-Opfer. Sie beanstandeten, dass Maßnahmen häufig lange auf sich warten ließen, und kritisierten heftig, dass ihrer Ansicht nach die Opfer der politischen Verfolgung sogar gegenüber den „Ehemaligen“ benachteiligt wären, da Maßnahmen für NS-Opfer häufig mit jenen für ehemalige NationalsozialistInnen gekoppelt würden. Der Abgeordnete Ernst Fischer beschrieb 1946 die vorherrschende Situation mit folgenden Worten: „Für wehklagende Nationalsozialisten wird noch und noch interveniert, es wird eine ganze Legion von Schutzengeln aufgeboten, aber die notleidenden Opfer des Nationalsozialismus laufen von Amt zu Amt und werden mit Hohn und Grobheit abgefertigt.“14 Wie Brigitte Bailer(-Galanda) in ihrer Untersuchung zur Genese des Opferfürsorgegesetzes feststellte, verweist ein solches Verhältnis zwischen Opfern und TäterInnen bzw. MittäterInnen klar auf den Stellenwert, den die Zweite Republik diesen beiden Gruppen nach 1945 eingeräumt hat.15 Das Opferfürsorgegesetz bezieht sich auf eine politische Verfolgung in der Zeit zwischen der Ausschaltung des österreichischen Parlaments am 6. März 1933 und dem Kriegsende am 9. Mai 1945. Diese aus innenpolitischen Gründen erfolgte Definition des anerkennungswür-

12 Vgl. Uhl, Vom Opfermythos zur Mitverantwortungsthese (wie Anm. 1) 57–58; Bailer, Wiedergutmachung kein Thema (wie Anm. 4) 23–134. 13 Vgl. u. a. , 10. Juli 2009. 14 Bailer, Wiedergutmachung kein Thema (wie Anm. 4) 29. 15 Ebda., 16.

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digen Verfolgungszeitraumes im OFG, die sowohl die Zeit des Austrofaschismus als auch der NS-Herrschaft umfasst, wird im Schlussbericht der Historikerkommission als eine „aus heutiger Sicht ungerechte Gleichstellung der beiden Regimes“16 bewertet; dennoch hat diese Festlegung bis heute Gültigkeit im OFG. Die Untersuchung der Opferfürsorgepraxis in der Steiermark konzentrierte sich aufgrund des verfügbaren Quellenbestandes – das waren OF-Verfahren, die bereits aus dem Aktenlauf im Opferfürsorgereferat ausgeschieden und in das Steiermärkische Landesarchiv abgeliefert worden waren – auf die Jahre 1945 bis 1964, während sich die Untersuchung der Historikerkommission über diesen Zeitraum hinaus bis zum Jahr 2001 erstreckt. Wegen des Regierungsauftrags hatte das Team der Historikerkommission auch Zugang zu Opferfürsorgeakten, die sich noch in Bearbeitung bzw. noch im Besitz der Opferfürsorgereferate der ausgewählten Bundesländer befanden. Aufgrund des differierenden Untersuchungszeitraums ist es daher nicht möglich, die Ergebnisse der Untersuchung des praktischen Vollzugs der Opferfürsorge in der Steiermark mit den Ergebnissen der Historikerkommission direkt zu vergleichen.

Kreis der Anspruchsberechtigten und anerkennungs­ würdiger Verfolgungszeitraum im Opferfürsorgegesetz Als die provisorische Staatsregierung Österreichs im Juli 1945 das erste Opferfürsorgegesetz (OFG 1945)17 beschloss, wurden lediglich politische WiderstandskämpferInnen (im Gesetz als „aktive“ Opfergruppe bezeichnet) als anspruchsberechtigt definiert. Diese einschränkende Opferdefinition benachteiligte jedoch die große Zahl der „Opfer der politischen Verfolgung“ („passiv“ zu Schaden gekommene Opfergruppe), die aufgrund ihrer Abstammung (z. B. Juden und Jüdinnen, Roma und Romnia und Sinti und Sintessa), ihrer Religion, ihrer Nationalität oder aus anderen Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt worden waren. Die Beschränkung der Begünstigten auf die Gruppe der politischen WiderstandskämpferInnen erwies sich aber als politisch nicht vertretbar, wie auch aus den Durchführungsvorschriften des Opferfürsorgegesetzes hervorgeht: „Die Berücksichtigung dieser Opfer [sei] schon im Hinblicke auf eine derartige Gesetzespraxis in den anderen europäischen Kulturstaaten eine Notwendigkeit […], wollte Österreich insbesondere nicht in den Ruf eines antisemitischen Staates kommen.“18 16 Jabloner et al., Schlussbericht der Historikerkommission (wie Anm. 5) 417. 17 Gesetz über die Fürsorge für die Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich, BGBl. 90/1945. 18 Das Opferfürsorgegesetz. Gemeinverständliche Erläuterung des Gesetzes und seiner Durchführungs-

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Daher wurde zwei Jahre später ein neues und bis heute geltendes Opferfürsorgegesetz (OFG 1947) erlassen.19 Mit der Neugestaltung des Opferfürsorgegesetzes im Jahr 1947 erweiterte sich der Kreis der anspruchsberechtigten Personen. Abgesehen von den WiderstandskämpferInnen, die, wie es im OFG 1947 heißt, „um ein unabhängiges, demokratisches und seiner geschichtlichen Aufgabe bewußtes Österreich, insbesondere gegen die Ideen und Ziele des Nationalsozialismus mit der Waffe in der Hand gekämpft oder sich rückhaltlos in Wort und Tat eingesetzt haben“,20 fanden nun auch „Opfer der politischen Verfolgung“ Anerkennung. Laut Festlegung im Opferfürsorgegesetz waren dies Personen, die „in der Zeit vom 6. März 1933 bis zum 9. Mai 1945 aus politischen Gründen oder aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität durch Maßnahmen eines Gerichtes, einer Verwaltungs- (im besonderen einer Staatspolizei-)Behörde oder durch Eingriffe der NSDAP einschließlich ihrer Gliederungen in erheblichem Ausmaße zu Schaden gekommen“21 waren. Trotz dieser Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten fanden immer noch nicht alle NS-Geschädigten Berücksichtigung im Opferfürsorgegesetz. So waren die Opfer der nationalsozialistischen „Erbgesundheitsmaßnahmen“, das sind die Opfer der NS-„Euthanasie“ und der Zwangssterilisierungen, bis zum Jahr 1995 von den Leistungen des OFG gänzlich ausgeschlossen.22 Opfer der Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung, medizinischer Versuche oder des Vorwurfs der sogenannten Asozialität und die Opfer der NS-Militärjustiz mussten überhaupt sechzig Jahre warten, bis sie im Jahr 2005 endlich Aufnahme im Opferfürsorgerecht fanden.23

Formale Bestimmungen im Opferfürsorgegesetz und ­s oziologische Merkmale steirischer AntragstellerInnen Wert der Akten als historische Quelle und Beschreibung der Stichprobe Das Opferfürsorgegesetz wird als Bundesgesetz in den Landesregierungen der Republik Österreich als Teil der Sozialgesetzgebung vollzogen.24 Somit sind die OF-Akten ein „Produkt“

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vorschriften von Ministerialrat Eduard Tomaschek, Leiter des Opferfürsorgereferats im Bundesministerium für soziale Verwaltung, Wien 1950, 1. Bundesgesetz über die Fürsorge des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich und die Opfer politischer Verfolgung, BGBl. 183/1947. Ebda. §1, Abs. 1. Ebda. §1, Abs. 2. Novelle des OFG, BGBl. 433/1995. Novelle des OFG, BGBl. I 86/2005. Heute ist in der Steiermark das Referat für Sozialhilfe, Pflegegeld und Opferfürsorge (Fachabteilung 11A für Soziales, Arbeit und Beihilfen) für den Vollzug des Opferfürsorgegesetzes zuständig.

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der öffentlichen Verwaltung und ihre Entstehungsbedingungen müssen in der Analyse des Quellenbestands kritisch reflektiert werden. In der Steiermark wurden seit 1945 rund 9.750 OF-Akten angelegt. Der Gesamtbestand in ganz Österreich ist derzeit allerdings nicht bestimmbar.25 Zur Einschätzung der Größenordnung sei hier angeführt, dass Wien über rund 80.000 Akten verfügt, die vermutlich mehr als die Hälfte des österreichischen Gesamtbestandes darstellen.26 Für die Untersuchung des regio­nalen Vollzugs der Opferfürsorge am Beispiel der Steiermark wurden 1.910 Opferfürsorgeakten, die im Zeitraum zwischen 1945 und 1964 bearbeitet und abgeschlossen worden waren, als Stichprobe (sample) herangezogen.27 Die Anzahl der AntragstellerInnen im untersuchten steirischen Sample, die einmal bzw. mehrmals Leistungen nach dem OFG beantragten, beträgt 2.048, davon waren 1.548 Opfer der Verfolgung und 500 Hinterbliebene.28 Der zeithistorische Wert der Opferfürsorgeakten ist vielfältig. Er besteht zum einen darin, dass die Aktenmaterialien aus den Opferfürsorgeverfahren Auskunft über den praktischen Vollzug des Opferfürsorgegesetzes und den Stellenwert der NS-Verfolgten bzw. der Opfer der politischen Verfolgung des „Ständestaats“ in der Zweiten Republik geben. Zum anderen kann man dem Quellenbestand – wenn auch in unterschiedlicher Genauigkeit – wertvolle Erkenntnisse über Widerstands- und Verfolgungshandlungen zwischen 1934 und 1945 sowie biographisch und soziologisch relevante Informationen über die Opfer der politischen Verfolgung entnehmen.

25 Vgl. dazu Berger et al., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“ (wie Anm. 8) 29–32 und 34. 26 Ebda., 35. Die Historikerkommission geht davon aus, dass für die übrigen Bundesländer trotz der eingeschränkten Erfassbarkeit der jeweiligen Aktenbestände realistisch von einer Gesamtzahl von 20.000 ausgegangen werden kann. 27 Von 2.637 untersuchten steirischen Opferfürsorgeakten aus diesem Zeitraum eigneten sich 1.910 Akten für eine datenbankgestützte Analyse der Vollzugspraxis der Opferfürsorge. Für die Festlegung des Stichprobenumfangs (sample size), die es erlaubt, anhand der Aussagen über die Stichprobe auf die steirische Grundgesamtheit zu schließen, vgl. die Ausführungen bei Strutz, Wieder gut gemacht? (wie Anm. 10) 76–77. 28 Die Ansprüche dieser AntragstellerInnen leiten sich von insgesamt 1.863 erfassten Opfern des Nationalsozialismus bzw. der „Ständestaat“-Diktatur ab. In einigen Fällen leiteten mehrere Hinterbliebene (z. B. die Witwe und hinterbliebene Kinder bzw. mehrere Kinder) von einem Opfer Ansprüche ab. Die Aktanlegung der steirischen OF-Behörde war teilweise uneinheitlich. In einigen dieser Fälle wurden nämlich die OF-Verfahren mehrerer Personen (Witwe und Waisen) über einen einzigen OFAkt verwaltet, obwohl ansonsten pro AntragstellerIn ein eigener OF-Akt angelegt wurde, vgl. ebda., 92–93.

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Formale Voraussetzungen für eine Antragstellung nach dem OFG 194729 Nach den Bestimmungen des OFG waren (und sind) nicht nur die Verfolgten selbst, sondern auch deren Hinterbliebene anspruchsberechtigt. Als Hinterbliebene gelten EhegattInnen beziehungsweise LebensgefährtInnen, Kinder, Eltern, Pflegeeltern, elternlose Geschwister, EnkelInnen, Großeltern, Stiefeltern und Stiefkinder, und zwar dann, wenn das Opfer der politischen Verfolgung den überwiegenden Unterhalt für die genannte Person bestritt bzw. dazu verpflichtet gewesen wäre.30 Der Gesetzgeber sah für „politische Kämpfer“ bzw. deren Hinterbliebene die Ausstellung einer Amtsbescheinigung (AB) und für „Opfer der politischen Verfolgung“ (so genannte „passive“ Opfer) die Ausstellung eines Opferausweises (OA) vor, vorausgesetzt die AntragstellerInnen erfüllten die formalen Bedingungen. Die Anträge auf Zuerkennung einer Amtsbescheinigung bzw. eines Opferausweises waren – formlos schriftlich oder auch mündlich – bei der jeweiligen Bezirkshauptmannschaft bzw. dem Stadtmagistrat des Wohnortes einzubringen.31 Dem Antrag mussten möglichst schriftliche oder amtlich beglaubigte Nachweise über die Verfolgung bzw. die erlittene Schädigung beigeschlossen werden. Die Beweislast lag bei den AntragstellerInnen, und wie die Analyse der steirischen Akten mit Fokus auf die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte zeigt, konnten sie dieser Nachweispflicht nicht immer nachkommen. In etlichen Fällen waren Beweismittel und Dokumente durch den Krieg zerstört worden bzw. verschwunden. Die Bezirksbehörden leiteten die Anträge an das zuständige Amt der jeweiligen Landesregierung weiter, die als erste Instanz eine Entscheidung über eine Anerkennung nach dem Opferfürsorgegesetz traf.32 Bis heute ist der Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Anspruchsanmeldung.33 Diese Bedingung benachteiligte über 29 Zu den formalen Bedingungen für eine Anspruchsanmeldung siehe: Das Opferfürsorgegesetz. Gemeinverständliche Erläuterung des Gesetzes (wie Anm. 18) 5–8. 30 Siehe Festlegung im § 1 Abs. 3 des OFG/47. 31 Personen mit einem Wohnsitz im Ausland mussten ihre Eingaben an das Opferfürsorgereferat des Sozialamtes der Stadt Wien richten bzw. gab das steirische Opferfürsorgereferat diese Ansuchen wegen Zuständigkeit direkt nach Wien ab, weshalb solche Opferfürsorgefälle in der Stichprobe nicht erfasst wurden. 32 Das Bundesministerium für soziale Verwaltung fungierte als zweite Instanz, bei der innerhalb einer bestimmten Frist eine Berufung gegen einen ablehnenden Bescheid der Landesregierung eingebracht werden konnte. 33 Es waren nur jene Personen anspruchsberechtigt, die am 13. März 1938 eine österreichische Bundesbürgerschaft innehatten und zum Zeitpunkt der Antragstellung im Besitz der österreichischen Staatsbürgerschaft waren. Wer die österreichische Staatsbürgerschaft erst nach dem 27. April 1945 erhalten hatte, musste einen ordentlichen Wohnsitz in Österreich durch mehr als zehn Jahre vor dem 13. März 1938 nachweisen.

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viele Jahre die rund 130.000 jüdischen Vertriebenen, die infolge der Flucht die österreichische Staatsbürgerschaft verloren hatten und nach 1945 auch nicht mehr nach Österreich zurückgekehrt waren.34 Seit der Änderung des Staatsbürgerschaftsgesetzes im Jahr 1993 können Vertriebene die österreichische Staatsbürgerschaft zusätzlich erwerben und somit auch einen Opferausweis bzw. eine Amtsbescheinigung beantragen.35 Die Antragseinbringung auf Ausstellung eines Ausweises war an eine Einreichfrist gebunden. Die ursprüngliche Antragsfrist wurde mit einem Jahr nach Kundmachung des Gesetzes festgelegt, jedoch mehrmals erstreckt, und zwar insgesamt bis zum 31. Dezember 1952. Danach konnten keine Anträge auf Ausstellung eines Opferausweises bzw. einer Amtsbescheinigung eingebracht werden, obwohl Opferverbände wiederholt auf die Problematik der Fristen sowie auf weitere Mängel und Härten des Opferfürsorgegesetzes hingewiesen hatten.36 Es scheint, als hätte der Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt angenommen, dass Fürsorge und Entschädigung für die Opfer des Faschismus beendet seien, weshalb auch keine weitergehenden Maßnahmen mehr gesetzt werden müssten. Diese Fristenproblematik wurde fünf Jahre später behoben, als der Gesetzgeber 1957 mit der 11. OFG-Novelle generell alle Antragsfristen im OFG aufhob.37 Ein Ausschlussgrund („Verwirkung“) nach dem OFG bestand in einer Anwartschaft bzw. Parteimitgliedschaft zur NSDAP und bei einer strafrechtlichen Verurteilung, da in diesen Fällen laut Gesetzgeber ein „unwürdiges“ Verhalten vorlag.38 34 Vgl. dazu die Ausführungen bei Brigitte Bailer-Galanda, Verfolgt und Vergessen. Die Diskriminierung einzelner Opfergruppen durch die Opferfürsorgegesetzgebung, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.), Jahrbuch 1992, Wien 1992, 13–25. Das „Comittee for Jewish Claims on Austria“ erreichte in zähen Verhandlungen gewisse Verbesserungen für die Vertriebenen: Einige Entschädigungsleistungen im OFG konnten auch unabhängig vom Besitz einer österreichischen Staatsbürgerschaft beansprucht werden wie Haftentschädigungen (ab 1953) oder die pauschalierte Geldleistung für das „Tragen des Judensterns“ (ab 1961). 35 Vgl. Brigitte Bailer-Galanda, Die Opfer des Nationalsozialismus und die sogenannte Wiedergutmachung, in: Emmerich Tálos et al. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, Wien 2000, 884–901, 892. 36 Zur Problematik der Antragsfristen vgl. Bailer, Wiedergutmachung kein Thema (wie Anm. 4) 73–75; Strutz, Wieder gut gemacht? (wie Anm. 10) 170–174; Berger et al., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“ (wie Anm. 8) 140–142. 37 Novelle des OFG, BGBl. 77/1957. 38 Das Erlöschen der Anspruchsberechtigung wird im § 15 Abs. 2 des OFG geregelt. Die Judikatur verlangte schon sehr früh eine Abkehr von einer pauschalen Beurteilung durch diese restriktive Festlegung im OFG und forderte eine Prüfung des Einzelfalles, da nicht alle Beitritte zur NSDAP aus Gründen der Gesinnung, sondern auch aus anderen Motiven (Arbeitslosigkeit, Zwang etc.) erfolgt sein konnten; vgl. dazu Pfeil, Die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus im österreichischen Sozialrecht (wie Anm. 7) 180–182.

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Andrea Strutz

Die Opfergruppen im steirischen Sample Die im Zuge von Anspruchsanmeldungen getätigten Angaben über die erlittene politische Verfolgung im diktatorischen „Ständestaat“ und/oder während der Zeit der NS-Gewaltherrschaft bzw. die in den Akten vorgefundenen Nachweise über Schädigungen dienten als Basis für die Einteilung der AntragstellerInnen in die jeweilige Opfergruppen.39 Aufgrund dieser Angaben ergibt sich folgendes Bild: Die überwiegende Mehrheit der AntragstellerInnen im steirischen Sample, nämlich 84,2% (1.725 Personen), weist eine Verfolgung aus politischen Gründen (unter Einschluss der „Opfer des Kampfes“) auf. Die am häufigsten genannten Verfolgungsgründe (Schädigungen) sind Entlassungen bzw. Versetzungen in den Ruhestand aufgrund der „Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums“ 40, Anklagen und Verurteilungen wegen Hochverrats (§§ 80–87 RStGB), Vergehen nach dem „Heimtückegesetz“41 sowie Verstöße gegen die „Rundfunkmaßnahmen-Verordnung“42. In der Opfergruppe der „Politischen“ weisen knapp drei Viertel der AntragstellerInnen eine politi39 Bei der Einteilung der Opfergruppen wurde nicht zwischen den Kategorien „aktiv“ („Opfer des Kampfes“) und „passiv“ („Opfer der politischen Verfolgung“) unterschieden, da diese Angaben oftmals nicht eindeutig aus den Anträgen hervorgingen. Es wurden die vorgefundenen Begründungen kategorisiert und zusammengefasst: „Politisch 38–45“, „Politisch 33–38“, „Politisch 33–38 u. 38–45“, „jüdische Abstammung“, Abstammung „Zigeuner“, „Religiöse Verfolgung“, „Opfer aus Gründen der Nationalität“. Für Fälle, die in keiner der vorgenannten Gruppen Platz fanden, wurden zusätzliche Kategorien geschaffen, und zwar „Opfer NS-Euthanasie“, „Opfer sozial unangepasst laut NS-Diktion“, „sonstige Gründe“ und „nicht zuordenbar“. Diese Einteilung dient als pragmatisches Hilfsmittel, um Unterschiede in der Behandlung der Opfergruppen herausarbeiten und damit zusammenhängende Problembereiche für die AntragstellerInnen festmachen zu können, stellt aber keine Bewertung der erlittenen Verfolgung während der NS-Herrschaft bzw. im Austrofaschismus dar. 40 Entlassungen erfolgten zumeist auf Basis der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31. Mai 1938 und der nachfolgenden Verordnungen, RGBl. I, Gesetzblatt für das Land Österreich Nr. 160/1938 und 84/1939, wobei diese Verordnung Entlassungen von BeamtInnen aus politischen und aus Abstammungsgründen vorsah; vgl. Alexander Mejstrik et al., Berufsschädigungen in der nationalsozialistischen Neuordnung der Arbeit. Vom österreichischen Berufsleben 1934 zum völkischen Schaffen 1938–1940 (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 16), Wien–München 2004. 41 Gesetz gegen die heimtückischen Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934, RGBl. I, 1269, eingeführt in der Ostmark durch die Verordnung vom 23. Januar 1939, RGBl. I, 80, GBl. f. Ö. Nr. 143/1939; in Kraft getreten am 27. Januar 1939. 42 Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen vom 1. September 1939, RGBl. I, 1683; ausgegeben am 7. September 1939. Darunter fielen Tätigkeiten wie das Abhören ausländischer Sender und die Weiterverbreitung des Gehörten, was in besonders schwerwiegenden Fällen auch mit dem Tod bestraft werden konnte.

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Abbildung 1: Opfergruppen im steirischen Sample Opfergruppen

Häufigkeit

Prozent

Politisch 38–45

1.225

59,8%

Politisch 33–38

372

18,2%

Politisch 33–38 u. 38–45

128

6,3%

jüdische Abstammung

140

6,8%

Abstammung „Zigeuner“

11

0,5%

Opfer a. G. d. Religion

28

1,4%

1

0,0%

Opfer a. G. d. Nationalität Opfer NS-„Euthanasie“

4

0,2%

sozial unangepasst lt. NS

22

1,1%

sonstige Gründe

37

1,8%

nicht zuordenbar Opferfürsorgefälle gesamt

80

3,9%

2.048

100,0%

sche Verfolgung während der NS-Gewaltherrschaft (71%) auf. Rund ein Fünftel der Einreichungen beruhte auf einer Verfolgung in der Zeit des „Ständestaats“ (21,6%) und 7,4% der AntragstellerInnen beantragten einen Opferausweis bzw. eine Amtsbescheinigung aufgrund einer politischen Verfolgung in beiden diktatorischen Regimes. Bei 151 Einreichungen wiesen die Opfer eine politische Verfolgung aus Gründen der Abstammung auf; das macht im Sample einen Anteil von 7,4%. Davon waren 92,7% jüdische Verfolgte, die restlichen 7,3% waren von den NS-Behörden als „Zigeuner“ kategorisierte und deshalb verfolgte Personen (11). Die Opfer einer Verfolgung aus Gründen der Religion sind im steirischen Sample ausschließlich „BibelforscherInnen“ (ZeugInnen Jehovas). Die insgesamt 28 AntragstellerInnen beschreiben einen Anteil von 1,4% im steirischen Sample. Weitere vier Opferfürsorgeverfahren wurden von Opfern der NS-„Euthanasie“ bzw. deren Hinterbliebenen eingebracht. In der Stichprobe tritt nur ein einziger Fall auf, in dem ein Verfahren aufgrund einer politischen Verfolgung „aus Gründen der Nationalität“ (Mitglied der slowenischen Minderheit) angestrebt wurde.43 Die Opfergruppen „Sonstige“ bzw. „sozial unangepasste Personen laut NS-Diktion“ machen lediglich einen Anteil von rund 3% aus. Um einen Opferausweis bzw. eine Amtsbescheinigung zu erhalten, war der Nachweis einer verfolgungsbedingten Schädigung eminent. Ursprünglich galten eine gerichtliche bzw. polizeiliche Haft im Ausmaß von wenigstens drei Monaten, kausal durch die Verfolgung er43 Im steirischen Sample können daher keine allgemeinen Tendenzen für die Behandlung dieser Opfer erschlossen werden. Einen ersten Überblick bietet die Untersuchung der Historikerkommission (14 Fälle); vgl. Berger et al., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“ (wie Anm. 8) 49–50 und 137–138.

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Andrea Strutz

littene Gesundheitsschädigungen, Einkommensschäden von mindestens 50% über mehr als dreieinhalb Jahre, Ausbildungsschäden sowie der Tod des Opfers als anerkennungswürdige Schädigungen. Diese Liste war jedoch unvollständig und musste mehrmals erweitert werden. Im Jahr 1969 wurde der Schaden einer erzwungenen Emigration, 1970 das Tragen des Judensternes über mindestens sechs Monate und 1972 ein Leben im Verborgenen hinzugefügt. Schädigungen, die politisch Verfolgte aufgrund medizinischer Versuche während der NS-Zeit erlitten, werden seit der Novelle des OFG im Jahr 2005 anerkannt. Die Untersuchung der im OFG akzeptierten Schädigungen ergab für das steirische Sample, dass die 2.048 AntragstellerInnen (Opfer und Hinterbliebene) am häufigsten von der Schädigung des Freiheitsverlustes des Opfers (72%) betroffen waren, danach folgten Berufsschäden mit 27,8%, der Tod des Opfers (14,9%) sowie Angaben von Gesundheitsschäden (14,6%), und 5,8% der Angaben betrafen eine Flucht bzw. Vertreibung des Opfers. In ­etlichen Fällen traf mehr als ein Schaden zu, im Durchschnitt traten pro AntragstellerIn 1,35 Schädigungen auf. Jedoch bedeutete die Nennung eines solchen Schadens noch nicht, dass im Einzelfall auch eine Anspruchsberechtigung gegeben war, denn der Gesetzgeber legte in den Regelungen des OFG neben formalen Voraussetzungen (z. B. aufrechte österreichische Staatsbürgerschaft, Einhaltung der Antragsfristen, Unbescholtenheit etc.) auch ein bestimmtes Ausmaß der verfolgungsbedingten Schädigung fest.

Biografische und soziologische Daten der AntragstellerInnen Bei der Eröffnung der Opferfürsorgeverfahren waren die AntragstellerInnen in der Steiermark im Durchschnitt 49,8 Jahre alt.44 Drei Viertel der AntragstellerInnen im Sample waren über 40 Jahre alt. Mehr als die Hälfte der Ansuchenden (56,5%) entfällt auf die Altersgruppe der 40- bis 59-Jährigen und rund ein Drittel der Personen war im Alter zwischen 50 und 59 Jahren. Zwei Drittel der AntragstellerInnen in der Stichprobe sind Männer, ein Drittel Frauen. Betrachtet man das Geschlechterverhältnis bei den Opferanträgen (d. s. Anträge, die von den ehemals Verfolgten selbst gestellt wurden), so dominieren die Männer stark mit einem Anteil von 82,9%, denn im Untersuchungszeitraum haben nur 17,1% Frauen ein Verfahren um Zuerkennung eines Opferausweises bzw. einer Amtsbescheinigung aufgrund einer selbst erlittenen politischen Verfolgung während der NS-Zeit bzw. im „Ständestaat“ eingeleitet.45 44 Das Durchschnittsalter in der Steiermark entspricht in etwa dem Wert, den die Historikerkommission ermittelte (49,6 Jahre); vgl. Berger et al., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“ (wie Anm. 8) 63. 45 Zur Behandlung von Widerstandskämpferinnen und rassistisch verfolgten Frauen in der Steiermark vgl. Andrea Strutz, „… unser Kampf galt einem sauberen, freien und demokratischen Österreich ...“.

Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus

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Hingegen zeigen die Hinterbliebenenanträge eine gegenteilige Geschlechterzusammensetzung: Hier sind 85% der AntragstellerInnen weiblich und die Gruppe setzt sich hauptsächlich aus Witwen und Waisen zusammen. Eine Aufschlüsselung der AntragstellerInnen nach den steirischen Bezirken zeigt, dass über ein Drittel in der Stadt Graz wohnhaft war, am zweithäufigsten stammten die Antragsteller­ Innen aus dem Bezirk Leoben (9,9%), gefolgt vom Bezirk Bruck an der Mur mit 8,7%.46 Das Ergebnis der Wohnbezirke der AntragstellerInnen bei der Einleitung des OF-Verfahrens korreliert eindeutig mit jenen Regionen der Steiermark, in denen sich zwischen 1933 und 1945 Verfolgungs- und Widerstandshandlungen konzentrierten. Eine Analyse der angeführten Berufsgruppen ergibt, dass bei den Männern der Arbeiterstand mit einem Anteil von 38,3% dominierte. Bei den Frauen hingegen wurde die Tätigkeit als Hausfrau am häufigsten genannt (31,1%). Weitere 17,4% der männlichen Antragsteller waren Angestellte und 12% Beamte. Bei den Frauen betrug der Anteil der Angestellten gerade 7%, und nur 2,6% der Frauen waren Beamtinnen. Die Selbständigen verteilten sich unter den Geschlechtern mit ähnlichen Werten: 8,1% der Männer waren selbständig, bei den Frauen waren es 6,4%. Die Landwirte wurden unter den Selbständigen subsumiert, wobei die meisten als KleinbäuerInnen bzw. KeuschlerInnen einzustufen sind. Auffällig ist, dass bei einem Drittel der Frauen gar keine Angabe über ihre berufliche Tätigkeit vorhanden ist.

Vollzugspraxis der Opferfürsorge in der Steiermark Verfahren auf Ausstellung eines Opferausweises bzw. einer Amtsbescheinigung Zuerst mussten Geschädigte einen Antrag auf Ausstellung eines Opferausweis bzw. einer Amtsbescheinigung einbringen, da die Bewilligung anderer Leistungen (z. B. Renten oder

Fallbeispiele steirischer Widerstandskämpferinnen und ihre Behandlung als NS-Opfer in der Zweiten Republik, in: Maria Cäsar/Heimo Halbrainer (Hrsg.), „Die im Dunkeln sieht man doch“. Frauen im Widerstand – Verfolgung von Frauen in der Steiermark (Clio. Historische und gesellschaftspolitische Schriften 5), Graz 2007, 153–169; dieselbe, Vertrieben. Verhaftet. Deportiert. Einblicke in Lebensgeschichten von Widerstandskämpferinnen und weiblichen Überlebenden des NS-Rassenwahns in der Steiermark, in: Karin Schmidlechner/Heimo Halbrainer (Hrsg.), Aus dem Blickfeld. Eine biographische Annäherung an ambivalente Lebensszenarien steirischer Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit (Grazer Gender Studies 11), Graz 2008, 32–56. 46 In Regionen zusammengefasst, entstammen die AntragstellerInnen zu gleichen Teilen der Obersteiermark (35,7%) bzw. der Landeshauptstadt Graz (35,7%), und ein Fünftel aus der Ost- bzw. Weststeiermark (20,8%). Bei 7,8% fehlten Angaben bzw. betrafen sie Wohnorte außerhalb der Steiermark.

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Andrea Strutz

später im OFG verankerte Geldleistungen) bis auf wenige Ausnahmen den Besitz eines solchen Ausweises voraussetzte. Für das Anerkennungsverfahren ergibt sich im Sample über alle Instanzen hinweg eine Anerkennungsrate von 72,6%. Hingegen konnten 23,2% der Personen ihre Ansprüche gegenüber der OF-Behörde nicht durchsetzen.47 Getrennt nach Instanzen betrachtet, erhielten zwei Drittel der AntragstellerInnen (64,1%) einen positiven Bescheid in erster Instanz (Landeshauptmann). Im Zuge der Verfahren um Zuerkennung eines Opferstatus ist eine überaus hohe Anzahl an Berufungen zu beobachten, denn knapp mehr als jede/r zweite AntragstellerIn (375 Verfahren, 56,5%), der/die zufolge der Entscheidung in der ersten Instanz eine Ablehnung erfuhr, legte das Rechtsmittel der Berufung ein. Allerdings bestätigten die Rechtsmittelverfahren in einem hohen Ausmaß die Entscheidungen der ersten Instanz über die Nicht-Zuerkennung eines Opferausweises bzw. einer Amtsbescheinigung, denn nur bei jeder sechsten Berufung wurde der bekämpfte Bescheid der ersten Instanz durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (zweite Instanz) abgeändert (15,2%). Für die Opfergruppe der „Politischen“ ergibt sich eine Anerkennungsquote von 74,6%, während 21,8% der Anspruchsanmeldungen in dieser Opfergruppe abgelehnt wurden. Ferner endeten 1,8% der Verfahren ohne Bescheid, die restlichen Anträge wurden zurückgezogen. Diejenigen, die sowohl Schädigungen aus der Zeit des Austrofaschismus als auch aus der NS-Zeit aufwiesen, zeigen die höchste Zuerkennungsquote innerhalb dieser Opfergruppe (81,6%). Bei den Opfern der politischen Verfolgung im „Ständestaat“ (323 Verfahren) sinkt dieser Wert gegenüber der vorgenannten Gruppe um sieben Prozentpunkte (74,3%). Ein Grund ist im unzureichenden Ausmaß des erlittenen Freiheitsverlustes im Sinne des OFG zu finden, denn knapp die Hälfte der Ablehnungen der OF-Behörde beruhte maßgeblich darauf, dass die angeführten Haftzeiten unter dem erforderlichen Schädigungsausmaß von mindestens drei Monaten lag. Bei weiteren Anträgen aus dieser Opfergruppe war nach Ansicht der OF-Behörde das Ausmaß der erlittenen Einkommensschädigung (der Einkommensschaden musste mindestens 50% über dreieinhalb Jahre betragen) zu gering. 48 In der Opfergruppe „Politisch 38–45“, die mit 1.116 Anträgen das Gros der Anmeldungen darstellt, wurde für 73,9% die Ausstellung eines Ausweises von der steirischen OF-Behörde befürwortet. Die Quote liegt damit nur knapp höher als der Durchschnitt. 47 Ferner weisen 2,2% der Verfahren keine bescheidmäßige Erledigung im Akt auf, und 2,1% der Anträge wurden im Zuge des Verfahrens von den AntragstellerInnen zurückgezogen. Diese Werte beziehen sich auf den endgültigen Ausgang des jeweiligen Anerkennungsverfahrens nach Ausschöpfung aller Instanzen. 48 Detailergebnisse betreffend die steirischen Februarkämpfer siehe Andrea Strutz, „Kämpfer für die Demokratie“. Die Behandlung von steirischen Februarkämpfern durch die Opferfürsorge, in: Heimo Halbrainer/Martin F. Polaschek (Hrsg.), Aufstand, Putsch und Diktatur. Das Jahr 1934 in der Steiermark (Clio. Historische und gesellschaftspolitische Schriften 3), Graz 2007, 69–85.

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Neben formalen Bedingungen spielte vor allem in dieser Opfergruppe ein weiterer Faktor eine zentrale Rolle für die Zuerkennung eines Opferstatus. Gemäß der engen Definition von „Widerstand“ im Opferfürsorgerecht werden nur politisch motivierte Aktivitäten anerkannt, denn „für die Opferfürsorge zählte nur ausdrücklich politische Aktivität gegen den Nationalsozialismus als Widerstand, dem aber der Widerstand gegen das autoritäre Regime 1933/34 trotz der doch deutlich weniger schwer wiegenden Konsequenzen in diesen Jahren gleichgestellt wird. Vorgeblich unpolitische oppositionelle Handlungen, obwohl diese zu Inhaftierungen, KZ-Haft oder gar Hinrichtungen führen konnten, finden nur in engen Grenzen Berücksichtigung.“49 Gemäß dem Opferfürsorgeerlass 1948 musste einer anpruchsbegründenden Tat ein glaubwürdiges „politisches Motiv“ zugrunde liegen. Wer also für eine Verurteilung oder Inhaftierung zwischen 1933 und 1945 kein „politisches Motiv“ glaubhaft machen konnte, „wobei politisch meist im Sinne von parteipolitischer Orientierung begriffen wurde“50, wurde in der Regel abgewiesen. Dies trifft insbesondere für eine Verfolgung während der NS-Herrschaft wegen „verbotenen Umgangs“ mit Kriegsgefangenen und „Fremden“ 51, „Zersetzung der Wehrkraft“52, „Fahnenflucht“ oder Verstößen gegen die Kriegswirtschaftsverordnung53 zu. In abgeschwächter Form waren davon – wie auch die Ergebnisse der regionalen Vollzugspraxis am Beispiel der Steiermark zeigen – ebenso Verurteilungen nach dem „Heimtückegesetz“ bzw. nach der „Verordnung für außerordentliche Rundfunkmaßnahmen“ betroffen. Die Motivation für Widerstandshandlungen wog in der Bewertung durch die OF-Behörden also schwerer als das Faktum der erlittenen Verfolgung durch das NS-Regime und die damit verbundenen Auswirkungen. So konnten Personen, die wegen Hilfeleistungen für NS-Verfolgte aus humanitären bzw. aus Gründen der Freundschaft oder Verwandtschaft inhaftiert worden waren, im Opferfürsorgerecht keine Ansprüche geltend machen.54 49 Bailer-Galanda, Die Opfer des Nationalsozialismus und die so genannte Wiedergutmachung (wie Anm. 35) 893. 50 Ebda. 51 Verordnung zur Ergänzung der Strafvorschriften zum Schutze der Wehrkraft des deutschen Volkes vom 25. November 1939, RGBl. I, 2319, ausgegeben am 30. November (§ 4 regelt den verbotenen Umgang mit Kriegsgefangenen); Verordnung über den Umgang mit Kriegsgefangenen vom 11. Mai 1940, RGBl. I, 769. 52 Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) vom 17. August 1938, RGBl. 1939 I, 1455 idF der Ergänzungsverordnung vom 1. November 1939, RGBl. I, 2131; vom 27. Februar 1940, RGBl. I, 445; vom 10. Oktober 1940, RGBl. I, 1632. 53 Kriegswirtschaftsverordnung (KWVO) vom 4. September 1939, RGBl. I, 1609 und nachfolgende Verordnungen. Unter diese Verstöße fielen beispielsweise das „Schwarzschlachten“ und die Nichtablieferung von Waren, Gütern oder Lebensmitteln. 54 Zur Problematik des Nachweises eines „politischen Motivs“ bei steirischen AntragstellerInnen vgl. Strutz, Wieder gut gemacht? (wie Anm. 10) 223–250.

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Andrea Strutz

Die Gruppe der „Opfer aus Gründen der Abstammung“ besteht aus Personen, die während der NS-Herrschaft als „Zigeuner“ bzw. als Juden und Jüdinnen systematisch verfolgt wurden.55 Die jüdischen Verfolgten (133 Anträge auf Zuerkennung eines Opferausweises oder einer Amtsbescheinigung) zeigen eine Anerkennungsquote von 74,4%, während die Anspruchsanmeldungen von „Zigeunern“ auf Zuerkennung eines Opferstatus (10 Verfahren) nur zur Hälfte (50%) akzeptiert wurden. Die Ablehnungen in der Opfergruppe der jüdischen Verfolgten basierten hauptsächlich darauf, dass das Ausmaß der angeführten Schädigungen (vor allem Einkommensschäden) nach Ansicht der OF-Behörde unzureichend war. Die weiteren Ablehnungen der Anträge von jüdischen Verfolgten bezogen sich auf verschiedene Formen von Freiheitsverlusten, die aber in der Zeit zwischen 1945 und 1964 nicht als „Haft“ im Sinn des OFG gewertet wurden und daher auch nicht anspruchsbegründend waren. Das betraf v. a. Zwangsanhaltungen in Ghettos und Sammellagern oder das Leben im Verborgenen. Auch eine Vertreibung aus Österreich galt in der damaligen Fassung des OFG noch nicht als anspruchsbegründend.56 Zudem gab es in mehreren Fällen die Schwierigkeit, glaubwürdige Nachweise für die erlittene Verfolgung beizubringen. Da die Beweislast bei den AnspruchswerberInnen lag, sprach die OF-Behörde in Fällen, in denen Nachweise aus unterschiedlichsten Gründen nicht beigebracht werden konnten, eine Ablehnung aus.57 Von den geschätzten 11.000 vor 1938 in Österreich (vor allem im Burgenland) lebenden „Zigeuner“ überlebten nur 1.500 bis 2.000 die NS-Zeit.58 Der Großteil der Überlebenden weist jahrelange Anhaltungen in Arbeits-, Konzentrations- oder Vernichtungslagern auf, dennoch wurden die OF-Anträge von Roma und Romnia im Vergleich mit anderen Opfergruppen überdurchschnittlich oft abgewiesen. Ein wesentlicher Grund für die geringere Anerkennungsquote bei „Zigeunern“ besteht darin, dass vorgebrachte Anhaltungen und Internierungen in verschiedenen Lagern (z. B. Leoben-Hinterberg, Lackenbach, SalzburgMaxglan) oft nicht anerkannt wurden.59 Der Grund, warum es für diese Gruppe so schwierig 55 Insgesamt wurde die Gruppe der „Opfer aus Gründen der Abstammung“ in der Steiermark zu 72,7% positiv bewertet und liegt mit diesem Wert genau im Durchschnitt der Zuerkennungsrate im steirischen Sample. 56 Der Gesetzgeber spricht in diesem Zusammenhang von „Emigration“, vgl. Berger et al., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“ (wie Anm. 8) 57. Erst seit der 20. OFG-Novelle 1969 ist eine Vertreibung relevant für die Zuerkennung eines Opferausweises oder einer Amtsbescheinigung, jedoch wirkte sich diese Änderung des OFG in den untersuchten Akten nicht mehr aus. 57 Vertiefende Erkenntnisse über die Opferfürsorgepraxis bei jüdischen NS-Opfern in der Steiermark finden sich bei Andrea Strutz, Opferfürsorgemaßnahmen für jüdische Verfolgte in der Steiermark zwischen 1945 und 1964, in: zeitgeschichte 32 (2005) 3, 151–179. 58 Vgl. Freund/Baumgartner/Greifeneder, Vermögensentzug (wie Anm. 11) 54 und 244. 59 Vgl. ebda., 238–241. Ehemalige Häftlinge von Lackenbach (Burgenland) sind erst seit 1988 anspruchsberechtigt, da Lackenbach als Arbeitslager galt. Inhaftierungen in einem Arbeitslager (v. a.

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war, ihre Ansprüche nach dem Opferfürsorgegesetz durchzusetzen, besteht darin, dass sie vom NS-Unrechtsregime nicht nur aus „rassischen“ Gründen, sondern auch wegen ihrer angeblichen „Asozialität“ verfolgt worden waren. Die ausführenden OF-Behörden übernahmen – wie auch die Analyse der steirischen Opferfürsorgeverfahren bis 1964 zeigt – oftmals die Zuschreibungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, um eine Anspruchsberechtigung zu bewerten. Jedoch wurden die Entstehungszusammenhänge von Nachweisen über die erlittene NS-Verfolgung und den in diesen Dokumenten vorhandenen Zuschreibungen und Bewertungen der Opfer durch die NS-Behörden (z. B. in Urteilen, Anklageschriften, Verfügungen der NS-Behörden, Auszügen aus Haftbüchern von Gefängnissen und Konzentrationslagern etc.) von den OF-Behörden nicht hinterfragt. Die überlebenden Roma wurden im Zuge ihrer Opferfürsorgeverfahren damit konfrontiert, dass „nationalsozialistische soziokulturelle Muster und Bewertungen nicht mit dem Jahr 1945 endeten“.60 Sie wurden weiterhin mit Zuschreibungen aus der NS-Zeit – „Asoziale“, „Arbeitsscheue“ oder „Kriminelle“ – versehen, blieben aufgrund der vorherrschenden gesellschaftlichen Stigmatisierung und des Fehlens einer Lobby als Opfergruppe in der praktischen Vollziehung des Opferfürsorgegesetzes stark benachteiligt bzw. ausgeschlossen. Den höchsten Wert im steirischen Sample hinsichtlich einer Anerkennung verzeichnen die „Opfer aus Gründen der Religion“ bzw. deren Hinterbliebene mit 88,5% (26 Anspruchsanmeldungen). Alle Eingaben wurden bearbeitet, kein Antrag wurde zurückgezogen. Drei Ablehnungen wurden ausgesprochen, da die Schädigung aus Sicht der OF-Behörde nicht auf einer politischen Verfolgung beruhte bzw. Hinterbliebene keinen Anspruch auf eine Anerkennung im Sinne des OFG hatten. In den untersuchten Akten scheinen auch vier Opfer der NS-„Rassenhygiene“ auf. In drei Fällen brachten Hinterbliebene von in der „Euthanasieanstalt“ Hartheim ermordeten Personen eine Anspruchsanmeldung ein,61 und in einem weiteren Fall war der Antragsteller Opfer einer Zwangssterilisation nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“,62 die aus Gründen einer angeblichen „Asozialität“) begründeten in der damaligen Fassung des OFG keinen Anspruch auf Anerkennung. Von dieser Ansicht waren in der Steiermark weitere Lager wie z. B. Leoben-Hinterberg oder Frauenberg bei Admont betroffen. 60 Erika Thurner, Die Roma – Opfer von NS-Verfolgung und Nachkriegsentschädigung, in: Eleonore Lappin/ Bernhard Schneider (Hrsg.), Die Lebendigkeit der Geschichte. (Dis-)Kontinuitäten in Diskursen über den Nationalsozialismus (Österreichische und Internationale Literaturprozesse 13), St. Ingbert 2001, 157–169, 162. 61 Vermutlich wurden zwischen 1940 und 1944 mehr als 28.000 Menschen in der Gaskammer des Schlosses Hartheim ermordet, vgl. , 30. Juli 2009. Zur Steiermark siehe Wolfgang Freidl/Werner Sauer (Hrsg.), NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument. Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie in der Steiermark, Wien 2004. 62 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, RGBl. I, 25. Juli 1933, 529. Vgl. zu

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laut den Angaben im Akt am LKH Graz durchgeführt worden war. Diese Anspruchsanmeldungen endeten ausnahmslos negativ; in den Bescheiden des Amtes der Steiermärkischen Landesregierung wurde argumentiert, dass Überstellungen nach Hartheim „nicht aus politischen Gründen“ erfolgt wären, und es wurde festgehalten, dass „Euthanasie nicht unter das OFG fällt“.63 Der Gesetzgeber hatte diese Opfergruppe in der damaligen Fassung des Opferfürsorgegesetzes überhaupt nicht berücksichtigt. Dies wurde erst im Jahr 1995 unter dem Passus „Opfer aufgrund einer Behinderung“ nachgeholt.64 Personen, die Anerkennung fanden, erhielten entsprechend ihrer erlittenen Schädigung vom Amt der Steiermärkischen Landesregierung einen Opferausweis bzw. eine Amtsbescheinigung. An dieser Stelle sei zusammenfassend noch einmal darauf hingewiesen, dass das Opferfürsorgegesetz über einen selektiven Opferbegriff verfügt, der den „Opfern des Kampfes“ (als „aktive“ Opfergruppe tituliert) und den „Opfern der politischen Verfolgung“ als „passiv“ zu Schaden gekommene Opfergruppe einen unterschiedlichen Opferstatus zuschreibt, was zu wesentlichen Unterschieden in den Rechtsfolgen führte und noch immer führt. So hatten anfänglich nur die „Opfer des Kampfes“ Anspruch auf eine Amtsbescheinigung und auf Rentenleistungen zur Existenzsicherung. Alle übrigen Verfolgungsopfer erhalten bis heute einen gegenüber der Amtsbescheinigung vergleichsweise „wertlosen“ Opferausweis,65 der zwar zu Steuererleichterungen oder zu Begünstigungen bei Wohnungs- und Arbeitsplatzvergaben berechtigt(e), jedoch nicht zum Bezug von fortlaufenden materiellen Leistungen wie Rentenzahlungen. Spätere Novellierungen brachten in diesem Zusammenhang Verbesserungen für AntragstellerInnen in der „passiven“ Gruppe der Verfolgungsopfer mit sich, da sie ab der vierten Novelle des Opferfürsorgegesetzes im Jahr 194966 beim Vorliegen einer schweren Gesundheitsschädigung ebenfalls eine Amtsbescheinigung beantragen und damit auch einen Rentenantrag einbringen konnten. „Damit waren viele jener jüdischen NS-Opfer erfaßt, die wohl keine entsprechenden Haftzeiten aufzuweisen hatten, die jedoch infolge der Verfolgung ihre Gesundheit in erheblichem Ausmaß eingebüßt hatten.“67 In der Stichprobe wurden zwischen 1945 und 1964 von der steirischen OF-Behörde 1.336 Ausweise ausgestellt, und zwar 807 Amtsbescheinigungen und 529 Opferausweise. Auffallend ist, dass das Amt der Steiermärkischen Landesregierung die Amtsbescheinigungen und

63 64 65 66 67

diesen Anspruchsanmeldungen auf „Wiedergutmachung“ nach 1945 Claudia Andrea Spring, Zwischen Krieg und Euthanasie. Zwangssterilisationen in Wien 1940–1945, Wien–Köln–Weimar 2009. Vgl. Steiermärkisches Landesarchiv, Opferfürsorgeakt, L. Reg. Ro85/1958. Für weitere Detailergebnisse bei steirischen OF-Verfahren und Fallgeschichten siehe Strutz, Wieder gut gemacht? (wie Anm. 10) 112–125 und 170–250. Vgl. Clemens Jabloner et al., Schlussbericht der Historikerkommission (wie Anm. 5) 417. Novelle des OFG, BGBl. 198/1949. Bailer, Wiedergutmachung kein Thema (wie Anm. 4) 60.

447

Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus

Opferausweise im Verhältnis von 3:2 ausstellte. Der Anteil der „aktiven Kämpfer“ unter den anerkannten Personen war in der Steiermark also wesentlich höher als der Anteil der „passiven“ Opfer. Dazu stellt die Historikerkommission in ihren Arbeiten fest, dass das Verhältnis zwischen „aktiven“ und „passiven“ Opfern in den österreichischen Bundesländern beträchtlich variiert. Eine Begründung für den hohen Anteil der „aktiven Kämpfer“ in der Steiermark sieht die Historikerkommission in dem Umstand, dass in der Steiermark viele AntragstellerInnen ihre Anträge bereits gemäß dem ersten Opferfürsorgegesetz aus dem Jahr 1945 eingereicht hatten, das lediglich die „Opfer des Kampfes“, also im Wesentlichen WiderstandskämpferInnen, berücksichtigte.68 Diese Beobachtung wird durch die vorliegende Untersuchung gestützt, denn ein knappes Drittel der Verfahren um Anerkennung im steirischen Sample (30,3%) basierte auf Einreichungen gemäß dem OFG 1945. Zudem kommt die Historikerkommission zum Schluss, dass im Vergleich mit anderen Bundesländern in der Steiermark die angeführten Widerstandshandlungen großzügiger – also im Sinn der ehemals Verfolgten – beurteilt wurden: „Und, im Gegensatz zu den anderen von uns untersuchten Bundesländern, wurden Delikte wie Vorbereitung zum Hochverrat, regimekritische Äußerungen oder das Hören von Feindsendern, deren Bewertung als Widerstandshandlung im Ermessen der Behörden lag, als solche anerkannt.“69 Abbildung 2: Amtsbescheinigungen und Opferausweise im steirischen Sample Opfergruppe

AB

Prozent

OA

Prozent

Summe

Politisch 33–38

83

34,4%

156

65,6%

239

Politisch 38–45

563

68,6%

256

31,4%

819

Politisch 33–38 und 38–45

57

62,9%

36

37,1%

93

jüdische Abstammung

33

33,0%

66

67,0%

99

Abstammung „Zigeuner“

4

80,0%

1

20,0%

5

13

56,5%

10

43,5%

23

sonstige Gründe

3

75,0%

1

25,0%

4

sozial unangepasst lt. NS

2

100,0%

0

0,0%

2

49

94,2%

3

5,8%

52

807

60,4%

529

39,6%

1.336

Religiöse Verfolgung

nicht zuordenbar Gesamt

68 Vgl. Berger et al., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes“ (wie Anm. 8) 115. 69 Ebda. Hierbei ist allerdings einzuschränken, dass nicht jede Einreichung auf Basis eines solchen Deliktes „automatisch“ Anerkennung fand. Jedoch geht aus der Praxis der steirischen OF-Behörde hervor, dass z. B. Verurteilungen nach dem „Heimtückegesetz“ oder auch „Rundfunkvergehen“ überproportional oft berücksichtigt wurden, vgl. Strutz, Wieder gut gemacht? (wie Anm. 10) 223–250.

448

Andrea Strutz

Die Tabelle bildet die zuerkannten Ausweise in den auswertbaren Fällen zwischen 1945 und 1964 ab und zeigt, dass zwei Drittel der Personen aus der Opfergruppe „Politisch 38–45“ als „aktive“ Kämpfer bewertet wurden und eine Amtsbescheinigung erhielten. Um als „Opfer des Kampfes“ gewertet werden zu können, musste das Ausmaß der Haft nach der Festlegung im OFG 1947 „mindestens ein Jahr, sofern die Haft mit besonders schweren körperlichen oder seelischen Leiden verbunden war, mindestens sechs Monate“70 betragen. Bei den Abstammungsverfolgten wurde immerhin ein Drittel der AntragstellerInnen von der OF-Behörde als „aktive“ Opfer eingestuft und erhielt daher eine Amtsbescheinigung, die Voraussetzung für die Beantragung einer Opferrente war. Bis zum Jahr 2001 stellte die steirische OF-Behörde insgesamt 4.871 Ausweise aus, und zwar 3.393 Amtsbescheinigungen (69,7%) und 1.478 Opferausweise (30,3%).71 Der Unterschied im Verhältnis der zuerkannten Ausweise im Sample (60,4% AB zu 39,6% OA) im Vergleich zum Ergebnis des steirischen Opferfürsorgereferats erklärt sich vor allem durch das unterschiedliche Zeitintervall der Betrachtung, denn im Zuge der zahlreichen bis heute andauernden Novellierungen des Opferfürsorgegesetzes wurden neue Möglichkeiten geschaffen, als Opfer bzw. Hinterbliebene/r anerkannt zu werden bzw. einen Opferausweis gegen eine (höherwertige) Amtsbescheinigung umzutauschen.

Renten- und Entschädigungsleistungen in der Steiermark Opfer- und Hinterbliebenenrenten Das Opferfürsorgegesetz ist in seinen Rentenbestimmungen (z. B. Rentenarten, Rentenhöhen) an das Kriegsopferversorgungsgesetz (KOVG) gekoppelt.72 Eine solche Rentenversorgung wurde nur gewährt, wenn eine Gesundheitsschädigung (bzw. der Tod) kausal im Zusammenhang mit einer sogenannten Kriegsdienstbeschädigung stand. Für die Zuerkennung einer Rente war jedoch der Besitz einer Amtsbescheinigung unbedingte Voraussetzung, Personen, denen nur ein Opferausweis zugesprochen worden war, konnten keine Renten beziehen, was zu Härtefällen führte.73 Die Entscheidung über eine solche Zuerkennung traf 70 Siehe § 1 Abs. 1, lit. e des OFG/1947. 71 Interview mit Priska Polegek vom 2. September 2001. 72 Vgl. Ela Hornung, Hierarchisierung der Opfer. Zur Sozialgesetzgebung für Kriegsopfer nach 1945, in: Harald Knoll/Peter Ruggenthaler/Barbara Stelzl-Marx (Hrsg.), Konflikte und Kriege im 20. Jahrhundert. Aspekte ihrer Folgen (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für KriegsfolgenForschung, Sonderband 3), Graz–Wien–Klagenfurt 2002, 59–72, 71. 73 Im Schlussbericht der Historikerkommission wird kritisch angemerkt, dass es aus heutiger Sicht un-

Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus

449

die Rentenkommission beim Amt der jeweiligen Landesregierung. Für den Erhalt einer Opferrente musste eine „ausreichende“ Gesundheitsschädigung mittels eines amts- oder fachärztlichen Gutachtens nachgewiesen werden, das den kausalen Zusammenhang des Gesundheitsschadens mit der Haft bzw. der Verfolgung dokumentierte. Der Nachweis einer solchen Kausalität war für viele AntragstellerInnen mit großen Anstrengungen und einem hohen Zeitaufwand verbunden.74 In einigen Rentenverfahren lassen sich mangelnde Sensibilitäten vonseiten der Behörden gegenüber der Lage der Opfer feststellen. Es war keine Seltenheit, dass Verfahren mehrere Jahre dauerten, zudem waren die Opfer oft unzureichend informiert, welche Beweismittel sie zur Klärung ihrer Ansprüche vorlegen mussten. Die zum Teil mehrmals durchgeführten Untersuchungen waren nicht nur eine finanzielle, sondern auch eine psychische Belastung für die Opfer, da sie dabei immer wieder mit dem Erlebnis ihrer Verfolgung konfrontiert wurden.75 Die Höhe der bescheiden dotierten Opferrenten orientierte sich am Ausmaß des physischen Gesundheitsschadens.76 Witwen und Kinder konnten eine Hinterbliebenenrente beantragen. Lag das Einkommen der Antragstellenden unter dem Existenzminimum, so konnte zusätzlich eine Unterhaltsrente bzw. eine Zusatzrente beantragt werden. Im steirischen Sample wurden 625 Rentenverfahren um Erhalt einer Opfer-, Hinterbliebenen-, Unterhalts- oder Zusatzrente nach dem OFG 1947 eingeleitet. Zwei Drittel aller Rentenanträge (71,2%) wurden befürwortet und eine Rentenart nach dem OFG 1947 zuerkannt. Untersucht man die unterschiedlichen Rentenarten nach dem OFG, dann ergibt sich ein anderes Bild: Nur weniger als die Hälfte der angestrengten Verfahren um Zuerkennung einer Opferrente (175) endete im Sample positiv (48,6%); damit wurde diese Rentenleistung am seltensten zuerkannt. Dies kann als Indiz dafür herangezogen werden, wie schwierig der Nachweis der Kausalität einer bestehenden Gesundheitsschädigung mit der erlittenen Verfolgung für die AntragstellerInnen war, das war auch der von der Behörde am häufigsten herangezogene Ablehnungsgrund. Gerade 85 Personen im Sample erhielten tatsächlich eine Opferrente. Bei den Verfahren um Gewährung einer Hinterbliebenenrente ist im Gegensatz zu den

verständlich ist, warum InhaberInnen eines Opferausweises nicht wenigstens eine Unterhaltsrente zur Sicherung der Existenz erhalten können, vgl. Clemens Jabloner et al., Schlussbericht der Historikerkommission (wie Anm. 5) 417. 74 Voraussetzung war eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) im Ausmaß von mindestens 30%. 75 Die Kosten eines fachärztlichen Gutachtens gingen zu Lasten der AnspruchswerberInnen, wurden allerdings bei Zuerkennung einer Amtsbescheinigung ersetzt. Zur Bewertung und Anerkennung von Gesundheitsschäden durch die OF-Behörden vgl. Berger et al., Vollzugspraxis des „Opferfürsorgegesetzes (wie Anm. 8) 181–213; Strutz, Wieder gut gemacht? (wie Anm. 10) 126–147. 76 Die monatliche Opferrente betrug 1949 in der niedrigsten Stufe (bei einer MdE von 30%) 20 Schilling, die höchste (bei einer MdE von 90% oder mehr) 280 Schilling; zum Vergleich, der durchschnittliche wöchentliche Nettoverdienst eines männlichen Arbeiters betrug 1950 rund 240 Schilling.

450

Andrea Strutz

Opferrenten eine wesentlich höhere Zuerkennungsrate erkennbar, denn für drei Viertel der Verfahren wurde eine Hinterbliebenenrente bewilligt (149 Verfahren). Die überwiegende Mehrheit der Ablehnungen bezog sich darauf, dass zwischen dem Tod des Opfers und der Verfolgung keine Kausalität bestünde, in geringerem Ausmaß beruhten sie darauf, dass keine Unterhaltspflicht des Opfers und somit auch kein Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente gegeben wäre. Ein Anhaltspunkt für die zum Teil prekäre finanzielle Lage der Opfer bzw. Hinterbliebenen ist der hohe Prozentsatz an bewilligten Unterhaltsrenten in der Stichprobe, denn diese Leistung wurde im steirischen Sample am häufigsten gewährt. Von 176 Beantragungen endeten 153 mit einer Zuerkennung (86,9 %). Die AntragstellerInnen erhielten – zumindest für einen gewissen Zeitraum – eine dringend notwendige finanzielle Unterstützung in Form einer Unterhaltsrente bzw. Teilunterhaltsrente zugesprochen. Obwohl eine große soziale Bedürftigkeit bei den NS-Opfern bzw. deren Hinterbliebenen nach Kriegsende vorherrschte, wurden Rentenleistungen nach dem OFG 1947 von den Behörden nur „sparsam“ gewährt, und manchmal wurden Mittel für die Opferfürsorge im Bundesfinanzgesetz gar nicht voll ausgeschöpft. Die größte Anzahl an RentenempfängerInnen (Opfer und Hinterbliebene) gab es in Österreich im Jahr 1956 mit 9.500 Personen. Danach sank die Zahl der RentenempfängerInnen stetig, und zwar 1962 auf 9.000 Personen, 1990 auf 3.552 Personen, und im Jahr 2006 gab es bundesweit noch 1.969 RentenempfängerInnen.77

Entschädigungsleistungen nach dem Opferfürsorgegesetz Wie aus der zeitgenössischen Diskussion zum Opferfürsorgegesetz im Nationalrat hervorgeht, sollte es sich lediglich um eine Fürsorgemaßnahme, aber nicht um eine Maßnahme zur „Wiedergutmachung“ gegenüber den Opfern der NS-Verfolgung handeln.78 Im Laufe seiner Novellen wurde das „Opferfürsorgegesetz“ jedoch um Komponenten der Entschädigung erweitert. Insgesamt umfasst das Leistungsspektrum neben Rentenzahlungen79 auch einmalige, zumeist pauschalierte Entschädigungsleistungen. So wurde ab der 7. OFG-Novelle im Jahr 195280 eine Haftentschädigung gewährt (431,20 Schilling pro nachgewiesenem Haftmonat). 77 Vgl. Strutz, Wieder gut gemacht (wie Anm. 10) 144–147. 78 Vgl. Stenographisches Protokoll der beschlussfassenden Sitzung zum OFG am 4. Juli 1947, 5. GP, 59. Sitzung, 1608. 79 Der Jurist Walter J. Pfeil bewertet in seiner Analyse die Opfer- und Hinterbliebenenrenten als Entschädigungsleistungen; vgl. Pfeil, Die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus im österreichischen Sozialrecht (wie Anm. 7) 85. 80 Vgl. BGBl. 180/1952.

Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus

451

Durch die 12. OFG-Novelle 1961 wurde die Haftentschädigung auf den bis heute unveränderten Betrag von 860 Schilling pro Haftmonat erhöht, wobei ein gesonderter Antrag auf Auszahlung des Differenzbetrags einzubringen war.81 Allerdings galt im OFG 1947 nicht jede Freiheitsberaubung als Haft. Nach dem „Opferfürsorgegesetz“ wurde nur eine polizeiliche oder gerichtliche Inhaftierung als „Haft“ gewertet. Andere Freiheitsbeschränkungen wie jahrelange Anhaltungen in Ghettos (z. B. Ghetto Honkew/Shanghai), in Sammel- oder Arbeitslagern (z. B. in der Steiermark in Leoben-Hinterberg, Frauenberg bei Admont, Lackenbach etc.) wurden nicht per se als anspruchsbegründende Schädigung gewertet, was sich vor allem in Anerkennungsverfahren von Roma und Romnia und jüdischen Opfern häufig negativ auswirkte. In der Stichprobe weisen insgesamt 996 Opferfürsorgeakten Anträge auf Haftentschädigungen bzw. auf Zuerkennung des Erhöhungsbeitrages auf, statistisch gesehen wurde in rund jedem zweiten Fall im Sample ein Haftentschädigungsverfahren eingebracht. Trotz der restriktiven Definition von „Haft“ gab es in der praktischen Vollziehung der steirischen OF-Behörde bei den Verfahren um Haftentschädigung eine verhältnismäßig hohe Zuerkennungsrate. Die Haftentschädigungsanträge der Opfer bzw. Hinterbliebenen im Zuge der 7. OFG-Novelle 1952 wurden zu 79,1% (722 Verfahren) bewilligt. Für Anträge gemäß der 12. OFG-Novelle 1961 beträgt die Zuerkennungsquote sogar 91,5%.82 Die Ablehnungen hatten verschiedene Ursachen, wie z. B. fehlende Nachweise für einen bestimmten Zeitraum oder Ort der Anhaltung, bzw. wurden von der OF-Behörde bestimmte Haftstätten im Untersuchungszeitraum nicht akzeptiert, da sie in der nur zögerlich erweiterten Liste der anerkannten Haftorte des Ministeriums nicht aufschienen. Ab 1961 gab es weitere einmalige, pauschalierte Geldleistungen, und zwar für einen erlittenen Einkommensschaden 10.000 Schilling, für Ausbildungsschäden 6.000 Schilling und für das erzwungene Tragen des Judensterns über mindestens sechs Monate wurden ebenfalls 6.000 Schilling gewährt. Ab diesem Zeitpunkt wurden auch Entschädigungsleistungen für Freiheitsberaubungen bewilligt, die nach den restriktiven Bestimmungen des OFG 1947 keinen Haftcharakter aufwiesen und daher nicht im Wege einer Haftentschädigung berücksichtigt wurden. Jedoch war die Entschädigungsleistung für Freiheitsberaubungen (pro Monat 350 Schilling) – darunter fiel auch ein Leben im Verborgenen unter „menschenunwürdigen Bedingungen“ auf dem Gebiet der Republik Österreich („U-Boot“) – wesentlich geringer als jene, die für eine polizeiliche oder gerichtliche Haft (860 Schilling) gewährt wurde. 81 OFG-Novelle BGBl. 101/1961; die Fassung des OFG vom 25. Februar 2011 weist den Betrag von 62,50 Euro aus. 82 Dies erklärt sich daraus, dass die Ansprüche des Gros der AntragstellerInnen schon bei der ersten Einreichung auf Haftentschädigung in den Jahren 1952 bzw. 1953 überprüft worden waren.

452

Andrea Strutz

Abbildung 3: Übersicht über die in der steirischen Stichprobe zwischen 1945 und 1964 bewilligten Opferausweise, Amtsbescheinigungen, Renten- und Entschädigungsleistungen. Bewilligte Leistungen in steirischen OF-Verfahren Leistungen im Detail (1945–1964) Anerkennung (Opfer/Hinterbliebene) Renten

1.336 445

Amtsbescheinigung

807

Opferausweis

529

Opferrente

777

149

Unterhaltsrente

153

Heilfürsorge

168

154

58

HE gem. 7. u. 12. OFG-Nov.

556

HE gem. 7. OFG-Nov.

172

HE gem.12. OFG Entschädigungen gem. 12. u. 16. OFGNovelle

85

Hinterbliebenenrente Zusatz-, Überbrückungs- o. Gnadenrente Haftentschädigungen (HE)

Anzahl

49

Einkommensschaden

106

Freiheitsbeschränkung

54

Abbruch d. Berufs- u. Schulausbildung

6

Tragen des Judensternes

2

Heilfürsorge Kinderfürsorge

128 26

In der Stichprobe sind 151 Anträge hinsichtlich der Gewährung einer Entschädigung für einen verfolgungsbedingten Einkommensverlust vorhanden. Ein Viertel der Beantragungen stammt von jüdischen Verfolgten, die restlichen Anträge fast zur Gänze aus der Opfergruppe der aus politischen Gründen verfolgten Personen. 70,2% der Anträge (106) auf Kompensierung eines Einkommensverlustes wurden bewilligt. Ablehnungen wurden hauptsächlich ausgesprochen, weil die AntragstellerInnen bereits eine Leistung nach dem Beamtenentschädigungsgesetz erhalten hatten, die nach den Bestimmungen des OFG auf eine Entschädigung für einen Einkommensverlust anzurechnen war,83 bzw. weil nach Ansicht der Behörde das geforderte Ausmaß des Einkommensverlustes nicht ausreichend gewesen wäre. Weitere 24 Anträge betrafen ein erzwungenes Leben im Verborgenen, wobei ein Drittel der Anträge von jüdischen Verfolgten stammte. Die anderen zwei Drittel waren Eingaben 83 Beamtenentschädigungsgesetz, BGBl. 181/1951.

Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus

453

von Personen, die – v. a. 1944 oder 1945 – wegen einer drohenden Verhaftung aufgrund ihres politischen Einsatzes gegen den Nationalsozialismus (z. B. Mitarbeit in einer Widerstandsgruppe, Desertion in Zusammenhang mit dem Freiheitskampf ) untergetaucht waren. Diese Anträge weisen unter den Entschädigungsleistungen die höchste Bewilligungsquote auf (91,7%). Niedrige Bewilligungsquoten weisen die vier Anträge auf Entschädigung für das Tragen des Judensterns auf, denn nur zwei Anträge endeten mit einem positiven Bescheid (50%). Auch Anträge bezüglich einer Entschädigung für den Abbruch der Berufsausbildung wurden nur zur Hälfte anerkannt. Die Ablehnungen wurden ausgesprochen, da die AntragstellerInnen keinen Opferausweis bzw. keine Amtsbescheinigung besaßen bzw. die Unterbrechung der Ausbildung nicht das geforderte Ausmaß von dreieinhalb Jahren erreichte.

Resümee Die strengen Bestimmungen des Opferfürsorgegesetzes (v. a. die zahlreichen Fristen bzw. die gesonderte Antragseinbringung für Anerkennung, Entschädigungsleistungen bzw. Renten) wirkten auf ehemals politisch Verfolgte wie ein Labyrinth, in dem sich etliche von ihnen nur äußerst schwer zurechtfanden. Zwar erhielten ehemals politisch Verfolgte durch die Opferverbände (KZ-Verband, Bund der sozialistischen Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus, ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten, und später auch durch die Israelitische Kultusgemeinde) Beratung und Unterstützung, doch Opfer der NS-Verfolgung wie angeblich „Asoziale“ oder „Zigeuner“ hatten einen großen Informationsnachteil, da sie von den Opferverbänden weder akzeptiert noch vertreten wurden.84 Aus der Ausgestaltung des Opferfürsorgegesetzes als „überaus kasuistisches, auf eine Vielzahl von mehr oder weniger punktuellen Einzeltatbeständen abstellendes Gesetz“85 resultierte selbst für ExpertInnen eine schlechte Verständlichkeit, „womit die Vollzugsorgane zwangsläufig an Gewicht gewannen“.86 An dieser komplexen Ausprägung haben die zahlreichen Novellierungen des Gesetzes – das OFG wurde seit 1947 über sechzigmal modifiziert – nichts geändert. Die Ergebnisse der Untersuchung der regionalen Vollzugspraxis des Opferfürsorgegesetzes am Beispiel der Steiermark ergeben ein sehr differenziertes Bild. Einerseits endeten die unter84 Vgl. dazu auch Bailer, Wiedergutmachung kein Thema (wie Anm. 4) 231. 85 Pfeil, Die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus im österreichischen Sozialrecht (wie Anm. 7) 248. 86 Ebda., 249.

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Andrea Strutz

suchten OF-Verfahren auf Ausstellung eines Opferausweises bzw. einer Amtsbescheinigung in einem überaus hohen Ausmaß (73,9%) positiv im Sinn der AntragstellerInnen. Andererseits traten in der Analyse der regionalen Vollzugspraxis am Beispiel der Steiermark Unzulänglichkeiten des Gesetzes klar zutage, die in der Untersuchung der Historikerkommission ebenfalls kritisiert wurden. Das sind u. a. die enge Auslegung der anerkennungswürdigen Schädigungen, aufwendiger Verfahrensablauf, da für jede Leistung ein gesonderter Antrag eingebracht werden musste, die zahlreichen Fristen, die erst im Jahr 1957 gestrichen wurden, die lange Bearbeitungsdauer, besonders bei Berufungen, die fallgruppenbezogene restriktive und ungerechte Behandlung von Opfergruppen, die unreflektierte Übernahme von Zuschreibungen aus der NS-Zeit und die geringe Wahrnehmung von interpretativen Spielräumen durch die OF-Behörden. Auch ein gewisser Informationsmangel der Betroffenen über die Rechtslage bzw. eine fehlende Lobby für einzelne Opfergruppen wie bei den Roma und Romnia und Sinti und Sintessa wurden in der Untersuchung sichtbar. Die regionale Vollzugspraxis der Opferfürsorge in der Steiermark war generell von einer strengen und stark formalisierten Anwendung der Bestimmungen des OFG durch die OF-Behörde bestimmt, die im Untersuchungszeitraum von 1945 bis 1964 viel zu wenig den Grundsätzen einer sozialen Rechtsanwendung entsprach.87 Diese Praxis führte in jenen Jahren, in denen ehemals politische Verfolgte eine rasche und sinnvolle Unterstützung durch die Maßnahmen der Opferfürsorge benötigt hätten, in etlichen Fällen zu einer ungerechten und unangemessenen Behandlung. Die zahlreichen Verbesserungen im OFG, die vor allem seit den 1980er-Jahren eingeführt wurden, kamen für viele Betroffene aus der untersuchten Stichprobe über den praktischen Vollzug der Opferfürsorge in der Steiermark allerdings zu spät.

87 Vgl. Bailer, Wiedergutmachung kein Thema (wie Anm. 4) 231.

Kunstrückgabe nach 1945 in der Steiermark am Beispiel des Landesmuseums Joanneum* Karin Leitner-Ruhe

Die Abwicklung der Kunstrückgabe1 nach 1945 in der Steiermark ist eng mit Wien verbunden – wie auch während der NS-Zeit die Beschlagnahmungen und Verteilungen von Kunstwerken an die Museen hauptsächlich von Wien aus organisiert und durchgeführt wurden.

I. Enteignungen und Verteilung der enteigneten Güter ­während der Kriegszeit Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1938 – und durch die damit voran­ getriebene, schrittweise gesetzlich geregelte Entrechtung jüdischer BürgerInnen – erfolgten bereits einen Tag nach dem „Anschluss“ Beschlagnahmungen und Sicherstellungen von Vermögenswerten verfolgter Personen.2 Unter anderem mussten Jüdinnen und Juden bis 30. Juni * 1

2

Seit 2010 Universalmuseum Joanneum. Es hat sich in dieser Thematik der Begriff Kunstrückgabe eingebürgert (siehe Kunstrückgabegesetz von 1998 des Bundes), gemeint sind jedoch alle musealen Objekte, die während der NS-Zeit ihren Eigentümern unrechtmäßig weggenommen wurden, also auch unter anderem volkskundliche oder naturwissenschaftliche Inventarstücke. Einen anschaulichen Überblick zu den Restitutionen in den letzten zehn Jahren bietet die Publikation: Gabriele Anderl u. a. (Hrsg.), … wesentlich mehr Fälle als angenommen. 10 Jahre Kommission für Provenienzforschung (Schriftenreihe der Kommission für Provenienzforschung 1), Wien–Köln–Weimar 2009, in der unter anderem aus der Österreichischen Nationalbibliothek, dem Österreichischen Theatermuseum und dem Technischen Museum in Wien berichtet wird. Der bekannteste Name ist Rothschild: Am 12. März 1938 wurde ein Mitglied der wohl berühmtesten jüdischen Familie in Wien an seiner Ausreise gehindert: Louis Rothschild. Seine Brüder hatten sich, durch die Ereignisse in Deutschland vorgewarnt, bereits außer Landes begeben: Eugène hielt sich in Paris auf und Alphonse war in die Schweiz gereist. Als Louis Rothschild am 12. März nach Italien fliegen wollte, nahm man ihm kurzerhand seinen Reisepass ab. Am darauffolgenden Tag wurde er offiziell festgenommen und über ein Jahr nur aufgrund seiner Religionszugehörigkeit zum Judentum eingesperrt. Im Mai 1939 wurde er freigelassen und konnte ausreisen – nachdem er sich bereit erklärt hatte, sein gesamtes Vermögen und das seiner Brüder dem neuen Staat zu überlassen. Bereits am 14. März 1938 waren die beiden Wiener Palais von Louis und Alphonse Rothschild von der Gestapo versiegelt worden. In der Neuen Hofburg war ein Zentraldepot für beschlagnahmte Kunstwerke

456

Karin Leitner-Ruhe

1938 eine Vermögenserklärung abgeben, in welcher laut Formular land- und forstwirtschaftliches Vermögen, Grund und Boden, Betriebsvermögen und „Sonstiges“, insbesondere Kapitalvermögen angegeben werden mussten. Unter „Sonstiges“ waren Wertpapiere, Spareinlagen, Rentenrechte etc. einzutragen. Zwei eigene Punkte (IV g + h) betrafen „Gegenstände aus edlem Metall, Schmuck- und Luxusgegenstände, Kunstgegenstände und Sammlungen. Edelmetalle, Edelsteine und Perlen“. Letztere wurden bei einer höheren Anzahl auf eigenen Listen angeführt und diese in den Formularbogen eingelegt. Diese Listen waren eine geeignete Grundlage für die Erfassung vermögender Juden und einer daraus resultierenden systematischen Plünderung bzw. Beschlagnahmung von deren Haushalten. Anders als bei den Vermögensanmeldungen vieler Wiener Kunstsammlungen liegen bei jenen in der Steiermark die von Fachleuten erstellten Schätzlisten und selbst zusammengefassten Listen meistens noch bei. Beim Punkt IV g. „Schmuck- und Luxusgegenstände, Kunstgegenstände und Sammlungen“ sind vielfach Silber- und Goldgegenstände angeführt: Ketten, Ringe, Broschen, Zigarettendosen, Leuchter, Besteck etc. Wenn Gemälde oder Skulpturen angeführt werden, sind sie selten explizit bezeichnet, sodass eine Identifizierung heute beinahe unmöglich ist.3 Es folgten Sicherstellungen und Beschlagnahmungen, zum Teil durch unkontrollierte, nicht dokumentierte Hausdurchsuchungen und zum Teil durch Zurückhalten von Siedlungsgut, worauf die sogenannte „Vugesta“ (= Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Geheimen

3

eingerichtet worden und im Mai 1938 wurden die Kunstsammlungen der beiden Brüder Alphonse und Louis Rothschild in dieses Zentraldepot gebracht und neu inventarisiert – ein Jahr bevor Louis Rothschild überhaupt die erzwungene Einwilligung zur Veränderung der Besitzverhältnisse seines Gesamtvermögens (Immobilien, Kunstwerke, Bankvermögen etc.) und das seiner Brüder gab. Die Kunstsammlung Louis Rothschild umfasste laut einer Inventarliste insgesamt 919 Objekte, darunter 262 Gemälde sowie Möbel, antike Waffen, Teppiche und zahlreiche kunstgewerbliche Werke. Aus der Sammlung Alphonse Rothschild wurden insgesamt 3.444 Objekte abtransportiert und neu geordnet. Nachdem Hitler beziehungsweise der Fachmann Hans Posse 122 Gemälde aus den Sammlungen Rothschild für den „Sonderauftrag Linz“ reserviert hatten, waren die verschiedenen Museen aufgerufen, sich das Beutegut anzusehen und Wunschlisten für ihre Häuser zusammenzustellen. Das Landesmuseum Joanneum erhielt 694 Objekte aus den Sammlungen Rothschild und restituierte den Großteil bis in die 50er-Jahre. 2000 wurden sechs noch im Museum verbliebene Werke an die Erben nach Louis und Alphonse Rothschild zurückgegeben – dabei handelte es sich um drei erpresste Widmungen und drei Objekte, die aus nicht geklärten Gründen weiterhin im Museum gelagert waren. Speziell zum Kunstraub und zur Restitutionsproblematik der Sammlungen Rothschild siehe: Thomas Trenkler, Der Fall Rothschild. Chronik einer Enteignung, Wien 1999; Isabella Krois, Die Restitution von Kunst- und Kulturgütern am Fall der Familie Rothschild (Juristische Schriftenreihe 173), Wien 2000; Felicitas Kunth, Die Rothschild’schen Gemäldesammlungen in Wien, Wien–Köln–Weimar 2006. Im Steiermärkischen Landesarchiv (StLA) befinden sich mehr als 1.600 ausgefüllte Vermögensanmeldungen von 1938. Siehe: StLA, L.Reg., Arisierung, Vermögensverzeichnis.

Kunstrückgabe nach 1945 in der Steiermark

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Staatspolizei) spezialisiert war.4 Ersteres war im Fall, dass wertvolles Gut ins Ausland gelangen hätte können, bereits vor 1938 möglich, wobei diese Sicherstellungen normalerweise jedoch nicht das Eigentumsrecht der Eigentümer beeinträchtigten. Anders war dies während der NSZeit, als Sicherstellungen eine andere Form der Beschlagnahmung darstellten bzw. als eine verharmlosende Benennung derselben zu verstehen sind.5 Die auf der Basis der Enteignungen zusammengetragenen Vermögenswerte wurden nach einer Vorauswahl für ein eigens in Linz zu errichtendes „Führermuseum“ durch Adolf Hitler persönlich bzw. durch einen von ihm ernannten Vertreter „großzügig“ an 21 verschiedene Museen der „Ostmark“ verteilt. In einer Auflistung der Museen findet sich das Landesmuseum Joanneum unter der römischen Zahl XV. Diese Zahl kommt oft auf Zuweisungslisten auch ohne Nennung des Joanneums vor.6

II. Personelle Besetzung im Landesmuseum Joanneum Nach Kriegsende ab Mai 1945 war in den Museen bzw. im Kunstbereich die Klärung der Besitzverhältnisse der während der NS-Zeit ins Haus gekommenen Objekte eine der wichtigsten Aufgaben für die alliierten Stellen und die österreichischen BeamtInnen. Drohende Luftangriffe während des Krieges machten Bergungen der musealen Bestände notwendig. So war 1945 der Großteil der Sammlungen außerhalb von Graz gelagert. Unter anderem hatte die Geologische Abteilung ca. 250 Kisten nach Schloss Waldstein in Deutschfeistritz verlagert, die Mineralogie hatte ihre Schausammlung ebenfalls in Hunderten von Kisten in die Keller des Schlosses Rabenstein bei Frohnleiten gebracht. Allein die Kulturhistorische Sammlung hatte ihren Bestand an 14 verschiedenen Orten in der Steiermark verteilt. Die Rückführung 4

5 6

Vgl. Sabine Loitfellner, Die Rolle der „Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Geheimen Staatspolizei“ (Vugesta) im NS-Kunstraub, in: Gabriele Anderl/Alexandra Caruso (Hrsg.), NSKunstraub in Österreich und die Folgen, Innsbruck–Wien–Bozen 2005, 110–120; Alexander Schröck, Einbringungen durch die „Verwaltungsstelle für jüdisches Umzugsgut der Gestapo“ (Vugesta), in: Stefan August Lütgenau/Alexander Schröck/Sonja Niederacher, Zwischen Staat und Wirtschaft. Das Dorotheum im Nationalsozialismus, Wien–München 2006, 110–126. Vgl. Theodor Brückler, Kunstwerke zwischen Kunstraub und Kunstbergung: 1938–1945, in: Theodor Brückler (Hrsg.), Kunstraub, Kunstbergung und Restitution in Österreich 1938 bis heute (Studien zu Denkmalschutz und Denkmalpflege XIX), Wien–Köln–Weimar 1999, 13–30. Einen Überblick zu den Vorgängen im Joanneum bietet der erst nach dem 2009 abgehaltenen Grazer Symposium erschienene Restitutionsbericht des Universalmuseums Joanneum: Karin Leitner-Ruhe/ Gudrun Danzer/Monika Binder-Krieglstein (Hrsg.), Restitutionsbericht 1999–2010, Graz 2010. Inzwischen ist auch kurz vor Drucklegung des Symposiumsbandes die Dissertation von Sandra Brugger, Das steirische Landesmuseum Joanneum 1939–1945, phil. Diss. Graz 2011, fertiggestellt worden.

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der Objekte nach Graz dauerte nach Kriegsende noch bis 1946 an. Was die personelle Besetzung im Museum anbelangt, verhielt es sich im Landesmuseum Joanneum nicht anders als in den meisten öffentlichen Stellen zu dieser Zeit: Die meisten Personen, die während der NSZeit Leiter von Abteilungen waren, blieben es auch nach 1945. Bevor die sogenannte Landesbildergalerie, die im 19. Jahrhundert gegründete Gemäldeund Skulpturensammlung des Landesmuseums Joanneum, 1941 in Alte und Neue Galerie geteilt wurde, leitete diese ab 1923 Karl Garzarolli-Thurnlackh. Von März 1939 bis Ende Februar 1940 war er aus politischen Gründen suspendiert. Nach der Teilung der Landesbildergalerie wurde er Leiter der Alten Galerie, 1945–46 auch der Kulturhistorischen Sammlung. 1946 ging er nach Wien und übernahm dort die Leitung der Albertina und ein Jahr später jene der Österreichischen Galerie Belvedere.7 Leo Bokh war seit August 1941 Mitarbeiter Garzarolli-Thurnlackhs an der Landesbildergalerie. Seine politische Einstellung wandelte sich je nach der Regierungsmacht. So äußerte er sich vor 1938 durchaus negativ über den Nationalsozialismus, änderte seine Einstellung jedoch mit der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten in Österreich, vermutlich um die Chancen auf ein Arbeitsverhältnis zu erhöhen – was letztendlich auch gelang. Sein kunsthistorischer Schwerpunkt lag auf der Barockgalerie. Am 1. März 1946 folgte er GarzarolliThurnlackh als Leiter der Alten Galerie und blieb bis 1956 in dieser Funktion. Nach 1945 war er hauptsächlich mit den Rückstellungen betraut. 1956 wurde er nach einem Disziplinarverfahren vom Dienst suspendiert und seine Bezüge wurden verringert. Sechs Jahre später wurde er in den Ruhestand versetzt.8 7

8

„Die Entlassung erfolgte auf Grund des § 4, Abs. 1, der Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31. Mai 1938, RGBl. I S. 607.“ – Schreiben vom Sekretär des Landesmuseums Joanneum, Wilfried Teppner, an die Abteilung 11 der Landeshauptmannschaft Steiermark am 28. März 1939. StLA, Neuaktenabteilung L.Reg. 370 G 18/1942, Personalakt Garzarolli. – Im genannten Personalakt liegt ein Zettel ein, der besagt: „Der Vorakt wurde wie alle übrigen Personal- und Beiakten am 4. oder 5. April 1945 über Auftrag des damaligen Reichsstatthalters verbrannt. Graz, den 1. Juni 1945.“ „Ich war von Ende März 1939 bis Anfang März 194[ ] nach § 4 Abs 1 des Beamtenreinigungsgesetzes fristlos aus dem Dienst entlassen gewesen, da man mir zum Vorwurf machte, aus Anlass der Beschlagnahme des Admonter Gutsbesitzes nicht [sic!] dem Abte gegen den Staat kosperiert [sic!] zu haben. Ich habe damals mit dem Landeskonservator lediglich ein Protokoll über die Unzukömmlichkeit, die ich in Admont von Seiten der NS Verwaltung vorfand, abgefasst und eine Abschrift dieses Protokolles gleichfalls mit Zustimmung des Landeskonservators dem Abt übergeben, damit er sich und sein Kloster vor weiterer Schädigung durch Einspruch gegen diese Zustände bewahren könne. Das wurde mir als Staatsverrat ausgelegt.“ – Abschrift einer Zeugenaussage von Garzarolli-Thurnlakh, von der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Heinrich Mitter, Graz, an das Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung 6, am 15. Februar 1951 übermittelt. StLA, Neuaktenabteilung L.Reg. 371/I/P1/1947, Rückforderung der Pölser Madonna vom Pfarrer. StLA, L.Reg., Personalstandesblatt, 2. Ablf., Leo Bokh. – Genaueres zu seiner Person vgl. Herbert

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Hans Riehl wurde am 20. Mai 1939 als wissenschaftlicher Assistent in der Landesbildergalerie angestellt. Er forcierte die Trennung der Abteilung in eine Alte und eine Neue Galerie, übernahm ab 1941 die Leitung der Neuen Galerie und bekleidete das Amt bis zu seiner Pensionierung Ende 1956. Hans Riehl agierte ganz im Sinne der nationalsozialistischen Kulturpolitik und war während der nationalsozialistischen Zeit mit den Aufgaben eines Museumspflegers betraut. Dies beinhaltete die Einrichtung und Betreuung von vielen kleinen Museen innerhalb der Steiermark. Zum Teil nahm Hans Riehl eine Bewertung der eigenen Haussammlungen vor, um qualitativ „schlechtere“ Objekte außerhalb von Graz in ein Heimatmuseum zu geben. Als Galeriedirektor nutzte er die günstigen Zeitumstände, um die Sammlungen der Neuen Galerie wissentlich aus beschlagnahmtem Besitz umfangreich zu erweitern. Hans Riehl war – wie seine Frau Hanna Riehl – NSDAP-Mitglied, wurde nach 1945 jedoch als minderbelastet eingestuft.9 Georg Wolfbauer war seit 1925 in der Kulturhistorischen Sammlung tätig. Ab 1934 hatte er die Leitung dieser Abteilung und ab 1936 auch die Leitung des Landeszeughauses inne. Außerdem war Wolfbauer Dozent für Kunstgeschichte an der Grazer Universität und Lehrbeauftragter an der Musikhochschule in Graz.10 Er wurde bereits im Dezember 1932 ­NSDAP-Mitglied und unterstützte nach dem „Anschluss“ 1938 das Regime aus offensichtlicher Überzeugung. Er wurde zur Wehrmacht eingezogen und erlitt eine schwere Verwundung am Bein. 1945 wurde er der Leitung der Kulturhistorischen Abteilung enthoben und später auch nicht mehr wieder eingestellt.11 Seine Vertretung übernahm provisorisch Otto Weinlich, der seit 1904 in der Kulturhistorischen Sammlung arbeitete. Er war zwar 1938 altersbedingt pensioniert worden, unterstützte jedoch die Abteilung weiterhin aktiv mit seiner Erfahrung und seinen Kenntnissen. Otto Reicher war seit April 1943 als Assistent in der Kulturhistorischen Sammlung tätig und übernahm 1946 bis zu seiner Pensionierung 1954 die Leitung derselben. Gertrude Smola war seit 1940 in der Kulturhistorischen Sammlung tätig, und von 1955 bis 1980 Leiterin derselben.12 Lipsky, Kunst einer dunklen Zeit. Die bildende Kunst in der Steiermark zur Zeit des Nationalsozialismus. Ein Handbuch, Graz 2010, 103–105. 9 StLA, L.Reg. Personalstandesblatt, 2. Ablf., Dr. Dr. Hans Riehl. – Eine ausführlichere Darstellung der Person Hans Riehl siehe bei: Lipsky, Kunst einer dunklen Zeit, 95–99. 10 StLA, L.Reg. 82 Wo/5/1960. – Es handelt sich bei diesem Akt um wenige Schriftstücke zur Person. Auf einem Zettel ist angemerkt: „Der Vorakt wurde wie alle übrigen Personal- und Beiakten am 4. oder 5. April 1945 über Auftrag des damaligen Reichsstatthalters verbrannt.“ 11 Genaueres zu seiner Person vgl. Lipsky, Kunst einer dunklen Zeit, 100–102. 12 Vgl. Festschrift 150 Jahre Joanneum 1811–1961, (Joannea II), Graz 1969; Leitner-Ruhe/Danzer/BinderKrieglstein (Hrsg.), Restitutionsbericht 1999–2010. – Eine genaue Aufarbeitung des Personals und der verschiedenen Abteilungen verspricht die kurz vor Drucklegung des vorliegenden Bandes fertiggestellte Dissertation von Sandra Brugger: Brugger, Landesmuseum Joanneum.

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III. Die drei Phasen der Restitution seit 1945 Im Wesentlichen kann man seit 1945 von drei Phasen in Bezug auf die Kunstrückgabe sprechen.13 In der ersten Phase wurden zum einen von staatlicher Seite 1945 das „Gesetz über die Erfassung arisierter und anderer im Zusammenhange mit der nationalsozialistischen Machtübernahme entzogenen Vermögenschaften“14 und 1946 die dazugehörige „Vermögensentziehungs-Anmeldeverordnung“15 beschlossen, wonach entzogenes/geraubtes Vermögen den Behörden gemeldet werden musste. Zum anderen wurden jedoch individuelle Restitutionen nur auf Anfrage durchgeführt, basierend auf der gesetzlichen Grundlage von sieben Rückstellungsgesetzen. Demnach war diese Phase im Fall der Rückgabe von einer Holschuld der Betroffenen geprägt. In der darauffolgenden zweiten Phase verfügten die Museen über die nicht restituierten und in den Häusern verbliebenen, jedoch als entzogen kategorisierten Objekte, als wären sie rechtlich sicher in das Inventar übergegangen, da gesetzlich vonseiten der EigentümerInnen und ErbInnen keine Ansprüche mehr gestellt werden konnten. Das Thema „Restitution“ war damit jedoch nicht vom Tisch und es kam schließlich 1996 zur sogenannten „Mauerbachauktion“, deren Erlös Opfern der NS-Zeit zugutekam. Damit löste die kollektive Entschädigung die individuelle Restitution ab. Die dritte Phase begann nach der Beschlagnahmung zweier Bilder von Egon Schiele aus der Sammlung Leopold in New York am Anfang des Jahres 1998. Sie ist davon geprägt, dass nach der Phase der musealen Untätigkeit ein erzwungener Wechsel hin zur aktiven Provenienzarbeit mit individueller Restitution inklusive aktiver Erbensuche durch die Museen stattfand.

13 So formulierte es Ingo Zechner am 4. Juni 2002 in einem Vortrag in Graz im Rahmen der Ringvorlesung „art goes law“ an der Juridischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität und in seinem Beitrag: Zweifelhaftes Eigentum. Fußnoten zur Kunstrestitution in Österreich, in: Anderl/Caruso (Hrsg.), NS-Kunstraub in Österreich und die Folgen, 235–246; siehe auch: Eva Blimlinger, Rückstellungen und Entschädigungen in Österreich 1945 bis 2008. Ein Überblick, in: Anderl u. a. (Hrsg.), ... wesentlich mehr Fälle als angenommen, 17–33. 14 StGBl, 10/1945. 15 Verordnung des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministerien vom 15. September 1946 zur Durchführung des Gesetzes über die Erfassung arisierter und anderer im Zusammenhange mit der nationalsozialistischen Machtübernahme entzogenen Vermögenschaften vom 10. Mai 1945. BGBl. 166/1946.

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III.1. Rückstellungen bis Mitte der 60er-Jahre Unmittelbar nach Kriegsende musste für die Restitution erst die gesetzliche Grundlage geschaffen werden. Das erste Rückstellungsgesetz trat am 26. Juli 1946 in Kraft. Zahlreiche ­Novellierungen und Ergänzungen führten schließlich zum siebenten Rückstellungsgesetz am 14. Juli 1949. Das wichtigste der sieben Rückstellungsgesetze war das Dritte Rückstellungsgesetz, welches für die Rückforderung von beschlagnahmten Vermögensgegenständen keine Entziehung auf hoheitlicher Basis zugrunde legte, sondern auch Objekte (z.B. Geschäfte, Liegenschaften, …), die nicht in der Hand der öffentlichen Verwaltung standen, oder Kunstwerke, die über Auktionshäuser und den Kunsthandel vertrieben wurden, als rückstellungswürdig erachtete.16 Die Frist zur Anmeldung um Rückstellung wurde immer wieder verlängert und dauerte schließlich bis 31. Juli 1956. Bis 1966 wurden über 42.000 Verfahren für ganz Österreich abgehandelt. Die EigentümerInnen bzw. ErbInnen mussten von sich aus aktiv werden und einen Antrag stellen. Wie schwierig eine Restitution war, wird allein aus den Unterlagen ersichtlich, die für die tatsächliche Rückstellung vorgelegt werden mussten: So war ein rechtskräftiges Rückstellungserkenntnis vom Bundesministerium für Finanzen notwendig, dazu kamen die Ausfolgebewilligung des Bundesministeriums für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung und die Ausfuhrbewilligung des Bundesdenkmalamtes. Letztgenannte Bewilligung stellte oft eine weitere Schikane des österreichischen Staates dar, da diese für die zumeist im Ausland lebenden EigentümerInnen bzw. ErbInnen nach der Rückstellung notwendig war, wollten sie die Sammlungen außer Landes bringen.17 Diese Ausfuhrbewilligungen wurden in Absprache mit den Museen ausgestellt und bei bedeutenden Sammlungen von einer sogenannten „Schenkung“ ausgewählter Objekte an die Museen abhängig gemacht. Die somit in den Museen verbliebenen Objekte werden heute eindeutig als „erpresste bzw. abgezwungene Schenkungen“ angesehen. Die Ansprüche der im Ausland lebenden Geschädigten wurden durch Rechtsanwälte mittels Rückstellungsantrag an die Rückstellungskommission des jeweils zuständigen Landes16 Vgl. Blimlinger, Rückstellungen, 20. 17 Dieses Ausfuhrverbotsgesetz besteht bereits seit 1918 – mit einer Novellierung aus dem Jahre 1923 (Denkmalschutzgesetz BGBl. 1923/533) sowie zahlreichen weiteren Änderungen bis 2008 – und sollte das Abwandern von Gegenständen von „geschichtlicher, künstlerischer und kultureller Bedeutung“ aus Österreich verhindern. Genauso wie dieses Gesetz während der NS-Zeit verwendet wurde, um allgemein die Verbringung von bedeutenden Kunstwerken ins Ausland zu stoppen, benutzte man dasselbe Gesetz nach dem Krieg, um zumindest ein paar Stücke für die Museen, die diese Objekte durchaus als ihr Eigentum betrachteten, zu sichern – unabhängig davon, ob sie mit der österreichischen Geschichte etwas zu tun hatten oder nicht.

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gerichtes angemeldet. Viele Betroffene hatten erst wenige Jahre zuvor von Grund auf eine neue Existenz im Ausland aufbauen müssen und konnten sich in dieser Situation keinen Rechtsbeistand leisten. So war es für die Opfer äußerst schwierig, sich durch den Bürokratiedschungel dieser Zeit zu arbeiten. Durch die Verteilung der Objekte über ganz Österreich war es für Anspruchsberechtigte auch schwierig zu erfahren, wo sich ihre Kunstwerke oder ihre Wohnungseinrichtung nach dem Krieg befanden – sie waren damit den österreichischen Behörden gänzlich ausgeliefert und konnten nur auf den guten Willen einzelner Personen hoffen. III.2. Rechtssicherheit für die Museen Nach Ablauf aller Fristen und Abwicklung der Verfahren in den 50er- und 60er-Jahren verblieben in den Depots des Bundesdenkmalamtes auf Basis der Vermögensanmeldungsverordnung nach wie vor 8.422 Objekte, die laut Verpflichtung im Staatsvertrag (Art. 26 Abs. 2) in Sammelstellen zusammengefasst werden mussten. Es handelte sich dabei um Objekte, für die kein Rückstellungsantrag eingebracht oder dieser abgewiesen worden war oder die erbenlos geblieben waren. 1969 wurde ein „Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz“18 erlassen. In diesem Gesetz wurde EigentümerInnen die Möglichkeit eingeräumt, Kunstwerke zurückzuerlangen, die sich im Gewahrsam des Bundesdenkmalamtes befanden und deren EigentümerInnen bis dahin nicht festgestellt werden konnten. Diese in Mauerbach gelagerten Objekte wurden in eine Liste aufgenommen, die 1969 in der Wiener Zeitung veröffentlicht und in österreichischen Auslandsvertretungen aufgelegt wurde. Wiederum wurde eine Frist bis zum 31. Dezember 1970 mit einer Verlängerung bis Ende 1972 festgelegt. Die Einzelstücke, darunter ca. 2.000 Kunst- und Kulturgegenstände (Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen etc.), waren in dieser Liste enthalten. Zu Rückstellungen kam es jedoch nur im Fall von 270 Objekten. Im Art. 26 Abs. 2 des Staatsvertrages wurde grundsätzlich geregelt, was mit nicht rückgestellten Vermögenswerten geschehen sollte: Österreich hatte sie unter seine Kontrolle zu nehmen und an geeignete Organisationen zu übertragen, die sie zum Zweck der „Wiedergutmachung“ für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung verwenden sollen. Hier erfolgte der Übergang von der individuellen Restitution zur kollektiven Entschädigung. 1985 wurde das 2. „Kunst- und Kulturgutbereinigungsgesetz“ erlassen, wonach Anspruchsberechtigte nochmals die Möglichkeit erhielten, ihre bis dato nicht beanspruchten Exponate anzufordern. Da auch 18 Das Gesetz (BGBl. 294/1969) schuf die Möglichkeit, Anträge auf Rückgabe von Kunst- und Kulturgut zu stellen, das sich im Gewahrsam des Bundesdenkmalamtes befand. Es war jedoch kaum bekannt, sodass wenige Gegenstände restituiert wurden. Vgl. http://www.ns-quellen.at/glossar_anzeigen_detail.php, abgerufen, 19.9.2011.

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diesmal nur wenige Objekte beansprucht wurden, kam es 1996 zur schon lange angedachten Versteigerung, zur sogenannten „Mauerbachauktion“. Diese wurde vom Auktionshaus Christie’s im Museum für angewandte Kunst in Wien durchgeführt. Der Erlös daraus kam Opfern des Holocaust zugute. Der dafür gedruckte Versteigerungskatalog kam vielfach erst nach dem Versteigerungstermin in die Hände von ehemaligen EigentümerInnen von Kunstgegenständen. Diese erkannten zum Teil Bilder etc. aus ihrem geraubten Besitz, hatten jedoch nun keine rechtliche Handhabe mehr, da diese durch die „Mauerbachauktion“ in Privatbesitz übergegangen waren.19

III.3. Rückkehr zur individuellen Restitution Nachdem zu Beginn des Jahres 1998 zwei Bilder von Egon Schiele aus der Sammlung Leopold in einer Ausstellung in New York beschlagnahmt worden waren – es bestand der Verdacht, dass diese während der NS-Zeit ihren Eigentümern entzogen worden waren –, begannen nach der Auftragserteilung durch das Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten in den Bundesmuseen intensive Recherchen zu den Inventaren. Auch das Landesmuseum Joanneum wurde bald in Zeitungsmeldungen genannt. Daraufhin wurde im April 1998 im Joanneum der Arbeitskreis „Erwerbungen und Rückstellungen aus jüdischem Besitz 1938–1955“ gegründet.20 Am Ende des Jahres 1999 wurde von den MitarbeiterInnen des Arbeitskreises ein Forschungsbericht im Umfang von rund 400 Seiten vorgelegt. Dieser diente als Grundlage für das vom Steiermärkischen Landtag am 14. März 2000 beschlossene Landesverfassungsgesetz zur Rückgabe fraglicher Erwerbungen aus jüdischem Besitz: „Die Landesregierung wird beauftragt und ermächtigt, die im Eigentum des Landes Steiermark befindlichen Kunstgegenstände und Kulturgüter, die während der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihren Eigentümern entzogen worden sind, Anspruchsberechtigten unentgeltlich zu übereignen oder für den Fall, dass Anspruchsberechtigte nicht gefunden werden können, einer Verwertung zuzuführen, deren Erlös Opfern des Nationalsozialismus bzw. entsprechenden Organisationen zukommen soll.“21

19 Vgl. Blimlinger, Rückstellungen, 24–26. 20 Vgl. Gudrun Danzer/Monika Jäger/Karin Leitner, Erwerbungen und Rückstellungen aus jüdischem Besitz 1938–1955, in: Joanneum aktuell 1 (2000), 6f. 21 Landesverfassungsgesetz vom 14. März 2000 über die Rückgabe oder Verwertung von Kunstgegenständen und Kulturgütern, die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ihren Eigentümern entzogen worden sind. LGBl. 2000/46.

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Die erste Rückstellung nach diesem Gesetz erfolgte noch im gleichen Monat, am 31. März 2000, an die Erben nach Alphonse Rothschild. Seitdem wurden insgesamt 28 Werke aus den Sammlungen des Joanneum (Gemälde, kunstgewerbliche Objekte und Münzen) an zwölf Erben ausgehändigt. Das Landesmuseum Joanneum war das erste österreichische Museum, das Gegenstände mit zweifelhafter Herkunft ins Internet stellte und auf diesem Weg um Mithilfe bei den Nachforschungen bat. Es folgten Internetkooperationen mit den größten europäischen Datenbanken www.lostart.de, www.lootedart.com und mit dem Österreichischen Nationalfonds in Wien: www.kunstrestitution.at. In diesen international bekannten Datenbanken können EigentümerInnen nachschlagen, ob ein Objekt aus ihrem Eigentum bzw. Erbe in einer öffentlichen Sammlung vertreten ist.

IV. Erwerbungswünsche und Ausfuhrsperre am Beispiel der Sammlung Albert Pollak Als Fallbeispiel erpresster Widmungen nach 1945 für das Land Steiermark sei hier der Fall Albert Pollak geschildert.22 Albert Pollak (1878–1943) war polnischer Staatsbürger und jüdischen Glaubens. Er wurde als Generaldirektor der Allgemeinen Wollhandels-A.G. nach Wien berufen, wo er bis zum November 1938 lebte. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Albert Pollak verhaftet und seine Liegenschaften wie seine umfangreiche Kunstsammlung wurden beschlagnahmt. 1939 war die Sicherstellung der Kunstsammlung Pollak von der Magistratsabteilung 50 angeordnet worden, da man Gefahr im Verzug sah, dass der Eigentümer die Werke ins Ausland verbringen würde. Die Sicherstellung endete in einer vollständigen Einziehung zugunsten des Landes Österreich, welche zudem öffentlich bekannt gegeben wurde: „Laut der im Völkischen Beobachter Wien vom 9. März 1940 Nr. 69, auf S. 7 abgedruckten Einziehungsverfügung der Geheimen Staatspolizei, Staatspolizei-Leitstelle Wien vom 5. März 1940 ist das gesamte stehende und liegende, bewegliche und unbewegliche Vermögen des Albert Israel Pollak, zuletzt Wien, Singerstrasse Nr. 27 wohnhaft, zu Gunsten des Landes Österreich (Reichsgau Wien) nach § 1 der Verordnung vom 18. November 1938, RGBl. I, Seite 620, eingezogen worden.“23

22 Angaben zur Person siehe: Sophie Lillie, Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens, Wien 2003, 873–883. 23 Der Landeskonservator der Steiermark Semetkowsky am 11. März 1940 in einem Schreiben an die Zentralstelle für Denkmalschutz in Wien. Bundesdenkmalamt (BDA) Wien, Archiv, Restitutionsmaterialien, Steirisches Landeskonservatorat, Graz, Zl.: 351/4-1940.

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In der Bekanntmachung des Völkischen Beobachters wurde noch hinzugefügt: „Mit dem Tage der Einziehung erlöschen alle Rechte und Ansprüche des Albert Israel Pollak auf seine Vermögenswerte und gehen auf das Land Österreich (Reichsgau Wien) über.“24 Die Listen der Sammlung Pollak scheinen aber schon davor Kunstinteressierten und Museumsbeamten bekannt gewesen zu sein, da Walter Semetkowsky bereits am 11. März 1940 in einem Schreiben an die Zentralstelle für Denkmalschutz in Wien darauf Bezug nimmt: „Nach den dortigen Listen befinden sich in der Sammlung Albert I. Pollak als Nr. 104 ein Aquarell von Rudolf [von] Alt, den Landhaushof in Graz darstellend. Bei der Durchsicht der Listen durch Vertreter des Landesmuseums Joanneum wurde der Wunsch auf Zuweisung dieses Stücke [sic!] nach Graz vorgebracht.“25 Nachdem Hitler selbst angeordnet hatte, dass die Sammlung Pollak unentgeltlich an die Museen verteilt werden solle, gelangten 1942 aus seiner umfangreichen Sammlung 135 Objekte in die Kulturhistorische Sammlung, vier Objekte in die Neue Galerie und acht Werke in die Alte Galerie am Landesmuseum Joanneum. Darunter befanden sich z. B. ein Charakterkopf in Bleiguss von Franz Xaver Messerschmidt, Aquarelle von Rudolf von Alt und August von Pettenkofen sowie zahlreiche Porzellan- und Silbergegenstände. Der kinderlose Junggeselle Pollak floh über Polen und Belgien nach Holland, wo er am 17. Jänner 1943 in Groningen bei Amsterdam verstarb. Die Erben nach Albert Pollak suchten 1947 um Rückstellung der Immobilien und der Kunstsammlung an. Am 6. März 1951 teilte das Bundesministerium für Finanzen in Wien der Abteilung 6 der Steiermärkischen Landesregierung die Freigabe von Kunstgegenständen gemäß der Rückstellungsbescheide der Finanzlandesdirektion für Wien im Sinne des Ersten Rückstellungsgesetzes vom 26. Juli 1946 (BGBl. 156) mit. Darin ist zum Beispiel die damals schon komplizierte Aufteilung auf die erbberechtigten Personen festgehalten: „[…] sämtliche Kunstgegenstände zu je ¼ Anteil an Heinrich Pollak, Gisela Klauber und Helene Bruckner sowie zu je 1/8 Anteil an Stella Szamek und Karl Pollak“. Weiters ist darin vermerkt: „Die Kunstgegenstände werden in dem Zustand zurückgestellt, in dem sie sich im Zeitpunkt der Uebergabe befinden. Die Weiterbelassung derselben an den bisherigen Aufbewahrungsorten über den Rückstellungstag hinaus und ein etwaiger Abtransport gehen auf Gefahr und Kosten der geschädigten Eigentümer.“26 24 Völkischer Beobachter, 9.3.1940, 7, Amtlicher Teil, Bekanntmachungen. – BDA Wien, Archiv, Restitutionsmaterialien, Steirisches Landeskonservatorat, Graz. 25 Der Landeskonservator der Steiermark Semetkowsky am 11. März 1940 in einem Schreiben an die Zentralstelle für Denkmalschutz in Wien. BDA Wien. 26 Das Bundesministerium für Finanzen am 6. März 1951 in einem Schreiben an das Amt der Steiermärkischen Landesregierung betreff Albert Pollak – Freigabe von Kunstgegenständen. BDA Wien, Archiv, Restitutionsmaterialien, Albert Pollak, K. 43, 1951, Zl. 3173/51.

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Im Zuge dieses Rückstellungsverfahrens kam es zu zähen Verhandlungen zwischen dem Landesmuseum Joanneum und Rechtsanwalt Petracek, dem Vertreter der Erben nach Albert Pollak, über Objekte aus der Sammlung Pollak, die als Entschädigung für die „Aufbewahrung“ und „Betreuung“ der Werke den Museen gewidmet werden sollten. Es handelt sich dabei um eindeutig erpresste Widmungen, die im heutigen Rechtssinne zu restituieren sind. Der Landeskonservator für die Steiermark, Ulrich Ocherbauer, schrieb am 13. April 1951 an das Bundesdenkmalamt in Wien: „Da der Ausfuhrantrag vermutlich in Wien eingebracht werden dürfte, bittet der Gefertigte, die Erwerbungswünsche des Steiermärkischen Landesmuseums berücksichtigen und die Ausfuhr der angeführten Objekte verweigern zu wollen. [...] Ein Versuch seitens des Joanneums, mit dem Rechtsvertreter des Rückstellungswerbers, Herrn Dr. Franz Petracek Wien VIII. Strozzigasse 32-34, Verhandlungen einzugehen, zeitigte keinen Erfolg. Trotz manchen Entgegenkommens blieb der Rechtsvertreter des A. Pollak den mehrfachen Anfragen des Museums gegenüber verschlossen.“27

Tatsächlich hatte Hans Riehl von der Neuen Galerie bereits im Vorfeld, genauer gesagt am 9. April 1948, Rechtsanwalt Petracek in einem Brief auf die „Großzügigkeit der Erben der Slg. des Baron Alphonse de Rothschild, die dem Joanneum für die Aufbewahrung der Kunstwerke drei Stücke widmeten“ hingewiesen.28 Am 7. Juli 1951 schrieb Otto Demus vom Bundesdenkmalamt an das Joanneum, das Bundesdenkmalamt sei „gerne bereit, alle angeführten Gegenstände für die Ausfuhr zu sperren, ist aber außerstande, die Eigentümer zu veranlassen, alle obzitierten Objekte dem Joanneum zu schenken. Es wäre daher eine Auswahl von 3–4 besonders erwünschten Gegenständen zu treffen, um deren geschenkweise Überlassung an das Joanneum sich das Bundesdenkmalamt bemühen wird. Ebenso wird das Bundesdenkmalamt den Verkauf der übrigen gesperrten Stücke an das Joanneum befürworten.“29 Bei den „obzitierten Objekten“ handelte es sich um 14 hauptsächlich kulturhistorische Werke (Samt, Gläser, Porzellan). Demus machte jedoch noch extra aufmerksam: 27 Der Landeskonservator der Steiermark, Ulrich Ocherbauer, am 13. April 1951 in einem Schreiben an das Bundesdenkmalamt in Wien. BDA Wien, Archiv, Restitutionsmaterialien, K. 43, Albert Pollak, 1951, Zl.: 3173/51. 28 StLA, Neuaktenabteilung, L.Reg. 371/I/P7/1953. Vgl. Leitner-Ruhe/Danzer/Binder-Krieglstein (Hrsg.), Restitutionsbericht 1999–2010, 147–151. 29 Otto Demus am 7. Juli 1951 an das Joanneum in Graz. BDA Restitutionsmaterialien, Albert Pollak, K. 43, 1951, Zl.: 5358/51. – Das Joanneum erklärte sich bereit, einzelne Objekte aus der Sammlung anzukaufen. Aber auch diese Ankäufe waren vielfach mit einer Ausfuhrsperre verbunden und die Verhandlungen gingen eher in die Richtung eines günstigen Kaufpreises als eines üblichen Handelspreises.

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„Um die Ausfuhrbewilligung für das d. o. besonders interessierende Aquarelle von R. v. Alt, Landhaushof in Graz, Sammlungs-Nr. 104, Joanneum-Nr. 4 und das Bild von Pettenkofen, Ungarischer Markt wurde noch nicht angesucht, doch könnte die geschenkweise Überlassung bzw. Erwerbungsmöglichkeit unter einem in die Wege geleitet werden.“30

Leo Bokh von der Alten Galerie versuchte den Charakterkopf von Messerschmidt aus der Sammlung Pollak in Graz zu behalten. Die Abteilung 6 informierte ihn diesbezüglich am 16. April 1953: „Über den von der Alten Galerie wiederholt zum Ausdruck gebrachten Wunsch über den Erwerb des Charakterkopfes aus Blei von Franz X. Messerschmidt, wurde das Bundesdenkmalamt um Einflußnahme ersucht. […] Es wurde jedoch von der Gegenseite in starrer Weise ein ablehnender Standpunkt eingenommen. Die Ausfuhrbewilligung für dieses Stück zu versagen, war nach dem bezüglich dieser Sammlung bereits getroffenen Abkommen nicht mehr möglich.“31

Abb. 1: Bergkristalldeckelpokal, Kulturhistorische Sammlung, Inv.-Nr. 25.843 © Universalmuseum Joanneum, Graz.

Die tatsächliche Widmung wurde am 6. September 1951 von Franz Petracek schriftlich an das Bundesdenkmalamt in Wien mitgeteilt: „Namens der Erben nach Herrn Albert Pollak […] erkläre ich hiemit, in dankbarer Anerkennung der Gestattung der Ausfuhr der übrigen von uns ererbten Kunstsammlung des Herrn Albert Pollak in unsere neue Heimat folgende Gegenstände obiger Kunstsammlung dem Bundesdenkmalamte zwecks Verfügung zu Gunsten der interessierten österreichischen Museen unentgeltlich zu widmen.“32 Auf der Liste befinden sich die drei heute noch im Universalmuseum Joanneum vorhandenen Werke: Nr. 104: Rudolf von Alt, Landhaushof in Graz; Nr. 324: Deckelpokal mit Silbermontage, Bergkristall; Nr. 477: Glasbecher, Ma-

30 Ebda. 31 Archiv Alte Galerie, Akte Sammlungen Pollak und Hecht, fol. 27, Zl.: 6-371/I P 7/2-1953. 32 Dr. Franz Petracek am 6. September 1951 an das Bundesdenkmalamt in Wien. BDA Wien, Archiv, Restitutionsmaterialien, K. 43, Albert Pollak, 1951, Zl. 6165/51.

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ria Theresia, geschliffen. Zuzüglich zu den drei Widmungen steht ein weiteres Aquarell von Rudolf von Alt (Wadovice darstellend) zur Restitution an die Erben nach Albert Pollak bereit. Dieses befand sich nicht auf der Liste des Rückstellungsantrages und wurde dementsprechend nicht verhandelt. Inzwischen liegt ein sehr kompliziertes, aktuelles Erbfolgegutachten vor. Nach Unterzeichnung der gerichtsrelevanten Erklärungen durch die Erben kann an diese restituiert werden. In diesem Fall wird die Rückgabe vom Universalmuseum Joanneum gleichzeitig mit dem Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, dem Wien Museum und der Albertina erfolgen. Im Kunstrückgabegesetz des Bundes von 1998 ist das Ausfuhrverbot im Falle restituierter Objekte für die Erben generell aufgehoben worden.33

V. Erwerbungen aus Güssing – sogenanntes „herrenloses Gut“ Aufgrund der Vermögensentziehungs-Anmeldeverordnung von 1946 musste der Inhaber von entzogenem Vermögen, d. h. in unserem Fall das Landesmuseum Joanneum, dem Magis­ trat melden, welche Kunstwerke nach dem 13. März 1938 durch Zuweisung des Instituts für Denkmalpflege, Wien, in die Sammlung aufgenommen wurden. Dies wurde jedoch nicht konsequent durchgeführt – wie das Beispiel aus Güssing zeigt. Im Sommer 1938 wurden zahlreiche jüdische Haushalte in Güssing geplündert und deren Wohnungseinrichtungen und Kunstwerke beschlagnahmt. Friedrich Pock von der Landesbibliothek in Graz nahm unter anderem diesen Bestand von Kunstschätzen in Güssing auf.34 Das Burgenland war aufgeteilt worden: Nordburgenland gehörte zum Gau Niederdonau und Südburgenland zum Gau Steiermark. Die Zuteilung von Gemälden und Grafiken aus Güssinger Besitz erfolgte laut einem Schreiben von Garzarolli-Thurnlackh offensichtlich über das Institut für Denkmalpflege in Wien.35 Eine Übernahmeliste vom 24. Oktober 1940 zählt 14 Gemälde, zwei Zeichnungen und eine Nadelmalerei auf, die auf diesem Wege in das Landesmuseum Joanneum gelangten. Um Rückstellung dieser Objekte hat sich nach dem Krieg offensichtlich niemand bemüht. Es handelt sich dabei vielfach „nur“ um drei oder vier Gemälde pro Haushalt. Es wurde kein Rückstellungsantrag gestellt und auch auf Listen der Vermögensentziehungsanmeldungen,

33 Vgl. Zechner, Zweifelhaftes Eigentum, 237. 34 Friedrich Pock von der Landesbibliothek in Graz berichtet am 12. Jänner 1939 (o. Zl.) über die Aufnahme von Kunstschätzen in Güssing. StLA, Neuaktenabteilung, L. Reg. 372/IV/K 7/1941. 35 Garzarolli in einem Brief an das Institut für Denkmalpflege in Wien am 23. September 1940. Archiv Alte Galerie, Akte Diverser jüdischer Kunstbesitz, Zl. A./156/1940.

Kunstrückgabe nach 1945 in der Steiermark

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die vonseiten des Museums abgegeben wurden, werden diese Werke nicht genannt. Die Beschlagnahmungsliste mit den namentlich angeführten EigentümerInnen ist sehr allgemein gehalten, so dass auf den ersten Blick eine Identifizierung der Objekte mit Werken im Museum aussichtslos erscheint: Bei neun Gemälden war der Künstler unbekannt, vier Bilder zeigen ein Frauenporträt (nur in einem Fall ist die Dargestellte namentlich genannt), drei Gemälde stellen einen Mann und drei weitere nicht näher beschriebene Stillleben dar. Durch weiteres Archivmaterial und die Recherchen im Museum seit 1998 sowie Informationen der Erben gelang es aber, an die Erben nach Aladar Latzer drei Objekte zu restituieren. Da die Neue Galerie 1985 neun Bilder aus dem Güssinger Bestand an das Burgenland abgetreten hatte, wickelte die Burgenländische Landesregierung in den letzten Jahren weitere Rückgaben an die Erben nach Aladar Latzer und Wilhelm Rechnitzer ab. Die Restitution an die Erben nach Egon Rothberg ist in Vorbereitung.36 Abb. 2.: Eugen Blaas (?), Mädchen mit Obst, Treppe einer Brücke hinabsteigend, Bleistift/ Leinwand, Neue Galerie, Inv.-Nr. I/2127 © Universalmuseum Joanneum, Graz.

VI. Schlussbemerkungen Im Sommer 2010 konnte basierend auf dem Forschungsbericht des Arbeitskreises „Erwerbungen und Rückstellungen aus jüdischem Besitz 1938–1955“, welcher der Steiermärkischen Landesregierung mit Ende des Jahres 1999 vorgelegt worden war, vonseiten des

36 Leitner-Ruhe/Danzer/Binder-Krieglstein (Hrsg.), Restitutionsbericht 1999–2010, 143–146.

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Universalmuseums Joanneum der Restitutionsbericht 2010 publiziert werden. Die Durchsicht des Berichtes von 1999 und der Blick auf die erfolgten Restitutionen seit 1998 zeigen eindeutig, wie mühsam bzw. aufwendig die Abwicklung der Rückgaben 60 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft geworden ist. Neben der Recherche zu den Objekten bzw. den Abläufen ihres Inventareingangs ins Museum müssen auch die Erben gesucht bzw. die Erbnachfolge erstellt werden. Dennoch muss festgehalten werden, dass unmittelbar in der Nachkriegszeit ca. 95% der Objekte vom Landesmuseum Joanneum restituiert wurden – im Hause verblieben Widmungen und so genanntes „herrenloses Gut“, für das niemand um Rückgabe angesucht hat. Die heutige Forschung konzentriert sich jedoch nicht nur auf die Erwerbsjahre 1938 bis 1945, sondern einerseits auch auf die Jahre ab 1933, da Objekte aus Deutschland über den Handel nach Österreich gekommen sein könnten, und andererseits auch auf die Zeit nach 1945. Vor allem in den 50er-Jahren sind viele Kunstwerke über den Kunsthandel ins Museum gelangt – darunter können sich noch immer Objekte befinden, die Gegenstand einer Restitution sein könnten. Als das Thema Restitution vor nunmehr dreizehn Jahren wieder aufgegriffen wurde, konnte man vielerorts vernehmen, dass „eh nicht mehr viel vorhanden sein wird“ und dieses „Projekt“ in zwei bis drei Jahren abgeschlossen sein wird. Zum einen war das sicher eine Fehleinschätzung aus Unkenntnis. Kaum jemand konnte sich vorstellen, wie viel in den Museen noch als „Verborgenes“ gehortet wurde bzw. heute noch wird. Zum anderen spiegelt es aber nach wie vor die Mentalität unserer Gesellschaft wider, die dieses Thema gar nicht so sehr berührt und ausgebreitet wissen will. Umso mehr ist es Aufgabe der öffentlichen Stellen – nicht nur aus einem gesetzlichen Auftrag heraus – die Zeit der NS-Herrschaft und auch jene der Nachkriegszeit aufzuarbeiten und die Ergebnisse transparent an die Öffentlichkeit zu tragen.

Die Epoche der Epochenverschlepper

Dieter A. Binder Hugo Schwendenwein zum 85. Geburtstag

Manch einer sieht in dieser Themenstellung allein schon die „Nestbeschmutzung“ durch fragwürdige Gestalten, die sich „den Titel ,Zeithistoriker‘ arrogieren“ und selbst vor landesweit kanonisierten Ikonen nicht haltmachen, die, um den Intendanten der Hanns-Koren-Festspiele 2006, Dr. Heimo Steps, zu zitieren, eben „Essigbrunzer“ sind, denen man irgendetwas Rechtes „hinter die schmalzigen Ohren“ schreiben sollte.1 Den Unmut dieses Habitués der hochgeistigen intellektuellen Szene der Grazer Innenstadt erregten Hinweise auf das politische Phänomen der Nachkriegszeit, die ehemaligen Nationalsozialisten zu integrieren, auf Karrieren also, die vom SA-Standartenführer über ein Entnazifizierungsverfahren direkt in den Grazer Gemeinderat als ÖVP-Mandatar oder vom Gauleiter zum Bezirksorganisationsreferenten der ÖVP Graz-Geidorf oder vergleichsweise von der nationalsozialistischen Kommunalpolitik über die provisorische Landesverwaltung 1945 in die Landesregierung als SPÖ-Mandatar führten.2 Dies lässt sich auch im Vorfeld der Parteien exzellent nachweisen, sei’s im Bund sozialistischer Akademiker3 oder im Akademikerbund der ÖVP.4 Man darf 1

2

3 4

Heimo Steps, Gastkommentar: Visionär im Wetterfleck, in: Falter-Steiermark, 3.5.2006, 11. Steps bezieht sich in seiner Attacke auf Äußerungen von mir und Helmut Eberhart, Institut für Volkskunde und Kulturanthropologie der Karl-Franzens-Universität Graz, in einem Artikel von Helmut Bast („Mythos im Wetterfleck“, in: Falter-Steiermark, 19.4.2006). Den denunziatorischen Charakter und dessen geistigen Hintergrund analysieren Heinz P. Wassermann (Tautologie als Wetterfleck, in: FalterSteiermark, 21.5.2006, 10) und Karl Wimmler (Hanns Koren, 1934 und der Grazer Hauptbahnhof, in: korso, Dezember 2006, 17) pointiert. Hellmut Wolf (1910–1997) war nach dem „Anschluss“ hauptamtlicher SA-Führer und Ratsherr von Graz bis 1945. Nach 1945 2 ½-jährige Haft nach §§10 und 11 NS-Gesetz; fünf Jahre Arbeit als Hilfsarbeiter, 15 Jahre Pächter einer Tankstelle, in den 1950er-Jahren ÖVP-Gemeinderat der Stadt Graz und bis zu seiner Pensionierung als Abteilungsleiter und Chronist bei der Grazer Messe. Vgl. Stefan Karner, Maßgebende Persönlichkeiten 1938 in Graz, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 433; weiters Ursula Mindler, „Portschy ist Burgenländer, ich bin Steirer.“, in: Blätter für Heimatkunde 80 (2006), 117–143, hier 123, Anm. 33; zum SPÖ-Mandatar Alfred Schachner-Blazizek siehe: Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Der Wille zum aufrechten Gang, Wien 2005, 144–146. Vgl. Neugebauer/Schwarz, Wille (wie Anm. 2) für den BSA mit entsprechenden steirischen Beispielen oder die Namensliste der Funktionäre des Akademikerbundes in der Steiermark bis in die 1970er-Jahre. Vgl. z. B. Sepp Helfrich, in: http://www.akademikerbund.at/content_geschichte.php?aktiv= bundes laen der& b id=29 (aufgerufen: 3.7.2007).

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nicht vergessen, dass sich der 1945 letztlich vom sozialistischen provisorischen Landeshauptmann Reinhold Machold kreierte erste Landesparteiobmann der ÖVP, Alois Dienstleder,5 der 1933/34 Landeshauptmann der Steiermark gewesen war, am 4. April 1938, also wenige Tage vor der „Volksabstimmung der Nazis“, an Gauleiter Bürckel in einem Brief wandte und darin anbiedernd und kollaborationsbereit festhielt: „Es soll keine Anmaßung sein, wenn ich Ihnen sehr geehrter Herr Gauleiter als ehemaliger Landeshauptmann von Steiermark aufrichtigsten Dank und reichen Erfolg für Ihre große Arbeit sage. In besonderer Wertschätzung ergeben ‚Heil Hitler‘ Univ. Prof. Dr. Alois Dienstleder, L.Hptm. a. D.“6

Der Hinweis auf Repräsentanten beider Großparteien sei aber nicht als Versuch einer „großkoalitionären Geschichtsschreibung“ verstanden, man könnte natürlich den Reigen auch noch um die Repräsentanten des „dritten Lagers“ und um die gerade in der Steiermark eminent politisch vernetzte Katholische Aktion ergänzen.7 Es geht vielmehr um den Umgang mit oder besser um das Umgehen der genuin steirischen nationalsozialistischen Vergangenheit und der daraus resultierenden Traditionen und Strategien. Gelegentlich hat man auch heute noch den Eindruck, dass man – gleichsam unter Berufung auf das Verbotsgesetz vom 8. Mai 1945, StGBl. 13 – den Nationalsozialismus mit 8. Mai 1945 amtlich und endgültig für erloschen betrachtet. Ein beredtes Beispiel für eine derartige Geisteshaltung belegt die 2008 erschienene Studie über das Schloss Lannach, die diesen Standort nationalsozialistischer Heilmittelforschung im Hinblick auf eine etwaige Kontinuität zu dem heutigen dort befindlichen Heilmittelwerk zu untersuchen hatte. Verständlich erleichtert resümiert die Studie, dass ein „Zusammenhang irgendeiner Art zwischen dem Institut für Pflanzengenetik und der Lannacher Heilmittel GmbH“ nicht „existiert. […] Auch die Gründungsgeschichte der Lannacher Heilmittel GmbH widerlegt jegliche Vermutung eines Zusammenhanges zwischen der Pharmafirma 5 6 7

Dieter A. Binder, Von der österreichischen zur steirischen Volkspartei. Ein klassisches Drama?, in: Dieter A. Binder/Heinz P. Wassermann, Die steirische Volkspartei oder die Wiederkehr der Landstände, Graz 2008, 14f. Brief Alois Dienstleder an den „Beauftragten des Führers Gauleiter Bürckel“, Graz am 4. April 1938. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bürckel 02/Korr, Dienstleder M. – Herrn Dr. Gerald Lamprecht, Universität Graz, danke ich für die Überlassung dieses Quellenfunds. Im „Mariazeller Manifest“, aus unerfindlichen Gründen gilt dieses heute noch als ein intellektuelles Spitzenprodukt des angesprochenen Milieus, wurde 1952 etwa im harten politischen Teil die Aufhebung der „Sondergesetzgebung“, also die Aufhebung der Entnazifizierungsmaßnahmen gegen die „Belasteten“, gefordert. Vgl. Maximilian Liebmann, Das „Mariazeller Manifest“ als Teil einer Doppelstrategie, in: Ulfried Burz/Michael Derndarsky/Werner Drobesch (Hrsg.), Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag, Klagenfurt 2000, 639–657.

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und der SS-Forschung.“8 Dies trifft zweifellos zu. Allerdings ist auffallend, dass zumindest eine Gründungsperson dieser Heilmittel GmbH in der Studie selbst als NS-Belasteter angesprochen wird. Dieses Thema wird nicht verfolgt, denn dann hätte man sich mit einer der führenden Persönlichkeiten des jungen Arbeitsteams näher beschäftigen müssen, dem SS-Schar- und NS-Dozentenbundführer an der Universität Graz, dem Chemiker Alfred Pongratz.9 Dieser, der Sohn des langjährigen sozialdemokratischen Landeshauptmannstellvertreters der Steiermark Josef Pongratz, hatte sich zunächst an der Universität Graz für organische Chemie 1930/31 habilitiert, ehe er 1938 nach dem „Anschluss“ Dozentenbundführer an der Universität wurde, an der er 1940 zum außerplanmäßigen Professor ernannt wurde. Noch im selben Jahr ans Kaiser-Wilhelm-Institut berufen, leitete er bis zum Jänner 1945 dessen Institut für Physikalische Chemie in Berlin-Dahlem. Im März 1945 übernahm Pongratz vertretungsweise das Ordinariat für pharmazeutische Chemie in Graz. Im Zuge der Entnazifizierung wurde er dieser Tätigkeit ebenso enthoben wie auch seine Venia für erloschen erklärt wurde. Diese erhielt er 1951, den Titel eines Universitätsprofessors 1955 zurück.10 Walter Höflechner sieht ihn als einen der wesentlichen Betreiber der politisch motivierten Entlassungen 193811 und als Art von „Politkommissar“ bei den Neuberufungen.12

Aus braunen Flecken werden weisse Im Wesentlichen entsprang diese Haltung einer menschlich nur allzu verständlichen Sehnsucht nach Normalität jener Menschen, deren Biographie der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung entsprach: Menschen, die kein Opferprofil aufwiesen, die sich mit dem NS-Regime in unterschiedlicher Weise arrangierten und die das Jahr 1945 als „Stunde null“ verstanden; den Krieg und seine verheerenden Folgen sahen sie als ein Purgatorium, das der Generalbeichte vorausgegangen war. Nunmehr forderten sie das verzeihende Schweigen, um die „Gräben“ zuzuschütten. Ein „einig Volk“ war angesagt, auch wenn darüber das Gedenken an die Opfer erneut geschändet wurde. Da sie sich selbst als Opfer sahen, als Opfer des Krieges, der sie körperlich und seelisch tief verletzt hatte, als Opfer der Bomben, die in ihr Leben eingeschlagen hatten, als Op8 9

Stefan Karner/Heide Gsell/Philipp Lesiak, Schloss Lannach 1938–1949, Graz 2008, 184. Gerald Lichtenegger, Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus an der Universität Graz, in: Grenzfeste Deutscher Wissenschaft. Über Faschismus und Vergangenheitsbewältigung an der Universität Graz, Graz 1985, 71. 10 Diese Daten sind der Studie Alois Kernbauers, Das Fach Chemie an der Philosophischen Fakultät der Universität Graz (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 17), Graz 1985, entnommen. 11 Walter Höflechner, Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, Graz 2006, 186. 12 Höflechner, Geschichte (wie Anm. 11) 193.

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fer gewissenloser „Goldfasane“, die ihren Idealismus missbraucht hätten, als Opfer intriganter Dummheit der Entente, die 1919 in den „Diktatfrieden“ der Pariser Vororte den nächsten Krieg gesät hätte, als Opfer dunkler Mächte, die sich gegen das „deutsche Volk“ verschworen hätten, als Opfer einer Kriminalisierung ihrer politischen Überzeugung, die sie in der ersten Phase der Entnazifizierung um ihre berufliche Existenz brachte, da sie sich also als Opfer sahen, waren sie emotionell zu erschöpft, um der eigentlichen Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.13 Während am Beginn der NS-Herrschaft die „Volkserhebung“ und das am Revers montierte Hakenkreuz standen, stand am Ende dieses Weges das „Vergraben“ der Dinge, die man in Sicherheit bringen wollte, der man sich entledigen wollte. „1945 war ein Bruch: ein Zusammenbruch und Desaster für die einen, ein ‚Rückbruch‘ und eine simple Rückkehr zum Vorkriegssystem, wie Josef Schöner in seinem Tagebuch die Apriltage bezeichnete, für die anderen, ein Umbruch, eine Veränderung für die Masse der unbeteiligten Mitläufer, ein Aufbruch vielleicht am Anfang für die wenigsten.“14

Der „Rückbruch“ brachte die Wiederkehr der alten, vornationalsozialistischen Eliten, die einerseits aus taktischen Gründen naturgemäß in einer partiellen Rezeption der Moskauer Deklaration von 1943 Österreich als „erstes Opfer“ des Nationalsozialismus propagierten und die andererseits zutiefst von der Konfrontation der beiden seit den Novemberwahlen 1945 wieder großen politischen Lager des Februars 1934 geprägt waren. Stammten sie aus den jungen Eliten des „Austrofaschismus“, relativierten sie den Verfassungsbruch von 1933/34 und legitimierten den „autoritären Ständestaat“ als Staatswiderstand gegen den Nationalsozialismus. Angesichts der großen Not 1945 traf man sich im plakativen Bild der „Politik der Lagerstraße“, wenngleich es zumeist genau so wenig auf die handelnden Personen zutraf wie jenes der „Stunde null“. Das Miteinander von Politikern der Österreichischen Volkspartei, die als Führungselite des „Ständestaates“ anzusprechen waren, mit jenen der Sozialistischen Partei Österreichs, die den „Pathos der Niederlage“ von 1933/34 mit sich trugen, von dem Bruno Kreisky noch in seinen letzten Tagen sprach, forderte die Disziplin des Schweigens. Man durchbrach 13 „Die militärische Niederlage, die Bombenschäden, die (zuweilen recht lange) Kriegsgefangenschaft, die Verhaftung und Internierung zahlreicher Nazis in Lagern (Glasenbach und Wolfsberg) sowie die Besatzung (vor allem im Osten Österreichs) wurden vielfach als Sühne bzw. Strafe für die frühere Begeisterung verstanden. Bei nicht wenigen ‚Ehemaligen‘ kamen Verurteilungen durch Volksgerichte, Entlassungen und Vermögensverluste als ‚Sühnefolgen‘ hinzu, die freilich ab 1949 systematisch gemildert bis aufgehoben wurden. Das mag erklären, warum besonders ältere Österreicher dem intensiven Verlangen nach Schuldbekenntnissen und nach Bereitschaft zu weiterer Wiedergutmachung häufig relativ verständnislos gegenüberstehen.“ Ernst Bruckmüller, Sozialgeschichte Österreichs, Wien– München 2001, 427. 14 Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik, Wien 1995, 439.

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es zumeist nur in Wahlkämpfen aus taktischen Gründen und übertrug großkoalitionär dieses Modell schließlich auf den Umgang mit den „Ehemaligen“, zunächst auf die Masse derer, die 1945 von den Wahlen ausgeschlossen waren und die in weiterer Folge als „Minderbelastete“ eingestuft werden sollten, schließlich auch auf jene „Belasteten“, die die ersten massiven Maßnahmen der Entnazifizierung und Verbrechensverfolgung überstanden hatten. Mit Tony Judt kann man diese Haltung in einen größeren Kontext einschreiben: „Das erste Nachkriegseuropa wurde auf einer vorsätzlichen Amnesie erbaut – Vergessen als Lebensform.“15 „Elend, Not, Zerstörung zahlreicher Gruppenbildungen“ waren ebenso das Erbe des Nationalsozialismus wie auch jene „mentalen Verstörungen, die sich in der Folge als Misstrauen gegen alle idealistisch verkleideten Forderungen und Haltungen äußerten.“16 Diese Absenz wurde ab den 1950er-Jahren von einer zunehmenden Veränderung der soziokulturellen Rahmenbedingungen der Politik begleitet, die als Auflösungstendenz klassischer Lagerbindungen interpretiert wurde. Der Angst vor einer Entfremdung, einer „Amerikanisierung“ setzte man nun gezielt das „Eigene“ entgegen. „Volk“ und „Heimat“ wurden erneut zum Erziehungsauftrag, und da diese Begrifflichkeit zweifellos älter als die nationalsozialistische Herrschaft war, erkannte man in ihnen „ewige Werte“, wobei man zu deren Propagierung auf alte Experten zurückgriff, deren Expertentum eben etwaige nationalsozialistische Zwischenspiele aufhob, bzw. kühl einkalkulierte, um auch an jene heranzutreten, die in ihrer „mentalen Verstörung“ verharrten. Man kann in diesem Milieu einen ähnlichen „Expertenzwang“ beobachten wie bei den „Kalten Kriegern“; aus den „alten Kämpfern“ des nationalsozialistischen „Kreuzzuges gegen den Bolschewismus“ wurden nur allzu leicht die Experten im Kampf gegen die „kommunistische Gefahr“, die unter neuen Vorzeichen auf alte Bilder und Argumente zurückgriffen. Auch hier wäre anzumerken, dass die Metaphern der Argumentationsketten vielfach im vornationalsozialistischen, hypernationalistischen Milieu wurzelten. Man betrachtete sie nun wohlgefällig als eine histoire de longue durée, deren Verdichtung im Nationalsozialismus man ignorierte, indem man gleich gar nicht die Frage stellte, ob deren epidemischer Einsatz nicht den Boden für den Nationalsozialismus aufbereitet hätte. So fand man seinen Platz, ohne über den eigenen Anteil an den sieben Jahren im „Tausendjährigen Reich“ nachdenken zu wollen.

Heimatkunde Schwierig war auch der Umgang mit dem „Vaterland“, der „Heimat“, da diese Begriffe durch die lingua tertii imperii bis zur Unkenntlichkeit missbraucht worden waren. Die Heimkeh15 Tony Judt, Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München–Wien 2006, 965. 16 Bruckmüller, Sozialgeschichte (wie Anm. 13) 425.

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rer, darunter verstand man lediglich die aus dem Krieg zurückgekehrten Soldaten und nicht die aus politischen und rassistischen Gründen Vertriebenen, die im allgemeinen Sprachgebrauch Emigranten blieben, suchten nach passenden Worten, wenn sie ihrer gefallenen Kameraden gedachten. Deren „Opfertod“ war ja nicht mehr unter „Für Volk, Führer und Vaterland“ zu subsumieren; sensiblere Gestalter vermieden auch „Volk und Vaterland“ beim Totengedenken. Sinngebung des Sinnlosen betrieb man, indem man die Gefallenen unter dem Schlagwort „Heimat“ subsumierte und deren Namen nur allzu oft im Umfeld einer Kirche platzierte. Statt eines Hakenkreuzes, das wäre zumindest ein deutlicher Hinweis auf das Verursacherprinzip, setzte man ihnen zumeist ein christliches Kreuz, der „Heldentod“ für Nazideutschland wurde theologisiert. Noch heute findet man gelegentlich auf einer Parte den Hinweis auf den Dienstgrad in der Wehrmacht. In der Bundesrepublik müssen ehemalige Angehörige der Volksarmee der DDR, wenn sie ihren Dienstgrad im Telefonbuch oder auf der Visitenkarte führen, diesen mit dem Hinweis i.e.f.A., in einer fremden Armee, versehen. Hierzulande, folgt man dem landläufigen Sprachgebrauch, taten die Soldaten nur ihre Pflicht im Kampf um die Heimat. Die Erziehung zur „Heimat“ zielte auf die Kinder und Jugendlichen der „mental Verstörten“. Dabei wurde dieser Heimat ein konstantes „Volk“ zugeordnet, das wechselnden „Überbauten“ ausgesetzt war: „Das Volk […] ist die Bevölkerung, die einen von der Natur vorgezeichneten Raum bewohnt. […] Auch die rassischen Merkmale der Donaubevölkerung waren längst konstant, als durch Romanisierung, Germanisierung und Slawisierung jene sprachlichen Komponenten aufgeprägt wurden, die im Zeitalter des Nationalstaatsgedankens überschätzt und als allein maßgeblich für die volkliche und staatliche Zugehörigkeit der Bevölkerung des Donauraumes angesehen wurden. Aus der natürlichen Einheit dieser Bevölkerung haben sich im Laufe der Geschichte mehrere Einzelvölker herausgebildet, die selbständige Nationen sind und auch bei Sprachgleichheit keiner anderen Nation angehören.“17

So weit ein hektographierter Unterrichtsbehelf für das Fach Geschichte an der damaligen Lehrerbildungsanstalt am Grazer Hasnerplatz im Schuljahr 1945/46. Der Erziehungsauftrag 1945/46 zielte also deutlich auf eine „österreichische Nation“ und demonstrierte damit den Bruch gegenüber der großdeutschen Geschichtsdeutung der Zwischenkriegszeit und der nati17 Hektographiertes maschinschriftliches Manuskript „Österreichische Geschichte“, das im Schuljahr 1945/46 an die Schüler der ersten Klasse der Lehrerbildungsanstalt Graz ausgegeben wurde. Das Manuskript reicht in seiner Darstellung von der Steinzeit bis 1918, während die jüngste Vergangenheit auf wenigen Seiten mit Daten und in Stichworten dargestellt wird. Das vorliegende Exemplar umfasst 104 Seiten und reicht bis zum 4. März 1933. Für die Überlassung dieses Unterrichtsbehelfes danke ich Frau Dr. Christa Höller, Graz.

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onalsozialistischen Herrschaft, wenngleich man in der Wortwahl unsicher war und man noch mit satter Heilsgewissheit „rassische Merkmale“ auszumachen wusste. Ende der 1950er-Jahre, eingebettet in die durch den Staatsvertrag ausgelöste Euphorie, das Wirtschaftswunder und das demonstrativ herausgestellte Heimatbewusstsein, brachte das Landesjugendreferat der Steiermärkischen Landesregierung den Band „Die Heimat lädt dich ein“ heraus, der als Gabe an die steirischen „Jungbürger“ auch von der Landeshauptstadt Graz, an deren Spitze der sozialistische Bürgermeister Eduard Speck stand, im Zuge von Jungbürgerfeiern verteilt wurde.18 Anlassfall, nämlich die Gabe bei steirischen Jungbürgerfeiern, Herausgeberschaft, das Landesjugendreferat, und Verbreitung lassen es zu, diesen Band als offiziösen Ausdruck des historischen, politischen und regionalen Bewusstseins der politischen Eliten des Landes zu lesen, wobei die Autoren vielfach autobiographisch für die knapp erläuterte histoire de longue durée stehen mögen. Dies spricht etwa Hanns Koren bei der Jungbürgerfeier am 4. Februar 1974 in Radkersburg an, indem er gleichsam das Deutungsmonopol der Politik für die Geschichte in Anspruch nahm: „Vergesst die Geschichte dieser Stadt nicht! Eure Geschichte! Geschichte ist keine Liebhaberei von ein paar Sonderlingen und Gelehrten, Geschichte ist eine tiefe Verpflichtung, die einer natürlichen Veranlagung des Menschen entspricht und ihn vom Tier unterscheidet. […] Die Geschichte ist das Gedächtnis eines Volkes, sie zeigt uns, was diesem Land und seinem Volk aufgetragen war und was ihm aufgetragen bleibt, unverzichtbar und unabwälzbar bis zum heutigen Tag.“19

Unbestritten kann eingewandt werden, dass derartige Aussagen und Befunde auch für andere österreichische Regionen gelten können; dass eben die Sehnsucht nach der „Normalität“ und das restaurative Klima der 1950er-Jahre jene Einstellung erleichtert hätte, die dort fortfahren wollte, wo man 1938 von den Nationalsozialisten herausgerissen worden war. Weiters ließe sich anführen, dass die geläuterten Repräsentanten völkischer bis nationalsozialistischer Provenienz eben ihre zweite Chance nutzten, um positiv zum Wiederaufbau beizutragen. Dabei, so scheint es, kam es zu einem Verdrängungsprozess. Die durch das Kriegserlebnis geformte junge Generation, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit an die Öffentlichkeit treten

18 Landesjugendreferat der Steiermärkischen Landesregierung (Hrsg.), Die Heimat lädt dich ein. Eine Gabe an die steirischen Jungbürger, Graz 1959. Die von der Stadt Graz verteilten Exemplare trugen auf dem Vorsatzblatt einen Widmungsvermerk der Stadt Graz, ein geprägtes Stadtwappen und die Unterschrift des Grazer Bürgermeisters. 19 Hanns Koren, „Heimat ist Tiefe, nicht Enge“. Hanns Koren – Reden, Graz [1977], 83–86, hier 85f. Als historische Fakten greift Koren in dieser Rede die Abwehrkämpfe um Radkersburg 1919 und die Belagerung der Stadt durch die Kuruzzen 1706 auf.

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konnte, Alois Hergouth20 und Rudolf Stibill wären stellvertretend zu nennen,21 und auch entsprechende Resonanz fand, wurde marginalisiert. Stibill zog, angewidert von dem Verlust der „Offenheit der Menschen“ 1955 eine sehr persönliche Konsequenz: Statt beim „Rundfunk die Kulturredaktion zu übernehmen“ siedelte er von „Graz nach Norddeutschland über, um an der Waldorfschule in Rendsburg als Lehrer tätig zu werden“.22 An deren Stelle knüpfen die Experten der Heimat, allen voran Viktor von Geramb, 1945 aus dem Abseits zurückkehrend, in das ihn die Nazis gestellt hatten, und Josef Steinberger, der ähnlich Geramb 1938 aus seinem Wirkungsfeld vertrieben, aber dennoch mit diesem in Kontakt bleibend, an die Maßnahmen der ständestaatlichen Steiermark an. Ein zumindest für Geramb nachzuweisender tiefer Kulturpessimismus23 und eine zumindest für Steinberger nachweisbare Unfähigkeit zur kritischen Analyse der jüngsten Vergangenheit24 erleichtern das Festschreiben antimoderner Positionen, deren Anteil am Nationalsozialismus negiert wurde, da man durchaus berechtigt darauf verweisen konnte, dass man diese lange vor dem Nationalsozialismus vertreten und man persönlich am Nationalsozialismus nicht teilgenommen hätte. Zynisch könnte man von einem charakteristischen Beitrag eines spezifischen Milieus zur „Epoche des Plagiats“ sprechen.25 Die Kooperation des deutschnationalen mit dem katholisch-nationalen Milieu wurde erneut institutionalisiert: 1952 wurde als Nachfolgeorganisation des „Vereins Südmark“, der 1925 aus der Verschmelzung des gemäßigten „Deutschen Schulvereins“ mit der scharf deutschnationalen und antisemitischen „Südmark“ hervorgegangen und der in den 1930erJahren ein Sammelbecken von (illegalen) Nationalsozialisten war, der „Alpenländische Kulturverband“ gegründet, der ein vorgeblich „überparteilicher“, „einflussreicher Akteur in der steirischen Kulturpolitik“ wurde.26 „Seine nicht nur in Fragen der Kulturpolitik zutiefst reak20 Hergouth, Assistent Korens, entwirft sein Bild der Heimat durchaus in jenen Traditionen, die das eigene Erleben in Verbindung bringen mit dem historischen Bewusstsein, wie es durch das familiäre Erinnern entsteht. Alois Hergouth, Der Mond im Apfelgarten. Aus meinem Leben, Graz–Wien–Köln 1980. 21 Seinen Blick der Heimat hat Rudolf Stibill charakteristischer Weise exakt auf die „schwierigen Jahre“ der österreichischen Geschichte gelegt. Rudolf Stibill, Stimmen des Ungewissen. Eine Jugend in Graz, Graz–Wien–Köln 1992; ders., Atemwaage. Kriegsende in Graz, Graz–Wien–Köln 1995. 22 Anja Ross, Nachwort, in: Stibill, Atemwaage (Wien Anm. 21) 165–188, hier 175. 23 Dieter A. Binder, Bergengruens Briefe nach Graz, in: Österreich in Geschichte und Literatur 27 (1983), 281–306. 24 So hielt Steinberger etwa Ende der 1940er-Jahre einen Vortrag unter dem klingenden Titel „Warum wir den Krieg verloren haben“. 25 Judt, Europa (wie Anm. 15) 547. 26 Alois Sillaber, „… nicht Rot und nicht Schwarz, sondern Weiß-Grün ist die Losung!“ Kulturpolitik in der Steiermark zwischen 1945 und 1960, Graz 1999, 57.

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tionäre Haltung, die in seinen Publikationen immer wieder zum Ausdruck gebrachte Angst vor ,Überfremdung‘ und ,Unterwanderung‘, das Weiterleben des Phantasmas vom ,Volkstumskampf im Südosten‘27, all dies tat seinem Einfluss auf die offizielle Politik keinen Abbruch, im Gegenteil: Er konnte sich – nicht zuletzt infolge der oft und gern zitierten ,Überparteilichkeit‘ – der symbolischen und finanziellen Unterstützung durch die Steiermärkische Landesregierung sicher sein.“28 Alois Sillaber führt in diesem Kontext die Wortmeldung des sozialistischen Landeshauptmann-Stellvertreters Norbert Horvatek an, der 1958 auf der „Hauptleitung“ des Alpenländischen Kulturverbandes angesichts weiterer Unterstützungen durch die öffentliche Hand festhielt: „Wenn ich noch auf den Kulturverband zurückkommen will, so begrüßen wir seine überparteiliche Linie als das einzig richtige. Pflege der Kultur soll eine Angelegenheit des Volkes sein, eine allgemeine Sache, die mit Parteipolitik und Konfession aber auch schon gar nichts zu tun hat.“29

Der schollenhaften Heimat widmeten diese Zirkel im Erzherzog-Johann-Jahr 1959 mit finanzieller Unterstützung der Landesregierung, der Kammer für Land- und Forstwirtschaft, der Steiermärkischen Bank und der damals noch von ihr getrennt marschierenden Steiermärkischen Sparkasse nach einer Idee von Josef Papesch,30 dem obersten Kulturbonzen des Reichsgaues Steiermark, das Buch „Grenzland Steiermark“.31 Freimütig bekannte sich der Herausgeber Papesch zur nationalsozialistischen Identität seines Buches: Er hoffte mit seinem „Einfall und Plan“, „damit wieder aufzunehmen und zeitgemäß fortzusetzen, was ab 1940 im Auftrag der damaligen steirischen Landesregierung“ von ihm, Hans Riehl, Wilfried von Teppner mit dem „Joanneum“ versucht worden war.32 Damit war sichergestellt, dass ein statischer 27 28 29 30

Vgl. die Rundbriefe des Alpenländischen Kulturvereins der Jahre 1954ff. Sillaber, Rot (wie Anm. 26) 57. Rundbrief des Alpenländischen Kulturverbandes 5 (1958), 2. Brief, 10. Josef Papesch wurde im März 1938 Landesrat für Kultur, ab 1940 war er Regierungsdirektor und Leiter der Kulturabteilung der Behörde des Reichsstatthalters. Karner definiert das Ziel der kulturpolitischen Aktivitäten von Papesch knapp: Das „Bodenständige, zutiefst ,Steirische‘ soweit zu adaptieren, dass beide Gesinnungen – die im steirischen Boden verwurzelte ,Blut-und-Boden‘-Grenzland-Mythologie, die als betont ,steirisch-eigenständig‘ positiv besetzt war, und die nationalsozialistische Ideologie, die ja wesentlich auch aus eben dieser Heimatmythologie gespeist wurde – untereinander austauschbar wurden.“ Karner, Maßgebende Persönlichkeiten (wie Anm. 2) 412f.. 31 Grenzland Steiermark. Ein Hausbuch herausgegeben vom Alpenländischen Kulturverband Südmark, Graz 1959. 32 Seit 1940 erschien „Das Joanneum. Beiträge zur Naturkunde, Geschichte, Kunst und Wirtschaft des Ostalpenraumes“. Als Herausgeber fungierte Josef Papesch unter „Mitwirkung von Ernst Bierbauer, Fritz Byloff, Helmut Carstanjen, Eberhard Clar, Armin Dadieu, Viktor von Geramb, Anton Gerschack, Franz Gosch, Filibert Gragger, Adolf Härtel, Ludwig Klebetz, Hans Kloepfer, Robert Mayer, Otto Müller-Haccius, Ignaz Nösselbeöck, Felix Oberborbeck, Hans Pirchegger, Friedrich Pock, Karl

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Heimatbegriff perpetuiert wurde, dessen Parameter „Bodenständigkeit“, „Verwurzelung“, „Blut und Boden“, „Gott und Boden“ lauteten. Man wich dadurch einem dynamischen Heimatbegriff aus, der stringent gelebt, nicht die „Perpetuierung autoritärer Strukturen, die als schon immer vorhanden, als quasi natürlich und somit unveränderlich dargestellt werden,“ gebracht, sondern die Fragen nach einem „demokratisch-selbstbestimmten, partzipatorischaufgeklärten Gemeinwesen“ gestellt hätte.33 Man verharrte in einer charakteristischen Realitätsverweigerung, an deren Ende die „Provinzialisierung als Resultat freiwilliger Abkapselung“ stand.34 Erst die kulturellen und politischen Aufbrüche, die sich seit den frühen 1960er Jahren nachweisen lassen und die ebenfalls im Umfeld Korens angesiedelt waren, ändern den Heimatbegriff: Dem Bollwerk, einst gegen die Türken, dann des Deutschtums, nunmehr der freien Welt, wird schrittweise, eingebettet in eine neue regionale Außenpolitik, Brückencharakter zuerkannt. Allerdings, so scheint es, verändert das Bild der Brücke nur partiell den Heimatbegriff, es ergänzt den statischen Heimatbegriff um ein Symbol der Offenheit und verweist noch nicht auf ein dynamisches Konzept, das „für alle Bewohner der Heimat ein optimales Verhältnis von Schutz und Freiheit, von Optionen und Ligaturen“ gewährleistet. Noch gibt die Politik das Deutungsmuster für die Codes der Heimat vor, sie stattete diese Codes „mit hohem Affektgehalt“35 aus und interpretiert sie, denn nur der „wahrhaft Gebildete“ vermag dies.36 Ein spätes Zeugnis dafür legt die Landesausstellung „Brücke und Bollwerk“ ab. Die Ausstellung akzentuiert ein Heimatgefühl, dessen Beschränkung als militärisch-politische Notwendigkeit dargestellt wird, da sich die Heimat gegen „das unerbittliche Gesetz der Steppe“ und die „weitausgreifende[n] Raubzüge [...] von Weltherrschaftsideologien“ zu wehren

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Polheim, Fritz Popelka, Hans Reiter, Hans Riehl, Julius Schütz, Walter von Semetkowski, Wolfgang Sittig, Wilfried von Teppner“. Ab 1941 hieß es nur mehr schlicht „Im Auftrage des Reichsstatthalters in der Steiermark (Gauselbstverwaltung) herausgegeben von Dr. Josef Papesch und Dr. Wilfried von Teppner. Schriftleitung: Universitätsprofessor Dr. Dr. Hans Riehl.“ Die Bände wiesen thematische Schwerpunktsetzungen auf. [Bd. 1: „Ostalpenraum und das Reich“ (1940), Bd. 2: „Kunst und Volkstum“ (1940), Bd. 3: „Musik im Ostalpenraum“ (1940), Bd. 4: „Verwaltung, Wirtschaft, Technik“ (1941), Bd. 5: „Natur, Forschung, Nutzung“ (1941), Sonderband: „Heimatliches Bauen im Ostalpenraum. Ein Handbuch“ (1941)] Sillaber, Rot (wie Anm. 26) 18. Ebda., 17. Heinz Schilling, Wandschmuck unterer Sozialschichten, in: Rainer Wick/Astrid Wick-Kmoch (Hrsg.), Kunstsoziologie. Kunst und Gesellschaft, Köln 1979, 335–355, hier 345. Hanns Koren, Gestalter des Heimatlebens, in: Hanns Koren, Reden, Graz 1966, 161–166, hier 165. Die Konzeption der Ausstellung „Berg der Erinnerungen“ im Rahmen des Programms der „Kulturhauptstadt Europas“ 2003 in Graz und der damit verknüpfte Publikumserfolg machen deutlich, dass ein dynamischer Heimatbegriff ein erstaunliches Mobilisierungspotenzial besitzt.

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hatte.37 Damit folgt der Gestalter in der Konzeption der Ausstellung, die kaum der Metapher der „Brücke“ nachgeht,38 der Deutung der Steiermark durch Hanns Koren, der 1962 die „Einheit und Eigenart des Landes“39 umriss: „Seit es die Steiermark gibt, haben die Steirer immer der kleinen Heimat und dem großen Reich gedient, das über viele nationale Grenzen hinweg die Mitte und der Schild des Abendlandes gewesen ist. Steirische Geschichte – wie treffend hat sie Hans Kloepfer charakterisiert als ‚ein Bild voll Blut und Wunden, von Schicksalen voll eines Grenzvolkes und seiner Heimat, die von den Bergfesten des Oberlandes, seinen Flussklausen und Zwangspässen abdacht gegen die sonnige Weinhügelwelt im Süden.‘ ,Des Deutschen Reiches Hofzaun‘ hat sie von alters her geheißen, ein bitterer Ehrentitel für ein Land, das gegen Osten und seine beutelüsternen Raubscharen zu Fuß und zu Ross von jeher offenlag.. [...] Es war immer schon das Schicksal des Steirervolkes, vorher und nachher, ein zähes Wehren, ein trutziges Dreinschlagen, ein Brandschutträumen und Wiederaufbauen, ein Sparen und Zinsen bei sauren Wiesen und frohen Festen.“40

Unter Anrufung der Eigenschaft des Landes als Mark vollzieht Koren die aktuelle Grenzziehung: „Es war die alte Landesgrenze gegen Zagorien, Kroatien und Krain hin und es ist die neue Grenze seit 1919, die einmal den geschlossenen Bereich des Landes in zwei verschiedene Sprachgebiete trennte und heute die Grenze der Steiermark, der Republik Österreich, der deutschen Muttersprache und des abendländischen Begriffes der Freiheit ist.“41

Bei aller Skepsis, die Universität als Hort der Intellektuellen zu betrachten, muss es doch verwundern, dass in der Mitte der 1950er-Jahre, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, keine Kontrapunkte zu dieser Art von Heimatverständnis und Politik gekommen sind. Pointiert hält Walter Höflechner für die Restaurationsphase an der Karl-Franzens-Universität fest: „Nach dem ersten Höreransturm, der im Studienjahr 1946/47 mit 5223 Studenten seinen Höhepunkt erreichte, ist die Studentenzahl in den Folgejahren bis 1954 kontinuierlich gesunken, wo37 Gerhard Pferschy, Grenzfunktion des steirischen Raumes, in: Gerhard Pferschy/Peter Krenn (Hrsg.), Die Steiermark. Brücke und Bollwerk, Graz 1986, 1–7, hier 2. 38 Charakteristischerweise ist eine überregionale geplante Ausstellung, die den Grenzraum als verbindendes Element erfassen sollte, in den 90er-Jahren noch in der Frühphase der ersten Konzepterstellung gescheitert. Die offiziöse Begründung verwies auf die Finanzschwäche des slowenischen Partners. Vgl. Kurt Jungwirth, Blick zurück, Blick nach vorn, in: Steirische Berichte 4 (1999), 18f. 39 Hanns Koren, Die Steiermark – Einheit und Eigenart des Landes, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 181–202. 40 Koren, Steiermark (wie Anm. 39) 200f. 41 Koren, Steiermark (wie Anm. 39) 201.

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bei sie mit 1749 Hörern einen Wert erreichte, der etwa dem um 1900 entsprach. Da gleichzeitig die Zahl der Professoren wieder anstieg und sich den alten Werten – wenn auch noch nicht jenen von 1914 – zu nähern begann, erstand zu Ende der 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre noch einmal gleichsam die alte Universität, ehe sich in den sechziger Jahren die Zahl der Studierenden nahezu verdoppelte und die Reformen sich anbahnten.“42

Die tiefe Zäsur der unmittelbaren Nachkriegszeit, in deren Verlauf eine erhebliche Anzahl nationalsozialistisch belasteter Hochschullehrer aus dem Amt entfernt worden war, hatte zunächst zu einem deutlichen Anstieg der ÖVP-nahen Hochschullehrer insbesondere aus den Reihen des CV geführt, die im Gegensatz zur Zwischenkriegszeit nun zu einer „christlichsozialen“ Dominanz des Milieus beitrugen, um schließlich, maßgeblich vom langjährigen Unterrichtsminister Heinrich Drimmel gesteuert, als neuen Juniorpartner den alten deutschnational(-liberalen) Flügel zu erhalten, in dem vormals als nationalsozialistisch Belastete reüssierten. Zwar hatte es Ansätze gegeben, an deren Stelle Angehörige der Wissenschafts­emigration zu setzen, doch scheiterte in Graz etwa Josef Dobretsberger mit seinen konkreten Vorschlägen am Widerstand des Unterrichtsministeriums und seiner Fakultät.43 Dafür kamen mit Hermann Ibler (1955),44 Hans Bertha (1961)45 oder Karl Vretska (1961)46 Professoren an die Universität, um drei Repräsentanten dieses Milieus an den drei „weltlichen“ Fakultäten zu nennen, die, wenngleich ihre spezifische NS-Belastung sehr differenziert gesehen werden muss, eindeutig die Wiederkehr signalisierten. Ein markantes Beispiel sei hier noch angeführt: Der vormalige Reichsgaustudentenführer und bis 1938 hauptberufliche illegale Nationalsozialist Wilhelm Danhofer wurde Lehrbeauftragter am Germanistischen Institut, dessen langjähriger despotischer Institutsvorstand Alfred Kracher NSFührungsoffizier gewesen war und dessen Habilitation von den Ehemaligen durchgedrückt worden war. Danhofer wurde schließlich auch an der Pädagogischen Akademie der Diözese Graz Seckau maßgeblich in die Ausbildung von Pflichtschullehrern eingebunden.

42 Walter Höflechner, Zur Geschichte der Universität Graz, in: Kurt Freisitzer/Walter Höflechner/HansLudwig Holzer/Wolfgang Mantl (Hrsg.), Tradition und Herausforderung. 400 Jahre Universität Graz, Graz 1985, 3–141, hier 74. 43 Vgl. Dieter A. Binder, Josef Dobretsberger (1903–1970). Ein heimatloser Bürgerlicher, in: Ober­ österreicher. Lebensbilder zur Geschichte Oberösterreichs, Bd. 7, Linz 1991, 171–190. Unter anderem versuchte er vergeblich Ernst Karl Winter oder Fritz Neumark für Graz ins Gespräch zu bringen. 44 Hermann Ibler, Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz. Teil 2: Nationalökonomie (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 9/2), Graz 1985, 117. 45 Ernst Klee, Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt am Main 1986, 164, 319f. 46 Vgl. Dieter A. Binder, Provinz ohne Juden. Das stumpfe Schweigen der Provinz, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25 (1994), 541–558, hier 551.

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Diese leckere Mischung aus Katholisch-Nationalem und Deutschnationalem traf sich aber auch auf anderer Ebene. Das Jungbürgerbuch sei hier als Quelle genutzt. Franz M. Kapfhammer, ein ausgewiesener Denker des katholischen Milieus zu Fragen der „Ehe, Elternschaft und Familie“47 zeichnet den Wandel der Familie in der industriellen Gesellschaft, deren Fragmentierung er als Gefährdung vor allem des Nachwuchses interpretiert. Bei aller Betonung der Gleichheit von Mann und Frau unterstreicht er sein traditionelles Rollenverständnis, in dem die Frau im Wesentlichen mit der Mutterschaft ausgelastet wird, während dem Mann „die politische Führungsaufgabe“ zugesprochen und im Mann der Hausvater „und der Priester des Hauses“ gesehen wird.48 Der Frau, die er an anderer Stelle als „Mittlerin zu den Bereichen, die wir als das Übersinnliche, Überirdische, das ,Göttliche‘ bezeichnen“, darstellt, billigt er allerdings ein wesentliches Korrektiv zur politischen Dominanz des Mannes zu: „Die Frau hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Mann sich nicht im Äußerlichen, im Betrieb, in den Sachen und Fiktionen verliere und sein Wesen nicht verkümmere, dass er Heimat finde.“49 Ehe und Eheschließung sind daher für ihn „Heimat“, die sich junge Menschen selbst zu schaffen haben.50 Für die Jungbürger unterstreicht er diesen Gedanken, indem er ihn auf ein Paar aus dem Kreis der Heimatvertriebenen stülpt und voll Begeisterung über deren mühsam geschaffenes Haus und deren fünftes Kind berichtet. Damit leitet er zu den Überlegungen von Wilhelm Herzog, einem ehemaligen Nationalsozialisten und SS-Angehörigen, über, dessen dringendste Sorge der „Geburtenrückgang“ bei „vielen europäischen Kulturvölkern“ seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist.51 Dieses Phänomen zeichnet er als „gefährliche Verfallserscheinung“ bei den „meisten hochzivilisierten Völkern“,52 denen die „kinderfreudigen Nachbarn im Nordosten, Osten und Südosten“ (wohl als Epitheton für „nicht hoch zivilisierte Völker“ zu lesen) als Bedrohung für die Zukunft gegenüberstehen, da es zu einer „unerwünschte[n], gewaltsame[n] Einwanderung“ kommen könnte.53 Der charakteristische Potenzneid des „völkischen“ Verschwörungstheoretikers unterscheidet traditionell zwischen erwünschter und weniger erwünschter Zuwanderung: So „ist nach dem Zweiten Weltkrieg auch eine starke Einwanderung von volksdeutschen, zum Teil auch nichtdeutschen Heimatvertriebenen erfolgt, die zahlenmäßig größer war als die gesamten Kriegsverluste“.54 47 Vgl. Franz M. Kapfhammer, Bekenntnis und Dienst, Graz 1971, 158–233. 48 Franz Maria Kapfhammer, Familie und Heim, in: Landesjugendreferat (wie Anm. 18) 7–37, hier 27. 49 Franz Maria Kapfhammer, Mann und Frau in der Lebensordnung, in: Kapfhammer, Bekenntnis (wie Anm. 47) 162–179, hier 169. (Erstabdruck 1955). 50 Kapfhammer, Familie (wie Anm. 48) 36f. 51 Wilhelm Herzog, Familienpolitik, in: Landesjugendreferat (wie Anm. 18) 38–51, hier 38. 52 Ebda. 53 Ebda., 46f. 54 Ebda., 46.

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Die „nichtdeutsche“ Zuwanderung scheint ihn zu beunruhigen, da mit 1956 die „Zuwanderung von ,politischen‘ Flüchtlingen aus Ungarn und […] aus Jugoslawien […] die fremdnationale Einwanderung“ anhält. Für die Zwischenkriegszeit konstatiert er, dass die „damalige Zahl der österreichischen Geburten bei weitem nicht mehr für die Erhaltung des Volksbestandes ausreichte“.55 In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Österreich, so Herzog, „zum zweiten Male der geburtenärmste Staat der Welt“, wobei Österreich diesen „traurigen, negativen Weltrekord […] bis zum Jahre 1955 gehalten“ hat.56 Familienpolitik tat also not, umso mehr als ein kurzer Blick in die Geschichte jedermann von der Effizienz einer derartigen Haltung überzeugen musste, denn die „Machtergreifung des Nationalsozialismus in Österreich im Jahre 1938“ hatte durch die „bevölkerungspolitischen Maßnahmen dieses Systems vorübergehend eine wesentliche Besserung unserer biologischen Situation zur Folge“, die allerdings durch den Krieg wiederum nicht weiter ausgebaut worden wäre.57 Resümierend wird dem Jungbürger, der Jungbürgerin ans Herz gelegt: „Es geht um die Erkenntnis, dass vor der Frage nach der Lebenshaltung die nach der Lebenserhaltung gestellt werden muss.“58 Wie dies zu geschehen hat, postuliert Kapfhammer einleitend: „Es beginnt mit der Liebe zwischen Mann und Frau, diesen beiden Hälften der Menschheit, die erst zusammen den ganzen Menschen ausmachen. Sie erfüllt sich in der Ehe, in der Gattenschaft, die Liebenden werden, ein Fleisch‘ […]. Vater, Mutter und Kind bauen die Familie auf: die kleinste, intimste und fruchtbarste Gemeinschaft in der menschlichen Gesellschaft.“59

Somit vereinen die beiden ersten Abschnitte des Jungbürgerbuches christliche Moral und völkische Zeugungsstrategie; dieser Gleichschritt an der „vaterländischen Zeugungsfront“60 ist in einem Spitzenprodukt katholischer intellektueller Auseinandersetzung mit den Problemen der Zeit, dem „Mariazeller Manifest“ von 1952, legitimiert: „Eine Gesellschaft ist dann in Ordnung, wenn die Familie in Ordnung ist. Hier liegt aber wohl die ärgste Wunde Österreichs. Hier blind zu sein oder mit billigen Phrasen vorübergehen zu wollen, hieße sich am Untergang unserer Heimat mitschuldig zu machen. Österreich besitzt den traurigen Ruhm, das geburtenärmste Land der Welt zu sein. Wir sind im Begriffe, ein Volk hungernder und bettelnder Greise zu werden, da uns in wenigen Jahrzehnten die arbeitende und produzierende Generation fehlen wird. Es wird niemand mehr da sein, der das Korn baut, damit

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Ebda., 41. Ebda., 42. Ebda., 41. Ebda., 51. Kapfhammer, Familie (wie Anm. 48) 7. Alexander Kluge, Die Lücke, die der Teufel läßt, Frankfurt am Main 2003, 501.

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wir Brot zu essen haben, der die Kohle schürft, damit wir uns wärmen, und der den Baum fällt, in dessen Brettern wir zur letzten Ruhe gebettet werden.“61

Die Rezeption des Manifests, das im bürgerlichen Milieu der Steiermark das charakteristische Theoriedefizit substituierte, durch Autoren wie Kapfhammer und Herzog im Jungbürgerbuch war von besonderem Mehrwert, denn man konnte dabei einfließen lassen, dass die familienpolitischen Maßnahmen der Regierung seit der Mitte der 1950er-Jahre62 eine positive Wende eingeleitet haben. So gesehen darf es auch nicht wundern, dass im Jahr 1959 ein „Steirischer Brautführer“ in sechster Auflage mit einem Vorwort von Paul Anton Keller erschien, in dem sogar die „Monatshygiene der Frau“63 sichtlich zum steirisch-nationalen Anliegen wurde und unter Berufung auf Pius XI. das Kind als „erste Stelle unter den Gütern der Ehe“ figurierte.64

Heimatmacher Bleiben wir kurz bei der katholisch-nationalen Liga der Heimatmacher. Dieser etwas anrüchige Terminus soll verdeutlicht werden. Heimat, in der ursprünglichen Begrifflichkeit, umfasste den eigentlichen Lebensraum, das alltäglich Vertraute. Die Ideologisierung der Heimat seit der Romantik, eingebettet in den Rahmen der Erziehung zur Nation, wie es George L. Mosse beschrieben hat,65 bedient sich Mobilisierungsinstrumentarien wie Vereinen und Symbolen.66 61 Mariazeller Manifest (Kurzfassung), abgedruckt bei Liebmann, „Das Mariazeller Manifest“ (wie Anm. 7) 652. Erstabdruck in: Österreichischer Katholikentag 1952. Festführer, Wien 1952, 29–32. Die zitierte Passage findet sich auch in der längeren Fassung, bei Liebmann, „Das Mariazeller Manifest“ (wie Anm. 7) 655. Erstabdruck in Kirche in neuer Zeit. Reden und Erklärungen des Österreichischen Katholikentages, Innsbruck–Wien–München 1952, 45–50. Der Blut-und-Boden-Charakter des Manifests wird deutlich, wenn etwa die „Bergbauern“ als „zukunftstragende Volksschicht“ (ebda.) beschrieben werden. Bei allem Respekt vor deren schwierigen Lebensbedingungen muss festgehalten werden, dass deren Anteil am Bruttosozialprodukt der Republik weitgehend eine marginale Größe darstellt. 62 Zur realen Situation vgl. die nüchterne Analyse von Annelies Redik, Die Bevölkerung der Steiermark seit 1945, in: Alfred Ableitinger/Dieter A. Binder (Hrsg.), Steiermark. Die Überwindung der Peripherie, Wien–Köln–Weimar 2002, 235–277, in Verbindung mit Anneliese Redik/Isabella Poier, Steiermark sozial, in: ebda., 279–307. 63 Steirischer Brautführer. Ausgabe Graz. Mit einem Vorwort von Paul Anton Keller. Hrsg. in Zusammenarbeit mit den zuständigen amtlichen Stellen und Behörden unter maßgeblicher Mitarbeit von Wilhelm Schaup. Salzburg 1959, 70–72. 64 Brautführer (wie Anm. 63) 24. 65 George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegung in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt am Main–Berlin–Wien 1976. 66 Vgl. Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen: Ein europäisches Panorama, München–Berlin 1998.

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Pointiert man in diesem Kontext diese Entwicklung in der Steiermark, so ergeben sich zwei Anknüpfungspunkte: Der Bedeutungsverlust der Region mit dem Ende „Innerösterreichs“ und die verschleppte Modernisierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden Folien für die traditionelle Kontroverse Provinz versus Metropole, Steiermark versus Wien, und für den Erzherzog-Johann-Mythos, in dem das zuerst angesprochene Spannungsverhältnis wiederkehrt, der „steirische Prinz“ versus Kaiser und Metternich.67 Um der dringend notwendigen Dramatik willen wird diese Position in einer Singularität projiziert, die jeden vergleichenden Blick scheut. Um glaubwürdig als Heimatmacher auftreten zu können, benötigt man eine entsprechende Legitimation. So betont Walter (von) Semetkowski in seinem Nachruf auf Viktor (Ritter von) Geramb, dass dieser „von beiden Elternteilen her steirisches Erbe empfangen hat; über seinen Großvater vom Eisenwesen, über die Vorfahren seiner Mutter vom Bauerntum“.68 Über den Begründer des bäuerlichen Schulwesens in der Steiermark und Gerambs Weggefährten Josef Steinberger weiß Semetkowski zu berichten, dass dieser als „Sohn eines Bauern in Aichdorf bei Fohnsdorf geboren“ wurde und sich sichtlich daraus seine „ungetrübte Frische des Geistes und Zähigkeit des Körpers“ ableiten lässt.69 Neben der bäuerlichen, schollenhaften Basis tritt das „norische Eisen“. „Woher kommst du? Wer bist du? […] Aus der Herzmitte der steirischen Heimat, wenn du auch Wien als Geburtsort in allen Dokumenten einzusetzen hattest. Der Adelsbrief deines Lebens wurde in der Steiermark entworfen. Aus der altsteirischen Hammerherrenherrlichkeit […].“70 Und wenn einer in Wien lebt, muss es dann heißen: „Im Taufschein steht die liebe alte Stadt Marburg an der Drau als Geburtsort. Solange der Dichter lebt, wird dieses schöne große Land vom Dachstein bis zur grünen Sann, ungeteilt durch Grenzen, in einem höheren Bereich unser unverlierbarer Besitz sein.“71 Und im Nachruf auf den illegalen nationalsozialistischen Studentenfunktionär, NS-Studentenbundführer und Kloepfer-Herausgeber Wilhelm Danhofer heißt es gleichsam den väterlichen oberösterreichischen Anteil gegen den mütterlich steirischen abziehend:

67 Dieter A. Binder, Die politisch-historische Instrumentalisierung des Erzherzog Johann-Mythos, in: Österreich in Geschichte und Literatur 43 (1999), 281–295. 68 Walter von Semetkowski, Viktor Geramb, in: Walter von Semetkowski, Aufsätze und Aufzeichnungen, Graz 1968, 449–454, hier 450; Erstabdruck in: Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 12 (1958). 69 Walter von Semetkowski, Ein Leben für Volk und Heimat. Hofrat Prälat Dr. h.c. Josef Steinberger zum Fünfundachtziger, in: Semetkowski, Aufsätze (wie Anm. 68) 446f., hier 447; Erstabdruck in: Murtaler Zeitung, 14.3.1959. 70 Hanns Koren, Ein universal gebildeter Mensch, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 203–206, hier 204. 71 Hanns Koren, Der Dichter des Steirischen Lobgesanges, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 239 241, hier 240.

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„Seine Mutter […] kam aus einer obersteirischen Hammerherrenfamilie. […] Da er mit Berufsverbot belegt war, erwarb er durch eine Lehre den Großen Befähigungsnachweis für den Eisenhandel, in dem er längere Zeit tätig war. Das war seine zweite Berührung mit dem Eisenwesen, denn der Großvater hatte ihm sein Hammerwerk in Kindberg vererbt.“72

Bäuerliche und hammerherrliche Herkunft schützt nicht vor universitärer Bildung, aber auch hier gibt es Refugien gesicherten Volkstums: „Sepp Rosegger gehört zu den großen Namen der Grazer Gothia: Ottokar Kernstock, Dr. Sperl, Hans Kloepfer und Viktor Geramb.“73 Die deutschnationale Sängerschaft wird also aufgerufen und ermahnt, dass diese „Namen […] nicht nur Stolz und Ehre, sondern auch Verantwortung und Verpflichtung bedeuten.“ Noch am Sterbebett hat Josef Steinberger „prophetische Worte“ gesprochen: „Die Bauern haben dieses Land deutsch gemacht, die Bauern haben aus diesem Land ein Kulturland gemacht; das ist es geblieben, weil die Bauern geblieben sind und durchgehalten haben, und das wird es bleiben, solange die Bauern bleiben.“74 Die Kontinuität dieser Heimat wird „2.500 Jahre“ zurückgeschrieben, „als die [deutschen oder bayrischen] Bergleute und Bauern eingezogen sind“.75 Die deutsche Steiermark ist Heimat. „Von der Heimat darf keiner desertieren“, meint Koren in seiner Ansprache an die Landjugend und dies fällt auch leicht, da „die Heimat […] der einzige Ort auf der Erde“ ist, „auf dem es Menschen gibt, auf die du dich letzten Endes verlassen kannst“.76 In seinem Erinnern an Hans Kloepfer, dem Wegbereiter des Nationalsozialismus in der Weststeiermark, spricht Koren in dessen verstorbenen Söhnen solche Menschen an, auf die man sich verlassen kann: „Gefährten unserer Jugend, ihr Bilder besserer Zeit“.77 Und nach dieser Paraphrase aus dem vielfach instrumentalisierten Lied Max von Schenkendorfs „Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu“78 wird erneut das 72 Gerhard Pferschy, Nachruf Wilhelm Danhofer, in: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 83 (1992), 495f. 73 Hanns Koren, Der Sohn des Dichters, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 257–262, hier 261. 74 Zit. nach Hanns Koren, Euch ist das Schicksal des Landes in die Hand gegeben, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 263–272, hier 267. 75 Hanns Koren, Die Ordnung des Gemeinwesens, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 409–421, hier 411. 76 Koren, Schicksal (wie Anm. 74) 265. 77 Hanns Koren, Bekenner der Heimat, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 337–343, hier 338. 78 „Wenn alle untreu werden, so bleiben wir doch treu, dass immer noch auf Erden für euch ein Fähnlein sei. Gefährten unsrer Jugend, ihr Bilder bessrer Zeit, die uns zu Männertugend und Liebestod geweiht. […] Ihr Sterne seid uns Zeugen, die ruhig niederschaun, wenn alle Brüder schweigen und falschen Götzen traun: wir wolln das Wort nicht brechen und Buben werden gleich, wolln predigen und sprechen vom heilgen deutschen Reich.“ In dieser Variante wurde es als „Treuelied der SS“ gesungen. Thilo Scheller (Hrsg.), Singend wollen wir marschieren. Liederbuch des Reichsarbeitsdiens­

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genealogische Heimatargument vorgetragen: „Eure Großmutter hat euch noch in euer Erbe den Adel kärntnerisch-steirischen Bergmannswesens gebracht.“79 In dieser männerbündlerischen Heimat haben die Frauen ihren Platz als „Mütter, die das Leben weitergegeben haben“,80 da „die Liebe der Mütter […] dieses Land erschaffen“ hat.81 „Durch Jahrhunderte hindurch ist die steirische Bäuerin mit roten Augen im Rauch der Rauchstube gestanden und hat ihre Kinder ausgetragen und aufgezogen und ist die erste Dienstmagd des Hauses gewesen. Und wenn sie heute auch vor dem Sparherd steht und wenn sie vielleicht schon mit dem Propangas kocht oder mit dem Elektroherd, die Hüterin der heiligen Herdflamme, das heißt die Hüterin der Seele des Hauses, muss sie bleiben.“82

Damit entsprach man dem Frauenbild des Mariazeller Manifests, das ausdrücklich „eine formalrechtliche Gleichstellung der Geschlechter“ ablehnte.83 Wenn also ein Heimatmacher von einer bäuerlich, bergmännischen Scholle und steirischen Mutter abstammt, er, entsprechend domestiziert, die wahre Heimat vermittelt hat, schließlich zu seinem Ende kommt, dann wird er nicht nur „die Herrlichkeit Gottes“ schauen, sondern ans Himmelstor tretend in „brüderlicher Umarmung“ von den Großen seiner Zunft in Empfang genommen: „Viktor v. Geramb, Josef Steinberger, der große Bauernsohn Peter Rosegger und ganz hinten noch der ,Steirische Prinz‘, Erzherzog Johann.“84 Die schollenhafte Heimat ist eine antiurbane Welt, in der Städtenamen lediglich dazu dienen, die einstige Größe zu umschreiben, sie ist „ein Rest eines schönen Landes, das einmal hoch vom Dachstein bis ins Wendenland im Tal der Save gereicht hat, und seit dem schmerzlichen Schnitt von 1919 liegen die altsteirischen Städte Marburg und Pettau und Cilli und das

tes, Potsdam ³o. J., 24. Ident abgedruckt in: Liederbuch der NSDAP, München 1938, 15f.; weiters in Südmark-Liederbuch, Graz 1920, 33. Leicht variiert findet es sich in: Deutschnationales Liederbuch, Hamburg 1921, 99. Je nach politischer Tendenz kann auch die letzte Phrase lauten: „von Kaiser und von Reich“ [Friedrich Silcher/Friedrich Erk, Allgemeines Deutsches Kommersbuch, Lahr 55.–58. Aufl. o. J. (um 1900), 118] oder „vom Heil’gen Röm’schen Reich“ [Diese Singweise hat der Verfasser um 2000 bei einem Kommers in Tirol gehört.] oder „von unserm Österreich“ [Österreichisches Kommersbuch, Innsbruck 1965, 67]. Auffallend dabei ist, dass die „austrifizierten“ Varianten erst Mitte der 1960er-Jahre nachweisbar sind und heute vielfach ohne Kenntnis der ehemaligen Instrumentalisierung durch die SS verwendet werden. 79 Koren, Bekenner (wie Anm. 77) 339. 80 Koren, Ordnung (wie Anm. 75). 81 Koren, Schicksal (wie Anm. 74) 269. 82 Ebda. 83 Mariazeller Manifest (Kurzfassung), 652; längere Fassung, 655 (beides wie Anm. 7). 84 Koren, Heimkehr des getreuen Knechtes, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 301–303, hier 303.

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Bachernland darum in fremden Staatsgebiet“.85 Charakteristisch tritt die Landeshauptstadt Graz als Sitz einer nicht weiter hinterfragten weltlichen und geistlichen Obrigkeit auf, denn, so scheint es, jede Obrigkeit ist gleichermaßen gerecht oder ungerecht. In diesem Kontext wird nicht differenziert. Amalgamierend wird das Schicksal der eigenen Generation erzählt, „die zwei Weltkriege und zwei Bürgerkriege mitgemacht hat und die weiß, dass es endlich genug ist mit einer Zeit, in der man sich innerhalb eines Landes und eines Volkes immer wieder nur eingesperrt hat, sich bekriegt und befehdet hat bis zum Kampf mit der Waffe in der Hand“.86 Erster und Zweiter Weltkrieg, der partielle Schutzbundaufstand im Februar 1934, der Juliputsch der Nationalsozialisten im gleichen Jahr, der in der Steiermark besonders heftig ausfiel, die vom „autoritären Ständestaat“ gleichermaßen Inhaftierten des sozialdemokratischen, des kommunistischen und des nationalsozialistischen Lagers werden gleich; die von den Nationalsozialisten unter rassistischen und politischen Vorzeichen in KZs und Vernichtungslager verbrachten Steirer werden gleichgesetzt mit jenen Nationalsozialisten, die nach dem Mai 1945 in Entnazifizierungslager und Gefängnisse verbracht worden sind. Aus diesem Krisenszenario ersteht wiederum die Heimat. Die Heimat ist christlich und deutsch und sie ist europäisch. „Europa ist überall in der Welt, wo das Licht des Christentums, die Gesittung des Abendlandes zur kulturtragenden und kulturschöpferischen Macht geworden ist.“87 Um nicht Unruhe zu stiften, bleibt die europäische Aufklärung unerwähnt. Alois Sillaber hat in seiner Dissertation in diesem Kontext auf die Institution der Heimatmuseen dieser Jahre verwiesen. „Auch sie erfüllten Gedächtnisfunktion, auch sie erlauben die Indienstnahme für den Fremdenverkehr, was sie aber meistens in erster Linie (re)präsentieren, ist nicht eine große, reiche, glorreiche Vergangenheit sondern vielmehr die angebliche, scheinbare Idylle vormaligen Landlebens. Durch die (Re-)Produktion des schönen Scheins einer heilen Welt, die es niemals gab, täuschen sie eine nie existierende soziale Einheit des Volkes vor und fördern auf diese Weise vorrangig die emotionale Bindung an die Heimat.“88

Auffallend dabei ist, dass dieser Heimatbegriff 1955 und in den Jahren danach, die vorgestellten Zitate stammen aus diesem Zeitraum, lagerübergreifend bei den im Landtag vertretenen Parteien wirkte. Der Kloepfer-Kult der sozialdemokratisch dominierten Stadt Köflach, die 1958 dem Dichter ein Denkmal setzte, spricht eine deutliche Sprache. Die völkische Tradition, aus dem 19. Jahrhundert kommend, blieb in der Ersten Republik unwidersprochen, ihre 85 Koren, Schicksal (wie Anm. 74) 265. 86 Hanns Koren, Europa und die Jugend, in: Koren, Reden (wie Anm. 36) 395–408, hier 396. 87 Ebda. 88 Sillaber, Rot (wie Anm. 26) 84f.

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Exponenten schufen mit den Vertretern des Ständestaates in der Steiermark jene Plattform der Erziehung zur Heimat, der sich auch die steirischen nationalsozialistischen Funktionäre bedienten. Nach einer kurzen Zwangspause 1945, der Entnazifizierung, der materiellen Not und der ersten Jahre nach dem „Ende des Krieges“, eine Datierung „nach der Befreiung vom Nationalsozialismus“ blieb ein Minderheitenprogramm, erfolgte eine Rekonstruktion des Milieus und seiner spezifischen Aussagen. Die in der revisionistischen Literatur gerne beschworene „Umerziehung“ hatte eben nicht stattgefunden.89 Angesichts des Wettrennens um die Stimmen der ehemaligen Nationalsozialisten vor den Wahlen 1949, angesichts der bedrohlichen Welt des „Kalten Krieges“, angesichts der bedrohlichen kommunistischen Nachbarschaft blieb die Heimat vorerst ein „Bollwerk“.

89 Vgl. etwa Rudolf Czernin, Das Ende der Tabus. Aufbruch in der Zeitgeschichte, Graz–Stuttgart 1998.

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Christian Fleck

Im Rahmen einer Bestandsaufnahme der Forschungen zur Steiermark während der NSHerrschaft ist es unumgänglich, auch die Universitäten zu behandeln. Neben dem Bedürfnis einer möglichst vollständigen Berücksichtigung aller gesellschaftlichen Subsysteme ist aber vor allem darauf hinzuweisen, dass die steirischen Hochschulen ein Kristallisationspunkt der lokalen Nazi-Bewegung waren, die in jenen Demonstrationen gipfelte, die Graz den Titel „Stadt der Volkserhebung“ einbrachten. Universitätslehrer und Absolventen der steirischen Hochschulen nahmen im NS-Apparat gewichtige Positionen ein; steirische Akademiker wirkten an führenden Stellen in den Okkupationsregimes in Osteuropa und in den Niederlanden und das Reichssicherheitshauptamt leitete ein Mitglied einer Grazer Burschenschaft. In einem merkwürdigen Gegensatz dazu steht, dass die Forschungslage zur Rolle der steirischen Hochschulen und ihrer Absolventen im NS-System auffallend defizitär ist – eine Tatsache, die hier nur benannt, aber nicht ausgeglichen werden kann. Hinweise auf diese Lücken und Erklärungsversuche für bislang unterbliebene Bemühungen, diese auszugleichen, stehen daher im Zentrum des folgenden Überblicks. Nicht nur wegen der relativ geringen Zahl an Forschungsarbeiten, sondern aus einem systematischen Grund muss die Behandlung des Themas abstrakter ansetzen. Die Autoren, die sich bislang mit diesem Thema befassten, folgten der unter Historikern weitverbreiteten Routine, ihre Darstellungen entlang überlieferter Akten zu schreiben, was systematische Verzeichnungen zur Folge hatte, da relevante Zusammenhänge in eben jenen Überlieferungen keinen Niederschlag fanden. Vieles von dem, was Universitäten und Wissenschaft kennzeichnet, steht nicht in Personalakten oder Protokollen universitärer Gremien. Um nur zwei Beispiele anzuführen: Wissenschaftliche Reputation oder die Dichte sozialer Netzwerke müssen auf anderen Wegen erfasst werden. Universitäten sind ein Teil der sie umgebenden Gesellschaft, der traditionell auf seine Autonomie großen Wert legt und diese Distanz gegenüber der Umwelt auch gerne als Politikferne camoufliert; manche Autoren gehen so weit, die Universitäten und das von ihnen wesentlich getragene Wissenschaftssystem als eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfenes System zu sehen, das – folgt man dieser Sicht – entlang eines eigenen Selektionsmediums, der Wahrheit, prozessiert. In deutlicher Absetzung von dieser überzogenen Sichtweise, die die Autonomie von Wissenschaft überbewertet und der Institution Universität eine Weltferne zugesteht, liegt den folgenden Ausführungen eine realistischere Sicht der Universität zugrunde. In gerade

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noch zulässiger Vereinfachung gehe ich davon aus, dass der Beitrag der Universität zur und ihre Stellung in der Gesellschaft über zwei Fragen erfasst werden können: Was tut sie bzw. was tun die in ihr Tätigen und wie bzw. mit welchen Folgen wird das getan? Universitäten und das Wissenschaftssystem widmen sich erstens der Produktion von Wissen; nicht alles, was als solches in Universitäten hergestellt wird, genügt dem Anspruch der Neuigkeit und manches neue Wissen altert schneller als die, die es herstellen. Zweitens geben Universitäten den Korpus gesicherten Wissens und die Methode zur Generierung künftigen neuen Wissens an Studenten weiter, fungieren also als Ausbildungsstätten. Drittens erhalten diejenigen, die den Ausbildungsweg erfolgreich durchlaufen haben, am Ende ein Zertifikat ausgestellt, das sie in die Lage versetzt und vielfach sogar berechtigt, gesellschaftliche Positionen einzunehmen, die jenen vorbehalten sind, die über derartige Berechtigungsscheine verfügen, wobei diese Positionen im Allgemeinen als privilegierter gelten, sei es hinsichtlich der Erwerbschancen, der Selbstverwirklichung oder des sozialen Ansehens. Universitäten sind also auch Statuszuweisungsmaschinen. Das von den Universitäten produzierte Wissen muss nicht sofort außerhalb des Labors Verwendung finden, oft genug funktioniert das Wissenschaftssystem auch als kognitiver Speicher, aus dem zu beliebigen Zeitpunkten wer auch immer verwendbares Wissen abrufen kann – Gutachten von Juristen illustrieren diese Funktion trefflich; zum Teil funktioniert das Nützlich-Werden des akkumulierten Wissens auch durch die Ausbildung von Verwendungs- und Weiterführungskompetenz, die den Absolventen gleichsam mit auf den Lebensweg gegeben wird; man denke an Mediziner, die viele konkrete Praktiken ihrer Profession erst nach Ende des Studiums „on the job“ erlernen. Je kreativer Absolventen in der Lage sind, ihre während des Studiums erworbenen Fähigkeiten im daran anschließenden Lebensabschnitt der Berufstätigkeit fruchtbar werden zu lassen, umso günstiger werden sie sich im jeweils gegebenen sozialen Schichtungssystem platzieren können. Diese Gelegenheitsstrukturen ändern sich im historischen Prozess, insbesondere divergieren sie zwischen einander ablösenden politischen Systemen. Viertens sind Universitäten Organisationen, die sich, obwohl sie weitestgehend aus Steuermitteln finanziert werden, mehr oder weniger selbst verwalten dürfen, die über die Rekrutierung ihres Personals in relativer Unabhängigkeit von Außeneinflüssen bestimmen können. Diese Selbstverwaltung führt fünftens dazu, dass Universitäten und die in ihnen Einflussreichen die Körperschaft gegen Übergriffe von außen verteidigen, wobei es den Universitäten oftmals gelingt, die faktische finanzielle Abhängigkeit vom Staat und seinen Steuermitteln in eine kulturelle Hegemonie zu verwandeln und der Gesellschaft im Wege von abstrakten Maximen oder konkreter Politikberatung mitzuteilen, was sie tun sollte. Diese Kulturmission der Gebildeten stellt über lange Perioden hinweg und in ganz unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Systemen den wichtigsten Mechanismus dar, mit dem die Universitäten ihre Autonomie konkret verteidigt und ausgestaltet haben. Universitätsangehörige und uni-

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versitär Sozialisierte nehmen oftmals den Platz ein, der in traditionellen Kulturen Priestern vorbehalten war. Auf diesem Weg tragen Universitäten, sechstens, zur sozialen und kulturellen Reproduktion bei. Nachfolgend werde ich darzustellen versuchen, wie diese sechs Funktionen und Mechanismen der Universitäten vor, während und nach der NS-Herrschaft ausgestaltet wurden, wobei ich mich vornehmlich auf die steirischen Hochschulen beziehen werde. Eingangs ist darauf hinzuweisen, dass die NS-Herrschaft im Zeithorizont der Universitäten eine sehr kurze Episode darstellte: 14 Semester! Der Lebenszyklus von Universitäten, beispielsweise gemessen an der Verweildauer der in ihnen Lehrenden oder der an ihnen Ausgebildeten, übersteigt diese Zeitspanne. Im Alltagsleben jeder Universität sind sieben Jahre kaum mehr als ein Augenblick und im Leben ihrer Angehörigen je nach Statusgruppe: die Dauer eines ein wenig verbummelten Studiums, die Zeit bis zum Erreichen der nächsten Karrierestation, der Zeitraum zwischen erstmaliger und der Wiederwahl in ein akademisches Amt ... Was im Zeithorizont einer Universität als eher kurz erscheint, war im Fall der NS-Ära, wie zu zeigen sein wird, hinsichtlich der Folgen jedoch ein tiefer Einschnitt. Beginnen wir mit dem erstgenannten Punkt, der Wissensproduktion. Hier kann ich mich sehr kurz halten: In den 14 Semestern zwischen dem freudig begrüßten Anschluss an das Großdeutsche Reich, dessen südöstlichsten Außenposten die steirischen Akademiker gerne bilden wollten, und dem Zusammenbruch des Regimes, den die steirischen Hochschulen als vorzeitiges Ende des laufenden Sommersemesters administrierten, wurde kein Wissen produziert, das sich als überlebensfähig erweisen sollte. Später wurde dieses Phänomen gerne mit der Metapher der wissenschaftlichen Halbwertszeit umschrieben, 1945 bediente man sich wohl anderer Bilder, um denselben Tatbestand zu fassen. Praktisch gesehen war die Halbwertszeit all dessen, was in den 14 Semestern erforscht und geschrieben wurde, im Frühsommer 1945 am Nullpunkt angekommen. Die meisten Hochschullehrer tilgten in ihren Veröffentlichungslisten die Einträge der Jahre 1938 bis 1945, zu allererst wohl jene, die in den Semestern davor Vorgesetzten als „kriegswichtig“ schmackhaft gemacht wurden. Die Löschung (wissenschafts-)politisch nicht mehr als zeitgemäß erachteten Wissens wurde manches Mal einige Jahre später rückgängig gemacht; beispielsweise bezog sich ein Grazer Gynäkologe zehn Jahre, nachdem er seine Versuche an um Zustimmung mit Sicherheit nicht gefragten Patientinnen nicht mehr fortführen konnte, dennoch auf Testreihen aus den Jahren, über die man sonst den Mantel des Stillschweigens breitete.1 Der Vorgang des vorübergehenden 1

Gabriele Czarnowski, Vom „reichen Material einer wissenschaftlichen Arbeitsstätte“. Zum Problem missbräuchlicher medizinischer Praktiken an der Grazer Frauen-Universitätsklinik in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Freidl/Werner Sauer (Hrsg.), NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument, Wien 2004, 225–274, hier 268ff.

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Wegsperrens nicht zustimmungsfähigen Wissens, das nach einer Abkühlungsperiode wieder hervorgeholt wird, ist wissenschaftssoziologisch einigermaßen ungewöhnlich und würde eine genauere, über den Einzelfall hinausgehende Untersuchung verdienen. Nun könnte jemand einwenden, die politische Kultur der Nachkriegsjahre habe das Zitieren von Arbeiten, die zwischen 1938 und 1945 veröffentlicht wurden, inopportun erscheinen lassen oder gar verboten. Doch für das Vorhandensein derartiger intellektueller Hygiene spricht nicht sehr viel: In den ohnehin sehr nachlässig betriebenen Entnazifizierungsverfahren der Hochschulen nahmen Veröffentlichungen eine unbedeutende Rolle ein, während persönliches Verhalten, Dauer und Prominenz von Mitgliedschaften in NS-Organisationen im Vordergrund standen. Ob jemand – meist ja nur vorübergehend – aus dem akademischen Verkehr gezogen wurde oder nicht, entschied wohl eher die Dichte und Tragfähigkeit seines sozialen Netzwerks, sicherlich aber nicht das von jemandem Geschriebene. Die Tatsache, dass die Angehörigen der steirischen Hochschulen im „Dritten Reich“ kaum etwas veröffentlichten, könnte man auch mit dem Hinweis darauf zu erklären versuchen, dass die Bedingungen des wissenschaftlichen Produzierens ungünstig gewesen wären – Papiermangel oder gar, dass sich Autoren in innerer Emigration wähnten, könnten den geringen Produktionsumfang erklären. Mir ist allerdings keine Nachkriegsveröffentlichung untergekommen, in der ihr Autor darauf hinweist, dass diese Arbeit eigentlich vor 1945 verfasst worden sei, aber aus diesem oder jenem Grund damals nicht veröffentlicht wurde oder werden konnte. Eine letzte Qualifikation des eben Gesagten ist insofern angebracht, als betont werden muss, dass die These, während der NS-Herrschaft sei kein wissenschaftliches Wissen produziert worden, sich ausdrücklich nur auf die steirischen Hochschulen bezieht.2 Mir ist durchaus bewusst, dass in anderen Regionen und in einigen Forschungsstätten des „Dritten Reichs“ 2

Zur Überprüfung dieser Hypothese habe ich folgende Darstellungen ausgewertet: Karl Acham (Hrsg.), Die Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Wien 1999–2006; Karl Acham (Hrsg.), Naturwissenschaft, Medizin und Technik aus Graz. Entdeckungen und Erfindungen aus fünf Jahrhunderten: Vom „Mysterium cosmographicum“ bis zur direkten Hirn-Computer-Kommunikation, Wien u. a. 2007; Walter Höflechner, Geschichte der Karl-Franzens-Universität. Von den Anfängen bis in das Jahr 2005, Graz 2006; Kurt Freisitzer u. a. (Hrsg.), Tradition und Herausforderung: 400 Jahre Universität Graz, Graz 1985; Ferdinand G. Smekal, Alma Universitas: Die Geschichte der Grazer Universität in vier Jahrhunderten, Wien 1967. Die von Stefan Karner kompilierte Landesgeschichte Die Steiermark im 20. Jahrhundert: Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, 2., durchges. u. erg. Aufl. Graz 2005., sowie andere seiner die NS-Periode behandelnden Veröffentlichungen: Stefan Karner, Die Steiermark im Dritten Reich: 1938–1945. Aspekte ihrer politischen, wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Entwicklung 3., durchges. Aufl. Graz 1994 und Stefan Karner (Hrsg.), Graz in der NS-Zeit 1938–1945 (Ludwig Boltzmann Institut für Kriegsfolgen-Forschung Sonderband 1), Graz u. a. 1999, entbehren irgendeines Hinweises auf nachwirkende wissenschaftliche Veröffentlichungen.

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durchaus Wissen entstand, um das sich nach dem Ende der Nazi-Herrschaft die Alliierten rauften – steirische Wissenschaftler zählten allerdings nicht zu den in die USA oder in die Sowjetunion Entführten.3 Wissenschaftliches Wissen weist die Eigentümlichkeit auf, sich regelmäßig auch auf sich selbst zu beziehen, Ideenketten zu pflegen oder deren Existenz zu behaupten, sich von Vorläufern abzugrenzen oder an gleichgesinnte Frühere anzuschließen, mit einem Wort reflexiv zu sein. Neues Wissen baut auf früherem auf und bezieht sich daher in mehrfacher Weise auf die Vergangenheit; eine Variante dieser Selbstreflexion des Wissens ist darin zu sehen, dass versucht wird, deutlich zu machen, warum, was heute gewusst wird, früher nicht auch schon gewusst wurde oder gewusst werden konnte. Bemerkenswerterweise ist der Umfang des selbstreflexiven Wissens über das in der NS-Zeit produzierte Wissen dürftig, Nämliches lässt sich auch für die anderen Aspekte und Funktionen der Universitäten behaupten, allerdings doch in geringerem Ausmaß: Dass Nationalsozialisten an den steirischen Hochschulen eine unrühmliche Rolle spielten, wird heute zumindest nicht mehr in Abrede gestellt oder nicht mehr hinter dem Vorhang erst noch zu leistender, allerdings so schrecklich aufwändiger Forschung verborgen. Doch während nach allgemeinem Konsens über die relative Bedeutung verschiedener Aspekte des wissenschaftlichen Tuns das „Wer?“ und „Wie?“ hinter dem „Was?“ der Forschung ins zweite Glied zu treten haben, verhält es sich bei der Behandlung der NS-Zeit gerade umgekehrt: Die Exponenten des Nazitums und die äußere Geschichte der Übernahme der inneruniversitären Herrschaft durch diese Personengruppe zu Lasten der traditionellen Selbstverwaltung sind mittlerweile mit Namen und Mitgliedsnummer bekannt und werden in den historischen Darstellungen im Detaillierungsgrad nur durch die Behandlung der prominentesten Opfer des Nationalsozialismus übertroffen. Auf diese Weise werden die unrühmlichen 14 Semester eingeklammert und dadurch, wie man sagen könnte, entsorgt, weil die Genese und die (Nach-)Wirkung der NS-Periode nicht thematisiert werden.4 Die zweite Funktion von Universitäten, die Weitergabe von Wissen an die nächste Generation, kann nun durchaus wahrgenommen werden, ohne dass die Lehrenden sich um den 3 4

Tom Bower, The paperclip conspiracy: The hunt for the Nazi scientists, Boston u. a. 1987. Hier ist es angebracht, darauf hinzuweisen, dass die ersten Veröffentlichungen über die Nazizeit an den steirischen Hochschulen akademische Außenseiter zu Autoren hatten, während die wohlbestallten Verwalter des institutionellen Gedächtnisses der heimischen Hochschulen lange Jahre hindurch sich mit kleinstmöglichen Darstellungen dieser Vergangenheit begnügten: Steirische Gesellschaft für Kulturpolitik (Hrsg.), Grenzfeste deutscher Wissenschaft. Über Faschismus und Vergangenheitsbewältigung an der Universität Graz, Wien 1985; Hans-Peter Weingand, Die Technische Hochschule Graz im Dritten Reich. Vorgeschichte, Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus an einer Institution, 2. Auflage, Graz 1995; Wolfgang Freidl u. a. (Hrsg.), Medizin und Nationalsozialismus in der Steiermark, Innsbruck u. a. 2001.

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Novitätsgrad des von ihnen vermittelten Lehrstoffs allzu sehr kümmern müssten. Ein Unterricht, der veraltetes Wissen weitergibt, genießt vielleicht nicht allzu hohes Ansehen, doch der Ruf der Hochschullehrer hängt ohnehin meist von anderen Facetten ihrer Persona ab und deren Darsteller sind von den Reaktionen ihres Publikums existenziell zumeist nicht wirklich abhängig. In der NS-Periode wurden im akademischen Unterricht nun durchaus Themen behandelt, die in den Jahren davor nicht vorkamen, doch wird bei einem genaueren Blick rasch klar, dass die neuen Lehrveranstaltungsinhalte eher wenig mit dem zu tun hatten, was gemeinhin als Wissenschaftsfortschritt bezeichnet wird: Wehrturnen, -hygiene, -physiologie, Chemie der Kampfstoffe und ähnliche Vorlesungsthemen verweisen auf die Militarisierung der Hochschulen und ihres Personals, „Schmarotzer und ihre Umwelt (unter besonderer Berücksichtigung des Menschen)“, „Sinn der Geschichte und Sinn des Reiches“, „Die Judenfrage“ und „Rasserecht“ als Titel von an der Universität Graz angebotener Lehrveranstaltungen auf die ideologische Ordnung der Zeit. Mit großer Sicherheit kann man weiterhin sagen, dass andere wissenschaftliche Theorien, vor allem solche, deren Gestalt mit Personen auf das Engste verbunden waren, die die Nazis zu ihren Gegnern zählten, während dieser Jahre nicht unterrichtet wurden. Bedenkt man drittens, dass viele Studenten nach einer deutlich verkürzten Studiendauer graduiert wurden, muss man wohl folgern, dass die Absolventen der Jahre 1938 bis 1945 nicht gerade gut ausgebildet wurden, jedenfalls wesentliche Wissensbestandteile, die man Mitte des 20. Jahrhunderts kennen sollte, nicht vermittelt bekamen. Im Gegensatz zu den Hochschullehrern, denen zumindest auf dem Papier eine Überprüfung ihrer Eignung für die wiedererstandene Republik und deren demokratisches Bildungssystem angedroht wurde, musste kein einziger Student „nachsitzen“. Auch bei der Entnazifizierung der Studierenden ging es nur um Mitgliedschaften und persönliches Verhalten, doch nie um das, was in diesen Jahren vielleicht nicht oder falsch gelernt wurde. Manche Studenten zeigten denn auch über das Ende des NS-Regimes hinaus, dass sie kognitive Anpassungsprobleme hatten, so z. B. jene 166 Grazer Studierenden, die auf den Inskriptionsformularen des Studienjahres 1945/46 in der Spalte Religionsbekenntnis „gottgläubig“ angaben.5 Die Produktion von Funktionseliten fand auch während der 14 Nazi-Semester statt und nach heutigem Wissensstand wurde keinem Studierenden der steirischen Hochschulen, der während dieser Zeit sein Studium beendete, der erworbene Titel wegen unzulänglicher Beherrschung des jeweiligen Faches aberkannt. Die Universität als Statuszuweisungsmaschine – der dritte eingangs angeführte Aufgabenbereich des höheren Bildungssystems – erfuhr keine Entnazifizierung. Nun könnte man natürlich einwenden, dass das vielleicht das geringste Problem war, dem sich die wiedererrichtete Republik und ihr Hochschulsystem gegenübersahen, 5

Jürgen S. Rassinger, Die Studentenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz: Wintersemester 1945/46 – Sommersemester 1947, Diplomarbeit Graz 1999, 98.

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und dass es sich in jedem Fall um eine verschwindend kleine Gruppe von Personen handelt. Der Anteil der „Akademiker“ an der gesamten Bevölkerung Österreichs betrug Mitte des 20. Jahrhunderts rund ein Prozent. Doch dieses eine Prozent war einflussreich und bildete ein dichtes Netzwerk. Blättert man die mittlerweile publizierte Diplomarbeit von Petra Scheiblechner durch,6 die sich die Mühe gemacht hat, mehr als 360 Biografien von Personen zu dokumentieren, die zwischen 1938 und 1945 an der damaligen Medizinischen Fakultät der Universität Graz beschäftigt waren (von Instruktoren bis zum Dekan, aber ohne Berücksichtigung der SS-Ärztlichen Akademie), gewinnt man einen Eindruck von der Mächtigkeit dieser Funktionselite: Neben den Namen jener, die mit der Fakultät länger verbunden blieben, findet man auch die Namen von Ärzten, die sich späterhin als Allgemeinmediziner oder als Fachärzte in Graz niederließen und an der Ausübung ihres Berufes selbst dann nicht gehindert wurden, wenn sie Gegenstand staatsanwaltlicher Erhebungen waren oder sich in den Augen mancher verdächtig machten, weil ihre Vitae Perioden als Lagerarzt im KZ Dachau aufweisen. Die Asymmetrie zwischen der Gültigkeit von Zertifikaten aus dunkler Zeit und der Benachteiligung jener, die von diesem System an der Fertigstellung ihrer vor dem März 1938 begonnenen Studien gehindert wurden,7 hat andernorts zu symbolischen Wiedergutmachungen geführt,8 von den steirischen Hochschulen kann derartiges nicht berichtet werden. An die Seite qualitativ fragwürdiger und hinsichtlich des Studienumfangs dürftiger Ausbildungen, deren Abschlussbestätigungen dennoch zur Ausübung einschlägiger Berufe berechtigte, trat eine weitere Bevorzugung jener, die von der Kriegsmaschinerie nicht verschlungen worden waren. Die Erwerbschancen der Akademiker waren in Österreich seit 1938/39 um vieles günstiger als in den Jahrzehnten davor. Der Grund dafür war ein simpler: Die Vertreibung und Ermordung der Juden eliminierte Konkurrenten. Das Ausmaß dieser Markträumung ist im Detail noch nicht erforscht und wurde interessanterweise nicht einmal von der Historikerkommission in Angriff genommen, die kaum einen Winkel unberücksichtigt ließ.9 6 7

8 9

Petra Scheiblechner, „Politisch ist er einwandfrei“. Kurzbiographien der an der Medizinischen Fakultät der Universität Graz in der Zeit von 1938 bis 1945 tätigen WissenschafterInnen (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 39), Graz 2002. Die Zahl der von den Nazis am Studienabschluss gehinderten Studierenden sind für die steirischen Hochschulen bislang nicht festgestellt worden. Die Zahlen der Hörer mosaischen Glaubens mar­ kieren den unteren Grenzwert. Alois Kernbauer, Der lange Marsch zur „politischen Hochschule“. Die Grazer Hohen Schulen in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Karner (Hrsg.), Graz in der NS-Zeit 1938–1945 (wie Anm. 2) 179–193, hier 188f. nennt 37 für die Universität und 6 für die Technische Hochschule. Herbert Posch/Doris Ingrisch/Gert Dressel, „Anschluß“ und Ausschluss 1938. Vertriebene und verbliebene Studierende der Universität Wien, Wien 2008. Historikerkommission der Republik Österreich, Schlussbericht der Historikerkommission der Repu­

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Mit einigem Recht kann man sagen, dass die Einkommens- und Vermögensentzüge, die den Opfern der Nazis widerfuhren, die Gewinnchancen der anderen waren. Berücksichtigt man, dass der Akademikeranteil unter österreichischen Juden höher war als in der restlichen Bevölkerung, dann kann man errechnen, wie viele Einnahmen die „arischen“ Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten etc. zusätzlich lukrieren konnten, weil sich das gesamte Klientel der jeweiligen Berufsgruppe nun auf eine geringere Zahl von Anbietern verteilte. Die Statuszuweisungsmaschine Hochschule funktionierte über die politischen Brüche hinweg ohne Einschränkungen und führte zu Ergebnissen, die hinsichtlich der materiellen Ausstattung der Akademiker diese relativ zum Durchschnittsbürger vermögender werden ließ. An die Seite dieser im Detail noch zu erforschenden Privilegierungen der während der NaziZeit und unmittelbar danach ihr Studium Beendenden tritt deren subkulturelle Homogenität. Der Lebensabschnitt als Student ist für gewöhnlich auch verbunden mit der Etablierung von Sozialbeziehungen, die ein hohes Maß an sozialer Exklusivität aufweisen. Es spricht einiges dafür, dass die studentische Vergemeinschaftung vom Typus Burschenschaft zumindest die männlichen Studierenden in hohem Maße erfasste, was auch dann wahr bleibt, wenn man dem Umstand Rechnung trägt, wonach die Burschenschaften während des größeren Teils der Nazi-Herrschaft nicht offiziell tätig sein durften (oder mochten). Wenn hier vom Milieu der Burschenschaften gesprochen wird, ist damit eben das „nationale“ soziale Netzwerk gemeint, das auch dann noch gepflogen werden konnte, wenn die formale Organisation sistiert war. Wegen der geringen Zahl an Studierenden war deren Überschaubarkeit hoch und die Vergemeinschaftungen deswegen bindungsintensiver. Über all das weiß man herzlich wenig, doch einige Indizien deuten an, wie sehr der soziale Zusammenhalt über Jahrzehnte hinweg im akademischen Untergrund aufrechterhalten wurde. Beispielsweise wissen wir über die Mitglieder der SS-Ärztlichen Akademie, die im Herbst 1940 von Berlin nach Graz verlegt wurde, fast gar nichts. Akten scheinen nur im geringsten Umfang erhalten geblieben zu sein, doch einer entlegenen Publikation wie dem Mitteilungsblatt „Der Freiwillige“ konnte man noch 1967 entnehmen, dass sich ehemalige „Junker“ regelmäßig trafen. Angehörige desselben Milieus ließen es sich nicht nehmen, eine mehr oder weniger unzweideutige Gedenktafel am für das Zusammentreffen von SS-Angehörigen notorisch bekannten Kärntner Ulrichsberg aufzustellen. Googelt man „SS-Ärztliche Akademie“ findet man wenige Hinweise auf Texte, dafür umso zahlreichere Angebote von Abzeichen, die noch im Jahr 2009 feilgeboten wurden. In ähnlicher Weise huldigen Grazer Burschenschaften jener ihrer ehemaligen Mitglieder, die, wie beispielsweise Ernst Kaltenbrunner, als Kriegsverbrecher in Nürnberg verurteilt und hingerichtet wurden. Diese wenigen, ohne großen Rechercheaufwand erschlossenen Hinweise blik Österreich: Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich; Zusammenfassungen und Einschätzungen, Wien u. a. 2003.

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auf eine spezifisch subkulturelle Traditionspflege erlauben meines Erachtens die Behauptung, dass der Gemeinschaftskitt der Nazi-Studenten lange über das Regimeende hinaus funktionierte. Man kann sich also leicht ausmalen, in welchem Maße sich Einzelne gegenseitig unterstützt haben mochten, als sie meinten, Hilfe zu benötigen. Der Sozialcharakter des „Herrn Dr. Karl“ fand im Gegensatz zu seinem plebejischen Pendant, dem Carl Merz und Helmut Qualtinger ein literarisches Denkmal errichteten, bislang keine Beschreibung. Die universitäre Selbstverwaltung ist das organisationale Pendant zur eben skizzierten Abschottung von Studierendenkohorten. Bei der Abwehr von Übergriffen vorgesetzter Behörden sind sich Funktionsträger einer Universität zumeist einig; das gilt selbst dann, wenn zwischen beiden eine Übereinstimmung ideologischer Natur gegeben ist, wie das während der NS-Herrschaft der Fall war. Partialinteressen und die Verteidigung des eigenen Einflussbereichs spielten auch im Zuge der Gleichschaltung der Wiener Universität eine bedeutende Rolle, wie Albert Müller gezeigt hat.10 Analoge Vorgänge an steirischen Hochschulen sind nicht nur anzunehmen, sondern mit einiger Wahrscheinlichkeit auch noch belegbar. Für das Phänomen der Kameraderie und jenes der Verteidigung der Zunft hat vor Längerem der deutsche Philosoph Hermann Lübbe die sprechende Formulierung der „nicht-symmetrischen Diskretion“ geprägt11; damit wollte er darauf hinweisen, dass sich in den Nachkriegsuniversitäten, wie er es ein wenig pompös nannte, „als Widerständler aus Flucht und Untergrund remigrierte Professoren“ und frühere Parteigänger der NSDAP Seite an Seite wiederfanden und ein Modus Vivendi zu finden war. Der Mangel an Widerständlern unter den steirischen Hochschullehrern12 sollte einen nun nicht dazu veranlassen zu folgern, dass es derartige asymmetrische Diskretion hierzulande nicht gegeben habe.13 Das zeitweilige Absehen von Konflikten und Gegensätzen ist für jede formale Organisation nahezu unumgänglich, will sie funktionstüchtig bleiben. In Lebenswelten, in denen der Verteidigung der Zunft das Primat zukommt, obsiegen in kritischen Situationen Formen der Kameraderie oftmals über andernfalls relevante (Interessen-)Gegensätze. Als Beispiel sei hier der Fall jenes Grazer Juristen an-

10 Albert Müller, Dynamische Adaptierung und „Selbstbehauptung“. Die Universität Wien in der NSZeit, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), 592–617. 11 Hermann Lübbe, Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007, 22. Das folgende Zitat auf Seite 21. Ursprünglich als Aufsatz unter dem Titel Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), 579–599, erschienen. 12 Dem der Haushistoriker der Grazer Universität damit Abhilfe verschaffen will, dass er auch noch die belanglosesten Meinungsverschiedenheiten als an Widerstand grenzenden Dissens ausgibt: Höflechner, Geschichte der Karl-Franzens-Universität (wie Annm. 2) 193. 13 Die Rektoratsrede des 1946 wieder ins Amt eingesetzten Josef Dobretsberger kann dafür als Beispiel herangezogen werden.

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geführt, der im Stabe von Hanns Rauter in den Niederlanden als Schreibtischtäter wohl auch an der Verfolgung der Juden beteiligt war. Nach Kriegsende kehrte er auf seine Grazer Professur zurück und lehrte Verfassungsrecht, als wäre nichts gewesen. Berichte in der Lokalpresse verstörten die Kollegenschaft, wurde doch darin nahegelegt, dass er und seine Gattin zu Opfern eines Erpressers geworden sein mochten, da deren ansonsten bescheidener Lebenswandel den nötig gewordenen Offenbarungseid – so nannte man damals den persönlichen Konkurs – nicht erklärlich machen würde. Interessanterweise machte sich ein anti-nazistischer Kollege gemeinsam mit dem in Verruf geratenen Kollegen in Bayern auf die Suche nach einer „Ausweichstelle“, die auch prompt gefunden wurde.14 Geschichten wie diese illustrieren den starken Hang von Akademikern, ihren Stand und daher auch jene seiner Mitglieder, die in Schwierigkeiten gekommen waren, selbst dann noch tatkräftig zu verteidigen, wenn man den devianten Kollegen auch fallen lassen könnte. Ab einer gewissen Statushöhe fällt man in Österreich wegen der eigenen Vergangenheit nicht mehr aus dem System hinaus, sondern schlimmsten Falls anderswo hin. 15 Ich komme damit zum Ende, zur Frage auf welchem Weg die steirischen Hochschulen zur sozialen und kulturellen Reproduktion beigetragen haben. Die unbestreitbar unterbliebene Auseinandersetzung mit den Jahren der NS-Herrschaft führte im Verbund mit der Persistenz der in diesen Jahren geknüpften sozialen Bande dazu, dass die Institution Wissenschaft und ihr organisatorisches Flaggschiff Universität nachhaltig Schaden nahmen. Diesen Schaden kann man an zwei einander ergänzenden Mechanismen ablesen: Zum einen nahm die moralische Haltung der Rolle des Wissenschaftlers Schaden, weil für jeden, der durch diese Zäsur hindurchging, mit Händen zu greifen war, dass für das Überleben in der Institution Universität die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit unbedeutend war. Da nun aber Wissenschaft – insofern dem gängigen Selbstbild des Arbeitens in Einsamkeit und Freiheit durchaus entsprechend – eine Tätigkeit ist, die, will sie mit Aussicht auf Erfolg praktiziert werden, einen langen Atem und anhaltende Entbehrungen nötig hat, wird die Berufsmoral dauerhaft untergraben, wenn andere reüssieren können, deren einziges Verdienst darin liegt, dass sie sich als sozial anpassungsfähig erwiesen. In diesem nur sozialpsychologisch zu verstehenden Verfall der Wissenschaft als Berufung liegt begründet, dass, lange über das Ende des Nazismus hinaus, die Produktion von wissenschaftlichem Wissen unterdurchschnittlich ausfiel. An die Stelle der normativ verstandenen Steuerung des wissenschaftlichen Arbeitens durch Her-

14 Christian Fleck, Der Fall Brandweiner: Universität im Kalten Krieg, Wien 1987, 87ff. 15 Um aus der Zunft verstoßen zu werden, muss man – hat man erst einmal eine bestimmte Statusposition erlangt – in der jeweiligen Gegenwart ein gerüttelt Maß an Devianz an den Tag legen und sich obendrein als resozialisierungsresistent erweisen. Siehe dazu Fleck, Der Fall Brandweiner (wie Anm. 14).

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stellung neuen Wissens trat im Gefolge der Umwälzungen, die die totalitäre Machtergreifung begleiteten, ein Belohnungssystem, in dessen Zentrum die Kameraderie Platz genommen hatte. Die Angst vor dem Versagen des um Erkundung des Neuen Bemühten wurde von der Angst um den Verlust der Position abgelöst, die man unter Ausnutzung der Gegebenheiten erlangte, die man selbst nicht zu verantworten hatte, aber für sich nutzen konnte. Die kollektiv erfahrene Bedrohung, dass das Kartenhaus einstürzen könnte, dem man seine Etablierung verdankt, schweißte die Generationsgenossen zusammen, sicherte deren Stabilität und erodierte die Leistungsmotivation. Vom amerikanischen Sozialpsychologen Stanley Milgram stammt die Behauptung, alle Menschen dieser Welt seinen über sechs Handschläge miteinander verbunden. Die kleine soziale Welt der österreichischen Hochschulen demonstriert, dass in ihr jedermann durch weit weniger als sechs Handschläge mit jemandem verbunden ist, der während der NS-Zeit zu den „Ariseuren“ und anderweitigen Profiteuren zählte. Deren Schüler saßen weit bis in die Zweite Republik hinein an den Schalthebeln und auch noch die Schüler der Schüler zeigten sich bemüßigt, ihre Lehrer und deren Lehrer vor Angriffen zu schützen. Eine künftige Geschichte der Universitäten und ihrer Absolventen wird diesen Knäuel erst noch aufzudröseln haben.

Gedächtniskultur in der steirischen Landeshauptstadt Graz Erinnerungszeichen an Krieg, Nationalsozialismus und Holocaust im öffentlichen Raum1

Heidemarie Uhl

Erinnerungszeichen für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs prägen ebenso wie die Gedenkstätten für den Widerstand gegen das NS-Regime und für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft die zeitgeschichtliche Denkmallandschaft in Österreich. Ihre Präsenz im öffentlichen Raum verweist auf unterschiedliche Bedeutungsebenen: Als bleibende Zeichen der Erinnerung an die Opfer von Krieg und Gewalt sind sie für die Hinterbliebenen Orte der Trauer und des Gedenkens. Allerdings erschöpft sich die Bedeutung von „Gedächtnisorten“ (Pierre Nora)2 nicht in ihrer Funktion als symbolisches Grabmal. Die Zeichen der Erinnerung begegnen uns zugleich als Materialisationen des Geschichtsbewusstseins im Alltag. Die vielfältigen Ausdrucksmittel ihrer Symbolsprache – Textierung, formale Gestaltung, Situierung im öffentlichen Raum – vermitteln direkt, in welcher Weise Vergangenheit im Gedächtnis behalten werden soll. Die Denkmallandschaft repräsentiert somit auch die kollektiven Einstellungen und wertorientierten Haltungen einer Gemeinschaft, indem sie darauf verweist, welche Deutungsangebote hinsichtlich der Vergangenheit vorherrschen und welche marginalisiert sind. Das Denkmal als Medium des „kollektiven Gedächtnisses“ (Maurice Halbwachs)3 reflektiert so immer auch gesellschaftliche Hierarchien und Machtverhältnisse, denn es ist, wie der Denkmalkritiker Alfred Lichtwark bereits um die Jahrhundertwende 1900 bemerkte, „prinzipiell eine Frage von Gruppen, die ihre Leitfiguren, Wertvorstellungen oder ihr Verständnis von nationaler Identität zu etwas für alle Verbindlichem erklären“.4 Insofern sagen Denkmäler oft „mehr über die Zeit ihrer Setzung aus als über die Vergangenheit, auf die sie sich beziehen“.5 1 2 3 4 5

Erweiterte Fassung des Artikels Heidemarie Uhl, Gedächtnisraum Graz, Zeitgeschichtliche Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum von 1945 bis zur Gegenwart, in: Sabine Hödl/Eleonore Lappin (Hrsg.), Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Berlin–Wien 2000, 211–232. Pierre Nora (Ed.), Realms of Memory. Rethinking the French Past. New York 1996–1998. Maurice Halbwachs, On Collective Memory. Transl. Lewis Coser, Chicago 1992; ders., The Collective Memory. New York 1980. Wolfgang Hardtwig, Zeichen der Erinnerung. Zum Stand und zur Geschichte der Denkmalsdebatte, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, 311. Jochen Spielmann, Stein des Anstoßes oder Schlußstein der Auseinandersetzung, in: Ekkehard Mai/

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Insbesondere treffen diese Feststellungen auf die hier thematisierten Erinnerungszeichen zu, denn die Denkmäler für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs und für die Opfer der nationalsozia­listischen Gewaltherrschaft sind auch Symbole von unterschiedlichen und vielfach gegensätzlichen Auffassungen über die Vergangenheit der Jahre 1938/39 bis 1945. Nicht zuletzt wird der Zusammenhang von Denkmal und kollektivem Gedächtnis an den Veränderungen der Denkmallandschaft sichtbar, die Einblick in die Bruchlinien des österreichischen Geschichtsbewusstseins von 1945 bis zur Gegenwart geben, wie auch das Fallbeispiel der steirischen Landeshauptstadt Graz zeigt. In der Ausformung der „zeitgeschichtlichen“ Denkmalkultur lassen sich dabei insgesamt drei Phasen unterscheiden: Denkmalstiftungen für den österreichischen Freiheitskampf in der unmittelbaren Nachkriegszeit, eine Denkmalbewegung für die Errichtung von Gefallenendenkmälern, die um 1950 einsetzte, und neue Formen der Gedächtniskultur, vor allem für die jüdischen Opfer des NS-Regimes, seit Beginn der 80er-Jahre.

Denkmalstiftungen für den österreichischen Freiheitskampf (1945–1949) Unmittelbar nach Kriegsende wurde zunächst auch in Graz6 der österreichische Freiheitskampf für denkmalwürdig erachtet. Die kurze Schwerpunktsetzung auf die Denkmäler des Widerstands gegen den Nationalsozialismus erfolgte im Kontext einer „antifaschistischen“ Ausrichtung aller politischen Kräfte des Landes Steiermark, die sich in ihrer demokratischen Legitimation auf die Opposition zum NS-Regime bezogen. Bereits wenige Monate nach Kriegsende wurde das erste kommunale Denkmalprojekt initiiert: Am 16. November 1945 fasste der Stadtrat den Beschluss zur Errichtung eines Frei-

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Gisela Schmirber (Hrsg.), Denkmal – Zeichen – Monument. Skulptur und öffentlicher Raum heute, München 1989, 112. Zu den zeitgeschichtlichen Denkmälern in Graz vgl. detaillierter Heidemarie Uhl, Gedächtnisraum Graz. Zeitgeschichtliche Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum nach 1945, in: Graz 1945. Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25, Graz 1994, 625–641. Zur regionalen Denkmallandschaft in der Steiermark siehe Stefan Riesenfellner/Heidemarie Uhl (Hrsg.), Todeszeichen. Zeitgeschichtliche Denkmalkultur in Graz und in der Steiermark vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (Kulturstudien bei Böhlau Sonderband 19), Wien–Köln–Weimar 1994. Allgemein zur österreichischen Denkmalkultur vgl. Heidemarie Uhl, Denkmalkultur in der Zweiten Republik, in: Transit. Europäische Revue 15 (1998), 100–119. Nicht berücksichtigt wurden in diesem Rahmen Denkmäler für die Opfer des Februaraufstands 1934 bzw. für Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien (z. B. die Deutschuntersteirergedenkstätte auf dem Schlossberg).

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heitskämpferdenkmals.7 Bis zu seiner Realisierung sollten allerdings vier Jahre vergehen, und so entstanden die ersten Denkmäler an den Massengräbern von Regimeopfern, oft mit eindrucksvollen „antifaschistischen“ Gedenkfeiern verbunden. Die bedeutendste Trauerkundgebung fand am Grazer Zentralfriedhof im Rahmen der Grablegung von 142 Hingerichteten statt, deren Leichen kurz nach Kriegsende in einem Massengrab auf dem Gelände der Militärschießstätte Feliferhof (Bezirk Graz-Wetzelsdorf ) aufgefunden worden waren. Die feierliche Beisetzung fand am 27. Mai 1945 in Anwesenheit des Landeshauptmanns und der Landesregierung sowie des Grazer Bürgermeisters und der Mitglieder des Stadtrats statt. Nach Zeitungsberichten sollen rund 10.000 Frauen und Männer teilgenommen haben, die ihrem „Abscheu gegenüber diesem fluchwürdigen Verbrechen“ Ausdruck verliehen, darunter auch Soldaten, die „durch die Greuel des schrecklichsten aller Kriege gegangen waren“. In seiner Ansprache bezeichnete Landeshauptmann Reinhard Machold die „unschuldigen Opfer teuflischer Unmenschlichkeit“ als „Zeugen dafür, daß sich das österreichische Volk trotz brutalster Unterdrückung stets aufgelehnt hat gegen die Despoten des Dritten Reiches“, zugleich aber gelobte er feierlich: „Wir wollen die schwere Schuld, die das österreichische Volk durch seine Duldung des nazistischen Jochs und durch seine Teilnahme am Krieg auf sich geladen hat, tilgen, wir wollen alles tun, um die Schmach, die auf uns lastet, auszulöschen.“8

Im Zeitraum zwischen 1945 und 1947 wurde an dieser Grabstätte das sogenannte FeliferhofDenkmal errichtet.9 Am 1. November 1946 erfolgte die Weihe einer weiteren Gedenkstätte auf dem Grazer Zentralfriedhof. Dieses Mahnmal wurde an einem Massengrab errichtet, in dem KZ-Opfer verschiedener Nationen, darunter auch ÖsterreicherInnen, vor allem aber jugoslawische Opfer von Geiselerschießungen und getötete Partisanen bestattet worden waren. Das „Ehrenmal für die Freiheitskämpfer“, ein großes Kreuz aus Lärchenholz auf einem Granitsteinsockel mit der Inschrift „Hütet Freiheit und Frieden, denn wir starben für sie“, wurde vom Landesverband ehemals politisch Verfolgter mit Unterstützung der steiermärkischen Landesregierung und der Gemeinde Graz erbaut. Bei der Enthüllung sprach eine jugoslawische Delegation „den hier begrabenen jugoslawischen Helden den Dank des Vaterlandes“ aus. 7 8 9

Magistrat Graz, Hochbauamt und Stadtplanung, Bericht über das Freiheitskämpferdenkmal, 29.10.1949 (Abschrift). Kulturamt der Stadt Graz, Akt Freiheitskämpferdenkmal. Wir geloben, die Schuld zu tilgen, in: Neue Steirische Zeitung, 29.5.1945. Der Gedenkstein mit der Inschrift „Hütet Freiheit und Frieden, denn wir starben für sie“ erhielt im Jahre 1967 seine heutige Form: Im Auftrag der Kriegsgräberfürsorge, in deren Obhut sich das Denkmal befindet, stattete der Grazer Maler August Raidl die vier Seiten des bestehenden Betonmonuments mit Glasmosaiken aus. Vgl. Nachlass Raidl (privat).

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Auch der nunmehrige Landeshauptmannstellvertreter Machold wies auf den Umstand hin, dass sich unter den hier Bestatteten viele Jugoslawen befänden; die Freiheitskämpfer aller Nationen seien jedoch durch die „Kampfgemeinschaft gegen den Faschismus“ verbunden gewesen.10 Anstelle dieses Denkmals wurde im Jahre 1961 das Internationale Mahnmal erbaut, dessen Errichtung – wie noch ausgeführt wird – in weiten Kreisen der Öffentlichkeit auf entschiedene Ablehnung stieß, vor allem weil es dem Andenken von Partisanen gewidmet war – ein Umstand, der bei der ersten Denkmalerrichtung nachdrücklich gewürdigt worden war. Während den beiden Grabdenkmälern für Opfer des Freiheitskampfes durch die Stifter, die Finanzierung und die Enthüllungsmodalitäten gewissermaßen offizieller Charakter zukommt, haben Gedächtnismale für andere Opfergruppen in der Denkmallandschaft kaum Präsenz gewonnen. Die Erinnerung an die ermordeten steirischen Juden wurde vorwiegend in Form von privaten Gedenkinschriften auf den Familiengräbern von jüdischen Friedhöfen erhalten. Ebenso verborgen sind die Grabstätten der ungarischen Juden, die in den letzten Kriegswochen auf den „Todesmärschen“ von den Bauanlagen des burgenländischsteirischen Südostwalls nach Mauthausen getötet worden waren. In Graz befinden sich zwei Massengräber auf dem Israelitischen Friedhof. Auch die Denkmäler für die Gefallenen der alliierten Armeen sind weitgehend Fremdkörper in der Denkmallandschaft geblieben, wie das Grabmal für die Rotarmisten auf dem Grazer Zentralfriedhof (1946)11 und das amerikanische Soldatendenkmal in Graz-Webling (Kärntner Straße), das im Juni 1945 an jener Stelle errichtet wurde, wo drei US-Piloten am 4. März 1945 ermordet worden waren.12 Während die ersten Denkmäler der Nachkriegszeit zumeist an Massengräbern und an den Stätten der Gewalt entstanden, war das Freiheitskämpfer-Ehrenmal der Stadt Graz für den städtischen Zentralraum bestimmt. Seine Planungsgeschichte – vom monumentalen Mahnmal zur schlichten Steintafel – ist zugleich ein anschauliches Beispiel für die zunehmende Marginalisierung des Widerstands gegen das NS-Regime im kollektiven Gedächtnis der Zweiten Republik. Im November 1945 erfolgte, wie bereits erwähnt, die Beschlussfassung durch den Stadtrat. Eine zunächst ins Auge gefasste figurale Gestaltung wurde im Lauf der mehrjährigen Vorbereitungsphase verworfen, obwohl ein im Februar 1946 österreichweit ausgeschriebener Wettbewerb vor allem Entwürfe für frei stehende Monumentalanlagen erbrachte.13 Unter den dreißig TeilnehmerInnen wurden vier KünstlerInnen für einen 10 Vgl. Friede den Toten – Friede endlich den Lebenden!, in: Neue Zeit, 3.11.1946, 3; Freiheitskämpfer­ denkmal enthüllt, in: Wahrheit, 3.11.1946, 4. 11 Vgl. Zur Ehre der gefallenen Rotarmisten, in: Wahrheit, 13.8.1946, 3. 12 Vgl. Gedenkfeier in Straßgang, in: Neue Steirische Zeitung, 6.6.1945, 2; weiters Siegfried Beer/Stefan Karner, Der Krieg aus der Luft. Kärnten und Steiermark 1941–1945, Graz 1992, 327 ff. 13 Vgl. Mappe „Entwürfe für ein Freiheitskämpferdenkmal 1948“. Stadtarchiv Graz.

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zweiten, engeren Wettbewerb ausgewählt: Kurt Weber, Graz; Hans Beres, Villach; Bartholomäus Stefferl, Wien; Margarethe Markl, Wien. Bereits im Jahre 1946 folgte auch die Textfestlegung mittels Stadtratsbeschluss. Eine Jury unter Vorsitz des Grazer Bürgermeisters kam schließlich im Mai 1948 zu dem Entschluss, „nur eine Gedenktafel nach dem Entwurf von Hans Beres an der Mauer anzubringen“.14 Auch das schließlich realisierte Denkmal, eine sarkophagartige, überdimensionale Steintafel, wies gegenüber dem von Beres eingereichten Entwurf eine weitere Vereinfachung auf. Beres hatte das stilisierte Wappentier des Staatswappens als Krönung der Gedenktafel vorgesehen.15 Die schlichte Enthüllungsfeier am 1. November 1949 brachte ebenfalls den marginalisierten Stellenwert der „antifaschistischen“ Gedächtniskultur zum Ausdruck. Offizielle Stellen waren kaum präsent – sowohl der Bürgermeister als auch der Landeshauptmann ließen sich vertreten –, die Presse nahm von der Veranstaltung wenig Notiz. Das kommunistische Parteiorgan Wahrheit bemerkte dazu, dass insgesamt der Eindruck entstand, dass es sich bei der Gedenkfeier um eine Pflichtübung handelte: „Nicht einmal 50 Personen, darunter die Hälfte Ehrengäste, hörten die Worte des ÖVP-Vizebürgermeisters von Graz, Mrazek, an. Man hatte den Eindruck, daß es mehr eine lästige Pflicht war als eine Anerkennung und Würdigung der heroischen Taten der Freiheits­kämpfer.“16

Die Enthüllung des Grazer Freiheitskämpfer-Ehrenmals markiert zugleich das Ende jener Phase, in der der österreichische Freiheitskampf auch außerhalb der Bundeshauptstadt Wien den wichtigsten Bezugspunkt im Hinblick auf das Verständnis der NS-Zeit darstellte. In den folgenden Jahren wurde die Berufung auf den Widerstand gegen den Nationalsozialismus von einer alle politischen Richtungen umfassenden historischen Legitimation des neuen Österreich zum Ausdruck eines ideologisch etikettierten Geschichtsverständnisses, das sich im Wesentlichen auf die Kommunistische Partei bzw. den KZ-Verband und auf Teile der Sozialistischen Partei, hier vor allem den Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer, beschränkte.

Die Errichtung von Gefallenengedenkstätten Zugleich setzte um 1949/50 eine Denkmalbewegung zur Errichtung von Erinnerungsstätten für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs ein, die in den folgenden Jahren die regionale 14 Magistrat Graz, Bericht über das Freiheitskämpferdenkmal (wie Anm. 7). 15 Vgl. „Freiheitskämpferdenkmal 1948“ (wie Anm. 13). 16 Wenn sie noch lebten, wäre vieles anders. Enthüllung des Freiheitskämpferdenkmals in Graz, in: Wahrheit, 3.11.1949, 4.

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Denkmallandschaft der Steiermark prägen sollte: In nahezu jedem Ort wurden insbesondere in den Jahren 1950 bis 1955 Kriegerdenkmäler neu errichtet oder ein bereits bestehendes Denkmal des Ersten Weltkriegs erweitert. Mit der Errichtung von Kriegerdenkmälern wurde somit erst einige Jahre nach Kriegsende begonnen. Sie verweisen auf eine Veränderung des politischen Klimas im Zusammenhang mit der Integrationspolitik gegenüber den ehemaligen NationalsozialistInnen, die im Wahlkampf für die Parlamentswahlen des Jahres 1949, bei denen die sogenannten „Minderbelasteten“ erstmals stimmberechtigt waren, ihren Höhepunkt erreichte. Die damit verbundene Rehabilitierung umfasste auch die ehemaligen Wehrmachtssoldaten. Die Errichtung eines Kriegerdenkmals erfolgte häufig im Zusammenhang mit der Gründung eines Ortsverbandes des Kameradschaftsbundes, der Veteranenorganisation ehemaliger Soldaten. Die Ehrung der Gefallenen richtete sich aber auch an die überlebenden Soldaten. Sie verlieh dem Kriegseinsatz retrospektiv den Sinn der Pflichterfüllung für die „Verteidigung der Heimat“ und konnte auch als symbolische Wiedergutmachung für die von vielen Wehrmachtssoldaten als demütigend empfundene Heimkehr verstanden werden. Insbesondere in der Anfangsphase der Kriegerdenkmalerrichtung wurde diese Argumentation auch explizit zum Ausdruck gebracht. So postulierte ein Pressekommentar zum Gefallenengedenken im Jahr 1949, dass von nun an „die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges auch im Gedächtnis unseres Volkes einen Ehrenplatz einnehmen“ werden, und zwar nicht nur als bedauernswerte Opfer eines sinnlosen Krieges, sondern als „Helden der Pflichterfüllung und der Tapferkeit“.17 Auch die ab diesem Zeitpunkt entstehenden Gefallenendenkmäler in Graz sind als Ausdruck des Wandels in der Einstellung zum Krieg, als sichtbares Zeichen des Bekenntnisses zu den Soldaten zu verstehen. Deutlich wird diese Bestimmung vor allem im Zusammenhang mit der Errichtung des ersten Grazer Kriegerdenkmals auf dem Soldatenfriedhof des Zentralfriedhofs (1951). Wenngleich seine Inschrift jede wertende Aussage vermeidet – „Allen, die in fremder Erde ruhen. 1939–1945“ –, wurde das Denkmal als symbolische Rehabilitierung des Kriegsdienstes aufgefasst, wie aus einem Kommentar zur Weihe hervorgeht: „Es war eines der traurigsten Zeichen der Nachkriegszeit, daß die Überlebenden das Andenken ihrer Gefallenen auslöschen sollten in selbstzerfleischender Anklage und grausamer Selbstbeschuldigung. Wir können uns nur freuen, daß diese Zeit überwunden ist und daß sich die Heimat durch die Erneuerung und Neugestaltung von Kriegerdenkmälern wieder zu ihren im härtesten Kampf gefallenen Söhnen bekennt.“18 17 Helden und Opfer. Totengedenken im vierten Jahr nach Kriegsende, in: Murtaler Zeitung, 29.10.1949, 3. 18 Dem Andenken der Gefallenen, in: Kleine Zeitung, 5.6.1951, 4. Das Denkmal wurde vom Schwarzen Kreuz errichtet. Auch diese Organisation sah ihre Aufgabe darin, mit der Errichtung und Pflege von

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Um 1955 war die Phase der örtlichen Denkmalstiftungen in der Steiermark weitgehend abgeschlossen, in den meisten Gemeinden waren Erinnerungsmale für die Gefallenen gesetzt worden. Auch in den Grazer Außenbezirken bestanden bereits entsprechende Denkmäler, ein repräsentatives Denkmal im Stadtzentrum war jedoch noch nicht geschaffen worden. 1954 ergriff der Kameradschaftsbund die Initiative und erhob die Forderung nach Errichtung eines „Mahnmals für die an der Front und in der Heimat gefallenen Bürger der steirischen Landeshauptstadt“.19 Es sollte jedoch einige Jahre dauern, bis dieses Vorhaben in Form des Ehren- und Mahnmals der Stadt Graz (1961) realisiert wurde; ausschlaggebend für die Verzögerung waren vor allem Fragen der Gestaltung und der Ortswahl, die lange Zeit ungeklärt blieben. Wie unterschiedlich die Konzepte waren, zeigen folgende Projektvorschläge: Seitens des Vereins für Heimatschutz, der durch seine Beratungsstelle maßgeblichen Einfluss auf die Gestaltung von Kriegerdenkmälern nahm, wurde der Vorschlag einer Gedenkstätte auf einem unmittelbar vor dem Paulustor gelegenen Areal im Grazer Stadtpark unterbreitet. Der von Festungsmauern umgebene Hof eröffne einen „stimmungsvollen, in sich abgeschlossenen Raum der Besinnung und des Gedenkens“ und entspreche damit den Grundsätzen des Vereins, Gedenkstätten als Orte der stillen Trauer zu konzipieren, „wo die Hinterbliebenen mit ihren Toten stumme Zwiesprache halten können“.20 Im sozialistischen Parteiorgan Neue Zeit wurden hingegen neue Formen des Gefallenengedenkens zur Diskussion gestellt. Statt eines Monuments sollten nach britischem bzw. amerikanischem Vorbild Einrichtungen für die Jugend oder die Hinterbliebenen errichtet (wie z. B. Schule, Kindergarten, Wohnhaus für Kriegerwitwen und -waisen) und mit einer entsprechenden Tafel versehen werden. 21 Der „Großteil des Kameradschaftsbundes“ vertrat hingegen den „Plan eines repräsentativen Kriegerdenkmals“.22 Nach mehreren Wettbewerben erfolgte im Jahre 1961 die Errichtung des sogenannten Ehren- und Mahnmals der Stadt Graz zum Gedenken an die Gefallenen der beiden Welt-

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Soldatenfriedhöfen das Bild des Wehrmachtssoldaten im kollektiven Gedächtnis in bleibender Form mitzugestalten: „Diese Friedhöfe und Grabmäler werden, wenn auch wir künftigen Geschlechtern Platz machen müssen, bleiben und von der Not unserer Tage künden, von dem Heldentod unserer Kameraden. Das Schwarze Kreuz will durch seine Tätigkeit dazu beitragen, daß die Achtung vor denen, die für die Heimat ihr Leben gaben, nicht verloren geht.“ Das Österreichische Schwarze Kreuz, in: Sonntagspost, 30.10.1955, 19. Für ein Mahnmal in Graz, in: Sonntagspost, 27.6.1954. Das Grazer Kriegerdenkmal vor dem Paulustor, in: Heimatpflege. Mitteilungen des Vereins für Heimatschutz 3/14 (1956), 1 f. Vgl. Ein Kriegerdenkmal in Graz, in: Neue Zeit, 19.5.1955. Graz erhält ein Kriegerdenkmal, in: Tagespost, 21.12.1954.

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kriege auf dem Karmeliterplatz. Das Denkmal nach einem Entwurf von Alexander Silveri erntete keine einhellige Zustimmung, als zu modern und unverständlich wurde von manchen das Bildprogramm des fünfteiligen Reliefs von insgesamt 13 Metern Länge empfunden, das von der Darstellung der Schrecken des Kriegs zum Bild christlicher Erlösung führt.23 Dessen ungeachtet fungierte es als Symbol des regional vorherrschenden Geschichtsverständnisses. Bei der Weihe am 22. Oktober 1961 fanden sich die Spitzen der steirischen Behörden ein. Rund 10.000 Menschen wohnten der Feierlichkeit bei, 9.000 Angehörige des Kameradschaftsbunds aus 363 Ortsverbänden der Steiermark, Kärntens, Niederösterreichs und des Burgenlandes waren mit fünfzig Musikkapellen aufmarschiert, „etwa tausend Grazer bildeten die ,zivile‘ Eröffnungskulisse“. Der steirische Landeshauptmann Josef Krainer wies in seiner Festrede dem Denkmal die Bestimmung zu, „uns immer derer zu erinnern, die unser Vaterland im Kampf schützten. Ehre gebührt jenen, die jederzeit bereit sind, unter Einsatz ihres Lebens ihre Pflicht zu erfüllen.“24 Neben dem Ehren- und Mahnmal der Stadt Graz entstand im Jahr 1960 mit dem Befreiungsdenkmal im Burggarten ein weiteres repräsentatives Monument im Stadtzentrum. Die rund acht Meter hohe Metallskulptur von Wolfgang Skala eröffnet verschiedene Interpretationsmöglichkeiten, sie wird zum Teil auch als Denkmal der Befreiung vom Nationalsozialismus angesehen. Aus ihrem Entstehungszusammenhang geht jedoch eindeutig der Bezug auf den Abzug der Besatzungsmächte hervor. Im Herbst 1955 wurde seitens der Landesregierung der Beschluss gefasst, durch ein Denkmal an dieses Ereignis zu erinnern,25 darauf verweist auch die einzige Inschrift – die lapidare Datumsangabe „26. 10. 1955“. Auf der Darstellungsebene wurde ebenfalls auf den „Abzug des letzten Besatzungssoldaten“ verwiesen: „Die Befreiung Österreichs aus den Fesseln der Okkupation ist durch einen aus dem Kerker entfliehenden Adler versinnbildlicht, der mächtig seine Schwingen regt.“26 Das Ehren- und Mahnmal und das Befreiungsdenkmal haben ebenso wie das 1949 enthüllte Freiheitskämpfer-Ehrenmal der Stadt Graz den Charakter von offiziellen Denkmälern: Stadt oder Land traten als Auftraggeber auf, sie übernahmen auch die Finanzierung – im Fall des Kriegerdenkmals am Karmeliterplatz gemeinsam mit dem Kameradschaftsbund. Auch die Situierung im Zentralraum der Stadt weist die Gedenkstätten als Repräsentanten der jeweils hegemonialen regionalen historischen Identität aus. 23 Vgl. Erich Gschwend, Das große Ehren- und Mahnmal in Graz, in: Steirische Berichte 4/4 (1960), 73 f. – Im Zuge der 2005 abgeschlossenen Neugestaltung des Karmeliterplatzes wurde das Denkmal zum Paulustor verlegt. 24 Vgl. Zehntausend auf dem Karmeliterplatz bei der Enthüllung des Grazer Ehren- und Mahnmales, in: Tagespost, 24.10.1961. 25 Vgl. Befreiungskundgebung in Graz, in:Tagespost, 15.9.1955. 26 Grazer Befreiungsdenkmal enthüllt, in: Kleine Zeitung, 27.10.1960.

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Der Konflikt um das Internationale Mahnmal (1961) und die Opferdenkmäler der Jahre 1962/63 Am 1. November 1961, wenige Tage nach der Enthüllung des Ehren- und Mahnmals der Stadt Graz, wurde auf dem Grazer Zentralfriedhof das Internationale Mahnmal seiner Bestimmung übergeben. Nur in wenigen Fällen tritt die ambivalente Beurteilung des Widerstands – und damit eines der Grundprinzipien des staatlichen Selbstverständnisses der Zweiten Republik – so klar zutage wie bei diesem Projekt, das einen der heftigsten Denkmalkonflikte der Zweiten Republik auslöste. Ausgangspunkt war die Initiative der Österreichisch-Jugoslawischen Gesellschaft, namentlich ihres Vorsitzenden, des sozialistischen Landeshauptmannstellvertreters Fritz Matzner, das Ehrenmal für die Freiheitskämpfer, ein 1946 errichtetes und mittlerweile baufälliges Holzkreuz an einem Massengrab von NS-Opfern, durch ein neues Denkmal zu ersetzen. Bei den rund 2.500 hier Bestatteten soll es sich, wie bereits erwähnt, in der Mehrzahl um JugoslawInnen handeln, neben Partisanen auch Frauen und Kinder, die als Geiseln bei „Vergeltungsmaßnahmen“ erschossen worden waren, weiters ÖsterreicherInnen und Angehörige anderer Nationen sowie von den Nationalsozialisten ermordete Jüdinnen und Juden.27 Dieses Vorhaben sah sich mit massiver Ablehnung konfrontiert. Erregte Diskussionen in den Leserbriefspalten der Tageszeitungen und in der Öffentlichkeit warfen Matzner unter Hinweis auf das Vorgehen gegen die deutschsprachige Bevölkerung in Jugoslawien nach Kriegsende vor, er scheue sich nicht, mit dem „Partisanenstein“ die „Gefühle des Großteils der steirischen Bevölkerung zu verletzen“.28 Die Vertriebenenverbände, der Kameradschaftsbund, das Schwarze Kreuz und selbst die Hochschülerschaften beider Universitäten erklärten in einem gemeinsamen Memorandum, dass „für dieses auf dem Grazer Zentralfriedhof hauptsächlich für die slowenischen Partisanen geschaffene überdimensionale Mahnmal das moralische Unterpfand, das jedes Volk im Namen der Selbstachtung verlangen muß“, fehle.29 Nur die KPÖ machte sich zum Anwalt dieser Toten und wies darauf hin, dass hier neben den jugoslawischen Opfern auch 900 Österreicher und 400 Angehörige anderer Nationen bestattet seien. Aus den Aktionen gegen das Mahnmal 27 Vgl. Offizielle Totengedenkfeiern in Graz, in: Neue Zeit, 3.11.1961, 5; Das neue Mahnmal feierlich enthüllt, in: Tagespost, 3.11.1961, 5. Zur Frage nach der Herkunft und Anzahl der auf dem Grazer Zentralfriedhof bestatteten Opfer der NS-Zeit vgl. Denkschrift für das Internationale Mahnmal und das Denkmal für die gefallenen Österreicher in Ljubljana (zur Verfügung gestellt von der ÖsterreichischJugoslawischen Gesellschaft). 28 Leser schreiben zum Partisanen-Denkmal, in: Tagespost, 29.10.1961, 3. 29 Neue Zeit, 27.10.1961, 7.

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Heidemarie Uhl spreche eindeutig der „Versuch der Herabsetzung des Widerstandskampfes gegen den HitlerKrieg“.30

Wie wenig Unterstützung Matzner in den Reihen seiner eigenen Partei fand, erwies sich anlässlich der Anfrage, die seitens der Freiheitlichen Partei im Landtag eingebracht wurde. Darin wurde erklärt, dass das Mahnmal für die in der NS-Zeit Justifizierten „ob des offensichtlich einseitigen Charakters in breiten Kreisen der steirischen Bevölkerung ablehnende Haltung, ja selbst Erbitterung ausgelöst“ habe. Es wurde die Forderung nach einem Denkmal für die in Jugoslawien ums Leben gekommenen Soldaten und Zivilpersonen als gewissermaßen symbolische Gegenleistung erhoben. Als der Landtagspräsident die Frage stellte, wer die Anfrage noch unterstütze, da die FPÖ-Fraktion nach der Geschäftsordnung zu klein war, „stimmte die SPÖ-Fraktion für die Unterstützung der Anfrage, die ÖVP nicht“.31 Landeshauptmann Josef Krainer erklärte in seiner Antwort, dass es sich bei der Errichtung dieses Mahnmals um eine „reine Privatangelegenheit der Österreichisch-Jugoslawischen Gesellschaft“ handle, die „mit offiziellen Stellen des Landes Steiermark nichts zu tun hat“. Mahnmale hätten nur dann einen Sinn, wenn sie nicht einseitig seien, deshalb müsse ein Mahnmal letzten Endes „auch dem Soldaten gelten, der seine Pflicht erfüllt hat“. Krainer gab aber auch zu bedenken, „daß offizielle Vertretungen einer Reihe von Ländern des Westens mit diesem Mahnmal beschäftigt sind“, und erklärte: „Ich will keinesfalls den Eindruck erwecken, und ich glaube, wir alle wollen das nicht, daß wir hier irgendwie einseitig die Dinge sehen.“32 Die Modalitäten der Denkmalerrichtung entsprachen der distanzierten Haltung der offiziellen Stellen. Das Internationale Mahnmal33 wurde zur Hälfte vonseiten Jugoslawiens finanziert, der fehlende Betrag wurde durch die Österreichisch-Jugoslawische Gesellschaft 30 Im Angesicht der Märtyrer, in: Wahrheit, 28.10.1961, 1 f. 31 Mahnmalanfrage im Landtag, in: Neue Zeit, 27.10.1961, 1. 32 Stenographische Protokolle über die Verhandlungen des Steiermärkischen Landtages, 5. Periode, 1961– 1965, 86 f. 33 Das architektonische Ensemble dieses größten Grazer Denkmals (Entwurf: Prof. Kobe von der Technischen Hochschule in Ljubljana) besteht aus einer 20 Meter hohen, rechteckigen Granitsäule, auf der sich in 11 Sprachen die Forderung „Hütet Freiheit und Frieden, denn wir starben für sie“ befindet, einem altartischartigen Granitblock, in dem 400 Urnen beigesetzt sind, und einem 20 Meter weit gespannten Brückenbogen als Symbol der Völkerverständigung. Der Scheitelpunkt trägt eine Dornenkrone und eine Opferschale. An der Innenseite des Bogens sind die Namen von 2.510 Justifizierten eingraviert, 1.228 Jugoslawen, 900 Österreichern (darunter auch „Euthanasie“-Opfer) und rund 400 Tote aus anderen Staaten. Der Granit für das Denkmal stammte aus einem slowenischen Dorf südlich des Bacherngebirges. Vgl. „Hütet Freiheit und Frieden ...“, in: Kleine Zeitung, 26.10.1961, 10; Offizielle Totengedenkfeiern in Graz, in: Neue Zeit, 3.11.1961, 5; Das neue Mahnmalfeierlich enthüllt, in: Tagespost, 3.11.1961, 5.

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aufgebracht. Bei der von Vizekanzler Dr. Bruno Pittermann vorgenommenen Enthüllung, der neben Vertretern der Behörden und der Kirchen unter anderen auch die Botschafter der Sowjetunion, Jugoslawiens und Israels, die Gesandten der ČSSR und Polens sowie diplomatische Vertreter Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, der BRD, Ungarns und Griechenlands beiwohnten, weiters befand sich unter den Ehrengästen auch ein Rabbiner, machte Landtagspräsident Karl Brunner in Vertretung des Landeshauptmanns vor den rund 5.000 Gästen – darunter viele Angehörige der Justifizierten, Mitglieder der Widerstands-Verbände aller Parteien; aus Jugoslawien waren rund 2.000 Personen angereist – aus seiner ablehnenden Haltung kaum ein Hehl. Eine moralische Verpflichtung Österreichs, das Gedenken der hier ermordeten bzw. begrabenen NS-Opfer zu pflegen, bestehe jedenfalls nicht: „Das heute existente Österreich trägt für diese Opfer keine Schuld, auch nicht dafür, daß sie hier bestattet sind.“ Brunner widmete das Mahnmal unter ausdrücklichem Hinweis auf das Vorgehen gegen die „Deutschen“ in Jugoslawien nach Kriegsende allen Opfern des Krieges und auch jenen einer unseligen Nachkriegszeit.34 Im Denkmalkonflikt des Jahres 1961 traten die Grundhaltungen des regional identitätsstiftenden Geschichtsbewusstseins mit besonderer Deutlichkeit hervor: Jene Position, die noch anlässlich der Weihe des Vorläuferbaus, des Ehrenmals für die Freiheitskämpfer, im Jahr 1946 vom Konsens aller politischen Kräfte getragen war, entsprach nunmehr dem Geschichtsverständnis einer Minderheit. Die Erinnerung an den Widerstand rief auch die noch keineswegs verblassten Konflikte des „österreichischen Bürgerkriegs“ der Jahre 1938 bis 1945 (Anton Pelinka)35 wach, die noch immer zu polarisierenden Kontroversen führten. Mit den Denkmälern für die Gefallenen wurde hingegen ein integratives, konfliktfreies Geschichtsbild wirksam, mit dem sich alle maßgeblichen politischen Kräfte des Landes identifizieren konnten. Die grundlegende Intention dieses Geschichtsverständnisses zielte darauf ab, die Gegensätze der NS-Vergangenheit – gerade weil sie noch weiterwirkten – in einer versöhnlichen Sichtweise unter Ausklammerung aller kontroversiellen Themen aufzuheben. Kurz nach diesem Konflikt entstanden in Graz zwei weitere Denkmäler zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Sie sind zwar von geringer Präsenz im Stadtbild, aber gerade als Zeichensetzungen eines 1961 eindeutig marginalisierten Geschichtsverständnisses – nämlich jenes, das die NS-Zeit aus der Perspektive der Regimeopfer betrachtete – von Bedeutung. Die beiden Gedenkstätten sind wohl auch als Reaktion auf die heftige Ablehnung, die dem Internationalen Mahnmal entgegenschlug, zu verstehen. 34 Ebda. 35 Anton Pelinka, Der verdrängte Bürgerkrieg, in: ders./Erika Weinzierl (Hrsg.), Das große Tabu. Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit, Wien 1987, 143–153.

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1962 wurde durch die „Interessenvertretung der ehemals politisch Verfolgten Steiermarks“, einem Dachverband der NS-Opferverbände, im ehemaligen Hinrichtungsraum des Landesgerichtlichen Gefangenenhauses in der Conrad von Hötzendorf-Straße eine Gedenkstätte eingerichtet.36 Im darauffolgenden Jahr enthüllte die Israelitische Kultusgemeinde am Jahrestag des Novemberpogroms eine Gedenktafel an ihrem ehemaligen Amts- und Schulgebäude, am Haus Grieskai 58, mit der Inschrift „Zum ewigen Gedenken an unsere 1938 bis 1945 ermordeten Brüder und Schwestern sowie an die Zerstörung der Synagoge in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938“.37 Es war dies das erste Denkmal für die ermordeten steirischen Juden außerhalb der jüdischen Friedhöfe und auch dieses Erinnerungszeichen trug den Charakter einer „Privatangelegenheit“ der steirischen Juden; offizielle Stellen waren weder an der Errichtung noch – folgt man den Zeitungsberichten – an der Enthüllung beteiligt. Erst im Zusammenhang mit dem Gedenkjahr 1938/88 sollten die Stadt Graz und das Land Steiermark mit dem Synagogendenkmal und dem Beschluss zur Errichtung der Zeremonienhalle am Israelitischen Friedhof erste öffentliche Zeichen der Erinnerung an die Vertreibung und Ermordung der Grazer Jüdinnen und Juden setzen. Noch ein weiteres Denkmal steht in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Denkmalkonflikt des Jahres 1961: Im Jahr 1962 gelang es Fritz Matzner tatsächlich, diesbezüglichen Forderungen nachzukommen und die Genehmigung zur Errichtung eines Denkmals für die gefallenen Österreicher in Ljubljana zu erreichen, das gewissermaßen als „Gegendenkmal“38 zum Internationalen Mahnmal konzipiert war.39 Das vom Grazer Bildhauer Wolfgang Skala gestaltete Objekt auf dem Zentralfriedhof in Ljubljana (Enthüllung am 1. November 1963) trägt auf einem rund vier Meter hohen, marmorverkleideten Sockel die deutsche Inschrift „Dem Völkerfrieden – 1941–1945 – Den toten Österreichern“, das Staatswappen sowie die Wappenschilder der österreichischen Bundesländer. Davor steht eine drei Meter hohe Bronzeskulptur, eine nackte Jünglingsgestalt, die in den erhobenen Händen ein zerbrochenes Schwert „als Symbol für ewigen Frieden und Verzicht auf Gewaltanwendung“ emporstreckt.40 Die Bronzefigur von Wolfgang Skala für die Gedenkstätte in 36 Vgl. Ein Mahnmal im Grazer Landesgericht, in: Neue Zeit, 29.5.1962. Im Landesgerichtlichen Gefangenenhaus waren von Herbst 1943 bis kurz vor Kriegsende Menschen durch das Fallbeil getötet worden. 37 Vgl. Kultusgemeinde enthüllte Gedenktafel, in: Kleine Zeitung, 10.11.1963. 38 Egon Blaschka, Gedenkstätte in Laibach enthüllt, in: Kleine Zeitung, 3.11.1961, 11. Vgl. Fritz Matzner, Die Österreichisch-Jugoslawische Gesellschaft, in: Steirische Berichte 9/5 (1965) (Sonderheft: Die Steiermark und ihre Nachbarn im Süden. Steiermark-Jugoslawien), 164 f. 39 Denkmal für Österreicher in Laibach, in: Kleine Zeitung, 28.10.1962, 9. 40 Österreicher-Denkmal in Laibach, in: Tagespost, 3.11.1962.

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Ljubljana war ursprünglich bei einem Wettbewerb für das Ehren- und Mahnmal der Stadt Graz mit dem ersten Preis bedacht worden,41 wurde aber dann doch abgelehnt – nicht der Appell gegen den Krieg, sondern das Aufgehen der Erfahrungen von Krieg und Gewalt im Gedanken der christlichen Versöhnung entsprach der Programmatik der regionalen Gedächtniskultur.

Zeichen einer neuen Denkmalkultur seit den achtziger Jahren Seit Beginn der 80er-Jahre erfolgen Zeichensetzungen, in denen die segmentierten Erinnerungsformen für die gefallenen Soldaten einerseits, für den Widerstand gegen das NS-Regime andererseits verlassen werden. Das Interesse dieser neuen Denkmalkultur richtet sich auf das bisher Ausgeblendete und Tabuisierte, den verborgenen Text der Vergangenheit: vor allem die Vertreibung und Ermordung der steirischen Juden, aber auch die Verfolgung von Geistlichen, die Hinrichtung von Deserteuren, die Ermordung von Häftlingen in den steirischen KZ-Nebenlagern, somit auf Opfergruppen, die bislang keine entsprechende Würdigung in der lokalen Denkmalkultur erhalten haben. Insgesamt wird den Erinnerungszeichen im öffentlichen Raum mit größerer Sensibilität begegnet. Versuche der Verharmlosung (Gedenktafelaffäre) stoßen zunehmend auf Opposition, bislang „Vergessenes“ wird eingemahnt. Das erste dieser Erinnerungszeichen entstand im militärischen Bereich: Ein Angehöriger des Bundesheeres ergriff die Initiative zur Errichtung einer Gedenktafel für die Opfer von Hinrichtungen im Areal der Militärschießstätte Feliferhof. Dieses Vorhaben konnte jedoch erst mit Unterstützung des damaligen Verteidigungsministers Otto Rösch realisiert werden, als Stifter fungierte die Österreichische Liga für Menschenrechte.42 Im Jahr 1983 – zwanzig Jahre nach der Enthüllung der Gedenktafel am Grieskai – entstand mit Fedo Ertls Mahnmal für die Synagoge das künstlerisch wohl bedeutendste zeitgeschichtliche Denkmal der 80er-Jahre in Graz.43 Die Freilegung der Ziegelsteine der zerstörten Synagoge, die als Baumaterial für einige Garagen und eine Umfriedungsmauer in der Alberstraße gedient hatten, und die Anbringung einer Gedenktafel sollten über die Erinnerung an die Gewalttaten der Vergangenheit hinaus „das Sichtbarmachen von latent vor-

41 Vgl. ebda. 42 Vgl. „Hütet Freiheit und Frieden, denn sie starben für sie!“, in: Das Menschenrecht. Offizielles Organ der Österreichischen Liga für Menschenrechte 35/4 (1980), 2 f. 43 Vgl. Heimo Widtmann, Kunst im öffentlichen Raum. Graz 1945–1990, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 21/22, Graz 1991, 246.

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handenem Antisemitismus in Österreich heute und das Aufbrechen des unsere Geschichte umhüllenden Schweigens“ bewirken.44 Bei den Gedenkstätten am Feliferhof und in der Alberstraße wurde die „Magie des Ortes“ zum Ausgangspunkt, um eine belastete Vergangenheit erfahrbar zu machen. Bei der Gedenktafel in der Grazer Karl-Franzens-Universität erfolgte dies durch den Konflikt wegen der in der Textierung unterbliebenen Abgrenzung zum NS-Regime sowie der Stiftung durch Grazer Burschenschaften. Die am Nationalfeiertag des Jahres 1984 enthüllte Tafel zum Gedenken an alle Universitätsangehörigen, „die in den Jahren 1934–1955 der politischen Willkür und dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen sind“,45 wie die Widmung lautete, löste einen Eklat aus. Ein Großteil der Universitätsangehörigen und Studierenden sah in der Einbeziehung des ersten Jahrzehnts der Zweiten Republik eine Provokation, insbesondere nachdem bekannt wurde, dass im Rahmen der Enthüllungsfeier „auch ausdrücklich bei den Nürnberger Prozessen verurteilte Kriegsverbrecher miteinbezogen wurden“.46 Aufgrund von Protesten, die weit über den universitären Bereich hinausgingen, beschloss der Akademische Senat, eine neue Tafel anbringen zu lassen, die den Kritikpunkten Rechnung trug.47 Handelte es sich bei den genannten Denkmälern um Einzelinitiativen, so erwuchs aus 44 Zit. nach Kunstradio-Radiokunst, ORF-Radio, Österreich 1, 10. November 1988. Fedo Ertl – Projekt Mahnmal Graz. Die Gedenktafel trägt folgenden Text: „1938: die Nacht vom 9. auf den 10. November ist durch die Brandschatzung hunderter Synagogen in Deutschland und Österreich die mit dem Stempel der Reichskristallnacht gleichsam gebrandmarkt Stelle einer verbrecherisch verschuldeten Ära. Absurd genug, zementierte doch der nationalsozialistische Greuel aus dem, was er blutig seinem Boden gleichgemacht, andernorts wieder ein Mahnmal seiner Machenschaft: diese Mauer. Sie wurde mit den Ziegeln der 1938 zerstörten Grazer Synagoge 1939 errichtet. Ein Tempel für die heute in Graz lebenden siebzig von ehemals zweitausend Juden. Ein-: Tempel 1983.“ 45 Der Text hatte folgenden Wortlaut: „Im Gedenken an alle ihre Angehörigen, die in den Jahren 1934– 1955 der politischen Willkür und dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer gefallen sind. Die Karl-FranzensUniversität. Gewidmet vom Grazer Korporationsring anläßlich der 400-Jahr-Feier der Universität Graz.“ (Nennung von 17 Korporationen, Landsmannschaften und Burschenschaften). Zitat in Universität und Vergangenheitsbewältigung – am Beispiel der Gedenktafelaffäre 1984. Eine Dokumentation. Hrsg. vom Verband Sozialistischer Student/inn/en Österreichs, Sektion Graz. Graz 1985, 64. 46 ÖH für Verhüllung der Uni-Gedenktafel, in: Neue Zeit, 6.11.1984. Zitat in ebda. 47 In der neuen Fassung wurden keine Jahreszahlen genannt und auch die Burschenschaften nicht angeführt, da nunmehr der Senat als Stifter fungierte. Der neue Text lautet: „Im Gedenken an alle Angehörigen der Karl-Franzens-Universität, die seit dem Ersten Weltkrieg in friedlosen Zeiten, in Zeiten ohne Demokratie und Freiheit, dem Krieg, dem Haß und der Mißachtung der Menschenrechte zum Opfer gefallen sind. Aus Anlaß der 400-Jahr-Feier der Universität. Der akademische Senat.“ Auch der Kompromisstext stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung, so wurde seitens des „Antifaschistischen Komitees“ und des Kommunistischen Studentenverbandes KSV kritisiert, die Wortwahl lasse „zahlreiche Deutungen im Sinne der ,Ewig-Gestrigen‘“ zu. Vgl. Dies ist ein fauler Kompromiß, in: Wahrheit, 29.11.1984. Zitat in ebda., 74.

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den Erschütterungen der Waldheim-Affäre auch in der Steiermark eine Phase aktiver Denkmalsetzung seitens der öffentlichen Stellen. Insbesondere das Gedenkjahr 1938/88 bot den geeigneten Anlass, um einer veränderten Einstellung zur NS-Vergangenheit auch im öffentlichen Raum Ausdruck zu verleihen. In diesem Zusammenhang gedachte die Stadt Graz erstmals der Verfolgung und Ermordung ihrer jüdischen Bürger. Das in Zusammenarbeit mit der Israelitischen Kultusgemeinde errichtete Synagogendenkmal wurde als „sichtbares Zeichen, um zu demonstrieren, dass man die Augen vor den ,unbequemen‘ Kapiteln der heimischen Geschichte nicht verschließt“,48 und zugleich als Sühnezeichen für das Judenpogrom konzipiert.49 Im Zeichen der Versöhnung mit der jüdischen Gemeinde stand auch der einstimmige Beschluss des Grazer Stadtsenats, die 1938 ebenfalls zerstörte Zeremonienhalle auf dem jüdischen Friedhof wiederzuerrichten. Im Jahr 1991 konnte das von der Stadt Graz, dem Land Steiermark und anderen Einrichtungen gemeinsam geschaffene Gebäude seiner Bestimmung übergeben werden.50 Auch nach Ablauf des Gedenkjahres wurden in Graz Erinnerungszeichen für Regimeopfer gesetzt, wie die Gedenktafel an der Außenmauer des Landesgerichtlichen Gefangenenhauses (1989), mit der die hier erfolgte Vollstreckung von Todesurteilen öffentlich dokumentiert wird, die Gedenkstätte für zwei christlich motivierte Wehrdienstverweigerer in der Kirche Ulrichsbrunn (Andritz) und eine Gedenktafel am Karmeliterplatz für den 1944 hingerichteten Priester Max Josef Metzger. Im Stiegenaufgang des Oeversee-Gymnasiums erinnert eine Tafel an 27 jüdische Schüler, die ihre Schule im Jahr 1938 verlassen mussten (1993).51 48 Michael Jungwirth, Sühne für Judenpogrom, in: Kleine Zeitung 30.11.1988. 49 Das rund drei Meter hohe Monument aus schwarzem Granit inmitten des in der Rasenfläche sichtbar gemachten Grundrisses der Synagoge trägt neben der Inschrift auch Zeichen des jüdischen Glaubens (Davidstern, Torarollen, die Gesetzestafeln und den siebenarmigen Leuchter); der Entwurf stammt von den Architekten Jörg und Ingrid Mayr. Auf dem Denkmal befinden sich folgende Inschriften: „Zum Gedenken an die einst blühende jüdische Gemeinde Graz und ihre 2200 Mitglieder, die in der NS-Zeit gedemütigt, beraubt und vertrieben wurden. Viele von ihnen wurden ermordet. Wir gedenken ihrer Leiden und Opfer. Israelitische Kultusgemeinde Graz. 10. November 1988/ Um die Erinnerung an unsere jüdischen Mitbürger und ihr Gotteshaus zu bewahren, wurde dieser Gedenkstein im November 1988 als Mahnmal gegen Gewaltherrschaft, Rassenhaß und Unmenschlichkeit errichtet. Die Stadt Graz/ Unter Kaiser Franz Joseph I. wurde 1892 an diesem Platz unsere große Synagoge errichtet. Unter der NS-Gewaltherrschaft wurde sie am 10. November 1938 geplündert, in Brand gesteckt und zerstört. Israelitische Kultusgemeinde Graz.“ 50 Zitiert nach Einweihung der Zeremonienhalle der Israelitischen Kultusgemeinde in Graz. Rathauskorrespondenz Graz, 11. November 1991; vgl. Elisabeth Welzig, Nach 53 Jahren hat Graz eine neue Zeremonienhalle, in: Kleine Zeitung, 12.11.1991. 51 Vgl. Schulprojekt ruft mahnend Erinnerung an 1938 wach, in: Neue Zeit, 26.5.1993. Inschrift: „Zur Erinnerung an die jüdischen Schüler, die 1938 von den Nationalsozialisten aus dieser Schule und ihrer Heimat vertrieben worden sind.“

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Am 9. November 1998, am 60. Jahrestag der Zerstörung des jüdischen Tempels, erfolgte schließlich mit der Grundsteinlegung der neuen Synagoge ein Akt symbolischer „Wiedergutmachung“, der die Erinnerung an die Zerstörung wachhalten und zugleich Zuversicht und Hoffnung ausdrücken sollte.52 Die am 9. November 2000 feierlich eröffnete neue Synagoge zählt zu den markanten architektonischen Zeichen im Grazer Stadtbild,53 sie wurde programmatisch auf den Grundmauern der zerstörten Synagoge errichtet, wobei der 1988 enthüllte Gedenkstein in die Planung der Bima einbezogen wurde.54 Ebenso integriert wurden die Ziegel der niedergerissenen Synagoge, die von Schülern im Rahmen eines zeitgeschichtlichen Projekts gereinigt wurden55 – Fedo Ertls Mahnmal in der Alberstraße, in dem sich die Erinnerung an die Zerstörung der Synagoge mit einem Appell gegen das Weiterwirken des Antisemitismus verband, wurde dabei jedoch abgetragen. Als deutlich sichtbares Bauwerk im öffentlichen Raum56 soll die neue Synagoge über das Gedenken hinaus auf die Präsenz jüdischen Lebens im heutigen Graz verweisen. Während die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zumeist vom Konsens aller politischen Parteien getragen und von der Intention bestimmt ist, mit einer belastenden Vergangenheit ins Reine zu kommen, verweisen andere Projekte auf das verstörende Potenzial, das dem „Zivilisationsbruch Auschwitz“ (Dan Diner)57 noch immer innewohnt. Hans Haackes temporäre Rekonstruktion eines nationalsozialistischen Siegeszeichens im Rahmen des Steirischen Herbst-Programms „Bezugspunkte 38/88“ provozierte als Verweis auf die „Tätergeschichte“ in der ehemaligen „Stadt der Volkserhebung“ heftige öffentliche Diskussionen und fiel schließlich einem Brandanschlag zum Opfer.58 Die Realisierung der „Gänse vom Feliferhof“, des Siegerprojekts von Esther und Jochen 52 Vgl. Stefan Winkler, Aus der Asche des alten erhebt sich der neue Tempel, in: Kleine Zeitung, 8.11.1998, 4 f. Grundstein für neuen jüdischen Tempel, in: Der Standard, 10.11.1998, 9; Dem Verschwinden entreißen. Rede von Alfred Kolleritsch zur Grundsteinlegung der Grazer Synagoge am 9. November 1998, in: Der Standard, 10.11.1998, 34. 53 http://www.ikg-graz.at/synagoge.htm, abgerufen: 11.9.2011. 54 Ingrid Mayr/Jörg Mayr, Beschreibung des Entwurfes der neuen Synagoge, in: Bausteine des Erinnerns. Ziegel für die Synagoge, Graz 1999, 10. 55 Zu dem von der Steirischen Kulturvermittlung initiierten Projekt vgl. Max Aufischer, Begreifen, in: ebda., 11–13. 56 Das äußere Erscheinungsbild des von den Architekten Ingrid und Jörg Mayr entworfenen Bauwerks wird durch 12 Säulen bestimmt, Sinnbild der zwölf Stämme Israels, die paarweise durch Bögen verbunden sind und sich in der gläsernen Kuppel im Davidstern vereinen. Vgl. Mayr/Mayr, Entwurf (wie Anm. 54). 57 Dan Diner (Hrsg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt/Main 1988. 58 Vgl. Hans Haacke, „Und Ihr habt doch gesiegt“. Zur Installation von 1988 in Graz, in: James Young (Hrsg.), Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München 1994, 51– 55.

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Gerz im internationalen Wettbewerb für ein Denkmal auf dem Militärschießplatz Feliferhof (1996), scheiterte hingegen wegen seiner gegenwartsbezogenen Herausforderung am Widerstand des Bundesheers. Anstoß erregten die von den Künstlern formulierten Texte für die vier Fahnen, die bei der Benützung des Schießplatzes gehisst werden sollten, aber auch die Einbeziehung der Rekruten in die Gedenkarbeit, denn jährlich sollten neue Fahnentexte von den Wehrpflichtigen ausgearbeitet werden – in diesem Sinne war das Denkmal als „Frühwarnsystem“ in Anlehnung an die kapitolinischen Gänse zu verstehen.59 Wenngleich die „Gänse vom Feliferhof“ nicht realisiert wurden, hat sich Jochen Gerz in den öffentlichen Gedächtnisraum von Graz eingeschrieben. Gerz wurde auf einstimmigem Beschluss des Steiermärkischen Landtages mit dem Projekt „63 Jahre danach“ betraut, das eine kritische Auseinandersetzung mit der regionalen Verstrickung in den NS-Herrschaftsapparat nun im Zentralraum der Stadt und darüber hinaus an markanten Orten der Tätergeschichte in der Steiermark zum Ziel hatte. Nach den jahrelangen politischen Querelen um das FeliferhofVorhaben und angesichts des durch kontroverse und umstrittene Projekte bekannten Künstlers wurde der politische Konsens, auf dem „63 Jahre danach“ basierte, besonders hervorgehoben: „Beispielhaft für die Steiermark und darüber hinaus ist dieses Projekt, das auf einstimmige Initiative des Landtag Steiermark und als Beschluss der Regierung zustande gekommen ist.“ Das erste Projekt von „63 Jahre danach“ wurde am 9.12.2008 enthüllt: „Ich Sigfried Uiberreither Landeshauptmann 2008“ thematisiert die Tätergeschichte im Zentrum der politischen Macht, durch ein Textinstallation im Burgtor, dem Eingang zum Sitz der steirischen Landesregierung und des Landeshauptmanns in der Grazer Burg. Gerz stellt dabei „Fragen eines nationalsozialistischen Täters zur Komplizenschaft und zum Schweigen der Anderen, der Mehrheit, nicht nur damals in der Zeit der Verbrechen, sondern danach“60 an die PassantInnen. Die Aufforderung über das eigene Verhalten zu reflektieren kann – anders als bei der geplanten institutionalisierten Einbeziehung des Bundesheeres in die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit bei den „Gänsen vom Feliferhof“ – aufgegriffen oder auch en passant ignoriert werden. Das gestalterisch dezente Kunstwerk – die sperrige Inschrift im Torbogen erfordert eine aufmerksame Lektüre – schien auf breite Akzeptanz zu stoßen, allerdings gibt es Hinweise auf Unstimmigkeiten: Landeshauptmann Franz Voves, auf der Einladung zur Eröffnung als Redner genannt, blieb der Veranstaltung fern.61 59 Vgl. Andreas Hapkemeyer (Hrsg.), Jochen Gerz – Res publica. Das öffentliche Werk 1968–1999, Ostfildern–Ruit 1999, 131. Die von Esther und Jochen Gerz für das erste Jahr vorgesehenen Fahnen trugen die Aufschriften „Auf Mut steht der Tod“, „Verrat am Land wird dekoriert“, „Barbarei ist des Soldaten Braut“ und „Soldaten, so heißen wir auch“. 60 http://www.oeffentlichekunststeiermark.at/cms/beitrag/11061274/28284375/, abgerufen: 11.9.2011. 61 Für den Hinweis danke ich Heimo Halbrainer, Centrum für jüdische Studien der Universität Graz, Verein Clio Graz.

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Das zweite Projekt wurde in Kooperation mit der Kleinen Zeitung, dem wichtigsten meinungsbildenden Organ in der Steiermark, durchgeführt. Die Tageszeitung wurde zur Kommunikationsplattform für ein Konzept, das vor allem auch die Beteiligung der Bevölkerung zum Ziel hatte und Dokumentarfotografien aus den Jahren 1938 bis 1945 zum Ausgangspunkt eines komplexen interaktiven Kunst- und Medienprojektes machte. Die 96 ausgewählten Bilder, die in der Kleinen Zeitung veröffentlicht wurden, sollten die NS-Zeit nicht als das „Andere“, das „Böse“ zeigen, vielmehr sollten, wie Gerz in einem Interview mit der Kleinen Zeitung erklärte, die „uneindeutigen Bilder“, „Bilder, die uns ähnlich sind“,62 der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zugrunde liegen. Das „Institut Kunst im öffentlichen Raum“, von dem „63 Jahre danach“ betreut wurde, erläutert die komplexe Logistik des Projekts: „96 aus vielen hundert Fotografien werden in einer steirischen Tageszeitung veröffentlicht. Die Leserinnen und Leser der Zeitung wählen daraus 48 Fotos aus und legen sie wieder via Zeitung den 56 Landtagsabgeordneten vor, verbunden mit der Einladung, zu je einem Bild ihrer Wahl einen persönlichen Text aus heutiger Sicht und 63 Jahre danach zu verfassen. So folgen 48 Abgeordnete im Frühjahr 2009 der Einladung. Ihre Texte werden in der Zeitung zusammen mit den Fotos der NS-Zeit publiziert und wieder wählt daraus die Leserschaft die 24 Beiträge aus, die das Kunstwerk 63 Jahre danach konstituieren. Auch die Verteilung auf 24 verschiedene Standorte der Steiermark entscheiden die Leser und Leserinnen der Zeitung. Als Ergebnis der fast einjährigen Realisierungszeit in der Tagespresse sollen in 12 steirischen Gemeinden und an 12 Grazer Standorten 24 Objekte installiert werden, die die Entstehung der Arbeit dank der öffentlichen Autorschaft der Wissenschaftler, Politiker und der Leserschaft der Zeitung dokumentieren und jeden Ort mit dem auf ihn bezogenen Foto/Text konfrontieren.“ 63

Das Konzept der Mitwirkung der Bevölkerung, vor allem aber die Legitimation, die dem Projekt durch die Unterstützung der maßgeblichen politischen und gesellschaftlichen Kräfte und das führende Medienorgan der Steiermark verliehen wurde, mag der Grund dafür sein, dass die Errichtung von 24 Installationen, auf denen die von den Lesern ausgewählten Dokumentarfotos nun im öffentlichen Raum präsentiert wurden, kaum auf Kritik stieß. Was jahrzehntelang ein Tabu war, die fotografisch dokumentierte Evidenz der regionalen und lokalen „Anschluss“-Begeisterung und Involvierung in den NS-Herrschaftsapparat, hatte offenkundig sein Erregungspotenzial weitgehend eingebüßt.

62 Jochen Gerz über „Bilder, die uns ähnlich sind“, in: Kleine Zeitung, 28.1.2009. http://www.kleinezeitung.at/steiermark/1748796/index.do, abgerufen: 11.9.2011. 63 http://www.oeffentlichekunststeiermark.at/cms/beitrag/11074682/28284261/, abgerufen: 11.9.2011.

Gedächtniskultur in der steirischen Landeshauptstadt

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Gerz versteht „63 Jahre danach“ nicht als Gedenkprojekt: „Mich interessieren keine Monumente oder Gedenktafeln, hinter denen man sich bequem verstecken kann.“64 Vielmehr handelt es sich um eine avancierte Versuchsanordnung, um durch die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Erbe des Nationalsozialismus in konkret benennbaren, lokalisierbaren Kontexten gesellschaftliche Konstellationen in der Vergangenheit und Kontinuitäten zur Gegenwart sichtbar zu machen. Erstaunlich ist die Unaufgeregtheit und weitgehend positive Resonanz, mit der „63 Jahre danach“ begegnet wurde. Womöglich ist darin ein Symptom zu erkennen, das an vielen Gedenk-Initiativen der letzten Jahre abzulesen ist: Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus ist vom umkämpften GegenGedächtnis zur vorherrschenden Kultur des Verschweigens und der Ausblendung zu einem breit unterstützten Anliegen und zum Bestandteil der offiziellen politischen und kulturellen Repräsentation einer Stadt, eines Landes geworden. Die Abkehr von der „Opferthese“, das Bekenntnis zur gesellschaftlichen Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus wird als Verpflichtung zur Erinnerung und zur symbolischen Wiedergutmachung angesichts der Verbrechen des NS-Machtherrschaft, gerade auch im lokalen Kontext, aufgefasst – Orte wie die Grazer Synagoge werden zu erinnerungskulturellen Markierungen im öffentlichen Raum, aber auch zu Lernorten für die Weitergabe der lokalen Geschichte des Nationalsozialismus an die nächste Generation. Die Empathie mit den Opfern der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik erfährt keinen Abbruch, wenn man das Engagement von Politik und Gesellschaft für diese Projekte mit dem damit verbundenen symbolischen Kapital in Beziehung setzt: Die Zeichensetzungen signalisieren die Abkehr von der Verdrängung – dem Habitus der Nachkriegszeit – und das Aufschließen zu Standards der neuen Erinnerungskultur in Europa. Die Bedeutung, die diesem Engagement zugeschrieben wird, zeigt sich auch an der Beauftragung namhafter KünstlerInnen, damit werden Denkmäler nicht nur Zeichen der Erinnerung, sondern hochrangige Kunstwerke von internationaler Relevanz. Die Holocaust-Denkmäler in Wien und Berlin zählen zu den wichtigsten Objekten der gegenwärtigen Kunst im öffentlichen Raum und sind – im Fall von Berlin – zu Tourismusmagneten mit jährlich Hunderttausenden BesucherInnen geworden. Graz und die Steiermark haben sich durch das Projekt von Jochen Gerz in die Kunstgeschichte eingeschrieben. Dass „63 Jahre danach“ auf der Bereitschaft, sich mit der eigenen „Tätergeschichte“ auseinanderzusetzen, beruht, verleiht diesem Werk einen besonderen Akzent.

64 Jochen Gerz über „Bilder, die uns ähnlich sind“, in: Kleine Zeitung, 28.1.2009. http://www.kleinezeitung.at/steiermark/1748796/index.do, abgerufen: 11.9.2011.

Aspekte einer Geschlechtergeschichte von Krieg und NS-Zeit in der Steiermark

Karin M. Schmidlechner

Stand der Forschung zum Thema Frauen im ­N ationalsozialismus in der Steiermark In Bezug auf die österreichische Forschungssituation zum Thema Frauen- und Geschlechtergeschichte im Nationalsozialismus soll erwähnt, hier aber nicht näher darauf eingegangen werden,1 dass sich einerseits die österreichischen HistorikerInnen nach 1945 auch generell zunächst kaum und dann nur sehr zögerlich mit der Aufarbeitung der NS-Zeit beschäftigt haben und dass sich andererseits die Frauengeschichte und in weiterer Folge die Geschlechtergeschichte in der österreichischen Geschichtswissenschaft erst nach Kontroversen und vielen Vorbehalten ab den späten 1970ern etablieren konnten. Dieser Prozess verlief in verschiedenen Phasen, beginnend mit der Suche nach Frauen in der Geschichte, ihren Leistungen und Beiträgen für die Gesellschaft bis hin zur Erkenntnis, dass es nicht nur darum gehen konnte, Frauen als geschlechtsspezifische Gruppe isoliert zu untersuchen,2 sondern auch die Geschlechterbeziehungen sowie geschlechtlich bedingte Herrschaftsverhältnisse und Hierarchien zu thematisieren.3 1

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Siehe dazu: Johanna Gehmacher/Gabriella Hauch (Hrsg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus: Fragestellungen, Perspektiven, neue Forschungen, Innsbruck 2007; Johanna Gehmacher/Gabriella Hauch (Hrsg.), Auto/Biographie, Gewalt und Geschlecht, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19 (2008) 2. Karin Hausen/Heide Wunder, Einleitung, in: dieselben (Hrsg.), Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte (Geschichte und Geschlechter 1), Frankfurt am Main 1992, 9–21, hier 11. Aus dieser Erkenntnis hat sich die Geschlechtergeschichte entwickelt, die aufgrund ihres breiten Ansatzes aber eher als „Perspektive“ denn als „Inhalt“ zu verstehen ist. Siehe: Kerstin Wolff, Frauen-, Männer-, Geschlechtergeschichte. Eine Spurensuche im Netz. Was ist Frauen- und Geschlechtergeschichte – eine Einleitung, in: http://www.clio-online.de/Default.aspx?Tab/D=40208189&mid=11300 &ItemID=22566&txt=Kerstin+Wolff&ord=relevance+desc&sbl=AND&idx=o&f=&cp=1&returnTa bID=40208091 (abgerufen 17.7.2011). In ihrer weitesten Definition wird Geschlechtergeschichte nicht über einen bestimmten Gegenstandsbereich definiert, sondern meint eine Analyse der Geschichte, in der die Kategorie Geschlecht systematisch in die Erforschung der Vergangenheit einbezogen wird. Sie kann daher alle Bereiche der Geschichte betreffen, auch die, in denen es nicht vordergründig oder offenkundig um Männlichkeit oder Weiblichkeit geht. Siehe: Regina Wecker/Beatrice Ziegler, Das allgemeine Geschlecht, in: dieselben (Hrsg.), Traverse. Das allgemeine Geschlecht – La généralité du gendre, Traverse. Zeitschrift für Geschichte 19 (2000/01), zit. nach: http://www.chronos-verlag.ch/php/

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Karin M. Schmidlechner

Erste Studien zur Thematik „Frauen in der NS-Zeit“ liegen in Österreich seit den 1980erJahren vor, einer Zeit, in der Frauen als Symbol für Überschreitungen von Geschlechterrollen in der Kriegs- und Nachkriegszeit besonders für feministische Forscherinnen interessant waren.4 Vorbild für etliche dieser Studien waren Forschungsarbeiten aus Deutschland, wo frauenspezifischen Themen in der Forschung zum Nationalsozialismus bereits in den 1970erJahren behandelt wurden5 und von einem theoretischen Konzept ausgingen, welches Frauen hauptsächlich als passiv und damit von vornherein als Opfer sah.6 Mit Frauen als Täterinnen hat sich die Forschung erst später auseinandergesetzt,7 wobei es verstärkt v. a. seit den 1990er-Jahren zu neuen Zugängen bei der Aufarbeitung der Thematik gekommen ist und zwar einerseits durch den Versuch, die Fokussierung von der Frauengeschichte auf die Geschlechtergeschichte zu lenken, und andererseits in der Auflösung und Ausdifferenzierung der Opfer-Täterinnen-Perspektive in unterschiedlichen Handlungsfeldern und Handlungsräumen. Dazu gehören u. a. die Thematik Frauen und ihre Verortung in der NS-Politik, Frauen- und Mädchenorganisationen in der NS-Zeit sowie Widerstand und Verfolgung, aber nicht nur im politischen Kontext, sondern auch noch im Themenkomplex Geschlecht und Verfolgung.8 Ein weiterer wichtiger thematischer Bezugspunkt ist die Thematik Krieg und Geschlecht, die ja sehr lange sowohl von der allgemeinen als auch von der Frauenforschung nicht berücksichtigt wurde und erst in neueren Ansätzen zum Thema der Geschlechterfor-

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book_latest-new.php?book=978-3-905315-19-6&type=Zusammenfassung (abgerufen 21.9.2011); Claudia Opitz, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte (Historische Einführungen 10), Tübingen 2005, 11. Auch für die letzten Jahre kann erfreulicherweise auf einige sehr bemerkenswerte geschlechterspezifische Arbeiten verwiesen werden. Siehe: Gehmacher/Hauch (Hrsg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte. Zur Entwicklung der Forschungen siehe u. a.: Susanne Lanwerd/Irene Stoehr, Frauen und Geschlechterforschung zum Nationalsozialismus seit den 1970er Jahren. Forschungsstand, Veränderungen, Perspektiven, in: Johanna Gehmacher/Gabriella Hauch (Hrsg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus, 22–70; Elke Frietsch/Christina Herkommer (Hrsg.), Nationalsozialismus und Geschlecht. Zur Politisierung und Ästhetisierung von Körper, „Rasse“ und Sexualität im „Dritten Reich“ und nach 1945, Bielefeld 2009. Sie haben sich sowohl mit Frauen, die dieser klassischen Opferdefinition entsprachen, als auch mit Widerstandskämpferinnen beschäftigt. Dabei kommt eine interessante Konstellation zum Tragen, nämlich, dass Widerstandskämpferinnen zwar Opfer des Regimes, gleichzeitig aber auch aktiv Handelnde gegen dieses Regime waren. Auch hier war der Täterinnenbegriff sehr weit gefasst. Darunter fielen auch Frauen, die das Regime zwar nicht aktiv unterstützt, aber auch nichts dagegen unternommen haben. Erst in einem später enger gefassten Sinn gehörten dazu dann nur die „wirklichen“ Täterinnen, wie etwa die KZ-Aufseherinnen. Lanwerd/Stoehr, Frauen und Geschlechterforschung, 22–70.

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schung, dabei besonders der Männerforschung, geworden ist.9 Letztendlich sei noch auf die Auseinandersetzung mit der Kontinuität des Nationalsozialismus in Bezug auf Gedächtnis und Erinnern hingewiesen.10 Was die Forschungssituation zur Thematik Frauen in der NS-Zeit in der Steiermark anlangt, muss festgestellt werden, dass – aus unterschiedlichsten Gründen, auf die hier nicht eingegangen werden wird11 – im Vergleich zu Gesamtösterreich sowohl die allgemeine Forschung zur NS-Zeit als auch die Frauenforschung generell in der Steiermark extrem spät – erst ab den 1980er-Jahren – einsetzte und eine systematische Aufarbeitung der Geschichte von Frauen in der NS-Zeit bis dato überhaupt noch nicht erfolgt ist. Dabei ist für die frühen Studien zu bemerken, dass sie von Forschungen über den steirischen Widerstand inspiriert bzw. von Widerstandsforschern, die sich nicht als Frauen- bzw. GeschlechterforscherInnen verstanden, verfasst wurden.12 In erster Linie ist auf die Arbeiten von Heimo Halbrainer13 hinzuweisen, der sich als einer der ersten mit der Geschichte von Widerstandskämpferinnen, aber auch von Kämpferinnen gegen den Austrofaschismus und das NS-Regime, mit jüdischen Verfolgten sowie mit NS-Täterinnen in der Steiermark auseinandergesetzt hat und dem damit wertvolle Informationen über Frauen in dieser Zeit zu verdanken sind. Weiters kann prinzipiell festgestellt werden, dass die Aufarbeitung der Geschichte der steirischen Frauen im Nationalsozialismus bis jetzt besonders intensiv auf der biographischen Ebene erfolgte. Als Beispiele dafür seien Halbrainers Publikation „Der Koffer der Adele

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Siehe dazu: Wolfgang Schmale, Geschichte der Männlichkeit in Europa: 1450–2000, Wien 2003; Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz, Geschichte der Männlichkeiten, Frankfurt am Main 2008; Jürgen Martschukat/Olaf Stieglitz (Hrsg.), Väter, Soldaten, Liebhaber: Männer und Männlichkeiten in der Geschichte Nordamerikas. Ein Reader, Bielefeld 2007. 10 Lanwerd/Stoehr, Frauen- und Geschlechterforschung, 22–70. 11 Dazu zählen u. a. eine ausgeprägte konservative gesellschaftliche Grundhaltung, deren Repräsentanten an einer Aufarbeitung der NS-Zeit nicht interessiert waren, und eine sehr restriktive Archivpolitik in der Steiermark, wo im Unterschied zu anderen Bundesländern nur selten Genehmigungen zur Aufhebung der 50-jährigen Archivsperre erteilt wurden. Dass sich seit damals doch Veränderungen in der Einstellung der Gesellschaft ergeben haben, zeigt die Tatsache, dass v. a. anlässlich des „Gedenkjahres“ 2008 mehrere Ausstellungen zur NS-Thematik in Graz und in der Steiermark zu sehen waren. Siehe: Heimo Halbrainer/Gerald Lamprecht/Ursula Mindler, Un/-sichtbar. NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Steiermark, Graz 2008. 12 Siehe: Wolfgang Muchitsch, Der Widerstand und seine Verfolgung in Graz 1945. Die Gruppe um Fritz Matzner und der Fall Julia Pongracic, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 25 (1994), 47–64. 13 Siehe: Maria Cäsar/Heimo Halbrainer (Hrsg.), „Die im Dunkeln sieht man doch“. Frauen im Widerstand – Verfolgung von Frauen in der Steiermark, Graz 2007; Heimo Halbrainer, „In der Gewissheit, dass Ihr den Kampf weiterführen werdet“. Briefe steirischer WiderstandskämpferInnen aus Todeszelle und KZ, Graz 2000.

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Kurzweil“14 und seine im Jahre 2006 erschiene Biographie über die Widerstandskämpferin Maria Cäsar15 erwähnt, weiters eine von der Historikerin Ute Sonnleitner verfasste Biographie über die in ihrer Geburtsstadt Graz nahezu vergessene Goldy Parin-Mathèy, die sich in den 1920er-Jahren in Graz mit einer Gruppe junger Intellektueller gegen den Faschismus engagierte.16 In dieser Biographie werden nicht nur bedeutende Aspekte ihres Lebens nachgezeichnet, darunter ihr gesellschaftspolitisches Engagement in Graz, sondern auch interessante Aufschlüsse über die Etablierung des Nationalsozialismus in Graz und Versuche, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, vermittelt. Zudem möchte ich in diesem Zusammenhang auf die 2008 erschienene Publikation „Aus dem Blickfeld. Eine biographische Annäherung an ambivalente Lebensszenarien steirischer Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit“17 verweisen, deren Intention es ist, zu einer Ergänzung bzw. Korrektur des Frauen- und Geschlechterbildes der Kriegs- und Nachkriegszeit in der Steiermark anzuregen bzw. beizutragen und auf das Schicksal von Frauen aufmerksam zu machen, die während der NS-Zeit und danach nicht dem jeweils vorherrschenden Frauenbild entsprachen und deshalb auch keine Verankerung im öffentlichen Gedächtnis erfahren haben. Damit sind v. a., aber nicht nur, Widerstandskämpferinnen und Jüdinnen gemeint. Erwähnenswert sind auch die schon vor einigen Jahren erschienenen zahlreichen Arbeiten von Peter Ruggenthaler über ZwangsarbeiterInnen in der Steiermark18 sowie die Forschungen von Gabriele Czarnowski, die sich mit dem Themenkomplex von Medizin im Nationalsozialismus und der NS-Politik auch auf Grundlage von Grazer Datenmaterial auseinandersetzt und zeigt, inwiefern oder wie sehr gerade Frauen Opfer dieser auch durch die NS-Rassenpolitik bedingten Politik geworden sind.19 14 Christian Ehetreiber/Heimo Halbrainer/Bettina Ramp (Hrsg.), Der Koffer der Adele Kurzweil. Auf den Spuren einer Grazer jüdischen Familie in der Emigration, Graz 2001. 15 Heimo Halbrainer (Hrsg.), „Ich bin immer schon eine politische Frau gewesen“. Maria Cäsar – Widerstandskämpferin und Zeitzeugin. Eine Würdigung aus Anlass ihres 86. Geburtstages, Graz 2006. 16 Ute Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy – Vergessene Heldin?, in: Schmidlechner/Halbrainer (Hrsg.), Aus dem Blickfeld. Eine biographische Annäherung an ambivalente Lebensszenarien steirischer Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit (1939–1955). (Grazer Gender Studies 11), Graz 2008, 194–224. Siehe auch: Ute Sonnleitner, Goldy Parin-Matthèy 1911–1997, phil. Diplomarbeit Graz 2005. 17 Schmidlechner/Halbrainer (Hrsg.), Aus dem Blickfeld. 18 Peter Ruggenthaler, „Ein Geschenk für den Führer“ – sowjetische Zwangsarbeiter in Kärnten und der Steiermark 1942–1945 (Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für KriegsfolgenForschung 5), Graz ²2002; Stefan Karner/Peter Ruggenthaler, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet Österreichs 1939– 1945 (Veröffentlichungen der österreichischen Historikerkommission 26, 2), Wien 2004. 19 Siehe: Gabriele Czarnowski, „Russenfeten“. Abtreibung und Forschung an schwangeren Zwangsarbeiterinnen in der Universitätsfrauenklinik Graz 1943–45, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin (2008) 7; Gabriele Czarnowski, Vom „reichen Material ... einer wissenschaftlichen Arbeitsstätte“.

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Sehr wenige Informationen gibt es bedauerlicherweise bis jetzt über jene Steirerinnen in der NS-Zeit, die nicht Verfolgungen ausgesetzt bzw. selbst im Widerstand tätig waren, sondern das NS-System aktiv oder zumindest passiv unterstützt haben, wobei mit passiver Unterstützung gemeint ist, dass sie nicht gegen das NS-Regime agierten. Dass ihre Zahl nicht gering war, geht nicht nur aus zeitgenössischen Berichten ausländischer BesucherInnen, die die Begeisterung der Grazer Bevölkerung anlässlich der NS-Machtergreifung dokumentieren,20 sondern auch aus Schilderungen bzw. schriftlichen Aufzeichnungen von AugenzeugInnen hervor.21 Abgesehen von kleineren Oral-history Arbeiten über einzelne Frauen22, Heimo Halbrainers Untersuchungen über NS-Denunziantinnen23 und einer 1997 erschienenen Publikation, die sich mit den Erinnerungen ehemaliger Soldaten, aber auch Frauen an die Kriegs- und NS-Zeit auseinandersetzt,24 besteht hinsichtlich dieser Thematik ein großes Defizit. Etwas besser gestaltet sich die Forschungslage bezüglich des Alltags von steirischen Frauen in der NS-Zeit, obwohl auch dieses Thema bis vor Kurzem nicht Gegenstand systematischer Forschungen war. Allerdings hat sich diesbezüglich herausgestellt, dass auch Studien über die Nachkriegszeit, v. a., wenn sie auf den Erinnerungen von ZeitzeugInnen basieren, Aufschlüsse über diese Zeit ermöglichen, weil sich in diesen Erinnerungen keine Zäsur zwischen Kriegsund Nachkriegzeit feststellen lässt.25 Da die Erforschung der Nachkriegszeit den Beginn der Frauenforschung in der Steiermark darstellt, ist sie – zumindest im Vergleich zu anderen Zeitphasen – auch für die Steiermark mittlerweile recht gut aufgearbeitet.26

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Zum Problem missbräuchlicher medizinischer Praktiken an der Grazer Universitäts-Frauenklinik in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Freidl/Werner Sauer (Hrsg.), NS-Wissenschaft als Vernichtungsinstrument – Rassenhygiene, Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-„Euthanasie“ in der Steiermark, Wien 2004. Siegfried Beer, Kommunale Politik und Verwaltung in Graz im Jahre 1938, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 18/19 (1988), 87–108. Siehe: ungedruckte Tagebuchaufzeichnung von Ingeborg W. Kopie im Besitz der Autorin. Karin M. Schmidlechner, Feli K. Erinnerungen an die NS-Zeit, in: What’s up. Zeitschrift der Grünen Akademie (Oktober 1997), 17; Karin M. Schmidlechner, Kriegsende und Neubeginn in Graz und Bruck an der Mur. Drei Beiträge zur erlebten Geschichte, in: zeitgeschichte 12 (1985) 7, 277–283. Heimo Halbrainer, Denunziantinnen in der Steiermark, in: Schmidlechner/Halbrainer (Hrsg.), Aus dem Blickfeld, 93–105. Hannes Grandits u. a. (Hrsg.), „Der Krieg geht uns alle an. Wie gehen wir damit um?“ Geschichtswerkstatt Graz ’97. Eine Dokumentation, Graz 1998. Siehe: Karin Maria Schmidlechner, Oral History als Methode der Historischen Frauenforschung, in: dieselbe (Hrsg.), Signale (Veröffentlichungen zur historischen und interdisziplinären Frauenforschung 1), Graz 1994, 9–24. Siehe: Karin M. Schmidlechner, Frauenleben in Männerwelten. Kriegsende und Nachkriegszeit in der Steiermark (Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 10), Wien 1997. In dieser Studie wurden

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Wie vor allem einige in der letzten Zeit verfasste bemerkenswerte studentische Abschluss­ arbeiten zeigen, haben sich auch die Bemühungen um eine Etablierung der Frauen- und Geschlechterforschung in der Steiermark bzw. die damit verbundenen Maßnahmen im universitären Bereich27 positiv auf die Forschungssituation ausgewirkt. Dazu gehört die Arbeit von Sylvia Einoeder,28 die sich mit Lebensrealitäten, Rollen und Handlungsmotiven von Frauen während der NS-Zeit beschäftigt. These ihrer Arbeit ist, dass in der NS-Zeit wirkende Frauen entgegen der damaligen Vorstellung vielfältige Rollen innerhalb des NS-Systems einnahmen und dieses System mitgetragen und möglich gemacht haben. Ihrem empirischen Teil liegen Interviews mit steirischen Zeitzeuginnen zugrunde, wovon fünf Frauen eine aktive Rolle innerhalb des NS-Regimes eingenommen haben. Die Gespräche spiegeln die Erfahrungen der Frauen während der NS-Zeit und ihre noch viel unterschiedlicheren heutigen Sichtweisen auf den Nationalsozialismus sowie ihre eigenen Positionen innerhalb dieses Systems wider. Einoeder stellt fest, dass genau so, wie diese Frauen während der NS-Zeit nur in Ausnahmefällen gesellschaftlich wahrgenommen wurden, sie auch in der Nachkriegsgesellschaft entweder auf die Rolle der unschuldigen Hausfrau von nebenan oder auf die Rolle der bösartigen Psychopathin reduziert wurden, wobei diese patriarchal konstruierten Rollenbilder der Aufrechterhaltung der alten Geschlechterhierarchie dienten. Ihre daran anschließende Untersuchung, wie in der österreichischen Nachkriegsgesellschaft mit NS-Täterinnen umgegangen worden ist, zeigt auch sehr deutlich, wie weibliche Täterschaft überhaupt wahrgenommen wurde und wie die Gesellschaft sich mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzte. Mit einem neuen, sehr aktuellen Forschungsthema, nämlich der kriegsbedingten Vaterlosigkeit, setzt sich Sophie Kleinberger auseinander.29 In ihrer Arbeit, die auf den Raum Graz bezogen ist und auf biographischen Interviews beruht, thematisiert sie v. a. die Kindheitserinnerungen ihrer ZeitzeugInnen in Bezug auf die Abwesenheit der Väter, aber auch die allgemeinen Sozialisationsbedingungen von Kriegskindern sowie die soziale und ökonomische Situation von vaterlosen Familien. Ihre These, dass das kriegsbedingte Fehlen des Vaters eine den Lebenslauf bestimmende Konstante für die Identitätsbildung und Erinnerungsstiftung der Betroffenen darstellt, wird durch ihre empirische Forschung bestätigt. auch Männer interviewt. Elisabeth Welzig, Leben und Überleben: Frauen erzählen vom 20. Jahrhundert, Wien 2006; Schmidlechner, Feli K.; Schmidlechner, Kriegsende und Neubeginn, 277–283. 27 Hier sei v. a. auf die Verankerung von Frauen- und Geschlechterthemen in den Studienplänen und die Installierung eines interdisziplinären Masterstudiums „Genderstudies“ verwiesen. 28 Sylvia Einoeder, Handlungsräume von Frauen während der NS-Zeit jenseits der „Opfer-TäterinnenDualität“, phil. Diplomarbeit, Graz 2010. 29 Sophie, Kleinberger, „... aber gefehlt hat immer was“: Auswirkungen der kriegsbedingten Vaterlosigkeit nach 1945 mit besonderem Fokus auf den Raum Graz, phil. Diplomarbeit, Graz 2010

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Besonders erfreulich ist, dass es mittlerweile auch zumindest eine Arbeit gibt, die einen Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte von Männern in der steirischen NS-Zeit leistet.30 Florian Prattes thematisiert sowohl das kollektive als auch das individuelle Gedächtnis von Kameradschaftsbundmitgliedern, geht auf die Kameradschaft als zentrales identitätsstiftendes Element der Gemeinschaft der Mitglieder ein und zeigt, auf welche medialen Repräsentationen sich ihr kollektives Gedächtnis stützt. Indem er auf das idealisierte Männlichkeitsideal hinweist, welches im kollektiven Gedächtnis der Mitglieder noch immer eine wichtige Rolle spielt, während es in der heutigen Gesellschaft stark an Bedeutung verloren hat, behandelt er auch eine geschlechtergeschichtliche Dimension des Themas. Ein weiterer Gender-Aspekt wird mit der Frage nach der Rolle von Frauen im Kameradschaftsbund thematisiert. Diesbezüglich stellt Prattes fest, dass im ÖKB – im Unterschied zur Nachkriegsgesellschaft – konservative Männlichkeitsvorstellungen, v. a. bezüglich der Verbindung von Militär und Männlichkeit, weiterhin bestehen blieben, was bedeutet, dass im Kameradschaftsbund noch immer eine sehr klar definierte konservative geschlechtsspezifische Rollenverteilung, die teilweise noch auf Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zurückgeht, herrscht. Gerade dadurch bot er den nach der militärischen Niederlage im Zweiten Weltkrieg verunsicherten, an diesen Vorstellungen festhaltenden ehemaligen Soldaten eine Rückzugsmöglichkeit, wobei Frauen, die im Bezug auf die Kriegserfahrungen ausschließlich als Opfer gesehen werden, zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber nur in klar definierten Bereichen – z. B. bei der Fahnenweihe – zugelassen sind. Ausgehend von einem ausführlichen lebensgeschichtlichen Interview mit einem steirischen ÖKB-Mitglied kann Prattes exemplarisch feststellen, wie sehr die gemeinsamen Kriegserlebnisse noch immer im Zentrum der individuellen Erinnerungen stehen, wobei in völliger Verkennung und Ausblendung der Realität für die Kriegsbeteiligung gesellschaftliche Anerkennung erwartet wird, dass die NS-Propaganda noch immer relevant ist und Widerstand gegen die NS-Zeit nach wie vor marginalisiert oder negativ dargestellt wird.31 Die Forschungssituation zusammenfassend kann festgestellt werden, dass – trotz einiger erfreulicher Ansätze – ein großer Teil der zu Beginn erwähnten in Deutschland oder anderen Regionen Österreichs bereits aufgearbeiteten Themenfelder zur NS-Geschlechtergeschichte in der Steiermark noch nicht Gegenstand von Forschungen waren. Um diesen eklatanten Rückstand aufholen zu können, wäre eine konsequente und intensive Aufarbeitung, z. B. in Form eines Forschungsschwerpunkts, dringend notwendig.

30 Florian Prattes, Der österreichische Kameradschaftsbund und seine Rolle im kollektiven und individuellen Gedächtnis seiner Mitglieder, phil. Diplomarbeit Graz 2009. 31 Ebda.

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Erinnerungen an die NS-Zeit und den Krieg Ohne auf die zahreichen Theorien zu den Themenbereichen Gedächtnis und Erinnerung einzugehen, soll hier darauf hingewiesen werden, dass die Erinnerungen von SteirerInnen sich in Hinblick auf Erinnerungsverhalten und Erinnerungsstrategien nicht von jenen aus anderen Regionen unterscheiden und die diesbezüglich entwickelten Theorien auch dafür zutreffend sind.32 Unterschiede ergeben sich aber durch den Bezug auf spezifische Milieus in der Steiermark, wie etwa das Grazer Bürgertum oder die obersteirischen IndustriearbeiterInnen und aufgrund der Tatsache, dass bestimmte Ereignisse mit bestimmten Orten verknüpft sind, wie etwa die Schilderungen von Hitlers Besuch der Landeshauptstadt Graz im Jahre 193833 oder die Konfrontation mit den russischen Besatzungssoldaten 1945.34 Generell waren in den Erzählungen steirischer Frauen individuelle und allgemeine gesellschaftliche Ereignisse miteinander verknüpft, wobei die Erlebnisse, die die Berichte dominierten, eindeutig dem individuellen Bereich – Familienleben, familiärer Arbeitsbereich – zugeordnet werden konnten, was den gesellschaftlichen und politischen Status dieser Frauen 32 Dazu siehe: Gabriele Rosenthal (Hrsg.), Die Hitlerjugend-Generation. Biographische Thematisierung als Vergangenheitsbewältigung (Gesellschaftstheorie und Soziale Praxis 1), Essen 1986; Gabriele Rosenthal (Hrsg.), „Als der Krieg kam, hatte ich mit Hitler nichts mehr zu tun.“ Zur Gegenwärtigkeit des „Dritten Reiches“ in Biographien, Opladen 1990. Gabriele Rosenthal, Kollektives Schweigen zu den Nazi-Verbrechen. Bedingungen der Institutionalisierung einer Abwehrhaltung, in: psychosozial 15 (1992) 3. Harald Welzer, Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust, Tübingen 1997. Generell zur Erinnerungsthematik siehe: Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Siehe die zahlreichen Arbeiten von Aleida Assmann generell und Heidemarie Uhl für Österreich. Siehe dazu: Chris­ tian Gerbel/ u.a. (Hrsg.), Transformationen gesellschaftlicher Erinnerung. Studien zur „Gedächtnisgeschichte“ der Zweiten Republik (Kultur.Wissenschaften 9), Wien 2005; Karl Fallend, Unsere Forschung bewegt uns – aber von wo wohin? Nationalsozialismus in biographischen Gesprächen. Empirische Blitzlichter auf „Angst und Methode“ im qualitativen Forschungsprozess, in: Gehmacher/Hauch (Hrsg.), Auto/Biographie, Gewalt und Geschlecht, 64–97; Ela Hornung, Denunziation, „Wehrkraftzersetzung“ und Geschlecht, in: Gehmacher/Hauch (Hrsg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte, 169–185; Margit Reiter, Die Generation danach: der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Innsbruck–Wien–München 2006; Karin Maria Schmidlechner, Oral History, 9–24; Karin M. Schmidlechner, Oral history: considerations on a never ending story, in: Ulrike Tischler (Hrsg.), From “milieu de memoire” to “lieu de memoire”. The cultural memory of Istanbul in the 20th century, Graz 2006. 33 Beer, Politik und Verwaltung, 87–108. 34 In etlichen Erzählungen wurden diese ersten Kontakte noch mit der Thematik der Kriegszeit verknüpft. Dazu siehe: Barbara Stelzl-Marx, Die Innensicht der Sowjetischen Besatzung in Österreich 1945–1955. Erfahrung, Wahrnehmung, Erinnerung. Habilitationsschrift Graz 2009; Schmidlechner, Frauenleben, 1997.

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in jener Zeit reflektiert. Die meisten von ihnen gehörten damals der Unter- bzw. unteren Mittelschicht und damit einer relativ „machtlosen“ gesellschaftlichen Gruppierung an, deren Teilnahme am öffentlichen Leben beinahe ausschließlich auf ihre Funktion als Arbeitnehmerinnen beschränkt war, wobei sie hauptsächlich in untergeordneten Positionen in Büros oder Fabriken beschäftigt waren. Hierbei zeigte sich zunächst, dass den meisten Frauen, die während des Krieges gearbeitet hatten, jedoch durchaus bewusst war, welche Leistungen sie erbracht hatten, wobei viele ihren von den Behörden auferlegten Arbeitsverpflichtungen nur ungern nachgegangen waren und sich diesen, wann immer es ihnen möglich war, entzogen hatten. Die Verweigerungshaltung hatte sich dabei völlig unterschiedlich artikuliert, wobei es sich entweder um eine totale oder eine auf Teilbereiche beschränkte Arbeitsverweigerung handeln konnte. Auch die dafür jeweilig angewandten Strategien waren verschieden.35 Die Schilderungen von nationalen und politischen Ereignissen dienten in erster Linie zur zusätzlichen Erklärung bzw. wurden dann erwähnt, wenn sie oder die aus ihnen resultierenden Folgen die private Sphäre der Frauen direkt beeinflusst oder ihr Leben gravierend verändert hatten. So realisierten die meisten Frauen den Ausbruch des Krieges erst dann, wenn eine männliche Person aus ihrem unmittelbaren Lebensumfeld zum Wehrdienst eingezogen wurde. Ebenso stellte für das Leben vieler Frauen das Kriegsende im Jahr 1945 nicht jene entscheidende Wende dar, wie es z. B. in der politischen Geschichte dargestellt wird. Vielmehr wurde das Ende des Krieges sehr individuell auf jenen Zeitpunkt festgesetzt, in dem sich ihre Situation entspannte, meistens also, wenn der Ehemann, Freund oder Vater aus dem Krieg heimkehrte, bzw. war er mit dem Abzug der russischen Besatzungstruppen verknüpft.36 Im Mittelpunkt der Schilderungen standen sehr häufig männliche Bezugspersonen, damit also Männer, die die meiste Zeit physisch abwesend waren. Es waren auch eindeutig die Männer, die den emotionalen Fokus in den Erinnerungen der Frauen bildeten und es waren auch die Handlungen von Männern während des Krieges, die als Katalysatoren für das Verhalten der Frauen dienten. Demgegenüber spielten die Schilderungen von Interaktionen mit Frauen, in Form von Freundschaften, Verwandtenkontakten oder Arbeitsbeziehungen eine eher sekundäre Rolle. Ebenso stellten die Männer die Verbindungselemente zwischen den Frauen und der Öffentlichkeit dar, hierbei vor allem was Informationen über den Krieg anlangte, da die Soldaten nach Meinung der Frauen mehr Zugang zu Informationen über den Krieg hatten als die Zivilbevölkerung.37 Auch die Partnerbeziehungen wurden sehr ausführlich geschildert. Während die damals unverheirateten Frauen sehr ausführlich von den Auswirkungen des Krieges auf ihre dadurch 35 Schmidlechner, Geschlechtsspezifische Erinnerungen, 149–160. 36 Ebda. 37 Ebda.

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unsicher gewordenen Zukunftspläne und Hoffnungen bezüglich ihrer Freunde und Verlobten berichteten bzw. darüber sprachen, wie schwer es war, Partner zu finden, konzentrierten sich die Schilderungen von verheirateten Frauen auf die Probleme und Mehrfachbelastungen, die sich aus dem Leben ohne Männer ergaben, und auf ihre Angst um deren Leben.38 Viele Frauen erzählten, dass die Ungewissheit und Unbeständigkeit der Kriegszeit zu einer emotionalen Intensivierung ihrer Beziehungen führte und schilderten, auf welche Weise sie versuchten, zum abwesenden Partner romantische Beziehungen aufrechtzuerhalten, wiesen aber auch darauf hin, dass sie ihre abwesenden Partner zu sehr idealisiert hatten und diese Illusionen der Realität nicht standhalten konnten, so dass viele Beziehungen in der Nachkriegszeit scheiterten.39 Generell fiel es den Frauen schwer, ihre biographischen Erinnerung zu verarbeiten, da sie keine Gelegenheit zu einer kollektiven Aufarbeitung gehabt hatten, u. a. deshalb, weil sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Opfer des Bombenkrieges und der alliierten Soldaten in einen Diskurs der Schuldabwehr gestellt wurden, wobei ihre Leiden im Krieg und in der Nachkriegszeit als Möglichkeit dienten, die eigenen Verstrickungen in die NS-Zeit durch Aufrechnung von Schuld und Abwägen des Leidens zu verdrängen.40 Außerdem wurde nach 1945 von der Gesellschaft die weibliche Mithilfe am Krieg ignoriert, sie sollte schnell wieder vergessen werden, um die gewohnte Geschlechterordnung wieder herzustellen. Daher konnten Frauen diese einerseits nicht glorifizieren, andererseits wurde dadurch aber ihre Mitverantwortung verdrängt. 41 38 Ebda. 39 Dazu siehe auch: Kate Darian Smith, Remembrance, Romance and Nation. Memories of Wartime Australia, in: Selma Leydesdorff/Luisa Passerini/Paul Thompson (ed.), International Yearbook of Oral History and Life Stories, Vol. IV: Gender and Memory, Oxford 1996. 40 Dies wurde auch durch neue Studien belegt, die ergaben, dass die Erinnerung an die Opferrolle das Gefühl von individueller und kollektiver Schuld beträchtlich verringert. Dazu siehe: Michael J. Wohl/ Nyla R. Branscombe, Remembering historical victimization: Collective guilt for current ingroup transgressions, in: Journal of Personality and Social Psychology 94 (2008), 988–1006, Zit. nach: Jochen Paulus, Erinnerung an eigenes Leid verringert Schuldgefühle, in: Psychologie heute (2008) 12, 18. In diesem Sinne sprachen die Frauen tatsächlich sehr ausführlich über die Bombenangriffe und ihre damit verbundenen Angst. Nicht nur Frauen, sondern auch Männer wurden über ihre Erinnerungen an die Kriegs- und Nachkriegszeit befragt. An die Luftangriffe hatten nur die Jahrgänge ab 1930 aufwärts und einige wenige ältere Männer Erinnerungen, weil die übrigen in der Regel ja eingezogen gewesen waren und stattdessen von ihren Kriegserlebnissen berichteten. Aber auch bei den damals jungen Buben machte sich dieses „Heldensyndrom“ in den Erinnerungen bemerkbar. Siehe: Schmidlechner, Frauenleben, 17–64. 41 Diesbezüglich wird seit einigen Jahren in konservativen und katholischen Deutungen eine von der in den 1980er-Jahren völlig abweichende Interpretation sowohl der Opferrolle als auch der Überschreitungen vorgenommen. Beide werden nun nicht mehr als Symbol für weibliche Unabhängigkeit gesehen, sondern in den konservativen Kontext der sich aufopfernden Frau gestellt, wobei die Betonung

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Im Unterschied dazu wurde Männern eine kollektive Aufarbeitung der gemeinsam verbrachten Soldatenzeit und Gefangenschaft eher ermöglicht.42 Männer verurteilten zwar das NS-System, schoben aber auch die gesamte Verantwortung auf dieses System ab und konnten sich so von eigener Verantwortung freisprechen. Soldatisches Handeln und seine Konsequenzen, Kämpfertum und Heldenhaftigkeit blieben unreflektiert und konnten somit als positive Elemente in der Selbstdarstellung erhalten bleiben. Sehr oft wurde dieser Teil der Erfahrungen in den Lebenserzählungen von den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen im NS-Staat und dessen Zielsetzungen abgelöst, als Bestandteil eines tradierten, bis heute nicht infrage gestellten Männlichkeitsideals unter den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen nach 1945 beibehalten und von den Erzählern als positives Element in ihr Selbstverständnis und in ihre Selbstdarstellung integriert.43 In Bezug auf Unterschiede in erzählten Lebensgeschichten von Männern und Frauen, wobei festzustellen ist, dass diese nicht nur auf den – geschlechtsbedingten – unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnissen von Frauen und Männern in dieser Zeit beruhen, sondern auch auf ihr unterschiedlich strukturiertes Wahrnehmungsvermögen zurückzuführen sind,44 fällt auf, dass es eher die Frauen waren, die Schwierigkeiten damit hatten, die einzelnen Phasen ihres Lebens in einen konsistenten Zusammenhang zu stellen,45 während Männer die Diskontinuitäten in ihrem Lebenslauf akzeptierten, indem sie sich diese mithilfe kollektiver Verarbeitungsmuster versteh- und erklärbar machten, und dadurch die einzelnen Lebensphasen in einen stimmigen Zusammenhang stellen konnten.

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des mütterlichen Aufopferns für andere als Beweis für den angeblich angeborenen weiblichen Charakterzug dient. Irene Bandhauer-Schöffmann/Ela Hornung, „Trümmerfrauen“ – Deutungsmuster für eine Ikone der Nachkriegszeit, in: Martin Wassermair/Katharina Wegan (Hrsg.), rebranding images. Ein streitbares Lesebuch zu Geschichtspolitik und Erinnerungskultur in Österreich, Innsbruck 2006, 79–93, 79ff. Siehe Grandits u. a. (Hrsg.), „Der Krieg geht uns alle an. Wie gehen wir damit um?“ Graz 1998. Männer erlebten den Krieg vorwiegend als Soldaten an der Front und Schilderungen von ihren Erlebnissen an der Front bildeten den Hauptbestandteil ihrer Erzählungen. Während von manchen bei diesen Erzählungen Belastendes völlig ausgeblendet wurde, die schmerzhaften Erinnerungen der eigentlich existenziell bedrohlichen Erlebnisse, die der Konfrontation mit dem Tod, in der Regel nicht erzählt wurden, war bei anderen ehemaligen Soldaten festzustellen, dass sie die damals herrschenden Rollenstereotype, denen zufolge die Männer „Helden“ ohne Gefühle wie Angst und Schrecken zu sein hätten, so internalisiert hatten, dass auch noch ihre Erinnerungen Jahrzehnte später davon geprägt waren und sie vollkommen ungerührt Szenen des Grauens schildern konnten. Dazu siehe: Michael Ross/Diane Holmberg, Recounting the Past: Gender Differences in the Recall of Events in the History of a Close Relationship, in: J. M. Olson/M. P. Zanna (Hrsg.), Self-Inference Processes: The Ontario Symposium 6, Hillsdale–New York 1990, 135–150; Karin M. Schmidlechner, Gibt es ein geschlechtsspezifisches Erinnern?, in: Kuckuck (1988). Welzig, Leben und Überleben.

Autorinnen und Autoren

Kurt Bauer, Historiker, Lehrbeauftragter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Erste Republik, NS-Geschichte, politische Gewalt, Alltags- und Mentalitätsgeschichte. Publikationen (Auswahl): Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, 2003; Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall, UTBTaschenbuch, 2008; Hitler und der Juliputsch 1934 in Österreich. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Außenpolitik in der Frühphase des Regimes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 2, 2011, S. 193–227. Website: http://www.kurt-bauer-geschichte.at/. Uwe Baur, Univ.-Prof. i. Ruhe, ab 1982 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Graz, ab 1986 Leiter des Projekts „Österreichische Literatur im Nationalsozialismus“, ab 1995 Obmann der Forschungs- und Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur (Literaturhaus Wien). Zudem noch folgende Forschungsschwerpunkte: Gattungstheorie und Trivialliteratur. Wolfgang Benz, Historiker, bis März 2011 Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, Gastprofessuren u. a. in Australien, Bolivien, Nordirland, Österreich und Mexiko, zahlreiche Publikationen zur deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, zu Nationalsozialismus, Antisemitismus und Problemen von Minderheiten, Herausgeber mehrerer Buchreihen, Geschwister-Scholl-Preis 1992, Mitglied im P.E.N. Dieter A. Binder, Historiker, lehrt seit 1983 am Institut für Geschichte der Universität Graz und seit 2003 an der Fakultät für Mitteleuropäische Studien der Andrássy Universität Budapest. Arbeitsschwerpunkte sind neben geschlossenen Gesellschaften Fragen der politischen Geschichte und Kulturgeschichte des österreichischen Raumes; zuletzt erschienen: Skrivna družba. Zgodovina in simbolika prostozidarjev. Celje 2008; Die Freimaurer. Ursprung, Rituale und Ziele einer diskreten Gesellschaft. Freiburg–Basel–Wien, 4. Aufl. 2008; (gem. mit Heinz Peter Wassermann), Die steirische Volkspartei oder die Wiederkehr der Landstände. Graz 2008; Die Freimaurer. Geschichte, Mythos, Symbole. Wiesbaden, 2. Aufl. 2010; (gem. m. Eugen Lennhoff, Oskar Posner), Internationales Freimaurer Lexikon. München, 6. Aufl. 2011; (Hg. gem. mit Helmut Konrad, Eduard Staudinger), Die Erzählung der Landschaft. Wien–Köln–Weimar 2011. Christian Fleck, Soziologe an der Universität Graz. 1989 Habilitation Wien, 1993/94 Schumpeter Fellow Harvard University, Cambridge, Massachusetts, USA, 1999/2000 Fellow am Center for Scholars and Writers, The New York Public Library, New York, 2008 Visiting Fulbright Professor University of Minnesota, Twin Cities. 1987–2005 Leiter des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich

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Autorinnen und Autoren

(AGSÖ), Graz, 1998–2002 Secretary, 2002–06 Vice President, 2006–10 President des Research Committee 08 History of Sociology der International Sociological Association (ISA), 2005–09 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie (ÖGS). Jüngste Veröffentlichungen: Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung empirischer Sozialforschung (2007, engl. Übersetzung 2011), Intellectuals and their Publics: Perspectives from the Social Sciences (2008, ed. with Andreas Hess and E. Stina Lyon), Soziologie (2009, mit Anthony Giddens und Marianne Egger de Campo), Vertriebene Wissenschaft (Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 21. [3] 2010). Karin Gradwohl-Schlacher, Literaturwissenschafterin an der „Forschungsstelle Österreichische Literatur im Nationalsozialismus“ des Universitätsarchivs der Universität Graz, zahlreiche Publikationen zur Literatur im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit, darunter (mit Uwe Baur) Literatur in Österreich 1938–1945, Band 1: Steiermark (2008), Band 2: Kärnten (2011); Erzherzog-Johann-Forschungspreis des Landes Steiermark 2009. Heimo Halbrainer, Historiker in Graz, Leiter von CLIO und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz. Zahlreiche Publikationen zur NS-Herrschaft und dem Umgang mit der Zeit nach 1945. Zuletzt: gem. mit Michael Schiestl „Adolfburg statt Judenburg“ – NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Region Aichfeld-Murboden (2011); gem. mit Gerald Lamprecht, „So dass uns Kindern eine durchwegs christliche Umgebung geschaffen war.“ Die Heilandskirche und ihre „Judenchristen“ zwischen 1880 und 1955 (2010); gem. mit Gerald Lamprecht und Ursula Mindler, un/sichtbar. NS-Herrschaft. Verfolgung und Widerstand in der Steiermark (2008); gem. mit Claudia Kuretsidis-Haider, Kriegsverbrechen, NS-Gewaltverbrechen und die europäische Strafjustiz von Nürnberg bis Den Haag (2007). Alois Kernbauer, ao. Univ.-Prof. für Österreichische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte Österreichs am Institut für Geschichte der Universität Graz, Leiter des Archivs der Universität Graz, Lehrbeauftragter an der Universität Wien 1994, Gastprofessuren: University of Minnesota (USA) 1994, University of Alberta (Canada) 2000, University of Missouri (USA) 2002. Herausgeber der „Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz“, Mitherausgeber der „Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte“. Zehn Monographien, drei Bucheditionen, über 130 Aufsätze zu Themen der österreichischen Geschichte sowie der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Helmut Konrad, Historiker, o. Univ.-Prof. für Allgemeine Zeitgeschichte an der Universität Graz, Rektor 1993 bis 1997, derzeit Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät. Zahlreiche Publikationen, zuletzt gem. mit Monika Stromberger (Hg.), Die Welt im 20. Jahrhundert nach 1945 (2010); gem. mit Stefan Benedik (Hg.), Mapping Contemporary History II (2010); gem. mit Dieter Binder und Eduard Staudinger (Hg.), Die Erzählung der Landschaft (2011).

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Gerald Lamprecht, Historiker, Assistenzprofessor und Leiter des Centrums für Jüdische Studien der Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind jüdische Regionalgeschichte, Antisemitismus, NS-Herrschaftssystem und Verfolgung der Jüdinnen und Juden. Publikationen u. a. Fremd in der eigenen Stadt. Die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Graz bis zum Ersten Weltkrieg (2007); gem. mit Ursula Mindler und Heimo Halbrainer, un/sichtbar. NS-Herrschaft. Verfolgung und Widerstand in der Steiermark (2008); gem. mit Evelyn Adunka und Georg Traska, Jüdisches Vereinswesen in Österreich im 19. und 20. Jahrhundert (2011). Eleonore Lappin-Eppel, Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz und am Zentrum für jüdische Kulturgeschichte der Universität Salzburg. Zahlreiche Publikationen zur Shoah in Österreich, zur jüdischen Sozialgeschichte in Wien von 1918–1938 und zur deutschsprachigen jüdischen Presse. Publikationen (Auswahl): Ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45: Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien 2010; Jüdische Moderne zwischen Partikularismus und Universalismus dargestellt anhand Martin Bubers Monatsschrift „Der Jude“ (1916–1928), Tübingen 2000; gem. mit Albert Lichtblau, Die „Wahrheit“ der Erinnerung – Jüdische Lebensgeschichten, Innsbruck–Wien–Bozen 2008. Karin Leitner-Ruhe, Kunsthistorikerin, im wissenschaftlichen Dienst am Universalmuseum Joanneum in Graz tätig, Kuratorin des Kupferstichkabinetts der Alten Galerie und Provenienzforscherin. Zahlreiche Publikationen zum Thema der Restitution und Provenienzforschung am Universalmuseum Joanneum, u. a.: „… versäumt die Steiermark nie wiederkehrende Gelegenheiten …“, in: Gabriele Anderl u. a. (Hg.),… wesentlich mehr Fälle als angenommen. 10 Jahre Kommission für Provenienzforschung (2009); „… Aber zugreifen soll man, wo man nur kann.“ Zum Verkauf von Schloss Trautenfels 1941 durch die Familie Lamberg an die Deutsche Reichspost, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde (2010, Heft 2); zuletzt Herausgeberin gem. mit Gudrun Danzer und Monika Binder-Krieglstein, Restitutionsbericht 1999–2010, Universalmuseum Joanneum (2010). Ursula Mindler, Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte am Centrum für Jüdische Studien sowie am Institut für Geschichte/Zeitgeschichte der Universität Graz, Lehrbeauftragte an der AUB (Budapest). Forschungsschwerpunkte: regionale Zeitgeschichte, v. a. Nationalsozialismus (Schwerpunkt Steiermark und Burgenland/Westungarn), jüdische Regionalgeschichte. Zuletzt: gem. mit Gerald Lamprecht und Heimo Halbrainer, un/sichtbar. NS-Herrschaft. Verfolgung und Widerstand in der Steiermark (2008); „Ich hätte viel zu erzählen, aber dazu sage ich nichts …“. Oberwart 1938 (2008); Grenz-Setzungen im Zusammenleben. Verortungen jüdischer Geschichte in der ungarischen/österreichischen Provinz am Beispiel Oberwart/Felsőőr (2011).

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Martin Moll, Historiker, 2003 Habilitation für Neuere und Zeitgeschichte, seither Univ.-Dozent an der Universität Graz und seit 2007 Chefredakteur des „Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies“. Forschungsgebiete: Geschichte des Zeitalters der Weltkriege sowie der Spätphase der Habsburgermonarchie, Medien- und Propagandageschichte. Wichtigste Publikationen: Kein Burgfrieden. Der deutsch-slowenische Nationalitätenkonflikt in der Steiermark 1900–1918 (2007); „Führer-Erlasse“ 1939–1945 (1997, Neuausgabe 2011); gem. mit Filip Čuček, Duhovniki za rešetkami/ Priester hinter Gittern. Die Berichte der im Sommer 1914 in der Untersteiermark verhafteten Geistlichen an ihren Bischof (2006). Wolfgang Neugebauer, Historiker, Hon.-Prof. am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien, ehemaliger wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates für die Neugestaltung der ÖsterreichGedenkstätte in Auschwitz-Birkenau. Forschungsschwerpunkte: Widerstand und Verfolgung in Österreich 1934–1945, NS-Justiz, NS-„Euthanasie“, Rechtsextremismus nach 1945, FPÖ, Geschichte der Sozialdemokratie. Jüngste Publikationen (Auswahl): Der österreichische Widerstand 1938–1945, Wien 2008; Stacheldraht, mit Tod geladen ... Der erste Österreichertransport in das KZ Dachau 1938, Wien 2008 (gem. mit Peter Schwarz); Der Wille zum aufrechten Gang. Die Rolle des Bundes Sozialistischer Akademiker (BSA) bei der gesellschaftlichen Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten, hg. vom BSA, Wien 2005 (gem. mit Peter Schwarz). Editionen: Julius Wagner-Jauregg im Spannungsfeld politischer Ideen und Interessen – eine Bestandsaufnahme. Beiträge des Workshops vom 6./7. November 2006 im Wiener Rathaus (hg. gem. mit Kurt Scholz u. Peter Schwarz); NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945: Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Wien, München 2006 (hg. gem. mit Wolfgang Form u. Theo Schiller). Martin Polaschek, ao. Univ.-Prof. für Rechtsgeschichte und Rechtliche Zeitgeschichte an der Universität Graz; seit 2003 Vizerektor für Studium und Lehre. Seine Forschungsschwerpunkte sind Justizgeschichte (insbes. NS-Nachkriegsjustiz), die Steiermark in den 1930er Jahren, Föderalismus- und Kommunalreform. Publikationen u. a. Interkommunale Zusammenarbeit der Gemeinden des Bezirkes Murau – ein Entwicklungskonzept, 2009 (hg. zus. mit Max Taucher); Im Namen der Republik Österreich! Die Volksgerichte in der Steiermark 1945 bis 1955, 2. Aufl. 2002; Verteidigung einer Demokratie. 12. Februar 1934, 2004 (zus. mit Werner Anzenberger). Peter Ruggenthaler, Historiker, seit 1998 Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz; seit 2008 Mitglied der Österreich-Russischen Historikerkommission; seit 2004 Mitarbeiter der „International Commission for the evaluation of the Crimes of the Nazi and Soviet Occupation Regimes in Lithuania“; 2000–2002: Mitarbeiter der Österreichischen Historikerkommission. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Zwangsarbeit im „Dritten Reich“, Sowjetische Außen-

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politik, Kalter Krieg. Publikationen: u. a. gem. mit Günter Bischof und Stefan Karner, The Prague Spring and the Warsaw Pact Invasion of Czechoslovakia in 1968. Harvard Cold War Studies Book Series (2010); Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968 (2008). 2 Bde. Herausgeberkollektiv; Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung, Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 95 (2007); gem. mit Stefan Karner, Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission (2004). Karin M. Schmidlechner, Historikerin, lehrt am Institut für Geschichte/Abt. Zeitgeschichte der Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Body-Konstruktionen und Images, Frauen- und Gendergeschichte, Oral History, Migrationsforschung. Publikationen u. a. gem. mit Heimo Halbrainer (Hg.), Aus dem Blickfeld. Eine biographische Annäherung an ambivalente Lebensszenarien steirischer Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit (Grazer Gender Studies 11) (2008). Michaela Sohn-Kronthaler, Theologin, Univ.-Prof. für Kirchengeschichte und Leiterin des Instituts für Kirchengeschichte und Kirchliche Zeitgeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen auch die Kirchliche Zeitgeschichte und historisch-theologische Frauen- und Geschlechterforschung. Publikationen zu den Kirchen und ChristInnen in der Zeit des Nationalsozialismus sowie zur historischen Erforschung dieser Epoche und zur Memoria der Opfer nach 1945. Monika Stromberger, Historikerin in Graz, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lektorin am Institut für Geschichte/Universität Graz und am Institut für Stadt- und Baugeschichte/TU Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Stadtforschung, Moderne, Gedächtnispolitik, Slowenien, Steiermark, Graz, Ljubljana und das ABGB. Publikationen u. a.: Stadt. Kultur. Wissenschaft. Urbane Identität, Universität und (geschichts)wissenschaftliche Institutionen in Graz und Ljubljana um 1900 (2004); gem. mit Helmut Konrad, Die Welt im 20. Jahrhundert. Seit 1945 (Globalgeschichte Die Welt 1000– 2000) (2010); gem. mit Sabine Haring u. a., Annenstraße.info. Urbane Transformation und sozialer Wandel (2010). Andrea Strutz, Historikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ludwig Boltzmann Institut für Gesellschafts- und Kulturgeschichte Graz (Cluster Geschichte) und Lehrbeauftragte an der Universität Graz. Ihre Forschungssinteressen umfassen Migrationen mit Schwerpunkt Kanada, Vertreibung von Jüdinnen und Juden, Nationalsozialismus und „Wiedergutmachung“, Erinnerung und Gedächtnis, Oral und Video History. Publikationen u. a. Wieder gut gemacht? Opferfürsorge in Österreich am Beispiel der Steiermark 1945 bis 1964 (2006); “The Treatment is No Different to Hitler’s Direction.” Compensation Measures for Austrian “Gypsies” after 1945 exemplified by “Opferfürsorge” Appli-

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cations in the Province of Styria, in: Suzanne Bardgett, David Cesarani et al. (Hg.), Survivors of Nazi Persecution in Europe after the Second World War (2011); Kanada hin und retour. Aspekte der Auswanderung aus Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg unter Berücksichtigung von temporären Migrationsverläufen, in: Zeitschrift für Kanada-Studien 31,1 (2011); gem. mit Ulla Kriebernegg, Gerald Lamprecht und Roberta Maierhofer, „Nach Amerika nämlich!“ Jüdische Migrationen in die Amerikas im 19. und 20. Jahrhundert (2012). Michael Teichmann, Kulturwissenschaftler in Graz, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Vereins Roma-Service (Zeitzeugenedition „Mri Historija“ bzw. „Amari Historija“), Redakteur der Roma-Zeitschrift „dROMa“. Publikationen u. a.: gem. mit Roman Urbaner, Die „Zigeuner“-Zwangsarbeitslager in der Obersteiermark unter besonderer Berücksichtigung des Lagers Kobenz, in: Heimo Halbrainer, Michael Schiestl (Hg.), „Adolfburg statt Judenburg“ – NS-Herrschaft: Verfolgung und Widerstand in der Region Aichfeld-Murboden (2011); gem. mit Roman Urbaner, Von der Zwangsarbeit zur Deportation. Zwei „Zigeunerlager“ im Gau Steiermark, in zeitgeschichte 3, Jg. 36 (2009). Heidemarie Uhl, Historikerin und Kulturwissenschaftlerin an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte. 1988–2000 Mitarbeiterin der Abteilung Zeitgeschichte der Universität Graz, 1994–2000 im Rahmen des Spezialforschungsbereichs „Moderne. Wien und Zentraleuropa um 1900“. 2005 Habilitation im Fach Allgemeine Zeitgeschichte an der Universität Graz, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Graz. 1993 Förderungspreis des Ludwig-Jedlicka-Gedächtnispreises, 1999 Viktor-Adler-Staatspreis für die Geschichte sozialer Bewegungen. Fellow am IFK (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften) Wien und am Berliner Zentrum für vergleichende Geschichte Europas (FU). Gastprofessuren am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, an der Hebrew University Jerusalem und an der Universität Straßburg. Roman Urbaner, Historiker, Lektor und Journalist (u. a. für FAZ, Süddeutsche Zeitung und Weltwoche; Kolumnist des Filmmagazins „ray“) in Graz mit den Forschungsschwerpunkten: regionale Zeitgeschichte, NS-Verfolgung, Erster Weltkrieg und Pressegeschichte. Mitherausgeber von Robert Musils Gesamtwerk („Klagenfurter Ausgabe“) und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Roma-NGO „Roma-Service“; gem. mit Michael Teichmann Redakteur der Zeitschrift „dROMa“ und Koredakteur der Roma-Zeitzeugeneditionen „Mri Historija“ (2009) und „Amari Historija“ (2011). Er arbeitet derzeit an einem historischen Dokumentations- und Ausstellungsprojekt über Orte der Roma in der Steiermark („Romane Thana“, Romano Centro und Akademie Graz) sowie an einer Studie über den „Verein Heimatschutz in Steiermark“ 1933/34–1938–1945.

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Heidrun Zettelbauer, Historikerin und Kulturwissenschafterin in Graz, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre am Institut für Geschichte der Universität Graz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u. a. Geschlechtergeschichte, Gendertheorie, (Deutsch)Nationalismus, Biographie, Körper, Museologie. Zuletzt: gem. mit Antje Senarclens de Grancy, Architektur. Vergessen. Jüdische Architekten in Graz (2011); Neue Forschungsergebnisse zu regionaler NS-Herrschaftspraxis und Verfolgungspolitik – das Beispiel Steiermark. zeitgeschichte 3/36. Jg. (2009); gem. mit Margit Franz et al., Mapping Contemporary History. Zeitgeschichten im Diskurs (2008); Die Liebe sei Euer Heldentum. Geschlecht und Nation in völkischen Vereinen der Habsburgermonarchie (2005).