Probleme der Streitkultur in Demokratie und Wissenschaft 9783495998076, 9783495492628

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Probleme der Streitkultur in Demokratie und Wissenschaft
 9783495998076, 9783495492628

Table of contents :
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Einleitung
I. Umstrittene Meinungsfreiheit
II. Wie neue Ideologien die Grenzen des Sagbaren verschieben und den akademischen Raum verengen
III. Ausgrenzung in den Wissenschaften
I. Umstrittene Meinungsfreiheit
Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie
1. Der Fall »Dieter Nuhr«
2. Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie
3. Das US-Amerikanische Verständnis von Meinungsfreiheit
4. Übertreibungen
5. Gefahren für die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit
6. Was ist zu tun?
Demokratische Streitkultur. Ihre Voraussetzungen und Gefährdungen
1. Zum Unterschied von Meinungsfreiheit und freimütiger Debatte
2. Gegner und Feinde im politischen Raum
3. Der emotionale Faktor in der politischen Debatte
4. Gefühlte Redefreiheit und demokratische Meinungsbildungsprozesse
5. Die freie Debatte als Voraussetzung kompetenter Meinungsbildung
6. Gruppendenken, Selbstzensur, Selbstverdummung: die Laster der Debattenkultur
7. Die Antike Demokratie: Vorbild oder abschreckendes Beispiel für die Debattenkultur?
Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?
1. Subjektive Meinungsfreiheit und Selbstzensur
2. Wer fühlt sich frei – und wer nicht?
3. Konservative und rechte Positionen sind kostspieliger
4. Schwindende Meinungsfreiheit als populistisches Narrativ
5. Freie Grüne und unfreie AfDler
6. Linke »Cancel Culture« oder rechtspopulistisches Narrativ?
7. »Cancel Culture« und Selbszensur
8. Kann »Cancel Culture« positive Auswirkungen haben?
9. Was die freie Meinungsäußerung vermutlich nicht einschränkt
Bedrohte Meinungsfreiheit oder Meinungsfreiheit als Bedrohung?
1. Meinungsfreiheit unterm Läuterungsrad
2. Meinungsfreiheit steht der Klimarettung im Weg
3. Meinungsfreiheit als Gesundheitsbedrohung
4. Fazit: Von der individuellen zur agendakonformen Freiheit
II. Wie neue Ideologien die Grenzen des Sagbaren verschieben und den akademischen Raum verengen
Wenn aus Emanzipationsbestrebungen Ideologie wird…
Wissenschaftsfreiheit unter Druck
1. Vordenker des Postkolonialismus
2. Von der Frauenbewegung und -forschung zu den Gender Studies
3. Separierung in der Forschung: eine Blaupause für spätere Bewegungen und die Identitätspolitik
Verletzende Worte und die Grenze des Sagbaren
1. Parrhesia und Macht
2. Das Schadensprinzip als Grenze der Redefreiheit
3. Können Worte im wörtlichen Sinne verletzen?
4. Wie Hass und Gewalt sich begrifflich ausgedehnt haben
Über Religion und Religionen forschen – raus aus der Kampfzone!
1. Vorsokratiker eignen sich nicht für Safe Spaces
2. Religionswissenschaftliche Positionierung
3. Reibungen und Kämpfe
4. Die postmoderne Wende
5. Identitätspolitische Ansätze und ihre Wirkungen in der wissenschaftlichen Praxis
6. Spurensuche
7. Antirealismus
8. Therapien
9. Hochseefischerei
III. Ausgrenzung in den Wissenschaften
Akademische Verbannung. Auch ein Zwischenbericht
1. Vorüberlegungen und begriffliche Klärungen
2. Was klar sein sollte
2.1 Wissenschaftsfreiheit als Recht im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG
2.2. Kritik, akademische Verbannung und intellektuelle Redlichkeit
2.3. Fälle akademischer Verbannung im deutschsprachigen Raum
3. Offene Fragen: Ziviler Ungehorsam, Hasskritik, Verbannungskultur
3.1 Recht und ziviler Ungehorsam
3.2 Kritik, Schmähkritik, Hasskritik
3.3. Gibt es eine Kultur akademischer Verbannung?
Akademische Freiheit? Ein Kübel voller Gegenbeispiele
1 Mein akademischer Hintergrund
2 Saarbrücken – Die Singer-Affäre (1989 ff.)
3 Die Leipziger Zeit (1994–2009) – Eine Wende
4 Die Honderich-Affäre (2003 f.)
5 Ringvorlesung DEUTSCHLAND / ISRAEL / PALÄSTINA (2005/06)
6 Die Causa Meggle (Salzburg, 2021 & 2022)
Quellenverzeichnis
Zu den Autoren
Sachregister
Personenregister

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Maria-Sibylla Lotter [Hrsg.]

Probleme der Streitkultur in Demokratie und Wissenschaft

https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

Maria-Sibylla Lotter [Hrsg.]

Probleme der Streitkultur in Demokratie und Wissenschaft

https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-49262-8 (Print) ISBN 978-3-495-99807-6 (ePDF)

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1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

I. Umstrittene Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . .

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Eric Hilgendorf Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie . .

21

Maria-Sibylla Lotter Demokratische Streitkultur. Ihre Voraussetzungen und Gefährdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Jan Menzner, Richard Traunmüller Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich? . . . . .

81

Sandra Kostner Bedrohte Meinungsfreiheit oder Meinungsfreiheit als Bedrohung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

II. Wie neue Ideologien die Grenzen des Sagbaren verschieben und den akademischen Raum verengen

129

Ulrike Ackermann Wenn aus Emanzipationsbestrebungen Ideologie wird… Wissenschaftsfreiheit unter Druck. . . . . . . . . . . . . .

131

Maria-Sibylla Lotter Verletzende Worte und die Grenze des Sagbaren . . . . . .

149

5 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

Inhaltsverzeichnis

Inken Prohl Über Religion und Religionen forschen – raus aus der Kampfzone! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

165

III. Ausgrenzung in den Wissenschaften . . . . . . . . .

187

Dieter Schönecker Akademische Verbannung. Auch ein Zwischenbericht . . .

189

Georg Meggle Akademische Freiheit? Ein Kübel voller Gegenbeispiele . . .

217

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237

Zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

259

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

Einleitung

I. Umstrittene Meinungsfreiheit Im letzten Jahrzehnt hat sich die Debattenkultur in den Universitäten und der Öffentlichkeit spürbar verändert.1 Einerseits haben Internet und soziale Medien ganz neue und vielfältige Möglichkeiten geschaf­ fen, sich öffentlich frei und ohne Hemmung mitzuteilen. Wohl noch nie gab es so viele verschiedene Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum. Die Geschäftsmodelle der Social-Media-Plattformen fördern jedoch auch aggressive Impulse und kognitive Verengungen und tragen so zu einer ungünstigen Umgebung für die Debattenkultur bei. In den sozialen Medien ist die Hemmschwelle gesunken, sich herabsetzend über andere Personen zu äußern und sogenannte Shits­ torms zu organisieren, mit der Folge, dass viele sich nicht mehr frei fühlen, offen ihre Meinung zu äußern. Gleichzeitig bemühen sich einzelne Akteure und Interessengruppen, die an Hochschulen und medial über Einfluss verfügen, aktiv um die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren, indem sie Beiträge zur öffentlichen Diskus­ sion, die unter den Schutz der Meinungsfreiheit fallen, als moralisch inakzeptabel stigmatisieren. Freilich können auch in einer Demokratie nicht alle Ansich­ ten respektiert werden; insbesondere diejenigen nicht, welche die zentralen Grundwerte der Verfassung ablehnen, auf denen liberale Demokratien beruhen, wie etwa die Menschenwürde, die Gleichbe­ rechtigung oder die Unabhängigkeit der Justiz. Man denke etwa an den Fall, dass jemand sich für die Einführung der Sklaverei einsetzen würde oder dafür, Frauen das Stimmrecht zu entziehen. Diejenigen, 1 Viele Gedanken, die in den Band eingeflossen sind, haben sich in zwei Semi­ naren über Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit an der Ruhr- Universität Bochum in den Jahren 2021 und 2022 entwickelt, sowie in der Diskussion in den anschließenden Workshops; bei den Studierenden und Vortragenden möchte ich mich herzlich bedanken. Für die sorgfältige Redaktion dieses Bandes danke ich außerdem Adrian Lauschke.

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Einleitung

die solche Forderungen erheben würden, wären in der Tat Feinde liberaler Demokratien. Wir sollten jedoch zwei Arten von politischen und moralischen Meinungsverschiedenheiten2 auseinanderhalten: ers­ tens unsere Ablehnung von Positionen, die nicht respektiert werden können, ohne damit die Grundlagen liberaler Demokratien aufzuge­ ben, und zweitens die Kritik von Positionen, die einem falsch, unklug, unmoralisch oder rücksichtslos gegenüber bestimmten Individuen oder Gruppen erscheinen können, die jedoch nicht die in der Verfas­ sung formulierten Grundwerte verletzen. Die Kunst demokratischer Streitkultur besteht darin, die zweiten nicht mit den ersten zu verwech­ seln. Wenn gewöhnliche Meinungsdifferenzen dazu führen, dass die andere Meinung als Bedrohung zentraler durch die Verfassung geschützter Werte verstanden wird, wenn der Gesprächspartner als Antidemokrat erscheint, ohne dass es dafür einen anderen Grund gibt, als dass er eine andere Meinung vertritt, schwinden die gemeinsamen demokratischen Grundlagen. Die politische Polarisierung, eine allgemeine Sensibilisierung für herabwürdigende und menschenfeindliche Äußerungen und der ideo­ logische Druck identitätspolitischer Denkweisen haben im letzten Jahrzehnt jedoch dazu beigetragen, dass der tatsächliche Spielraum der Meinungsfreiheit vielen viel enger erscheint als der verfassungs­ rechtlich garantierte. Manche vergleichen die Situation im heutigen Deutschland sogar mit der in der ehemaligen DDR, obwohl es dort keine unabhängige Justiz gab, Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen mit parteitreuen Mitarbeitern besetzt waren und die Kirche von inof­ fiziellen Mitarbeitern durchsetzt war. Dort konnte es schwerwiegende Folgen für die ganze Familie haben, wenn jemand als Regimegegner galt. So abwegig es also sein mag, diese Situation mit der Gegen­ wart in Deutschland zu vergleichen, so unbestreitbar ist doch, dass ungeschriebene Gesetze, harsche soziale Reaktionen und Ängste der subjektiv empfundenen Meinungsfreiheit viel diffusere Grenzen setzen als das Recht. Vielleicht geht es denjenigen, die Vergleiche mit der DDR ziehen, vor allem um das Gefühl, bei missliebigen Äuße­ rungen mit hohen sozialen Kosten rechnen zu müssen. Denn auch in der DDR war die Situation nach außen hin insofern ambivalent, als offizielle Zensurmaßnahmen wie staatliche Publikationsverbote Diese Unterscheidung entlehne ich Steven Ross. Vgl. Ross, Steven (2013), Book Review zu Robert Talisse: Democracy and Moral Conflict, Essays Philos 14, S. 83–91, S. 88.

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Einleitung

meist vermieden wurden. Vielmehr wurde mit Ausreden gearbeitet, diffuse Schikanen gegen Regimegegner eingesetzt und Anpassung belohnt. So entstand ein gesellschaftliches Klima, in dem ständig reflektiert wurde, wie sich das, was man schreiben oder sagen wollte, zur Haltung der Staatsführung zu aktuellen politischen Themen oder ideologischen Fragen verhielt und welchen Preis man möglicherweise für eine Abweichung zu zahlen hatte. Diese Gemengelage wirft normative und empirische Fragen auf, denen wir im ersten Teil dieses Bandes nachgehen wollen. Welche Rolle spielt die gefühlte Meinungsfreiheit im Unterschied zur recht­ lich garantierten Meinungsfreiheit für die Demokratie? Wodurch ist sie gegenwärtig bedroht – und wie lässt sich diese Bedrohung messen? Welches Gewicht haben die moralischen Gründe derjenigen, die der Meinungsfreiheit Grenzen setzen wollen, gegenüber dem Bedürfnis, frei und offen sprechen zu können? Wann wird der Preis an sozialen Nachteilen, der in einer Demokratie für die Ausübung der Meinungsfreiheit akzeptabel ist, zu hoch? Wie der Jurist Eric Hilgendorf in seinem Beitrag zur Meinungsund Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie argumentiert, umfasst die Meinungsfreiheit aus juristischer Sicht weder das Recht auf persönliche Beleidigung noch auf gruppenbezogene, z.B. rassistisch motivierte Hetze. Er führt die aktuellen Probleme der Streitkultur auf ein eigentlich spezifisch US-amerikanisches Problem zurück: Gerade weil die extrem weite Auslegung der verfassungsrechtlich geschützten Meinungsfreiheit in den USA auch persönliche Beleidigungen und gruppenbezogene Hetze zulasse, sei in Teilen der Zivilgesellschaft das Bedürfnis entstanden, Rücksichtnahme auf sozial benachteiligte Gruppen durch neue soziale Normen zu erzwingen. Dieses in sei­ nem Kernanliegen legitime Bedürfnis habe aber inzwischen eine Eigendynamik entwickelt, die in manchen Kontexten eine freie und konstruktive Auseinandersetzung eher behindere und destruktive Züge annehmen könne. Hilgendorf plädiert dafür, diesen Weg der spontanen außerrechtlichen Normierung von Kommunikation in Deutschland nicht zu beschreiten und berechtigte Ansprüche auf ein Mindestmaß an Respekt auf rechtlichem Wege vor massiv verletzen­ den Handlungen und Äußerungen zu schützen. Die Philosophin Maria-Sibylla Lotter beschreibt die aktuellen Probleme der Streitkultur in ihrem Beitrag Demokratische Streitkultur. Ihre Voraussetzungen und Gefährdungen als Begleiterscheinung einer politischen Polarisierung, die dazu führt, dass politisch Andersden­

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Einleitung

kende nicht als Gegner, sondern als Feinde wahrgenommen werden. Im Rückgriff auf die Rolle der freien Rede in der antiken Attischen Demokratie unterscheidet sie das Bedürfnis, ohne Angst vor öffentli­ cher Beschämung und Diffamierung sprechen zu können (Parrhesia), von der Meinungsfreiheit als einem modernen Rechtsbegriff. Lotter argumentiert, dass die empfundene Freiheit, auch Unpopuläres und Unangenehmes ohne Angst vor Diffamierung öffentlich äußern zu können, auch heute aus zwei unterschiedlichen Gründen für eine Demokratie unverzichtbar ist: Zum einen diene sie der Teilhabe an der politischen Willensbildung, ohne die eine Demokratie diesen Namen nicht verdient. Zum anderen sei sie nötig, um die gerade in einer meinungsdiversen Demokratie erforderlichen politischen Kom­ petenzen zu erwerben und diene als Gegengift gegen die kognitive Beeinträchtigung durch Groupthink. Die Sozialwissenschaftler Jan Menzner und Richard Traunmüller entwickeln in ihrem Beitrag Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich? eine methodische Grundlage für die empirische Untersu­ chung von Störungen der Debattenkultur. Sie untersuchen, wie viele und welche Bürger glauben, ihre Meinung nicht frei äußern zu kön­ nen. In diesem Zusammenhang beschäftigen sie sich auch mit der heute verbreiteten Vorstellung, dass die moralische Sanktionierung von Äußerungen im öffentlichen und wissenschaftlichen Raum, die Minderheiten und unterprivilegierte Gruppen kränken könnten, jene in die Lage versetzen würde, sich stärker an der Diskussion zu betei­ ligen und eine eigene Stimme zu entwickeln. Die empirischen Ergeb­ nisse zeigen, dass vor allem konservativ-rechte politische Ansichten, Populismus- und AfD-Affinität mit der Wahrnehmung einer einge­ schränkten Meinungsfreiheit korrelieren. Die subjektive Redefreiheit steigt außerdem mit Bildung, politischem Wissen und politischer Wirksamkeit der Befragten. Deskriptiv widersprechen die Ergebnisse der Annahme, dass die Klage über mangelnde Meinungsfreiheit von sozial privilegierten Gruppen ausgeht. Alter und Geschlecht spielen wohl keine Rolle. Vielmehr sind es vor allem Personen aus unteren sozialen Schichten, mit Migrationshintergrund sowie Ostdeutsche, die angeben, ihre Meinung nicht öffentlich äußern zu können.Auch die Historikerin Sandra Kostner geht in ihrem Beitrag Bedrohte Meinungsfreiheit oder Meinungsfreiheit als Bedrohung? von einem gefühlten Verlust der Meinungsfreiheit aus. Sie führt dies zum einen auf eine identitätspolitische »Läuterungsagenda« zurück. Zum anderen zeigt Kostner am Beispiel verschiedener Themen (Gender,

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Einleitung

Klimawandel etc.), wie im letzten Jahrzehnt wissenschaftliche Dis­ kursräume durch die Ausgrenzung abweichender Positionen verengt wurden, was teilweise von der Politik genutzt wurde, um bestimmte Agenden durchzusetzen. Sie diskutiert die Moralisierung des öffent­ lichen Diskursraums während der Coronapandemie und den Chilling Effect, der von der medialen Delegitimierung von Wissenschaftlern und Meinungen ausging, die der jeweiligen Position der Regierung oder der Mehrheitsmeinung widersprachen. Während der Pandemie habe es zeitweise den Anschein gehabt, die Meinungsfreiheit werde selbst als potenzielle Gesundheitsgefahr wahrgenommen. Auch der Verfassungsschutz habe zeitweise den Eindruck erweckt, dass Regie­ rungskritiker allein schon bei heftiger Kritik an bestimmten Politik­ feldern damit rechnen müssten, als Extremisten eingestuft zu werden.

II. Wie neue Ideologien die Grenzen des Sagbaren verschieben und den akademischen Raum verengen Auch in akademischen Diskussionen ist nicht selten eine Verwechs­ lung von moralischen Meinungsverschiedenheiten des zweiten mit dem ersten Typ zu beobachten. Akademische Moralentrepreneure,3 die sich darum bemühen, die Grenzen des Sagbaren neu zu ziehen, argumentieren, dass man rassistische und andere menschenfeindliche Haltungen auch klar so benennen müsse. Sie berufen sich auf ihre eigene Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, wenn sie Diskussionen moralisch verurteilen, die ihrer Auffassung nach nur ein Deckmantel für menschenfeindliche und diskriminierende Absichten und Haltun­ gen sind. Dabei gerät der Unterschied zwischen beiden Arten von moralischen Meinungsverschiedenheiten leicht aus dem Blick. Ein typisches Beispiel bietet etwa die »Stellungnahme der Forschungs­ stelle für Interkulturelle Studien« der Universität zu Köln vom August 3 »Moralische Entrepreneure« ist eine kriminologische Bezeichnung für Personen, denen die geltenden sozialen Normen unzureichend erscheinen und die neue Normen durchsetzen wollen. In dem Maße, in dem die neuen Normen auch rechtliche Form annehmen, werden dadurch neue Formen der Devianz erzeugt. Ich verwende den Ausdruck hier wertneutral. Moralische Entrepreneure können die Welt verbessern – man denke an den Kampf gegen die Sklaverei oder für die Gleichberechtigung von Frauen – oder auch verschlechtern, wenn sie schlecht durchdachte Ideen durchzuset­ zen versuchen oder die Folgekosten ihrer Innovationen nicht berücksichtigen.

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Einleitung

2020, die den Titel »Für Freiheit in Forschung und Lehre« trägt. Der Titel verwirrt, denn es geht nicht darum, die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen, sondern »die Grenze des Sagbaren begründet zu markieren.«4. Eigentlich sind in einem Rechtsstaat nicht einzelne Personen, sondern die Gerichte auf der Grundlage geltenden Rechts dazu legitimiert, verbindlich festzustellen, ob bestimmte Äußerungen unzulässig sind. Die Wissenschaftsfreiheit wird aus gutem Grund sehr weit ausgelegt. Hier reklamieren die beteiligten Sozialwissen­ schaftler eine moralische Definitions- und Diskurshoheit für ihre Dis­ kriminierungsforschung, die beansprucht, für andere Disziplinen die Grenzen des Sagbaren festzulegen: »Es muss darauf geachtet werden, dass bestimmte Aussagen nicht bestimmte Personengruppen diskri­ minieren; und diese Aussagen müssen mit dem Instrumentarium einer kritischen Rassismus- und Diskriminierungsforschung als »ras­ sistisch«, »rechtsextrem« oder »menschenverachtend« […]eingeord­ net werden.« Als Beispiele für rassistische und menschenverachtende Äußerungen werden jedoch nur 2 Aussagen angeführt: »Der Islam gehört nicht zu Deutschland«, sowie »Das Kopftuch ist ein Zeichen für Unterdrückung«. Diese Äußerungen mögen in ihrer Undifferenziert­ heit in der Tat fragwürdig erscheinen. Einige Muslime werden sie als herabsetzend empfinden. Sie als Menschenwürdeverletzung zu stig­ matisieren und aus dem öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen, würde jedoch letztlich bedeuten, jegliche Kritik am Islam und sogar historische Aussagen über die relative Bedeutung des Islam in Deutschland zu unterbinden.5 Diese Stellungnahme führt exemplarisch vor, wie im gutgemeinten Bestreben, einen eigenen Beitrag gegen Diskriminierung und Rassismus zu leisten, derzeit das Augenmaß verloren geht. Was von den einen als Einschränkung ihrer Rede- und Wis­ senschaftsfreiheit empfunden wird, ist in den Augen dieser morali­ schen Entrepreneure ein Prozess der Sensibilisierung im Umgang mit besonders verletzlichen Menschen. Und in der Tat wäre eine 4 Forschungsstelle für Interkulturelle Studien der Universität zu Köln (2020), »Für Freiheit in Forschung und Lehre. Eine Stellungnahme der Forschungsstelle für Inter­ kulturelle Studien (FiSt) der Universität zu Köln« (https://www.blaetter.de/dokume nte/fuer-freiheit-in-forschung-und-lehre). 5 Vgl. hierzu auch Picker, Christian & Reif, Sebastian (2021), »Mein Prof ist ein Nazi — Politischer Extremismus und Beschäftigungsverhältnisse an staatlichen Hochschu­ len«, in: Ordnung der Wissenschaft, 02/2021, S. 69–102, (https://ordnungderwisse nschaft.de/aktuelle-ausgabe/), S. 75.

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Einleitung

solche Sensibilisierung wünschenswert, insoweit sie zu einem verbes­ serten Kommunikationsverhalten und einer verfeinerten Redekunst beitragen könnte. Im Seminaralltag begegnet man in vielen Geistesund Sozialwissenschaften jedoch eher einer neuen Gehemmtheit der Studierenden, »sich in Seminarsitzungen angreifbar zu äußern und zu positionieren«6. Zugleich ist unter den Lehrenden eine kontroverse, aber zugleich offene und für alle Seiten lehrreiche Debatte seltener geworden. Äußert jemand bei »heißen« Themen wie Islam oder Ein­ wanderung, Transgenderpolitik, Genderisierung der Sprache, Klima­ politik, Coronapolitik u. a. Kritik an dem, was einige als fortschrittlich oder moralisch dringend geboten empfinden, muss er damit rechnen, dass seine Meinungsäußerung nicht nur als dumm oder »rechts« wahrgenommen wird, sondern als verletzend und gefährlich. So kommt es vor, dass biedere Professorinnen von Konferenzen ausgela­ den bzw. in den meisten Fällen gar nicht erst eingeladen werden, weil andere behaupten, sich in ihrer Gegenwart nicht »sicher« oder gar »in ihrer Existenz bedroht« zu fühlen. Nicht dass die Betreffenden vorher als Schlägerinnen oder auch nur verbal aggressiv aufgefallen wären; es sind ihre Meinungen, die mitunter als so gefährlich gelten, dass andere sich in ihrer Gegenwart bedroht fühlen – oder zumindest wähnen, diese Personen aus dem Kreis derjenigen, deren Argumente man zur Kenntnis nehmen sollte, verbannen zu müssen.7 Übertriebene 6 Rieger-Ladich, Markus (2022), Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstru­ ment, Stuttgart (Reclam), S. 26. 7 Häufig geht es in solchen Fällen um Interessenkonflikte zwischen Feministinnen, die sich für den besonderen Schutz der Rechte biologischer Frauen einsetzen, und Befürworterinnen der Forderungen von Transgenderorganisationen, Transfrauen bio­ logischen Frauen auch dort gleichzustellen, wo sich für letztere Nachteile ergeben könnten. So wurde die englische Philosophin Kathleen Stock von einer Tagung an der Technischen Universität Berlin, an der sie vortragen sollte, wieder ausgeladen, nach­ dem eine andere Teilnehmerin behauptet hatte, »sich in ihrer Gegenwart unwohl zu fühlen«. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Solidarität mit Kathleen Stock. Argumente statt Hetze, 19.11.2021 (https://www.faz.net/aktuell/wissen/forschung-politik/ph ilosophen-springen-der-professorin-kathleen-stock-bei-17636346.html).) Bei einer Onlinekonferenz im September 2020 sollte die Juristin Alessandra Asteriti, Junior­ professorin für Wirtschaftsrecht an der Leuphana Universität Lüneburg ein Panel zu Menschenrechten leiten. Kurz vorher beschweren sich einige Studierende über ihre angebliche »Transphobie« und erreichten, dass Asteriti sich von der Leitung des Panels zurückzog und die Konferenz in letzter Minute abgesagt wurde. (Thiel, Thomas (2022), „»Cancel Culture“ an Unis : Ende einer Treibjagd«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.09.2022 (https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hoersaal/ cancel-culture-rufmord-kampagne-an-der-universitaet-lueneburg-18328668.html?

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Einleitung

persönliche Empfindlichkeit, die in akademischen Debatten früher verpönt war, scheint heute chic geworden zu sein. Zugleich hat sich eine neue Praxis der symbolischen akademi­ schen Verbannung eingebürgert: Unterschriftenlisten, mit denen eine möglichst große Gruppe der Fachkollegen und Kolleginnen Empörung über ein schwarzes Schaf in ihrem Fach bekundet und klarmacht, dass sie es nicht mehr dabei haben will. So beteiligten sich auch deutsche Kollegen an einer internationalen Unterschriftenliste, mit der man gegen eine Ehrung der englischen Philosophin Kathleen Stock protestierte; das verstärkte eine Kampagne gegen Stock, die damit endete, dass sie von ihrer Professur vertrieben wurde. Deutsche werden aber auch selbst aktiv in der Organisation symbolischer Verbannungen, die gewöhnlich weniger Aufsehen erregen, wie der folgende Fall aus der Kommunikationswissenschaft: Im Dezember 2020 reicht Rudolf Stöber, Bamberger Lehrstuhlinhaber für Kom­ munikationswissenschaft, im Forum der Fachzeitschrift Publizistik unter der Überschrift »Genderstern und Binnen-I. Zu falscher Sym­ bolpolitik in Zeiten eines zunehmenden Illiberalismus« (open access verfügbar) einen Meinungsbeitrag ein, in dem er diverse Formen des Genderns als eine linguistisch unbegründete und von den Universitä­ ten regelwidrig betriebene Beschädigung der Sprache kritisiert. Die »Forum«-Beiträge sind keine wissenschaftlichen Forschungsbeiträge, sondern Meinungsbeiträge, die aktuelle gesellschaftliche Fragen oder Fragen der internen Fachentwicklung und -politik aufgreifen und als Anstoß für Debatten und Kontroversen dienen sollen. Der Beitrag wird von den Herausgebern einstimmig angenommen, sie lassen sich von den »Sprecher*innen« (wie sie bezeichnet werden wollen) der Fachgruppe Medien, Öffentlichkeit und Geschlecht die Zusage für eine Replik geben. Diese Zusage wird zurückgezogen. Stattdes­ sen organisiert man im Fach einen offenen Brief an den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswis­ premium); taz, Transfeindliche Äußerungen: Uni wehrt sich gegen Cancel-Vorwurf (https://taz.de/Transfeindliche-Aeusserungen/!5886931/).) An der HumboldtUniversität zu Berlin wird im Rahmen der »Langen Nacht der Wissenschaft« am 2. Juli 2022 ein Vortrag der Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht zum Thema »Geschlecht ist nicht gleich Geschlecht. Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt« nach Protest des AStA und eines »Arbeitskreises kritischer Jurist*innen« (akj) von der Universität abgesagt. (taz, Absage eines Univortrages in Berlin. Die große Heuchelei (https://taz.de/Absage-eines-Uni-Vortrags-in-Berlin/! 5862283/).).

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Einleitung

senschaft, den schließlich 2/3 aller Fachkollegen und Kolleginnen unterschreiben. Die »Unterzeichner*innen« weisen darauf hin, dass die Fachzeitschrift von Mitgliederbeiträgen finanziert wird, werfen der Redaktion »redaktionelles Versagen« vor und verlangen, solche Artikel nicht mehr zu drucken. Das Bemühen um Inklusion und gendergerechte Sprache dürfe nicht durch derart unwissenschaftliche Artikel diskreditiert werden. Schließlich sei der Genderstern »nicht nur im Hochschulalltag von Forschung und Lehre, sondern zuneh­ mend auch im Journalismus zur Selbstverständlichkeit« geworden. Wer etwas mittlerweile unter Journalisten »Selbstverständliches« nicht für selbstverständlich oder gar für kritikwürdig hält, wie nach Umfragen die große Mehrheit der Bevölkerung, darf nach dieser Logik nicht mehr gedruckt werden. Unter Wissenschaftlichkeit, so machen die »Unterzeichner*innen« deutlich, ist das zu verstehen, was die Mehrheit im Fach will: die sogenannte »gendergerechte Sprache«.8 Solche Phänomene werfen Fragen zu den die gegenwärtigen aka­ demischen Diskussionen prägenden Weltanschauungen auf. Warum meint man mit Eingriffen in die Sprache mehr soziale Gerechtigkeit schaffen zu können? Was für eine Auffassung vom Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit liegt dem zugrunde? Auf welche Ideologien und Denkmuster geht das rabiate Ausgrenzungsverhalten gegenüber Abweichlern zurück? Der zweite Teil widmet sich daher der Transformation emanzi­ patorischer Theorien in akademische Dogmen und ihren Auswirkun­ gen auf das Meinungsklima an den Universitäten. Die Politikwissen­ schaftlerin Ulrike Ackermann rekonstruiert in ihrem Beitrag Wenn aus Emanzipationsbestrebungen Ideologie wird ... Wissenschaftsfreiheit unter Druck, wie sich die Ideen der Emanzipationsbewegungen, die auf historische und aktuelle Diskriminierungen aufmerksam machten und gegen Sexismus und Rassismus protestierten, in den letzten Jahr­ zehnten teilweise in Ideologien mit illiberalen Zügen verwandelten, die zunehmend Einfluss auf die Hochschulpolitik gewannen. Diese illiberalen Tendenzen führt sie einerseits auf Strömungen innerhalb der Frauenbewegung zurück, die sich von der Befreiung des Indivi­ duums abwandten und unter dem Einfluss der Standpunkttheorie zunehmend kollektivistisch argumentierten. Zum anderen rekonstru­ Vgl. dazu Russ-Mohl, Stephan (2021), »Polemik! Protest! Polizei! Ein Aufsatz zum Genderstern – und was er auslöste«, in: Tagesspiegel, 17.02.2021 (https://www.tage sspiegel.de/gesellschaft/medien/ein-aufsatz-zum-genderstern--und-was-er-auslos te-4231702.html).

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Einleitung

iert sie die Entstehung und den Einfluss der Social Justice Theory und der Critical Race Theory auf die Entwicklung von Denkmustern in der politischen Linken. Sie benennt die inneren Widersprüche einer Theoriebildung, die einerseits davon ausgeht, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe den Standpunkt des Individuums bestimmt, der immer auch Vorurteile und Voreingenommenheiten enthält, andererseits aber annimmt, dass letzteres auf den Standpunkt sozial untergeordneter Gruppen weniger zutrifft und ihren Annahmen eine höhere Objektivität zuschreibt. Ausgehend von Foucaults Überlegungen zur Bedeutung des Wahrsprechens im Kontext der Sorge um sich und andere hinterfragt Maria-Sibylla Lotter in ihrem zweiten Beitrag Verletzende Worte und die Grenze des Sagbaren die in jüngster Zeit im Ausgang von aka­ demischen Hatespeech-Diskussionen zunehmende Tendenz, »verlet­ zende« Worte mit physischer Gewalt gleichzusetzen, und sozial benachteiligte Gruppen generalisierend als »vulnerabel« zu beschrei­ ben. Sie kritisiert die damit verbundene Tendenz, auch sachliche Kritik an den Forderungen entsprechender Gruppen bzw. ihrer Lobbyver­ bände, wie im Fall von Kathleen Stock, mit Gewalt gleichzusetzen, wodurch Gewalt gegen Kritiker als legitime Verteidigungsmaßnahme erscheint. Die Umdeutung von Kritik als Bedrohung, gegen die man sich mit allen Mitteln wehren darf, ist Teil einer neuen Ermächti­ gungsstrategie, die sich auf Ohnmacht beruft, um Macht auszuüben und mitunter auch Gewalt zu legitimieren. Interessenkonflikte zwi­ schen Gruppen werden in moralisches Fehlverhalten einer Gruppe umgedeutet, die sich »phobisch« gegenüber einer anderen Gruppe verhält – mit fatalen Folgen für die Debattenkultur. Die Religionswissenschaftlerin Inken Prohl zeigt in Über Reli­ gion und Religionen forschen – raus aus der Kampfzone! am Beispiel der Religionswissenschaft, wie eine Geisteswissenschaft durch die Übernahme identitätspolitischer Denkmuster überformt wird, mit der Folge, dass sie sich einerseits von ihrer eigentlichen Aufgabe der Erforschung von Religionen entfremdet. Andererseits kann sie aber auch nicht der Aufgabe nachkommen, die religionsähnlichen Züge gegenwärtiger identitätspolitischer Ideologien und Bewegun­ gen (Wokeness) zu analysieren. Prohl erklärt diese Schwierigkeiten nicht primär mit der neuen Scheu, Fragen zu stellen, die von bestimm­ ten Personen als diskriminierend oder abwertend empfunden wer­ den könnten, wenn sie sich auf Identitätsmerkmale wie Religion, Geschlecht etc. beziehen. Sie sieht das Hauptproblem darin, dass die

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Einleitung

Erforschung der Religionen selbst zunehmend in den Hintergrund getreten ist. Heute konzentriert man sich darauf, Diskurse über Reli­ gion im Hinblick auf Macht- und Herrschaftsdynamiken zu analysie­ ren.

III. Ausgrenzung in den Wissenschaften Im Dritten Teil über Ausgrenzung in den Wissenschaften wenden wir uns schließlich der Frage zu, was überhaupt unter akademischer Ausgrenzung bzw. Verbannung zu verstehen ist, und mit welchen Hindernissen und Bedrohungen Hochschullehrer zu rechnen haben, die nicht bereit sind, politisch kontroversen Themen auszuweichen, sondern es sogar als ihre Aufgabe betrachten, gerade die Diskussion solcher Themen im akademischen Rahmen zu ermöglichen. Dieter Schönecker hinterfragt in seinem Beitrag Akademische Verbannung. Auch ein Zwischenbericht das Phänomen der akademi­ schen Verbannung, das oft als Cancel Culture bezeichnet wird. Dabei geht er von der Beobachtung aus, dass schon die Existenz dieses Phänomens nicht selten bestritten wird. Oft heißt es dann, beklagt werde eigentlich eine sachliche Kritik, die Betroffene nicht akzeptie­ ren. Schönecker wirft in seinem Beitrag dazu verschiedene Fragen auf, mit dem Ziel der begrifflichen Präzisierung, und skizziert mögli­ che Antworten. Wann sollte man sinnvollerweise von akademischer Verbannung sprechen und nicht mehr nur von Kritik oder sachlicher Ablehnung? Gibt es Handlungen, die wie Formen von Kritik ausse­ hen, tatsächlich aber akademische Verbannungen darstellen? Darf man in Bezug auf die Situation in Deutschland von akademischer Ver­ bannung sprechen, oder wäre dies im Vergleich zu anderen Ländern übertrieben? Und können bestimmte Akte akademischer Verbannung als ziviler Ungehorsam legitim sein, auch wenn sie mit Blick auf die Wissenschaftsfreiheit rechtswidrig sind? Im Kontrast zu Schönecker geht es im Beitrag des Philosophen Georg Meggle Akademische Freiheit? Ein Kübel voller Gegenbeispiele nicht um gedachte, sondern um erlebte akademische Cancel Culture. Georg Meggle ist unter den deutschen Philosophen der Gegenwart wohl der radikalste Verfechter der Wissenschaftsfreiheit – und war daher auch am stärksten eigenen Einschränkungen ausgesetzt. Er hatte sich schon in den Achtzigern für eine freie Diskussion von Peter

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Einleitung

Singers Thesen eingesetzt und damals die Gesellschaft für Analytische Philosophie gegründet, um eine offene Diskussion auch heikler The­ men wenigstens innerhalb der Philosophie zu ermöglichen.9 Dass er dabei immer wieder in Konflikt zu inner- und außer­ universitären Institutionen und Interessengruppen geraten musste, hängt mit seinem Verständnis von der Aufgabe der Philosophie zusammen: Meggle ist davon überzeugt, dass die Praktische Philo­ sophie über die geeignete Methodik verfügt – und daher auch die Pflicht hat –, politische Konflikte verständlich zu machen und zu ihrer Lösung beizutragen, indem sie die jeweils grundlegenden Begriffe analysiert.10 In seinem Erfahrungsbericht zeigt er, wie es einem Wissenschaftler in Deutschland ergeht, der dieser Überzeugung folgt.

9 Diese Beziehung nahm eine kuriose Wendung, als ihn ausgerechnet die Gesellschaft für Analytische Philosophie 2022 von einer Podiumsdiskussion zur Wissenschafts­ freiheit auslud, mit der Begründung, dass er einen suspekten politischen Aufruf unterschrieben hatte; vgl. dazu: Lotter, Maria-Sibylla (2022), »Philosophen schliessen einen Kollegen von einer Tagung aus. Weil er ein Manifest unterschrieben hat, das Vernunftkriterien nicht standhält«, in: NZZ, 28.09.2022 (https://www.nzz.ch/feuill eton/tugendpolizei-philosophen-schliessen-kollegen-von-tagung-aus-ld.1704543). 10 Vgl. hierzu ausführlicher: Lotter, Maria- Sibylla, »Konkretes zur Frage, warum ein Netzwerk Wissenschaftsfreiheit gebraucht wird«, in: Präfaktisch. Ein Philosophieblog (https://www.praefaktisch.de/wissenschaftsfreiheit/konkretes-zur-frage-warum-e in-netzwerk-wissenschaftsfreiheit-gebraucht-wird/#more-2505).

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I. Umstrittene Meinungsfreiheit

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Eric Hilgendorf

Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie*

1. Der Fall »Dieter Nuhr« Die Meinungs- und die Wissenschaftsfreiheit, lange Zeit als Leitwerte der westlichen Demokratien fast unbestritten, sind in die Defensive geraten. Kaum ein Fall hat dies so sehr verdeutlicht wie die Ausein­ andersetzungen um den Satiriker und Gesellschaftskritiker Dieter Nuhr. Nuhr hatte einen Text für die Internetseiten der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft) zur Verfügung gestellt, in dem es hieß, Wissen bedeute nicht, dass man sich zu 100 Prozent sicher sei, sondern dass man über genügend Fakten verfüge, um eine begrün­ dete Meinung zu haben. Wissenschaft bedeute auch, »dass sich die Meinung ändert, wenn sich die Faktenlage ändert«. Wissenschaft sei keine Heilslehre: »Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben. Deshalb ist sie so wichtig.«1 Gegen diese Stellungnahme wurde in den sozialen Medien rasch heftige Kritik laut. Offenbar wurden die Aussagen Nuhrs als Affront gegen die Klimaschutzbewegung mit ihrem Slogan »Follow the Science« verstanden.2 Die DFG nahm deshalb Nuhrs Stellung­ nahme nach kurzer Zeit wieder aus dem Netz, und zwar erstaunli­ cherweise ohne den Autor darüber auch nur zu informieren. Auch hiergegen erhoben sich jedoch Stimmen, vor allem in den liberalen und eher konservativen Medien, woraufhin die DFG am 6.8.2020 * Der nachfolgende Text stellt eine überarbeitete und durch Fußnoten ergänzte Fas­ sung des Eröffnungsvortrags dar, den ich am 24.10.2022 für die online-Vortragsreihe »Wissenschaftsfreiheit: Voraussetzungen – Einschränkungen – Verteidigung« des »Netzwerks Wissenschaftsfreiheit« gehalten habe. 1 https://dfg2020.de/gemeinsam-fuer-das-wissen. 2 Dazu Hilgendorf, Eric (2023 (im Erscheinen)) »Follow the Science?« Wissenschaft, Pseudo-Wissenschaft und Recht, in: Festschrift für Jan C. Joerden zum 70. Geburtstag. Eric Hilgendorf u.a. (Hg.), Berlin (Verlag Duncker & Humblot).

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Eric Hilgendorf

Nuhrs Stellungnahme wieder online stellte. Dazu veröffentlichte sie folgende Erklärung: »Die DFG bedauert es ausdrücklich, das Statement von Dieter Nuhr vorschnell von der Internetseite der online-Aktion #fürdasWissen heruntergenommen zu haben. Herr Nuhr ist eine Person, die mitten in unserer Gesellschaft steht und sich zu Wissenschaft und rationalem Diskurs bekennt. Auch wenn seine Pointiertheit als Satiriker für man­ chen irritierend sein mag, ist gerade eine Institution wie die DFG der Freiheit des Denkens auf der Basis der Aufklärung verpflichtet. Wir haben den Beitrag daher wieder aufgenommen. Die Diskussion um den Beitrag verdeutlicht exemplarisch die Entwicklungen, die aktuell viele öffentliche Diskussionen um die Wissenschaft kennzeichnet.«

Weiter hieß es in der Erklärung der DFG, in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft habe sich »eine Debattenkultur entwickelt, in der oft nicht das sachliche und stärkere Argument zählt, in der weniger zugehört und nachgefragt, sondern immer häufiger vorschnell geurteilt und verurteilt wird. An die Stelle des gemeinsamen Dialogs treten zunehmend polarisierte und polarisierende Auseinandersetzungen. Gerade bei zentralen Fragen wie dem Klimawandel oder der Coronavirus-Pandemie werden damit die wirklich notwendige Diskussion um wissenschaftliche Themen und der konstruktive Austausch zwischen Wissenschaft und Gesellschaft behindert. … Diese Entwicklungen sind der Gesellschaft nicht zuträg­ lich und umso bedenklicher, als die Wissenschaft bei der Bewältigung aktueller Herausforderungen eine zentrale Rolle spielt, mit der sie derzeit in der Gesellschaft stark wahrgenommen und geschätzt wird. Dabei ist sie ihrerseits auf eine kritische, offene und konstruktive Kommunikationskultur angewiesen.«3

Die zuletzt zitierten Feststellungen der DFG treffen zu. Dies liegt einerseits an neuen Bewegungen auf der linken und rechten Seite des politischen Spektrums, die kritische, von der eigenen Weltsicht der Aktivistinnen und Aktivisten abweichende Ansichten vor allem in den sozialen Netzwerken maßlos angreifen und auch vor der Androhung

https://dfg2020.de/beitrag-von-dieter-nuhr-wieder-online. Inzwischen sind auch diese Sätze auf den Seiten der DFG nicht mehr auffindbar. Zitiert wurde nach https://archiv.klimanachrichten.de/rolle-rueckwaerts-bei-der-deutschen-forschun gsgesellschaft-nuhr-statement-wieder-online (zuletzt aufgerufen am 17.12.2022).

3

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Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie

körperlicher Gewalt nicht zurückschrecken.4 Andererseits, und dass soll das Thema meines Vortrags sein, gibt es für diese neuen Formen von internetgestütztem Hass und internetgestützter Hetze tieferrei­ chende Ursachen, die viel mit dem Verhältnis von Meinungsfreiheit in der Demokratie und dem strafrechtlichen Schutz eines minimalen wechselseitigen Respekts zu tun haben. In meinem Vortrag möchte ich folgende drei Thesen vertreten: 1.

2.

3.

Meinungsfreiheit ist für liberale Demokratien nach wie vor ein zentraler Wert. Für das Funktionieren von Demokratie ist sie unverzichtbar. Sie umfasst aber nicht das Recht auf persönli­ che Beleidigungen oder gruppenbezogene, z.B. rassistisch moti­ vierte Hetze. Vor allem in den USA wird das Recht auf Meinungsfreiheit so weit ausgelegt, dass in großen Teilen der Zivilgesellschaft ein – aus Europäischer Sicht nicht nur nachvollziehbares, sondern auch berechtigtes – Bedürfnis entstanden ist, Hass, Hetze und sexuelle Belästigung zumindest über soziale Normen zu sanktio­ nieren. Dieses Anliegen scheint heute allerdings teilweise außer Kontrolle geraten zu sein. Für Europa und damit auch für Deutschland besitzt der US-Ame­ rikanische Weg mehr Nach- als Vorteile. Es erscheint deshalb vorzugswürdig, berechtigte Ansprüche auf minimalen Respekt nicht nur über soziale Normen, sondern auch auf rechtlichem Wege vor massiv verletzenden Handlungen und Äußerungen zu schützen.5

Dazu zuletzt die Beiträge in Schulze-Eisentraut, Harald & Ulfig, Alexander (Hg.) (2022), Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit, München (Finanzbuch Verlag); siehe auch Brodnig, Ingrid (2016), Hass im Netz. Was wir gegen Hetze, Mobbing und Lügen tun können, Wien (Christian Brandstätter Verlag). 5 Dabei sind nicht bloß Strafnormen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte ins Auge zu fassen, sondern auch das Zivilrecht (v.a. Unterlassungs- und Schadensersatzan­ sprüche). Letzteres kann grds. auch in den USA gegen Verletzungen der Persönlich­ keitsrechte geltend gemacht werden. 4

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2. Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie »Ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür aufs Spiel setzen, dass Sie sie weiter äußern dürfen«!

Diese dem großen Aufklärer Voltaire zugeschriebenen Worte bringen den Grundgedanken der politischen Meinungsfreiheit auf den Punkt. Seither wurde die Meinungsfreiheit in vielen Verfassungen festge­ schrieben. So heißt es etwa in Art. 5 Abs. 1 unseres Grundgesetzes (GG), jeder habe das Recht, »seine Meinung in Wort Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Frei­ heit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewähr­ leistet. Eine Zensur findet nicht statt.« Allerdings erwähnt das GG in Art. 5 Abs. 2 auch die Grenzen der Meinungsfreiheit: Die Meinungsfreiheit, so heißt es dort, findet »ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetz­ lichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.« Schließlich garantiert Art. 5 Abs. 3 die Kunst und Wissenschaftsfreiheit: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.« Auch hier wird jedoch eine Grenze mitgedacht: »Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.« Andere Grenzen ergeben sich aus den Rechten Anderer, die auch die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit nicht ohne Weiteres verletzen darf.6 Es liegt auf der Hand, dass das Recht auf freie Meinungsäuße­ rung, so wie es im Grundgesetz festgeschrieben wurde, vielfältig interpretierbar ist. Das Bundesverfassungsgericht hat sich schon früh für eine sehr weite Interpretation entschieden und die Meinungs­ freiheit in gewisser Weise sogar über die anderen Grundrechte hin­ ausgehoben. In der berühmten »Lüth-Entscheidung« formuliert das Gericht, die Meinungsfreiheit sei für eine »freiheitlich-demokratische Staatsordnung […] schlechthin konstituierend, denn [… sie] ermög­ licht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der

Zur Auslegung von Art. 5 GG in der Rechtswissenschaft siehe die vorzüglichen Kommentierungen von Schulze-Fielitz, Helmuth (2013), in: Grundgesetz-Kommen­ tar, Band 1, 3. Auflage, Horst Dreier (Hg.), Tübingen (Verlag Mohr-Siebeck) und Wendt, Rudolf (2021), in: Grundgesetz. Kommentar, Band 1, 7. Auflage, Ingo von Münch, Philipp Kunig, Axel Kämmerer & Markus Kotzur (Hg.), München (BeckVerlag). 6

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Meinungen, der ihr Lebenselement ist. [… Sie] ist in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit überhaupt.«7 Die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene Fokussie­ rung auf einen »Kampf der Meinungen«, auf freie Debatte und Argu­ mentation gibt der Meinungsfreiheit ein stark politisches Gepräge. Man kann deshalb fragen, ob auch reine Tatsachenbehauptungen ohne erkennbare politische Relevanz darunterfallen. Dafür spricht, dass nicht abzusehen ist, welche Tatsachenfragen im politischen Diskurs Bedeutung erlangen werden. Fast jede Tatsachenaussage kann u.U. auch politische Bedeutung besitzen; eine zuverlässige Abgrenzung zwischen potentiell relevanten und von vornherein nicht relevanten Aussagen ist nicht möglich. Problematischer ist die Frage nach der Einbeziehung bewusst falscher Tatsachenbehauptungen.8 Verdienen solche Behauptungen den Schutz der Meinungsfreiheit? Da wir nie sicher sein können, ob unsere Tatsachenbehauptungen wahr oder falsch sind, stellt sich die Frage eigentlich nur bei Behauptungen, die bewusst falsch sind, nach heutigem Sprachgebrauch also bei bewussten »fake news«.9 In Son­ derfällen lassen sich bewusst falsche Tatsachenaussagen bereits heute strafrechtlich erfassen, etwa als Üble Nachrede, § 186 StGB, oder Ver­ leumdung, § 187 StGB. Auch der Tatbestand des Betrugs, § 263 StGB, kann in Frage kommen. Einen allgemeinen Tatbestand zur Erfassung von (u.U. politisch einflussreichen) »fake news« gibt es bisher aller­ dings nicht. Immerhin spricht vieles dafür, bewusst falsche Tatsa­ chenaussagen, auch wenn sie nicht strafrechtlich relevant sind, den­ noch aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit, Art. 5 Abs. 1 GG, herauszunehmen.10 Eine weitere Gruppe von problematischen Äußerungen sind sol­ che, die sich in einer negativen personenbezogenen Wertung ohne wesentlichen Tatsachenbezug erschöpfen, etwa beleidigende Bezeich­ Entscheidung vom 15. Januar 1958, 1 BvR 400/51, abgedruckt in der amtlichen Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) Bd. 7 (1958), S. 198 ff (208). 8 Im vorliegenden Text werden die Ausdrücke »Tatsachenaussage« und »Tatsachen­ behauptung« als Synonyme verwendet. 9 Dazu etwa Preuß, Tamina (2021), Fake News. Eine phänomenologische, kriminologi­ sche und strafrechtliche Untersuchung, Baden-Baden (Nomos Verlag). 10 So die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, siehe etwa BVerfGE 54, 208 (219); 61, 1 (7 ff.); 99, 185 (197). Anderer Ansicht etwa Wendt, in: von Münch/ Kunig, GG-Kommentar (Fn. 6), Art. 5 Rn. 28 f. 7

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nungen anderer Menschen als »Kanaken«, »Neger« oder »Kartof­ feln«. Die Intensität der Verletzung, die durch derartige Worte erzeugt werden, hängt stets von der konkreten Situation ab; Worte tragen ihre beleidigende Wirkung nicht in sich. Relevante Faktoren können etwa eine Schwächesituation sein (Einzelner in einer von »Anderen« geprägten Gruppe oder Gesellschaft, Verletzungsintention und Motivlage des Sprechers, Fehlen von Sanktionsmechanismen, Wie­ derholung der Schmähung usw.). Werden ganze Gruppe angegriffen, spricht man oft von »Hassrede«.11 Im deutschen Grundgesetz werden solche Äußerungen dem Schutz der Meinungsfreiheit entzogen, m.E. zu Recht, indem Art. 5 Abs. 2 ausdrücklich auf das Recht der persön­ lichen Ehre verweist, das vor der Meinungsfreiheit den Vorrang genießt. Die genannten Äußerungen unterfallen damit im Regelfall dem Straftatbestand der Beleidigung, § 185 StGB. Sieht man genauer hin, so entdeckt man gerade im Strafge­ setzbuch zahlreiche Bestimmungen, welche der Meinungsfreiheit Grenzen setzen, etwa die Strafbarkeit der Holocaustleugnung,12 die Strafbarkeit der Hetze gegen Minderheiten im Volksverhetzungs­ paragrafen13 und die neue Bestimmung über »Verhetzende Beleidi­ gung«.14 Unklar ist die Situation bei Formen sexueller Belästigung, die verbal oder durch Gesten erfolgen. Viele nehmen hier eine straf­ bare Beleidigung an, während andere von einer Strafbarkeitslücke ausgehen.15 Grundsätzlich, so kann man sagen, gibt aber das Grund­ gesetz in Verbindung mit dem geltenden Strafgesetzbuch durchaus einen tragfähigen Rahmen vor, in dem einerseits die Meinungsfrei­ heit als für die freiheitliche Demokratie zentrales Grundrecht gesi­ chert und garantiert wird, andererseits aber Angriffe auf die persönli­ che Ehre, auf Persönlichkeitsrechte von Individuen oder Gruppen mit Strafe belegt sind. Die Situation wird dadurch kompliziert, dass vor allem in den siebziger und achtziger Jahren in der Rechtswissenschaft und etwas 11 Hilgendorf, Eric (2021a), in: Strafrecht Besonderer Teil. Lehrbuch, Gunther Arzt/ Ulrich Weber/Bernd Heinrich/Eric Hilgendorf, Bielefeld (Verlag Ernst und Werner Gieseking), § 7 Rn. 10. 12 Geregelt in § 130 Abs. 3 StGB. 13 Geregelt in § 130 Abs. 1 und 2 StGB. 14 Geregelt in § 192a StGB. 15 § 184i StGB, der nach den massenhaften Übergriffen auf der Kölner Domplatte zu Sylvester 2015 neu eingeführt wurde, erfasst nur Fälle, in denen es zu einer körperli­ chen Berührung gekommen ist.

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Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie

später auch der Rechtsprechung eine Bewegung entstanden ist, die den Ehrenschutz zurückdrängen wollte. Bei der persönlichen Ehre, so hieß es, gehe es um »bloße Gefühle«, die keinen Anspruch auf strafrechtlichen Schutz hätten. Manche Autoren gingen so weit, eine komplette Abschaffung des Strafrechtsschutzes gegen Beleidigungen zu fordern. Man wird zugeben müssen, dass dem Konzept »Ehre« etwas Altmodisches, Verbrauchtes, anhaftet. Im Nationalsozialismus gän­ gige Ausdrucksweisen wie die Rede von »Blut und Ehre« haben den Begriff bis heute kontaminiert. Andererseits ist das, was mit Ehre gemeint ist, nach wie vor aktuell und für das friedliche Zusammen­ leben in jeder Gesellschaft überaus wichtig: Es ist jener Anspruch auf ein Minimum an Respekt, an Achtung, an Anerkennung, ohne dass ein friedliches menschliches Miteinander nicht möglich wäre.16 Respekt verdient man sich, wenn man die Erwartungen, die andere an einen stellen, erfüllt, oder vielleicht sogar übererfüllt. Aber auch diejenigen, die die Erwartungen Anderer nicht erfüllen, etwa weil sie sie nicht erfüllen können, verdienen als Mit-Menschen ein Minimum an Respekt. Die Menschenwürde gebietet, jeden Menschen, auch den erbärmlichsten, anders als eine Sache zu behandeln und seine Würde zu respektieren. Versteht man »Ehre« als Anspruch auf das gesellschaftlich notwendige Minimum an gegenseitigem Respekt, so liegt eine »Beleidigung« im Sinn des Strafrechts dann vor, wenn dieser minimale Anspruch auf Achtung verletzt wird.17 Die Meinungsfrei­ heit findet hier eine Grenze.

3. Das US-Amerikanische Verständnis von Meinungsfreiheit In den USA gibt es, anders als in Deutschland, wie eingangs schon erwähnt kaum Einschränkungen der Rede- und Meinungsfreiheit.18 Dies wird in aller Regel mit dem ersten Verfassungszusatz aus dem Jahr 1791 begründet, wo es heißt, der Kongress solle kein Gesetz erlassen, »dass die Einrichtung einer Religion zum Gegenstand hat Hilgendorf (2021a), § 7 Rn. 2. Ebd. 18 Für eine anspruchsvolle Verteidigung dieser Position siehe Garton Ash, Timothy (2016b), Redefreiheit. Prinzipien für die vernetzte Welt, München (Carl Hanser Verlag). 16

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oder deren freie Ausübung beschränkt, oder eines, dass Rede und Pressefreiheit oder das Recht des Volkes, sich friedlich zu versammeln und an die Regierung eine Petition zur Abstellung von Missständen zu richten«, einschränkt. Die Meinungsfreiheit wird also, wie im deutschen Grundgesetz auch, im Grundsatz in eine Reihe mit der Religionsfreiheit, der Pressefreiheit und der Versammlungsfreiheit gestellt. Dabei steht die politische Dimension der Meinungsfreiheit klar im Mittelpunkt. Es geht im Kern um den Schutz der Debattierfreiheit und der Freiheit, an der Regierung Kritik zu üben. Deswegen ist es nur konsequent, wenn in der US-Amerikanischen Rechtsprechung und Literatur häu­ fig der »marketplace of ideas«19 beschworen wird, welcher durch eine vollständige Meinungsfreiheit gesichert und bewahrt werden soll. Dieses überaus weitgehende US-amerikanische Verständnis von Meinungsfreiheit hat nicht nur Auswirkungen für die USA. Amerika ist heute die weltweit führende Supermacht und hat auch dem Internet ihren Stempel aufgedrückt. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass das Internet von den USA und ihren Werten dominiert wird. Des­ halb sind auch die Auseinandersetzungen um die Grenzen der Mei­ nungsfreiheit im Internet besonders scharf, wie etwa die weltweiten Unruhen nach der Verbreitung der Mohammed-Karikaturen aus dem dänischen Blatt »Jyllands Posten« 2005 oder die Terroranschläge in Reaktion auf Zeichnungen des französischen Blatts »Charlie Hebdo« 2015 zeigen. Eine Grenze sieht die US-Amerikanische Rechtsprechung für die Meinungsfreiheit erst dort, wo die Gefahr besteht, dass eine Äußerung unmittelbar in Gesetzlosigkeit oder Gewalt übergeht. Nach einem Gerichtsurteil des Obersten Gerichtshofes der USA aus dem Jahr 1969 spricht man oft vom »Brandenburg-Test«. Der Kläger, ein lokaler Ku-Klux-Klan-Führer namens Clarence Brandenburg, hatte zu Gewalt und Sabotageaktionen aufgerufen, um einen politi­ schen Umsturz herbeizuführen. Er wurde deshalb nach einem Gesetz des Bundesstaats Ohio zu einer Geldstrafe vom 1000 Dollar und einer Haftstrafe verurteilt. Der US-Supreme-Court erklärte dieses Gesetz für verfassungswidrig, weil es gegen den Grundsatz der freien Rede verstoße. Einschränkungen der Redefreiheit seien nur zulässig, wenn die in Frage stehende Rede unmittelbar Gesetzlosigkeit oder Gewalt hervorrufen könne (speech »directed to inciting or producing 19

Näher zu den tragenden Argumenten ebd., S. 113 ff.

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imminent lawless action« or is »likely to incite or produce such action«20). Clarence Brandenburg wurde damit freigesprochen. Die oben erwähnte Bewegung in Deutschland, den Schutz der persönli­ chen Ehre gegenüber der Meinungsfreiheit abzuwerten, dürfte vor allem auf das US-amerikanische Vorbild zurückzuführen sein. Eine solche aus europäischer Sicht extrem weit gefasste Redeund Meinungsfreiheit in den USA (und auch in Großbritannien) führt allerdings zu einem außerordentlich schwachen Schutz von Persönlichkeitsrechten gegen beleidigende Angriffe. Dies macht sich besonders bei Beleidigungen gegenüber Menschen in schwächeren sozialen Positionen bemerkbar, denn hier ist offenkundig die Gefahr, dass es im Sinne des »Brandenburg-Tests« zu Gesetzlosigkeit oder Gewalt kommt, besonders gering. Die Meinungsfreiheit geht also vor, ohne dass es auf sonstige Belange, etwa die Schutzwürdigkeit des Betroffenen, ankäme.21 Je niedriger eine Person in der sozialen Hierarchie steht, desto eher wird sie in der Regel gelernt haben, Demütigungen zu ertragen. Dass eine solche Rechtslage nicht gerecht ist, springt förmlich ins Auge. Es überrascht deshalb nicht, dass es in den USA und auch in Großbritannien seit vielen Jahren eine gesellschaftliche Gegenbewe­ gung gibt, deren Ziel es ist, bestimmte Standards des wechselseitigen Respekts für alle Menschen zu verteidigen, wenn nicht im Recht, dann doch zumindest auf der Ebene sozialer Normen. In diesen Zusammenhang gehören etwa die Debatten um »hatespeech« (Hass­ rede), »political correctness« und die Entwicklung von Regeln gegen massive sexuelle Anzüglichkeiten. Man sollte derartige Forderungen deshalb nicht von Anfang an negativ bewerten. Sie sind Folge einer jedenfalls aus europäischer Sicht zu weit verstandenen Meinungs­ freiheit, die, deutlich über den Schutz der Debattier- und Kritikfrei­ heit hinausgehend, vor allem Personen in Schwächesituationen und Minoritäten weitgehend schutzlos stellt. Die sozialen Beschränkungen freier Rede in den USA lassen sich in gewisser Weise als ein Kompensationsphänomen verstehen, als Reaktion auf einen zu weitgehenden Schutz von Meinungsfrei­ heit. Der Schutz eines zumindest minimalen zwischenmenschlichen Teilweise abgedruckt in: Brettschneider Corey (ed.) (2021), Free Speech, New York (Penguin Books), S. 49–52. 21 In den meisten kontinentalen Rechtsystemen wird dagegen jedem Individuum ein zumindest minimaler Schutz gegen verletzende Rede gewährt, ein Schutzmodell, welches in Deutschland auf die Menschenwürde (Art. 1 GG) gestützt wird. 20

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Respekts ist ein Anliegen, welches auch in der US-Gesellschaft und wohl in jeder Gesellschaft tief verwurzelt ist. Meines Erachtens handelt es sich hier vielleicht sogar um eine anthropologische Kon­ stante. Dabei scheint es nahe zu liegen, dass Menschen in starken sozialen Positionen Respektverletzungen besser ertragen können als Menschen, deren soziale Position unsicher ist und immer wieder herausgefordert wird. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass gerade Vertreterinnen und Vertreter von Minderheitengruppen in den USA energisch für die Beachtung eines zumindest basalen Respekts eintreten. Wenn das Recht bei der Aufgabe versagt, grundlegende und als berechtigt anerkannte Schutzbedürfnisse in der Bevölkerung zu erfüllen, darf man sich nicht wundern, wenn sich in der Gesellschaft soziale Normen herausbilden, die darauf abzielen, diese Lücken zu schließen. Dies dürfte in den USA umso leichter der Fall gewesen sein, als das Postulat der Gleichheit aller Menschen und damit auch des gleichen Respekts aller Menschen dort sogar Verfassungsrang genießt.22 (Möglicherweise wäre dies ein Ansatzpunkt gewesen, die Dogmatisierung des ersten Verfassungszusatzes aufzubrechen und in den USA zu einer Interpretation der Meinungsfreiheit zu gelangen, die dem Wohl aller dient). Für die Probleme, die das extreme US-Amerikanische Verständ­ nis von Meinungsfreiheit erzeugt, wirken das Internet und insbeson­ dere die sozialen Netzwerke wie Brandbeschleuniger. Beleidigende, hetzerische Äußerungen, die früher im kleinen Kreis verblieben wären, lassen sich nun mit einem Tastenklick über die ganze Welt versenden.23 Dass daran viele Menschen Anstoß nehmen, auch und gerade solche, die in anderen Kulturen zu Hause sind und deshalb ein solch weites Verständnis von Meinungsfreiheit nicht gewohnt sind, darf nicht überraschen. Zu der Globalisierung der Kommunikation über das Internet tritt die kulturelle Pluralisierung unserer eigenen 22 Bereits in der US-Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776) heißt es, »all men are created equal«. Ob dieser Grundsatz von Anfang an konsequent umgesetzt wurde, darf freilich bezweifelt werden. Bekanntlich hatten einige US-Verfassungsväter nicht einmal Bedenken, eigene Sklaven zu halten. 23 Für eine psychologische Perspektive auf eine Vielzahl der damit verbundenen Phänomene Appel, Markus (Hg.) (2020), Die Psychologie des Postfaktischen. Über Fake News, »Lügenpresse«, Clickbait und Co., Berlin (Springer); aus juristischer Sicht Hilgendorf, Eric/ Kusche, Carsten & Valerius, Brian (2023 (im Erscheinen)), Computer- und Internetstrafrecht. 3. Auflage, Berlin (Springer).

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Gesellschaften hinzu. Die Wahrscheinlichkeit, Menschen mit anderen kulturellen Prägungen als der eigenen im Internet, aber auch vor der Haustür zu begegnen, ist heute viel größer als noch vor 30 Jahren. Deshalb stellt sich auch das Problem verletzender Sprache in neuer Schärfe. Die US-geprägten Ideale praktisch grenzenloser Meinungs­ freiheit sind jedenfalls heute nicht mehr zeitgemäß.

4. Übertreibungen Aber, und damit komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags, auch die Ideen und Praktiken derjenigen Teile der US-Zivilgesell­ schaft, welche die als völlig unzureichend empfundene Rechtslage über soziale Normen abzumildern versuchen, werfen zahlreiche Pro­ bleme auf: Wenn die Grenzen von Meinungsfreiheit nicht dem Recht zu entnehmen sind, sondern von Fall zu Fall von besonders akti­ ven Gruppen im Internet neu ausgehandelt werden, besteht offen­ kundig die Gefahr großer Willkür. Denn wer bestimmt, welche Form von gefühlter Respektlosigkeit nicht mehr »angemessen« oder »schicklich« ist? Schon die Vokabeln »schicklich« oder »angemessen« (»appropriate«) sind hochgradig unbestimmt und ausdeutungsfähig. Im Zweifel werden sich die radikalsten Stimmen durchsetzen, einfach weil sich Vertreter gemäßigterer Positionen in vielen Fällen gar nicht zu Wort melden werden. Dies bedeutet die Gefahr einer willkürlichen, nicht auf rationale Regeln gestützten, sondern erregungsgeleiteten und hochgradig subjektiv geprägten Begrenzung von Meinungsfrei­ heit von Fall zu Fall. Hinzu kommt, und das ist ein zweiter m.E. wichtiger Gesichts­ punkt, dass Empörungswellen im Internet nicht durch Verfahrensre­ geln abgesichert sind, wie das im Strafverfahren in Europa und übri­ gens auch in den USA selbstverständlich ist. Grundlegende rechtliche Errungenschaften wie audiatur et altera pars, die Verpflichtung auf die Ermittlung von Wahrheit und die Beachtung der Grund- und Men­ schenrechte des Betroffenen kommen dabei leicht unter die Räder. Das gilt gerade für die Unschuldsvermutung. Staatliche Ermittlungen sind an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden, sie dürfen die Betroffenen also nicht mehr als für die Erforschung der Wahrheit unbedingt erforderlich belasten. Öffentliche Bloßstellung und Schmä­

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hung, bevor die Wahrheit überhaupt ans Licht gekommen ist, sind damit nicht vereinbar. Die Menschenwürde des Betroffenen setzt schließlich auch dem Gebot der Wahrheitsermittlung eine Grenze; im modernen Strafverfahren gibt es keine Wahrheitserforschung um jeden Preis. Deshalb ist z.B. Folter unter allen Umständen verboten, aber auch bestimmte Formen extremer Demütigung.24 Viele Internetaktivistinnen und Internetaktivisten beachten diese Grundsätze nicht; sie scheinen ihnen oft nicht einmal bekannt zu sein. Eine Folge davon ist, dass die persönlichen Belastungen des von der Hetze Betroffenen oft weit schwerer sind als die staatliche Strafe, die zu vergegenwärtigen wäre, träfen die Vorwürfe tatsächlich zu. So haben etwa die Vorwürfe sexueller Belästigung, die in den sozialen Medien gegen den US-Schauspieler Kevin Spacey erhoben wurden, seine berufliche Karriere weitgehend zerstört; dass er bislang noch von keinem US-Gericht verurteilt wurde,25 weil die meisten Vorwürfe mit großer Wahrscheinlichkeit in böswilliger Absicht erfunden wor­ den sind, konnte daran nichts ändern. Gerade für Deutschland und Europa ist noch auf ein weiteres Problem hinzuweisen. Viele der großen gesellschaftspolitischen Aus­ einandersetzungen in den USA passen auf Europa kaum oder jeden­ falls nur in einer stark abgewandelten Form. So ist ein Kampf gegen Rassismus, so wichtig er ist, in Europa fehlgeleitet, wenn er allein auf Grundlage des Codes »Schwarz vs. Weiß« geführt wird. Die ras­ sistische Unterscheidung zwischen »Schwarzen« und »Weißen«, oder, noch absurder, »Schwarzen« und »Kaukasiern« ist in den USA nach wie vor von größter Bedeutung; ohne Übertreibung kann man sagen, dass die US-amerikanische Gesellschaft bis heute davon geprägt ist. In Europa ist dies jedoch keineswegs der Fall. Natürlich gab und gibt es auch hier Rassismus – es dürfte keine Gesellschaft ohne rassistische Einstellungen in der Bevölkerung existieren.26 Gerade in Deutschland 24 Bedenken erregt deshalb z.B. die ungemein medienintensive »Verfolgung« des frü­ heren US-Filmmoguls Harvey Weinstein über das eigentliche Strafverfahren hinaus. 25 Zaschke, Christian (2022), Prozess wegen angeblicher sexueller Belästigung:Frei­ spruch für Kevin Spacey, in: Süddeutsche Zeitung, 23. Oktober 2022 (https://www .sueddeutsche.de/panorama/kevin-spacey-anthony-rapp-freispruch-prozess-1.567 9027). 26 Zu den Hintergründen Deutsch, Roland (2022), »Biologische und psychologische Grundlagen unseres Verhaltens gegenüber anderen«, in: Vom richtigen Umgang mit den »Anderen«. Diskriminierung, Rassismus und Recht heute, Eric Hilgendorf & Enis Tiz (Hg.), Baden Baden (Ergon/Nomos Verlag), S. 225 ff.

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Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie

richtete sich der rassistische Furor in der Vergangenheit jedoch vor allem gegen die jüdische Bevölkerung. Die 6 Millionen von den Nazis ermordeten Juden und Jüdinnen belegen dies auf schreckliche Weise. In Europa wird das Rasse-Konzept zu Recht als willkürliche und his­ torisch kontaminierte Konstruktion kritisiert, in den USA wird daran selbst von Rassismuskritikern festgehalten.27 In den USA stößt man teilweise sogar auf die Behauptung, der Holocaust habe mit Rassis­ mus nichts zu tun.28 Solche Absurditäten zeigen überdeutlich, dass der US-Amerikanische Rassismusdiskurs für Europa nur sehr einge­ schränkt ein Maßstab sein kann.29

5. Gefahren für die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit Die vorgenannten Gründe, also: Unbestimmtheit der Grenzen gerechtfertigter Meinungsfreiheit, Kontrollverlust im Internet, Feh­ len verfahrensrechtlicher Schranken, unkritische Übernahme USamerikanischer Standards – führen bei nicht wenigen vor allem jugendlichen Aktivistinnen und Aktivisten zu einem Verhalten, das weit über einen vernünftigen Schutz eines minimalen wechselseitigen Respekts hinausgeht und die Meinungsfreiheit, statt sie sinnvoll zu begrenzen, beschädigt.30 Ein solches Verhalten kann letztlich die Funktionsfähigkeit einer Demokratie in Mitleidenschaft ziehen. Der Weg von der Beschädigung und schließlich Zerstörung öffentlicher Debattenkultur über Populismus und Meinungssteuerung bis hin zu neuen Formen des Autoritarismus ist möglicherweise viel kürzer, als Viele sich dies heute vorzustellen vermögen. Nicht nur in den USA, auch in Europa existiert heute eine inter­ netgestützte Kultur des Anprangerns und der verbalen Aggression, die den Betroffenen kaum Verteidigungsmöglichkeiten belässt, zumal 27 Die »Critical Race Theory« führt das Rasse-Konstrukt sogar in ihrem Namen und reproduziert damit ein Unterscheidungskriterium, welches wie kaum ein anderes sprachliches Konstrukt moralische Verwüstung und menschliches Leid bewirkt hat. 28 In diesem Sinne äußerte sich etwa die US-Schauspielerin Whoopy Goldberg Ende Januar 2022 im US-Fernsehen. 29 Hilgendorf, Eric (2021b), Identitätspolitik als Herausforderung für die liberale Rechtsordnung: Versuch einer Orientierung, in: JuristenZeitung (JZ), Band 76, 2021, S. 853 – 863. 30 Pfister, René (2022), Ein falsches Wort. Wie eine linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht, München (Deutsche Verlags-Anstalt).

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die Anschuldigungen oft nicht wirklich greifbar sind und die Ankläger anonym bleiben. Eine derartige Praxis führt zu Einschüchterungs­ effekten, die die Meinungsfreiheit in ihrem Kern gefährden. Man könnte geradezu von einem »Paradox der Meinungsfreiheit«31 spre­ chen: Die US-Amerikanische Absolutsetzung der Meinungsfreiheit führt zu einer Verrohung der Debatte, die Menschen davon abhält, von ihrer Meinungsfreiheit Gebrauch zu machen. Die Aktivisten scheinen häufig durch rationale Argumente kaum mehr erreichbar zu sein; mit dem Gestus hoher moralischer Überlegenheit werden kritische Einwände gar nicht erst zur Kenntnis genommen.32 Besonders problematisch ist, dass sich diese Praxis auch an Uni­ versitäten ausbreitet, die doch eigentlich eine Heimstatt des Geistes, freier Argumentation und rationaler Diskussion sein sollten.33 Nicht ohne Grund wird die Meinungsfreiheit hier zusätzlich durch die Wissenschaftsfreiheit gestützt. Bedroht wird deshalb heute nicht nur die Meinungs- sondern auch die Wissenschaftsfreiheit. Zur Idee der Universität gehört, dass auch unbequeme und möglicherweise anstö­ ßige Positionen und Thesen vorgetragen und zur Diskussion gestellt werden dürfen. Grundsätzlich muss jede Position zu Wort kommen können, vorausgesetzt, bestimmte basale Standards von Rationalität und Sachlichkeit werden eingehalten. Eine Cancel-Culture,34 in der unliebsame Positionen niedergeschrien oder ihre Darlegung von vornherein durch haltloses Anprangern, Schikane, Ausladung oder gar offene Gewalt verhindert wird, ist mit der Wissenschaftsfreiheit nicht vereinbar und bedroht den rationalen Kern unserer Gesellschaft.

31 Hilgendorf, Eric (2021a), in: Strafrecht Besonderer Teil. Lehrbuch, Gunther Arzt/ Ulrich Weber/Bernd Heinrich/Eric Hilgendorf, Bielefeld (Verlag Ernst und Werner Gieseking), § 7 Rn. 10b. 32 Nicht zu Unrecht wird neuerdings auf den quasi-religiösen Eifer vieler Aktivisten hingewiesen, die sich verhalten, als befänden sie sich nicht in einer sachlichen Auseinandersetzung, sondern in einem Kampf des »Guten« mit dem »Bösen«, siehe Doyle, Andrew (2022), The New Puritans. How the Religion of Social Justice Captured the Western World, London (Constable). 33 Hilgendorf, Eric (2015), »Universität in der offenen Gesellschaft. Gefährdungen und Chancen heute«, in: Pro universitate et ecclesia. Festgabe für Dieter Salch zum 75. Geburtstag, Franz-Ludwig Knemeyer (Hg.), Würzburg (Ergon-Verlag), S. 63 ff.; vgl. aber auch Alt, Peter-André (2021), Exzellent? Zur Lage der Deutschen Universität, München (C.H.Beck), S. 75 ff. 34 Dershowitz, Alan (2020), Cancel Culture: The Latest Attack on Free Speech and Due Process, New York (Hot Books).

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Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie

6. Was ist zu tun? Ein erster Schritt sollte sein, mit den Aktivisten das Gespräch zu suchen und über Aufgabe und Funktion der Universitäten in einer offenen Gesellschaft, ihre Rolle als Ort geistiger Auseinandersetzung, und die Bedeutung von Meinungsfreiheit allgemein aufzuklären. Fast alle neuen geistigen Bewegungen sind an Universitäten entstanden oder dort zumindest ausformuliert worden. Das gilt übrigens auch und gerade für die Identitätspolitik, auf die sich viele Vertreter der »Cancel Culture« stützen zu können glauben. Es erscheint deshalb widersinnig, dass sich diese Bewegung heute gegen die eigene Mut­ terinstitution wendet, indem sie ihre Basiswerte, die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, negiert. Ein zweiter Schritt, um das erforderliche Maß an Meinungsund Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen, könnte darin bestehen, sich bewusst zu machen, dass nicht jede Position verdient, an einer Univer­ sität vorgestellt und debattiert zu werden. M.E. ist es aber nicht das Strafrecht, das hier die äußerste Grenze bilden sollte, sondern die – zugegebenermaßen oft keine scharfe Grenzziehung erlaubende – Idee der Universität als Ort geistiger Auseinandersetzung. So sind etwa keineswegs alle Aussagen, die man als antisemitisch oder rassistisch bezeichnen kann, ohne Weiteres strafrechtlich verboten. Trotzdem wäre es falsch, offen antisemitische oder rassistische Positionen an einer Universität so zu behandeln, als wären sie quasi »normale« Gegenstände akademischer Auseinandersetzung. Offener Antisemi­ tismus und andere Formen von unverhohlen zur Schau gestelltem Rassismus haben an der Universität keinen Platz. Allerdings reichen Verdächtigungen oder bloße Behauptungen nicht aus, um entspre­ chende Vorwürfe ernstnehmen zu können.35 In Grenzfällen lässt sich durch die Beiziehung geeigneter Moderatoren oder Diskussionspart­ ner und -partnerinnen ein angemessenes Gleichgewicht herstellen. Ein dritter Aspekt: Wie ich zu zeigen versucht habe, lassen sich viele der neuen Formen von internetgestütztem Tugendterror darauf zurückführen, dass in den USA die Meinungsfreiheit über Gebühr ausgedehnt wurde und selbst offen rassistische Positionen meist nicht strafrechtlich belangt werden können. Hier sollte Europa an seinen 35 Der sehr »lockere« Umgang mit Vorwürfen des Rassismus bei vielen »CancelCulture« – Aktivisten ist nicht nur intellektuell armselig, sondern auch moralisch hochproblematisch, weil so echter Rassismus verharmlost und relativiert wird.

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eigenen Traditionen festhalten und Äußerungsformen, die selbst ein Minimum an für das gesellschaftliche Zusammenleben notwendigem Respekt vermissen lassen, unter Strafe stellen. Das bezieht sich auch und gerade auf gruppenbezogene Äußerungen. Erfreulicherweise ist hier der deutsche Gesetzgeber auf einem richtigen Weg. Eine Art »Weckruf« bildete der Fall Böhmermann, in dem ein Fernsehunter­ halter den türkischen Staatspräsidenten auf extreme, man darf wohl sagen: die Menschenwürde verletzende Weise angriff. Zu Recht wurden diese Angriffe von deutschen Gerichten als rechtswidrig eingestuft; das BVerfG hat erst kürzlich festgestellt, die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde habe offenkundig keine Aussicht auf Erfolg, sie wurde deshalb gar nicht erst zugelassen.36 Einen echten Wendepunkt bildete die Debatte um die massiven Schmähungen, welche auf Facebook gegen die Politikerin Renate Künast vorgebracht wurden. Das Landgericht Berlin hielt in einem Beschluss vom 9. September 2019 diese Äußerungen für rechtmäßig. Erst nachdem Frau Künast dagegen Beschwerde einlegte, wurden einige der Äußerungen, etwa diejenigen, in der sie mit »Müll« gleich­ gesetzt wurde, als strafbare Beleidigung gewertet, was das Kammer­ gericht Berlin bestätigte.37 Inzwischen hat auch das BVerfG den Schutz der Persönlichkeitsrechte gegenüber der Meinungsfreiheit klargestellt.38 Ein vierter Ansatzpunkt, um den aktuellen Bedrohungen von Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit zu begegnen, sollte eine bes­ sere Schulung und Aufklärung derjenigen Personen sein, die sozusa­ gen an der Schnittstelle zwischen erregter Netzpopulation und analo­ ger Welt tätig sind. Ich meine etwa Journalistinnen und Journalisten, die die Debatten im Internet beschreiben und auf dieser Grundlage ihre Artikel verfassen, aber auch Pressesprecher an Universitäten und sonstige Verantwortliche, ohne die die Empörungswellen im Internet kaum reale Wirkung über die jeweilige Aktivistencommunity hinaus hätten. In der Affäre um den Artikel Dieter Nuhrs waren es nur 36 Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 26.01.2022, Aktenzeichen 1 BvE 2026/19. 37 Kammergericht Berlin, Beschluss vom 31.10.2022, Aktenzeichen 10 W 13/20. 38 Bundesverfassungsgericht Beschlüsse vom 19. Mai 2020, Aktenzeichen 1 BvR 2459/19, 1 BvR 2397/19, 1 BvR 1094/19 und 1 BvR 362/18: Siehe dazu auch die Pressemitteilung des BVerfG Nr. 49/2020 vom 19. Juni 2020, abrufbar unter https: //www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/ bvg20-049.html.

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Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie

wenige Personen, welche gegen Nuhrs Stellungnahme protestierten: Trotzdem sah sich die Verantwortliche bei der DFG veranlasst, Nuhrs Artikel aus dem Netz zu nehmen,39 was dem Ansehen der DFG erheblichen Schaden zugefügte. Der an den Schnittstellen zwischen digitaler und analoger Welt tätige Personenkreis sollte die nötige Medienkompetenz besitzen, um nicht jede echte oder gefühlte Empörungswelle zum Anlass zu neh­ men, ohne hinreichende Reflexion weitreichende Entscheidungen zu treffen, die die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit einschränken. Gefragt sind auch Universitätspräsidentinnen und Universitätspräsi­ denten, die sich zum Schutz der universitären Freiheit entschlossen hinter Universitätsangehörige stellen, wenn diese wegen unange­ passter, unliebsamer Meinungen schikaniert und verfolgt werden. Hier ist noch Einiges zu tun. »In dubio pro libertate!« ist ein Motto, das auch im Kontext der Wissenschaft Sinn macht.

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Siehe oben 1.

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Maria-Sibylla Lotter

Demokratische Streitkultur. Ihre Voraussetzungen und Gefährdungen

1. Zum Unterschied von Meinungsfreiheit und freimütiger Debatte Spätestens seit der letzten Wahl in den USA ist deutlich geworden, dass liberale Demokratien nicht unzerstörbar sind. Die in den 90`ern entstandene Illusion, die Welt werde in einem unumkehrbaren Pro­ zess immer demokratischer werden, ist nicht erst mit dem Angriffs­ krieg Russlands auf die Ukraine zerbrochen. In den letzten Jahrzehn­ ten wirken die westlichen Demokratien auch zunehmend von innen gefährdet. Die Gefahr geht von zunehmenden Schwierigkeiten der politischen Verständigung aus, die in den USA die Gestalt einer extre­ men, die politische Stabilität gefährdenden politischen Polarisierung zwischen zwei sich radikalisierenden Parteien angenommen hat. Auch in den westlichen Staaten, in denen die Parteien noch koalitionsfähig sind, treten Probleme der Debattenkultur auf. Auf die regelmäßig wiederholte Umfrage des Meinungsfor­ schungsinstituts Allensbach – »Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?« – antworteten 2021 nur noch 45 Prozent der Befragten in Deutschland mit »ja«.1 Das ist der niedrigste Stand seit Beginn der Meinungsumfragen.2 Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung scheint demnach das Gefühl entwickelt zu haben, sich 1 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2019), »Grenzen der Freiheit. Eine Doku­ mentation des Beitrags von Prof. Dr. Renate Köcher«, in: Frankfurter Allgemeinen Zei­ tung, Nr. 119, 23. Mai 2019 (https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/user_uploa d/FAZ_Mai2019_Meinungsfreiheit.pdf). 2 Vgl. Institut für Demoskopie Allensbach (2021), »Die Mehrheit fühlt sich gegän­ gelt«, Dokumentation des Beitrags von Dr. Thomas Petersen, in: Frankfurter Allge­ meinen Zeitung, 16. Juni 2021

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in manchen politischen Fragen nicht mehr »ohne Vorsicht« äußern zu können. In der Presse wurde dies als Beleg dafür interpretiert, »dass die Mehrheit der Deutschen die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht«.3 Bei Meinungsumfragen wird das Ergebnis jedoch stark durch die Fragestellung bedingt. Hier lässt die Formulierung der Frage offen, auf wen und was sich das Gefühl bezieht, vorsichtig sein zu müssen. Es gibt viele Gründe, vorsichtig zu sein, welche nicht die Meinungsfreiheit im eigentlichen Sinne einschränken – z. B. persönliche Unsicherheiten, soziale Ängste, eigenes strategisches Verhalten. Allein deswegen ist das Ergebnis nicht aussagekräftig. Hinzukommt, dass der Begriff Meinungsfreiheit heute mehrdeutig verwendet wird. Die Meinungsfreiheit ist eigentlich ein Grundrecht, das die Äußerung von subjektiven Ansichten (aber nicht von falschen Tatsachenbehauptungen) vor der Kontrolle oder Einschränkung durch die Staatgewalt schützt. Es richtet sich also primär gegen staatliche Institutionen. Wenn Menschen derzeit in Deutschland beklagen, in ihren öffentlichen Äußerungen vorsichtig sein zu müssen, meinen sie jedoch eigentlich etwas anderes, wofür es im Deutschen kein eigenes Wort gibt. Es handelt sich um ein zentrale Merkmal demokratischer Kultur, das in der Zeit der antiken attischen Demokratie Parrhesia genannt wurde: Die Möglichkeit, ohne soziale Angst und Scham alles ansprechen zu können.4 Diese gefühlte Redefreiheit wird nicht durch den Staat eingeschränkt, sondern durch die befürchteten Reaktionen der Mitbürger, die Angst vor öffentlicher moralischer Verurteilung und Diffamierung. Wie Befragungen zeigen, entspringt das Gefühl, sich nicht frei äußern zu können, oft der Angst vor abwertenden oder zurechtwei­ senden Reaktionen. Beträchtliche Teile der Bevölkerung scheinen zu befürchten, »in eine Schublade gesteckt« und moralisch diskreditiert zu werden, wenn sie zu gewissen Themen nicht mehrheitsfähige Mei­ (https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/FAZ_J uni2021_Meinungsfreiheit.pdf). 3 Vgl. René Schlott im Gespräch mit Marietta Schwarz, Allensbach-Umfrage zur Meinungsfreiheit. »Heute gibt es teilweise Sprechverbote«, DLF, 17.06.2021 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/allensbach-umfrage-zur-meinungsfreihei t-heute-gibt-es-100.html). 4 Vgl. hierzu Carter, D. M. (2004), »Citizen Attribute, Negative Right: A Conceptual Difference between Ancient and Modern Ideas of Freedom of Speech«, in: Free Speech in Classical Antiquity, Ineke Sluiter & Ralph M. Rosen (Hg.), Leiden (Brill), S. 197– 220, S. 217 ff.

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Demokratische Streitkultur. Ihre Voraussetzungen und Gefährdungen

nungen äußern, die falschen Ausdrücke verwenden oder überhaupt bestimmte Fragen stellen.5 Sie halten ihre Meinung zurück, aus Sorge, im Gespräch oder in den sozialen Medien z. b. als »rassistisch«, »transphob«, »Nazi«, »islamophob«, »Menschenfeind«, »linksgrün­ versifft« usf. abgeurteilt zu werden. Solche Etikettierungen wirken stigmatisierend; ein Shitstorm in den sozialen Medien kann sich anschließen, mit der Folge, dass Kunden wegbleiben, Einladungen ausbleiben, Freunde sich zurückziehen. In Deutschland scheint diese Befürchtung stärker in den Regionen der ehemaligen DDR verbreitet zu sein als im Westen, und sie wird weniger im »linken« als im »rech­ ten« politischen Spektrum geäußert. So fühlen sich Anhänger der AFD von den Anhängern etablierter Parteien oft abwertend behandelt und verstärken dieses Gefühl mitunter auch noch selbst, indem sie sich als Opfer einer Meinungsdiktatur inszenieren.6 Allerdings spricht einiges dafür, dass man innerhalb der linksalternativen Szene und unter queeren Aktivisten eher stärker als in der rechten Szene von Sprechverboten und Tabuisierungen betroffen ist, die mit autoritärem Gestus und moralischen Diffamierungen gegen Nonkonformisten durchgesetzt werden; nur verbietet es dort oft das Selbstverständ­ nis, sich darüber zu beschweren.7 Und in der Zeit der Coronapan­ demie klagten sowohl Vertreter einer restriktiven Lockdown- und Impfpolitik als auch diejenigen, die die Gefährlichkeit der Krankheit oder die Notwendigkeit weitreichender sozialer Schutzmaßnahmen bestritten, über diffamierende moralische Angriffe, denen mitunter Morddrohungen folgten. Die Gefahr der öffentlichen Stigmatisierung hat mit der Ver­ breitung der neuen sozialen Medien zugenommen. Sie haben einer­ seits die Möglichkeit zu anonymen Beiträgen geschaffen, für die man keine Verantwortung übernehmen muss. Wer im wirklichen Kontakt seine Meinung zurückhält, kann hier anonym Wut und Empörung austoben. Andererseits verstärken die sozialen Medien durch das Suchtpotential der »Likes« die Neigung, sich in politischen »Meinungsblasen« zu bewegen und nur unter Gleichgesinnten zu 5 Vgl. die Befragung von Jochen Breyer in »Am Puls Deutschlands« (ZDF): https:// www.youtube.com/watch?v=se2edQHPI6c. 6 Vgl. hierzu den Beitrag von Jan Menzner, und Richard Traunmüller, „Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?“ in diesem Band. 7 Vgl. jedoch die Beiträge in dem 2017 von Patsy L’Amour LaLove herausgegebenen Band Beißreflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverbo­ ten, Berlin (Queer-Verlag).

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kommunizieren. Beides trägt zur Radikalisierung und Enthemmung bei. Wenn sich Tratsch unter Gleichgesinnten, die sich gegenseitig in Empörung überbieten, zu »Shitstorms« entwickelt, kann dies extreme Folgen für die betroffenen Personen haben. Dass eine aus dem Kontext gerissene Formulierung in der Öffentlichkeit so unverhältnismäßige Reaktionen auslösen kann, wirkt zudem abschreckend auf alle; diese Unberechenbarkeit kann Menschen davon abhalten, sich überhaupt noch im öffentlichen Raum zu äußern. Aus diesen Gründen ist sowohl eine Zunahme an grenzüberschreitender Enthemmung und verbaler moralischer Aggressivität, als auch eine zunehmende Gehemmtheit und Ängstlichkeit in öffentlichen Äußerungen zu beobachten. Mittlerweile wird auch die Angst vor sozialer Diffamierung als ein Verlust der Meinungsfreiheit bezeichnet. Diese Dehnung des Begriffs Meinungsfreiheit ist dem Umstand geschuldet, dass wir kein eigenes Wort für das haben, was in der Antike Parrhesia hieß. Die Verwechslung von Parrhesia mit Meinungsfreiheit lädt jedoch zu Missverständnissen und politischem Missbrauch ein. Sie hat zu einem unproduktiven Dauerstreit um die Frage geführt, ob es einen wirklichen Rückgang an Meinungsfreiheit gebe oder dies eine Chimäre »der Rechten« sei. Während die einen Sprechtabus beklagen, weisen andere darauf hin, dass man doch im öffentlichen Raum alle möglichen Meinungen antreffe und von einer Einschrän­ kung der Meinungsfreiheit daher keine Rede sein könne. Wie oft bei solchen Streitereien, haben beide Gruppen Recht, aber sie spre­ chen von verschiedenen Dingen. Wenn das Gefühl, ohne Angst vor Beschämung und Diffamierung sprechen zu können, nicht von Meinungsfreiheit im eigentlichen Sinne unterschieden wird, entsteht ein falscher Anschein, der selbst zu einer Quelle von Problemen der Debattenkultur werden kann – und geworden ist. Denn dann scheint es keinen wirklichen Unterschied zwischen einem Rechtsstaat, der die Meinungsfreiheit schützt, in dem aber einflussreiche soziale Gruppen einen gewissen Druck auf die Meinungsbildung und die öffentliche Sprache ausüben, und einem Staat zu geben, der die Meinungsäuße­ rungen seiner Bürger kontrolliert und bei Nichtbefolgung Zwangs­ maßnahmen verhängt. Entsprechend ist es in rechtspopulistischen Kreisen üblich geworden, von einer Meinungsdiktatur zu sprechen. Eine mitunter intolerante und angsterregende Debattenkultur ist jedoch weder eine Diktatur, noch ist der Einzelne wie bei den Maßnah­ men eines autoritären Staates ohnmächtig dagegen. Verantwortung für den Verfall der freien öffentlichen Debatte tragen nicht nur die­

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jenigen, die Diskussionen abwürgen, sondern auch diejenigen, die zu wenig Mut aufbringen, auf einer offenen Auseinandersetzung zu bestehen. Wer in Anbetracht der Möglichkeit unerwünschter und ver­ letzender sozialer Reaktionen ganz darauf verzichtet sich zu äußern und diesen Verzicht mit einer diktatorischen Einschränkung der Mei­ nungsfreiheit gleichsetzt, verkennt die eigene Mitverantwortung für die Erhaltung und Verbesserung der Debattenkultur. Man verwech­ selt eine angespannte, intolerante und aggressive Debattenkultur, die einschüchtert und in der bestimmte Äußerungen Nachteile mit sich bringen können, mit einer unüberwindbaren Gewalt. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Angst vor den diffamierenden Reaktionen von Mitbürgern im Unterschied zu einer Einschränkung der Meinungsfreiheit durch den Staat für die einzelne Person leicht zu überwinden wäre. Hier steht zwar nicht die physische Unversehrtheit und Freiheit, aber die soziale Anerkennung auf dem Spiel. Es gibt Menschen, die der Gefährdung durch einen repressi­ ven Staat leichter widerstehen können als der Angst, zu moralisch verachteten Außenseitern zu werden. Dominante oder medial ein­ flussreiche soziale Gruppen können mit einer politisch-moralischen Agenda, die von allen Zustimmung verlangt, daher einen erheblichen Druck ausüben. In westlichen Gesellschaften, die das Leitbild des autonomen Individuums pflegen, das seine Meinungen durch ratio­ nale Prüfung von Informationen bildet und intellektuell von den anderen unabhängig ist, wird dieser Druck oft unterschätzt. Oft wird diese normative Idee mit der Realität von Menschen als vermeint­ lich geistig unabhängigen Individuen verwechselt. Menschen sind jedoch soziale Wesen, unabhängig davon, ob dies ihrem kulturellen Leitbild entspricht oder nicht.8 Sie entwickeln aus Angst vor sozialer Isolation mehr oder weniger feine Antennen dafür, was bei anderen auf Zustimmung oder Ablehnung stößt. Im Sozialisationsprozess lernt man durch mehr oder weniger subtile soziale Signale (Augen­ rollen, Mund verziehen, ironischer oder scharfer Ton) Druck auf diejenigen auszuüben, die sich »unpassend« benehmen. Das betrifft nicht nur Kleidung und Verhaltensweisen, sondern auch Meinungs­ äußerungen. In einer Demokratie, in der der Anspruch herrscht, dass 8 Kulturelle Unterschiede spielen eine leichte Rolle, in Ländern mit individualisti­ scher Kultur ist der Konformismus sozialpsychologischen Untersuchungen zufolge leicht vermindert. Gleichwohl kommt man länderübergreifend zu ähnlichen Ergeb­ nissen. Vgl. hierzu Sunstein, Cass (2021b), Das Lemmingprinzip, München (FBV), S. 31.

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dieselben Normen für alle gelten, kann dieser Druck erheblich höher sein als in einer feudalen Ständegesellschaft, die an der Spitze eine gewisse Freigeisterei kultiviert. Schon einige Jahrzehnte nach der amerikanischen Revolution diagnostizierte Alexis de Tocqueville die Unterjochung des Denkens unter die Ansichten der Mehrheit als ein Hauptproblem der Demokratie. Über die noch junge Demokratie Amerikas bemerkte er: »In den demokratischen Völkern besitzt […] die Öffentlichkeit eine einzigartige Macht, die sich die aristokratischen Völker nicht einmal vorstellen konnten. Sie bekehrt zu ihrem Glauben nicht durch die Überzeugung, sie zwingt ihn auf und läßt ihn durch eine Art von gewaltigem geistigem Druck auf den Verstand jedes einzelnen in die Gemüter eindringen.«9

Tocqueville zufolge wird der von der Mehrheit ausgehende Druck von den meisten gar nicht wahrgenommen, weil sie ihm von selbst nachgeben. Ein sozialer Druck kann jedoch auch von dominanten Minderheiten ausgehen, und dann wird er wesentlich bewusster wahrgenommen. Den Mechanismus, durch den dies funktioniert, hat die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann als Schweigespi­ rale bezeichnet. Ihr Ursprung liegt in der unterschiedlichen Bereit­ schaft verschieden denkender Personen und Gruppen, sich öffentlich für eine bestimmte Politik einzusetzen: »In einer Kontroverse sind die verschiedenen Lager unterschiedlich bereit, sich öffentlich sichtbar für ihre Überzeugung einzusetzen. Das Lager, das mehr Bekenntnisbereitschaft zeigt, wirkt stärker und beeinflusst dadurch andere, sich den offensichtlich stärkeren oder zunehmenden Bataillonen anzuschließen.«10

Der soziale Druck der scheinbaren Mehrheit auf die übrigen lässt sich empirisch messen. Ein bekannter psychologischer Versuch von Solomon Asch hat gezeigt,11 dass sich die Mehrheit der Teilnehmer eines Experiments bei der Frage nach der Länge einer Linie der Meinung anschließt, die angeblich von der Mehrheit vertreten wird, auch wenn sie keinen Zweifel daran haben können, dass sie falsch ist. 9 Tocqueville, Alexis de (1987), Über die Demokratie in Amerika, Zweiter Teil, Zürich (Manesse), S. 21. 10 Noelle-Neumann, Elisabeth (1996), Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale, Ullstein (Berlin), S. 35. 11 Vgl. Sunstein (2021b), S. 31.

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Demokratische Streitkultur. Ihre Voraussetzungen und Gefährdungen

Andere psychologische Test zeigen, dass die Redebereitschaft und die Tendenz zu schweigen mit der Annahme korreliert, dass die eigene Meinung der Mehrheit entspricht – oder eben nicht.12 Wenn selbstbewusste Gruppen lautstark ihre Meinung äußern und diejenigen schweigen, die diese Meinungen nicht teilen, kann das betretene Schweigen der letzteren den falschen Eindruck erzeugen, es handle sich um eine von allen geteilte Meinung; das löst dann einen erheblichen sozialen Druck aus. Dabei spielen die Medien oft eine entscheidende Rolle, wenn die betreffende Minderheitsmeinung dort besonders dominant erscheint.

2. Gegner und Feinde im politischen Raum Der Anpassungsdruck kann durch eine Atmosphäre politischer Lager­ bildung verstärkt werden, denn wie schon die sozialpsychologischen Experimente von Muzafer Sherif gezeigt haben, neigen Menschen dazu, die in ihrer Gruppe zirkulierenden Meinungen zu übernehmen und denen von Außenstehenden zu misstrauen.13 Wenn diese Lager­ bildung durch moralische Diffamierung des Gegners verstärkt wird, kann dies zu Polarisierungen führen, bei denen beide Seiten im Extremfall füreinander unverständlich werden, weil sie die andere Seite nur noch als bösartig oder verrückt wahrnehmen. Ein solches politisches Auseinanderdriften lässt sich in der Jahrhunderte alten Demokratie USA schon seit längerem am Verfall der Gesprächsbereit­ schaft zwischen Republikanern und Demokraten beobachten. Wäh­ rend der Präsidentschaft von Donald Trump hatte es den Anschein, als werde der innenpolitische Kontrahent als eine größere Gefahr wahrgenommen als äußere Bedrohungen durch autoritäre Regimes, die systematisch Menschenrechte verletzen. So provozierte Trump seinen demokratischen Gegenspieler, indem er öffentlich den russi­ schen Machthaber Putin dazu aufforderte, ihm kompromittierendes Material über Familienangehörige zu liefern. Die Erosion der Debat­ tenkultur beginnt jedoch nicht erst mit derart bizarren Gesten oder Wer glaubt, dass die Mehrheit seine Ansicht teilt, ist stärker bereit zu reden und umgekehrt. (Noelle-Neumann (1996), S. 40.) Es spielen freilich auch noch andere Faktoren eine Rolle. Statistisch sind Männer mehr als Frauen, Angehörige gehobener Schichten mehr als andere bereit, bei einem kontroversen Thema mitzudiskutieren; Vgl. ebd. S. 45. 13 Vgl. Sunstein (2021b), S. 25. 12

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mit dem Auftreten anomaler Charismatiker wie Trump, sondern entspringt der Verwechslung von politischer Gegnerschaft mit Feind­ schaft. In einer Demokratie begegnen sich Andersdenkende und poli­ tische Gegner als Konkurrenten um politischen Einfluss. Sie sind aber keine Feinde, sondern zugleich Verbündete in der gemeinsamen Bemühung um die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung demo­ kratischer und liberaler Verhältnisse. Die Soziologin Chantal Mouffe hat die politische Gegnerschaft entsprechend als eine Beziehung zwischen freundschaftlichen Feinden bezeichnet: »als Personen also, die Freunde sind, weil sie einen gemeinsamen symbolischen Raum teilen, zugleich aber Feinde, weil sie diesen gemeinsamen moralischen Raum auf unterschiedliche Weise organi­ sieren wollen.«14

Daraus ergibt sich eine kulturelle Aufgabe für jede Demokratie: Sie muss eine Streitkultur entwickeln, durch die Feindschaft domes­ tiziert und der Antagonismus zwischen den politischen Gegnern entschärft wird.15 Wird der Gegner hingegen nicht mehr als Freund und Herausfor­ derer, sondern nur noch als Feind wahrgenommen, dann wird man alles tun – auch auf Kosten demokratischer und rechtsstaatlicher Verhältnisse –, um ihn am Erfolg zu hindern. In den USA ging die politische Polarisierung bei den letzten Präsidentschaftswahlen schon so weit, dass ein beträchtlicher Teil der unterlegenen Partei nicht mehr bereit war, das Wahlergebnis und somit das demokratische Verfahren selbst anzuerkennen. Man zog es vor, in der eigenen Wählerschaft ein allgemeines Misstrauen in die demokratischen Institutionen zu för­ dern, das man für die eigenen Interessen instrumentalisieren konnte. Im Kontrast hierzu scheinen die Parteien der Linken und der Mitte in Deutschland derzeit eine einigermaßen stabile »freundschaftliche Feindschaft« zu pflegen. Aber auch hier bröckelt es, etwa wenn die Regierung auf die Kritik der Opposition mit dem Vorwurf »mangeln­ den Gemeinsinns« reagiert.16 Oder die Fraktionen im Bundestag Mouffe, Chantal (2008), Das Demokratische Paradox, Wien (Turia Kant), S. 30. Vgl. ebd. S. 103. 16 Vgl. hierzu Kissler, Alexander (2022), »Wer die Regierung kritisiert, ist noch lange kein Spalter«, in: NZZ, 23. November 2022 (https://www.nzz.ch/meinung/der-an dere-blick/generaldebatte-im-bundestag-die-ampel-verwechselt-gemeinsinn-mit-g ehorsam-ld.1713639). 14

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den Respekt vor anderen Meinungen vermissen lassen, indem man demonstrativ nicht zuhört, sondern anfängt Akten zu lesen, mit dem Nachbarn zu tuscheln, etc. Zudem sind auch in Deutschland Polarisierungstendenzen im Verhältnis zur AFD und allgemein am veränderten Gebrauch der Begriffe »rechts« und »links« erkennbar. Diese werden nicht mehr wie noch vor 40 Jahren wertneutral für die progressiven Anhänger der Sozialdemokraten und linker Gruppie­ rungen auf der einen, der CDU und anderer konservativer Gruppie­ rungen auf der anderen Seite verwendet. Das Wort »rechts« hatte auch schon vor der zunehmenden Radikalisierung der AFD zunehmend die Bedeutung von »rechtsradikal« oder »rechtsextrem« angenommen. Es stand in den Augen von vielen für eine politische Haltung, die nicht mehr als legitimer Gegner im politischen Wettstreit betrachtet werden durfte, sondern die es eigentlich im demokratischen Diskurs nicht geben sollte. Solche Entwicklungen sind für die liberale Demokratie gefähr­ licher als Bedrohungen von außen. Sie entspringen einem grundle­ genden Problem liberaler Demokratien: dem Umgang der Bürger mit Interessen- und Wertkonflikten. Konflikte ergeben sich aus unterschiedlichen Interessen sozialer Gruppen, verschiedenen Vor­ stellungen von der richtigen Strategie zur Lösung gesellschaftlicher Probleme, aber auch aus der unterschiedlichen Gewichtung und Interpretation grundlegender demokratischer Werte wie Freiheit und Gleichheit. Sie sind nur auf rationale Weise zu führen, wenn die vertretenen Meinungen mit Blick auf ihre Konsequenzen, ihre Vorteile und Nachteile für verschiedene gesellschaftliche Gruppen, ihre Auswirkungen und möglichen Nebenwirkungen differenziert befragt werden können. Gegenwärtig wird jedoch eine zunehmende Moralisierung der politischen Debatten beklagt, die solche Auseinan­ dersetzungen erstickt.17 Wenn moralische Diffamierung gegen den politischen Gegner eingesetzt wird, ist dies in der Regel mit der Unter­ stellung verbunden, der moralische Sachverhalt sei eindeutig und Widerspruch sei ein Versuch, sich hier herauszureden. Unabhängig von der sachlichen Plausibilität der jeweils angegebenen Gründe wird damit ein besonderer Druck erzeugt, sich ohne zu genaues Nachfragen der guten Sache gegen die böse anzuschließen. Dabei bedient man 17 Schon vor Jahrzehnten diagnostizierte der Soziologe Niklas Luhmann eine gera­ dezu epidemische Ausbreitung der moralischen Kommunikation. Vgl. Luhmann, Niklas (2008), Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt (Suhrkamp), S. 175.

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sich oft der Dehnung bestimmter »dichter« moralischer Begriffe als Kampfmittel in der Auseinandersetzung, um die Gegenseite zu diffa­ mieren und einzuschüchtern.18 Unter dichten Begriffen versteht man in den Geisteswissenschaften Begriffe, die beschreibende Elemente mit wertenden (gut/böse) verbinden. Ein solcher dichter Begriff wäre etwa »arrogant«. Er hat eine beschreibende Komponente, die arrogan­ tes Verhalten von anderem unterscheidet, und eine wertende: wer jemanden als arrogant bezeichnet, fällt auch ein negatives Werturteil. Einige dichte Begriffe wie Rassismus oder Antisemitismus stehen für eine unter keinen Umständen akzeptable Haltung. Wer die Position des Gegners mit einem solchen dichten Begriff klassifiziert, der ein Maximum an Unanständigkeit suggeriert, unterstellt ihr moralische Illegitimität und appelliert implizit an alle anständigen Menschen, diese Position nicht einmal als Debattenbeitrag zuzulassen. Mitun­ ter werden diese Wertungen durch Begriffe verschleiert, die einem medizinischen Bereich entstammen, wie der Begriff Phobie (islamo­ phobisch, transphobisch, etc.). Er bezieht sich eigentlich auf eine psychische Erkrankung. Wer ihn zur Bezeichnung von Meinungs­ äußerungen verwendet, unterstellt der anderen Seite also indirekt Irrationalität, woraus folgt, dass es überflüssig ist, sich mit dem sachlichen Gehalt der Meinung überhaupt auseinanderzusetzen. In seinem Gebrauch steht der Begriff »Phobie« jedoch nicht für eine unüberwindliche Ängstlichkeit, sondern ist längst zu einem Pauschal­ begriff für moralisch verwerfliche Kritik an Minderheiten mutiert. Wer in der Kommunikation über Interessenkonflikte oder über die beste Strategie zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme solche Begriffe einsetzt, suggeriert, es ginge um eine Entscheidung zwischen dem moralisch Ehrenwerten und dem moralisch Verachtenswerten, zwischen gut und böse.19 Das führt dazu, dass sich keine nüchterne Debatte mit Blick auf die Analyse des Problems und die Ziele und Strategien seiner Bewältigung entwickeln kann, weil der Ton durch die Empörung über angeblich moralisch verwerfliche persönliche Haltun­ gen bestimmt wird. Häufig verliefen Debatten über Corona-Maßnah­ men zu Beginn der Pandemie in diesen Bahnen: So wurden Versuche, 18 Vgl. hierzu auch Döring, Sabine (2021), »Epistemische Gerechtigkeit und episte­ mische Offenheit – eine Versöhnung«, in: Wissenschaftsfreiheit im Konflikt, Elif Özmen (Hg.), Berlin (Metzler), S. 61 ff. 19 Vgl. auch Mouffe, Chantal (2007), Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt (Suhrkamp), S. 98 f.

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auch die gesundheitlichen und sozialen Nachteile von Maßnahmen in den Blick zu nehmen und gegen die erhofften Sicherheitsvorteile von Lockdowns und anderen einschränkenden Maßnahmen abzuwägen, nicht selten mit dem »Argument« moralisch scharf verurteilt, wer dergleichen vorschlüge, würde Tote in Kauf nehmen und habe keine Achtung vor dem Leben.20 Die moralische Diffamierung anderer Meinungen erweist sich oft als eine sehr erfolgreiche Strategie zur Durchsetzung eigener Inter­ essen. Wenn Konflikte mit moralischen Waffen ausgetragen werden, kann jedoch nicht nur die Gegnerin, sondern auch die politische Gemeinschaft erheblichen Schaden nehmen. Hat man die Gegnerin als unmoralisch (rassistisch, sexistisch, etc.) gebrandmarkt, dann wird es schwierig, sie gleichzeitig als eine Kollegin wahrzunehmen, von der man lernen kann und mit der man bei allen Differenzen etwas gemeinsam hat, auch wenn man ihr nicht zustimmt. Und da ihre Ehre und Integrität in Zweifel gezogen wurde, wird dies umgekehrt für sie noch schwieriger sein. Der Soziologe Luhmann warnte daher schon vor Jahrzehnten vor der Moralisierung der Politik. Sollen wir es weiter hinnehmen, fragte er, »dass sich Politiker verbalmoralisch bekämpfen«, obwohl wir sie gar nicht unter Gesichtspunkten der Moral gewählt haben?21 Sollte moralische Rhetorik also ganz aus der Politik verbannt werden? Es ist nicht die Orientierung an moralischen Werten, son­ dern das Moralisieren im Gestus der moralischen Gewissheit, und die mangelnde Bereitschaft zuzuhören, die sich schädlich auf die Debattenkultur auswirkt. Die beste Alternative zum rücksichtslosen Einsatz moralischer Rhetorik wäre nicht eine Diskussionsform, in der es explizit nur um Macht und Interessen ginge. Das Problem des Missbrauchs moralischer Rhetorik ließe sich daher auch nicht durch eine allgemeine Ächtung moralischer Kommu­ nikation in der Politik lösen, ohne das Baby mit dem Bade auszuschüt­ ten: Auch abgesehen davon, dass ein Verbot moralischer Rhetorik im Politischen schwerlich realisierbar wäre, kann eine Reduktion der Das gilt auch für Diskussionen unter Wissenschaftlern und in der Politikberatung. Dem Bericht der Sachverständigen zufolge wurden auch Wissenschaftler, die alter­ native Lösungsideen und Denkansätze vorschlugen, nicht selten wissenschaftlich aus­ gegrenzt. Vgl. hierzu Hoven, Elisa (2022), »Der Staat entzieht sich der Justiz«, in: Welt, 5. Juli 2022 (https://www.welt.de/kultur/plus239715689/In-der-Evaluation sfalle-Juristin-Elisa-Hoven-zum-Sachverstaendigenrat.html). 21 Luhmann (2008), S. 266. 20

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öffentlichen politischen Diskussion auf die emotionsfreie Erörterung von Fragen der Verwaltung und des Interessenausgleichs in einer Demokratie, die diesen Namen verdient, auch nicht wünschenswert sein. Ihre Dynamik speist sich nicht zuletzt aus den Wünschen und Hoffnungen, aber auch den Unzufriedenheiten, die ihre Bürger ins­ besondere mit den ethischen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit verbinden. Sie teilen mit ihren jeweiligen politischen Gegnerinnen die Bindung an die liberalen Prinzipien der Gleichheit und Freiheit, unter­ scheiden und bekämpfen sich jedoch, wenn es um die Frage geht, was diese Prinzipien von uns verlangen und welche politischen Maßnah­ men hierfür nötig sind. Dem von Luhmann kritisierten moralischen »Überengagement der Beteiligten« entspringen nicht nur Konflikte, sondern auch die Bereitschaft, die Werte der Demokratie gegen ihre Bedrohungen zu verteidigen. Ganz ohne moralische Kommunikation und moralisches Engagement könnte eine demokratische Kultur schwerlich am Leben erhalten werden.

3. Der emotionale Faktor in der politischen Debatte Wenn es nicht sinnvoll ist, Politik von Moral abzukoppeln, stellt sich die Frage, ob wir stattdessen versuchen sollten, die Gefühle aus der politischen Debatte herauszuhalten. Durch die »Frankfurter Schule« hat sich in Deutschland die Vorstellung verbreitet, dass eine politische Diskussion eigentlich eine rein rationale, argumentative Auseinandersetzung sein sollte, in der sich der »zwanglose Zwang des besseren Arguments« (Habermas) durchsetzen und so eine Eini­ gung herbeiführen kann. Gegen diese Vorstellung spricht jedoch nicht nur ihre Realitätsferne. Mit Blick auf die Funktion politischer Diskussionen in einer Demokratie ist das Ideal der rein rationalen Debatte auch konzeptionell verfehlt, aus mehreren Gründen. Erstens kommt es in der demokratischen Auseinandersetzung nicht darauf an, einen Konsens zu erzielen. Die zentrale Herausforderung besteht vielmehr darin, die Meinungsverschiedenheiten so auszutragen, dass alle davon lernen können und aus Gegnerschaften nicht zerstöreri­ sche Feindschaften werden. Zweitens ist der Maßstab argumentativer Rationalität politisch gefährlich, weil er dazu benutzt werden kann, die Gegner mit dem Argument aus der Diskussion auszuschließen, sie erfüllten nicht die minimalen Standards der Rationalität. Dann

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scheint »repressive Toleranz« legitim.22 Und drittens sind Emotionen nicht nur Störenfriede rationaler Argumentation. Sie übernehmen auch eine wichtige motivierende Rolle in der Politik. Letztere Behauptung bedarf der Begründung. Wenn Sie noch nie mit der Schwierigkeit zu kämpfen hatten, die Mitglieder einer Bürgerinitiative oder einer Partei langfristig zu motivieren, wird es Ihnen vielleicht nicht unmittelbar einleuchten, dass Gefühle in der Politik etwas zu suchen haben. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie schlagen die Zeitung auf oder schalten den Fernseher an und nichts an den Nachrichten aus der Politik ärgert oder freut sie. Sie haben den Eindruck, die Geschäfte des Landes werden im Großen und Ganzen vernünftig gemanagt, von Spezialisten, die sich vermutlich besser auskennen als Sie. Es gibt keinen Grund, sich über irgendetwas aufzuregen. Stellen Sie sich hingegen vor, Sie hörten, dass sich in Ihrer Partei, Ihrer Bürgerinitiative oder Ihrem Netzwerk eine Initiative von Personen gebildet hat, an deren Urteilskraft sie zweifeln, die Sie für gefährliche Ideologen halten, bei denen Sie vermuten, dass sie in ihre eigene Tasche arbeiten, oder die einfach Ansichten vertreten, die den Ihren sehr fern sind. Sie geraten in Aufregung, der Blutdruck steigt und Sie nehmen Kontakt zu Personen auf, die Sie politisch schätzen, um sich über die Lage zu verständigen. Das politische Engagement neigt hier stets zum (von Luhmann bespöttelten) emotionalen »Über­ engagement«. Die Politologin Chantal Mouffe hält es für unvermeidlich, dass Menschen, die sich für Politik interessieren, auch Gefühle entwickeln, die mit Abgrenzung und Identifikation verbunden sind. Das hat zweifellos negative Auswirkungen; oft hindern uns solche Gefühle an klarem, unparteiischem Denken. Ganz ohne diesen emotionalen Faktor – etwa aus reinem kantischen Pflichtbewusstsein – könnten wir aber auch schwerlich ein Interesse an politischen Themen entwi­ ckeln und aufrechterhalten. Das gilt nicht nur für Mitglieder von Parteien und die vielen Bürger, die es sich zur Gewohnheit gemacht haben, stets für eine bestimmte Partei zu stimmen. Die meisten kennen eine oder mehrere Parteien, die sie »auf keinen Fall, niemals« wählen würden. Und wenn man von der »eigenen« Partei enttäuscht ist, kann auch die bloße Stimmabgabe zu einer hochemotionalen Angelegenheit des Ringens mit sich selbst werden. Vgl. hierzu Marcuse, Herbert (1968), »Repressive Toleranz«, in: Kritik der reinen Toleranz, Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse (Hg.), Frankfurt (Suhrkamp), S. 93–128, S. 117.

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Interessierte Bürgerinnen, die sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen, tun dies nicht aus der Motivation von Verwaltungsbeam­ ten, die ihre (bezahlte) Pflicht tun. Die politischen Meinungen, die sie entwickeln, sind meist auch mit einer Vorstellung von ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer politischen und moralischen Identität verbun­ den. Bei der Wahl der Partei, mit der man sich mehr oder weniger identifiziert, schwingt gewöhnlich auch eine gewisse Vorstellung mit, wer man selbst sein will – eine Vorstellung, die das eigene Selbst aufwertet.23 Indem wir eine »fortschrittliche« oder »konservative« Partei wählen, entwickeln wir ein Bild unserer selbst als Menschen, die sich für den moralischen Fortschritt einsetzen oder umgekehrt etwas dazu beitragen, wichtige Werte und Institutionen unserer Kultur gegen die Bedrohung durch spinnerte Weltverbesserer zu beschützen. Wir haben das Gefühl, dass wir etwas für das große Ganze leisten, nicht nur für unsere privaten Interessen. Diese Identifikation mit einem Projekt, das weit über die Organisation des individuellen Lebens hinausragt, macht stolz. Die Selbstaufwertung durch Identifikation ist aber auch mit einer Abgrenzung gegen andere Positionen verbunden: gegen das, was man nicht ist (rechts, links, etc.), nicht sein will, nicht glaubt und nicht für gut und richtig hält. Ohne Zweifel befördert dies aggressive Emotionen. Daraus kann politische Feindschaft entstehen, wenn diese nicht durch eine gepflegte Debattenkultur verhindert wird. Das Abgrenzungsbedürfnis und der Hang zum Wettstreit selbst erzeugen jedoch noch keine Feindschaft. Wie der Sport und alle anderen Formen des Wettstreits zeigen, die aggressive Emotionen in Energie verwandeln, ist eine Gegnerschaft ohne Verachtung und Hass, eine »freundschaftliche Feindschaft«, durchaus möglich. Sie kann sich jedoch nur in einer Streitkultur entwickeln, in der – wie beim Sport – gewisse Regeln gelten und gewisse Tugenden gepflegt werden. Daher bedarf der politische Diskurs weder des Verzichts auf Moral, noch der Ausgrenzung von Emotionen, aber einer Zähmung der moralischen Ansprüche und der emotionalisierten moralischen Rhetorik. In dem Maße, in dem die politischen Ziele, Visionen der Gerechtigkeit oder religiösen Konzepten untergeordnet sind, die unbedingte Ansprüche stellen, wird politische Gegnerschaft zwangsläufig in moralische Feindschaft umkippen. 23

Vgl. Mouffe (2007), S. 36.

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4. Gefühlte Redefreiheit und demokratische Meinungsbildungsprozesse Ausgehend von der Beobachtung, dass politische Äußerungen auch eine emotionale und aversive Komponente haben, möchte ich nun auf die Unterscheidung zwischen Meinungsfreiheit und gefühlter Redefreiheit (Parrhesia) zurückkommen und nach der Bedeutung der gefühlten Redefreiheit für die Demokratie fragen. Die Aufgabe, die gefühlte Redefreiheit zu erhalten, kann nicht der Staat übernehmen, sondern nur wir alle – die Gesellschaftsmitglieder insgesamt. Wir müssen uns daher darüber klar werden, welchen Wert die gefühlte Redefreiheit für die demokratische Kultur und die demokratischen Institutionen hat. Spielt es überhaupt eine Rolle, wie frei sich die Menschen fühlen, ihre Meinung zu äußern, solange sie vor staatlichen Eingriffen geschützt sind? Der Wert der gefühlten Redefreiheit lässt sich nicht auf ihre poli­ tische Funktion reduzieren. Wie Hannah Arendt in ihrem Hauptwerk Vita Activa anschaulich am Beispiel der griechischen Polis beschreibt, hat die gefühlte Freiheit, sich öffentlich äußern zu können, für die einzelne Person eine existenzielle Bedeutung. Wenn Menschen sich zu Fragen äußern, die alle angehen, überschreiten sie die engen Grenzen ihres Privatlebens und treten als Personen für andere in Erscheinung.24 Die aktive Teilnahme am öffentlichen Leben verleiht ihrem Selbst- und Weltverhältnis eine Qualität, die durch nichts anderes ersetzt werden kann. Im Folgenden möchte ich mich jedoch auf die Frage beschrän­ ken, warum die gefühlte Freiheit, öffentlich auch Unpopuläres und Ärgerliches aussprechen zu können, eine Grundvoraussetzung der Demokratie ist. Es sind zwei verschiedene Gründe. Der erste betrifft die Teilnahme an den politischen Meinungsbil­ dungsprozessen, die eine Demokratie ausmacht. Wie Robert Dahl in seinem Klassiker Democracy and its Critics über die Demokratie ausführt, kann sich ein politisches System nur in dem Maße eine Demokratie nennen, in dem die Bürger auch die Möglichkeit haben, sich nicht nur der Form nach an den politischen Verständigungs­

24

Vgl. Arendt, Hannah (1981), Vita Activa, München (Piper), S. 221.

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prozessen zu beteiligen, aus denen die politischen Entscheidungen hervorgehen. Er bezeichnet dies als wirksame Beteiligung.25 In der Form dieser Beteiligung unterscheiden sich verschiedene Typen von Demokratien. Während sich die Bürger in der attischen Demokratie direkt an der Volksversammlung beteiligten, in der die wichtigsten politischen Entscheidungen getroffen wurden, und zudem in weiteren politischen Gremien und Gerichten tätig waren, werden die Entscheidungen in repräsentativen Demokratien weitge­ hend durch gewählte Repräsentanten getroffen. Betrachtet man die gegenwärtigen Klagen über politische Apathie und mangelnde Mit­ sprachemöglichkeit aus der unzeitgemäßen Perspektive der Antike, dann drängt sich der Eindruck auf, dass es repräsentativen Demokra­ tien am aktiven Eingebundensein der Bürger in politische Prozesse fehlt. Weniger klar ist allerdings, in welchem Masse und in welcher Form ein stärkeres Eingebundensein anzustreben wäre. Wollen wir das überhaupt? Schon im 18. Jahrhundert hat der Philosoph und Politiker Benjamin Constant die Vermutung geäußert, dass moderne Menschen unter Freiheit vor allem den »friedlichen Genuß der per­ sönlichen Unabhängigkeit« verstehen,26 die uns auch einen Freiraum für die Entwicklung je privater Meinungen verschafft. Dieser private Freiraum, der nur begrenzt mit einer öffentlichen Tätigkeit vereinbar ist, sei für uns im Vergleich zur Antike enorm wichtig geworden. Aber auch wenn wir dies berücksichtigen, stellt sich die Frage, wieviel Partizipation notwendig ist, damit eine repräsentative Demokratie noch zu Recht den Namen Volksherrschaft tragen kann. Welche Formen der effektiven Beteiligung sollten den Bürgern zur Verfügung stehen, wenn sie es wünschen? Volksherrschaft kann nicht nur bedeuten, dass jeder Bürger alle paar Jahre einen Wahlzettel ankreuzen darf. Eine solche Prozedur wird auch in vielen undemokratischen Staaten veranstaltet, die nur Unterstützer bzw. Mitglieder aus den engsten Machtzirkeln der Partei oder der religiösen Organisation zur Wahl stellen. Eine Demokratie, welche den Namen verdient, verlangt Parteienvielfalt. Demokratische Mitbestimmung muss aber darüberhinausgehend die Möglichkeit einschließen, die eigene Stimme in den Prozess der politischen Entscheidungsfindung einzubringen. Eine jede Bürgerin muss eine 25 Vgl. Dahl, Robert A. (1989), Democracy and its Critics, New Haven (Yale University Press), S. 109. 26 Constant, Benjamin (1946), Über die Freiheit, Basel (Schwabe), S. 39.

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faire Chance haben, ihre Einstellungen, Meinungen, Fragen, Ängste, Vorurteile und Wünsche öffentlich zu äußern. Warum? In einer liberalen Demokratie gilt der Grundsatz, dass eine erwachsene Person selbst am besten weiß, was ihre wohlverstandenen Interessen sind. Natürlich wird das im Einzelfall nicht immer zutreffen – vielleicht sogar eher selten. Eine jede erwachsene Person hat jedoch das Recht, als mündig behandelt zu werden. Und das bedeutet, dass keine andere Person oder Gruppe beanspruchen kann, ihre Interessen besser zu kennen als sie selbst, auch nicht die Regierenden.27 In der sozialen Wirklichkeit ist die Möglichkeit, durch eigene Stellungnahmen den politischen Entscheidungsprozess zu beeinflus­ sen, allerdings allein schon aufgrund des unterschiedlichen Zugangs zu Ressourcen sehr ungleich verteilt. Menschen mit geringem Ein­ kommen haben sehr viel weniger Einfluss auf den politischen Prozess als Personen oder Unternehmen, die aufgrund ihrer Finanzstärke oder ihrer wirtschaftlichen Relevanz Einfluss auf die Parteien und Regierungsentscheidungen nehmen können. Wegen dieser durch das Wirtschaftssystem bedingten mangelnden Chancengleichheit, die sich in öffentlichen Diskussionen niederschlägt und damit auch Einfluss auf politische Entscheidungen hat, kann nur von mehr oder weniger demokratischen Verhältnissen die Rede sein. Jedoch könnte ein System sich nicht mehr als demokratisch bezeichnen, in dem die Bürger effektiv daran gehindert würden, sich in Form von gewaltfreiem Protest, Argumenten oder Einwänden zu Wort zu melden. Das betrifft nicht nur staatliche Zwangsmaßnahmen, sondern auch Formen der Einschüchterung und Gewalt, die von sozialen Gruppen gegen andere ausgeübt werden. Wie demokratisch eine Gesellschaft ist, zeigt sich auch in der Bereitschaft, Menschen Gehör zu schenken, die in irgendwelchen Hinsichten anders sind als man selbst. Freilich hat niemand ein Recht darauf, dass andere das in der Öffentlichkeit vertretene eigene Anliegen aufgreifen oder ihm gar kritiklos beipflichten – niemand kann genötigt werden, sich mit jedem Unsinn zu befassen. Wird einer Person aber allein deswegen nicht zugehört oder sie effektiv zum Schweigen gebracht, weil sie eine andere Hautfarbe oder Religion hat oder einer mit Vorurteilen und Misstrauen betrachteten kulturellen, politischen oder sozialen

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Zu diesem Grundsatz vgl. Dahl (1989), S. 98 ff.

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Gruppe angehört, dann wird ihr der Zugang zum öffentlichen Diskurs mehr oder weniger verweigert.28

5. Die freie Debatte als Voraussetzung kompetenter Meinungsbildung Die gefühlte Redefreiheit ist auch noch aus einem zweiten Grund als dem der Partizipation unverzichtbar für die Demokratie: Sie ist notwendig für den Erwerb der für eine demokratische Beteiligung erforderlichen Kompetenzen und der Meinungsbildung. Demokra­ tien sind darauf angewiesen, dass ihre Bürger die innen- und außen­ politischen Probleme verstehen, hinreichend differenzieren können und auch andere soziale Gruppen im Blick haben als ihre eigene. Dazu sind sie auf eine Debattenkultur angewiesen, die es den Einzelnen ermöglicht, nicht nur Informationen zu erhalten und auszutauschen, sondern auch ihre Meinungen durch die Konfrontation mit anderen Meinungen zu hinterfragen und zu revidieren. Dass politische Kom­ petenz einer freien Debatte bedarf, war ein zentrales Thema der Aufklärungsphilosophie. Schon Kant hat in seinem berühmten Auf­ satz Was ist Aufklärung? darauf hingewiesen, dass die menschliche Vernunft nicht monologisch funktioniert, sondern auf den freien Austausch mit anderen angewiesen ist. Diese Einsicht wird auch durch die experimentelle Psychologie und Kognitionswissenschaft bestätigt. Wie die Kognitionswissenschaftler Mercier und Sperber argumen­ tieren, erfüllen die Fähigkeiten, die wir unter dem Titel Vernunft zusammenfassen, vor allem soziale Funktionen.29 Sie entwickeln sich nur im sozialen Raum und bedürfen einer agonalen Form der Debatte. Experimente zeigen, dass die menschliche Fähigkeit, die wir als Rationalität bezeichnen – die Fähigkeit, vorhandene Informationen zu prüfen und Argumente für und wider bestimmte Annahmen und Handlungsoptionen abzuwägen – uns nicht schon als einsamen Denkern zur Verfügung steht. Der Einzelne denkt unabhängig vom Grad seiner Intelligenz eher faul und voreingenommen.30 Er hält 28 Zu dieser »epistemischen Ungerechtigkeit« vgl. Fricker, Miranda (2007), Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing, Oxford (Oxford University Press). 29 Vgl. Mercier, Hugo & Sperber, Dan (2017), The Enigma of Reason, Cambridge (Harvard University Press), S. 331. 30 Vgl. ebd. (2017), S. 218.

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nach Gründen Ausschau, die seine Meinungen bestätigen, anstatt nach dem, was gegen sie sprechen könnte. Die auffälligen Denkfeh­ ler auch hochintelligenter Menschen zeigen, dass auch Genies ihre Vorurteile nicht kritischer hinterfragen als andere, sondern eher nach Bestätigungen für das suchen, was sie ohnehin schon denken. Unsere Fähigkeit, gegebene Informationen auszuwerten und Argumente abzuwägen, wird viel weniger dazu eingesetzt, um uns im Vorfeld von Entscheidungen zu leiten, als zur nachträglichen Rechtfertigung unse­ res Handelns gegenüber anderen. Bei solchen Rechtfertigungen geht es eher darum, unseren Ruf zu wahren, damit andere uns als rational, kompetent, pflichtgetreu und vertrauenswürdig wahrnehmen. Diese kognitive Blindheit erstreckt sich jedoch nur auf unsere eigenen Vorurteile. Bei anderen Personen hingegen können wir durchaus zwischen guten und schlechten Gründen, guten und unzuverlässigen Informationen unterscheiden.31 Hier sind wir unvoreingenommen und durchaus anspruchsvoll: »Wir sind ebenso gut darin, Vorurteile bei anderen zu erkennen, wie wir schlecht darin sind, unsere eigenen zu erkennen.«32 Die Fähigkeiten, die wir gewohnt sind unserer Vernunft zuzu­ schreiben, funktionieren nur in sozialen Kontexten, die freie, auch agonale Debatten ermutigen. Fehlt diese Möglichkeit (oder die eigene Neigung dazu), dann neigen einsame Genies nicht weniger als ihre geistig beschränkten Mitmenschen zum Festhalten an Fehleinschät­ zungen. In Kontexten, in denen frei diskutiert werden kann, verbes­ sert sich hingegen bei Nicht-Experten ebenso wie bei Experten die gemeinsame Kompetenz. Das gilt nicht weniger für den Dorfrat in einer traditionellen afrikanischen Gemeinschaft als für eine Erörte­ rung unter Wissenschaftlern in einem modernen Staat. Auch wenn diese Einsichten erst seit kurzem mit den Mitteln der Experimentalpsychologie nachgewiesen werden konnten, sind sie seit langem als Erfahrungstatsachen bekannt. Schon der berühmte Libe­ rale des 19. Jahrhunderts John Stuart Mill und seine Koautorin Harriet Taylor Mill wiesen in ihrer Verteidigung der Redefreiheit darauf hin, dass wir nur in der Auseinandersetzung mit Andersdenkenden die blinden Flecken in unseren eigenen ungeprüften Vorstellungen erkennen und überwinden können. Sie vertraten die Auffassung, dass wir die Konfrontation mit den Meinungen von Menschen, die andere 31 32

Vgl. ebd. S. 235. Ebd. S. 330.

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Dinge für wichtig halten, dieselben Vorgänge anders beschreiben und aus dieser Perspektive unsere Meinungen und Wertvorstellungen hinterfragen, nicht als eine Privatangelegenheit betrachten sollten, sondern als ein zu schützendes öffentliches Gut: »[Das] eigentliche Übel, wenn man eine Meinung zum Schweigen bringt, besteht darin, dass es ein Raub an der Gemeinschaft aller ist, an der künftigen und an der, die jetzt lebt, und zwar noch mehr an den Menschen, die von dieser Meinung abweichen, als an denen, die sich zu ihr bekennen.«33

Der Einsicht, dass wir die Äußerungen Andersdenkender als einen Gewinn für uns selbst und die Allgemeinheit betrachten sollten, steht allerdings die allzu menschliche Neigung entgegen, sich über Wider­ spruch und Wertdifferenzen zu ärgern. Wird diese Neigung durch das emotionale Überengagement verstärkt, das sich in moralisierten politischen Debatten schnell entwickelt, dann werden Meinungen in dem Maße, in dem sie den unsrigen widersprechen, für schlecht, falsch und gefährlich gehalten. Wer bestimmte Auffassungen als menschenfeindlich, rassistisch, sexistisch etc. etikettiert, bringt Men­ schen wirksam zum Schweigen. Daher bezeichnen Mill & Mill es als das »größte Unrecht«, das man in der Polemik begehen kann, »die Anhänger der anderen Ansicht als schlechte und unmoralische Menschen« hinzustellen.34 Warum aber sollte es die Freiheit geben, auch Vorstellungen, die uns zutiefst unmoralisch scheinen, zu bekennen und öffentlich zu diskutieren? Mill & Mill entwickeln eine Reihe von Argumenten dafür. Das wohl naheliegendste lautet: Niemand ist unfehlbar. Daher kann sich auch niemand das Recht herausnehmen, eine »Frage für die ganze Menschheit zu entscheiden und jede andere Person von der Möglichkeit des Urteils auszuschließen.«35 Wie sehr man sich in seinen moralischen Gewißheiten irren kann, zeigt jeder Rückblick in die Geschichte. In seiner Biographie hat Mark Twain das Selbstver­ ständnis der Menschen während seiner Kindheit an einem kleinen Ort in den Südstaaten der USA geschildert, die er in seinen Romanen Huckleberry Finn und Tom Sawyer wiederaufleben ließ. Wer die Idee der natürlichen Höherstellung der weißen Rasse über die schwarze Mill, John Stuart (2009), Über Freiheit, Hamburg (Meiner), S. 25. (Obgleich nur John Stuart Mill als Autor angeführt wird, waren beide beteiligt.). 34 Ebd. S. 77. 35 Ebd. S. 26. 33

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in Frage gestellt und vorgeschlagen hätte, die Sklaverei aufzuheben, hätte starke Zweifel an seiner Urteilskraft und Zurechnungsfähigkeit ausgelöst. Wer gar behauptet hätte, die Sklaverei sei ein Verbrechen, wäre auf heftige moralische Entrüstung gestoßen, insbesondere bei denjenigen, die sich Mühe gaben, gute Menschen zu sein und auch ihre Sklaven gut zu behandeln. In Europa ist es noch nicht so lange her, dass die meisten Menschen die Idee eines Frauenwahlrechts für ebenso abwegig hielten und diejenigen, die es vertraten, für verantwortungslos. Wenn Menschen Dinge, die den anderen zu dieser Zeit evident erscheinen, in Frage stellen, werden sie als unmoralisch oder verrückt betrachtet. Aus der Tatsache, dass sogar so verrückt klin­ gende Ideen wie die, dass Frauen und Schwarze auch nicht dümmer oder verantwortungsunfähiger sind als weisse Männer, nach einem gewissen Zeitraum Common Sense werden können, folgt freilich nicht, dass umgekehrt jede verrückt klingende Idee sich in the long run als eine gute Idee erweisen wird. Was nach einer Schnapsidee klingt, mag auch eine sein, aber wir sollten andere nicht daran hindern, darin nach einem Körnchen Wahrheit zu suchen. Aber wie ist es mit feindseliger Propaganda, die oft zur Vorberei­ tung von Gewalttaten eingesetzt wird: wenn etwa die Vertreibung der Juden oder der totale Krieg gefordert wird, oder Gruppen (wie die Tutsi in Ruanda vor den Massakern) als Kakerlaken bezeichnet werden, die man zertreten sollte? Auch Mill & Mill plädieren nicht für eine schrankenlose Redefreiheit. Die Meinungsfreiheit erstreckt sich nicht auf Aufforderungen zu Gewalttaten. Das gilt auch für Reden, in denen nicht wörtlich zur Gewalt aufgerufen wird, von denen in der Situation jedoch eine unmittelbare Gefahr für andere ausgeht. Mill & Mill erläutern dies am Beispiel einer politischen Kritik am Kapitalismus und seinen Vertretern: »Die Ansicht zum Beispiel, daß Kornhändler Ausbeuter der Armen seien oder daß Eigentum Diebstahl sei, sollte ungestraft durch die Presse verbreitet werden dürfen; aber es muß gerechterweise bestraft werden, wenn sie mündlich einem erregten Volkshaufen vorgetragen wird, der sich vor dem Haus eines Korn­ händlers zusammenrottet […] Soweit muß die individuelle Freiheit begrenzt werden, daß niemand anderen Schaden zufügen darf.«36 In solchen Fällen, wo unmittelbar Menschen gefährdet sind, kann eine Einschränkung der Redefreiheit durchaus geboten sein. Hier kommt es auf den Kontext an. 36

Ebd. S. 79.

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Wie ist es mit offenkundig falschen Behauptungen? Wenn kein Schaden zu befürchten ist, gibt es nach Mill & Mill keinen guten Grund, eine Rede allein deswegen zu unterbinden, weil man die Äußerung für falsch hält. Die beste Reaktion auf Falschaussagen besteht darin, sie zu korrigieren. Mill und Mill weisen darauf hin, dass sie aber auch erkenntnisfördernd sein können; etwa, wenn man nach dem Körnchen Wahrheit sucht, das auch in Meinungen enthalten ist, die uns abwegig vorkommen, uns ärgern und aufregen. Das gilt insbesondere im Politischen, wo eine Person, die eine Maßnahme befürwortet, die ihren Interessen entspringt, in der Regel nie alle Neben- und Folgewirkungen dieser Maßnahme überblickt.37 Mit Menschen zu diskutieren, die wirklich anders denken, ist freilich emotional und intellektuell anstrengend. Es ist eine andere Herausforderung als sich mit denen auszutauschen, denen man nichts erklären muss, weil sie ohnehin ähnlich denken. Wir weichen daher solchen anstrengenden Debatten lieber aus und bevorzugen es, mit Gleichgesinnten über andere zu reden. Oft werden solche Ausweich­ manöver damit begründet, dass Diskussionen mit Menschen, die ganz andere Meinungen vertreten, »nichts bringen«, weil man sich ohnehin nicht einigen könne. Wer glaubt, dass politische Diskussionen nur dann Sinn ergeben, wenn eine realistische Aussicht auf Einigung besteht, missversteht jedoch Sinn und Zweck solcher Auseinanderset­ zungen. Auch unabhängig vom Erkenntnisgewinn können sie uns erstens helfen, die andere Seite besser zu verstehen. Eine Auseinan­ dersetzung mit ihren persönlichen Erfahrungen kann zweitens dazu führen, dass wir den persönlichen Respekt für den politischen Gegner entwickeln, der für eine demokratische Debattenkultur unverzichtbar ist.38 Die vielleicht wichtigste Aufgabe einer Auseinandersetzung mit Andersdenkenden liegt aber drittens in der Funktion, uns selbst besser zu verstehen – auch wenn dies vielleicht paradox klingt. Denn nur Mill & Mills Einwände gegen die Intoleranz gegenüber falschen Meinungsäuße­ rungen lassen sich allerdings nicht ohne Weiteres auf die Problematik gezielter FakeNews-Kampagnen anwenden. Ihre Argumente beziehen sich auf falsche Meinungs­ äußerungen, nicht auf Fälschungen von Tatsachen oder gar deep fakes und manipulierte Videos, wie sie heute in den sozialen Medien lanciert werden. Vgl. hierzu Sunstein, Cass (2021a), Liars. Falsehoods and Free Speech in an Age of Deception, Oxford (Oxford University Press), S. 53 ff. 38 Vgl. hierzu Kubin, Emily (et.al.) (2021), »Personal experiences bridge moral and political divides better than facts«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, Vol. 118 No. 6, February 9, 2021. 37

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in der Konfrontation mit anderen Meinungen setzen wir uns einem Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck aus, der uns zu einer kritischen Prüfung zwingt. Dabei merken wir nicht selten, dass uns diese Gründe selbst nicht ganz klar sind.39 Meist sind es politisch Andersdenkende, die uns mit unerwünschten Konsequenzen dieser Meinungen kon­ frontieren und uns nötigen herauszufinden, in welchem Maße wir wirklich bereit wären, für diese Konsequenzen Verantwortung zu übernehmen. Daher können wir unsere eigenen Meinungen mitunter erst dann in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen wirklich ver­ stehen, wenn wir sie gegenüber Personen verteidigen müssen, die nicht mit uns übereinstimmen.40 Wo hingegen keine Konfrontation mit anderen Perspektiven stattfindet, etwa unter Bedingungen einer Diktatur, eines extremen sozialen Konformismus oder wenn man sich nur noch in sogenannten Meinungsblasen bewegt, kann es zu dem Phänomen kommen, das Hannah Arendt mit Blick auf Adolf Eich­ mann als die Abwesenheit eigener moralischer und politischer Urteilskraft beschrieben hat: Menschen geben in der Kommunikation nur noch Klischees und Sprachhülsen weiter und versuchen gar nicht mehr, sich dabei etwas Genaueres zu denken. Sie schützen sich durch Stereotypen, Floskeln, standardisierte Ausdrücke und Redewendun­ gen vor der eigenen Auseinandersetzung mit der Realität.41

6. Gruppendenken, Selbstzensur, Selbstverdummung: die Laster der Debattenkultur Der auf einem Theaterstück basierende Filmklassiker Die 12 Geschwo­ renen von Sidney Lumet liefert ein modellhaftes Beispiel eines Ver­ ständigungsprozesses unter Andersdenkenden, in dem die Beteiligten eine individuelle und kollektive Kompetenz entwickeln, die weit über die Kompetenz hinausgeht, über welche die einzelnen Individuen

Vgl. Mill (2009), S. 56. Vgl. hierzu auch Frick, Marie-Luisa (2020), »Streitkompetenz als demokratische Qualität. Oder: Vom Wert des Widerspruchs«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Heft: Freie Rede), Nr. 12–13/2020, S. 28–33, S. 31. 41 Vgl. Arendt, Hannah (2003), »Thinking and Moral Considerations«, in: Responsi­ bility and Judgment, New York (Schocken Books), S. 160. 39

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unabhängig von der Gruppe verfügen.42 Der Film handelt von einer amerikanischen Jury, die über die Schuld eines Mordangeklagten urteilen soll. Die zwölf Geschworenen durchleben dabei einen turbu­ lenten und konfliktreichen Prozess der Wahrheitsfindung. Anfangs sind fast alle aufgrund der von der Staatsanwaltschaft im Prozess vorgeführten Beweislage fest von der Schuld des Angeklagten über­ zeugt. Sie zweifeln auch nicht im Geringsten an ihrer Kompetenz, dies einschätzen zu können. Einige lassen sich nur murrend auf eine erneute Sichtung und Bewertung der einzelnen Indizien ein. Sehr anschaulich wird im ganzen Film auch immer wieder der natür­ liche Widerstand von Menschen gegen die Unbequemlichkeit einer genaueren Überprüfung der eigenen Meinung vorgeführt. Da im Filmnarrativ jede einzelne Person zu den strittigen Fragen spezielle Kompetenzen und Informationen beisteuern kann, die in der Summe ein neues Bild ergeben, kommen sie jedoch schließlich gemeinsam zu einer Einsicht, die keiner von ihnen allein hätte erreichen können. Im Verlauf ihrer heftigen Konfrontationen entwickeln sie nicht nur ein viel genaueres Bild vom Wert der Beweisstücke, sondern werden sich auch ihrer eigenen Voreingenommenheit, ihrer Vorurteile, blinden Flecken und Fehleinschätzungen bewusst. Ein solcher Prozess bedarf jedoch gewisser Voraussetzungen. Diskussionen in Gruppen führen nicht automatisch dazu, dass ver­ streute Informationen zusammengetragen, undurchdachte Meinun­ gen ausbuchstabiert und Vorschläge kritisch überprüft werden.43 Recht häufig passiert es sogar umgekehrt, dass Informationen igno­ riert werden und sich ungeprüfte Meinungen verfestigen. Es kommt allzu häufig vor, dass auch kompetente Personen in Gruppen Annah­ men nicht widersprechen, die sie eigentlich für falsch halten, oder Kompromissen zustimmen, die sie unter anderen Umständen ableh­ nen würden.44 Der scheinbar freie Meinungsaustausch in der Gruppe kann daher unter bestimmten Umständen sogar zu einem Verstärker individueller Voreingenommenheit werden, anstatt diese zu korrigie­ 42 Zu diesem Film als Modell kollektiver Intelligenz auch Landemore, Hélène (2012), »Democratic Reason. The Mechanisms of Collective Intelligence in Politics«, in: Collective Wisdom. Principles and Mechanisms, Hélène Landemore & John Elster (Hg.), Cambridge (Cambridge University Press), S. 258. 43 Eine Auseinandersetzung mit dem Forschungstand findet man in: Sunstein, Cass (2009), Infotopia. Wie viele Köpfe Wissen produzieren, Frankfurt (Suhrkamp), insbes. Kap. 2 und 3. 44 Vgl. ebd. S. 26.

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ren. Dann führt der Austausch in Gruppen dazu, dass die Kompetenz abnimmt, anstatt zu steigen. Der Psychologe Irvin Janis hat dafür den Ausdruck »Groupthink« eingeführt. Ein klassisches Beispiel für fehlgeleitetes »Gruppendenken« stellen die Meinungsbildungsprozesse dar, die in den USA in den zweiten Irakkrieg 2003 mündeten. Sie hatten fatale Folgen für die internationale Sicherheit, denn der Krieg führte zur Auflösung der staatlichen Ordnung im Irak und ermöglichte so die Entwicklung und den Machtaufstieg des sogenannten IS. Er förderte auch nicht die amerikanischen Interessen. Und er war alles andere als unvermeidbar. Daher stellt sich die Frage, wie eine derartig krasse Fehlentscheidung in einem demokratischen Staat mit einer freien Presse und enormen Ressourcen zur Informationsbeschaffung überhaupt möglich ist. Der Krieg wurde mit Einschätzungen begründet, von denen man wusste oder hätte wissen können, dass sie falsch waren: Der Annahme, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen und stelle eine unmittelbare Bedrohung dar. Bis heute ist umstritten, ob diese falschen Annahmen auf eine bewusste Lüge, d. i. auf eine gezielte Verschwörung der Regierung Bush zurückgingen oder ob es sich eher um eine kollektive Selbsttäuschung der Regierungsmit­ glieder handelte.45 Aber auch unabhängig von der Beantwortung dieser Frage wirft der schlecht geplante Krieg die weitere Frage auf, warum die Gespräche unter den Verantwortlichen nicht zu einem realistischeren Bild der Lage führten. Eine mögliche Antwort ist die folgende: Die Mitglieder der Regierung waren im Vorfeld aus ganz unterschiedlichen Motiven und Gründen46 von der Zweckmäßigkeit eines Krieges gegen den Irak überzeugt. Obwohl keiner dieser Gründe von allen geteilt wurde, wurden sie nicht wirklich hinterfragt, weil man sich mit Blick auf das Ziel einig war, den Irak anzugreifen. Statt­ dessen konzentrierte man sich darauf, eine öffentlich vermittelbare Begründung zu entwickeln, um den Krieg der Öffentlichkeit verkau­ fen zu können. Anstatt eine unvoreingenommene Abwägung der Informationen vorzunehmen, die vom Geheimdienst über den Irak vermittelt wurden, beauftragte man den Geheimdienst mit der Suche nach Belegen für eine fortwährende irakische Produktion von Mas­ senvernichtungswaffen. In diesem Zusammenhang wurde auch eine 45 Die These der Selbsttäuschung vertritt Anna Elisabetta Galeotti. Siehe: Galeotti, Anna Elisabetta (2018), Political Self-Deception, Cambridge (CUP), S. 189–233. 46 Zu diesen Gründen vgl. ebd. S. 218.

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Verbindung zwischen Saddam Hussein und dem Terrornetzwerk AlKaida behauptet, das die Terroranschläge von 9/11 ausgeführt hatte. Nach der ursprünglichen Einschätzung des CIA gab es jedoch keine belastbaren Belege für diese Verbindung, noch für eine fort­ gesetzte irakische Produktion von Massenvernichtungswaffen; gege­ bene Informationen waren als gefälscht, nicht aussagekräftig oder unverlässlich eingestuft worden.47 Die von der UNO beauftragten Waffeninspektoren und Antiterrorspezialisten hatten den Behaup­ tungen der US-Regierung widersprochen; u. a. hatte auch der Deut­ sche Geheimdienst auf die Unzuverlässigkeit angeblich verlässlicher Quellen verwiesen. Gleichwohl stützte der Geheimdienstbericht vom Oktober 2002 das, was man von Seiten der Regierung Bush hören wollte, und blendete aus, dass die angeblichen Beweise für die Bedro­ hungslage international stark in Zweifel gezogen wurden. Anschlie­ ßend wurde der Irakkrieg von den Regierungen der USA und Großbri­ tanniens der internationalen Öffentlichkeit gegenüber mit der ständig wachsenden akuten Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen als notwendige präventive Verteidigungsmaßnahme verkündet. Da Saddam Hussein schon einen Angriffskrieg gegen Kuwait geführt und vor dem ersten Irakkrieg auch Massenvernichtungswaffen produziert hatte, klang die Begründung der amerikanischen Regierung für die amerikanische Öffentlichkeit plausibel und wurde auch in der Presse wenig in Zweifel gezogen; eine große Bevölkerungsmehrheit in den USA glaubte den Angaben der Regierung auch noch Jahre nach dem Irakkrieg. Der spätere Untersuchungsbericht des Senats bescheinigte der CIA in der Beurteilung der Lage im Irak und den drohenden Gefahren einer Produktion von Massenvernichtungswaffen ein »Gruppenden­ ken«48 mit fatalen Folgen. »Die meisten der Schlüsselangaben im Geheimdienstbericht von Oktober 2002 waren übertrieben oder zumindest nicht durch die zusammengetragenen Geheimdienster­ kenntnisse gedeckt«, hieß es in dem Bericht des Senats.49 Die Unter­ suchungskommission führte die massive Fehlinformation auf eine selektive Erhebung von Informationen und auf einen spürbaren Druck innerhalb der Gruppe zurück, sich konform zu verhalten und Vgl. ebd. S. 210. Vgl. Sunstein (2009), S. 26. 49 Aus: Der Spiegel, Vernichtendes Senatsurteil »Wir hätten diesen Krieg nicht autorisiert«, 09.07.2004: https://www.spiegel.de/politik/ausland/vernichtendes-s enatsurteil-wir-haetten-diesen-krieg-nicht-autorisiert-a-307968.html. 47

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Kritik zu unterlassen. Informationen von einzelnen Geheimdienst­ mitarbeitern, die der Vorannahme widersprachen, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfüge, wurden nicht verfolgt. Dies habe zur Folge gehabt, dass der Regierung unkorrekte und überzogene Schlüsse vorgelegt worden seien. Im Anschluss an den Bericht wie­ sen sich Regierungs- und Geheimdienstvertreter wechselseitig die Verantwortung für die Falschangaben zu. Solche Beispiele zeigen, dass es auch in den scheinbar unabhän­ gig arbeitenden Institutionen einer liberalen Demokratie keineswegs selbstverständlich ist, dass Fragen, von deren Beantwortung das Wohl der Nation und der internationalen Gemeinschaft abhängt, unpar­ teilich und ohne Rücksicht auf das, was Vorgesetzte hören wollen, untersucht und artikuliert werden. Sie illustrieren, wie vorausset­ zungsreich ein Informations- und Gedankenaustausch ist, in dem sich langfristig eine gut geprüfte und begründete Einschätzung des Sachverhalts gegenüber Vorurteilen, Denkwiderständen und (posi­ tivem oder negativem) Wunschdenken durchsetzt. Hierzu müssen entsprechende institutionelle, kulturelle und individualethische Vor­ aussetzungen geschaffen werden. Freie Debatten benötigen nicht nur gewisse Regeln, die etwa verbieten, die anderen niederzuschreien oder zu diffamieren. Sie bedürfen auch der Pflege gewisser Tugenden als Gegenmittel gegen die Neigung zur Anpassung und Selbstzensur. Mit Blick auf die Hindernisse einer epistemisch produktiven Debattenkul­ tur stellt sich daher die Frage, welche Tugenden in einer Gesellschaft kultiviert werden müssen, damit der Austausch von Informationen und Meinungen nicht zu einem Kompetenzverlust, sondern zu einem Kompetenzzuwachs führt. Der Film Die 12 Geschworenen thematisiert nicht nur anhand der mühsamen Überprüfung der Beweislage eine Reihe von Schwie­ rigkeiten, die hier auftreten können, sondern zeigt auch, welche Individualtugenden kultiviert werden müssen, um die Gefahren des Gruppendenkens zu überwinden. Als die Jury zum ersten Mal zusam­ mentrifft, scheinen alle von der Schuld des Angeklagten überzeugt zu sein. Zur Überprüfung kommt es nur, weil sich dann doch einer der Geschworenen hartnäckig weigert, sich diesem Konsens anzuschlie­ ßen: nicht, weil er von der Unschuld des Angeklagten überzeugt wäre, sondern weil er die Schuld noch nicht für zweifelsfrei bewiesen hält. Sein Widerstand entspringt einem starken Verantwortungsbe­ wusstsein, einem starken Interesse an der Wahrheit, der Bereitschaft, Zweifel zuzulassen und dem Mut, den eigenen Zweifel auch gegen­

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über einer ungnädigen Mehrheit zu artikulieren. Das Filmnarrativ legt nahe, dass es ohne den Nonkonformisten bei der anfänglichen Ansammlung von oberflächlichen Beurteilungen geblieben wäre, die geistiger Bequemlichkeit, einem mangelnden Bewusstsein der eige­ nen Voreingenommenheit, aber auch der Neigung entspringen, sich den anderen anzuschließen. Dass einzelne Nonkonformisten hier einen starken Einfluß aus­ üben können, auch wenn ihre Meinung nicht geteilt wird, bestätigen neuere sozialpsychologische Untersuchungen. Informationen und Bedenken werden in Gruppen oft zurückgehalten, wenn statushohe Mitglieder gewollt oder unabsichtlich Druck auf andere ausüben. Viele schrecken auch schon davor zurück, sich mit Informationen oder Vermutungen zu exponieren, die in eine andere Richtung weisen als die in einer Sitzung zuerst präsentierten Informationen und Einschätzungen. Sie wollen sich dann nicht mit einer Annahme, die von den anderen abgelehnt wird oder sie irritieren könnte, ins soziale Abseits begeben. Selbstzensur wird aber nicht immer aus Angst vor sozialer Ausgrenzung, sondern vielleicht sogar noch häufiger aus Eigeninteresse ausgeübt, z.B. um sich bei Vorgesetzten nicht unbeliebt zu machen. Diese motivationale Gemengelage kann sich jedoch schnell ändern, wenn Einzelne bereit sind, dem vermeintlichen Gruppenkonsens zu widersprechen. Wenn keine Gefahr besteht, als (erste) Störenfriede unangenehm aufzufallen, folgen in der Regel auch andere.50 Aus diesen sozialpsychologischen Gründen führt ein Gruppengespräch nur dann zur Entwicklung von mehr kollektiver Kompetenz, wenn Einzelne den Mut und die Energie aufbringen, »gegen den Strom zu schwimmen«. Auch Störenfriede entwickeln sich jedoch nur in einem kulturel­ len Umfeld, das ihnen bei aller Irritation eine grundsätzliche Wert­ schätzung entgegenbringt. Es stellt sich daher die Frage, welche sozia­ len Einstellungen kultiviert werden müssen, damit sich entsprechende Individualtugenden entwickeln, und welche Risiken damit verbunden sein könnten. Hier möchte ich auf ein unzeitgemäßes Beispiel zurück­ greifen: die Streitkultur in der antiken attischen Demokratie, die paradoxerweise sowohl als Quelle wissenschaftlicher und politischer Blüte gilt als auch als Ursache politischen Niedergangs.

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Vgl. hierzu Sunstein (2009), Kap. 2 und 3.

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7. Die Antike Demokratie: Vorbild oder abschreckendes Beispiel für die Debattenkultur? Die attische Demokratie, die mit kurzen Unterbrechungen durch die 411 und 404/3 etablierten oligarchischen Regimes von der Mitte des 5. Jahrhunderts bis ca 322 v. Chr. bestand, ist das Urbild der Demokratie als Herrschaftsform – nicht nur, weil sie die erste war. Mill & Mill betrachteten die attische Streitkultur als Ur-Modell einer freien politischen Debatte unter Andersdenkenden.51 Für Hannah Arendt war sie der Maßstab des Politischen schlechthin, ein Gegenbild nicht nur zu den totalitären Systemen der ersten Hälfte des zwan­ zigsten Jahrhunderts, sondern auch zu den modernen Bürokratien und Technokratien. Sie beklagte, dass in der Moderne Politik als eine Verwaltung von Staatsangelegenheiten durch Spezialisten miss­ verstanden würde, zu der der gewöhnliche Mensch nichts beitragen kann, mit der Folge, dass die Bürger isoliert und auf eine private Existenz zurückgeworfen werden. Demgegenüber beschrieb sie das Bewusstsein, als Bürger direkt an der gemeinsamen Gestaltung der politischen Welt beteiligt zu ein, als ein öffentliches Glück, das durch kein privates Glück aufgewogen werden kann.52 Schon Zeitgenossen der attischen Demokratie wie Thukydides, Euripides und Platon beklagten jedoch auch einen zu zügellosen Umgang mit der Redefreiheit zum Schaden der Demokratie. Und aus moderner Sicht erscheint die attische Gesellschaft sogar in vielen Zügen ausgesprochen intolerant, insbesondere was religiöse Freigeis­ terei angeht. Der Naturphilosoph Anaxagoras und andere wurden der Asebie (Unfrömmigkeit) angeklagt, der Philosoph Sokrates wurde für diesen Straftatbestand (und den weiteren der Verführung der Jugend) sogar zum Tode verurteilt. Das wirft die Frage auf, was sich aus den Unterschieden und Ähnlichkeiten der Athener Streitkultur mit der unsrigen über die Voraussetzungen und Risiken der freien Debatte lernen lässt.

51 Vgl. (neben John Stuart Mill) hierzu Ober, Josiah (2012), »Epistemic Democracy in Classical Athens«, in: Collective Wisdom. Principles and Mechanisms, Hélène Landemore & John Elster (Hg.), Cambridge (Cambridge University Press). 52 Arendt, Hannah (1963), On Revolution, London (Faber), S. 115. Hier bezieht sie sich auf die Amerikanische Revolution, ihre Beobachtung gilt jedoch auch für die direkte griechische Demokratie.

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Die Athener kannten keine Meinungsfreiheit im Sinne unveräu­ ßerlicher ›negativer Rechte‹ von Individuen gegenüber dem Staat, wie sie durch den modernen Liberalismus zur Grundlage liberaler Demokratien wurden.53 Sie kultivierten jedoch die freie Rede (Parr­ hesia) als eine demokratische Tugend, die Politik und Kultur prägte. Jeder Bürger54 hatte das Recht (Isegoria) aktiv an der Ekklesia, der Volksversammlung teilzunehmen, in der nach 462 v. Chr. die wich­ tigsten politischen Entscheidungen getroffen wurden.55 Der Begriff Isegoria ist von dem Verb agoreuein abgeleitet, bezieht sich also ursprünglich auf die Agora, den öffentlichen Ort in Athen, an dem Menschen sich zum Gespräch trafen und wo ursprünglich auch die Volksversammlungen stattfanden. Aus dem informellen Recht eines jeden zur Ansprache an die Mitbürger auf der Agora wurde dann in der Demokratie das formelle Recht, sich im Rahmen der Ekklesia zu Wort zu melden. Der Vorsitzende fragte nach jedem Antrag, wer von den anwesenden Athenern dazu einen Rat zu geben habe.56 Auch wenn sich vermutlich nur ein sehr kleiner Teil der Bürger tatsächlich in der Ekklesia zu Wort meldete, muss die Möglichkeit, dies zu tun (Isegoria), ihr Selbstverständnis und Verantwortungsbe­ wusstsein geprägt haben. Auch wer nur zuhörte und mit abstimmte, war emotional beteiligt. Das galt vermutlich auch für diejenigen, die 53 Vgl. Ober, Josiah (1989), Mass and Elite in Democratic Athens, Rhetoric, Ideology, and the Power of the People, New Jersey (Princeton University Press), S. 10. 54 Die Bürger waren allerdings nur eine Minderheit in der gesamten Bevölkerung. Die politischen Systeme der Antike unterschieden sich beträchtlich mit Blick auf die Frage, wer an den Versammlungen, auf denen politische Entschlüsse gefasst werden, teilnehmen und das Wort ergreifen darf. Frauen waren überall ausgeschlossen. Sie gehörten zum Haushalt der Männer und hatten öffentlich nichts zu sagen. Auch Sklaven und Fremde hatten keinen Zutritt. Strittig war jedoch die Frage, wer von den freien Männern sich beteiligen durfte. Die politische Gleichberechtigung auch der Besitzlosen in Athen stellte eine sensationelle Neuerung dar, eine irritierende Anomalie, die von oligarchischen Staaten wie Sparta als eine ständige Bedrohung wahrgenommen wurde und mit der sich auch die aristokratischen Kreise Athens nur begrenzt abfinden konnten. 55 Bis zum Ende des fünften Jahrhunderts, als ein Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung eingeführt wurde, hatten alle Beschlüsse der Versammlung unmittelbare Gesetzeskraft. Die Tagesordnung jeder Versammlung wurde von einem Rat (boule) aus fünfhundert Bürgern festgelegt, der wie die anderen Magistrate jährlich per Losverfahren ausgewählt wurde. Die Gremien, die dann Versammlungsbeschlüsse begutachteten, bestanden aus sehr großen ausgelosten Gruppen von Bürgern, die über dreißig Jahre alt waren. 56 Ober (1989), S. 296.

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gar nicht kommen konnten. Vertreter aus allen Regionen Attikas nahmen an der Ekklesia teil und man kann davon ausgehen, dass sie dann auf den öffentlichen Plätzen in ihren Heimatorten über die Dis­ kussionen in der Volksversammlung berichteten. Die Vorgänge in der Ekklesia müssen allein schon deswegen von unmittelbarem Interesse für alle gewesen sein, weil die Zeit der attischen Demokratie nicht zufällig auch die Zeit war, in der Athen durch den attischen Seebund eine maximale imperiale Machtposition erreicht hatte. Sie war mit ständigen militärischen Aktivitäten verbunden, an denen alle Bürger sich in irgendeiner Form – über Abgaben oder direkt als Hopliten oder Ruderer in der Kriegsflotte – zu beteiligen hatten. Da sich gute und schlechte politische Entscheidungen spürbar auf das eigene Leben auswirkten, wurde Politik vermutlich sehr ernst genommen. Die Bedingungen des politischen Lebens in Athen haben mit denen moderner Staaten wenig gemein. Das Prinzip der Isonomia, der gleichberechtigten Teilhabe aller Bürger am Politischen, schloss die Pflicht ein, sich an den öffentlichen Angelegenheiten und der politi­ schen Willensbildung zu beteiligen. Aufgrund der ständigen Ämter­ rotation waren die Regierten in Athen gleichzeitig oder abwechselnd auch die Regierenden. Für die physische Teilnahme an der Vollver­ sammlung, den Volksgerichten und den Ausschüssen, wurde nach den Reformen des Perikles auch Tagegeld gezahlt, damit auch dieje­ nigen anreisen konnten, die es sich nicht leisten könnten, auf ihren Tageserwerb zu verzichten. (Diese demokratische Neuerung zahlten letztlich die damals schon nicht mehr ganz freiwilligen Bundesgenos­ sen des Seebundes durch Tribute.) Die Ortsgemeinschaften hatten eigene Verwaltungen und organisierten eine Vielzahl von öffentlichen Veranstaltungen – Feste und Kulte – an denen die Bürger zusammen­ kamen. In den lokalen Selbstverwaltungen konnten auch einfache Bürger das Wort ergreifen, die dies auf der großen Volksversammlung in Athen nicht gewagt hätten. Durch die Strukturreformen von Kleis­ thenes im fünften Jahrhundert waren die attischen Ortsgemeinden (Demen) zu sogenannten Phylen zusammengefaßt worden, aus denen das Militäraufgebot, aber auch die Beteiligung am Rat der 500 in Athen bestritten wurde. Dadurch waren die strukturellen Vorausset­ zungen für ein intensives öffentliches Leben der Bürger sowohl auf lokaler als auch auf der Ebene des Gesamtstaates geschaffen worden.57 Vgl. hierzu Nippel, Wilfred (2008), Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit, Frankfurt (Fischer), S. 22 f.

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Die Phylen brachten Männer aus verschiedenen Regionen zusam­ men und stifteten so neue Kommunikationsmöglichkeiten auf der Ebene des Gesamtstaates, die vorher nur zwischen Mitgliedern der Aristokratie bestanden.58 Auch im Rat der 500 kamen Gruppen von geographisch und sozial sehr unterschiedlichen Entscheidungsträgern zusammen; hochgebildete Aristokraten trafen auf Handwerker, Bau­ ern und Tagelöhner. Analphabeten konnten durch die aktive Tätigkeit in den Gremien politische Erfahrung und Urteilskraft entwickeln. Geht man von den Erkenntnissen der heutigen Sozialpsychologie aus, dann ist anzunehmen, dass diese sozial sehr heterogene Zusam­ mensetzung die Gefahr des Gruppendenkens stark verringert hat, denn Menschen neigen dazu, den Meinungen von Personen ihres eigenen sozialen Standes eher zu vertrauen als denen anderer sozialer Gruppen. Soziale Heterogenität führt unter günstigen Bedingungen – wenn gemeinsame Interessen und Ziele vorliegen – zu der für eine kompetenzerweiternde Diskussion erforderlichen Distanz zwischen den Gruppenmitgliedern. Da alle attischen Bürger vom politischen und militärischen Erfolg des Staates profitierten, gab es ungeachtet der sozialen Verschiedenheit gemeinsame Interessen. So hatten alle in den Versammlungen, Gremien und Gerichten starke Motive, das eigene Wissen mit ihren Kollegen zu teilen und umgekehrt ihre Kompetenzen angemessen zu berücksichtigen. Die gemeinsame Beratung politischer Fragen schuf einen Raum, in dem die Bürger ihre Vorstellungen ständig mit den Meinungen und Wahrnehmungen anderer abgleichen konnten.59 Der Althistoriker Josiah Ober leitet daraus eine außerordentlich hohe kollektive Intelligenz der attischen Gremien her.60 In der Kommunikation wurde die Bereitschaft geschätzt, auch unangenehme, aber politisch wichtige Fragen direkt anzusprechen. Der Begriff Parrhesia bezeichnet eine offene und freimütige Kommu­ nikation, ein Sprechen ohne Vorsichtsmaßnahmen, in einem Kontext, in dem es um die Wahrheit geht. Er steht im Gegensatz zur »Schmei­ chelrede«, die »voll von Schaden und Trug steckt.«61 Im Unterschied zur modernen Meinungsfreiheit hatte die Parrhesia in Athen nicht den Vgl. hierzu Nippel (2008), S. 23. Vgl. Arendt (1981), S. 150. 60 Vgl. Ober (2012), S. 119–122. 61 Demosthenes (1985), »Vierte Rede gegen Philipp«, in: Politische Reden, Stuttgart (Reclam), S. 233. 58

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Status eines Rechts; sie war eher eine Fähigkeit, die sozial erwartet und geschätzt wurde. Anders als die von Rhetoriklehrern gelehrte Kunstrede, galt die offene ungekünstelte Rede als etwas, was sich nicht nur die Privilegierten (der kleinen aristokratischen Oberschicht und einigen reich gewordenen Besitzern von Manufakturen) aneig­ nen konnten. Im Prinzip hielt man jeden Bürger einer freimütigen Rede fähig – jedenfalls wenn er nicht irgendeines unehrenhaften Verhaltens überführt worden war oder eine problematische Familie hatte.62 Die freimütige Rede war kulturprägend, denn sie setzte nicht nur gewisse Tugenden des Sprechens – Freimut –, sondern auch des Hörens voraus, wie Michel Foucault betont: »Die parrhesia ist […] der Mut zur Wahrheit seitens desjenigen, der spricht und das Risiko eingeht, trotz allem die ganze Wahrheit zu sagen, die er denkt; sie ist aber auch der Mut des Gesprächspartners, der die verletzende Wahrheit, die er hört, als wahr akzeptiert.«63

Zu den Tugenden auf der Seite der Hörenden gehörte daher Toleranz und Großzügigkeit. Wer beleidigt oder zornig reagierte, musste in Athen vermutlich seinerseits damit rechnen, zum Gespött zu werden. Dass die Bereitschaft, die Wahrheit auch dann auszusprechen, wenn dies Zorn hervorrufen konnte, in Athen hoch geschätzt wurde, bedeu­ tete allerdings nicht, dass der Sprechende vor Risiken und Sanktionen geschützt war. Wer mit Parrhesia sprach, ging durchaus das Risiko ein, andere zu verärgern und sich ihren späteren Vergeltungsmaßnah­ men auszusetzen. Die außerordentliche Wertschätzung der Parrhesia entsprang der ihr zugeschriebenen Bedeutung für die demokratische Kultur. Die Möglichkeit, in der Athener Öffentlichkeit frei und unverstellt politische Kritik üben zu können, war ein Privileg der freien Bürger im Unterschied zum Sklaven und den Angehörigen anderer Nationen. In »Die Phönizierinnen« spricht der Tragödiendichter Euripides das damit verbundene Heimatgefühl direkt an, als der Protagonist Poly­ neikes in seine Heimatstadt zurückkehrt. Von seiner Mutter Jokaste befragt, ob es denn »wirklich ein so großes Übel sei, des Vaterlands 62 So ging man davon aus, dass jemand, dessen Eltern ein Verbrechen vorgeworfen wurde, nicht mehr frei von Scham und Furcht sprechen konnte. Vgl. Carter, D. M. (2004), »Citizen Attribute, Negative Right: A Conceptual Difference between Ancient and Modern Ideas of Freedom of Speech«, in: Free Speech in Classical Antiquity, ed. Ineke Sluiter and Ralph M. Rosen. Boston, M.A.: Brill, 2004, S. 197–220, S. 215. 63 Foucault, Michel (2010), Der Mut zur Wahrheit, Frankfurt (Suhrkamp), S. 28.

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beraubt zu sein«, entgegnet er: »Das größte, und größer wahrlich, als es Worte malen!«, und erklärt (in der Übersetzung Schillers): Das Schrecklichste ist das: Der Flüchtling darf nicht offen reden dürfen, wie man’s meint!« Gleichwohl war es abhängig vom kulturellen Kontext, wie weit man hier gehen konnte. Im Kontext religiöser Feste wie der Dionysien, wo die neuen Tragödien und Komödien aufgeführt wurden, konnten Dinge gesagt werden, die woanders unanständig gewesen wären. Die Alte Komödie war bekannt dafür, durch Verspottung von namentlich genannten prominenten Personen die Normen des Anstands und der Staatsräson herauszufordern und anti-strukturelle Freiräume auszu­ loten. Es wurde jedoch erst durch die (ausbleibenden) Folgen deutlich, wie weit man dabei gehen konnte. Aristophanes sorgte um 426 v. Chr. während der großen Dionysien, die von einem Großteil der Bürger besucht wurden, für einen Skandal, als er sich in seiner preisgekrönten Komödie Die Babylonier über die imperialistische Politik Athens und die tragende politische Rolle des damals einflussreichsten Politikers Kleon lustig machte: Der Chor stellt die mit Athen verbündeten Städte des Attischen Seebundes als Sklaven dar, die in der Mühle des Feld­ herrn Kleon schuften müssen. Über 2000 Jahre später hat Nietzsche dieser Haltung, die ausbeuterischen Voraussetzungen der eigenen Lebensform so klar beim Namen zu nennen, seine Hochachtung ausgedrückt. Die Griechen, so sagte er, brauchten keine »BegriffsHalluzinationen«, um sich das Schicksal derjenigen schönzureden, auf deren Elend und Arbeit ihre Kultur beruhte.64 Risikofrei waren solche Provokationen allerdings auch nicht im Kontext der Dionysien. Nicht wenige Mitbürger wandten sich von Aristophanes ab, weil sie es ungehörig fanden, dass er mitten im Krieg einen wichtigen Politiker wie Kleon vor Außenstehenden verunglimpfte. Kleon klagte ihn sogar des Verrats an der Stadt an, da an den großen Dionysien auch Vertreter der verbündeten Städte teilnahmen. Gegen diese Anklage konnte Aristophanes sich nicht auf so etwas wie die Kunstfreiheit berufen; ein solches Schutzrecht gab es nicht in Athen. Er konnte auch schwerlich mit politischen Sympathien unter den durch das Los zufällig ausgewählten Volksrichtern rechnen, denn die von ihm karikierte Politik fand breite Unterstützung in der Volksversammlung. Trotzdem entschied das Volksgericht zu Aristo­ Nietzsche, Friedrich (1999), »Der griechische Staat«, in: Kritische Studienausgabe, Band. 1, Giorgio Colli & Mazzino Montinari, (Hg.), München (DTV), S. 765.

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phanes’ Gunsten. Die ständige Möglichkeit, angeklagt zu werden, hielt ihn auch später nicht davon ab, Kleon und die imperialistische Politik des demokratischen Athens immer wieder zu karikieren.65 Aristophanes konnte sich darauf stützen, dass die Parrhesia im Kontext der Dionysien ein nahezu heiliges Gut war, ein zentra­ les Element der Ideologie, mit der sich die Athener als Staatsvolk identifizierten.66 Dass auch Kriegsschiffe Parrhesia genannt wurden, zeigt, wie sehr man die politische und strategische Stärke Athens auf diese Streitkultur zurückführte. Sie galt schon in der Antike als Heilmittel gegen selbstgefällige Illusionen, denen nicht nur Tyran­ nen, sondern auch eine (zu) erfolgsverwöhnte Bürgerschaft in der Volksversammlung erliegen können. Der Gräzist Jeffrey Henderson beschreibt das parrhesiastische Selbstverständnis der Athener Volks­ versammlung folgendermaßen: »Die Redner in den Versammlungen und vor den Gerichten hatten einen großen Spielraum, um die Argumente des Gegners zu kritisieren, seine Motive und sogar seinen Charakter in Frage zu stellen und dem Volk sein schlechtes Urteilsvermögen vorzuhalten. Da sie über das Privileg der freimütigen Rede verfügten, mussten sie weder den Wählern schmeicheln noch versuchen, ihre Gegner einzuschüchtern, und von denjenigen, die sich bestechen lassen, hiess es, sie hätten »ihre Parrhesia verkauft« […] Bei der Masse der Bürger, die zuhör­ ten, urteilten und abstimmten, beförderte die Parrhesia eine kritische Haltung und ein Bewußtsein intellektueller Autonomie. Sie wurde so zum Schutz vor Schmeicheleien, Schikanen, Korruption, Täuschung oder Inkompetenz seitens der Redner. Die Parrhesia ermöglichte es jedem Mitglied des Demos, und sei er noch so unbedeutend […], das Fehlverhalten, die Unehrlichkeit, den schlechten Rat oder die Inkompetenz eines jeden öffentlich anzuprangern, der die Integrität

Die politische (und sexuelle) Unverschämtheit der Alten Komödie war umso bemerkenswerter als im klassischen Athen Fragen der Ehre, des Status und öffentli­ chen Ansehens nicht leichtgenommen wurden. Gleichwohl wurde der unverschämte Humor von Aristophanes nicht nur geduldet, sondern sogar staatlich gefördert. Diese provokante Praxis verlor allerdings ihren Biss nach den beiden durch Sparta herbeigeführten oligarchischen Umstürzen, die die Bevölkerung spalteten und nach der Tyrannei der Dreissig offenbar dazu führten, dass auch Sokrates als Gefahr für die Demokratie wahrgenommen wurde. Danach vermied man politische Provokationen in der Komödie, die als Angriff auf die Demokratie hätten verstanden werden können. 66 Vgl. Konstan, David (2012), »The Two Faces of Parrhêsia: Free Speech and SelfExpression in Ancient Greece«, in: Antichthon, vol. 46, S. 1–13, S. 4. 65

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oder das Wohlergehen der Gemeinschaft bedrohte, egal, wie mächtig er war.«67

Im Politischen eine Kritik zu tolerieren und sogar zu fördern, die keine Rücksicht auf die Meinung der Mehrheit und auf Empfindlichkeiten nimmt, galt als Vorbeugung gegen eine kollektive Kurzsichtigkeit, die dem Gemeinwesen langfristig gefährlich werden könnte. Gleichwohl stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen Theorie und Praxis, Ideologie der Parrhesia und sozialer Realität in Athen. Können wir mit Henderson davon ausgehen, dass die Hochschätzung der Parrhesia auch wirklich zur aktiven Beteiligung der besitzlosen und ungebilde­ ten Bevölkerung in der Volksversammlung sowie zu einer Praxis des offenen und unverstellten Sprechens geführt hat? Manches spricht dagegen, das Idealbild der Athener Streitkultur mit der Praxis gleichzusetzen. Allein schon die mit der Parrhesia verbundenen Risiken werden viele abgeschreckt haben, die nicht über den hohen sozialen Status und die soziale Vernetzung von Aristopha­ nes verfügten. Da es keinen rechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit gab, gehörte eine beträchtliche Risikobereitschaft dazu, freimütig Dinge auszusprechen, die andere als skandalös empfinden konnten. Dass dies sozial bewundert wurde und dem Sprecher Ehre einbringen konnte, wird zwar auch die Bereitschaft befördert haben, solche Risiken einzugehen: Ohne die soziale Anerkennung und Belohnung dieser Risikobereitschaft wäre die Athener Streitkultur schwerlich möglich gewesen. Gleichwohl musste man damit rechnen, von der Menge ausgelacht oder niedergebrüllt zu werden, wenn man sich in der Volksversammlung mit einem Beitrag zu Wort meldete, der als uninformiert, uninteressant oder ärgerlich wahrgenommen wurde.68 Auch wer naiv gewisse Fragen aufwarf, konnte Schwierigkeiten bekommen, wenn einflussreiche Personen ein Interesse daran hatten, dass diese Themen oder Tatsachen nicht angesprochen werden, und über Mittel verfügten, einem Sprecher zu schaden. Man verleumdete ihn als schamlos oder klagte ihn wegen eines angeblich rechtswidrigen Vorschlags oder eines religiösen Vergehens an.69 Mit Parrhesia zu sprechen, konnte also auch einen Ehrverlust oder eine Verurteilung zur Folge haben. Während der eine im allgemeinen Ansehen stieg, 67 Henderson, Jeffrey (1998), »Attic Old Comedy, Frank Speech and Democracy«, in: Democracy, Empire and the Arts in Fifth-Century Athens, Deborah Boedeker & Kurt A. Raaflaub (Hg.), Cambridge (Harvard University Press), S. 256 f., Übers. M.S.L. 68 Vgl. Nippel (2008), S. 56.

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wurde ein anderer verspottet, als ein schamloser Widerling betrach­ tet, oder verklagt. Aufgrund dieser Risiken ist anzunehmen, dass es eher ein kleiner Kreis von juristisch und rhetorisch geschulten Personen war, die sich in der Volksversammlung häufig zu Wort meldeten: politische Aktivisten aus der Aristokratie oder reich gewor­ dene Manufakturbesitzer. Auch mit Blick auf die Entwicklung der Debatte in der Volks­ versammlung ist zwischen Ideologie und sozialer Realität der Parrhe­ sia zu unterscheiden. Der demokratischen Ideologie Athens zufolge führte die freimütige und konfrontative Rede zur Herausbildung von Rednern, die am Gemeinwohl orientiert waren und das ungebildete Volk zu klugen Entscheidungen anleiten konnten. Die Parrhesia galt dabei als eine unverstellte Form der Kommunikation, zu der jeder fähig ist und die jeder versteht. Jedoch kann auch eine an der Wahrheit orientierte freimütige Rede in einer anspruchsvollen und agonalen Debattenkultur nicht ohne die Ausbildung gewisser kommunikativer und rhetorischer Fähigkeiten auskommen,70 wie Perikles in seiner berühmten Pestrede formuliert: »Wer nämlich die Einsicht hat und sich nicht klar verständlich macht, ist gleich, wie wenn ihm der Gedanke nicht gekommen wäre.«71

Auch ein parrhesiastischer Politiker muss fähig sein, seine Einsichten einem Publikum, das vielleicht in ganz andere Richtungen neigt, in klaren, einfachen und eindringlichen Worten zu vermitteln. Es gibt daher keine äußeren Merkmale, anhand derer man zweifelsfrei den Unterschied zwischen Parrhesia und Rhetorik festmachen könnte; die Abgrenzung der Parrhesia von allen Formen der auf Wirkung abzielenden und manipulativen Rede ist insofern illusionär, als auch die Parrhesia der Rhetorik bedarf, um ihren Zweck zu erreichen. In der Volksversammlung wurde großenteils weniger eine simple freimütige Rede als eine raffinierte »demokratische Rhetorik der

69 Vgl. Balot, Ryan K. (2004), »Free Speech, Courage and Democratic Deliberation« in: Free Speech in Classical Antiquity, Ineke Sluiter & Ralph M. Rosen (Hg.), Leiden (Brill), S. 233–259, S. 234. 70 Vgl. hierzu auch Foucaults Erörterungen in: Foucault, Michel (2009), Die Regie­ rung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, übers. v. Jürgen Schröder, Frankfurt (Suhrkamp), S. 65. 71 Thukydides (2010), Der Peloponnesische Krieg, Düsseldorf (Patmos), S. 125.

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Antirhetorik«72 gepflegt. Gerade die Hochschätzung der Parrhesia motivierte also zur Ausbildung einer speziellen Rhetorik, die eine parrhesiastische Einstellung inszenierte. Dazu gehörte einerseits, sich selbst als ungebildetes, einfaches, ehrliches Gemüt darzustellen, den Gegner hingegen als einen raffinierten Betrüger, der der Menge schmeichelt und sie manipuliert. Andererseits konnte man die Rolle des Parrhesiasten auch für grobe und unfaire Attacken gegen die politischen Gegner nutzen. Den antiken Quellen zufolge haben sich die Redner zumindest zur Zeit des Peloponnesischen Krieges in der Volksversammlung einer hoch aggressiven Rhetorik73 bedient. Sie verdächtigten ihre Gegenspieler der Bestechlichkeit, was diese nicht widerlegen, sondern nur ihrerseits durch rhetorische Ablen­ kungsmanöver und Gegenangriffe entschärfen konnten.74 So führte eine Wertschätzung der freimütigen Rede, die auch persönlichen Angriffen kaum Grenzen setzte, paradoxerweise dazu, dass die Red­ ner in der Volksversammlung nicht mehr freimütig ihre Meinung äußerten, sondern Freimut inszenierten.75 Auf den Missbrauch der Parrhesia zur persönlichen Diffamierung und Aufhetzung der Menge führten kritische Zeitgenossen die Dominanz von Demagogen in der Volksversammlung nach Perikles Tod zurück. Man schrieb ihnen das Zustandekommen von unklugen Beschlüssen zu, mit der Folge, dass Athen den Peloponnesischen Krieg verlor; der damit verbundene Legitimationsverlust der Demokratie als Staatsform hatte wiederum politische Umstürze zur Folge. Aber auch nach der Wiederherstellung der Demokratie im vierten Jahrhundert mussten Redner weiterhin mit wüsten persönlichen Angriffen rechnen; so wurde der bekannte ältere Staatsmann Demosthenes um 323 als »Scheusal, Knecht, bestech­ lich, Dieb und Verräter, Schwindler, Scythe« u. a. beschimpft.76 Die Attische Demokratie ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie die Debattenkultur auch durch die Wertschätzung des Allessagenkön­ Hier folge ich Schloemann, Johann (2019), I have a dream. Die Kunst der freien Rede, München (Beck), S. 41. 73 Vgl. Aristoteles (1993), Der Staat der Athener, übers. v. Martin Dreher, Stuttgart (Reclam), S. 61. 74 Vgl. hierzu Manuwald, Bernd (1979), »Der Trug des Diodotos (Zu Thukydides 3, 42–48)«, in: Hermes, 1979, 107. Band, Heft 4, S. 407–422. 75 Vgl. Thukydides (2010), S. 183. 76 Wallace, Robert (2004), »The Power to Speak – and not to listen – in Ancient Athens«, in: Free Speech in Classical Antiquity, Ineke Sluiter & Ralph M. Rosen (Hg.), Leiden (Brill), S. 221–232, S. 222. 72

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nen unterhöhlt werden kann. Sie bedarf gewisser Regeln, die die Sprechenden vor unfairen Angriffen schützen, aber auch Regeln, die Täuschungsmanöver begrenzen. Nicht ohne Grund haben sich die modernen Parlamente Regeln gegeben, um eine zivilisierte, aber kontroverse Debatte zu gewährleisten.77 Bei aller Hochschätzung der Parrhesia war allerdings auch schon das öffentliche und private Leben der Athener durch Wertvorstellun­ gen bestimmt gewesen, die in einer diffuseren Weise als das Recht der Möglichkeit Grenzen setzen, über »alles« zu reden. Um 399 v. Chr. wurde der Philosoph Sokrates von einem Athener Volksgerichts­ hof der Asebie (Unfrömmigkeit/Religionsfrevel) und Korruption der Jugend schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Sokrates war schon damals als Parrhesiast eine soziale Institution gewesen: Er diskutierte tagtäglich mit seinen Mitbürgern auf öffentlichen Plätzen über ethische Fragen und legte dabei ihr begrenztes Verständnis ihrer eigenen moralischer Ideen offen. Seine Verurteilung stellte die Nach­ welt vor ein Rätsel. Wie konnte ein demokratisches Gemeinwesen, das der freien öffentlichen Debatte einen so hohen Wert beimaß, dazu kommen, einen weit über die Grenzen Athens hinaus berühmten Philosophen zu verurteilen und hinzurichten? War das Zeitalter der Demokratie und der freien Rede in Wahrheit auch ein Zeitalter der Unterdrückung des freien Denkens?78 Benjamin Constant hat aus der Verurteilung von Sokrates geschlossen, dass in Athen »der Einzelne vollständig der Gewalt der Gesamtheit unterworfen war.«79 Das Schicksal des Sokrates zeigt die Spannung zwischen der Wertschätzung der Parrhesia und ihren Risiken in einem politischen System auf, das ein Grundrecht auf Meinungsfreiheit nicht kennt und in dem die Laiengerichte einen sehr großen, durch die Gesetze nur schwach begrenzten Entscheidungsspielraum haben. Entspre­ chend stark konnten sich momentane politische Beunruhigungen und andere Affekte auch auf die Rechtsprechung auswirken. Der Prozess wurde einige Jahre nach dem politischen Umsturz von 404–3 v.Chr. eröffnet, an dem einige Schüler von Sokrates beteiligt gewesen 77 So darf man im britischen Parlament niemanden der Lüge beschuldigen. Vgl. Gar­ ton Ash, Timothy (2016a), Free Speech. Ten Principles for a Connected World, London (Atlantic Books), S. 85. 78 Das nimmt Eric Dodds in seiner bekannten Studie Die Griechen und das Irrationale an. Dodds, Eric Robertson (1991), Die Griechen und das Irrationale, Darmstadt (Wis­ senschaftliche Buchgesellschaft), S. 101. 79 Vgl. Constant, Benjamin (1946), Über die Freiheit, Basel (Schwabe), S. 30.

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waren. Vor der brutalen Tyrannei der Dreißig, der achtmonatigen Gewaltherrschaft, bei der sein Schüler Kritias eine zentrale Rolle spielte, hatte man eine Kritik an demokratischen Praktiken, wie sie Sokrates in aller Öffentlichkeit übte, offenbar nicht für gefährlich gehalten. Vor dem Hintergrund des antidemokratischen Putsches musste Sokrates’ bekannte Kritik an der politischen Inkompetenz der »vielen« jedoch in neuem Licht erscheinen. Einflussreiche Bürger wie seine Ankläger, die am militärischen Widerstand gegen die Tyrannei der Dreissig beteiligt gewesen waren, nahmen seine philosophische Tätigkeit nun als eine politische Bedrohung wahr, die dazu angetan war, die Demokratie zu delegitimieren und neue Demokratiefeinde heranzubilden. Die Grenzen der Redefreiheit wurden zu dieser Zeit, als das politische System von außen und innen bedroht schien, enger gezogen als in früheren und späteren Epochen. Das Schicksal des Sokrates stellt insofern wohl eher einen Sonderfall dar. Was können wir aus dem, was wir heute über die Ideologie und Praxis der griechischen Debattenkultur wissen, mit Blick auf gegen­ wärtige Voraussetzungen und Probleme der Debattenkultur erschlie­ ßen? Erstens zeigt das griechische Beispiel, dass ein Recht auf Mei­ nungsfreiheit keine notwendige, geschweige denn hinreichende Vor­ aussetzung einer lebendigen Debattenkultur ist, an der alle Bürger (wenn auch nicht die gesamte Bevölkerung) zu irgendeinem Grad aktiv beteiligt sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass ein Recht auf Meinungsfreiheit für die Debattenkultur irrelevant wäre. Hätte es in Athen ein Recht auf Meinungsfreiheit auch in religiösen Fragen gegeben, hätte Sokrates nicht verurteilt werden können. Zweitens zeigt das Beispiel der Athener Volksversammlung, dass eine Hochschätzung der freimütigen Rede nicht nur eine offene und kritische Debatte befördert, sondern auch Anreize für ihren Missbrauch miterzeugt. Die Rhetorik der Freimütigkeit kann nicht weniger als eine moralisierende Rhetorik dazu eingesetzt werden, Gegner zu verleumden und einzuschüchtern. Hier wird der Druck eher über persönliche Angriffe und durch Erzeugung eines Klimas des Misstrauens ausgeübt. Der Vergleich zeigt, dass die Hochschätzung der Bereitschaft »alles zu sagen«, nicht als Allheilmittel gegen die für die freie Debatte schädlichen Folgen der Moralisierung taugt. Eine Debattenkultur, in der der Zweck der freien Rede, ein produktives Gespräch zu führen, nicht durch ihren Gebrauch unterwandert wird,

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Demokratische Streitkultur. Ihre Voraussetzungen und Gefährdungen

bedarf nicht nur der Kultivierung von Freimut, sondern auch der Verständigung über ihre Grenzen.

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

Einschränkungen der freien Meinungsäußerung haben laut Experten in den letzten Jahren global, besonders in Form von Medienzensur durch Regierungen, erheblich zugenommen.1 Von dieser Entwick­ lung sind auch liberale Demokratien nicht ausgenommen. Obwohl beispielsweise in Deutschland Meinungsfreiheit garantiert ist und Experten-Indikatoren für politische Freiheit keinen nennenswerten Rückgang aufweisen, äußern wachsende Teile der Bevölkerung das subjektive Gefühl, dass sie ihre Meinung nicht mehr frei äußern können. Seit 1971 fragt das Allensbach Institut Bürger, ob »man heute in Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann«, oder es besser ist »vorsichtig zu sein.« Gaben 1971 noch 83 Prozent der Deutschen hierauf an, die politische Meinung frei sagen zu können, so ist dieser Anteil fünfzig Jahre später, im Jahr 2021, auf nur noch 45 Prozent geschrumpft.2 Dies wirft eine wichtige demokratietheore­ tische Frage auf: Warum glauben Bürger, dass man sich nicht frei äußern kann? Einige Hinweise lassen sich aus den vielen polarisierten öffent­ lichen Debatten ableiten, die sich um die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen drehen. Dazu gehören Diskussionen über die Verbreitung von Hassreden und Fehlinformationen im Internet, aber auch ein wahrgenommener Mangel an Meinungsvielfalt in den MainstreamMedien (z. B. im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 oder in jüngster Zeit der Corona-Pandemie) sowie die Regulierung der Online-Spra­ 1 Siehe: Mechkova,Valeriya/ Lührmann, Anna, & Lindberg, Staffan I. (2017), »How much democratic backsliding?«, in: Journal of Democracy, vol. 28(4), S. 162–169. Und: V-Dem Institute (2021). »Autocratization turns viral«, in: democracy report 2021. Technical report, Department of Political Science (University of Gothenburg). 2 Institut für Demoskopie Allensbach (2021), »Die Mehrheit fühlt sich gegängelt«, Dokumentation des Beitrags von Dr. Thomas Petersen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Juni 2021.

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che durch Internet-Plattformanbieter (z. B. über das NetzDG). Auch Auseinandersetzungen über das mögliche Aufkommen einer soge­ nannten »Cancel Culture« an Hochschulen und anderen Kulturein­ richtungen auf der einen Seite, strategische rechtspopulistische Nar­ rative einer Krise der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite und schließlich Diskussionen über den Sinn und Unsinn von »diskrimi­ nierungsfreien« und »geschlechtergerechten« Sprachnormen werden hier vermutlich eine Rolle spielen. Vor dem Hintergrund dieser Debatten ist es bemerkenswert, dass die empirische Sozialwissenschaft der Frage, ob und warum die Bürger glauben, sich (nicht) frei äußern zu können, nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet hat. Während neuere Arbeiten damit begonnen haben, die »campus cancel culture« zu untersuchen (z. B. Revers & Traunmüller3, Traunmüller4, Norris5, Kaufmann6) und die demokratischen Auswirkungen der Regulierung von Hassreden zu untersuchen (z. B. Van Spanje & De Vreese7, Jacobs & Van Spanje8), bleibt die grundlegendere Frage, was die subjektive Redefreiheit der Bürger erklärt, weitgehend unbeantwortet (siehe jedoch Gibson9, und

3 Revers, Matthias und Traunmüller, Richard (2020) »Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 72, 2020, S. 471–497. 4 Traunmüller, Richard (2022), »Die ›Cancel Culture’ Hypothese auf dem empiri­ schen Prüfstand«, in: Zeitschrift für Politik (Sonderband 10), S. 33–53. 5 Norris, Pippa (2021), »Cancel culture: Myth or reality?«, in:Political Studies, UK (SAGE Journals). 6 Kaufmann, Eric (2021), Academic freedom in crisis: Punishment, political discrimina­ tion, and self-censorship (report no. 2) Technical report, in: Center for the Study of Partisanship and Ideology. 7 Van Spanje, Joost & De Vreese, Claes (2013). »The good, the bad and the voter«, in: Party Politics, vol. 21(1), Feb. 2013, S. 115–130. 8 Jacobs, Laura & Spanje, Joost V. (2019), »Martyrs for free speech? disentangling the effects of legal prosecution of anti-immigration politicians on their electoral sup­ port«, in: Political Behavior, vol. 43(3), Nov. 2019, S. 973–996. 9 Gibson, James L. (1992). »The political consequences of intolerance: Cultural con­ formity and political freedom«, in: American Political Science Review, vol. 86(2), June 1992, S. 338–356. Und: Gibson, James L. (1993), »Political freedom: A sociopsycho­ logical analysis«, in: Reconsidering the Democratic Public, Marcus, G. E. and Hanson, R. L. (editors), The Pennsylvania State University Press (Pennsylvania), S. 1131–2138.

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

Gibson & Sutherland10 für die USA, sowie Menzner & Traunmül­ ler11 für Deutschland). Die Wahrnehmung der Meinungsfreiheit durch die Bürger zu verstehen, ist aus mindestens zwei Gründen wichtig. Erstens könnte ihre Wahrnehmung tatsächlich zutreffen und damit ein QualitätsIndikator für Demokratien sein, der anders schwer messbar ist (vor allem, wenn die Bürger sehr gebildet und gut informiert sind12). Die subjektive Redefreiheit ist aber zweitens auch auf einer tiefe­ ren, intrinsischen Ebene relevant, und zwar selbst dann, wenn die Wahrnehmungen der Bürger ungenau sind. Nach Dahl13 setzt die Demokratie voraus, dass alle Bürger die Möglichkeit haben, ihre politischen Präferenzen ungehindert zu äußern. Diese Anforderung beruht auf dem subjektiven Gefühl der Bürger, dass sie sich tatsächlich frei äußern können, da nur so aus einem reinen Gesetzestext eine lebendige demokratische Debatte erwachsen kann. Natürlich bedeutet dies nicht, dass jede Rede gleichermaßen erwünscht ist oder es tat­ sächlich verdient, gehört und geschützt zu werden. Im Rahmen dieses Beitrags enthalten wir uns jedoch einer normativen Einordnung, was die Feinheiten und komplexen Abwägungen angeht, die dieses Thema beinhaltet.

1. Subjektive Meinungsfreiheit und Selbstzensur Während die subjektive Redefreiheit in der Wissenschaft wenig Beachtung gefunden hat, ist eine zentrale Variable in der Untersu­ chung autoritärer Politik das eng damit verbundene Konzept der Selbstzensur14. Der Begriff bezieht sich auf das strategische Verhalten, Gibson, James L. & Sutherland, Joseph L. (2020), »Keeping your mouth shut: Spiraling self- censorship in the united states«, in: SSRN Electronic Journal, June 2020. 11 Menzner, Jan & Traunmüller, Richard (2022), »Subjective Freedom of Speech: Why Do Citizens Think They Cannot Speak Freely?«, in: Politische Vierteljahresschrift, August 2022. Berlin (Springer). 12 Vgl. Guriev, Sergei & Treisman, Daniel (2019). »Informational autocrats«, in: Journal of Economic Perspectives, vol. 33 no. 4, fall 2019, S. 100–127. 13 Dahl, Robert A. (1971). Polyarchy: Participation and Opposition. London (Yale University Press). 14 Siehe hierzu: Hayes, Andrew F./ Scheufele, Dietram. A. & Huge, Michael. E. (2006), »Nonparticipation as self-censorship: Publicly observable political activity in a polarized opinion climate«, in: Political Behavior, vol. 28(3), S. 259–283. 10

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die eigene Meinung zurückzuhalten, um negative Konsequenzen zu vermeiden. Selbstzensur kommt sowohl in privaten als auch in öffentlichen Kontexten und sowohl unter autoritären als auch unter demokratischen Regimen vor. Sie ist nicht automatisch ein Problem für die Demokratie, allerdings ist sie potenziell mit einer Reihe von unerwünschten Folgen verbunden. Darunter fällt die Verhinderung von politischem Wandel, das Fortbestehen unpopulärer politischer Maßnahmen, verzerrtes öffentliches Wissen und verarmte öffentliche Debatten sowie das Auftreten unerwarteter und disruptiver politi­ scher Ereignisse15. Ein Zusammenhang zwischen Selbstzensur und wahrgenom­ mener Meinungsfreiheit scheint eigentlich logisch: Personen, die sich nicht frei fühlen, sich zu äußern, versuchen stattdessen, ihre wahren Präferenzen zu verbergen16 oder vermeiden es ganz, mit ihren sozialen Kontakten und Mitbürgern über Politik zu sprechen17. Dennoch ist Selbstzensur als Verhaltensentscheidung konzeptionell unabhängig von subjektiver Rede(un-)freiheit und ist auch in der sozialen Wirklichkeit nicht deterministisch mit ihr verbunden. Man kann sich unfrei fühlen und trotzdem (oder gerade deswegen) den Mut haben, sich zu äußern. Umgekehrt kann man sich völlig frei fühlen und sich dennoch für Selbstzensur entscheiden. Zu den alternativen Motiven für Selbstzensur kann der Wunsch gehören, die Gefühle anderer nicht zu verletzen, eine bestimmte Sache zu fördern oder eine Person, Gruppe oder Organisation zu schützen18 Trotz dieser Unterscheidungen sind Selbstzensur und eine einge­ schränkte subjektive Redefreiheit gedanklich eng verknüpft. Wenn Kuran, Timur (1991), »The east european revolution of 1989: Is it surprising that we were surprised?«, in: American Economic Review, vol. 81(2), S. 121–125. Kuran, Timur (1997), Private truths, public lies: the social consequences of preference falsification, Cambridge (Harvard University Press). Jiang, Junyan & Yang, Dali L. (2016), »Lying or believing? measuring preference falsification from a political purge in China«, in: Comparative Political Studies, vol. 49(5), S. 600–634. Bar-Tal, Daniel (2017), »Self-censorship as a socio-political-psychological phenome­ non: Conception and research«, in: Political Psychology, vol. 38(S1), S. 37–65. Shen, Xiaoxiao & Truex, Rory (2020), »In search of self-censorship«, in: British Jour­ nal of Political Science, vol. 51(4), S. 1672–1684. 15 Kuran (1997). 16 Ebd. 17 Hayes et al. (2006). 18 Bar-Tal (2017).

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

man also versteht, warum Menschen sich selbst zensieren, erhält man möglicherweise wichtige Einblicke in das Wesen der subjektiven Redefreiheit. Da es sich bei der Selbstzensur um ein strategisches Verhalten handelt, ist es sinnvoll, es auf der Grundlage eines einfa­ chen Kosten-Nutzen-Kalküls zu modellieren, bei dem sich eine Person dafür entscheidet, sich zu äußern, wenn die erwarteten Vorteile die damit verbundenen Kosten übersteigen. In Anlehnung an Ong19 spezifizieren wir ein Modell, bei dem sich der erwartete Nutzen einer Meinungsäußerung aus den erwarteten Vorteilen dieser Äuße­ rung (z. B. einem Reputationsgewinn bei Gleichgesinnten oder einer psychologischen Befriedigung, die sich aus einer authentischen Äuße­ rung ergibt) und den Kosten der Äußerung (z. B. dem erforderlichen Wissen oder einem teuren Medium für die Veröffentlichung der eige­ nen Meinung) ergibt. Die Kosten inkludieren zudem die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass man für seine eigenen Äußerungen Sanktio­ nen erfährt (zum Beispiel durch den Staat oder das soziale Umfeld) und die Einschätzung, wie schlimm diese möglichen Sanktionen für einen persönlich wären. Das Modell folgt somit einer sozialwissenschaftlichen Konzep­ tion der Meinungsfreiheit, die sich von dem traditionellen legalisti­ schen Verständnis der freien Meinungsäußerung als einem verfas­ sungsmäßig garantierten »Grundrecht« unterscheidet. Stattdessen wird der Grad der subjektiven Redefreiheit durch das Ausmaß der Kosten bestimmt, die der freien Meinungsäußerung zugerechnet werden. Subjektive Meinungsfreiheit ist also einfach eine Funktion der oben beschriebenen Kosten, die der Einzelne empfindet, wenn er seine Meinung äußert. Für diejenigen, denen es an subjektiver Meinungsfreiheit mangelt, sind die wahrgenommenen Kosten der Meinungsäußerung also einfach »zu hoch«. Dieses Modell der Redefreiheit hat mehrere analytische Vorteile. Zum einen muss das, was in einem Verfassungstext über die Rede­ freiheit steht, in der Praxis nicht unbedingt wahr sein20, weshalb subjektive Wahrnehmungen der Bevölkerung eine gute Ergänzung zu bestehenden Indikatoren bieten. Außerdem ermöglicht die Modellie­ 19 Ong, Elvin (2019), »Online Repression and Self-censorship: Evidence from South­ east Asia«, in: Government and Opposition, vol. 56(1), S. 141–162. 20 Davenport, Christian A. (1996), ”Constitutional Promises« and Repressive Reality: A cross-national time- series investigation of why political and civil liberties are sup­ pressed«, in: The Journal of Politics, vol. 58(3), S. 627–654.

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rung graduelle Veränderungen der wahrgenommenen Meinungsfrei­ heit jenseits der einfachen Dichotomie, bei der die freie Meinungsäu­ ßerung entweder »existiert oder nicht«. Es sensibilisiert so auch für die Tatsache, dass selbst geringe Kostenerhöhungen weitreichende Verhaltensfolgen haben können.21 Am wichtigsten ist, dass dieses analytische Verständnis der freien Meinungsäußerung verschiedenste Quellen und Ausprägun­ gen von kosten-induzierenden Sanktionen vereinen kann. Wäh­ rend offene staatliche Unterdrückung in autoritären Kontexten (wo Regimekritiker Gefahr laufen, ins Gefängnis zu kommen) das offen­ sichtlichste Beispiel darstellt, können wahrgenommene und reale Sanktionen gegen Äußerungen auch in Demokratien eine Vielzahl von Formen annehmen (von sozialer Missbilligung bis hin zu wirt­ schaftlichen Konsequenzen) und von einer Vielzahl von Akteuren (z. B. sozialen Medienplattformen, Organisationen oder engen sozia­ len Kontakten) ausgehen. Auch hier enthalten wir uns einer norma­ tiven Bewertung, welche Aussagen oder Standpunkte sanktioniert werden sollten und welche nicht. Eine Besonderheit in liberalen Demokratien besteht darin, dass Meinungsfreiheit in der Regel gesetzlich geschützt ist und damit mögliche Sanktionen oft in erster Linie nicht formell durch den Staat geregelt sind, sondern informell durch kulturelle Normen und soziale Mechanismen22. So argumentiert John Stuart Mill in seinem Werk On Liberty, dass die Gesellschaft »ihre eigenen Mandate ausführen kann und tut: [...] sie übt eine soziale Tyrannei aus, die furchtbarer ist als viele Arten von politischer Unterdrückung, da sie, obwohl sie normalerweise nicht mit so extremen Strafen durchgesetzt wird, weniger Fluchtmöglichkeiten lässt und viel tiefer in die Details des Lebens eindringt«. Eine Vielzahl von Ansätzen verweist ebenfalls

21 Roberts, Margaret E. (2018), Censored: Distraction and Diversion Inside Chinas Great Firewall, New Jersey (Princeton University Press). Roberts, Margaret E. (2020), »Resilience to Online Censorship«, in: Annual Review of Political Science, vol. 23(1), S. 401–419. 22 Tocqueville, Alexis de (1981), De la Démocratie en Amérique, Vol. I et II, Paris (Garnier- Flammarion). Loury, Glenn C. (1994), »Self-censorship in public discourse«, in: Rationality and Society, vol. 6(4), S. 428–461. Gibson (1992).

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

auf soziale Mechanismen wie etwa die »Schweigespirale«23, laut der Personen mit Minderheitsmeinungen dazu neigen, ihre Meinung zu unterdrücken, um soziale Ausgrenzung zu vermeiden, wenn ein soziales Umfeld von einer ideologischen Perspektive dominiert wird. Andere Argumente beziehen sich auf enge persönliche soziale Netz­ werke, die einen (manchmal widersprüchlichen) Konformitätsdruck auf ihre Mitglieder ausüben und zu Konfliktvermeidungsstrategien, einschließlich einer Zensur der eigenen politischen Ansichten füh­ ren können24.

2. Wer fühlt sich frei – und wer nicht? In einer Befragung der German Longitudinal Election Study, hat jeder Fünfte in Deutschland angegeben, dass er seine Meinung in der Öffentlichkeit nicht oder eher nicht mehr frei äußern darf.25 Diese Zahl ist deutlich niedriger als die 55 Prozent aus der in der Einleitung zitierten Allensbach-Umfrage26, was an der restriktiveren Fragefor­ mulierung liegen dürfte. Dennoch stellt sie ein bemerkenswertes Ergebnis für eine liberale Demokratie dar, die auf der Idee beruht, dass alle Bürger ihre Präferenzen frei äußern können sollten. So

Noelle-Neumann, Elisabeth (1974), »The spiral of silence a theory of public opin­ ion«, in: Journal of Communication, vol. 24(2), S. 43–51. Matthes, Jörg/ Knoll, Johannes., & Sikorski, Christian von (2017), »The »spiral of silence« revisited: A Meta-Analysis on the Relationship Between Perceptions of Opi­ nion Support and Political Opinion Expression«, in: Communication Research, vol. 45(1), S. 3–33. 24 Lazarsfeld, Paul F./ Berelson, Bernard & Gaudet, Hazel (1944), The People’s Choice: How the Voter Makes Up His Mind in a Presidential Campaign, New York (Columbia University Press). Mutz, Diana C. (2002a), »The consequences of cross-cutting networks for political participation«, in: American Journal of Political Science, vol.46(4), S. 838–855. Mutz, Diana C. (2002b), »Cross-cutting social networks: Testing democratic theory in practice«, in: American Political Science Review, vol. 96(1), S. 111–126. Huckfeldt, Robert R./ Sprague, John/ Kuklinski, James H., & Wyer, Robert. S. (1995), Citizens, Politics and Social Communication: Information and Influence in an Election Campaign, Cambridge Studies in Public Opinion and Political Psychology, Cambridge (Cambridge University Press). 25 Menzner & Traunmüller (2022). 26 Institut für Demoskopie Allensbach/ Petersen (2021). 23

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Jan Menzner, Richard Traunmüller

stellte Samuel Stouffer27 in seiner bahnbrechenden Arbeit über die McCarthy-Ära (mit einem anderen Messinstrument) fest, dass sich nur 13 Prozent der US-Bevölkerung nicht frei fühlen, ihre Meinung zu äußern – also weniger als im heutigen Deutschland. Subjektive Meinungsfreiheit ist innerhalb der deutschen Bevöl­ kerung aber nicht gleichmäßig verteilt. Während es praktisch keine geschlechtsspezifischen Unterschiede gibt und die meisten Alters­ gruppen ein ähnliches Maß an subjektiver Meinungsfreiheit aufwei­ sen (mit Ausnahme der 30- bis 44-Jährigen, die sich weniger frei fühlen), lässt sich feststellen, dass ein höheres Bildungsniveau und das Leben im urbanen Raum durchschnittlich mit einer positiveren Einschätzung der Meinungsfreiheit einhergehen. Außerdem bildet sich bei Ostdeutschen, Menschen mit Migrationshistorie und solchen, die sich selbst niedrigeren gesellschaftlichen Schichten zuordnen, tendenziell ein geringeres Maß an subjektiver Meinungsfreiheit ab. Zusammengenommen deutet dies darauf hin, dass ein Mangel an subjektiver Meinungsfreiheit ein Indikator für politische Unzufrie­ denheit in den im Durchschnitt weniger privilegierten Teilen der Gesellschaft sein könnte. Unsere Analysen zeigen außerdem, dass aus einer großen Reihe getesteter Hypothesen besonders drei erklärende Faktoren signifikant, konsistent und substantiell mit der subjekti­ ven Meinungsfreiheit in Deutschland zusammenhängen: politische Präferenzen, populistische Einstellungen und die Identifikation mit der AfD.28

3. Konservative und rechte Positionen sind kostspieliger Konservative oder rechtsgerichtete Bürger besitzen weniger subjek­ tive Redefreiheit. Die vorliegende Studie legt also nahe, dass die freie Meinungsäußerung für diejenigen, deren politische Präferenzen nicht mit den Ansichten der kulturellen Linken übereinstimmen (oder gar in direktem Gegensatz zu ihnen stehen), zumindest subjektiv kostspieliger ist. Dies ist möglicherweise auf ein Gefühl zurückzu­ führen, dass ihre politischen Ansichten zunehmend mit den sich verändernden kulturellen Normen kollidieren, was zu einer höheren 27 Stouffer, Samuel A. (1955), Communism, conformity, and civil liberties: a cross-sec­ tion of the nation speaks its mind, New Jersey (Transaction Publishers). 28 Menzner & Traunmüller (2022).

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

Wahrscheinlichkeit von Sanktionen führen kann. Diese Normenver­ schiebung wird in der Literatur auch als Teil der »stillen Revolu­ tion« bezeichnet, d. h. einer breiten kulturellen Verschiebung hin zu progressiveren, sozialliberalen und postmaterialistischen Werten, die Multikulturalismus, Einwanderung, Geschlechtergleichheit und sexuelle Vielfalt umfassen29. Neben politischen Inhalten könnte die Wahrnehmung eines subjektiven Mangels an Redefreiheit demnach auch durch die Einführung neuer »politisch korrekter« Sprachnormen wie der sogenannten »geschlechtergerechten Sprache« verstärkt wer­ den, die von der progressiven Linken befürwortet und zunehmend von Organisationen wie Universitäten oder Medien übernommen werden.30 Dadurch könnten sich konservative bis rechte Bürger nicht nur für den Inhalt ihrer Überzeugungen, sondern auch für die Art und Weise, wie sie diese zum Ausdruck bringen, sanktioniert fühlen. Der Zusammenhang zwischen politischer Positionierung und subjektiver Redefreiheit existiert für eine allgemeine liberal-konser­ vative oder rechts-konservative ideologische Selbstverortung und libertäre wirtschaftspolitische Präferenzen. Er wird jedoch am deut­ lichsten, wenn es um gesellschaftspolitische Einstellungen geht. Da sich politische Präferenzen in unseren Analysen konstant mit subjektiver Meinungsfreiheit verwandt zeigten, ist es sinnvoll zu untersuchen welche spezifischen politischen Meinungen diejenigen vertreten, die sagen, dass sie nicht frei sprechen können. Zu diesem Zweck haben wir insgesamt elf zusätzliche politische Einstellungen, beispielsweise zur EU-Integration, zur Klimapolitik, zur Gleichstel­ lungspolitik und zu Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie mit der subjektiven Redefreiheit in Verbindung gebracht. Wichtig ist, dass es sich hierbei in allen Fällen um politische Präferen­ zen handelt, die ungeachtet der Bewertung ihres Inhaltes einen legiti­ men Platz im demokratischen Diskurs haben. Dennoch unterscheiden sich die Inhaber dieser Präferenzen deutlich in ihrem subjektiven Gefühl, sich frei äußern zu können. 29 Inglehart, Ronald & Welzel, Christian (2005), Modernization, Cultural Change, and Democracy. The Human Development Sequence, Cambridge (Cambridge Univer­ sity Press). Norris, Pippa & Inglehart, Ronald (2019), Cultural Backlash: Trump, Brexit, and Authoritarian Populism, Cambridge (Cambridge University Press). 30 Campbell, Bradley and Manning, Jason (2018), The Rise of Victimhood Culture: Microaggressions, Safe Spaces, and the New Culture Wars, London (Palgrave Macmil­ lan).

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Diejenigen, die eher sagen, dass sie ihre Meinung in der Öffent­ lichkeit nicht frei äußern können, sind gleichzeitig eher der Meinung, dass Einwanderer verpflichtet werden sollten, sich der deutschen Kul­ tur anzupassen, dass die staatlichen Gleichstellungsmaßnahmen zu weit gegangen sind, dass es verbindliche Volksentscheide auf Bun­ desebene geben sollte, und in etwas geringerem Maße, dass sich der Staat aus der Wirtschaft heraushalten sollte. Im Gegensatz dazu bevorzugen diejenigen, die sich freier fühlen, ihre Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern, eher eine weitere EU-Integration, sind der Meinung, dass Extremfälle wie die Covid-Pandemie die Einschrän­ kung der bürgerlichen Freiheiten rechtfertigen, und befürworten höhere Steuern auf fossile Brennstoffe zur Bekämpfung des Klima­ wandels. Politische Meinungen über Geschlechterquoten in Großun­ ternehmen, Umverteilung, eine landesweite Mietobergrenze und die Impfpflicht stehen hingegen statistisch nicht mit der subjektiven Redefreiheit in Verbindung. Welche Logik steckt in den oben beschriebenen Verbindungen zwischen Standpunkten und subjektiver Redefreiheit? Weder die gesellschaftliche Popularität der einzelnen Standpunkte, noch deren Grad gesellschaftlichen Konsens oder gesellschaftlicher Polarisierung lässt starke oder signifikante Korrelations-Muster erkennen. Einige Meinungen, die als »tabu« oder »politisch inkorrekt« gelten (z. B. eine Präferenz für eine restriktive Einwanderungspolitik), sind in der deut­ schen Gesellschaft sogar mehrheitsfähig. Das einzige weitestgehend konstante Muster ist, dass Menschen die linke Standpunkte vertreten sich gleichzeitig eine höhere subjektive Redefreiheit attestieren.

4. Schwindende Meinungsfreiheit als populistisches Narrativ Zugleich ist der Topos eingeschränkter Redefreiheit aus sogenannten »populistischen« Narrativen, kaum wegzudenken, insbesondere aus jenen, die von rechtspopulistischen Parteien vertreten werden, und in vielen liberalen Demokratien an politischer Prominenz gewonnen haben31. Ein konstituierendes Kernelement des Populismus ist die 31 Moffitt, Benjamin (2017), »Liberal illiberalism? The Reshaping of the Contem­ porary Populist Radical Right in Northern Europe«, in: Politics and Governance, vol. 5(4), S. 112–122.

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

Einteilung der Gesellschaft in das »reine Volk«, dessen einheitlicher »allgemeiner Willen« richtungsweisend für die Politik sein sollte und die »korrupte Elite«, die diesen Willen entweder nicht erhört oder sogar aktiv unterdrückt32. Aus populistischer Sicht wird so beispielsweise die Förderung von Diskursnormen wie der »politischen Korrektheit« durch die verhassten Eliten zur Zensur einer angeblichen Mehrheit zugunsten einer Minderheit umgedeutet33. Es ist insgesamt also plausibel, dass Bürger mit einer höheren Affinität zu diesen populistischen Standpunkten die freie Meinungsäußerung eher von Eliten unterdrückt sehen. Diese Sicht wird dadurch unterstützt, dass Populismusaffinität vermutlich der stärkste und zuverlässigste Prädiktor für einen subjek­ tiven Mangel an freier Meinungsäußerung im heutigen Deutschland ist. Die beiden Variablen sind so stark miteinander verknüpft, dass das Narrativ vom Verlust oder Fehlen des Rechts auf freie Meinungsäuße­ rung als konstitutives Element der populistischen Ideologie und/oder als Kommunikationsstrategie populistischer Akteure wie der AfD angesehen werden muss. Aufgrund der herausragenden Bedeutung des Populismus haben wir weiter untersucht, welche Elemente der populistischen Denk­ weise die subjektive Redefreiheit am stärksten vorhersagen. Es zeigt sich, dass einige Unterdimensionen des Populismus stärker mit dem Gefühl verbunden sind, nicht frei sprechen zu dürfen, als andere. Anti-Elitismus und die Vorstellung eines homogenen Volkes und Volkswillens werden beide mit einem wahrgenommenen Mangel an freier Meinungsäußerung in Verbindung gebracht. Am stärksten ist jedoch der Zusammenhang mit einer anti-pluralistischen Aussage, die besagt, dass Kompromisse in der Politik eine Frage schwacher Prinzipien sind. Wer politische Kompromisse ablehnt, lamentiert gleichzeitig wahrscheinlicher einen Mangel an Redefreiheit. Die letzte 32 Mudde, Cas (2004), »The populist zeitgeist«, in: Government and Opposition, vol. 39(4), S. 541–563. Akkerman, Agnes/ Mudde, Cas/ & Zaslove, Andrej (2013), »How populist are the people? Measuring populist attitudes in voters«, in: Comparative Political Studies, vol. 47(9), S. 1324–1353. Schulz, A., Müller, P., Schemer, Christian, Wirz, D. S., Wettstein, M., und Wirth, W. (2018), »Measuring populist attitudes on three dimensions«, in: International Journal of Public Opinion Research, vol. 30(2), S. 316–326. 33 Brubaker, Rogers (2017), »Between nationalism and civilizationism: the european populist moment in comparative perspective«, in: Ethnic and Racial Studies, vol. 40(8), S. 1191–1226.

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Populismus-Dimension »Volkssouveränität« zeigt gemischte Ergeb­ nisse. Zustimmung zu dem Item »Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags müssen dem Willen des Volkes Folge leisten« korreliert mit mehr subjektiver Redefreiheit, während die Zustimmung zu »Das Volk, und nicht die Politikerinnen und Politiker, sollte die wichtigsten politischen Entscheidungen treffen« mit weniger subjektiver Rede­ freiheit korreliert.

5. Freie Grüne und unfreie AfDler Ein möglicher Mechanismus, der populistische Narrative mit subjek­ tiver Meinungsfreiheit verbindet, läuft über politische Kommunika­ tion. Parteiprogramme und Pressemitteilungen34 sowie prominente Politiker der AfD propagieren aktiv ein Narrativ der eingeschränkten Meinungsfreiheit in Deutschland. So erklärte beispielsweise Bun­ destagsfraktionschef Alexander Gauland, dass Menschen, die »unbe­ queme Wahrheiten und nicht elitengefällige Meinungen öffentlich artikulieren [...], mit gesellschaftlicher Vernichtung rechnen müs­ sen«35. Zudem enthalten viele Wahlplakate oder Wahlkampfaufrufe die Forderung, die Meinungsfreiheit zu verteidigen36. Wer sich nun politisch mit der AfD identifiziert, sollte eine höhere Wahrscheinlich­ keit aufweisen auch das Narrativ der eingeschränkten Meinungsfrei­ heit zu übernehmen. Wenn man den Zusammenhang zwischen subjektiver Redefrei­ heit und parteipolitischer Identifikation empirisch betrachtet, sind drei Muster erwähnenswert. Erstens scheint die Identifikation mit der AfD, selbst unter Kontrolle politischer Ansichten, einen deutlichen Zusammenhang mit der subjektiven Meinungsfreiheit zu haben – alle anderen Parteisympathisanten geben deutlich seltener an, dass Breeze, Ruth (2018), »Positioning »the people« and its Enemies: Populism and Nationalism in AfD and UKIP«, in: Javnost – The Public, vol. 26(1), S. 89–104. Goerres, Achim/ Spies, Dennis C. & Kumlin, Staffan (2018). »The electoral supporter base of the alternative for Germany«, in: Swiss Political Science Review, vol. 24(3), S. 246–269. Keil, André. (2020), »The language of gender and authenticity in German right-wing populism«, in: Journal of Language and Politics, vol. 19(1), S. 107–124. 35 AfD (2018), Gauland: Meinungsfreiheit in Deutschland ist in ernster Gefahr [Press Release]. 36 SWR, »Wie die AfD Meinungsfreiheit fordert, aber Zensur betreibt«, 28.05.2019. AfD (2020), Joachim Kuhs: Meinungsfreiheit gegen Grüne stärken! [Press Release]. 34

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

sie nicht frei sprechen können. Zweitens gibt es dennoch erhebli­ che Unterschiede zwischen den übrigen Parteizugehörigkeiten. FDPAnhänger, Anhänger kleinerer Parteien und Personen ohne Parteizu­ gehörigkeit geben häufiger an, sich nicht frei äußern zu können als Anhänger von CDU/CSU, Die Linke oder SPD. Drittens fühlt sich niemand freier, seine Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern, als diejenigen, die sich mit den Grünen identifizieren. Da die wichtigsten soziodemografischen Merkmale bereits berücksichtigt sind, liefern diese Unterschiede zwischen den Parteien im Allgemeinen und die herausragenden, gegenläufigen Effekte für Grünen- und AfD-Identi­ fikation weitere Hinweise für die Annahme, dass einige politische Standpunkte als kostspieliger empfunden werden als andere. Wir sollten jedoch auch darauf hinweisen, dass der Quer­ schnittscharakter dieser Studie nicht belegen kann, dass der kausale Pfad tatsächlich von der AfD-Identifikation zum subjektiven Gefühl der Meinungsfreiheit der Anhänger verläuft, wie es ein politisches Einflussmodell nahelegen würde. Wenn der Mangel an subjektiver Meinungsfreiheit ein Ausdruck politischer Unzufriedenheit ist, ist der umgekehrte Weg ebenso plausibel: Wer seine Stimme von der etablierten Politik nicht wahrgenommen sieht, wendet sich mögli­ cherweise stattdessen populistischen politischen Optionen zu.

6. Linke »Cancel Culture« oder rechtspopulistisches Narrativ? Angesichts der polarisierten öffentlichen Diskussion über die Mei­ nungsfreiheit ist es aufschlussreich zu fragen, wie sich unsere Ergeb­ nisse zu dieser Debatte verhalten. Wird die freie Meinungsäuße­ rung in Deutschland durch die Ausbreitung »politisch korrekter« Sprachnormen bedroht und durch die so genannte »Cancel Culture« unterdrückt, die einfach keine Standpunkte dulden kann, welche sie als moralisch oder politisch unangemessen betrachtet? Ist der vermeintliche Verlust der Meinungsfreiheit lediglich das Lamento dominanter gesellschaftlicher Gruppen, die sich an ihre kulturellen Privilegien klammern? Oder ist es sogar ein strategisches Narrativ, das von Rechtsextremisten gesponnen wird, die ihre diskriminieren­ den Ansichten verbreiten wollen? So verlockend es auch sein mag, mit Nachdruck für die eine oder andere Sichtweise zu argumentieren, so

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Jan Menzner, Richard Traunmüller

sind die uns bislang vorliegenden empirischen Ergebnisse doch nuan­ cierter. Natürlich können unsere Daten nicht beweisen, ob die abgefrag­ ten subjektiven Wahrnehmungen tatsächlich genaue Beschreibungen des gegenwärtigen kulturellen Klimas sind. Sie geben auch keine Auskunft über die tatsächlichen rechtlichen und sozialen Sanktionen, die die Menschen realistischerweise erwarten könnten. Wenn wir Guriev & Treisman37 in der Annahme folgen, dass höher gebildete und gut informierte Bürger ein realistischeres Verständnis des wahren Zustands der freien Meinungsäußerung haben, dann gibt es Grund an den Einschätzungen der Befragten zu zweifeln. Unsere Ergebnisse zeigen, dass ein höheres Bildungsniveau, ein besseres politisches Wissen sowie eine größere politische Wirksamkeit mit einer größeren subjektiven Redefreiheit zusammenhängen – unabhängig von politi­ schen, wirtschaftlichen und kulturellen Präferenzen. Gleichzeitig scheint es jedoch zu kurz gedacht, einen subjekti­ ven Mangel an Meinungsfreiheit als bloße Klage gesellschaftlich dominanter Gruppen darzustellen, die um ihre kulturellen Privilegien fürchten. Denn: Gerade Personen aus unteren sozialen Schichten, solche mit Migrationshintergrund sowie Ostdeutsche geben am häu­ figsten an, dass sie ihre Meinung nicht öffentlich äußern dürfen. Dies deutet insgesamt darauf hin, dass das Bekenntnis zu einem Mangel an freier Meinungsäußerung eher als Ausdruck von Unzufrie­ denheit und Entfremdung denn als akkurate Beschreibung objektiver Meinungsfreiheit zu verstehen ist. Dieses Ergebnis unterscheidet sich von Gibson & Sutherland38, die herausgefunden haben, dass in den USA vor allem hoch gebildete Menschen einen Mangel an subjektiver Meinungsfreiheit beklagen.

7. »Cancel Culture« und Selbszensur Ein alternativer Weg sich der Frage nach der Existenz und den Aus­ wirkungen einer vermeintlichen »Cancel Culture« zu nähern besteht darin, das individuelle Selbstzensurverhalten in verschiedenen kultu­ rellen Meinungskontexten zu untersuchen. Auf der Grundlage einer 37 38

Guriev & Treisman (2019). Gibson & Sutherland (2020).

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

Umfrage unter rund 20'000 Studenten aus 55 verschiedenen USamerikanischen Universitätskontexten und unter Verwendung einfa­ cher statistischer Regressionsmodelle findet Traunmüller39 breite Unterstützung für die Vorhersagen seiner »Cancel Culture Hypo­ these«. In Universitätskontexten mit weit verbreiteten kulturellen Nor­ men und Praktiken der »Cancel Culture« kommt es zu mehr tatsäch­ lichen Ausladungsversuchen und erfolgreichen Ausladungen von Gastrednern. Auch hier enthalten wir uns einer normativen Aussage darüber, welchen Rednern an Universitäten (k)eine Plattform geboten werden sollte. Wichtig ist jedoch, dass an denselben Universitäten auch das Selbstzensurverhalten der Studenten signifikant stärker ausgeprägt ist. Dieses Resultat gilt unabhängig von sozio-strukturel­ len Merkmalen der Studierendenschaft, der vorherrschenden politi­ schen Orientierung, dem Universitätstypus sowie von regionalen Eigenschaften des Universitätsstandorts. Je verbreiteter demnach die sozio-kulturellen Normen der »Cancel Culture«, desto stärker ist auch das Selbstzensurverhalten an der Universität. Dies ist genau, was Kritiker einer »Cancel Culture« befürchten und die »Cancel Culture Hypothese« vorhersagt.

8. Kann »Cancel Culture« positive Auswirkungen haben? Gegner der »Cancel Culture Hypothese« – wenn sie diese nicht von vornherein als bloßen Mythos oder moralische Panik abtun40– bejahen viele der Prinzipien und Normen, die der »Cancel Culture« zugrunde liegen. Sie betrachten die Gesellschaft und die Hochschulen als inhärent vermachtete und ungerechte institutionelle Strukturen, die dominante soziale Gruppen (d. h. Männer, Weiße, Heterosexu­ elle) privilegieren, während sie nicht privilegierten sozialen Gruppen (d. h. Frauen, Nicht-Weiße, sexuelle Minderheiten) systematisch dis­ kriminieren und ausschließen. Die Befürworter der »Cancel Culture« argumentieren daher, dass eine gewisse Intoleranz und die aktive Verhinderung kontroverser Redner nicht nur legitime Formen der Meinungsäußerung und des Protests sind, sondern auch ein ange­ Traunmüller (2022). Wilson, John K. (1995), The myth of political correctness: the conservative attack on higher education, Durham (Duke University Press). 39

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messenes Mittel zur Bekämpfung struktureller Diskriminierung. Vor allem sei die »Cancel Culture« weit davon entfernt, eine Bedrohung der Redefreiheit darzustellen. Vielmehr fördert sie die Redefreiheit, weil sie dazu beiträgt, nicht privilegierten Stimmen Raum und Gehör zu verschaffen.41 Die hier zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht einfach nur eine normative Umkehrung der »Cancel Culture Hypothese«, die auf konkurrierende Werturteile über die Chancen und Gefahren von »Cancel Culture« hinausläuft. Obwohl sie aus einer normativkritischen, nicht aus einer positiv-analytischen Theorie abgeleitet ist, liefert die Hypothese des »Minority Empowerments« klar beob­ achtbare Implikationen, die empirisch getestet werden können. Zum Beispiel, indem man die statistischen Analysen getrennt für weibliche Studenten und für Angehörige ethnischer und sexueller Minderheiten wiederholt und untersucht, inwieweit die Normen der »Cancel Cul­ ture« das Selbstzensurverhalten dieser Gruppen verringern und sie tatsächlich ermutigen, sich freier zu äußern. Mit den Resultaten von Traunmüller42 lässt sich diese Alterna­ tivhypothese getrennt für weibliche Studierende, für ethnische sowie für sexuelle Minderheiten überprüfen. Die Ergebnisse lassen folgende Schlüsse zu: »Cancel Culture« steht in keinem statistischen Zusam­ menhang mit der Ungleichheit im Selbstzensurverhalten zwischen vermeintlich marginalisierten und vermeintlich privilegierten Grup­ pen. Dies ist weder hinsichtlich des Geschlechts noch der Ethnizität oder der sexuellen Orientierung der Fall. Die entsprechenden Koef­ fizienten sind nicht nur nicht signifikant, ihre Größe ist auch nahe null. In noch weiter disaggregierten Analysen, welche den Einfluss von »Cancel Culture« auf die Selbstzensur von Afro-Amerikanern, Asiaten, Hispanics und Muslimen zum Gegenstand hatten, lässt sich ebenfalls kein positiver Effekt feststellen. Zusammengefasst bietet die vorliegende Studie nur wenig bis keine empirische Evidenz für das Argument der Befürworter der »Cancel Culture«, welche darin 41 Marcuse, Herbert (1965), »Repressive Tolerance«, in: A Critique of Pure Tolerance, Robert Paul Wolff, Barrington Moore, Herbert Marcuse (Hg.), Boston (Bea­ con Press), S. 95–137. Medina, José (2013), The epistemology of resistance: Gender and racial oppression, epistemic injustice, and resistant imaginations. Oxford (Oxford University Press). Schubert, Karsten (2021), Defending Plurality. Four Reasons Why We Need to Rethink Academic Freedom in Europe. (https://verfassungsblog.de/defending-plurality/). 42 Traunmüller (2022).

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Wie frei ist die freie Meinungsäußerung wirklich?

ein Werkzeug der Emanzipation und Antidiskriminierung sehen. Im Gegenteil, »Cancel Culture« verstärkt in allen sozialen Gruppen, auch den jeweiligen gesellschaftlichen Minderheiten, gleichermaßen die Tendenz zur Selbstzensur.

9. Was die freie Meinungsäußerung vermutlich nicht einschränkt In Anbetracht der lebhaften öffentlichen Debatte über die Redefreiheit und ihre postulierten Grenzen ist es natürlich auch aufschlussreich, auf Faktoren hinzuweisen, die in unseren Analysen keinen Einfluss auf das subjektive Empfinden der Bürger haben. Erstens finden wir kaum Belege für die Hypothese, dass die subjektive Meinungsfreiheit eine Frage der psychologischen Veranlagung oder der Persönlich­ keit ist. So stehen weder die Persönlichkeitseigenschaft Offenheit noch Neurotizismus in einem konsistenten Zusammenhang mit der wahrgenommenen Redefreiheit. Dieses Ergebnis widerspricht dem Argument, dass diejenigen, die sich über mangelnde Meinungsfrei­ heit beschweren, aufgrund psychologischer Prädispositionen emp­ findlicher seien und deshalb Widerspruch als kostspieliger wahrneh­ men würden. Zweitens stützen die empirischen Ergebnisse in Menzner & Traunmüller43 auch keinen pauschalen Zusammenhang zwischen der subjektiven Redefreiheit und der Nutzung von sozialen Medien oder digitalen Chat-Diensten. Weder die Häufigkeit der Internetnut­ zung noch die Anzahl der genutzten Social-Media-Plattformen oder eine aktive politische Online-Beteiligung stehen in einem robusten Zusammenhang mit der subjektiven Redefreiheit. Wir sollten jedoch auch darauf hinweisen, dass wir in zusätzlichen explorativen Ana­ lysen deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Social-MediaPlattformen festgestellt haben. Die Nutzung von Facebook und Telegram ist sehr stark, die von TikTok etwas schwächer, mit einem wahrgenommenen Mangel an Meinungsfreiheit verbunden. Nutzer von Signal, Twitter, Threema, Discord oder Whatsapp fühlen sich eher frei, ihre Meinung zu äußern. Woher kommen diese Unterschiede? Der Plattform-Typ 43

Menzner & Traunmüller (2022).

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Jan Menzner, Richard Traunmüller

ist wohl nicht ausschlaggebend. Signal, Whatsapp und Telegram sind sich in ihrer Funktionalität beispielsweise sehr ähnlich, weisen aber gegensätzliche Beziehungen zur subjektiven Redefreiheit auf. Stattdessen liegt eine mögliche Erklärung für die unterschiedlichen Plattformergebnisse in deren »Echokammereffekten«44 und in ihrer prototypischen Nutzerbasis. Telegram wurde etwa in vergangenen Jahren in großem Umfang von politischen Akteuren von Mitte-Rechts bis hin zu Verschwörungspopulisten und Extremisten vereinnahmt. Dies kann die Plattform und mit ihr verbundene Gruppen zu einem potenziellen Nährboden für das Narrativ der eingeschränkten Rede­ freiheit machen. Wichtig ist, dass wir auch hier keine kausale Aussage darüber treffen können, inwieweit die ermittelten Zusammenhänge durch eine Selbst-Selektion bei der Netzwerkwahl aufgrund beste­ hender Ansichten oder durch eine Übernahme von Narrativen im Netzwerk erfolgen. Zuletzt haben wir ermittelt, ob politische Gespräche mit Anders­ denkenden mit der subjektiven Redefreiheit zusammenhängen. Wir finden jedoch wenig empirische Unterstützung dafür, dass vielfälti­ gere Gesprächs-Netzwerke mit einer höheren subjektiven Meinungs­ freiheit korrelieren. Zum einen lässt dies Zweifel an der Vorstellung aufkommen, dass die Möglichkeit, »die andere Seite zu hören«, eine natürliche und logische Lösung für die wahrgenommene Krise der Meinungsfreiheit darstellt. Zum anderen ermahnt uns dieses Ergebnis erneut, in zukünftigen Studien theoretisch klar zwischen wahrgenommener Redefreiheit und gelebter Redefreiheit (oder eben derer Selbstzensur) zu unterscheiden. Natürlich ist die Vielfalt der Gesprächs-Netzwerke nur ein möglicher Weg den Zusammenhang zwischen subjektiver politischer Polarisierung und wahrgenommener Redefreiheit zu untersuchen. Mit den vorliegenden Daten war es uns nicht möglich, tiefergehende Identifikationsprozesse, die der politischen Polarisierung zugrunde liegen, und deren Einfluss auf die subjektiven Kosten der Meinungsäußerung genauer zu untersuchen. Diese und andere Fragen, die wir in der Diskussion aufgeworfen haben, möchten wir in zukünftigen Arbeiten untersuchen. 44 Sunstein, Cass (2017), #Republic: Divided Democracy in the Age of Social Media. New Jersey (Princeton University Press). Cinelli, M./ De Francisci Morales, G./ Galeazzi, A./ Quattrociocchi, W. & Starnini, M. (2021), »The echo chamber effect on social media«, in: Proceedings of the National Academy of Sciences, vol. 118(9).

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Sandra Kostner

Bedrohte Meinungsfreiheit oder Meinungsfreiheit als Bedrohung?

Ein guter Indikator dafür, wie es in Deutschland um das Meinungs­ klima bestellt ist, sind die seit 1953 durchgeführten Erhebungen des Instituts für Demoskopie Allensbach. In 68 Jahren stimmten nur zu einem einzigen Befragungszeitpunkt weniger als 50 Prozent der Aussage zu, dass man in Deutschland »seine politische Meinung frei sagen kann«. Das war im Jahr 2021. In diesem hatten nur noch 45 Prozent das Gefühl, dass man seine politische Meinung frei äußern könne, während 44 Prozent angaben, dass man hier lieber Vorsicht walten lasse. Auffällig ist zudem, dass der Anteil der Befragten, der die Freiheit der politischen Meinungsäußerung als gegeben ansah, zwischen 2011 und 2021 so stark zurückging wie noch nie zuvor: nämlich um 21 Prozent. Eingetrübt hatte sich das freiheitliche Meinungsklima schon ab den frühen 1990er Jahren, wobei sich der Abwärtstrend zwischen 1991 und 2011 eher schleichend vollzog. Fühlten sich 1991 noch 78 Prozent der Befragten frei, in der Öffentlichkeit zu politischen Themen Stellung zu beziehen, waren es zwanzig Jahre später nur noch 66 Prozent. Dieser Abwärtstrend folgte auf zwei Jahrzehnte (1953 bis 1971) eines sich liberalisierenden Meinungsklimas, das im Jahr 1971 mit 83 Prozent der Befragten, die sich frei fühlten, sich politisch zu äußern, den höchsten Freiheitswert erzielte, und auf zwei Jahrzehnte (1971 bis 1991) eines weitgehend stabilen freiheitlichen Meinungsklimas, in denen jeweils ca. 80 Prozent angaben, sich frei äußern zu können. Diese historische Einordnung wirft die Frage auf: Welche freiheitsfeindlichen Ideen und Mechanismen haben gerade in den letzten 10 Jahren so an Dynamik gewonnen, dass deutlich mehr

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Sandra Kostner

Menschen denken, man tue seine politische Meinung besser nicht öffentlich kund?1

1. Meinungsfreiheit unterm Läuterungsrad2 Die Themen, die von den Befragten als »heikel« eingestuft werden, weisen darauf hin, dass das repressive Meinungsklima insbesondere von Vertretern der identitätslinken Läuterungsagenda3 erzeugt wird. Denn es sind die Themen, auf denen ihr Fokus liegt, nämlich Mus­ lime/ Islam, Migration und Geschlecht/ Gender/ sexuelle Orientie­ rung, bei denen die meisten Befragten der Allensbach-Umfragen sagten, dass man aufpassen müsse, wie man sich dazu äußert.4 Studien zur Wissenschafts- und Meinungsfreiheit an Universi­ täten zeigen ebenfalls, dass es die vorgenannten Themen sind, bei denen die meisten Lehrenden und Studierenden Einschränkungen wahrnehmen, beziehungsweise bei denen die meisten Studierenden Einschränkungen für notwendig erachten. So befragte das AllensbachInstitut im Auftrag des Deutschen Hochschulverbands und der Kon­ rad-Adenauer-Stiftung im Oktober 2021 rund 1000 Wissenschaftler. Das Ergebnis: 40 Prozent gaben an, dass sie sich »in ihrer Lehre durch formelle oder informelle Vorgaben zur Political Correctness stark oder etwas eingeschränkt« fühlten. 18 Prozent sagten, dass »Political Correctness [es] verhindere, dass man bestimmten Forschungsfragen 1 Institut für Demoskopie Allensbach (2021), »Die Mehrheit fühlt sich gegängelt«, Dokumentation des Beitrags von Dr. Thomas Petersen, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 16. Juni 2021, S. 8. 2 Die unter »Meinungsfreiheit unterm Läuterungsrad?« ausgeführten Überlegungen sind teilweise aus dieser Veröffentlichung übernommen: Kostner, Sandra (2020), »Hochschulen in den 2020er-Jahren. Intellektuelle Vielfalt oder intellektuelle Lock­ downs«, in: Zeitschrift für Politik, Sonderband 10, 2022, S. 7–30, S. 14–17. 3 Der Begriff »identitätslinke Läuterungsagenda« bezeichnet eine spezifische Form der linken Identitätspolitik, die weiter unten kurz ausgeführt wird. Für eine detaillierte Analyse siehe: Kostner, Sandra (2019), »Einleitung: Identitätslinke Läuterungs­ agenda. Genese des Analysekonzepts und Ziele des Bandes« und »Identitätslinke Läuterungsagenda. Welche Folgen hat sie für Migrationsgesellschaften?«, in: Kostner, Sandra (Hg.) (2019a), Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Stuttgart (Ibidem), S. 7–16 und S. 17–73. 4 Ebd.; Köcher, Renate (2019), »Grenzen der Freiheit. Der Raum für die Meinungs­ freiheit wird kleiner, so sieht es eine Mehrheit der Bürger. Denn mehr Themen werden zu Tabuzonen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Mai 2019, S. 12.

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nachgehen könne. Bei der Befragung zwei Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 13 Prozent. Insbesondere die Geistes- und Sozialwissen­ schaften sind davon betroffen, da sie viele Themen bearbeiten, auf die sich die Läuterungsagenda mit ihrem sichtbarsten Instrument der Political Correctness auswirkt. Hier ist der Anteil der Wissenschaftler in den letzten beiden Jahren von gut einem Drittel auf über die Hälfte gestiegen.5 Eine circa 1000 Studierende der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt umfassende Studie, die im Jahr 2020 der Frage nachging, ob die Meinungsfreiheit auf dem Campus gefährdet sei, kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es die Themen Islam, Geschlecht/ Gender/ sexuelle Orientierung und Migration sind, die besonders von Einschränkungsbestrebungen betroffen sind. So vertraten 83 Prozent der befragten Studierenden die Meinung, dass Personen, die der Ansicht seien, Homosexualität sei unmora­ lisch, nicht an Universitäten lehren dürften. 64 Prozent vertraten diesen Standpunkt hinsichtlich der Ansicht, dass es »biologische Unterschiede in den Talenten zwischen Männern und Frauen« gäbe. Zudem waren zwischen einem Drittel und der Hälfte der Befragten dagegen, Redner mit abweichenden Meinungen zu den Themen Islam, Geschlecht und Migration an der Universität zu dulden. Und ein Drittel möchte die Bücher von Autoren, die solche Meinungen vertreten, aus der Universitätsbibliothek entfernt sehen. Studierende plädieren aber nicht nur für Einschränkungen, sondern sind auch selbst davon betroffen, vor allem wenn sie nicht dem unter der unter­ suchten Studierendenpopulation dominierenden linken politischen Spektrum angehören. Ungefähr ein Viertel gab an, schon einmal für eine Äußerung persönlich angegriffen worden zu sein, und ein Drittel sagte, dass sie bei diesen Themen vermieden, ihre Ansichten in Seminardiskussionen offenzulegen.6 Was hat nun dieses sich eintrübende Meinungsklima mit der oben erwähnten identitätslinken Läuterungsagenda zu tun, bezie­ Forschung & Lehre, »Wissenschaftler sehen Political Correctness kritisch«, 18. November 2021: https://www.forschung-und-lehre.de/zeitfragen/wissenschaf tler-meiden-umstrittene-themen-4192; Forschung & Lehre, »Hochschullehrer bekla­ gen zunehmende Bürokratie«, 12. Februar 2020: https://www.forschung-und-lehr e.de/politik/hochschullehrer-beklagen-zunehmende-buerokratie-2525. 6 Revers, Matthias und Traunmüller, Richard (2020) »Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Nr. 72, 2020, S. 471–497. 5

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hungsweise was ist unter dieser Agenda zu verstehen? Die identitäts­ linke Läuterungsagenda wird von Personen vorangetrieben, die sich selbst politisch links verorten und die Menschen schematisch in Träger von Opfer- oder Schuldidentitäten einteilen. Ihre Läuterung unter Beweis stellen müssen diejenigen, die aufgrund eines Abstammungs­ merkmals für die Unterdrückung, Abwertung und Diskriminierung spezifischer Gruppen verantwortlich gemacht werden, und denen deshalb eine Schuldidentität verordnet wird. So müssen sich Männer als geläutert gegenüber Frauen zeigen, Heterosexuelle gegenüber Homosexuellen, sogenannte »Cis-Männer und Cis-Frauen« gegen­ über Menschen mit einer Transgenderidentität, »Weiße« gegenüber »Nichtweißen«, Nichtmigranten gegenüber Migranten sowie Chris­ ten gegenüber insbesondere Muslimen. Dabei gibt es eine Läute­ rungspyramide: Ganz oben stehen diejenigen, die Unterdrückungsund Abwertungserfahrungen geltend machen können, die mit der »westlichen Erbsünde« schlechthin verbunden werden, also mit Ras­ sismus und Kolonialismus. Um als geläutert zu gelten, reicht es für Träger von Schuldiden­ titäten nicht, individuell nachweisen zu können, dass sie nicht rassis­ tisch, sexistisch, islamophob, homo- oder transphob sind. Erst wenn kein Träger einer Schuldidentität mehr in irgendeiner Form ein Den­ ken und Handeln erkennen lässt, das als rassistisch etc. interpretiert werden könnte, kann der Einzelne aus dem Schuldstatus entlassen werden. Dieses Abhängigkeitsverhältnis ist der Grund dafür, dass die­ jenigen, die nach Läuterung streben, versuchen, Druck auf diejenigen auszuüben, die sie als Angehörige »ihrer« Schuldgruppe sehen. Verstärkt wird der Druck von Akteuren der jeweiligen Opferseite, die sich bewusst sind, dass sie nur so lange von der Schuldseite materielle und moralische Kompensationsleistungen einfordern kön­ nen, wie dort bei einer hinreichend großen beziehungsweise wirk­ mächtigen Gruppe ein Läuterungsbedürfnis besteht. Daher ist der inzwischen weit fortgeschrittene Abbau von Ungleichbehandlungen für die Akteure auf der Opferseite ein zweischneidiges Schwert: Einerseits ist dieser ein großer Gewinn für sie, andererseits büßen sie so sukzessive ihre gesellschaftliche Wirkmächtigkeit ein. Um den Läuterungsdruck aufrechtzuerhalten, fokussieren sie sich deshalb zunehmend auf Gefühlsverletzungen.7 Kostner (2019a). Und: Kostner, Sandra (2019b), »Contra. Streiten mit dem Unter­ strich«, in: Tagesspiegel, 24. November 2019, S. 5.

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Sie machen sich dabei die Vorgehensweise des »Concept Creep“ zunutze. Der Begriff »Concept Creep“ wurde von Nick Haslam, einem australischen Sozialpsychologen, geprägt, um das Phänomen analy­ tisch zu fassen, das insbesondere seit Beginn der 2000er Jahre um sich greift: die zunehmende Ausdehnung der Vorstellung dessen, was Menschen als Gewalt erleben und was sie emotional schädigt. Diese Ausdehnung findet ihren sprachlichen Ausdruck in Neologismen wie: Mikroaggression, Mikroangriff, Mikroübergriff, Mikroinvalidierung sowie Mansplaining oder Whitesplaining. Es werden also etablierte Begriffe für gewalttätiges, teilweise strafrechtsrelevantes Handeln verwendet, um sie durch die Vorsilbe »Mikro« auf Gefühlsverlet­ zungen übertragen zu können, die bis dato nicht mit Gewaltakten beziehungsweise einem emotionalen Schädigungspotenzial assozi­ iert wurden.8 Aus Sicht der Vertreter der identitätslinken Läuterungsagenda können nur Träger von Opferidentitäten emotionale (Mikro-)Verlet­ zungen geltend machen. Andersherum heißt das, dass nur die Trä­ ger von Schuldidentitäten sprachliche Gewaltakte begehen können. Deshalb gibt es auch kein weibliches Pendant zum »Mansplaining«, denn nur Frauen als Träger einer Opferidentität können die Worte von Männern als herablassend erleben. Das Gleiche gilt für den Neologismus »Whitesplaining«, der für Äußerungen von »Weißen«, insbesondere zu den Themen Rassismus und Antidiskriminierung, verwendet wird, wenn das Gesagte nicht im Einklang mit der Läute­ rungsagenda steht. Ob ein mikroaggressives oder mikroinvalidierendes Verhalten vorliegt, wird allein der Beurteilung der Person überlassen, die sich durch eine Äußerung verletzt fühlt. Zudem gilt die Devise, dass die der Mikroinvalidierung etc. bezichtigte Person nicht absichtsvoll verletzend agieren muss. Darüber hinaus gilt es die Träger von Opferidentitäten nicht nur vor Gefühlsverletzungen in konkreten sozialen Interaktionen zu schützen, sondern auch vor emotionalen »Schädigungen« durch öffentliche Debatten oder durch Objekte, wie Bücher, Gemälde, Statuen und Straßennamen. Aus diesem Grund gilt es, alle Meinungsäußerungen zu unterlassen und Objekte zu ent­ fernen (Bücher, Statuen, Gemälde) oder umzubenennen (Straßen), die bei Opfern irgendeine Form von emotionalem Unbehagen oder 8 Haslam, Nick (2016), »Concept Creep: Psychology’s expanding Concepts of Harm and Pathology«, in: Psychological Inquiry, vol. 27(1), S. 1–17.

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Erinnerungen an Diskriminierungserfahrungen auslösen könnten. Dabei gilt: Die Behauptung eines Opfers, dass jemand oder etwas seine Gefühle verletzt habe, darf nicht hinterfragt werden, da dies wahlweise als Mikroinvalidierung oder Mikroaggression erlebt wer­ den könnte, womit die mangelnde Läuterung der Schuldseite nicht nur durch die Gefühlsverletzung, sondern auch durch deren Infrage­ stellung als bewiesen angesehen wird. An den Universitäten, an denen besonders viele Anhänger der identitätslinken Läuterungsagenda lehren und studieren, allen voran in Nordamerika, fordern daher Studierende, dass ihr Campus ein »Safe Space« zu sein hat: ein Raum, in dem kein Opferidentitätsträ­ ger in Kontakt mit etwas kommt, das er als diskriminierend oder verletzend empfinden könnte. Ferner fordern sie, dass Lehrende sogenannte »Triggerwarnungen« für Seminartexte aussprechen, in denen Wörter vorkommen oder Ideen präsentiert werden, die Opfer von Diskriminierungen re-traumatisieren könnten. Tun Lehrende das nicht, führt das nicht selten dazu, dass Studierende sich bei Leitungs­ ebenen beschweren. Das hat teilweise erhebliche Konsequenzen für die Lehrenden, bis hin zum Jobverlust.9 Es liegt auf der Hand, dass die Orientierung daran, was von Angehörigen spezifischer Gruppen als emotional verletzend, diskri­ minierend oder re-traumatisierend empfunden werden kann, massive Folgen für das Diskursklima in einer Gesellschaft hat. Wenn der Schutz vor Meinungen wichtiger ist als der Schutz von Meinungen, bleibt die Meinungsfreiheit in ihrer verfassungsrechtlichen Intention, d.h. als Recht des Individuums anderen gegenüber seine Meinung kundzutun, auf der Strecke. Und wenn Menschen aufgrund eines Abstammungsmerkmals eine legitime oder illegitime Stimme zuge­ sprochen wird, wenn ihnen aufgrund dieses Merkmals vorgeschrie­ ben wird, was sie zu wem in welchen Worten sagen dürfen, dann büßt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit ab dem Moment deutlich an Vitalität ein, ab dem die selbsternannten Diskurswächter über eine hinreichend große institutionelle oder gesellschaftliche Macht verfügen, um mithilfe von sozialen Sanktionsmitteln den Preis für Für konkrete Beispiele siehe: Campbell, Bradley & Manning, Jason (2018), The Rise of Victimhood Culture. Microaggressions, Safe Spaces and the New Culture Wars, Lon­ don (Palgrave Macmillan); Furedi, Frank (2017), What’s Happened to the University? A Sociological Exploration of its Infantilisation, London (Routledge); Homepage von FIRE: https://www.thefire.org/; Homepage des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit e.V.: https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/dokumentation/. 9

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eine Meinungsäußerung so erhöhen zu können, dass er vielen zu hoch wird. Dass die von Studien belegte Verengung des Meinungskorridors bei allen Themen, die von der identitätslinken Läuterungsagenda tangiert werden, gerade im letzten Jahrzehnt stark zugenommen hat, ist maßgeblich darauf zurückzuführen, dass die Läuterungsentrepre­ neure an den Universitäten, in den Medien, aber auch in der Politik nunmehr eine kritische Masse ausmachen, die es ihnen ermöglicht, den Preis für missliebige Meinungsäußerungen stark anzuheben.

2. Meinungsfreiheit steht der Klimarettung im Weg Die Umfragen und Studien zur Meinungsfreiheit heben bislang schwerpunktmäßig auf identitätspolitische Themen ab, was damit zu tun hat, dass bei diesen über einen längeren Zeitraum ein Kos­ tendruck aufgebaut wurde. Hinzu kommt, dass »Verstöße« gegen die Läuterungsagenda lautstark skandalisiert werden, wodurch sie die Öffentlichkeit erreichen. Exemplarisch seien hier nur die regel­ mäßig inszenierten Empörungsrituale genannt, wenn jemand einen Begriff verwendet, der von läuterungskonformen Sprachregelungen abweicht. Oder die Kämpfe um die »richtige« genderinklusive Spra­ che, zu der von immer mehr Institutionen (verbindliche) Leitfäden vorgelegt werden. Wer sich weigert, agendakonform zu gendern, erleidet schnell Nachteile, beispielsweise in Bewerbungsverfahren, wenn im Vorstellungsgespräch der fehlende Glottisschlag als Miss­ achtung von Menschen mit Transgenderidentitäten gewertet wird. Ein weiteres Thema, das in jüngerer Zeit zu einem verminten Gelände wurde, ist der Klimawandel. Einen Einblick darin, wie schwierig ein offener Diskurs zum Thema Klimawandel zumindest an Universitäten ist, gibt die oben erwähnte vom Allensbach-Institut durchgeführte Befragung von 1000 Wissenschaftlern im Oktober 2021. Die Hälfte der Befragten war der Meinung, dass es an einer Universität nicht erlaubt sein sollte, den Klimawandel zu bestreiten. Mittlerweile wird häufig bereits unter »den Klimawandel bestreiten« gefasst, wenn jemand in Zweifel zieht, dass der Klimawandel aus­ schließlich oder dominant anthropogen verursacht wurde. Insofern ist davon auszugehen, dass die Antworten der Befragten sich nicht nur auf das Bestreiten des Klimawandels beziehen, sondern sich

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auch auf die Anzweiflung der anthropogenen Ursachen sowie der Ausprägungsformen und Folgen des Klimawandels erstrecken.10 Zur Kontextualisierung der von den Befragten gegebenen Ant­ worten: Auf der »Erlaubtheitsskala« lag das Bestreiten des Klimawan­ dels deutlich hinter den Themen »sich der gendergerechten Sprache verweigern« und »einen Rechtspopulisten zu einer Podiumsdiskus­ sion einladen« (80 respektive 74 Prozent wollten dies erlaubt sehen) sowie eindeutig vor den Themen »Rassenforschung betreiben« (34 Prozent), »den Islam als Religion ablehnen« (33 Prozent) oder »das Grundgesetz ablehnen« (6 Prozent). Auch die Antworten auf die Frage: »Mit welchen dieser Verhaltensweisen würde man an einer Universität auf erheblichen Widerstand stoßen, egal, ob von den Studierenden oder von der Universitätsleitung?« zeigen, dass das Bestreiten des Klimawandels nunmehr zu den heikelsten Themen gehört. Bei der Befragung 2019/20 stuften 63 Prozent der Befragten dies als widerstandshervorrufendes Thema ein, 2021 waren es sogar 70 Prozent. Damit wurde 2021 das Bestreiten des Klimawandels als heikler von den Befragten eingestuft als die Einladung eines Rechts­ populisten zu einer Podiumsdiskussion (67 Prozent), die Ablehnung des Islams als Religion (65 Prozent) oder sich der gendergerechten Sprache zu verweigern (47 Prozent).11 Der Grund für den bezüglich des Klimawandels zunehmend als repressiv empfundenen Diskursraum ist, dass dieses eigentlich natur­ wissenschaftliche Thema, das umfangreiches Wissen voraussetzt, um eine fundierte Meinung vertreten zu können, im letzten Jahrzehnt stark moralisiert und dergestalt auch emotionalisiert wurde. Überdies reagierten maßgebliche politische Institutionen auf den Klimawandel mit einer Transformationsagenda, wodurch dieses Thema politisiert wurde. Ziel dieser Agenda ist es, eine CO₂-neutrale Lebensweise zu erreichen, womit teilweise tiefgreifende Umgestaltungen von Wirtschaft und Gesellschaft einhergehen. Exemplarisch sind hier das deutsche Klimaschutzgesetz sowie die von der Bundesregierung 10 Siehe beispielsweise: Puttfarcken, Lena (2020), »Die Szene der ›Klimawandel­ leugner‹“, in: SWR 2 Wissen, 16. Februar 2020: https://www.swr.de/swr2/wissen/ szene-der-klimaleugner-100.html. 11 Institut für Demoskopie Allensbach (im Auftrag der KAS und des DHV) (2021), Das geistige Klima an den Universitäten. Ergebnisse einer Online-Befragung von Hoch­ schullehrern. Online-Präsentation, 18. November 2021, Folien 17 und 18 sowie Folien 23 und 24 (https://www.kas.de/de/pressemitteilungen/detail/-/content/hochsch ullehrer-unter-druck).

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im Juni 2022 ins Leben gerufene »Allianz für Transformation« zu nennen. Das Klimaschutzgesetz legt fest, dass Deutschland bis zum Jahr 2045 »Treibhausneutralität« zu erreichen habe und gibt konkrete CO₂-Minderungsziele vor, die auf dem Weg dorthin einzuhalten sind. Die »Allianz für Transformation« soll als Dialogforum zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Vertretern der Zivilgesellschaft zur Zielerreichung beitragen.12 Die EU hat einen Green Deal beschlos­ sen, der dazu dient, das Leben und Wirtschaften der EU-Bürger so umzugestalten, dass bis 2050 Klimaneutralität verwirklicht wird.13 Im Zuge vor allem der Moralisierung, aber auch, wenngleich in schwächerem Maße, der Politisierung des Klimawandels erfolgte eine Zweiteilung von Meinungen, die sich erkennbar an den Mechanismen der identitätspolitisch motivierten Diskursverschließung orientiert hat. Argumente werden daher nunmehr auch beim Klimathema nahezu reflexartig als ideologisch-moralisch gut oder schlecht katego­ risiert. Gut, und somit in der Regel öffentlich sanktionsfrei vortragbar, ist die Sichtweise, dass der Mensch durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern eine globale Erwärmung verursacht habe, die, wenn nicht schnell eine massive Reduzierung der CO₂-Emissionen erfolge, unausweichlich und unumkehrbar zu einer »Klimakatastro­ phe« oder einem »Klimakollaps« führe. Diese Perspektive vertrat beispielsweise der UN-Generalsekretär António Guterres bei seiner Rede auf der UN-Klimakonferenz in Scharm El-Scheich im Novem­ ber 2022. Er wandte sich mit alarmistischen Worten an das Pub­ likum: »We are on a highway to climate hell with our foot still on the accelerator« und »We are in the fight of our lives, and we are losing«. Er führte weiter aus: »Greenhouse gas emissions keep growing, global

12 Die Bundesregierung, Klimaschutzgesetz. Generationenvertrag für das Klima, 7. November 2022 (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschu tz/klimaschutzgesetz-2021-1913672); Die Bundesregierung, Klimaneutrale Wirt­ schaft, Digitalisierung und nachhaltige Arbeit im Fokus, 14. Juni 2022 (https://www. bundesregierung.de/breg-de/themen/klimaschutz/allianz-fuer-transformation-20 52168). Baden-Württemberg hat sich noch ambitioniertere Ziele gesetzt und will bereits im Jahr 2040 Klimaneutralität »im Ländle« erreichen: »Nach CDU stimmen auch Grüne für neues BW-Klimaschutzgesetz«, in: SWR 1, »Der Tag«, 15. September 2022: https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/einigung-auf-neuesklimagesetz-in-bw-100.html. 13 Europäischer Rat, Ein europäischer Grüner Deal: https://www.consilium.europa.e u/de/policies/green-deal/.

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temperatures keep rising, and our planet is fast approaching tipping points that will make climate chaos irreversible.«14 Der moralische Druck, beim Thema Klimawandel die »gute« Meinung zu vertreten, wird – wie oben exemplarisch durch die Äußerungen von Guterres illustriert – dadurch aufgebaut, dass eine existenzielle Gefahr für den Fortbestand der Menschheit, der Flora und Fauna, ja sogar des Planeten heraufbeschworen wird. Einzig dadurch, dass man sich die »gute« Meinung zu eigen macht, könne die existenzielle Bedrohung noch abgewendet werden. Denn jeder Zwei­ fel an diesem Katastrophenszenario, jede Debatte über die Validität wissenschaftlicher Studien oder über alternative Reaktionsweisen auf Klimaveränderungen werden als Zeitverschwendung auf dem Weg zur Weltrettung angesehen. Wer davon überzeugt ist, dass die Welt bedroht ist und dass er den einzig möglichen Weg kennt, dieser Bedrohung zu entkommen, der neigt verständlicherweise zu großer Unduldsamkeit gegenüber abweichenden Meinungen und Lösungsvorschlägen. Wer vom eigenen Standpunkt und der daraus abgeleiteten gesellschaftstransformatorischen Agenda das Überleben des Planeten abhängig macht, betreibt eine maximale Form der Moralisierung, die – wenn erfolgreich – auf eine hermetische Ver­ schließung des Diskursraums hinausläuft. Die Verschließung des Diskursraums kann aber auch für Politiker in Regierungsverantwortung attraktiv sein, und zwar dann, wenn, diese – aus Überzeugung oder aufgrund eines im Zusammenspiel von aktivistischen Wissenschaftlern, Medien, einschlägigen Denkfa­ briken und NGOs erzeugten Handlungsdrucks – gesetzlich festgelegt haben, bis wann ein Land klimaneutral werden muss und Wirtschaft und Gesellschaft zu diesem Zweck einem massiven Transformati­ onsprozess unterwerfen. Dieser Prozess bringt absehbar nicht nur Gewinner hervor, da das Verbot von bestimmten Techniken (bei­ spielsweise Verbrennungsmotoren) oder Bauweisen (die EU will, dass ab 2030 nur noch klimaneutral gebaut werden darf) zum Verlust von

Frangoul, Anmar (2022)»We’re on a ›highway to climate hell‹, UN chief Guterres says, calling for a global phase-out of coal«, in: CNBC, 7. November 2022 (https://ww w.cnbc.com/2022/11/07/were-on-a-highway-to-climate-hell-un-chief-guterres-s ays.html). 14

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Arbeitsplätzen sowie zum Verlust von Teilhabechancen an Wohnei­ gentum führt.15 Es steht also politisch viel auf dem Spiel für diejenigen, die ihre Gesellschaften einem Transformationsprozess aussetzen. Idea­ lerweise würden sich Politiker gerade dann, wenn schwerwiegende Entscheidungen getroffen werden, einem offenen demokratischen Diskurs stellen. In der Realität gewinnt aber die menschliche Nei­ gung, sich unangenehmen Debatten zu entziehen, oftmals die Ober­ hand; zumal dann, wenn es keine starke Opposition oder zu wenige reichweitenstarken Medien gibt, die von den Regierenden diesen Dis­ kurs einfordern. Um sich dem Diskurs zu entziehen, erklären Politiker – unterstützt von Medien, Wissenschaftlern und NGOs, die ihren Kurs befürworten – ihre Entscheidungen für im Grunde alternativlos, gerne mit Verweis auf »die« Wissenschaft, welche so gut wie einhellig (97 Prozent) 16 der Meinung sei, dass die Welt unweigerlich auf eine Katastrophe zusteuere, wenn die Nutzung fossiler Energieträger nicht bis spätestens 2050 beendet werde.17 Das »Follow-the-Science«-Prinzip zur Begründung alternativ­ loser Entscheidungen ist aus zwei Gründen hochproblematisch: (1) Es gibt nicht »die« Wissenschaft, die der Gesellschaft absolute Gewissheiten zur Verfügung stellen könnte. Wissenschaft lebt vom Widerspruch, vom Zweifel und vom Prinzip der Falsifizierbarkeit. 15 Merkur.de, »EU: Ab 2030 soll nur noch klimaneutral gebaut werden«, 25. Oktober 2022: https://www.merkur.de/wirtschaft/eu-ab-2030-soll-nur-noch-klimaneutra l-gebaut-werden-zr-91874517.html; Tagesschau.de, »Welche Folgen hat das Ver­ brenner-Aus?«, 28. Oktober 2022: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/verbrau cher/verbrenner-verbot-eu-verbraucher-101.html. 16 Bojanowski, Axel (2014), »Die 97-Prozent-Falle«, in: Spiegel.de, 23. September 2014 (https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/klimawandel-97-prozent-kons ens-bei-klimaforschern-in-der-kritik-a-992213.html). 17 Siehe beispielsweise: Deutscher Bundestag, Aktuelle Stunde zum Thema »Wis­ senschaft warnt vor gravierenden Folgen des Klimawandels – IPCC fordert entschlos­ senes Handeln«, 27. April 2022: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchi v/2022/kw17-de-aktuelle-stunde-klimawandel-891436; Gates, Bill (2021), Wie wir die Klimakatastrophe verhindern. Welche Lösungen es gibt und welche Fortschritte nötig sind, München (Piper); Reimer, Nick & Staud, Toralf (2010), Deutschland 2050. Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird, 7. Auflage, Köln (Kiepenheuer & Witsch); Dyer, Gwynne (2010), Schlachtfeld Erde: Klimakriege im 21. Jahrhundert, 2. Auflage, Stuttgart (Klett-Cotta); Schellnhuber, Hans Joachim (2015), Selbstverbren­ nung. Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff, München (C. Bertelsmann Verlag); Latif, Mojib (2022), Countdown. Unsere Zeit läuft ab – was wir der Klimakatastrophe noch entgegensetzen können, Freiburg (Herder).

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Wissenschaft ist dynamisch, es gibt zwar zu bestimmten Zeiten zumeist einen mehrheitlich geteilten Erkenntnisstand, dieser kann sich aber – die Wissenschaftsgeschichte weist viele dieser Beispiele auf – als falsch herausstellen, weil er mit wissenschaftlichen Metho­ den widerlegt wird. Insofern ist Wissenschaft keine stabile Grund­ lage für politische Entscheidungen, schon gar nicht für solche von großer intergenerationaler Tragweite. Denn: werden Erkenntnisse falsifiziert, müsste die Politik angepasst werden, was bei einem einmal eingeleiteten Transformationsprozess kein leichtes Unterfangen ist. In einer solchen Situation ist es eine naheliegende Handlungsop­ tion, Forschung mithilfe von Förderprogrammen möglichst auf dem politisch opportunen Erkenntnisstand einzufrieren beziehungsweise wissenschaftliches Erkenntnisstreben in diese Richtung zu lenken. Wird diese Option (in großem Rahmen) genutzt, besteht die Gefahr, dass die inhaltlich tangierten Forschungsbereiche ihre Vitalität, ihre Offenheit für neue Erkenntnisse und letztlich auch ihre Korrekturfä­ higkeit verlieren. Hinzu kommt (2), dass so attraktiv es für Politiker auch sein mag, sich auf die Autorität »der« Wissenschaft zu berufen, um Entscheidungen den Rang der Unangreifbarkeit zu verleihen, die­ ses Vorgehen einem einer Demokratie würdigen Ringen um die beste politische Lösung abträglich ist, die darauf basiert, dass sie unterschiedliche Erkenntnisse und Handlungsalternativen berück­ sichtigt hat. Noch problematischer ist es, wenn Politiker und die ihre Entscheidungen unterstützenden Medien, Wissenschaftler und NGO-Vertreter versuchen, sich dem sachlichen Diskurs zu entzie­ hen, indem sie Wissenschaftler, deren Forschungsergebnisse das Klimakatastrophennarrativ infrage stellen, oder generell Personen, die zu einer abweichenden wissenschaftlichen Bewertung kommen beziehungsweise andere Lösungsvorschläge unterbreiten, moralisch delegitimieren. Der häufigste Diskreditierungsbegriff lautet: Klima­ leugner, gefolgt von Klimaskeptiker oder Klimawandelskeptiker. Auf­ fällig ist zudem das Bestreben, abweichende Forschungsergebnisse und Handlungsmöglichkeiten als politisch »rechts« darzustellen. Auf diese Weise werden politisch erst einmal neutrale wissenschaftli­ che Erkenntnisse nicht nur politisiert, sondern gezielt diskreditiert, weil alles, was als »rechts« gilt, gleichbedeutend ist mit moralisch

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verwerflich.18 Diese Vorgehensweisen bleiben nicht folgenlos für das Diskursklima: Ist eine bestimmte Position erst einmal als mora­ lisch verwerflich und rechts stigmatisiert, steigen die sozialen und moralischen Reputationskosten für diejenigen, die solche Positionen (unabhängig davon wie valide und faktenbasiert diese sind) in den öffentlichen Diskurs einbringen möchten, mit dem Ergebnis, dass viele lieber aus dem Diskurs aussteigen als sich dem Risiko der moralischen Stigmatisierung und sozialen Ausgrenzung auszusetzen. Überdies ist die gesellschaftliche Transformationsagenda zur Verhinderung der »Klimakatastrophe« mit dem Motiv der Schuld und der daraus resultierenden Notwendigkeit zur moralischen Läuterung verbunden. Denn schuld am drohenden »Klimakollaps« sei einzig und allein das kapitalistische Wirtschaftssystem im Westen, das maßgeb­ lich auf der Nutzung fossiler Energien sowie auf der Ausbeutung aller »Nichtweißen« beruhe. Letztere werden demnach als doppelte Opfer perzipiert: einmal als Opfer der Ausbeutung und einmal als Opfer des Klimawandels, von dem sie in erster Linie betroffen seien. Mithilfe dieser Argumentation wurde die Läuterungsagenda für »Weiße« anschlussfähig an die Klimarettung gemacht: Wer Kritik an der gesellschaftlichen Transformationsagenda zur Rettung des Weltkli­ mas übt, dem wird von Läuterungsentrepreneuren unterstellt, dass er eine zumindest latent rassistische – wahlweise eurozentristische – Gesinnung habe. Denn hätte er diese nicht, müsste er einsehen, dass er mit seinem klimaschädlichen Handeln »Nichtweißen« die Existenzgrundlagen zerstöre.19 Als Zeichen der moralischen Läuterung wird es hingegen gewer­ tet, wenn jemand anerkennt oder fordert, dass Antirassismus Hand in Hand mit der Abkehr von der eigenen CO₂-intensiven Lebens­ weise sowie der Zahlung von »Klimareparationen« westlicher Länder

Siehe beispielsweise: Quent, Matthias/ Richter, Christoph & Salheiser, Axel (2022), Klimarassismus. Der Kampf der Rechten gegen die ökologische Wende, München (Piper); Puttfarcken (2022). 19 Quent et al. (2022), insbesondere S. 47–72; Wiedemann, Charlotte (2018), »Im postkolonialen Treibhaus«, in: taz, 10. August 2018 (https://taz.de/Debatte-Hitzeund-Gerechtigkeit/!5526884/); Herrmann, Ulrike (2022b), »Kapitalismus und Klimaschutz. Schrumpfen statt Wachsen«, in: taz, 17. September 2022 (https://taz. de/Kapitalismus-und-Klimaschutz/!5879301/; Herrmann, Ulrike (2022a), Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werde, Köln (Kiepenheuer & Witsch). 18

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an den sogenannten »Globalen Süden« gehen muss.20 Ebenfalls geläutert zeigt sich derjenige, der fordert, dass westliche Länder Migration aus allen anderen Ländern unbegrenzt zulassen müssen, weil sie wegen ihrer klimaschädlichen Lebensweise für die schwie­ rige Lage dort verantwortlich seien.21 Die Folge der Verknüpfung von Läuterungsagenda und Klimarettung ist eine sich gegenseitig verstärkende Diskursverschließung. Sich vergegenwärtigend, dass Läuterungs- und Klimarettungsagenda vor allem von Personen, die politisch Bündnis 90/Die Grünen zuneigen, geteilt werden, ist es wenig verwunderlich, dass die Allensbach-Befragung im Juni 2021 zu der Feststellung kam, dass es »die Grünen-Anhänger« sind, die »mit Abstand am wenigsten Meinungsklimadruck empfanden«.22

3. Meinungsfreiheit als Gesundheitsbedrohung Im Gegensatz zur Läuterungs- und Klimarettungsagenda, die mit gesellschaftstransformatorischen Absichten verbunden sind, handelt es sich beim Coronavirus um eine situativ entstandene Angst vor Auf der UN-Weltklimakonferenz (COP27) im November 2022 wurde ein Fonds zum Ausgleich für klimabedingte Schäden beschlossen, über den reiche Länder, die als Klimawandelverursacher betrachtet werden, ärmeren Ländern Entschädigungen für Schäden zahlen sollen, die auf den anthropogen verursachten Klimawandel zurückgeführt werden. Siehe dazu beispielsweise: Diekhans, Antje (2022), »Entschä­ digungen für Afrika. ›Wir wollen nur, was uns zusteht‹“, in: tagesschau.de, 8. Novem­ ber (https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/afrika-klimagipfel-101. html); Schwarz, Susanne (2022), »Klima-Reparationszahlungen auf der COP. Wer soll das bezahlen?«, in: taz. 12. November 2022 (https://taz.de/Klima-Reparations zahlungen-auf-der-COP/!5894300/); Welt.de, „›Lasst uns jetzt liefern‹ – Deutsch­ land kündigt 60 Millionen Euro für Fonds gegen Klimaschäden an«, 17. November 2022: https://www.welt.de/politik/ausland/article242182325/Baerbock-Deutschl and-steckt-60-Mio-Euro-in-Fonds-gegen-Klimawandel.html; Zeit-Online, »Staa­ tengemeinschaft will ärmere Länder für Klimafolgen entschädigen«, 20. November 2022: https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2022-11/un-klimakonferenz-einigt-si ch-auf-abschlusserklaerung. 21 Siehe beispielsweise: ZDF, »Muss die EU mehr Migration zulassen«, in: 13 Fragen (Sendung), Juli 2021: https://www.youtube.com/watch?v=nt9jcGQ71Rw; RND.de, »Claudia Roth: ›Klimakrise ist Ursache von Flucht und Migration‹“, 13. Dezember 2019: https://www.rnd.de/politik/claudia-roth-klimakrise-ist-ursac he-von-migration-und-flucht-T4NB6QPHTFGRTCBIURLGKLBMOY.html. 22 Institut für Demoskopie Allensbach (2021), »Die Mehrheit fühlt sich gegängelt«, Dokumentation des Beitrags von Dr. Thomas Petersen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Juni 2021. 20

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einer Gesundheitsbedrohung, die sich jedoch in den Jahren 2020 und 2021 in besonderem Maße negativ auf das Diskursklima aus­ gewirkt hat. Die Gründe hierfür sind zuvorderst darin zu sehen, dass Bundesregierung und Landesregierungen ein medizinisches Problem politisiert haben, d.h. dass sie versucht haben, es mit der Handlungslogik ihres gesellschaftlichen Teilsystems, also mit Machtinstrumenten, zu lösen. Um die vom Coronavirus ausgehende Gesundheitsgefahr einzudämmen, wurden Maßnahmen verordnet, die tief in die Freiheitsrechte von Individuen eingriffen (Lockdowns, Ausgangssperren, Kontaktbeschränkungen, Impfpflicht). Dies stieß – zumal in einer freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft – zwangsläufig bei Teilen der Bevölkerung auf massiven Widerstand. An dieser Stelle wäre es schon aus demokratischen Gründen geboten gewesen, auf einen offenen Diskurs mit Andersdenkenden anstatt auf eine Verengung der Perspektiven zu setzen: konkret auf die Perspektiven, die dem jeweils eingeschlagenen Maßnahmenkurs dienlich waren. Aber auch inhaltlich wäre dies der zielführendere Weg gewesen, da »eine politisch-strategische Selektion […] in kom­ plexen Krisen, die von Nicht-Wissen und Unsicherheit geprägt sind, besonders problematisch« ist.23 Denn gerade in einer solchen Situa­ tion »bedarf die Politik eines besonders breiten und pluralistischen Zugangs von Wissenschaftlern und Wissenschaftsdisziplinen. Wird dieser Zugang aus politischen Gründen strategisch verengt, führt die Verwissenschaftlichung der Politik zur Politisierung der Wissen­ schaft. Das evidence based policy making droht dann in ein policy based evidence making verkehrt zu werden.«24 Die Diskursverengung vonseiten politischer Akteure mag dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass sie der Versuchung nachgege­ ben hatten, einer zu erheblichen Teilen verunsicherten Bevölkerung zu signalisieren, schwere Erkrankung und Tod könnten vermieden werden, wenn nur alle den jeweils verfügten Maßnahmen Folge leisten. So erzeugten sie selbst einen enormen Erfolgsdruck, der das politische Klima prägte. Diejenigen, die nicht bereit waren, Maß­ nahmen zu befolgen oder die an bestimmten Maßnahmen Kritik 23 Merkel, Wolfgang (2021), »Neue Krisen. Wissenschaft, Moralisierung und die Demokratie im 21. Jahrhundert«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 71 (26–27), 2021 (https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/zustand-der-demokratie-2021/33 5433/neue-krisen/#footnote-target-8). 24 Ebd.

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übten, wurden schnell mit moralischen Diskreditierungen und der Unterstellung konfrontiert, mit ihrer Kritik Gesundheit und Leben ihrer Mitmenschen zu gefährden. Wer sich durch seine abweichende Position selbst zu einem Gefährder der Gesundheit seiner Mitmen­ schen machte, durfte – ja musste nachgerade – aus dem Diskurs ausgegrenzt werden. Diese Haltung wurde auch von vielen Medien sowie dem Teil der Bevölkerung unterstützt, der die staatlichen Maßnahmen begrüßte, weil er ein starkes Schutzbedürfnis hatte und in der Befolgung staatlicher Maßnahmen durch alle Mitglieder der Gesellschaft eine Möglichkeit sah, das persönliche Bedrohungsgefühl zu minimieren.25 Für diesen Teil der Bevölkerung wurde in den Pandemiejahren der Satz: »Es gibt keine Freiheit, andere zu gefährden« zur handlungs­ leitenden Devise. So einleuchtend dieser Satz auf den ersten Blick erscheinen mag, so sehr entpuppt er sich bei genauer Betrachtung gerade in Bezug auf ein Atemwegsvirus als Totengräber jeglicher individuellen Freiheit – also auch der Meinungsfreiheit. Der Grund dafür ist, dass Gefährdung in diesem Fall an etwas festgemacht wird, worüber Menschen keine Kontrolle haben: ihre Fähigkeit einund auszuatmen und dabei Viren aufzunehmen und abzugeben. Das Freiheitsfeindliche an diesem Gefährderverständnis ist, dass jeder qua seines Menschseins ein Gefährder ist. Es wurde suggeriert, dass einzig mittels der Befolgung spezifischer staatlicher Maßnahmen (wie dem Tragen von Masken, dem Befolgen von Ausgangssperren und Kon­ taktverboten, Testpflichten und allen voran der Impfung) der Mensch – bis zu einem gewissen Grad – den Status des »viralen Gefährders« abstreifen und seine Freiheitsrechte (zumindest in Teilen: man denke an die 3G-/2G-Regeln) wahrnehmen kann. Siehe dazu ausführlich: Kostner, Sandra (2022), »Droht ein gesellschaftliches Long Covid?«, in Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? Eine interdisziplinäre Essaysamm­ lung, Sandra Kostner und Tanya Lieske (Hg.), Stuttgart (Ibidem), S. 127–141. Siehe für eine Stimme, die ein starkes Schutzbedürfnis artikuliert und deshalb auf die Maß­ nahmeneinhaltung, konkret die Impfung pocht: Kulms, Johannes (2021), »Krebsge­ nese über Ungeimpfte: ›Ich will mit euch nichts mehr zu tun haben‹“, in: Deutsch­ landfunk Kultur, 22. November 2021 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/kreb s g e n e s e n e - g e g e n - u n g e i m p f t e - 1 0 0 . h t m l). Zur Medienberichterstattung siehe: Maurer, Marcus/ Reinemann, Carsten und Kruschinski, Simon (2021), Einsei­ tig, unkritisch, regierungsnah? Eine empirische Studie zur Qualität der journalistischen Berichterstattung über die Corona-Pandemie, Hamburg (Rudolf Augstein Stiftung) (https://rudolf-augstein-stiftung.de/wp-content/uploads/2021/11/Studie-einseiti g-unkritisch-regierungsnah-reinemann-rudolf-augstein-stiftung.pdf). 25

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Der Grund dafür, dass sich viele Menschen dieses Gefährderver­ ständnis zu eigen machten und auf seiner Grundlage forderten, die Freiheit anderer Menschen einzuschränken, liegt in einem starken Schutzbedürfnis.26 Dieses führte nicht nur dazu, dass Menschen andere mieden, die sie als Gefährder sahen – beispielsweise Unge­ impfte –, sondern verleitete sie auch dazu, sich einem sachlichen Austausch von Argumenten darüber zu verschließen, ob bestimmte Handlungen einer anderen Person überhaupt ein Infektionsrisiko darstellen. Interessant ist an diesem Punkt, dass sich das Bedrohungs­ gefühl auch auf Meinungsäußerungen erstreckte. Dies war vermutlich eine Folge der Sorge, dass jede Debatte über die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit von Schutzmaßnahmen zu deren Nichtein­ führung oder Aufhebung hätte führen können. Offenbar wuchs bei einigen das subjektive Schutzgefühl proportional zur Eingriffsinten­ sität in die Freiheitsrechte der anderen. Das galt auch in Bezug auf Wortmeldungen: Je stärker maßnahmenkritische Äußerungen dis­ kreditiert wurden, desto geringer wurde die Sorge, dass Maßnahmen zurückgefahren werden. All das zeigt, dass Angst nicht nur die Seele aufisst, sondern auch mächtige Diskursblockaden errichtet.27 Vor dem Hintergrund, dass viele Menschen das Coronavirus mit einer unmittelbaren existenziellen gesundheitlichen Bedrohung asso­ ziiert haben, ist es wenig verwunderlich, dass sie sich der von großen Teilen der Politik und von vielen reichweitenstarken Medien betrie­ benen Moralisierung des Debattenraums angeschlossen haben: Sie wollten – unter dem Eindruck einer gesundheitlichen Notlage stehend – das Richtige tun, denken und sagen, was oftmals gleichbedeutend damit war, moralisch auf der »guten« Seite zu stehen. In einem von Bedrohungsgefühlen dominierten und moralisch aufgeheizten Klima ist es leichter als sonst, einen von Nüchternheit und Sachlichkeit getragenen Diskurs durch persönliche Diffamierungen zu ersetzen. Denn ein solches Klima leistet der Einteilung von Menschen in mora­ 26 Regelmäßig durchgeführte Umfragen zeigten ziemlich stabile Zustimmungsraten unter den Befragten zu den regierungsseitig verfügten Maßnahmen. Nicht wenige Befragte plädierten insbesondere 2020, 2021 und im ersten Quartal des Jahres 2022 für noch striktere Maßnahmen. Siehe dafür beispielsweise: Brandt, Mathias (2022), »44 Prozent finden Maßnahmen angemessen«, in: Statista, 4. Feb. 2022 (https://de. statista.com/infografik/23810/umfrage-zur-angemessenheit-der-aktuellen-corona -massnahmen/) sowie https://projekte.uni-erfurt.de/cosmo2020/web/topic/polit ik/20-akzeptanz/). 27 Kostner (2022), S. 128f.

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lisch »Gute« und »Schlechte«, die dementsprechend auch moralisch »gute« oder »schlechte« Meinungen vertreten, erheblichen Vorschub, und ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen Diffamierungsbe­ griffe leichter über die Lippen kommen. Man erinnere sich daran, wie ubiquitär und mit welcher Selbstverständlichkeit 2020 und 2021 in Politik, Medien und in der Gesellschaft Begriffe wie Covidiot, Coro­ naleugner, Aluhut oder Verschwörungstheoretiker, Schwurbler und nicht zuletzt Impfgegner/-skeptiker Verwendung fanden.28 Wer mit einem dieser Delegitimierungsbegriffe belegt wurde, dessen Argu­ mente durfte, ja musste man fast schon, wenn man sich nicht selbst verdächtig machen wollte, ignorieren oder besser noch stigmatisieren. Davon waren auch renommierte Wissenschaftler (wie Jay Bhat­ tacharya, Martin Kulldorf, John Ioannidis oder der Medizinnobel­ preisträger Luc Montagnier) betroffen, wenn sie Kritik an Maßnah­ men übten und andere Wege der Pandemiebekämpfung vorschlugen. Regierungspolitiker entschieden sich im März 2020 dafür, Stimmen aus der Wissenschaft zu folgen, die nicht-pharmazeutischen Inter­ ventionen (NPI) das Wort redeten. Die – wie beim Klimawandel – zur Diskursverschließung ausgegebene Parole lautete: »follow the science« oder »die« Wissenschaft sagt, und deshalb handeln wir entsprechend. Der Öffentlichkeit sollte so vermittelt werden, dass der NPI-basierte Maßnahmenkurs »alternativlos« war. Viele reichwei­

28 Siehe exemplarisch: Hanfeld, Michael (2020), »Protest gegen Corona-Maßnah­ men. Covidioten sind unter uns«, in: FAZ, 11. Mai 2020 (https://www.faz.net/akt uell/feuilleton/medien/corona-was-die-proteste-gegen-den-virenschutz-verraten16763103.html); Klaue, Magnus (2021), „›Covidioten‹ – wie Deutschland über Corona-Kritiker redet«, in: WELT, 6. September 2021 (https://www.welt.de/kultu r/plus233552324/Covidioten-wie-Deutschland-ueber-Corona-Kritiker-redet. html?); Becker, Kim Björn (2021), »Unvernünftige Impfverweigerer«, FAZ, 28. Okto­ ber 2021 (https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-pandemie-die-unve rnunft-der-impfverweigerer-17607617.html); Gosepath, Stephan im Gespräch mit Schwarz, Marietta (2021), »Wer sich nicht impfen lässt, verhält sich unsolidarisch«, Deutschlandfunk, 7. November 2021 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/impf zwang-und-solidaritaet-wer-sich-nicht-impfen-laesst-100.html); Evangelischer Pressedienst, »Spahn beklagt Unvernunft von Ungeimpften«, 24. November 2021: https://www.evangelisch.de/inhalte/193360/24-11-2021/spahn-beklagt-unvernu nft-von-ungeimpften; Thomann, Jörg (2021), »Zusammenhalt in Corona-Zeiten. Mit uns oder gegen uns«, in: FAZ, 6. Dezember 2021 (https://www.faz.net/aktuell/ges ellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-wie-die-pandemie-unsere-gesellschaft-te ilt-17665522.html).

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tenstarken Medien fuhren ebenfalls diesen Kurs, sodass die Signale an die Öffentlichkeit auf Diskursverengung ausgerichtet waren.29 Den Höhepunkt erreichte die mittels moralischer Stigmatisie­ rung betriebene Diskursverengung, die von Forderungen nach einer Neuinterpretation des Freiheitsbegriffs flankiert wurde, im Zeitraum November 2021 bis Februar 2022. Im Zentrum stand das Thema Impfverweigerung und damit verbunden Impfpflichten. Diejenigen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen lassen wollten, sahen sich insbesondere in dieser Zeit mit moralisch schwerwiegen­ den Vorwürfen konfrontiert. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie dadurch, dass sie den solidarischen Akt der Impfung verweigerten, Gesundheit und Leben ihrer Mitmenschen gefährdeten und gleich­ zeitig verhinderten, dass alle wieder ihre Freiheitsrechte in vollem Umfang wahrnehmen können.30 Zur Illustration einige Stimmen ranghoher Politiker aus dieser Zeit: Bundeskanzler Olaf Scholz teilte am 24. Januar 2022 auf Twitter einen Gesprächsauszug aus einem Interview, das er der Süddeutschen Zeitung gegeben hatte. Er tweetete: »Wer sich entscheidet, sich nicht impfen zu lassen, trifft die Entscheidung nicht für sich allein. Er ent­ scheidet mit über das Schicksal all derer, die sich deshalb infizie­ ren.«31 Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen) sagte in einem Interview mit Siehe zum Beispiel: Diehn, Ernst Timur (2022), »Interview mit John Ioannidis ›Das hatte nicht mit sauberen wissenschaftlichen Spielregeln zu tun‹“ (Teil 1), in: Cicero, 14. Dezember 2022 (https://www.cicero.de/innenpolitik/ioannidis-coronapandemie-drosten-lauterbach-wissenschaft); Röhn, Tim (2022), »Stanford-Experte: ›Lockdowns waren der größte Fehler in der Geschichte der öffentlichen Gesundheit‹“, in: WELT.de, 15. Dezember 2022 (https://www.welt.de/politik/deutschland/plus2 42693945/Corona-Jay-Bhattacharya-Lockdowns-waren-der-groesste-Fehler-in-de r-Geschichte-der-oeffentlichen-Gesundheit.html); Hanselle, Ralf (2022a), »CoronaEvaluation. Die Kritiker hatten Recht«, in: Cicero, 5. Juli 2022 (https://www.cicero. de/innenpolitik/corona-evaluation-abschlussbericht-sachverstandigenrat-drostenwieler); Maurer, Reinemann & Kruschinski (2021); Hanselle, Ralf (2022b), »Corona und die Medien – In weiter Ferne, zu nah?«, in: Cicero, 20. Dezember 2022 (https:// www.cicero.de/innenpolitik/die-rolle-der-medien-in-der-corona-krise-merkel-kub icki-gutachten). 30 Bor, Alexander/ Jørgensen Frederik & Petersen, Michael Bang (2022), »Discrim­ inatory Attitudes Against the Unvaccinated During a Global Pandemic«, in: Nature, Dezember 2022 (https://www.nature.com/articles/s41586-022-05607-y_referenc e.pdf). 31 Scholz, Olaf (2022), Tweet vom 24. Januar 2022 (https://twitter.com/olafschol z/status/1485520128980701187?lang=de). 29

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der taz Ende Dezember 2021: »Jetzt in der Pandemie ist es verstörend, dass sich eine starke Minderheit weigert, sich auf der Grundlage von Tatsachen impfen zu lassen. Spätestens seit Kant ist der Freiheitsbe­ griff immer an die Vernunft gebunden. Und jetzt sehen wir uns mit starken Kohorten konfrontiert, die sich rationalen Argumenten ver­ schließen.«32 Sein niedersächsischer Kollege Stephan Weil (SPD) teilte die Bevölkerung in der ARD-Sendung »Hart aber fair« am 15. November 2021 in »vernünftige« Geimpfte, die sich »keine Vor­ würfe machen« müssten, »und die Anderen« ein, die so tun würden, »als wenn diese Pandemie nichts mit ihnen zu tun hätte«. Außerdem unterstellte er den 20 Prozent der ungeimpften Erwachsenen, dass ihr Anteil ausreichend sei, »um eine ganze Gesellschaft in Angst und Schrecken zu versetzen«.33 Seine beiden CDU-Kollegen Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt) und Tobias Hans (Saarland) forderten den konsequenten Ausschluss Ungeimpfter aus dem gesellschaftlichen Leben. Haseloff am 2. November 2021 in der ZDF-Sendung »Lanz« mit der Forderung, Ungeimpfte moralisch unter Druck zu setzen, indem man ihnen sagt: »bitte tritt nur ran, wenn du geimpft bist, du gefährdest mich.«34 Hans am 9. Dezember 2021 in der ZDF-Sendung »Maybrit Illner« mit den Worten: »Zuerst einmal müssen wir eine klare Botschaft an die Ungeimpften senden: Ihr seid jetzt raus aus dem gesellschaftlichen Leben. Deshalb machen wir konsequent 2-G.«35 Und die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sendete in einem Videointerview mit der WELT am 15. November 2021 die so moralisch aufgeladene wie spalterische Botschaft an die »Impfver­ weigerer«, dass sich diese »im Klaren sein müssen, dass sie nicht als Minderheit die Mehrheit, ich sag das mal, terrorisieren dürfen und

32 Stieber, Benno (2021), »Kretschmann über Klima und Pandemie: ›Eigensinn in die Schranken weisen‹“, in: taz, 27. Dezember 2021 (https://taz.de/Kretschmann-uebe r-Klima-und-Pandemie/!5817676/). 33 Zitiert in: Wilmalasena, Jörg (2021), »Verbale Attacken gegen Impfgegner. Spal­ terische Rhetorik«, in: taz, 17. November 2021 (https://taz.de/Verbale-Attacken-g egen-Impfgegner/!5812410/). 34 Mitschrift des Zitats bei der Ausstrahlung der Sendung. 35 Saarbrücker Zeitung, »Tobias Hans bei ›Maybrit Illner‹; Wir haben die Lage falsch eingeschätzt«, 10. Dezember 2021: https://www.saarbruecker-zeitung.de/app/con sent/?ref=https://www.saarbruecker-zeitung.de/nachrichten/politik/tobias-hansbei-maybrit-illner-im-zdf-lage-falsch-eingeschaetzt_aid-64554121.

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deswegen auch mit entsprechenden Regeln entsprechend konfrontiert werden.«36 Es gab viele weitere Stimmen, die Ungeimpfte als Gefährder brandmarkten, sie als unvernünftig herabwürdigten und ihnen die Schuld für Corona-Erkrankungen bei Geimpften gaben.37 Solche Schuldzuweisungen und öffentliche Verächtlichmachungen durch Politiker sind generell problematisch. Erschwerend kam hier noch dazu, dass zum Zeitpunkt der Äußerungen schon bekannt war (zumindest hätte bekannt sein müssen), dass die Impfungen hinsicht­ lich der Virusübertragung nicht wie versprochen wirkten, dass also sowohl Geimpfte als auch Ungeimpfte sich infizieren und das Virus übertragen konnten.38 Dieser Aspekt ist separat aufzuarbeiten. Hier soll es nur darum gehen, was diese Äußerungen von führenden Politikern in reichweitenstarken Medien und die Affirmation solcher Aussagen in vielen dieser Medien für das Diskursklima bedeuteten. Auffällig ist zunächst, dass Ungeimpfte (wie generell Maßnah­ menkritiker) kaum selbst zu Wort kamen. Das war sicherlich teilweise der Fall, weil sie sich bewusst aus dem Diskurs zurückzogen, um nicht von der durch das Land rollenden Stigmatisierungswelle erfasst zu werden. Wer macht sich schon gerne öffentlich zur Zielscheibe von Unterstellungen, dass man unsolidarisch und unvernünftig sei oder gar seine Mitmenschen absichtlich gefährde? Abschreckend wirkte sicherlich auf nicht wenige, dass, wenn Ungeimpfte (Maßnahmenkri­ tiker) doch einmal zu Diskussionen eingeladen wurden, das Gespräch nicht auf Augenhöhe erfolgte, sondern allzu selbstverständlich zum Anlass genommen wurde, um diese Personen moralisch in die Mangel zu nehmen. Ist erst einmal ein Diskursraum geschaffen worden, in dem es als normal gilt, dass bestimmte Positionen gebrandmarkt sind, muss jeder potenzielle Diskursteilnehmer, der eine solche Position vertritt, davon ausgehen, dass seine Argumente bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls als Ausweis seiner moralischen Verkom­ Welt (Mediathek): https://www.welt.de/videos/video235052490/Marie-Agne s-Strack-Zimmermann-FDP-zur-Pandemie-der-Ungeimpften.html. 37 Siehe: Klöcker, Marcus & Wernicke, Jens (2022), »Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen.« Das Corona-Unrecht und seine Täter, Mainz (Rubikon). 38 Johnson, Carolyn Y./ Abutaleb, Yasmeen & Achenbach, Joel (2021), »CDC study shows three-fourths of people infected in Massachusetts coronavirus outbreak were vaccinated but few required hospitalization«, in: The Washington Post, 30. Juli 2021 (https://www.washingtonpost.com/health/2021/07/30/provincetown-covid-out break-vaccinated/). 36

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menheit gewertet werden und er mit entsprechenden Vorwürfen überzogen wird. Wie schwierig es phasenweise war, maßnahmenkritische Argu­ mente oder Verständnis dafür, dass sich Menschen nicht impfen las­ sen wollten, in den Diskurs einzubringen, illustriert die Reaktion auf Svenja Flaßpöhlers (Chefredakteurin des Philosophie Magazins) Bei­ träge in der Sendung »Hart aber fair« am 15. November 2021. Selbst geimpft, was sie in der Sendung betonte, sagte sie, dass sie es »falsch und fatal« fände, Menschen »zu kriminalisieren, die vom Recht Gebrauch machten, Eingriffe in ihren Körper abzulehnen. Sie rügte, dass Ungeimpfte als ›unterschiedsloses dummes Kollektiv‹ hinge­ stellt würden«.39 Zudem zeigte sie Verständnis dafür, dass sich Men­ schen aus den unterschiedlichsten Gründen nicht impfen ließen. Moderator, Mitdiskutanten und nachgelagert Besprechungen der Sendung zeigten sich bestrebt, Flaßpöhler dafür, dass sie sich verwei­ gerte, die Stigmatisierung Ungeimpfter mitzutragen, ins diskursive Abseits zu stellen. So beispielsweise Peter Fahrenholz in der Süd­ deutschen Zeitung, der ihr die Verbreitung »kruder Thesen«, »gefühl­ ter Wahrheiten« und eine Portion Irrationalität unterstellte.40 Der Chilling Effect, der von solchen öffentlichen Delegitimierungsversu­ chen von Meinungen ausgeht, ist nicht zu unterschätzen, da Men­ schen sich überlegen, ob ihnen eine Meinungsäußerung wichtig genug ist, um den Preis eines sozialen Reputationsverlusts zu zahlen. Als einem meinungsoffenen Diskursklima abträglich kann fer­ ner die Einrichtung des neuen extremistischen Phänomenbereichs »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« durch den Verfassungsschutz im April 2021 gesehen werden. Dieser Phänomen­ bereich wurde in Reaktion auf die Proteste gegen die Maßnahmenpo­ litik eingerichtet. Problematisch an diesem neuen Phänomenbereich ist, dass er mit überdehnbaren »Gummibegriffen« arbeitet und darauf hinausläuft, »heftige Kritik an der Regierungspolitik als ›delegitimie­ Standl, Michi Jo (2021), »Impf-Streit bei ›Hart aber Fair‹: Plasberg gerät mit Phi­ losophin aneinander«, in: Merkur.de, 17. November 2021 (https://www.merkur.de/ politik/hartaberfair-ard-corona-impfen-plasberg-flasspoehler-streit-impfgegner-im pfpflicht-91118702.html). 40 Fahrenholz, Peter (2021), »Wenn gefühlte Wahrheiten auf Fakten treffen«, in: Süddeutsche Zeitung, 16. November 2021 (https://www.sueddeutsche.de/medien/ hart-aber-fair-frank-plasberg-tv-kritik-corona-impfpflicht-1.5465099); die »Hart aber fair«-Sendung vom 15. November 2021 ist in voller Länge auf YouTube einge­ stellt: https://www.youtube.com/watch?v=r2_xH8to_pA. 39

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rend‹ und daher extremistisch aus dem demokratischen Diskurs« zu verdrängen.41 Diese Schlussfolgerung legt die Definition des Ver­ fassungsschutzes zu diesem Phänomenbereich nahe; so heißt es im Verfassungsschutzbericht 2021: Sie [die Akteure dieses Phänomenbereichs, S.K.] machen demokrati­ sche Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exeku­ tive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legiti­ mität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf. Diese Form der Delegitimie­ rung erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsen­ tantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beein­ trächtigt werden.42

Der Verfassungsschutz führt die für einen freiheitlich-demokratisch verfassten Staat äußerst fragwürdige Unterteilung in »legitime« und »delegitimierend-extremistische« Kritik an Coronamaßnahmen ein. In letztere Kategorie ordnet er Äußerungen ein, die er als »ständige Agitation« und als Verächtlichmachung von demokratisch legitimier­ ten Entscheidungen wertet. Das kann letztlich auf alle oppositionellen Äußerungen angewendet werden, wenn die Kritik an der Regierungs­ politik nur heftig genug und persistierend vorgebracht wird. Insofern trägt die Definition des neuen Phänomenbereichs die Gefahr in sich, dass der Verfassungsschutz mit dessen Hilfe versucht sein könnte, »oppositionelle Strömungen zu delegitimieren«.43 Nun ist aber Kritik in der Demokratie, auch wenn sie heftig, beständig und ungerechtfer­ tigt erfolgen sollte, nicht nur erlaubt, sie ist sogar »das Lebenselixier der Demokratie«; sie ist der Boden, auf dem der demokratische Diskurs erst gedeihen kann.44

41 Murswiek, Dietrich (2022), »Wer delegitimiert hier wen?«, in: Legal Tribune Online, 24. November 2022 (https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/verfassu ngsschutz-kritik-extremismus-delegitimierung-verfassung-bericht/). 42 Bundesministerium des Innern und für Heimat (2021), Verfassungsschutzbericht 2021 (https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/the men/sicherheit/vsb-2021-gesamt.pdf?__blob=publicationFile&v=6), S. 112. 43 Murswiek (2022). 44 Ebd.

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Auffällig ist, dass der Verfassungsschutz überhaupt nicht in Betracht zieht, dass heftige, auch verächtlichmachende Kritik eine Folge der tief in Grundrechte eingreifenden Entscheidungen gewesen sein mag, bei denen sich die Regierung obendrein einem Diskurs über die Sinnhaftigkeit und Verhältnismäßigkeit weitgehend verweigerte. Die Folgen für das Diskursklima und die Meinungsfreiheit betreffend, ist es zudem als bedenklich einzustufen, dass der Verfassungsschutz den neuen Phänomenbereich auch nach der Pandemie aufrechterhal­ ten will, weil er davon ausgeht, »dass bekannte Akteure bisheriger Protestinitiativen neue Themen besetzen, um den demokratischen Staat zu delegitimieren«.45 Konkret benennt er »eine verstärkte The­ matisierung der politischen Maßnahmen zur Bewältigung des Klima­ wandels« vonseiten der »Akteure des Phänomenbereichs«, wodurch »einem Verlust des Vertrauens der Bevölkerung in die Funktionsfä­ higkeit des demokratischen Staates Vorschub geleistet« würde.46 Nur: es mag auch Misstrauen in der Bevölkerung befördern, wenn der Staat Kritiker von Regierungsentscheidungen als Extremisten abstempelt und auf diese Weise die Regierung dabei unterstützt, sich unangeneh­ men Debatten zu entziehen. Dem Diskursklima im Land schadet es auf jeden Fall, wenn Regierungskritiker wissen oder sich zumindest der Eindruck bei ihnen festsetzt, dass sie vom Verfassungsschutz zum Extremisten erklärt werden können, wenn sie heftige Kritik in Bezug auf spezifische Politikfelder üben. Insgesamt lässt sich zum Thema »Meinungsfreiheit als Gesund­ heitsbedrohung« festhalten, dass der politische und mediale Umgang mit dem Coronavirus vor allem im Zeitraum Frühjahr 2020 bis Frühjahr 2022 zu einer Aufsplittung der Gesellschaft in diejenigen führte, die sich durch die von Maßnahmenkritikern in Anspruch genommene Meinungsfreiheit bedroht sahen, und in diejenigen, aus deren Perspektive die Meinungsfreiheit durch die praktizierte Dis­ kursverweigerung und Stigmatisierung Andersdenkender bedroht war. Bedroht war die Meinungsfreiheit zwar nicht, aber es fehlte ein intellektuelles Klima der Freiheit, welches die Voraussetzung für offene Diskurse ist. Ein Bedrohungspotenzial für die Meinungs­ freiheit könnte allerdings aus der Einrichtung des neuen Phänomen­ bereichs »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« resultieren, und zwar dann, wenn der Verfassungsschutz den inter­ 45 46

Bundesministerium des Innern und für Heimat (2021), S. 119. Ebd. S. 120.

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Bedrohte Meinungsfreiheit oder Meinungsfreiheit als Bedrohung?

pretationsoffenen Phänomenbereich nutzen sollte, um gegen Regie­ rungskritiker vorzugehen.

4. Fazit: Von der individuellen zur agendakonformen Freiheit Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden ist eine typische Eigen­ schaft von Menschen, deren Ziel die ideologiegesteuerte Umge­ staltung der Gesellschaft ist. Befinden sich diese Menschen in einer gesellschaftlichen Randposition, bleibt ihr transformatorisches Bestreben ohne nennenswerte Auswirkungen auf das öffentliche Mei­ nungsklima. Schaffen sie es aber, Schlüsselpositionen in der Politik, in Institutionen und in den Medien zu besetzen oder diese zumindest ihrer Agenda gewogen zu stimmen, lässt ein repressiver werdendes Meinungsklima nicht lange auf sich warten. Denn sie versuchen dann offensiv, alle Meinungsäußerungen und wissenschaftlichen Erkennt­ nisse zu unterdrücken, die sie als »agendaschädlich« einstufen: beides sehen wir in den letzten Jahren eindeutig vermehrt in Bezug auf die Läuterungs- und Klimarettungsagenda. Unduldsamkeit gegenüber Andersdenkenden hat ferner die Hal­ tung von Menschen geprägt, die sich vom Coronavirus bedroht fühlten, weshalb sie oftmals harsch auf Personen reagierten, die einen offenen von Sachargumenten getragenen Diskurs hinsichtlich der Pandemiepolitik führen wollten. Bei der Schaffung eines hoch­ gradig asymmetrischen Debattenraums spielen aber auch bei der Läuterungs- und Klimarettungsagenda Bedrohungsszenarien eine gewichtige Rolle. Die Vertreter der Läuterungsagenda sehen die Iden­ titäten von Opfergruppen durch unsensible Äußerungen bedroht. Das reicht bis hin zu Vorwürfen, dass jemandem, der sagt, dass es im biologischen Sinne nur zwei Geschlechter gäbe, unterstellt wird, er wolle Transgenderpersonen das Existenzrecht absprechen.47 Diejeni­ gen, die Angst vor einer »Klimakatastrophe« haben, befürchten, dass Diskussionen die Rettung des Klimas so lange verzögern könnten, bis es zu spät zum Handeln ist, weshalb sie den Diskurs verweigern. 47 Siehe beispielsweise: Zängler, Theresa (2022), »Dissens über Lehrfreiheit. Stu­ dierende an der Uni Leipzig werfen Dozenten transfeindliche Lehrinhalte vor«, in: kreuzer, 14. Oktober 2022 (https://kreuzer-leipzig.de/2022/10/14/dissens-ueberlehrfreiheit).

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Sandra Kostner

Die einem ideologischen Geist sowie einem Bedrohungsgefühl entspringende Unduldsamkeit hat insbesondere in den letzten Jah­ ren zugenommen, was erklärt, warum es zwischen 2011 und 2021 einen so starken Einbruch bei den Allensbach-Umfragen hinsichtlich der Frage gab, ob man seine politische Meinung in Deutschland frei äußern kann. Hinzu kommt, dass mittlerweile die Vertreter der Läuterungs- und Klimarettungsagenda über hinreichend Diskurs­ macht verfügen, um an der Preisspirale für ideologisch inopportune Meinungen zu drehen. Das führt dazu, dass sich immer mehr Men­ schen mit nicht agendakonformer Meinung dazu entscheiden, aus dem Diskurs auszusteigen. Je mehr Menschen wiederum aus dem Diskurs aussteigen, desto exponierter sind diejenigen, die weiterhin versuchen, abweichende Standpunkte einzubringen. Sie müssen sich einer immer größeren diskursiven Übermacht erwehren, was sukzes­ sive schwieriger wird und auch werden soll, da es das Ziel des stetig steigenden Preisdrucks ist, Menschen diskursiv auf Linie zu bringen – entweder durch Übernahme der agendakonformen Meinung oder durch Verstummen. Zur Erzeugung des preisgesteuerten Konformitätsdrucks werden drei Sanktionsinstrumente eingesetzt: die moralische Diskreditie­ rung, die soziale Ausgrenzung und die institutionelle Bestrafung, wobei die moralische Diskreditierung die Rechtfertigungsgrundlage für die anderen beiden Instrumente bildet. Erleichtert wird die mora­ lische Diskreditierung durch den »Concept Creep“, der den Übergang von einer Kultur der Resilienz zu einer Kultur der Vulnerabilität mar­ kiert. Durch die Aus- und Überdehnung der Vorstellung dessen, was Menschen gefährdet und wovor sie geschützt werden müssen, wurde auch das Feld der möglichen moralischen Verfehlungen erweitert. War früher ein Rassist, wer Menschen nach biologischen Merk­ malen hierarchisierte, ist heute ein Rassist, wer etwas sagt, egal mit welcher Intention, das von einem »Nichtweißen« als verletzend empfunden werden könnte. Der Schutz von Gefühlen, wenn es sich um Träger von Opferidentitäten handelt, ist moralisch gegenüber dem Schutz der Meinungsfreiheit zu priorisieren. Bei der Klimaret­ tungsagenda und dem »Kampf gegen Corona« wird das Gefährdungs­ potenzial von Menschen, die missliebige Ansichten äußern, gerne mit dem »Leugner-Etikett« markiert. Wer als Klima- respektive Coro­ naleugner etikettiert wird, dessen Argumente gelten moralisch als verwerflich. Kritik wird mit Leugnung gleichgesetzt, und Leugnung

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Bedrohte Meinungsfreiheit oder Meinungsfreiheit als Bedrohung?

mit der Gefährdung des Planeten beziehungsweise von Menschenle­ ben. Eine moralische Diffamierungsstrategie, die die Läuterungs- und Klimarettungsagenda ebenso betrifft wie den »Kampf gegen Corona«, besteht darin, abweichende Meinungen mit dem Etikett »rechts« zu versehen.48 Dergestalt wird der »Kampf gegen rechts« zweckent­ fremdet, und zunehmend in einen Kampf gegen Personen, die sich bei diesen Themen der Meinungskonformität verweigern, überführt – gänzlich unabhängig davon, welchen politischen Standpunkt die derart moralisch Stigmatisierten vertreten. Insbesondere bei den Themen Klimawandel und Pandemie wird zum maximal möglichen Moralisierungsgrad gegriffen, um die Stig­ matisierung und Ausgrenzung abweichender Meinungen zu rechtfer­ tigen. Bei beiden Themen werden Andersdenkende mit einer existen­ ziellen Bedrohung verknüpft: bei Corona mit einer unmittelbaren Gesundheitsgefahr und beim Klima mit einer mittelbaren Gefähr­ dung der Existenzgrundlagen nachfolgender Generationen bezie­ hungsweise der Menschen im »globalen Süden«. Das handlungslei­ tende Motto in beiden Fällen ist: Wer andere gefährdet, kann nicht nur kein legitimer Diskurspartner sein, sondern er muss zum Wohle eines höheren Kollektivgutes stigmatisiert und aus dem Diskurs aus­ geschlossen werden. Der Wert individueller Freiheitsrechte, wie der Meinungsfreiheit, verblasst angesichts der postulierten existenziellen Bedrohung. Letztendlich führt dies dazu, dass Meinungsfreiheit nur dann als schützenswert betrachtet wird, wenn sie so eingesetzt wird, dass sie der jeweiligen Gefahrenabwehr dient. Formal existiert das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung dann zwar weiter, aber in der Praxis entsteht ein zunehmend asymmetrisches Diskursfeld, auf dem macht- und agendakonforme Meinungen geschützt sind oder gar belohnt werden, während für abweichende Meinungen ein immer höherer Preis zu entrichten ist. Zusätzlich fällt auf, dass eine Beweislastumkehr vorgenommen wird: Um eine Meinung als moralisch verwerflich zu diskreditieren, ist nicht mehr zu beweisen, dass sie einem Dritten schadet. Nunmehr gilt es für denjenigen, der eine problematisierte Meinung äußert, zu beweisen, dass durch seine Meinungsäußerung niemandem unmittel­ Puttfarcken (2020); Quent et al.(2022); Zeit.de, »Innenminister Maier: CoronaLeugner politisch klar rechts«, 7. Juni 2022: https://www.zeit.de/news/2022-06/ 07/innenminister-maier-corona-leugner-politisch-klar-rechts?utm_referrer=https %3A%2F%2Fwww.google.com%2F. 48

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Sandra Kostner

bar oder mittelbar ein emotionaler und physischer Schaden zufügt werden könnte. Damit ist auch nicht mehr die Einschränkung der Meinungsfreiheit rechtfertigungsbedürftig, sondern ihre Inanspruch­ nahme. Ferner wird Meinungsfreiheit umdefiniert: Sie wird nicht mehr, wie im Grundgesetz intendiert, als politisch und moralisch neutrales Grundrecht betrachtet, das der kommunikativen Selbstbe­ stimmung des Individuums dient, sondern sie wird in den Dienst einer Agenda gestellt; anders gesagt: Das Grundrecht auf Meinungsfrei­ heit wird sowohl politisch als auch moralisch normiert. Die agenda­ konforme Normierung der Meinungsfreiheit dient zudem dazu, die moralische Diskreditierung, soziale Ausgrenzung und institutionelle Bestrafung von Andersdenkenden zu legitimieren. Da Menschen ihre moralische Reputation nicht gleichgültig ist und soziale Ausgrenzung und insbesondere institutionelle Bestrafung mit erheblichen Konsequenzen (vom Verlust von Freundschaften bis hin zum Jobverlust) einhergehen können, hält diese Trias der Sanktionsinstrumente viele von unliebsamen Diskursbeiträgen ab. Das mag zwar den jeweiligen Agendavertretern zugutekommen, ist aber ein massives Problem für ein freiheitliches Gemeinwesen: Dieses lebt davon, dass ein freier Austausch der Argumente erfolgt, der die Grundlage dafür bildet, die bestmögliche Lösung für gesellschaftliche Fragen zu finden. Meinungskonformität führt nicht nur zur geistigen Verarmung einer Gesellschaft. Sie befördert auch die Radikalisierung der Meinungslager: Je homogener Meinungsgruppen werden, desto stärker neigen sie dazu, ihre ursprünglich zwar einseitigen, aber zumeist moderaten Meinungen zu radikalisieren, weil das ausglei­ chende Element des Widerspruchs wegfällt.49 Und je radikalisierter die öffentlich dominante Meinung wird, desto mehr neigen ihre Vertreter dazu, sie mit freiheitsfeindlichen Mitteln durchzusetzen. Je radikaler sich die Vertreter der wegen fehlender Agenda- oder Machtkonformität delegitimierten Meinungen ausgegrenzt sehen, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie sich in meinungshomogene Räume mit Gleichgesinnten zurückziehen, wo es ebenfalls zur Radi­ kalisierung von Meinungen kommen kann. Und es wächst bei ihnen das Bedürfnis, sich gegen die Delegitimierung und Ausgrenzung zur Wehr zu setzen. Erfolgt die Delegitimierung von Vertretern des

49 Sunstein, Cass (2011), Going to Extremes. How Like Minds Unite and Divide, Oxford (Oxford University Press).

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Bedrohte Meinungsfreiheit oder Meinungsfreiheit als Bedrohung?

Staates und/oder der reichweitenstarken Medien, besteht die Gefahr, dass viele Menschen sich irgendwann von diesen abwenden. Darüber hinaus führen radikalisierte Positionen dazu, dass die inhaltliche und menschliche Entfremdung von den jeweils Anders­ denkenden zunimmt. Je geringer der von sozialer Nähe und Verständ­ nis getragene Austausch zwischen Menschen, desto geringer werden die Hemmungen, Andersdenkende als Inkarnation des moralisch Verwerflichen zu perzipieren und entsprechend zu behandeln. Und: Je enger der Debattenraum wird und je mehr Menschen deshalb öffent­ lich nicht mehr sagen, was sie denken, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich Menschen nicht mehr vertrauen. Denn: Wenn man nicht mehr davon ausgehen kann, dass jemand, das, was er sagt, auch denkt, dann wächst das Misstrauen. Demokratie lebt aber gerade vom gegen­ seitigen Vertrauen. Auch vom gegenseitigen Vertrauen darin, dass der andere einem die gleichen Rechte einräumt, die er für sich in Anspruch nimmt. In diesem Fall: das Recht, seine Meinung zu äußern und eine von Fairness und Wohlwollen getragene Auseinandersetzung mit dieser Meinung im öffentlichen Diskurs führen zu können. Der Soziologe Karl Otto Hondrich sprach treffend vom soziomoralischen Grundgesetz der Reziprozität. Wer dem anderen die Anhörung seiner Meinung verweigert oder diese massiv diskreditiert, verletzt dieses für den sozialen Frieden und den Zusammenhalt in einem Land so wichtige Grundgesetz.50 Es ist problematisch genug, wenn Personen bei einem Thema keine Reziprozität erfahren. Sind sie davon thema­ tisch mehrfach betroffen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sich verbittert von der sie ausgrenzenden Gesellschaft abwenden. Es mag zwar für verschiedene Akteure (Politik, Medien, Wis­ senschaft, Denkfabriken etc.) opportun erscheinen, bei Themen, die ihnen wichtig sind, Meinungskonformismus mittels Diskursver­ schließung anzustreben. Aber eine lebendige Demokratie kann sich genau das nicht leisten. Sie ist auf ein Klima der Freiheit angewiesen, in dem unterschiedliche Positionen zur Diskussion gestellt werden können. Nur dann kann sie die bestmöglichen Entscheidungen her­ beiführen, nur dann bleibt sie korrekturfähig und nur dann kann 50 Hondrich, Karl Otto (2006), »Einwanderung ist Zumutung«, in: DIE WELT, 6. Mai 2006 (https://www.welt.de/print-welt/article214904/Einwanderung-ist-Z umutung.html). Hondrich bezog seine Ausführungen zu den soziomoralischen Grundgesetzen auf Einwanderung, aber diese Beziehungen strukturierenden Gesetze, insbesondere das auf Gegenseitigkeit, entfalten ihre Wirkung bei allen sozialen Inter­ aktionen.

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Sandra Kostner

sie die soziale Bindungskraft entwickeln, die notwendig ist, um eine meinungsdiverse Gesellschaft zusammenzuhalten. Eine Einbe­ ziehung unterschiedlicher Standpunkte in den demokratischen Wil­ lensbildungsprozess und ein respektvoller Umgang mit den Personen, deren Positionen sich nicht durchsetzen, ist die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich als Teil des demokratischen Systems betrachten können. Wer die Akzeptanz und somit den Fortbestand der Demo­ kratie sicherstellen will, ist im besten Eigeninteresse gut beraten, allen Mitgliedern der Gesellschaft eine faire Beteiligung am demokra­ tischen Willensbildungsprozess zuzugestehen.

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II. Wie neue Ideologien die Grenzen des Sagbaren verschieben und den akademischen Raum verengen

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Ulrike Ackermann

Wenn aus Emanzipationsbestrebungen Ideologie wird… Wissenschaftsfreiheit unter Druck

Über Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, über Cancel Culture und die Einengung des Diskurses wird inzwischen auf breiterer Ebene gesellschaftlich gestritten. Denn in der Besetzung öffentlicher Podien und Talkshows, aber auch in universitären Diskussionen und Auswahlverfahren scheint inzwischen oft weniger die Argumenta­ tion und inhaltliche Positionierung relevant zu sein, als vielmehr das Geschlecht, die Hautfarbe oder die Religionszugehörigkeit der entsprechenden Personen. Wer sprechen darf, was ausgesprochen werden darf und was nicht, und wie tunlichst gesprochen werden soll, unterliegt häufig ganz neuen sozialen Regeln, die niemals offiziell ausgerufen oder demokratisch legitimiert wurden. Dieses neue Regime der Political Correctness und der Woke Culture, das sich in allen gesellschaftlichen Feldern und im politischen Raum ausbreitet, erzeugt inzwischen einen Konformitätsdruck, der in den letzten Jahren immens gestiegen ist. Das kann man innerhalb der Volksparteien, im Öffentlichen Dienst und Unternehmen ebenso beobachten wie besonders ausgeprägt im Kultur- und Wissenschafts­ betrieb. Eine Zeit lang dachten wir, die Bedrohungen der Freiheit für unsere westlichen, demokratischen Gesellschaften kämen nur von außen: von China, das seine hegemonialen Ansprüche immer aggres­ siver weltweit umsetzt, oder von Russland, das seine neoimperialen Ambitionen seit vielen Jahren verfolgt und seit einem Jahr einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führt und dem Westen insge­ samt und seinem »dekadenten Liberalismus« den Kampf angesagt hat. Dass unsere über Jahrhunderte hart errungenen Freiheiten auch aus den liberalen Demokratien heraus radikal in Frage gestellt werden ist ein neueres Phänomen.

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Ulrike Ackermann

Was passiert hier eigentlich? Was sind die Triebfedern, wenn plötzlich Bilder in öffentlichen Museen entfernt werden, weil sich eine gesellschaftliche Gruppe beleidigt fühlen könnte? Bücher umge­ schrieben werden, Hochschulfassaden von missliebigen Gedichten gesäubert werden? Denkmäler gestürzt werden? Es sind Eingriffe zugunsten eines vermeintlich gerechten, politisch korrekten Regimes, dass es jeder Ethnie, jedem Geschlecht und jeder Religion recht machen will. Der Wunsch nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit, nach Reinheit und Reinigung hat sich inzwischen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern ausgebreitet. Wir haben alle die Bilder in Erinnerung, wie im Zuge der weltweiten Bewegung »Black lives matter« lautstark gegen Rassis­ mus, Kapitalismus und Kolonialschuld demonstriert und Denkmäler gestürzt wurden. Ja, es gibt Rassismus und die Diskriminierung von Minderheiten. Und wir müssen uns mit den Verbrechen des Kolonialismus auseinandersetzen. Und es ist gut, wenn Bürgerinnen und Bürger dies benennen und gegen Ungerechtigkeit und Fremden­ feindlichkeit protestieren. Doch dieser antirassistische Furor, den wir seit geraumer Zeit beobachten und die Cancel Culture erinnern in ihrer Rigidität an den Tugendterror der Jakobiner in der Französi­ schen Revolution, die mit allem Alten brechen und das Vergangene radikal ausmerzen wollten. Bereits seit einigen Jahren tobt dieser Kulturkampf, der immer aberwitzigere Züge annimmt. Doch der Protest ist längst aus dem Ruder gelaufen und erhebt besonders im akademischen und kulturellen Feld Forderungen, die am Fundament und Selbstverständnis unserer freiheitlichen Ordnung rütteln. Sie knüpfen an ideologische Prämissen an, die schon länger die Selbst­ zweifel an der Erfolgsgeschichte unserer Zivilisation schürten und teils in einen regelrechten westlichen Selbsthass mündeten. Er ist nicht nur rechten und linken Rändern eigen, sondern zunehmend in Universitäten, Redaktionsstuben und Kulturinstitutionen beheima­ tet. Die Identitätspolitik von rechts und die extremistisch militan­ ten Umtriebe der »Identitären Bewegung« in ganz Europa werden schon länger als Bedrohung unserer Freiheit wahrgenommen. Sie favorisieren einen Kollektivismus, der sein Heil in der ethnischen Homogenität der Volksgemeinschaft sieht. Und auch der Gefahr, die vom identitären politischen Islam ausgeht, sieht man inzwischen etwas genauer ins Auge – selbst, wenn er immer noch verharmlost wird. Doch seit einigen Jahren hat sich auch eine Identitätspolitik von

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Wenn aus Emanzipationsbestrebungen Ideologie wird…

links an den Hochschulen fest etabliert und in der Folge maßgeblichen Einfluss im gesellschaftlichen Mainstream gefunden. Sie stellt mit ihrem Kollektivismus ebenso wie die Identitätspolitik der Rechten und der identitäre Islam die universalistischen Prinzipien der Aufklä­ rung in Frage und ist im Kern antiliberal. Immer häufiger gelingt es kleinen minoritären Gruppen, ihre Interessen und Ziele gegenüber einer schweigenden Mehrheit durch­ zusetzen. Diese soziale Dynamik hat die Kommunikationswissen­ schaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann schon 1980 beobachtet: näm­ lich die weit verbreitete Neigung, öffentlich nur das zu sagen, was real oder vermeintlich gut ankommt, opportun und dem Zeitgeist entsprechend erscheint, besonders bei kontroversen und moralisch hochbesetzten Themen. Wenn lautstarke und selbstbewusst vorgetra­ gene Meinungsäußerungen und Forderungen, selbst einer kleinen Minderheit, auf Schweigen treffen, kommt die Schweigespirale in Gang.1 Mit der Mobilisierungskraft der sozialen Netzwerke gelingt dies natürlich viel schneller als in Zeiten der analogen Öffentlichkeit. Ein Beispiel unter anderen ist etwa die Ausladung der Biologin Marie-Luise Vollbrecht 2022 von der Langen Nacht der Wissenschaf­ ten an der Humboldt-Universität von Seiten der Universitätsleitung. Diese gab dem Druck einer kleinen studentischen Gruppe nach, die das Auftrittsverbot gefordert hatte, weil die Referentin queerfeindlich sei. Sie hatte in der Debatte um Transsexualität auf die biologische Existenz von zwei Geschlechtern gepocht. Nach zahlreichen Protesten gegen das Verbot und der Intervention der Wissenschaftsministerin Bettina Stark-Watzinger, die erstmals öffentlich in einem solchen Fall die Verletzung der Wissenschafts- und Meinungsfreiheit an Hoch­ schulen gerügt hatte, durfte die Biologin dann in einer nachholenden Veranstaltung doch noch sprechen. Es geht aber nicht nur um spektakuläre Fälle von Ausladungen, sondern um eine fortschreitende Politisierung der Wissenschaften. Wie schon seit vielen Jahren in den USA halten auch bei uns wissenschaftsfremde moralisch-politische Prinzipien Einzug in den akademischen Betrieb, die ausdrücklich auf die Transformation der Gesellschaft gerichtet sind: Diversity, Equity – früher übrigens Equa­ lity! – Inclusion. Von der DFG werden nach diesen Prinzipien und ausdrücklichen diversen Identitätskriterien die Fördergelder vergeben Noelle-Neumann, Elisabeth (1980), Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, München (Piper).

1

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Ulrike Ackermann

und Personalpolitik gesteuert. In Deutschland sollten anfangs die Gleichstellungstellen an den Universitäten, im Öffentlichen Dienst und inzwischen in Unternehmen für Geschlechtergerechtigkeit zwi­ schen Männern und Frauen sorgen, auch sie verfolgen mittlerweile eine viel weitreichendere politische Agenda. Es geht dabei nicht nur um Sprachpolitik und das Gendern. Die Gleichstellungsstellen bzw. das Diversity Management sind längst bedeutsame Transmissionsrie­ men für die Durchsetzung der Ideen der Critical Social Justice Theories geworden. Diese reichen von den Gender Studies, den Postcolonial Studies, den Critical Race Studies bis zu den Queer Studies und haben sich inzwischen besonders in den Sozial-, Geistes- und Kulturwissen­ schaften etabliert. Schaut man sich die Fortbildungs- und Trainings­ einheiten der Gleichstellungstellen an, so operieren diese ebenso mit dem Begriff des »strukturellen Rassismus“, des »antimuslimischen Rassismus« unserer »patriarchal-kapitalistischen« Gesellschaft oder der Bezeichnung »Mehrheitsgesellschaft“. All diese Begriffe verstehen sich als Kritik an Herrschaftsdiskursen und Machtstrukturen, die transformiert werden sollen. Umschließt der Begriff ›Gesellschaft‹ noch alle Bürger und Bürgerinnen, so impliziert »Mehrheitsgesell­ schaft« bereits die Aufteilung und Gegenüberstellung in Diskrimi­ nierte diverser Opfergruppen einerseits und Privilegierte anderseits, die alle der Täterseite zugerechnet werden.2 Es begann im Zuge der Neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er Jahren durchaus emanzipatorisch. Völlig zurecht schlossen sich Frauen und soziale Minderheiten zusammen, um für ihre Rechte einzutreten. Sie machten auf historische und aktuell bestehende Diskriminierungen aufmerksam und begehrten gegen Sexismus und Rassismus auf. Doch Zug um Zug breitete sich mit dem Lob der kulturellen Vielfalt und Differenz ein ideologisch gewordener Multi­ kulturalismus aus, der die freiheitlichen Errungenschaften der west­ lich-europäischen Zivilisation zunehmend relativierte. Besonders an den angelsächsischen Universitäten wurde diese »positive Diskri­ minierung“ und Minderheitenförderung durchgesetzt. Immer neue soziale Gruppen, die sich als Opfer von Ungerechtigkeit und gesell­ schaftlicher Benachteiligung verstanden, entwickelten ihre jeweils 2 Vgl. dazu auch die Stellungnahme der DFG-Präsidentin Katja Becker: Becker, Katja (2020), »Gleichbehandlung braucht ein Kriterium«, in: Frankfurter Allgemeine Zei­ tung, 28. Oktober 2020; Ackermann, Ulrike (2022), Die neue Schweigespirale. Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt, Darmstadt (WBG Theiss), Kap. 3, Etablierung der Identitätspolitik, S. 49 ff.

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unterschiedlichen Opfernarrative und forderten besondere Rechte für sich. Eine regelrechte Opferkonkurrenz entstand: wer wurde und wird am schlechtesten von der »Mehrheitsgesellschaft“ behandelt und darf am meisten verlangen? Ihr jeweiliger Bezugspunkt ist eine kollektive Identität, die abgeleitet wird aus realer oder vermeintlicher Benachteiligung, gemeinsamer Leiderfahrung, Unterdrückung oder Verfolgung, die teils Jahrhunderte zurückliegen: Frauen, sexuelle Minderheiten, die LGBTQI-Community, Migranten, ethnische und religiöse Minderheiten. Es geht dabei um Wiedergutmachung und Kompensation erfahrenen Leids und um die Gewinnung sozialer und kultureller Wertschätzung. Verlangt werden die Gleichbehandlung und die Einführung von Quoten. Entstanden ist daraus über die Jahr­ zehnte eine ausgeprägte Identitätspolitik, die ausdrücklich kollektive religiöse, kulturelle, sexuelle und ethnische Zugehörigkeiten ins Zen­ trum stellt. Nicht für Individuen werden Rechte eingefordert, sondern für die jeweiligen Opferkollektive, die alle als partikulare Einheiten gleichrangig behandelt werden wollen. Immer mehr Sonderrechte werden inzwischen beansprucht, um die bisherige gesellschaftliche und historische Benachteiligung zu kompensieren. Aus den ehemals emanzipatorischen Bestrebungen sind identi­ täre Communties entstanden, die ihre Anliegen ideologisiert haben und einen lautstarken moralisierenden Feldzug gegen die »Mehr­ heitsgesellschaft“ führen. Sie treiben damit Polarisierungen voran, die den Zusammenhalt der Gesellschaft, der seit Jahren bröckelt, weiter schwächen. Wenn ständig zudem vornehmlich in Täter- und Opferkategorien gedacht wird, geht das oft an der Realität vorbei und verhindert sachliche Auseinandersetzungen. Obwohl die Ideen der Critical Social Justice Theory und ihre neuen Vokabeln von einer kleinen akademischen Minderheit ausgegangen sind, haben sie sich erstaunlich weit verbreitet. Wer möchte sich denn schon gegen Forderungen nach sozialer und kultureller Gerechtigkeit aussprechen? Erst recht nicht, wenn diese Identitätspolitik keinen wirklich hohen ökonomischen Preis hat, sondern vor allem Symbolund Repräsentationspolitik ist? Zudem ist es schick, sich als kulturelle Avantgarde vermeintlich fortschrittlich zu begreifen. In Teilen der gut ausgebildeten, kosmopolitisch orientierten, urbanen Mittelschicht findet die neue Sprache großen Anklang. Die identitätspolitischen Werte zählen dann ebenso zum Habitus wie etwa vegetarisch-vega­ nes Essen.

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Paradox ist in jedem Fall, je mehr tatsächliche Fortschritte wir im realen Leben im Feld der Gleichberechtigung und Gleichstellung seit den letzten Jahrzehnten haben, umso unerbittlicher und ideologischer treten die Aktivist***Innen der Gender und Postcolonial Studies und ihre NGOs auf. Moralisierung und Politisierung des akademischen Betriebs von links, sowie eine linke Hegemonie in den Sozial- und Geisteswis­ senschaften gab es schon seit der 1968er Studentenbewegung. Eine neue Generation will nun mit gleicher Verve am Machtgefüge in der Gesellschaft rühren – fast noch unerbittlicher als früher, so scheint es. Einerseits beanspruchen viele Studierende die Universität als Schutz­ raum in Abschottung gegenüber der bösen, kalten Welt: Safe Spaces, aus Angst vor Konflikten und in der Folge mangelnder Ambivalenz­ toleranz. Einem kleineren Teil dient sie hingegen als intellektuelles und soziales Laboratorium für zukünftige gesellschaftliche Experi­ mente und Ideenschmiede für die Transformation der Gesellschaft. In meiner Untersuchung geht es um die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlich-politischem Aktivismus, der in den akademischen Betrieb eindringt und die Wissenschaft politisiert auf der einen Seite, und andererseits um jene Ideen, die aus der Universität heraus Eingang in Gesellschaft und Politik finden und dort wiederum den Aktivismus befeuern.3 Deshalb ist ein Blick in die Ideengeschichte ebenso wichtig wie der Blick auf die neuen sozialen Bewegungen seit den 1970er/ 1980er Jahren. Neben der rechten Identitätspolitik, die eine homo­ gene Volksgemeinschaft anstrebt und den Ethnopluralismus favo­ risiert und der Identitätspolitik des politischen Islam, hat sich in den letzten Jahrzehnten eine linke Identitätspolitik etabliert, die aus den Universitäten heraus in immer weitere gesellschaftliche Bereiche eingedrungen ist. Sie zeichnet sich aus durch ihre radikale Kritik an der westlichen Moderne, an Kolonialismus, Kapitalismus, Patriarchat, an der Aufklärung und dem Universalismus der Mensch­ rechte. Letzterer wird nun vornehmlich als eine weiße, patriarchale Chimäre wahrgenommen. Die zugrundeliegenden Ideenfragmente sind ein ideologisches Potpourri: ein wenig Marxismus, Imperialis­ mus- und Kolonialismuskritik, einige Ideen von Antonio Gramsci wie dessen Konzept der kulturellen Hegemonie, Elemente aus dem Neomarxismus der Kritischen Theorie, der Postmoderne und des 3

Siehe: Ackermann (2022).

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Wenn aus Emanzipationsbestrebungen Ideologie wird…

Poststrukturalismus. Auch Michel Foucault ist eine wichtige Bezugs­ größe; Ideen seiner Machtkritik und Diskurstheorie finden sich in banalisierter und vulgarisierter Form wieder. Sehr früh hatte bereits der amerikanische Historiker Arthur M. Schlesinger die Entwicklungen an den Universitäten und im Bildungs­ wesen der USA gegen Ende der 1980er Jahre untersucht.4 An der Stanford University erklangen damals schon Schlachtrufe, die gegen Seminare über die erfolgreiche Geschichte der westlichen Zivilisation protestierten: »Hey-hey, ho-ho, western culture’s got to go!« Ursprünglich ging die Initiative von Anwälten, Rechtswissen­ schaftlern und Aktivisten aus, 1989 fand sich dann eine Gruppe von Professoren an der Harvard Law School zusammen, die an Law Schools lehrten. Als nicht-weiße Minderheit an Hochschulen entwickelten sie erstmalig die Grundideen der Critical Race Theory. Federführend waren in der Folge Richard Delgado und seine Frau Jean Stefancic. Sie gehen davon aus, dass der Begriff der Rasse eine soziale Konstruktion ist, die über eine biologische Definition oder Bezeichnung von unveränderlichen Merkmalen hinausgeht.5 Auch wenn es unterschiedliche Ansätze in der Critical Race Theory gibt, eint sie eine Grundannahme: Rassismus sei ein strukturelles Phänomen, das der amerikanischen Gesellschaft prinzipiell und von Beginn an innewohnt. Rassismus sei also kein individuelles Vergehen oder eine Haltung, gar eine Ausnahme, sondern Bestandteil des gesellschaft­ lichen Systems, in der Weiße Macht ausüben mittels der Institutio­ nen, die sie geschaffen haben, und in denen sie von Anbeginn an ihre Privilegien verteidigten. Die ökonomische Ungleichheit gründe ebenso darin wie der unterschiedliche Zugang zu Bildung oder die Partizipation in Gesellschaft und Politik. Die Vertreter der kritischen Rassentheorie halten den Grundsatz formaler Gleichheit vor dem Gesetz prinzipiell für eine Chimäre, die die uralten Privilegien der Weißen und ihre strukturelle Vormachtstellung nur verschleiert. Gerechtigkeit sei darüber nicht herzustellen. Allen Weißen wird damit eine unentrinnbare und nicht zu tilgende Kollektivschuld zugeschrie­ ben. Wer weiß ist, ist deshalb per se rassistisch aufgrund seiner Privilegien, egal was er tut oder denkt. Vgl. Schlesinger, Arthur M. (2020), Die Spaltung Amerikas. Überlegungen zu einer multikulturellen Gesellschaft. Mit einem Vorwort v. Sandra Kostner, Stuttgart (Ibi­ dem). 5 Vgl. Delgado, Richard & Stefancic, Jean (2001), Critical Race Theory: An Introduc­ tion, New York (New York University Press). 4

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Ulrike Ackermann

1. Vordenker des Postkolonialismus Anfänge einer Theorie des Postkolonialismus finden sich bei dem Schriftsteller und späteren Politiker Aimé Césaire aus Martinique und Léopold Sédar Senghor, dem ersten Präsidenten Senegals. Diese ersten postkolonialen Denker waren Intellektuelle aus den ehemali­ gen Kolonien, die seit den 1930er-Jahren ihre Ideen im Zuge der antikolonialen Befreiungskämpfe und der Dekolonialisierung mit politischem Aktivismus verbanden. Bereits damals war die Suche nach Identität und die Unterscheidung vom weißen Europa, dem sie Eurozentrismus vorwarfen, nicht nur in ihren Ursprungsländern, son­ dern auch in der Diaspora ein zentrales Thema. Gedanklich bewegten sie sich im Marxismus und zugleich in Kreisen der Surrealisten. Der Psychiater Frantz Fanon hat in seinen Schriften oft auf die Négritude Bezug genommen. Er stammte ebenfalls aus der französischen Kolo­ nie Martinique und arbeitete später als Chefarzt in einer Klinik in Algerien. Sein Hauptwerk war »Die Verdammten dieser Erde«, Jean-Paul Sartre schrieb das Vorwort. Edward W. Saids »Orientalismus“ von 1978 war eines der ein­ flussreichsten Sachbücher. Mit dem Begriff Orientalismus kritisierte Said den vorgeblich eurozentrischen und westlichen Blick auf die arabische Welt und den Nahen Osten. Dieses Denken diene nur der westlichen Herrschaft über den Orient, zeige sein fortgesetztes Überlegenheitsgefühl und seinen strukturellen Rassismus. Die euro­ päische Aufklärung sei ein Diskurs, der diesen Herrschaftsanspruch nur vernebeln würde. In diesem Zusammenhang unterstellte er dem Westen darüber hinaus eine bis heute währende tiefsitzende Islam­ feindlichkeit.6 Achille Mbembe, Historiker aus Kamerun, ist heute ein führen­ der Theoretiker des Postkolonialismus. Im Jahr 2000 erschien in Frankreich sein Buch »Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im zeitgenössischen Afrika«.7 In Anknüpfung an Frantz Fanon und Edward Said wirft er Europa und Amerika vor, das westliche Denken über und die Sichtweise auf Afrika sei eine Projektion. Der Westen sei in seine koloniale Schuld verstrickt, versuche dies zu leugnen und sei gleichzeitig in einem Wiederholungszwang gefangen. Mbembe Said, Edward W. (2009), Orientalismus, Frankfurt (Fischer). Mbembe, Achille (2016), Postkolonie. Zur politischen Vorstellungskraft im zeitgenös­ sischen Afrika, Wien (Turia + Kant). 6

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mischt diese Ideen mit Elementen aus Michel Foucaults Macht- und Herrschaftskritik, die er erweitert. Sein nachfolgendes Buch »Kritik der schwarzen Vernunft«8 (2014) wurde in viele Sprachen übersetzt und war ein Bestseller. Darin versucht er den globalen Kapitalismus aus dem transatlantischen Sklavenhandel heraus zu erklären. Er kom­ biniert in seiner postkolonialen Theorie die alte linke, marxistische, politökonomisch orientierte Kapitalismus- und Imperialismuskritik mit Elementen postmoderner Theorien. Er ist immer wieder in der Debatte über linken Antisemitismus in die Kritik geraten, u.a. wegen seiner Israel-Boykott-Aufrufe und Fürsprache für den BDS, eine internationale Boykott-Bewegung gegenüber Israel. Gayatri Chakravorty Spivak ist eine der wichtigsten Theoretike­ rinnen des Postkolonialismus. Sie lehrt an der New Yorker Columbia University Literaturwissenschaft. 1988 erschien ihr viel beachtetes Essay »Can the subaltern speak?« und 1999 auf Deutsch ihre »Kritik der postkolonialen Vernunft«.9 Sie ist für unseren Zusammenhang besonders interessant, weil sie Postkolonialismus und Feminismus, also die Postcolonial Studies und die Critical Race Theory mit den Gen­ der Studies kombiniert. In ihren philosophisch-theoretischen Texten greift sie auf Ideen von Karl Marx ebenso zurück wie auf Antonio Gramsci. Sie sieht sich als Mittlerin zwischen neomarxistischen Positionen aus der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und postmodernen Ansätzen des Dekonstruktivismus. Ihr Augenmerk gilt den Überschneidungen von Unterdrückung und Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Kultur, einem Geschlecht oder einer sozialen Klasse. Sie teilt mit anderen postkolonialen Denkern den Vorwurf, Europa setze über die Definition der Kolonien als das ganz Andere – das Othering – des europäischen Kontinents und dessen Selbstverständnis auch in postkolonialen Zeiten die Unterdrü­ ckung fort. Damit würde das tatsächlich Andere der ehemals koloni­ sierten Länder verschleiert. Ein Beispiel ist für sie der Umgang mit den Witwenverbrennungen in Indien. Die englischen Kolonialherren hatten zwar diesen grauenhaften Brauch unterbunden. Spivak wirft ihnen jedoch vor, dies für eigene Zwecke missbraucht zu haben. Der Vorwurf an die Kolonisierten, sich barbarisch verhalten zu haben, diene letztlich dazu, ihre eigene koloniale Mission besser darstellen und rechtfertigen zu können. Mbembe, Achille (2015), Kritik der schwarzen Vernunft, Berlin (Suhrkamp). Spivak, Gayatri Chakravorty (2007), Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien (Turia + Kant). 8

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Auch in den deutschen Debatten tauchen diese Denkfiguren von Spivak immer häufiger auf, in den Gender Studies, den Postcolo­ nial Studies und der sogenannten Intersektionalität – und durchdrin­ gen inzwischen die Kultur- und Sozialwissenschaften insgesamt. Den Begriff Intersektionalität hatte die Juristin Kimberlé Crenshaw bereits 1989 geprägt.10 Er hat inzwischen eine große Karriere an den Hoch­ schulen auf beiden Seiten des Atlantiks gemacht. Damit sollen über­ schneidende Weisen gesellschaftlicher Diskriminierung in den Fokus gerückt werden – sie wählt das Bild einer Straßenkreuzung. Die Ver­ schränkung diverser Unterdrückungsweisen schafft einerseits einen Zusammenhang zwischen den Opfergruppen, zugleich jedoch unter der Hand eine Hierarchisierung nach Herkunft, Geschlecht, ethni­ scher Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religion und sozialer Klasse. Wer ist aufgrund welcher Herkunft das am meisten betroffene Opfer patriar­ chaler, kapitalistischer und kolonialistischer Herrschaft und Gewalt? Eine schwarze Transfrau liegt im Ranking dann weit über einer weißen Lesbe aus der Mittelschicht. Aufgrund dieser Zuordnung darf dann auch nicht jeder oder jede über die Diskriminierungserfahrungen anderer Gruppen forschen oder reden.

2. Von der Frauenbewegung und -forschung zu den Gender Studies Im 19. Jahrhundert stand in der Frauenbewegung die Gleichberechti­ gung auf der Agenda. Frauen kämpften für gleiche Rechte und Zugang zu Bildung. Bereits Olympe de Gouges hatte die Forderungen in ihrer »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« 1791 in der Französi­ schen Revolution verfasst. Zwei Jahre später wurde sie von den Jako­ binern geköpft. Ihre Nachfolgerinnen im Kampf für gleiche Rechte waren im bürgerlichen oder proletarischen Flügel der Bewegung aktiv. Es ging ihnen um den Zugang zu Bildung, zu Berufen und natürlich um die politische Partizipation, das Wahlrecht. Auch der liberale Philosoph und Ökonom John Stuart Mill und seine Frau Harriet Crenshaw, Kimberlé (1989), »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Anti­ racist Politics«, in: University of Chicago Legal Forum, Vol. 1, 1989, S. 139–167 (https://chicagounbound.uchicago.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1052&context =uclf). 10

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Taylor hatten mit ihren Schriften zur Frauenemanzipation Mitte des 19. Jahrhunderts über England hinaus Furore gemacht. Sie konnten in ihrem Kampf für Gleichberechtigung und politische Partizipation an die Feministin Mary Wollstonecraft anknüpfen, die 1792 in ihrer Verteidigung der Frauenrechte die Gleichheit für Frauen forderte. Mill focht auch als Abgeordneter der liberalen Partei im Parlament für das Frauenwahlrecht. Doch nicht nur die Gleichberechtigung trieb das Paar um. Sondern auch, was die Jahrhunderte währende Unter­ werfung der Frauen mit ihnen angestellt hatte. Welchen Anteil an der Geschlechtsidentität und den Geschlechterrollen hatte die Biologie, die Kultur und die gesellschaftliche Sozialisation? Mill und Taylor führten in ihren Essays »Über Frauenemanzipation« (1851) und »Die Unterwerfung der Frauen« (1869) implizit bereits eine Unterschei­ dung zwischen dem biologischen (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) ein. Die rein körperlich-biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen waren für sie keine Grundlage, daraus spezifisch maskuline oder feminine Eigenschaften abzuleiten. Diese, so ihre Überzeugung, waren kulturelle und soziale Produkte. Da für Frauen in der Vergangenheit nie die gleichen Ausgangsbedingungen und Handlungsoptionen wie für Männer bestanden hätten, die Herausbil­ dung von Fähigkeiten aber an Erfahrung, das heißt an die Möglichkeit zu wachsen und sich weiterzuentwickeln, gebunden sei, könne eine haltbare Aussage über Frauen dazu auch nicht getroffen werden.11 Mill und Taylor machten sich deshalb für den Pluralismus der menschlichen Potenziale stark, die nicht geschlechtsspezifisch zuge­ ordnet werden könnten. Denn die verschiedenen Komponenten des individuellen Charakters machten eine Person aus, unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht. Genau diese Individualität ist es, von der Mill und Taylor in ihrer berühmten, gemeinsam verfassten Schrift »Über die Freiheit« (1859) sprachen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter war für sie die Vorbedingung der individuellen Wahlfreiheit und Selbstbestimmung aller. Für Mill und Taylor waren Freiheit, Gleichberechtigung und die Emanzipation der Geschlechter unlösbar miteinander verbunden: Das eine bedingt das andere und umgekehrt. Dieser Feminismus forderte legale Reformen für die 11 Vgl. Mill, John Stuart / Taylor, Harriet / Taylor, Helen (2012), Die Unterwerfung der Frauen, in: Mill, John Stuart, Ausgewählte Werke, Bd. I: John Stuart Mill und Harriet Taylor, Freiheit und Gleichberechtigung, Ulrike Ackermann (Hg.), Hamburg (Mur­ mann), S. 439–560. In früheren Übersetzungen hieß der Titel »Die Hörigkeit der Frau«.

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Gleichberechtigung in einer liberalen Demokratie, die die Individuen schützt und sich an den universellen Menschenrechten orientiert. Er sah sich in der Tradition der Aufklärung, der Vernunft und der Wissenschaft. Doch solch ein liberaler Feminismus hatte es – wie im Übrigen der Liberalismus insgesamt – in Deutschland besonders seit der Studentenbewegung 1968 schwer. Er blieb, so er überhaupt sichtbar wurde, in der Frauenbewegung ebenso minoritär wie in der akademischen Frauenforschung und später erst recht in den Gender Studies. Die erste Welle der Frauenbewegung reichte bis in die 1930erJahre. Die zweite Welle umfasste die Studenten- und Bürgerrechts­ bewegungen bis in die 1990er-Jahre. Und die dritte Welle, so die Zeitrechnung in der Forschung, reicht bis heute.12 Zu ihren Pionie­ rinnen zählten mit ihren bahnbrechenden Büchern Simone de Beau­ voir (»Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau«, 1949), Betty Friedan (»Weiblichkeitswahn«, 1966) oder Kate Millet (»Sexus und Herrschaft«, 1969). Die sogenannte Neue Frauenbewegung der 1970er/80er betonte besonders die Differenz und die Absetzung von der patriarchalen Gesellschaft. Sie focht für eigene, autonome Schutz­ räume – was später in Gestalt der Safe Spaces von anderen Gruppen übernommen wurde. Es war eine bewusste Separierung von der allgemeinen Gesellschaft und der allgemeinen Wissenschaft. Auch damals gab es schon biologistische und essentialistische Strömungen, die Frauen etwa als die besseren und friedfertigeren Menschen propa­ gierten, weil sie Kinder gebären. Viele dieser Ideen finden wir später wieder im Postfeminismus.13

3. Separierung in der Forschung: eine Blaupause für spätere Bewegungen und die Identitätspolitik Frauenbewegung und Frauenforschung waren wichtig und notwendig. Doch nach einer Phase der Ergänzung, Revision und Vervollständi­ gung des wissenschaftlichen Kanons wäre es sinnvoll gewesen, zum Allgemeinen zurückkehren. (Heute gibt es über 200 Gender Studies 12 Vgl. Holland-Cunz, Barbara (2018), »Was ihr zusteht: Kurze Geschichte des Femi­ nismus«, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Nr. 17/ 2018, S. 4–11. 13 Vgl. ausführlich dazu Ackermann (2022), Kapitel »Von der Frauenbewegung zu den Gender Studies“, S. 93 ff.

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Professuren, aber wenig Politikwissenschaftlerinnen, Philosophin­ nen, Ökonominnen oder Chemikerinnen, die Lehrstühle innehaben.) Diese Separierung vom allgemeinen Wissenschaftsbetrieb sorgte über die vielen Jahre für eine Verengung der Perspektiven innerhalb der Frauenforschung; ideologische Enklaven und abge­ schottete Denkräume entstanden. Denn der eigene Standpunkt, näm­ lich Frausein und Weiblichkeit, Opfer und Unterdrückte unter patri­ archal-kapitalistisch-kolonialistischer Herrschaft zu sein, war der ultimative Ausgangspunkt und Maßstab für Erkenntnis – und wurde zum Dogma. Inzwischen hat in den Gender Studies das Konzept des »fluiden Geschlechts« gesiegt, das biologische Geschlecht wird geleugnet und Feministinnen von transsexuellen Aktivisten gejagt (s. die Kampagnen gegen die Schriftstellerin Joanne K. Rowling oder die Philosophieprofessorin Kathleen Stock u.a.) Und der Heteronormati­ vität wurde der Kampf angesagt. Judith Butler wird in diesem Kontext als Ikone gefeiert.14 Maßgeblich für diese ideengeschichtliche Entwicklung war die sogenannte Standpunkttheorie, die in der postmodernen Philosophie an Bedeutung gewann. Vor allem in der feministischen Theorie und im Entwurf einer alternativen Wissenschaftstheorie spielte dieser Ansatz eine herausragende Rolle. Natürlich beeinflusst der Platz, den Menschen in der sozialen Hierarchie einer Gesellschaft haben, ihren Blick auf die Gesellschaft und ihren Standpunkt. Das ist lapi­ dar. Laut dieser Theorie ist aber vor allem die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Gruppe ausschlaggebend für den Standpunkt eines Individuums. Die These ist, dass Standpunkte zwar prinzipiell auch Vorurteile und Voreingenommenheiten enthalten. Doch treffe dies auf den Standpunkt einer in der Gesellschaft untergeordneten Gruppe aufgrund der Subalternität weniger zu. Denn unterdrückte beziehungsweise untergeordnete Gruppen hätten kein Interesse, den alten Zustand der Gesellschaft, der ihre Unterordnung festschreibt, aufrechtzuerhalten. Aus diesem Grunde seien ihre Beobachtungen der sie dominierenden Gruppe vollständiger und objektiver. Bei Karl Marx ist die Rede vom Standpunkt der herrschenden Kapitalisten­ klasse einerseits und dem Standpunkt der Proletarier andererseits. Im Klassenbewusstsein und Klassenstandpunkt sah er die Voraus­ setzungen für den Befreiungskampf und die Revolutionierung der Vgl. Butler, Judith (1991), Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. (Suhr­ kamp).

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Gesellschaft. In den nachfolgenden marxistischen Theorien wird die Standpunkttheorie aufgegriffen und auf andere subalterne gesell­ schaftliche Gruppen übertragen. Besonders in den feministischen Standpunkttheorien geht es um die radikale Kritik sogenannter androzentrischer Weltanschauungen. Im Patriarchat als fundamen­ taler Herrschaftsform setzten Männer und ihre Vorstellungen von Männlichkeit die normative Ordnung in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft. Eine wichtige Vordenkerin war die amerikanische Phi­ losophin Sandra Harding. Sie hat diese Theorie in eine feministische Wissenschaftstheorie eingebettet. Gerade aufgrund der unterlegenen Position in den patriarchalischen Herrschaftsstrukturen hätten Frauen einen objektiveren Zugang zu Erkenntnis. 1986 erschien ihr Grund­ lagenwerk »Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht«. Darin werden Rassismus, Sexismus, Kapitalismus kombiniert behandelt. Sie schließt in ihrem Buch: »Auch hier leistet der Feminismus seinen eigenen, wichtigen Beitrag zur Postmoderne – er trägt in diesem Falle dazu bei, dass wir die erkenntnistheoretisch fixierte Philosophie (und, wie wir hin­ zufügen können, die wissenschaftsfixierte Rationalität) als eine drei Jahrhunderte währende Episode in der Geschichte des westlichen Denkens begreifen können.«15 Das ist eine klare Absage an den Universalismus der Aufklärung und an ein Verständnis von allgemeiner Vernunft und Wahrheit. Und es ist die erkenntnistheoretische Blaupause für die Entfaltung des intersektionalen Feminismus, der überkreuzende Formen von sozialer Unterdrückung, neben Geschlecht auch die Klasse und Rasse, miteinander verschränkt. In den 1990er-Jahren gab es zwar Streit zwischen feministischen Vertreterinnen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und ihren poststrukturalistisch orientierten Kolle­ ginnen und ihrer Identitätspolitik. Doch markierte auch dies keinen Bruch mit marxistischen und neomarxistischen Ideenkonzepten, son­ dern zeigt bis heute eine variierte Kontinuität linker Denktraditionen, auch wenn sich die Perspektive auf Macht- und Herrschaftsstrukturen etwas änderte.16 Die Verabschiedung des Subjekts zugunsten von Gruppeniden­ titäten – der Klasse, der Rasse, des Geschlechts, später in umgekehr­ 15 Harding, Sandra (1990), Feministische Wissenschaftstheorie: Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht, Hamburg (Argument Verlag), S. 274. 16 Stöger, Karin & Colligs, Alexandra (Hg.) (2022), Kritische Theorie und Feminismus, Berlin (Suhrkamp).

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ter Rangfolge – war von Anfang an antiliberal. Das bürgerliche Individuum und die bürgerliche Gesellschaft waren den dominan­ ten feministischen Theorien ebenso wie vorher den marxistischen und neomarxistischen kritischen Gesellschaftstheorien mindestens suspekt, wenn nicht gar anachronistisch. So gesehen markieren die postmodernen Paradigmenwechsel (Cultural Turn und Racial Turn) seit den 1970er Jahren weniger einen Bruch und etwas ganz Neues als vielmehr eine Fortsetzung linker Gesellschaftskritik und -theorie. Die hegemonial gewordene Critical Social Justice Theory samt der Critical Race Theory setzt sich bunt gemischt und teils widersprüchlich aus diesen verschiedenen Theoriebruchstücken zusammen. Damit können sie jedem und jeder etwas anbieten und sind weit über den akademischen Rand hinaus anschlussfähig geworden.17 Auch wenn es immer noch Vertreter der klassisch-marxistischen Linken an den Hochschulen und in der öffentlichen Debatte gab und gibt, ist eine deutliche Akzentverschie­ bung zu beobachten, weg von der Fokussierung auf ökonomische Ausbeutung und soziale Ungleichheit hin zu den Themen Diskrimi­ nierung, Ausgrenzung und Anerkennung auf kulturell-gesellschaftli­ cher Ebene. Nicht mehr das Proletariat und seine Befreiung stand auf der Agenda, sondern die Kritik des Kolonialismus und Imperialismus, die Aufwertung »ursprünglicher« Kulturen der Dritten Welt, das »Andere« der westlichen Kultur, Rassismus- und Patriarchatskritik. Deshalb ist die Bezeichnung »kulturalistische Linke« gegenüber der klassischen zutreffend. Dem Marxismus war noch die Vernunft- und Fortschrittsidee der Aufklärung und westlichen Moderne eigen. Er trat mit einem universalistischen Anspruch auf, auch wenn die Klassenstandpunkte entgegengesetzten Interessen folgten, Ziel war die klassenlose Gesell­ schaft. Die Neomarxisten und Vertreter der Kritischen Theorie und Frankfurter Schule, wie Max Horkheimer und Theodor W. Ador­ nos sprachen immerhin noch vom »Doppelgesicht der Aufklärung« und wollten trotz Kritik an der bürgerlichen Zweckrationalität die Vernunft nicht völlig verwerfen.18 Aber ihre umfassende Kritik an der westlichen Moderne war dennoch eine hervorragende Vorlage 17 Vgl. Pluckrose, Helen & Lindsay, James (2022), Cynical Theories, München (C.H. Beck). 18 Vgl. Adorno, Theodor W. & Horkheimer, Max (1973), Dialektik der Aufklärung, Frankfurt (Fischer).

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für die weit radikalere Herrschaftskritik der Postmodernisten, vor allem der französischen Poststrukturalisten und Konstruktivisten. Jean-François Lyotard und Michel Foucault verwarfen die großen »Metaerzählungen« der Aufklärung und verabschiedeten die Ver­ nunft als westliches Herrschaftsinstrument.19 Marxistische und neomarxistische Linke kritisierten den Kapita­ lismus, den Kolonialismus und das Patriarchat, hielten aber dennoch am universalistischen Prinzip der Gleichheit aller Menschen fest. Über die Gleichheit aller vor dem Gesetz verlangen sie allerdings bis heute Ergebnisgleichheit und Umverteilung, aus der Gleichberechti­ gung wurde die Gleichstellung. Die kulturalistische Linke attackiert den Universalismus der Menschenrechte ganz grundsätzlich. Sie sieht darin einen oppressiven Machtdiskurs, der die postkoloniale, weiße, männliche Herrschaft fortsetze. Ihre Kapitalismuskritik ist hingegen weitaus moderater. Mit ihrer Identitätspolitik will sie Son­ derrechte für diverse gesellschaftliche Gruppen, die als diskriminierte Opferkollektive der »Mehrheitsgesellschaft“ gegenübergestellt wer­ den. Sie fordert einen Machtverzicht der alten Eliten und strebt deren Austausch an. Eine neue Stände-ordnung nach Gruppen steht auf ihrer Agenda. Die Anliegen dieser diversen linken Strömungen sind weni­ ger gegensätzlich als vielmehr komplementär aufgrund vieler Über­ schneidungen und Anknüpfungspunkte, wie wir gesehen haben. Damit ist die linke Hegemonie an den Hochschulen und im Kulturbe­ trieb sowie in den öffentlich-rechtlichen Medien nicht etwa in Erosion geraten, sondern hat sich erweitert. Was die Varianten der rechten, islamistischen und linken Identi­ tätspolitik eint, ist ihre fundamentalistische Kritik an der westlichen Moderne und deren freiheitlichen Errungenschaften. Dem Univer­ salismus der Aufklärung setzen sie den Partikularismus und die Relativierung der Kulturen beziehungsweise den Ethnopluralismus entgegen. Anstelle einer Wertschätzung des Individuums wird das Kollektiv gefeiert. Die westlich-liberale Zivilisationsgeschichte sehen sie nicht als Erfolg, sondern als Desaster an. Sie alle verbindet ein zutiefst anti-westliches Ressentiment und der Hass auf den Libera­ lismus. Solch westlicher Selbsthass ist nicht nur dekadent, sondern brandgefährlich und selbstzerstörerisch. Die Identitätspolitiken sind kollektivistisch und separatistisch zugleich, sie spalten, polarisieren 19

Vgl. Lyotard, Francois (2005), Das postmoderne Wissen, Wien (Passagen).

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und attackieren unsere liberale Gesellschaftsordnung. Vladimir Putin höhnt in der Spiegelung seiner Propaganda gen Westen schon lange über die Dekadenz des westlichen Liberalismus und dessen Selbstzer­ fleischung. Inzwischen führt er den offenen Krieg gegen die Ukraine und den Westen. Der westliche Selbsthass, wie er sich in den Ideen und Ideolo­ gen der Critical Social Theories spiegelt, ist eine lange Zeit unter­ schätzte Bedrohung unserer Freiheiten von innen. Deshalb sollten wir diese freiheitsfeindlichen Ideen und Theoriegebäude gründlich dekonstruieren, kritisieren und entzaubern. Eine Selbstreflexion über die latenten und manifesten normativen Grundlagen und politischen Implikationen besonders in den Sozial- und Geisteswissenschaften, und über die seit 1968 selbstbewusst angestrebte und durchgesetzte linke Hegemonie ist deshalb dringend geboten. Nur in der Pluralität der Meinungen, der Forschungsansätze und -methoden, die im zivili­ sierten Streit aufeinandertreffen, ist die Wissenschaftsfreiheit durch­ zusetzen, sind festgefügte Gesinnungslager aufzubrechen, kommt der Wettbewerb der Ideen wieder in Gang. Unsere Freiheiten werden von unterschiedlichen Seiten bedroht. Erst wenn wir sie wertschätzen, können wir sie hüten und schützen. Dafür brauchen wir einen neuen antitotalitären Konsens, über den dann klug gestritten werden kann. Also ist es höchste Zeit, Debattenräume an den Hochschulen, wie in Gesellschaft und Politik wieder zu öffnen, Konflikte und Streit zuzulassen, um dem alten und neuen identitären Kollektivismus der Rechten, der Linken, der Islamisten und anderer religiöser Eiferer entgegenzutreten. Das ist die Lehre aus den Totalitarismen des letzten Jahrhunderts und öffnet den Blick für die Gefahren der neuen, die im religiösen oder autoritativen Gewand daherkommen.

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Maria-Sibylla Lotter

Verletzende Worte und die Grenze des Sagbaren

1. Parrhesia und Macht Die attische Streitkultur dient seit je als Beispiel für die Tugenden, die eine demokratische Streitkultur benötigt – aber auf sehr unterschied­ liche Weise. (Vgl. »Demokratische Streitkultur« in diesem Band). Während Mill & Mill auf die Antike zurückgriffen, um eine besonders liberalen Umgang auch mit unliebsamen Meinungen zu empfehlen, speist sich eine eher antiliberale Richtung aus einer verengten Rezep­ tion des französischen Ideenhistorikers Michel Foucault. Wenn man Foucaults späte Vorlesungen über die antiken Formen der Parrhesia liest, drängt sich der Eindruck auf, dass er hier indirekt auch immer wieder sein eigenes Ideal des kritischen Intellektuellen anspricht, der Wahrheit stets in Beziehung zur Macht und zur Moral denkt. Foucault lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass der antike Parrhesiast nicht nur ein Individuum ist, das sich allein auf die Wahrheit bezieht, sondern eine Person, die sich stets in einem sozialen Raum zu anderen verhält, auf die sie Einfluss ausüben möchte. Parrhesia ist nach Foucault einerseits »ein Sprechen, das die Macht innerhalb der Stadt ausübt, aber natürlich unter Umstän­ den, die nichts mit einer Tyrannei zu tun haben, d. h. indem man den anderen die Freiheit der Rede läßt.«1 Von dem Streben nach tyrannischer Macht unterscheidet sich dieses Sprechen durch die Anerkennung der Freiheit der anderen, und vor allem durch die ethische Grundhaltung der Sorge um sich und die Anderen. Unter der Sorge um die Anderen verstand Foucault die Bemühung, ihnen dabei zu helfen, eine angemessene Beziehung zu sich selbst herzustellen: nämlich eine Ausrichtung an der Wahrheit, die langfristig Tugend und Glück befördert. Andererseits ist der Parrhesiast vor allem dort 1 Foucault, Michel (2009), Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83, übers. v. Jürgen Schröder, Frankfurt (Suhrkamp), S. 140.

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Maria-Sibylla Lotter

gefordert, wo es darum geht, den jeweiligen Machthabern oder, in der Demokratie, der dominanten Meinung zu widersprechen. Dafür benötigt er Mut, denn er spricht aus einer ungesicherten Position. Der Parrhesiast benötigt also nach Foucaults Lesart der Antike sowohl den Mut zur Wahrheit als auch das Talent, andere ebenfalls zu einem an der Wahrheit orientierten Leben zu führen. Auf die »Sorge um die Anderen« beruft sich mittlerweile aber auch eine moralische Rhetorik von Sozialwissenschaftlern, die glau­ ben an Foucault anzuknüpfen, obgleich es ihnen dabei nicht um die Hinführung zu einem an der Wahrheit orientierten Leben geht, sondern eher um den Schutz vor den verletzenden Wirkungen der freien Rede. Die liberale Verteidigung der freien Rede wird als Vertei­ digung unhinterfragter Machtansprüche gegenüber unterprivilegier­ ten Gruppen interpretiert, die abstrakt als »die Anderen« bezeichnet werden. So hat Siegfried Jäger mit Blick auf den Streit um die Moha­ med-Karikaturen argumentiert, diejenigen, »die den Abdruck der Mohamed-Karikaturen unter Berufung auf die Meinungs-, Rede und Pressefreiheit verteidigten, seien dabei nur von einer egoistischen Sorge um sich selbst geleitet und vergäßen dabei »die Sorge um die Anderen und damit um die Welt.« Jäger bezeichnete dies als »die (selbstschädigende) Haltung des Egoismus und Egozentrismus (und im besonderen Fall des Eurozentrismus) […] Man kann sie auch als demagogische parrhesia bezeichnen, die das Privileg beansprucht, andere zu verletzen, sie zu diskriminieren, sie auszugrenzen, den Mächtigen zu schmeicheln, anderen nach dem Mund zu reden und faule Kompromisse zu vertreten.«2 So wird aus Foucaults Interpretation der Parrhesia als einer Kritik an den Machtverhältnissen, die von der Sorge um ein gutes, an der Wahrheit orientiertes Leben für sich und die anderen moti­ viert ist, eine manichäische Aufteilung der Menschen in die Gruppe der Egoisten und die Gruppe der »Anderen«, die von den Egoisten unterdrückt werden. Die Sorge um die Anderen verwandelt sich dabei in eine paternalistische und antiliberale Haltung. Was Jäger der egoistischen Selbstbezogenheit und mangelnden Fürsorge für die anderen zuordnet – also letztlich als einen Akt der frivolen Machtdemonstration westlicher Werte auf Kosten der religiösen 2 Jäger, Siegfried, Referat auf der Mitgliederversammlung des DISS am 10.12.2010 (http://www.disskursiv.de/2011/01/14/parrhesia-und-das-problem-der-redefrei heit/).

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Verletzende Worte und die Grenze des Sagbaren

Empfindlichkeit von Muslimen deutet –, war jedoch im damaligen Kontext eine Reaktion auf die tödliche Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie gewesen. Sie wäre also umgekehrt auch als ein Akt der Solidarisierung mit denjenigen »Anderen« zu verstehen, die unter religiöser Intoleranz leiden und verfolgt werden. Freilich kann man sich fragen, ob der Abdruck der Mohamed-Karikaturen mit Blick auf die Förderung von Toleranz zwischen den Religionen klug war. Hier mag es Gründe zum Zweifel geben,3 woraus jedoch nicht folgt, dass die Mohamed-Karikaturen nicht von einer berechtigten »Sorge um sich selbst und die Anderen« motiviert gewesen wären. Auch diese benötigt Urteilskraft, kann auf Fehleinschätzungen beruhen und führt nicht immer zu einem guten Ergebnis – nicht selten verschlimmert sie die Lage. Allein dieses Beispiel zeigt, wie illusionär die Vorstellung ist, man könne die Foucaultsche Formel von der Sorge um sich und die Anderen als eine Art moralischen Kompass einsetzen, der einem zeigt, wer ein besonderes Anrecht auf Fürsorge hat (gläubige Mus­ lime?) und wer hier vernachlässigt werden könnte (religionskritische und liberale Muslime und Nichtmuslime?). Auch wenn es zulässig wäre, die Formel von dem parrhesiastischen Kontext abzulösen und sie im Sinne allgemeiner Fürsorge umzudeuten, wäre stets zu fragen, wer genau ›die Anderen‹ sind, auf die sich die Fürsorge richten sollte, und vor allem: worin sie sich unterscheiden. Denn hier gibt es in der Realität stets Interessen- und Wertkonflikte. Darf man die einen auf Kosten der anderen bevorzugen? Hat die Fürsorge im Falle der Moha­ med-Karikaturen dem islamischen Klerus zu gelten oder denjenigen, die sich einen liberalen und toleranten Islam wünschen und verfolgt werden? Solche Fragen lassen sich nicht abstrakt beantworten, son­ dern nur durch eine Berücksichtigung der jeweils betroffenen Parteien und ihren berechtigten Interessen.

2. Das Schadensprinzip als Grenze der Redefreiheit Foucault Beschreibung der parrhesiastischen Rede als einer Sorge um die Anderen wirft die Frage auf, welcher ethischer Beschränkungen die freie Rede bedarf, um die Funktion erfüllen zu können, den Vgl. Hierzu auch die Kritik von Sorabji, Richard (2021), Freedom of Speech and Expression. Its History, Its Value, Its Good Use, and Its Misuse, Oxford (Oxford University Press).

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Gesprächspartnern einen wahrheitsorientierten Diskurs zu ermögli­ chen anstatt diesen zu verschließen. Dabei geht es um verschiedene Probleme. Erstens stellt sich die Frage, ob es eine allgemeine ethische Richtschnur gibt, an der man sich hier orientieren könnte. Zweitens wäre zu erwägen, wer in welchen Fällen die Autorität und Befugnis hat, diese Einschränkung vorzunehmen: der Staat? Diejenigen, die an einer Rede etwas auszusetzen haben? Oder die Rednerin selbst, indem sie freiwillig auf gewisse Möglichkeiten verzichtet, mit ihrer Rede Einfluss zu nehmen? Welche Schwierigkeiten sollten durch Gesetze geregelt werden und bei welchen Problemen sind soziale Signale oder Formen freiwilliger Selbstbeschränkung sinnvoller?4 Und drittens stellt sich auch die Frage nach den sprachlichen Möglichkeiten, über die wir verfügen, um wichtige Dinge anzusprechen, ohne damit die Diskussion, die wir führen wollen, zu verunmöglichen. Welche sprachliche Form ist mit Blick auf welche Inhalte die angemessene, um einen Meinungsaustausch und ein wechselseitiges Lernen zu ermög­ lichen?5 Wer sich in der Gegenwart gegen die öffentliche Diskussion bestimmter Themen, Thesen oder gegen den Gebrauch bestimmter Ausdrücke ausspricht, stützt sich dabei in westlichen Kontexten meist direkt oder indirekt auf das sogenannte Schadensprinzip des Libe­ ralismus. Nach John Stuart Mill muss die Redefreiheit – wie alle Freiheiten – dort ihre Grenze finden, wo sie Menschen (im jeweiligen Kontext) unmittelbar Schaden zufügen könnte.6 Das Schadensprinzip bedarf jedoch der Präzisierung, denn es ist nicht weniger anfällig für politischen Missbrauch als die antiliberale Uminterpretation von Foucaults Formel von der Sorge um sich selbst und die Anderen. Auch diejenigen, die derzeit insbesondere an den Universitäten versuchen, sachliche Diskussionen über bestimmte Themen zu verhindern, begründen dies oft mit einem Schaden, der dadurch bei bestimmten Gruppen von Menschen angerichtet würde. So kommt es vor, dass Diskussionen über die Frage, was unter Geschlecht (sex) zu verstehen ist, mit der Begründung verhindert werden, sie seien schädlich für Transpersonen (s. u.). Es wäre also erst einmal zu klären, ob der Begriff des Schadens überhaupt so präzisiert werden kann, dass damit ein allgemeines Kriterium gewonnen werden kann, welches erlaubt, 4 Vgl. Garton Ash, Timothy (2016a), Free Speech. Ten Principles for a Connected World, London (Atlantic Books), S. 85. 5 Vgl. Garton Ash (2016a), S. 79. 6 Vgl. Mill, John Stuart (2009), Über Freiheit, Hamburg (Meiner), S. 79.

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zwischen illegitimen und legitimen Eingriffen in die Redefreiheit anderer zu unterscheiden. Das alltägliche Verständnis von Schaden, ein Sammelbegriff für das Eintreten unerwünschter Ereignisse, physischer Zerstörung oder Schmerzen, ist hier unbrauchbar. Erstens sind solche Wirkungen nicht immer vermeidbar. Zweitens sind sie oft sogar erwünscht. Drittens verletzen sie nicht automatisch die Rechte individueller Personen und werden mitunter sogar vom Recht angestrebt. Stellen wir uns eine Richterin vor, die einen Straftäter verurteilt. Sie fügt ihm einen beträchtlichen Schaden zu; möglicherweise ruiniert das Urteil sein ganzes Leben, er verliert durch die lange Haftstrafe seinen Arbeits­ platz und den Kontakt zu Familie und Freunden. Dasselbe gilt für den Journalisten, der zu dem Konzert einer Pianistin in einem maßgebli­ chen Medium eine vernichtende Kritik schreibt; es ist gut möglich, dass die öffentliche Bloßstellung ihr Selbstwertgefühl nachhaltig beschädigt. Gleichwohl wird den Betroffenen mit solchen Schäden, so schlimm sie für sie auch sein mögen, kein Unrecht zugefügt, han­ deln Richterin oder Journalist nicht moralisch verwerflich. Solche in unserem Kultur- und Sozialleben ständig angerichteten Schäden sind nicht von unseren sozialen Praktiken und Institutionen abtrennbar. Es kommt daher auf die Unterscheidung zwischen einem Schaden und einer rechtswidrigen oder moralisch verwerflichen Schädigung an. Im Folgenden stütze ich mich auf den Vorschlag des Rechtsphilosophen Joel Feinberg, mit Blick auf das Verbot, andere zu schädigen, den zu vagen Begriff des Schadens durch den einer unrechtmäßigen Schädi­ gung von legitimen Interessen zu ersetzen.7

3. Können Worte im wörtlichen Sinne verletzen? Welche Sprachhandlungen können also unrechtmäßige Schädigun­ gen von legitimen Interessen darstellen? John Stuart Mill dachte vor allem an direkte Aufrufe zur Gewalt oder Formen der Aufwiegelung gegen Personen, die im unmittelbaren Kontext dazu angetan sind, physische Gewalt auszulösen. Dass Worte selbst als physische Gewalt betrachtet werden könnten, wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Denn worauf könnten wir uns stützen, um Konflikte friedlich und 7 Vgl. Feinberg, Joel (1984), Harm to Others. The Moral Limits of the Criminal Law, Oxford (Oxford University Press), S. 35–36.

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zwanglos zu lösen, wenn nicht auf Worte – Verhandlungen und Aufklärung über den Sachverhalt? Die Unterscheidung zwischen freien Diskussionen, die auch die Form eines verbalen »Gefechts« annehmen können, und Gewalt ist grundlegend für jeden Versuch, Konflikte gewaltfrei zu lösen und Politik anders zu gestalten als durch das Recht der Stärkeren. Gegen die Unterscheidung zwischen Sprache als einer gewalt­ freien Form der Verständigung und Gewalt wurde in den letzten Jahrzehnten in kulturwissenschaftlichen Kontexten immer wieder geltend gemacht, dass Worte nicht »bloße Worte« seien, sondern Sprachhandlungen, mit denen etwas getan und bewirkt wird. An die­ sem Einwand ist viel Wahres: Aussagen können Züge in Machtspielen sein, sie sollen beeinflussen und können »verletzen«. Entsprechend stellt sich die Frage, wie diese Verletzungsgefahren zu verstehen sind, welche zu vermeiden sind und welche – wie viele andere Schäden – als Nebenfolgen erwünschten Verhaltens in Kauf zu nehmen sind. Die gegenwärtigen akademischen Diskussionen über die Schäd­ lichkeit von Kommunikationen im Kontext von Diskussionen über Hate Speech oder Microaggressions konzentrieren sich allerdings vor­ wiegend auf einen speziellen Aspekt dieser Gemengelage: die Ver­ letzungsgefahren, die von kränkenden oder diskriminierenden Äuße­ rungen insbesondere für Minderheiten oder benachteiligte Gruppen ausgehen könnten. So wird in den akademischen Debatten über Hate Speech und Microaggressions angenommen, dass Worte im nicht nur übertragenen Sinne »verletzen« oder »tödlich« sein können, je nachdem, in welcher sozialen Position sich die Betroffenen befinden und ob es schon eine Geschichte von Marginalisierung und Diskrimi­ nierung gibt. Zugleich meint man einen direkten Zusammenhang zwischen der Äußerung von Worten und physischen Reaktionen herstellen zu können, der die Unterscheidung zwischen Sprache und Gewalt tendenziell auflöst. So werden als physische Wirkungen von Hate Speech unter anderem genannt: »psychologische Symptome und emotionaler Stress von Darmstörungen durch Panik, schnellem Pulsschlag und Atemnot, Albträumen, posttraumatischen Störungen, Bluthochdruck, bis zu Psychosen und Selbstmord«.8 Wenn eine Hoch­ 8 Im Original: »psychological symptoms and emotional distress ranging from fear in the gut, rapid pulse rate and difficulty breathing, nightmares, post traumatic disorder, hypertension, psychosis and suicide.« Matsuda, Mari J. (1993), »Introduction«, in: Words That Wound: Critical Race Theory, Assaultive Speech, and the First Amend­

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schullehrerin wie Mari Matsuda Worte für derart gefährlich hält, ist es nicht verwunderlich, wenn Studierende glauben, bestimmte Themen und Ausdrücke beeinträchtigten ihre Gesundheit. So haben sich auch die Begründungen für Redeverbote und die Ausladung von Rednern verändert. Sie werden heute vor allem medizinisch begründet: In der Terminologie der amerikanischen Colleges hat sich die Bedeutung des Begriffs Sicherheit (safety) verschoben von der Sicherheit vor phy­ sischen Übergriffen anderer zu der psychophysischen »Sicherheit« vor dem emotionalem Stress, der mit der intellektuellen Auseinander­ setzung mit anderen politischen Meinungen verbunden sein kann.9 So wurde gegen die Einladung einer konservativen Rednerin das voll­ kommen ernst gemeinte Argument vorgebracht, ihre Worte würden den Studierenden »actual mental, social, psychological, and physical harm« zufügen.10 Vor diesem Hintergrund stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt eine wissenschaftliche Grundlage für die Annahme einer physischen Schädigung und nachhaltigen Vulnerabilität durch Worte gibt, die irritieren oder als feindlich und demütigend empfunden wer­ den. Nach Stand der Neurologie ist die Annahme einer physischen Auswirkung von psychischem Stress durch »verletzende Worte« nicht gänzlich falsch.11 Die Vorstellung, allein der Konfrontation mit Aus­ sagen, die man als kränkend und diskriminierend empfinden könnte, könnten physische Schäden entspringen, beruht jedoch auf einer Verwechslung zwischen einem Leben im Dauerstress und einem akuten Stress, wie er durch eine angsterregende Äußerung hervor­ gerufen werden kann. Medizinische Untersuchungen belegen, dass lange Phasen psychischen Stresses in einer konstant feindseligen sozialen Umgebung sich schlecht auf das Nervensystem auswirken und das Gehirn verändern können, mit weiteren physischen Folgen. Wie die Neurologin Lisa Feldmann Barrett argumentiert, ist dieser ment, Mari J. Matsuda, Charles R. Lawrence, Richard Delgado, (Hg.), Boulder (West­ view Press), S. 1–16, S. 6. 9 Ebd., S. 6. 10 Haidt, Jonathan & Lukianoff, Greg (2018), The Coddling of the American Mind. How Good Intentions and Bad Ideas are Setting Up a Generation for Failure, USA (Pen­ guin), S. 49. 11 Vgl. hierzu Feldmann Barrett, Lisa (2017), »When is Speech Violence?«, in: New York Times, 14.07.2017 (https://www.nytimes.com/2017/07/14/opinion/sunday /when-is-speech-violence.html).

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Befund jedoch nicht auf einzelne Stresssituationen übertragbar, noch zeigt er, dass Stress generell zu vermeiden ist. Ganz im Gegenteil ist das menschliche Nervensystem darauf ausgerichtet, periodisch auftretende Stresssituationen zu bewältigen. Es nähme eher Schaden durch eine völlige Vermeidung von Stress. Während ein einzelner physischer Schlag erheblich verletzen kann, kann eine solche Verlet­ zungsgefahr von Hate Speech – was auch immer unter diesen Begriff fällt – also nur als Element einer dauerhaft feindseligen unmittelbaren sozialen Umgebung ausgehen, der sich die Betroffene nicht entziehen kann; etwa im Kontext einer toxischen Lebensgemeinschaft, in der sie permanent Demütigungen ausgesetzt ist. Hingegen spricht nichts für die Annahme, eine als beleidigend empfundene Rede könne unmittelbar einen physischen Schaden hervorrufen. Die Neurologie liefert uns keinen Grund, die alte Stereotype »Was uns nicht umbringt, macht uns stärker«, mit Blick auf Opfer von Diskriminierungen und Demütigungen pauschal für weniger zutreffend zu halten als die heute verbreitete Vorstellung, sie seien besonders verletzbar.12 Beides ist möglich und hängt von den Lebensumständen und auch von der Persönlichkeit der Betroffenen ab – ganz abgesehen davon, dass eine Person zugleich »tough« und verletzbar sein kann. Feldmann Barrett plädiert daher nachdrücklich dafür, gerade das geschützte akademische Umfeld zu nutzen, um die Fähigkeit zu entwickeln, emotionalen und intellektuellen Herausforderungen zu begegnen: Zu Beginn meiner Laufbahn unterrichtete ich einen Kurs über die Eugenik-Bewegung, die für die selektive Züchtung von Menschen warb. Die Eugenik wurde seinerzeit zu einer wissenschaftlichen Recht­ fertigung für Rassismus. Um meinen Studenten diesen hässlichen Teil der wissenschaftlichen Geschichte näher zu bringen, beauftragte ich sie, über das Für und Wider zu diskutieren. Die Studenten weigerten sich. Niemand war bereit, auch nur im Rahmen einer Übung im Klassenzimmer zu argumentieren, dass bestimmte Rassen anderen Zu einem anderen Schluss kommt man natürlich, wenn man unter Vulnerabilität eigentlich die psychologische Überempfindlichkeit und soziale Empörungsbereitschaft versteht, die Menschen im Kontext von Honor Cultures oder der von Manning und Campbell diagnostizierten heutigen Victim Culture entwickeln, wenn es um ihre Ehre, ihren sozialen Status oder auch die soziale Anerkennung als benachteiligte Gruppe geht. Vgl: Campbell, Bradley & Manning, Jason (2018), The Rise of Vic­ timhood Culture: Microaggressions, Safe Spaces, and the New Culture Wars, London (Palgrave Macmillan). 12

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genetisch überlegen seien. Also engagierte ich ein afroamerikanisches Fakultätsmitglied, um für Eugenik zu argumentieren, während ich dagegen argumentierte; nach der Hälfte der Debatte wechselten wir die Seiten. Wir haben den Studenten ein grundlegendes Prinzip der uni­ versitären Ausbildung und der Zivilgesellschaft vor Augen geführt: Wenn man gezwungen ist, sich mit einem Standpunkt auseinander­ zusetzen, mit dem man nicht einverstanden ist, lernt man nicht nur etwas über die eigene, sondern auch über die andere Perspektive. Der Prozess fühlt sich unangenehm an, aber es ist eine gute Art von Stress – vorübergehend und nicht schädlich für den Körper – und man erntet die längerfristigen Vorteile des Lernens.13

4. Wie Hass und Gewalt sich begrifflich ausgedehnt haben Wie konnte die Besorgnis über vermutete Gesundheitsgefahren, die man beleidigenden und kränkenden Äußerungen zuschreibt, so stark zunehmen, ohne dass es medizinische Gründe gäbe, die diese Ängste rechtfertigen würden? Der neue Glaube an die verletzende Kraft von Worten hat sich im Laufe eines längeren Prozesses der Dehnung von Begriffen für die menschliche Verletzlichkeit entwickelt.14 Ver­ schiedene kulturelle Einflüsse haben in ihrer Zusammenwirkung dazu geführt, dass die Sensibilität für menschliche Verletzlichkeiten gewachsen ist und viele menschliche Interaktionen, die früher als normal, wenn auch nicht angenehm galten, heute als toxisch und traumatisch wahrgenommen werden. Ob und wie Menschen Schäden und Verletzungen wahrnehmen, hängt von ihren kulturellen Nor­ men und Beschreibungen der Wirklichkeit ab, insbesondere davon, welche Bedeutung der Erfahrung von Schmerz und Leiden beigemes­ sen wird.15 Begriffe wie »Trauma«, »Mobbing«, »Hass«, »Gewalt« oder »Sicherheit« werden in den letzten Jahrzehnten auf immer schwä­ chere Phänomene sowie auf neue Bereiche ausgedehnt. So wird der Trauma-Begriff, der ursprünglich auf eine organische Störung (trau­ Feldmann Barrett (2017). Zur Dehnung und Bedeutungsverschiebung von Begriffen, die sich auf Verletzun­ gen beziehen, vgl. Haslam, Nick (2016), »Concept Creep: Psychology’s expanding Concepts of Harm and Pathology«, in: Psychological Inquiry, Vol. 27:1, S. 1–17. 15 Vgl. hierzu Furedi, Frank (2016), »The Cultural Underpinning of Concept Creep”, in: Psychological Inquiry, vol. 27, S. 34–39. 13

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matische Hirnverletzungen) und später auf die »Posttraumatische Belastungsstörung« (PTSD) von Kriegsveteranen bezogen wurde, in der Alltagssprache mittlerweile für beliebige unangenehme Erleb­ nisse gebraucht, die irgendwie nachwirken. Und obgleich er in seiner medizinischen Bedeutung nur auf Individuen anwendbar ist, hat sich mit dem Konzept der transgenerationellen Transmission gravierender (traumatischer) Verletzungen längst auch ein kollektiver Gebrauch etabliert. Eine Reihe von Forschungen beanspruchen zeigen zu kön­ nen, dass Traumata zwischen Individuen, die miteinander in realem Kontakt stehen und sich psychologisch beeinflussen (Familien), über­ tragen werden können. Mittlerweile wird der Trauma-Begriff aber nicht nur für Gruppen, sondern auch für Klassen von Individuen (Schwule, Transgenderpersonen etc.) gebraucht, die nicht in realem Kontakt stehen, sondern nur ein Merkmal teilen. Gleichzeitig hat der Begriff eine moralische Bedeutung angenommen: Er wird in juristi­ schen und geisteswissenschaftlichen Kontexten nicht mehr neutral auf beliebige Personen angewendet, die unter bestimmten medizinisch erfassbaren Symptomen leiden, sondern nur noch auf Opfer (von historischem Unrecht, Gewalt, Diskriminierung u.a.), nicht auf Täter. Das deutet darauf hin, dass er sich von einer medizinischen Kategorie – anfangs unbemerkt, mittlerweile bewusst16 – längst in einen dichten moralischen Begriff mit deskriptiven und evaluativen Elementen ver­ wandelt hat: Indem man Opfer als traumatisiert bezeichnet, spricht man ihnen einen moralischen Anspruch auf besondere Zuwendung und Rücksicht zu.17 Das wirft die Frage auf, ob es gute moralische Gründe gibt – etwa mit Blick auf das Ziel einer gerechteren Gesellschaft – die Opfer von Diskriminierung und Marginalisierung als besonders vulnerabel zu beschreiben, weil dies einen Anspruch auf besondere Zuwendung und Rücksicht untermauert. Hier überzeugt das moralische Argu­ ment, dass Menschen, die benachteiligt oder gedemütigt wurden, die Solidarität derjenigen verdienen, die es im Leben leichter haben. Dazu gehört auch eine gewisse Rücksicht im Umgang, um ihnen das Gefühl von Gleichberechtigung, Akzeptanz und Wertschätzung zu vermitteln. Daraus ergibt sich allerdings kein guter Grund, sie als 16 Hier folge ich Mohamed, Saira (2015), »OF MONSTERS AND MEN: PERPE­ TRATOR TRAUMA AND MASS ATROCITY«, in: Columbia Law Review, vol. 115, no. 5, June 2015, S. 1157–1216. 17 Vgl. Mohamed (2015), S. 1173.

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Gruppe auf den Status der an und für sich Schwachen und Vulnerablen festzulegen, zumal dieses Bild den Betroffenen, wenn es von ihnen übernommen wird, schaden kann. Wenn Menschen dazu ermutigt werden, sich selbst als hilflose Opfer zu sehen, weil sie nur dann mit der Solidarität anderer rechnen können, wird ihnen eine Alternative zu der Möglichkeit geboten, sich die versagte Anerkennung selbst zu erkämpfen. Es wird ihnen eine Macht offeriert, die ihre Selbster­ mächtigung nicht fördert.18 Es ist die Macht, die dem schlechten Gewissen anderer entspringt, die sich als privilegiert empfinden und daher für moralische Erpressungsmanöver anfällig sind. Eine Macht, die dem Schuldbewusstsein der anderen entspringt, ist jedoch nur aufrechtzuerhalten, solange dieses Schuldbewusstsein geschürt wird, man weiterhin die Rolle des Opfers übernimmt und es als Aufgabe der Privilegierten betrachtet, Benachteiligungen auszugleichen. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Wahrnehmung oder Nicht­ wahrnehmung der eigenen Handlungsmöglichkeiten. Die Machtverhältnisse im Kampf um Anerkennung sind nicht statisch. Macht wird erhalten, gesteigert, oder kann verlorengehen in dem Versuch, durch öffentliches Sprechen Einfluss auf andere zu nehmen. Diese Dynamik der Macht gerät aus dem Blick, wenn man Menschen – wie es durch den starken Einfluss identitätspoliti­ scher Denkweisen auf die gegenwärtigen Diskussionen geschieht – statisch in diskriminierende und diskriminierte Gruppen aufteilt, und letzteren wiederum pauschal eine höhere Vulnerabilität attribuiert. Wie vulnerabel Menschen sind, ergibt sich jedoch nicht allein aus den Merkmalen, aufgrund derer sie potenzielle Opfer von Ausgren­ zung und Diskriminierung sind, sondern vor allem aus der Weise, wie sie selbst darauf reagieren. Ihnen dies Fähigkeit zuzusprechen bedeutet nicht zu bestreiten, dass es Diskriminierung gibt und dass sie sich auf die Selbstwahrnehmung und die Empfindlichkeiten von Menschen auswirken kann. Macht hängt jedoch ebenso wie Vulnera­ bilität auch davon ab, wie die betroffenen Menschen sich zu ihrer sozialen Situation verhalten, etwa ob sie sich mit anderen Personen in ähnlicher Lage zu Interessenverbänden und Pressure Groups ver­ binden, um durch öffentliche Interventionen gegen Diskriminierung und für ihre Interessen zu kämpfen. Daraus kann sich eine Dyna­ 18 Vgl. hierzu Lotter, Maria-Sibylla (2021), »Wissenschaft als imaginäres Wieder­ gutmachungsprojekt«, in: Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. Grundlagen, Herausfor­ derungen und Grenzen, Elif Oezmen (Hg.), Berlin (Metzler), S. 69–90, S. 86 f.

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mik der Macht ergeben, die neue Machtverhältnisse etabliert, etwa wenn Transgender-Interessenverbände medialen und institutionellen Einfluss erlangen. Der Status eines Opfers kann heute selbst ein beträchtlicher Machthebel werden, da er Solidarisierungen auslöst. Es ist daher gleichzeitig möglich, dass eine Transgender-Person als Individuum Verständnislosigkeit oder Feindseligkeit erlebt, während ihre Transgender-Organisation schon eine beträchtliche politische Macht ausübt, die auch gegen die Interessen anderer Gruppen und Individuen eingesetzt wird. Wird diese Dynamik der Macht ignoriert, mit der Folge, dass Macht ebenso wie Vulnerabilität abstrakt nach Merkmalen Gruppen und Klassen von Individuen zugeschrieben oder abgesprochen wird, dann kann die moralische Rhetorik der Vulnerabilität mitunter ideolo­ gische Funktionen übernehmen. Als »ideologisch« bezeichne ich hier eine moralische Rhetorik, die dazu dient, Machtinteressen und Wert­ konflikte zu verschleiern, ob es nun um die Erhaltung der Machtinter­ essen dominanter Gruppen oder um die Machterweiterung anderer Gruppen geht. Ein abstraktes Denken in Kollektivkategorien, das der Menge von Menschen, auf die ein Name oder Begriff anwendbar ist, auch eine reale Gemeinsamkeit unterstellt, verunmöglicht hier eine realistische Einschätzung konkreter Konflikte. Wenn beispielsweise Muslime nicht als eine Menge von (mehr oder weniger religiösen und nichtreligiösen) Individuen und Gruppen wahrgenommen wer­ den, sondern im Lichte der identitätspolitischen Konstruktion einer vulnerablen, von allen Moslems geteilten islamischen Identität, dann wird Kritik an speziellen islamischen Vorstellungen und Praktiken als »islamophober« Angriff auf diese verletzliche Identität erscheinen. Begriffe wie »Islamophobie«, die ähnlich pauschal eingesetzt werden wie »Vulnerabilität«, dienen dann dazu, den entscheidenden mora­ lischen Unterschied zwischen zwei unterschiedlichen Reaktionen auf Muslime zu verschleiern: Einerseits die moralisch inakzeptable Verfolgung oder soziale Benachteiligung von Muslimen, andererseits die Kritik an religiösen Dogmen oder gruppentypischen sozialen Praktiken, die liberale Werte oder Frauenrechte verletzen. Eine solche Kritik muss in liberalen Demokratien an allen Religionen und sozialen Gewohnheiten praktiziert werden können, was mit Blick auf das Christentum ja auch unstrittig ist; würde die katholische Kirche auf die törichte Idee kommen, Kritik am Schutz von Missbrauchstätern oder an der Nichtzulassung von Frauen als Priesterinnen als »Christiano­

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phobie« zu brandmarken, würde sie schwerlich Solidarisierungswel­ len auslösen. Durch die Delegitimierung von Kritik als Phobie werden nicht nur Machtinteressen, Interessenkonflikte und Wertkonflikte zwi­ schen sozialen Gruppen verschleiert. Der Kampf gegen Diskriminie­ rung kann zu einer Ausgrenzung und Diskriminierung von Kritikern führen, wie es Sama Maani beschreibt: »Anstatt dass es um den Schutz einzelner Menschen vor Diskriminierung ginge, wird mit dem Begriff Islamophobie so getan, als wäre der Islam ein Individuum, dem Men­ schenrechte und Schutz zustünden, obwohl Menschenrechte doch Individualrechte sind […] Anstatt aber die Individuen gegen Unrecht zu schützen, wird mit dem Konzept der Islamophobie der Islam zum schützenswerten Subjekt erklärt und Kritik am Islam gilt auf einmal als Rassismus.«19 Wenn die Solidarisierung mit benachteiligten Per­ sonen mittels der Ideologie der Vulnerabilität in persönliche Angriffe gegen Kritiker umgelenkt wird, wird die demokratische Streitkultur als solche beschädigt, deren Aufgabe ja darin besteht, Sachfragen aus­ zudiskutieren, insbesondere, wenn verschiedene Interessen betroffen sind. Das ist auch im Zusammenhang der Solidarisierung von Akade­ mikern mit dem Kampf von Transgender-Personen für gleiche Rechte und gesellschaftliche Anerkennung zu beobachten. Ein beunruhigendes Bespiel hierfür liefert die internationale Kampagne gegen Kathleen Stock, die öffentlichen Anprangerun­ gen der Transphobie in akademischen Kontexten ausgesetzt war, mit anschließenden Morddrohungen, bis sie ihre Professur aufgab. Worum ging es? 2004 hatte die englische Regierung ein neues Gesetz eingeführt, den Gender Recognition Act (Gesetz über die Anerkennung des Geschlechts). Seitdem konnten Transpersonen sich ein Geschlecht bescheinigen lassen, das sich von ihrem biologischen unterschied: ein »erworbenes Geschlecht«, das ihren eigenen Wün­ schen entsprach. Hierfür benötigten Sie keinen Nachweis von Ope­ rationen oder Hormonbehandlungen, mussten aber belegen, dass es ihnen mit der Geschlechtswandlung ernst war. Das involvierte u. a. die medizinische Diagnose, dass sie an einem tiefgreifenden Gefühl des Unbehagens mit ihrem biologischen Geschlecht litten, das als Geschlechtsdysphorie bezeichnet wird. In den folgenden Jahren Maani, Sama (2017), »Mit dem Begriff Islamophobie gehen wir den Rassisten auf den Leim«, in: Beißreflexe: Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten, Patsy L’Amour LaLove (Hg.), Berlin (Queer-Verlag) S. 204–211.

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zeigte sich allerdings, dass nur eine Minderheit von Transpersonen dieses Zertifikat beantragte. Das Verfahren war ihnen nicht nur zu bürokratisch und teuer, sondern wurde von vielen auch als unzumut­ bares Eindringen in die Intimsphäre empfunden. Schließlich forderten wichtige Transgender-Organisationen eine Ergänzung des Gender Recognition Act, die darauf hinauslief, auf Einschränkungen für die Selbstwahl des Geschlechts ganz zu verzichten. Feministinnen machten auf gewisse Nebenfolgen dieser Forde­ rungen aufmerksam: Wenn biologischen Männern die Möglichkeit eingeräumt wird, sich jederzeit als Frauen identifizieren und dann auch als solche mit allen rechtlichen Konsequenzen behandelt zu werden, hat dies offenkundig Folgen für biologische Frauen – im Frau­ ensport, mit Blick auf die speziellen Schutzregelungen und Bereiche für Frauen in Gefängnissen, Obdachlosenunterkünften, Toiletten und in vielen andere Hinsichten. Um in solchen Interessenkonflikten die berechtigten Interessen beider Seiten angemessen zu berücksichtigen, wäre daher eine genaue Untersuchung der möglichen Auswirkungen der anvisierten gesetzlichen Regelungen und eine nüchterne Abwä­ gung der möglichen Nachteile gegen die Vorteile solcher Regelungen erforderlich gewesen. An die Stelle einer sachorientierten Debatte trat jedoch – wie derzeit auch bei anderen Themen zu beobachten – eher ein Wettstreit der Interessengruppen (Transgender-Verbände und feministische Kritikerinnen) um den höheren Opferstatus, um dann die eigene Sache zum moralischen Anliegen aller zu erklären. In diesem Wettstreit um Opferstatus und moralische Autorität hatten die Transgender-Verbände von vornherein die Oberhand. Feministinnen wie die Philosophieprofessorin Kathleen Stock, die Einwände gegen ihre Forderungen vorbrachten, wurden als trans­ feindlich gebrandmarkt und waren extremen Kampagnen ausgesetzt. Nicht weniger als 700 ihrer internationalen Kollegen und Kollegin­ nen aus der Philosophie warfen Stock in einen Offenen Brief vom Januar 2021 »transphobic fearmongering« und »attacks on already marginalized people« vor. Dieser Brief ist ein eindrückliches Doku­ ment der gegenwärtigen Krisensymptome akademischer Debatten­ kultur, da dort Stocks Einwände inhaltlich überhaupt nicht erwähnt werden; in der ersten Version des Briefes wurde ihr stattdessen eine Ablehnung des Gender Recognition Act unterstellt, was sie nie ver­

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treten hatte.20 Die meisten der internationalen Unterschreibenden, die nicht in England tätig waren, werden also gar nicht gewusst haben, worin Stocks Debattenbeiträge innerhalb einer in den sozia­ len Medien Englands geführten Diskussion tatsächlich bestanden.21 Stattdessen wurde im Brief über gefährliche Auswirkungen ihrer Kritik auf Transpersonen als vulnerable Gruppe und den »patriarchalen Status Quo« spekuliert: »Discourse like that Stock is producing and amplifying contributes to these harms, serving to restrict trans people’s access to life-saving medical treatments, encourage the harassment of gender-non-conforming people, and otherwise rein­ force the patriarchal status quo«.22 Dass ausgerechnet einer lesbischen Feministin pauschal der Ein­ satz für einen »patriarchalischen Status Quo« vorgeworfen wird, illus­ triert auf komische Weise die Realitätsferne in diesen akademischen Ausgrenzungs-Praktiken. Anstelle einer Machtdemonstration durch die Sammlung von Unterschriften sollte man an einer Universität eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Stocks Kritik unter Berücksichti­ gung der gegebenen Informationen zur Faktenlage erwarten dürfen. Schließlich kann eine jede Gesetzgebung wie alle Handlungen für unterschiedliche Betroffene unterschiedliche Konsequenzen haben. Was für die einen die Inklusion von Transpersonen bedeutet, kann für die anderen der Abbau von Schutzrechten und eine Benachteiligung in physisch kompetitiven Bereichen zur Folge haben. Solche Diskussio­ nen anzustoßen, ist keine unrechtmäßige Schädigung der legitimen Interessen von Transpersonen. Stock nahm ihr Recht als Hochschul­ lehrerin wahr, eine detaillierte Auseinandersetzung in einem heiklen Themenbereich zu fordern, sowie ihr Recht als Bürgerin und lesbische Feministin, sich für die legitimen Interessen von Frauen einzusetzen. 20 Die Verantwortlichen wären genötigt, später ein Erratum hinzuzufügen: »The ori­ ginal version of this letter incorrectly stated that Stock opposes the UK’s Gender Recognition Act. This was an error«. Die in dem Brief auf Grund dieses »Irrtums« erhobenen eher wilden Anschuldigungen wurden jedoch nicht modifiziert. Vgl. hierzu Vukadinović, Saša (2021), »Chronik einer orchestrierten Verleumdung«, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 18. März 2021 (https://www.faz.net/aktuell/karri ere-hochschule/cancel-culture-an-hochschulen-chronik-einer-verleumdung-17247 116-p2.html). 21 Erst einige Monate später wurde Stocks Buch Material Girls veröffentlicht, das ihre Einwände erläutert. Vgl. Stock, Kathleen (2021), Material Girls. Why Reality matters for Feminism, London (Fleet). 22 Vgl. ihren Open Letter Concerning Transphobia in Philosophy: https://sites.google .com/view/trans-phil-letter/.

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Maßnahmen wie der Offene Brief, den viele vermutlich im guten Glauben unterschrieben haben, damit etwas für den Schutz verletzlicher Menschen zu tun, veranschaulichen die problematischen Auswirkungen der Ideologie der Vulnerabilität auf die moralische Urteilskraft und die akademische Debattenkultur. Sie kann leicht dafür genutzt werden, moralische Gefühle wie die Empathie mit den Benachteiligten in eine Tyrannei der Werte umzulenken, wie es Nikolas Hartmann in seiner Ethik genannt hat. Hartmann meinte damit das dialektische Phänomen, dass ein selektiv auf bestimmte Werte ausgerichtetes moralisches Bewusstsein von Natur aus zu einer tyrannischen Bevormundung neigt: »Jeder Wert hat – wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person – die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen […] aufzuwerfen und zwar auf Kosten anderer Werte[…].«23 Es gibt keinen vernünftigen Grund, den Son­ derinteressen einzelner Gruppen aufgrund ihrer Diskriminierungsge­ schichte ein absolutes Vorrecht gegen die legitimen Interessen anderer Gruppen oder interner Kritikerinnen einzuräumen. Solchen Forde­ rungen durch moralische Diffamierung legitimer Kritik entgegenzu­ kommen, ist ein Bärendienst an der freien Debatte, die demokratische Gesellschaften dringend brauchen, um allen Gruppen gerecht werden zu können.

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Hartmann, Nikolas (1949), Ethik, Berlin (De Gruyter), S. 276.

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Über Religion und Religionen forschen – raus aus der Kampfzone!

1. Vorsokratiker eignen sich nicht für Safe Spaces1 Eine Geschichte der Vordenker der Religionswissenschaft beginnt häufig mit Xenophanes (580/570–475/470 v.u.Z.). Dieser, den Vor­ sokratikern zugerechnete Philosoph, soll ein systematischer Beobach­ ter der Natur gewesen sein und gilt als einer der ersten Denker, die die Mythen der Griechen in Frage stellten. Xenophanes äußerte die Vermutung, dass die Wesen am griechischen Götterhimmel den Vorstellungen der Menschen entsprungen sind. Berühmt geworden ist sein Gleichnis, wonach die Menschen, sähen sie aus wie Ochsen, sich ihre Götter als Ochsen vorstellen würden. Heutzutage würde Xenophanes mit der Gleichsetzung von religiösen Akteuren2 und Ochsen einen religionswissenschaftlichen Skandal verursachen. Seine Ausführungen eigneten sich sicher nicht für sogenannte Safe Spaces. Safe Spaces sind symptomatisch für die gegenwärtig rasant anwachsende Ausbreitung identitätspolitischer Vorstellungen und Praktiken3. In »Sicheren Räumen« sind Aussagen und Handlungen verboten, die Personen mit Blick auf Identitäts­ Ich danke Dimitry Okropiridze und Jana Paul für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags. 2 Zuweilen verzichte ich auf die Nennung der weiblichen Form; soweit nicht anders angegeben, meint das generische Maskulinum Personen aller Geschlechter. 3 Ich verwende »identitätspolitisch« als zusammenfassende Bezeichnung für Prakti­ ken, die geleitet sind von spezifischen Annahmen über Identität, Macht und die Not­ wendigkeit der Zensur. Vgl. dazu zum Beispiel den Sonderband der ZfP: Kostner, Sandra (Hg.) (2022), »Wissenschaftsfreiheit: Warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist«, in: Zeitschrift für Politik Sonderband 10. (https://doi.org/10.5771/ 9783748928058). Andere Bezeichnungen lauten »Wokismus«, »New Faith« oder »Neue Puritaner«. Eine Fülle von Neuerscheinungen thematisiert die rasante Aus­ breitung der Identitätspolitik. Vgl. zum Beispiel für Deutschland: Ackermann, Ulrike (2022), Die neue Schweigespirale. Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit 1

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merkmale wie Religion, Geschlecht u.a. als diskriminierend oder abwertend empfinden könnten. Die Vorsokratiker analysierten religiöse Narrationen als das Produkt menschlicher Vorstellungskraft. Ihre Befunde beurteilen also Vorstellungen, die den Menschen ihrer Zeit vermutlich als wahr und wichtig erschienen, als falsch und eingebildet. Somit stellen sie, gemessen an identitätspolitischen Paradigmen, typische Mikroag­ gressionen gegenüber religiösen Zeitgenossen dar. Zugleich lieferten die Vorsokratiker der im 19. Jahrhundert entstandenen Religionswis­ senschaft eine grundlegende Maxime: Religionswissenschaftliches Arbeiten untersucht – so lautet eine mögliche Bestimmung unserer Disziplin – systematisch die diesseitigen Faktoren von Vorstellungen, Praktiken und Materialitäten, die in Bezug stehen zu vorgestellten andersweltlichen Entitäten, Instanzen und Ordnungen. Das Gedankenspiel über den vorsokratischen Zeitreisenden Xenophanes illustriert das konfliktäre Verhältnis zwischen Religi­ onswissenschaftlern und Religionswissenschaftlerinnen und ihrer Umwelt. Oder anders ausgedrückt: Diskussionen über Religionen bringen häufig Streit hervor. Führen religionswissenschaftliche Ana­ lysen die Entstehungszusammenhänge, Faktoren und Funktionen von Religionen auf diesseitige Faktoren zurück, bezweifeln sie das, was für religiöse Akteure und Akteurinnen als Wahrheit gilt.4 Sie begeben sich somit zwangsläufig in eine, aus der Sicht von Akteuren, abwei­ einschränkt. Darmstadt (Konrad Theiss Verlag); Schröter, Susanne (2022), Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass, Freiburg im Breisgau (Verlag Herder), S. 79-125; für die USA: Pluckrose, Helen und Lindsay, James (2020), Cynical Theories: How Activist Scholarship Made Everything About Race, Gender, and Identity – and Why this Harms Everybody, Durham, North Carolina (Pitchstone Pub­ lishing); für England: Doyle, Andrew (2022), The New Puritans. How the Religion of Social Justice Captured the Western World, London (Constable). Die genannten Arbei­ ten zeigen die Reichweite identitätspolitischer Narrative und Praktiken auf, weshalb ich sie nenne, obwohl sie in Teilen polemische Tendenzen aufweisen, die ich für die Debatte als wenig hilfreich erachte. 4 Die Frage, inwiefern Vorstellungen über außerhalb des Menschen stehende Instan­ zen (z.B. Götter), die Methoden ihrer möglichen Beeinflussung (z.B. Rituale) und ihre angenommenen Materialisierungen (z.B. Ikonen) religiösen Akteuren in vormoder­ nen Kontexten als Wahrheit gegolten haben, ist Gegenstand heftiger Debatten. Kei­ nesfalls soll hier insinuiert werden, dass Religionen ahistorisch und global nach dem Muster des protestantischen Christentums als Glaube an eine Wahrheit verstanden werden. Dennoch gehe ich davon aus, dass religiöses Handeln von unhinterfragbaren Vorstellungen über andersweltliche Entitäten und Ordnungen geleitet wird, die, wenn auch nicht durchgehend, so doch punktuell und bei Bedarf aktiviert werden.

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chende Position, die als angreiferisch oder feindlich aufgefasst werden kann. Aus identitätspolitischer Sicht kann sie daher als aggressiv und diskriminierend abgelehnt werden. In meinem Beitrag stelle ich mir die Frage nach den Besonder­ heiten der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion, die, wie ich darstellen möchte, in der Regel Reibung und Konflikte erzeugt. Religionswissenschaftler sitzen im privaten und professionellen Rah­ men oftmals zwischen allen Stühlen. Im globalisierten Diskurs der Gegenwart sehen Menschen Religionen zumeist als Angelegenheit des Gefühls und der persönlichen Erfahrungen an. Deshalb sprechen sie sich selbst die Autorität zu, über Religionen urteilen zu können. In dieser Situation, in der sich jeder für einen Experten hält, haben religionswissenschaftliche Stimmen es schwer, Gehör zu finden. Wohl jeder Religionswissenschaftler, der im professionellen Rahmen über eine bestimmte Religion spricht, hat es schon erlebt, dass seine Befunde durch den Einspruch eines als authentisch angesehenen Vertreters der jeweiligen Religion relativiert werden. Häufig wird in solchen Situationen den als authentisch betrachteten Sprechern die Autorität über die angemessene Rede über Religionen erteilt. Erheben Religionswissenschaftler mit Verweis auf ihre Befunde Einspruch, stoßen sie nicht selten auf Widerstand. Nicht nur haben sie es schwer, ihren Standpunkten Gehör zu verleihen. Häufig ruft die Vermittlung religionswissenschaftlicher Ergebnisse auch starke emotionale Reak­ tionen hervor, die wiederum zu Reibungen führen. Mein Beitrag skizziert einige Gründe für das Konfliktpotential der wissenschaftlichen Erörterung von Religionen und die Folgen für unsere Disziplin. Damit möchte ich zum einen darauf aufmerksam machen, dass die Spannungen, die die wissenschaftliche Beschäfti­ gung mit Religionen hervorbringt, lange vor der aktuellen Hinwen­ dung zur Identitätspolitik existierten. Zum anderen setze ich die kon­ fliktäre Sprengkraft wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Religionen in Beziehung zu dem identitätspolitischen Turn der Religi­ onswissenschaft. Ich möchte zeigen, dass dieses kontroverse Potential für einige der Unverträglichkeiten zwischen herkömmlichen und identitätspolitisch orientierten Ansätzen der Religionswissenschaft verantwortlich ist. Darüber hinaus möchte ich argumentieren, dass es gerade die konfliktäre Sprengkraft akademischer Befunde über Religionen ist, die den Nährboden für die Ausbreitung identitätspoli­ tischer Positionen in unserer Disziplin bereitet.

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2. Religionswissenschaftliche Positionierung Das konfliktäre Potential der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religionen hat zu einer Vielzahl divergierender Positionen und Ansätze geführt. Daher ist es zunächst erforderlich, kurz darzulegen, was hier unter Religionswissenschaft verstanden wird. Religiöse Lehren, so lauten die diesem Beitrag zugrundeliegen­ den Annahmen, thematisieren angenommene Götter, Göttinnen und andere außerhalb des Menschen stehende Instanzen oder Ordnun­ gen. In religiösen Innenperspektiven werden aus diesen Annahmen Vorstellungen über die Welt, den Menschen, den Sinn des Lebens und viele weitere für das menschliche Zusammenleben grundlegende Leh­ ren und Praktiken abgeleitet. Religionswissenschaftler und Religions­ wissenschaftlerinnen grenzen die von ihnen verwendeten Begriffe und Reflexionen ausdrücklich von diesen religiösen Selbstthematisie­ rungen ab. Sie entwickeln heuristische, metasprachliche Begriffe, die Religionen aus der Außenperspektive beschreiben.5 So entwerfen die wissenschaftlichen Beobachter von Religionen Kategorien zur Beschreibung von Konzepten, Praktiken und Mate­ rialitäten, die in der sozialen Realität von religiösen Akteuren und Akteurinnen eine Rolle spielen. Beispiele hierfür sind die Heilsvor­ stellungen und -versprechen von Religionen, ihre Konzepte von vor­ gestellten jenseitigen Welten, Instanzen oder Ordnungen, Angebote zum Erhalt von diesseitigem und jenseitigem Nutzen sowie Rituale, Heiligenbilder oder Devotionalien. Mit Hilfe dieser Kategorien liefert die Religionswissenschaft plausible Annäherungen an die soziale Realität religiöser Akteure und Akteurinnen in Vergangenheit und Gegenwart. Die Erforschung von Religionen unterschiedlichster Epo­ chen und Regionen bringt dabei stets neue Befunde hervor, die es erforderlich machen, bisherige Kategorien anzupassen oder neu zu entwerfen. Religionswissenschaftliches Arbeiten bewegt sich also ste­ tig hin und her zwischen der heuristischen Bestimmung von Begriffen sowie deren kritischer Reflexion und Neujustierung. Die vorläufige Bestimmung von Begriffen orientiert sich an den jeweiligen Gegeben­ 5 Diese Bestimmung folgt in wesentlichen Teilen dem Entwurf von Burkhard Gladi­ gow, der Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft fasst: Gladigow, Burkhard (1988), »Gegenstände und wissenschaftlicher Kontext von Religionswissenschaft«, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Hubert Cancik, Burkhard Gladi­ gow & Matthias Laubscher (Hg.), Stuttgart (Kohlhammer), S. 26–38.

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heiten, also dem aktuellen Stand und Kontext der Forschung, und hat zugleich den beständigen Wandel des religiösen Feldes im Auge.6 Sie zeichnet sich durch ihren Mut zu punktuellen Konkretisierungen aus: charakteristisch ist die Bereitschaft zum Wagnis bei gleichzeitigem Bekenntnis zur Vagheit, können doch die Begriffe nicht längerfristig festgeschrieben werden. Diese Vorgehensweise kann also – sowohl im alltagssprachlichen als auch im erkenntnistheoretischen Sinn – pragmatisch genannt werden, weshalb ich sie als pragmatische Religi­ onswissenschaft bezeichne. Die Prämissen der pragmatischen Religionswissenschaft leiten die folgenden Überlegungen zur Streitkultur in unserer Disziplin. Meine Erörterungen gründen schwerpunktmäßig auf Beobachtungen der Religionswissenschaft im deutschsprachigen Raum, wobei ich Impressionen der angelsächsischen Religious Studies sowie der japa­ nischen Religionswissenschaft (Shukyogaku) der letzten Dekaden miteinbeziehe. Keinesfalls beabsichtigen meine Ausführungen die regionalen Besonderheiten des Fachbereichs umfassend abzubilden; sie konzentrieren sich vielmehr auf die innerdisziplinäre Streitkultur.7 Ausdrücklich möchte ich betonen, dass mein Beitrag einige sehr grobe Verallgemeinerungen vornimmt, um das Konfliktpotential, das im Zentrum meiner Analyse steht, herauskristallisieren zu können. Es ist keineswegs intendiert, unsere Disziplin damit zu diskreditieren. Ganz im Gegenteil: Ich wünsche mir, durch die Erläuterung der Gründe für die ausgeprägte Konfliktbereitschaft in der Religionswissenschaft, zur Optimierung unserer Arbeitsweisen beizutragen.

Vgl. Godlove, Terry F. (2010), »Religion in General, not in Particular: A Kantian Meditation«, in: Journal of the American Academy of Religion, vol. 78 (4), S. 1025– 1047. 7 Zur Entwicklung des Faches in Deutschland siehe: Kohl, Karl-Heinz (1988), »Geschichte der Religionswissenschaft«, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Hubert Cancik, Burkhard Gladigow & Matthias Laubscher (Hg.), Stuttgart (Kohlhammer), S. 217–262; in den USA: Sharpe, Eric J. (1975), Comparative Religion. A History, La Salle, Illinois (Open Court); in Japan: Prohl, Inken (2000), Die „Spirituellen Intellektuellen“ und das New Age in Japan. Hamburg (Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens e.V), S. 40-50. Siehe auch: Alles, Gregory D. (2010), Religious Studies. A Global View. London (Routledge). 6

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3. Reibungen und Kämpfe Seit den ersten, streitbaren Reflexionen der Vorsokratiker über die Welt der Götter begeben sich diejenigen, die aus einer Außenperspek­ tive über Religionen nachdenken, zwangsläufig in einen Widerspruch zu den Verteidigern religiöser Lehren. Sie stellen deren Anspruch auf Wahrheit in Frage, da dieser Anspruch, seiner eigenen inneren Logik folgend, ein exklusiver sein muss. Es kann keine zwei Wahrhei­ ten geben. Britische, französische und deutsche Aufklärer kritisierten vehe­ ment die christliche Religion und ihre priesterlichen Vertreter und arbeiteten deren diesseitige Funktionen und Dynamiken heraus. Dabei verwarfen sie mehr oder weniger radikal die Existenz eines christlichen Gottes und die Daseinsberechtigung der christlichen Kir­ che. Ihre Überlegungen bilden die Voraussetzung für die Entstehung der Disziplin der Religionswissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahr­ hunderts. Es erwies sich allerdings als schwierig, die Religionswis­ senschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Zwar war die Nachfrage nach Wissen über Religionen damals (wie heute) außerordentlich groß, doch damals (wie heute) wetteiferten die Theologien mit unserer Disziplin darum, diese Nachfrage zu erfüllen. Theologie und Religionswissenschaft haben gegensätzliche, unverträgliche Sichtweisen auf Religionen und stehen in einem kon­ kurrierenden Verhältnis zueinander – ein Umstand, der sich ebenfalls bis heute an zahlreichen Beispielen beobachten lässt. Zwar arbeiten gegenwärtig viele Theologen mit religionswissenschaftlichen Ansät­ zen und es ist zu fruchtbaren Annäherungen und Kooperationen zwischen den Disziplinen gekommen, dennoch bleibt es insgesamt bei einer institutionellen und personellen Übermacht der Theologien. Dieses Ungleichgewicht bewirkt, dass Religionswissenschaftler sich in der Regel in einem Modus des Kampfes und der Verteidigung befinden, der seinerseits zu einer anhaltenden Unruhe in unserem Fach beiträgt. Die Unverträglichkeit theologischer und religionswissenschaftli­ cher Positionen sollte uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Religi­ onswissenschaftler über weite Strecken einen durch protestantische Denkmuster beschränkten Begriff von Religionen generalisierend anwandten. So suchte die sogenannte vergleichende Religionswissen­ schaft in vormodernen und nicht-christlichen Kontexten nach Glau­

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ben, Dogma und Ethik. Dieses Suchinstrument erwies sich indessen als irreführend. Es ist sowohl falsch, die protestantische Schablone auf die sozialen Realitäten christlicher Religionen in vormodernen Kontexten anzulegen als auch auf christliche und nicht-christliche Tra­ ditionen in Regionen außerhalb Nordwesteuropas. Denn hier haben wir es mit andersartig strukturierten religiösen Formationen zu tun. Da sich dieser Suchmodus allerdings weithin durchsetzte, entstanden wissenschaftliche und populäre Darstellungen von Religionen, die nur wenig mit dem Objekt, das sie zu beschreiben intendierten, gemein haben. Es entwickelte sich ein fiktives Neues. Diese Fiktio­ nen über Religionen haben bis heute eine kaum zu überschätzende Wirkungskraft. Zum Beispiel sind Darstellungen der Religionen der Welt häufig fixiert auf ihre Ethik. Gängige Überblickswerke vernach­ lässigen die sozialen Realitäten von Religionen und insbesondere die überragende Rolle religiöser Vorstellungen, Praktiken und Materiali­ täten für die Stabilisierung von Herrschaft und Ordnung. Ebenfalls weitreichend ausgeklammert wird die Wichtigkeit, die vorgestellten Göttern, vermeintlich heiligen Orten oder mutmaßlich mit religiöser Kraft angereicherten Materialitäten für die Bewältigung von Alltag und Lebenskrisen wie auch der Artikulation von Hoffnung und dem Ausdruck von Wünschen zugeschrieben wird.8 Ungeachtet ihrer Verzerrungen und ihres fehlerhaften Charak­ ters wurden diese Narrationen über Religionen weithin rezipiert und prägen bis in die Gegenwart hinein die Wahrnehmung in der globalen Öffentlichkeit. Da die Fiktionen ein Fremdes in einem vertrauten und zugänglichen Muster präsentierten, vermochten sie den öffentlichen Diskurs in ihren westlichen Ursprungsländern zu vereinnahmen.9 Symptomatisch hierfür ist heute die Haltung einer Mehrheit westlich liberaler Wissenschaftler, Journalisten und Politiker, die Religionen für liberal, inklusiv, pluralistisch und feministisch halten.10 Darüber Für eine Liste mit empfehlenswerten Darstellungen von Religionen siehe: Institut für Religionswissenschaft Heidelberg (Hg.) (2022), »Empfohlene Literatur Bache­ lor/Master Institut für Religionswissenschaft Heidelberg: Vorläufige Literaturliste (Januar 2022)« (https://religionswissenschaft.zegk.uni-heidelberg.de/studierende/ dokumente/Literartur-Liste%20HP%201.2022.pdf). 9 Ein Nachweis für den Buddhismus findet sich zum Beispiel bei McMahan, David L. (2008), The Making of Buddhist Modernism, Oxford (Oxford University Press). 10 Hughes, Aaron W. (2015), Islam and the Tyranny of Authenticity. An Inquiry Into Disciplinary Apologetics and Self-Deception, Sheffield, Bristol (Equinox Publish­ ing Ltd.). 8

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hinaus übernahmen nicht-christliche religiöse und intellektuelle Eli­ ten in Teilen die fiktiven und falschen Narrationen, formten die jeweils eigenen Religionsgeschichten nach ihrem Muster um und pro­ duzierten vielfach selbstorientalisierende Versionen ihrer religiösen Geschichte und Gegenwart.11 Zu beobachten ist, dass der Aufstieg dieser Eliten in einflussreiche Sprecherpositionen, zum Beispiel als Universitätsprofessoren, häufig eine Anpassung an politisch gewollte Positionen voraussetzt. Da es gerade die selbstorientalisierenden Positionen sind, die politisch gefordert sind, gelingt es diesen oft, sich durchzusetzen.12 Die Medialisierung der Fiktionen über die Religionen der Welt sorgt für weitere Reibung zwischen wissenschaftlichen Beobachtern von Religionen auf der einen Seite und den ihnen gegenüberstehen­ den Vertretern anderer Disziplinen13, Politikern und Journalisten sowie anderen Partizipanten des öffentlichen Diskurses14. Hyperbo­ lisch ausgedrückt, verwandelt sich unsere Disziplin als Folge dieser Differenzen zuweilen in eine soziale Formation, die einem esoteri­ schen Zirkel von Eingeweihten ähnlich ist, der sich im Kampf mit einer unwissenden Umwelt wähnt. Wie uns die Religionsgeschichte lehrt, verstärken Gruppengrenzen zwar die Kohäsion nach innen, aber, wie in einem Kessel, intensiviert sich mithin auch der Druck im Inneren und manifestiert sich als weitere innerdisziplinäre Spannung. Die Unruhe im Fach wird auch verstärkt durch die überaus divergenten Intentionen, aus denen heraus sich Religionswissen­ schaftler mit dem Objekt ihrer Forschung beschäftigen. Auf die entmystifizierenden Reflexionen der Aufklärer reagierte Friedrich Schleiermacher (1768–1834) mit einer romantischen Idealisierung des religiösen Gefühls. Diese Gegenbewegung wiederholte sich in der Vielfach übernahmen Vertreter nicht-christlicher Religionen orientalisierende, meist negative Zuschreibungen an ihre Religionen und wandelten sie mit umgekehr­ tem Vorzeichen in affirmative Charakterisierungen um. 12 Vgl. z.B. Prohl (2000). 13 Ausdrücklich sei darauf hingewiesen, dass es sich um eine Verallgemeinerung handelt. Versöhnlich seien einige herausragende Darstellungen von Religionen von Vertreter außerhalb unserer Disziplin genannt: MacGregor, Neil (2018), Leben mit den Göttern: Die Welt der Religionen in Bildern und Objekten, München (C.H. Beck); Holland, Tom (2021), Herrschaft: die Entstehung des Westens, Stuttgart (Klett-Cotta); Ramirez, Janina (2022), Femina: A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It, London (WH Allen). 14 Vgl. z.B. Hurd, Elizabeth Shakman (2015), Beyond Religious Freedom. The New Global Politics of Religion, Princeton, Oxford (Princeton University Press). 11

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Disziplingeschichte der Religionswissenschaft immer wieder, zum Beispiel in Form der sogenannten Religionsphänomenologie oder der Apologie einer Wiederverzauberung der Welt15. Ihre Vertreter rückten das Gefühl für ein vorgestelltes Numinoses, also das, was zuweilen auch Spiritualität genannt wird, in den Mittelpunkt ihres Verständnisses von und ihres Zugangs zu Religion. Als »verhängnis­ voll« für die Geschichte des Faches, notiert Karl-Heinz Kohl, erwies sich dabei, dass die Beschäftigung mit nicht-christlichen Religionen »kryptotheologisch« in den Dienst der eigenen, individuellen Glau­ bensüberzeugungen gestellt wurde.16 Bis heute ist die beschriebene Gegenbewegung feststellbar, beispielsweise in der Affirmation ver­ meintlich psychoaktiver Potentiale asiatischer Religionen. Vertreter des Faches sahen und sehen sich folglich in einer Position, in der sie ihre Arbeitsweise kontinuierlich nach außen und nach innen verteidigen müssen. Das Fach Religionswissenschaft war und ist, salopp ausgedrückt, in einem Zustand des ständigen Kampfes – ein Umstand, der nach meiner Einschätzung beträchtliche kreative Energien absorbiert. Diese Konstellation ist dafür mitverantwortlich, dass weder die Religionswissenschaft noch die Religious Studies oder die Shukyogaku einen gemeinsamen, verbindlichen Kanon an grund­ legenden Theorien und Methoden etablieren konnten. Folglich gehen die Debatten über grundsätzliche Fragen der Religionsforschung immer wieder von vorne los. Oft konfrontieren mich meine Kollegen aus anderen Fachbereichen mit ihrem Missmut über das, was sie als das Überengagement meiner Disziplin auffassen: Die ausgeprägte Leidenschaft, den Begriff Religion zu diskutieren. Dieses Überen­ gagement schmälert die Chancen zu inter- und intradisziplinären Kooperationen und verstärkt so die Barrieren zwischen der Religions­ wissenschaft und benachbarten Disziplinen. Unsere Disziplin wird in eine Außenposition katapultiert, von der aus sie wiederum ihren Weg zurück in die allgemeinen Debatten über Religion erobern muss. Also stehen auch hier die Zeichen auf Kampf. Kurzum, Religionswissenschaftler stehen häufig in einem kon­ fliktären Verhältnis zu den Akteuren von Religionen einschließlich ihrer theologischen Repräsentanten, zu Kollegen aus anderen Dis­ ziplinen, zu Vertretern des öffentlichen Diskurses und schließlich auch zueinander. Die Streitigkeiten haben eine weitere, besonders 15 16

Vgl. Gladigow (1988), S. 38. Vgl. Kohl (1988), S. 242.

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heikle Konsequenz: Vielleicht ist es die Erfahrung der ständigen Rei­ bung in der Debatte um Religion und Religionen, die zu Ermüdung oder Unzufriedenheit führt. Diese Emotionen könnten der Grund für ein Phänomen sein, das ich als den Genuss an der Dekonstruktion beschreiben möchte. Immer wieder ist zu beobachten, dass in religi­ onswissenschaftlichen Kontexten ältere Konzepte, wie etwa die Phä­ nomenologie, die Produkte kreativer Bricolage im sogenannten New Age17 oder auch heuristische Bestimmungen von Religion ohne Sach­ argumentation auseinandergenommen, belächelt oder einfach abge­ wiesen werden. Auch diese häufig anzutreffende Haltung trägt nicht zur geschmeidigen Kommunikation zwischen der Religionswissen­ schaft und der sie umgebenden Welt, sondern eher zu weiteren Span­ nungen bei.

4. Die postmoderne Wende In dieser spannungsgeladenen Atmosphäre landete Jonathan Smith im Jahr 1982 einen Paukenschlag, indem er feststellte: »Religion ist ausschließlich das Produkt des Wissenschaftlers«18. Smiths Fest­ stellung kann verstanden werden als Hinweis darauf, dass es sich beim Religionsbegriff um ein intellektuelles Konstrukt handelt, das wir provisorisch zum Zwecke der Erkenntnis verwenden. Doch es ist auch möglich, seine Feststellung radikal zu interpretieren. Heuris­ tische Bestimmungen des Begriffs der Religion gerieten infolgedes­ sen verstärkt in die Kritik. Befeuert durch postmoderne Theorien entwickelten einige Vertreter der Religionswissenschaft die ideologie­ kritische Sicht auf den Begriff der Religion weiter.19 17 Beispiele für diese kreative Bricolage sind etwa Mindful Yoga oder Tantrischer Scha­ manismus. 18 Smith, Jonathan Z. (1982), Imagining Religion. From Babylon to Jonestown, Chicago (University of Chicago Press). 19 Vgl. McCutcheon, Russell T. (1997), Manufacturing Religion. The Discourse on Sui Generis Religion and the Politics of Nostalgia, Oxford (Oxford University Press); Fitzgerald, Timothy (2000), The Ideology of Religious Studies, New York, Oxford (Oxford University Press); Kippenberg, Hans G. & Stuckrad, Kocku von (2003), Einführung in die Religionswissenschaft. Gegenstände und Begriffe, München (C.H. Beck); Bergunder, Michael (2011), »Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Über­ legungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft«, in: Zeitschrift für Religions­ wissenschaft, Band 19 (1), S. 3–55; Isomae, Jun’ichi (2012), »The Concepts of Religion

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Diese postmodern orientierten Religionswissenschaftler belie­ ßen es nicht dabei, auf die Verstrickungen des in Europa entstandenen Begriffs der Religion mit Kolonialismus und Herrschaft hinzuweisen. Es reichte ihnen auch nicht, die weitreichenden diskursiven, sozialen und politischen Konsequenzen der Verwendung des Begriffs der Religion herauszuschälen, sondern es verstärkte sich zunehmend die Tendenz, den Begriff überhaupt nicht zu bestimmen. Als para­ digmatisch für diese Herangehensweise kann die Einführung in die Religionswissenschaft aus dem Jahr 2003 angeführt werden, in der die beiden Autoren Hans G. Kippenberg und Kocku von Stuckrad schreiben: »[W]ir unternehmen also keinen Versuch, Religion vorab zu definieren«20. Stattdessen nennen sie als Gegenstand der Religi­ onswissenschaft ein »Diskursfeld«, wobei es Aufgabe der Religions­ wissenschaft sei, die Wirkung von Definitionen in diesem Diskurs­ feld zu beschreiben21. Ausdrücklich betonen die Autoren, dass die Bestimmung von Religion nicht den Status einer allgemeinen Theorie erlangen kann22 und verabschieden sich somit vom universalistischen Anspruch der Religionsforschung. Zum Teil lassen sich diese von postmoderner Theorie inspirierten religionswissenschaftlichen Ent­ würfe sogar als Plädoyer für die Annahme lesen, dass es Religionen außerhalb Europas oder vor dem 19. Jahrhundert nicht gab.23 Die Absage an die Möglichkeit, Religionen zum Zwecke ihrer Untersuchung vorläufig zu definieren, hat großen Widerspruch inner­ halb der Disziplin hervorgerufen24 und bewirkte, dass die Positionen innerhalb des Faches noch weiter auseinanderdrifteten. Auf Basis anekdotischer Evidenz lassen sich drei Konsequenzen ablesen. Erstens kam es zu nachhaltigen Störungen in der Kommunikation zwischen and Religious Studies in Transcultural Contexts, with a Focus on Japan«, in: Handbook of Contemporary Japanese Religions, Inken Prohl & John K. Nelson (Hg.), Band 6, Leiden, Boston (Brill), S. 59–72. 20 Kippenberg & Stuckrad (2003), S. 15. 21 Vgl. ebd. S. 13. 22 Vgl. ebd. S. 69. 23 Vgl. z.B. Josephson, Jason Ānanda (2012), The Invention of Religion in Japan, Chicago, London (University of Chicago Press). 24 Vgl. z.B. Riesebrodt, Martin (2007), Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen, München (C.H. Beck); Schilbrack, Kevin (2010), »Religions: Are There Any?«, in: Journal of the American Academy of Religion, Vol. 78 (4), S. 1112–1138; Lyden, John C. (2015), »Definitions: What Is the Subject Matter of ›Religion and Popular Culture‹?«, in: The Routledge Companion to Religion and Popular Culture, John C. Lyden und Eric Michael Mazur (Hg.), London, New York (Routledge).

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Vertretern einer postmodernen, zuweilen auch »diskursiv« genannten Religionswissenschaft auf der einen und Verfechtern heuristischer Bestimmungen von Religion auf der anderen Seite.25 Entstanden ist also ein ausgeprägter disziplinärer Tribalismus. Zweitens hat sich in Folge der unüberbrückbaren Gegensätze in Bezug auf den Begriff der Religion eine weitere Fraktion herausgebildet: die kognitive Religionswissenschaft. Sie kann als Gegenbewegung zu den dekon­ struierenden Ansätzen der Religionswissenschaft aufgefasst werden. Ihre Vertreter nutzen Methoden der empirischen Sozialwissenschaft und Naturwissenschaft, um evidenzbasierte Befunde über religiöse Akteure zu gewinnen.26 Obwohl oder gerade weil mit diesen Ansätzen eine Fülle von Fördergeldern eingeworben werden konnte, werden sie in den Geistes- und Kulturwissenschaften scharf als »biologistisch« oder »positivistisch« kritisiert.27 Statt sie aber pauschal abzulehnen, wäre eine fundierte Auseinandersetzung mit ihr dringend geboten. Die kognitionswissenschaftlichen Ansätze bilden nämlich die Basis für die neue, überaus einflussreiche Big-Data-gestützte Religionsfor­ schung, die epistemologisch und methodisch auf sehr wackeligen Füßen steht.28 Als dritte Konsequenz tragen schließlich die konfliktäre Stimmung, der Tribalismus und die Weigerung zu sagen, was Religion sein könnte, dazu bei, dass sich die Religionswissenschaft gegenüber anderen Disziplinen weiterhin isoliert. Viele unterschiedliche Faktoren führten also dazu, dass unsere Disziplin stark geprägt ist von einer konfliktbelasteten Hintergrund­ strahlung. Bei Tagungen herrscht oberflächlich betrachtet ein überaus höflicher Umgangston, doch dieser ist in der Regel darauf zurückzu­ führen, dass man oder frau in Panels mit Kollegen, die die eigenen Positionen teilen, unter sich bleibt. Nach Keynotes im Plenum kann es dagegen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Vertre­ tern divergierender Positionen kommen und nicht selten werden die So habe ich nach Vorträgen mit postmodernen Positionen viele amerikanische Kollegen kennengelernt, weil sie, ebenso wie ich, fassungslos waren und wir auf dem Flur miteinander ins Gespräch gekommen sind. 26 Vgl. Geertz, Armin W. & Jensen, Jeppe Sinding (Hg.) (2011), Image and Word in the Mind of Narrative. Sheffield, Oakville (Equinox). 27 Vgl. Modern, John Lardas (2021), Neuromatic: Or, A Particular History of Religion and the Brain, Chicago, London (University of Chicago Press). 28 Ambasciano, Leonardo (2021), »He Who Pays the Piper Calls the Tune: Big Data, Philanthrocapitalism, and the Demise of the Historical Study of Religions«, in: Method & Theory in the Study of Religion, vol. 34 (1–2), S. 182–209 (https://doi.org/10.11 63/15700682-12341527). 25

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Angriffe giftig und persönlich. Bezugnehmend auf Begutachtungs­ prozesse äußerte eine einflussreiche Vertreterin einer deutschen For­ schungsinstitution, sie kenne keine wissenschaftliche Disziplin in Deutschland, in der das Hauen und Stechen unter Kollegen so stark ausgeprägt ist, wie in der Religionswissenschaft. Mir ist es wichtig zu betonen, dass diese heftigen und zuwei­ len aggressiven Debatten nicht darauf zurückzuführen sind, dass Religionswissenschaftler und Religionswissenschaftlerinnen beson­ ders unverträgliche Menschen sind. Nein, wie ich versucht habe aufzuzeigen, resultiert die ausgeprägte Streitkultur vielmehr aus den Ambiguitäten und dem Dynamit, die dem Begriff der Religion und dem Themenfeld der Religionen selbst innewohnen. Auf diese angreiferische Streitkultur traf in der letzten Dekade die Welle der kritischen Identitätspolitik.

5. Identitätspolitische Ansätze und ihre Wirkungen in der wissenschaftlichen Praxis Postmoderne Ansätze gewannen seit den 2000er Jahren großen Einfluss in unserer Disziplin. Sie konstituieren Teile des Unterbaus29 für den identitätspolitischen Richtungswechsel, der sich seit einigen Jahren in der Religionswissenschaft vollzieht.30 Im Zuge dieses Rich­ tungswechsels verschärfte sich die Ansicht, dass sich in den von der Religionswissenschaft verwendeten Kategorien Ansprüche an Macht und Herrschaft ausdrücken. In der Folge werden Kategorien immer häufiger angesehen als in Sprache geronnene Mittel, mit denen Vormachtstellungen geschaffen und untermauert werden. Gute Beispiele hierfür sind der Begriff der Religion selbst, die Kategorie des Rituals und das Konzept der Materialität. Identitätspolitische Positionen postulieren, dass sich in diesen und anderen religions­ wissenschaftlichen Begriffen eine vermeintliche Überlegenheit west­ Das Verhältnis von postmoderner Theorie und identitätspolitischen Positionen ist ambivalent und vielschichtig, siehe: Doyle (2022). Eine erste umfassende Erörterung bietet: Josephson-Storm, Jason Ānanda (2021), Metamodernism: The Future of Theory. Chicago, London (University of Chicago Press). 30 Vgl. Borup, Jørn (2021), »Identity Turn: Managing Decolonialization and Identity Politics in the Study of Religion«, in: Method & Theory in the Study of Religion, vol. 34 (1–2), S. 162–181 (https://doi.org/10.1163/15700682-bja10069). 29

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licher Rationalität ausdrückt. In der durch identitätspolitisches Den­ ken beeinflussten Religionswissenschaft wird mittlerweile nicht nur gefordert, den Begriff der Religion unbestimmt zu lassen, sondern erneut dafür plädiert, vollständig auf ihn zu verzichten31. Identitätspo­ litische Verfechter verneinen es zunehmend, dass Religionen aus einer Außenperspektive beschreibbar sind. Dieser Ratio folgend verlangen viele Vertreter neben der personellen Diversität einen »epistemischen Pluralismus«.32 Sie drängen darauf, dass neben den wissenschaftlichen Vorgehensweisen auch spirituelle oder künstleri­ sche Wege der Erkenntnis eröffnet werden sollen.33 Daher initiieren identitätspolitische Anschauungen einen mehr oder weniger stark ausgeprägten Aktivismus: Ein Ziel lautet, die Rede über Religion den Händen weißer, kolonialer, männlicher Privilegierter zu entreißen und bislang ungehörten Stimmen im Diskurs über Religion Raum zu geben. Es gelte zudem, in öffentlichen Diskursen über Minder­ heiten rassistische, stereotypisierende und herabsetzende Tendenzen offenzulegen. Eine weitere Intention besteht darin, das epistemische Potential von Religionen selbst zu erschließen und darauf basierend Gender, Sexualität und Körper, ja Gesellschaft, neu zu fassen34, um so Diskriminierungen und Marginalisierungen entgegenzuwirken. Identitätspolitische Ansätze in der Religionswissenschaft postu­ lieren, dass es nicht die uns umgebenden sozialen Realitäten sind, die unsere Kategorien formen, sondern dass diese Kategorien als Produkte der Dynamiken von Macht und Herrschaft entstehen. So sei es anhand der Kategorien nicht möglich, ein adäquates Bild sozialer Realitäten zu vermitteln. Zwar wird nicht bestritten, dass es soziale Realitäten gibt, doch sei unsere Sicht auf sie stets getrübt durch den Schleier der Dynamiken von Macht und Herrschaft, geronnen in unseren Kategorien. Identitätspolitisch orientierte Ansätze fokussie­ ren ihre Aufmerksamkeit darauf, Diskurse über Religion zu zerlegen. Dabei gerät die Untersuchung von Religionen ins Abseits. Vgl. Nye, Malory (2019), »Decolonizing the Study of Religion«, in: Open Library of Humanities, Vol. 5 (1), S. 1–45 (https://doi.org/10.16995/olh.421). 32 Day, Abby (2020), »Towards Increasing Diversity in the Study of Religion«, in: Religion, vol. 50 (1), S. 46–52 (https://doi.org/10.1080/0048721X.2019.1681086), S. 47. 33 Vgl. Jolivétte, Andrew J. (Hg.) (2015), Research Justice. Methodologies for Social Change, Bristol, Chicago (Policy Press); Day (2020). 34 Vgl. Wilcox, Melissa M. (2021), Queer Religiosities: An Introduction to Queer and Transgender Studies in Religion, Lanham (Rowman & Littlefield). 31

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Diese Positionen haben schwerwiegende Folgen für die wissen­ schaftlichen Diskussionen und den Umgang in unserem Fach. Bei Lehrveranstaltungen schallt den Fragenden nach einer annähernden Definition des Gegenstandes unserer Disziplin wie ein Mantra die Antwort entgegen, Religion könne und dürfe nicht bestimmt wer­ den. Vehement wird postuliert, dass es in der Religionswissenschaft nur darum gehe, zu untersuchen, wie der Begriff der Religion in unterschiedlichen Diskursfeldern verwendet wird. Auf Tagungen und in Fachgesprächen erntet die Frage nach vorläufigen Begriffsbe­ stimmungen heftige Ablehnung. Häufig wird die Weigerung nicht erklärt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Auffällig ist, dass Theorien und Forschungen der pragmatisch arbeitenden Religi­ onswissenschaft systematisch ausgeblendet werden. In öffentlichen Prüfungen wird die Frage danach, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir Religion sagen, zurückgewiesen. Wir beobachten also eine deutliche Scheu davor, Definitionen zu formulieren und sogar ein Zurückschrecken davor, mögliche Zusammenhänge in Worte zu fas­ sen. Bei Paneldiskussionen ist zu erleben, wie sich – vor allem, wenn nicht-weiße Menschen oder nicht-christliche Akteure thematisiert werden – gegen bestimmte Worte heftiger Widerstand regt, weil diese als herabsetzend und diskriminierend empfunden werden.35 Welche Worte tabuisiert werden, wandelt sich zurzeit mit großer Geschwindigkeit, weshalb hier auf Beispiele verzichtet wird. An diese Akteure selbst gerichtete Bitten um Vorschläge für Begriffe, die eine sachliche und respektvolle Aussage ermöglichen könnten, führen zuweilen zu Shitstorms. Identitätspolitisch orientierte Religionswis­ senschaftler tadeln mit Nachdruck, dass durch solche Nachfragen Angehörige von Minderheiten zum Zwecke der Wissensbereicherung ausgebeutet würden. Wissenschaftler, die sich von Berufs wegen mit Religionen beschäftigen, sollten sich, so lautet der Vorwurf, selbst ihre Terminologie überlegen. Nun, eine solche Argumentation macht sprachlos, lässt sie doch keine verbale, intersubjektiv vermittelbare Erwiderung zu und führt somit zum Abbruch der Kommunikation. Die Frage danach, worum es sich bei Religionen handelt, kann auch zu einer mitleidigen, wenn nicht herablassenden Reaktion führen. Etwa dann, wenn mit der Antwort insinuiert wird, dass die Frage 35 Dabei handelt es sich nicht um Begriffe, bei denen ein allgemeiner Konsens darüber besteht, dass sie nicht verwendet werden sollten, wie zum Beispiel das »N-Wort« oder »Stammesgesellschaft«.

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auf einen zurückgebliebenen Erkenntnisstand zurückzuführen ist, weshalb sie sich erübrige. Schließlich zeigt sich auch eine ausgeprägte Tendenz dazu, bestimmte Beiträge nicht zuzulassen. Thematisieren pragmatisch orientierte Religionswissenschaftler soziale Realitäten zum Beispiel von Frauen im Islam, den Androzentrismus im Bud­ dhismus oder geschlechtsspezifische Stereotypen im Kontext der künstlichen Intelligenz liegt es nahe, die Befunde von Islamwissen­ schaftlern, feministischen Forscherinnen oder Evolutionsbiologen heranzuziehen. Doch nach meiner Beobachtung ist es kaum mehr möglich, sich ebenso kritisch wie konstruktiv mit den Thesen von Autoren und Autorinnen wie Ayaan Hirsi Ali, Kathleen Stock, Frans de Waal und vielen anderen auseinanderzusetzen36, ohne Gefahr zu laufen, dass ein Vortrag oder eine Publikation zurückgewiesen wird. Zwar kann es etwa bereichernd sein, marginalisierten Stimmen mehr Raum zu geben. Doch muss zusammenfassend festgestellt wer­ den, dass die identitätspolitisch orientierten Ansätze und Haltungen in der Religionswissenschaft den Tribalismus im Fach weiter vertiefen, die Kommunikation vehement stören und das Feld des Sagbaren massiv einschränken. Lehrsätze der identitätspolitisch orientierten Religionswissenschaft, wie der der Undefinierbarkeit von Religion, können nicht hinterfragt werden. Sie gelten vielen als unumstößliche Wahrheiten. Als Folge hat sich in unserer Disziplin eine neue Grenze etabliert zwischen denjenigen, die dieses Dogma erkannt haben wol­ len auf der einen Seite und einer Gruppe von Unbeirrten, die sich vor dieser vermeintlichen Wahrheit verschließen auf der anderen. Die ausgeprägte Scheu, Definitionen in Wort zu fassen, lässt einen zugrundliegenden Glauben an die besondere Wirkkraft von Worten vermuten, der weit hinausgeht über ihr Potential, Wissensregime zu naturalisieren und den Status Quo zu stützen. Die Aussprechtabus lassen sich, aus Sicht der pragmatischen Religionswissenschaft, als Strategien der Sakralisierung und einer damit verflochtenen Immuni­ sierung der eigenen dogmatischen Position diagnostizieren.

36 Vgl. Hirsi Ali, Ayaan (2021), Beute: Warum muslimische Einwanderung westliche Frauenrechte bedroht, München (C. Bertelsmann); Stock, Kathleen (2021), Material Girls: Why Reality Matters for Feminism, London (Fleet); Waal, Frans de (2022), Different: Gender Through the Eyes of a Primatologist, New York (W. W. Norton & Company).

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6. Spurensuche Wie ist die aggressive Ablehnung weiter Teile des pragmatisch ori­ entierten religionswissenschaftlichen Arbeitens zu erklären? Woraus resultiert das kämpferische Eintreten für die religionswissenschaft­ liche Dekonstruktion? Und wo liegen die Gründe dafür, dass sich die identitätspolitisch orientierte Religionswissenschaft systematisch der Konfrontation mit der sozialen Realität von Religion entzieht? Ich vermute, dass das ausgeprägte Potential für Konflikte, das dem Thema Religion innewohnt und zu Spannungen, Schismen sowie der allgegenwärtigen Dynamik des Widerstreitens in unserem Fach führte, einen wichtigen Faktor dafür bildet, dass sich identitätspoli­ tische Positionen mit solcher Vehemenz entfalten. Einen weiteren Faktor stellt nach meiner Auffassung eine allgemeine Ermüdung dar, die sich in Folge der Reibungen und Spannungen im Zuge der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religionen ausgebreitet hat. Wie ich weiter oben gezeigt habe, fordert die pragmatische Religionswissenschaft den Mut, sich punktuell festzulegen und die Gewissheit der permanenten und prinzipiellen Unabgeschlossenheit unserer Bestimmungen zu balancieren. Identitätspolitische Ansätze bieten dagegen Stabilität in Form eindeutiger Lehr-, wenn nicht Glaubenssätze, und einer übergreifenden Metanarration.37 Ferner ist es auch möglich, die Herausbildung der unumstöß­ lichen Ansichten der dekonstruierenden Religionswissenschaft als eine erneute Wiederkehr der kryptotheologischen Tendenzen in unse­ rer Disziplin zu deuten. Schließlich kann der Nachdruck, mit dem identitätspolitisch geprägte Ansätze und Lehren in der Religionswis­ senschaft vorangetrieben werden, auch als eine Überlebensstrategie38 verstanden werden. Diese Strategie dient – so makaber es klingt – im wahrsten Sinne des Wortes dem Überleben, müssen doch Wissenschaftler und andere Personen des öffentlichen Lebens, die sich allzu kritisch mit den sozialen Realitäten von Religionen, allen 37 Vgl. Akanbi, Ayishat (2021), »Ich bin keine Antirassistin, ich bin einfach keine Rassistin«, in: ZEIT MAGAZIN, 1. September 2021 (https://www.zeit.de/zeit-maga zin/leben/2021-08/ayishat-akanbi-struktureller-rassismus-diskriminierung-erleb nisse-umgang-interview); Lukianoff, Greg & Haidt, Jonathan (2018), The Coddling of the American Mind. How Good Intentions and Bad Ideas Are Setting Up a Generation for Failure, New York (Penguin Press). 38 Diese Deutung übernehme ich von einem Kollegen, vielen Dank an ihn!

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voran dem Islam, beschäftigen, mit heftigen Vorwürfen bis hin zu gewalttätigen Angriffen rechnen39. Angesichts der sich ausbreitenden identitätspolitischen Positionen an Universitäten sowie in Politik und Wirtschaft, kann ein Bekenntnis dazu auch karrieretechnisch überaus förderlich sein und damit indirekt zum »Überleben« beitragen.

7. Antirealismus Dekonstruierende und identitätspolitisch orientierte Ansätze ignorie­ ren die Beziehung zwischen den religiösen Diskurspraktiken und dem vielgestaltigen übrigen Feld religiöser Praxis. Der weitgehende Ausschluss gelebter Religionen hinterlässt eine Fülle von Fragezei­ chen: Auf welche Vorstellungen, Praktiken und Materialitäten bezie­ hen sich die Diskurse um den Begriff der Religion? Welche sozialen Realitäten liegen dem Feld der Zuschreibungen zugrunde? Und die vielleicht offensichtlichste Frage: Wie wirken die sozialen Realitäten von Religionen auf die Diskurse ein? Haben Materialitäten, Männer, Frauen, nicht-binäre Menschen, Kinder, Rituale, Normen, ethische Vorstellungen, kultische Vorschriften usw. überhaupt einen Einfluss auf die Diskurse über Religion? Oder haben wir uns die Diskurse vorzustellen wie eine von der gelebten Welt abgeschnittene Sphäre geistiger Auseinandersetzung? Eine eigene Welt? Da die sozialen Realitäten gelebter Religionen in den dekonstru­ ierenden Konzeptionen kaum vorkommen, ist es nicht möglich, diese Fragen zu beantworten. Folglich bleibt ungeklärt, wie Religionen funktionieren, welche Motive ihnen zugrunde liegen, welche Wirkun­ gen sie auf Akteure und Gesellschaften haben und welchen Nutzen, aber auch, welche Risiken und Nebenwirkungen sie bergen. Dekon­ struierende Vorgehensweisen und, mehr noch, identitätspolitische Ansätze, führen also zu einem Anti-Realismus.40 Die anti-realistische Vgl. Mäder, Claudia & Scherrer, Lucien (2021), »›Man kann nicht mehr von den Gefahren des Islamismus sprechen, ohne als islamophob stigmatisiert zu werden‹, sagt die französische Soziologin Nathalie Heinich«, in: Neue Zürcher Zeitung, 10. März 2021 (https://www.nzz.ch/feuilleton/islamogauchisme-nathalie-heinich-ueber-fr anzoesische-universitaeten-ld.1605481); Weidermann, Volker (2022), »Ein freier Mensch: Wie Salman Rushdie versuchte, die Fatwa zu ignorieren«, in: ZEIT ONLINE, 18. August 2022 (https://www.zeit.de/2022/34/salman-rushdie-fatwairan). 40 Vgl. Josephson-Storm (2021), S. 2. 39

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Stimmung in Teilen der Religionswissenschaft bewirkt ihrerseits, dass wir essenzielle Entwicklungen im Bereich der Religionen nur unzu­ reichend erforschen. Beginnend beispielsweise mit der religiösen Pra­ xis und den Institutionalisierungsprozessen in europäischen Migra­ tionskontexten, der immensen Popularität der sogenannten Wünsche an das Universum41 bis hin zu den religionsähnlichen Formationen im Bereich der künstlichen Intelligenz, gibt es eine Fülle von heraus­ fordernden Themen, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen.

8. Therapien Die Weigerung, Religion heuristisch zu bestimmen, die Scheu, zu bestimmten Themen überhaupt Stellung zu beziehen und die zuneh­ mende Tendenz zum Zurückweisen unerwünschter Beiträge, schrän­ ken die Möglichkeit der kognitiv nachvollziehbaren intersubjektiven Kommunikation ein. Mehr noch, dieses Verhalten bricht den Dialog ab. Um den Dialog wiederaufzunehmen und aufrechtzuerhalten, ist es meines Erachtens unumgänglich, dass wir uns zunächst der kon­ fliktären Hintergrundstrahlung in unserer Disziplin bewusstwerden und uns dann offen darüber austauschen. Josephson-Storm plädiert dafür, dass wir uns aus dem Gefängnis der Sprache, in das uns die postmoderne Theorie hineinkatapultiert hat, befreien sollen, indem wir uns die Beziehung zwischen Kategorien und sozialen Realitäten als ein Kontinuum vorstellen.42 In vergleichbarer Weise setzen die triadische Religionswissenschaft43 und die varifokale Methode der Religionsforschung44 darauf, unseren Umgang mit widerstreitenden Epistemologien zu flexibilisieren. Diese Ansätze sprechen sich dafür aus, identitätspolitisch orientierte Dekonstruktionen und die Anwen­ dung heuristischer Bestimmungen von Religion abwechselnd anzu­ 41 Soweit ich sehen kann, liegt noch keine Monographie zu dem Konzept der »Law of Attraction« vor, obwohl dieses auf dem Buchmarkt extrem erfolgreich ist. 42 Vgl. ebd. S. 151. 43 Vgl. Prohl, Inken u. a. (2022), »Forschung am Institut für Religionswissenschaft«, in: Institut für Religionswissenschaft, 2022 (https://religionswissenschaft.zegk.uni-h eidelberg.de/forschung/index.html). 44 Vgl. Okropiridze, Dimitry (2021), »Interpretation Reconsidered: The Definitional Progression in the Study of Esotericism as a Case in Point for the Varifocal Theory of Interpretation«, in: New Approaches to the Study of Esotericism, Egil Asprem und Julian Strube (Hg.), Leiden (Brill), S. 217–240 (https://doi.org/10.1163/978900444 6458).

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wenden. Zusätzlich wird in der triadischen Religionswissenschaft das Moment der Dialogkompetenz ergänzt. Mit den drei Komponenten der kritischen Epistemologie, der Arbeit mit vorläufigen Religions­ bestimmungen und der dialogischen Kompetenz verfolgt die triadi­ sche Religionswissenschaft das Ziel, die Habitualisierung der Dekon­ struktion als exklusiven Erkenntnisweg zu durchbrechen und eine konstruktive Streitkultur zu fördern.

9. Hochseefischerei Die Arbeitsweise der pragmatischen Religionswissenschaft ist ver­ gleichbar mit der Hochseefischerei. Forschende diskutieren gemein­ sam über die optimale Beschaffenheit der Netze, mit denen religiöse Vorstellungen, Praktiken und Materialitäten eingefangen werden können. Da postmodern und identitätspolitisch orientierte Religions­ wissenschaftler die Faktoren, Funktionen und Motive der sozialen Realität von Religionen weitgehend vernachlässigen, geht ihnen in Form der Identitätspolitik selbst ein großer Fisch durchs Netz. Kritische Bestandsaufnahmen der Wokeness und Identitätspolitik qualifizieren diese als »religion«45oder »new faith«46. Die Kritiker verwenden den Begriff der Religion in den genannten Darstellungen teilweise mit einer polemischen oder herabsetzenden Intention. Den­ noch sollten wir die Hinweise auf die religionstypischen Kennzeichen der Identitätspolitik aufgrund dieser pejorativen Absicht nicht einfach abweisen, sondern sie sollten uns hellhörig machen. Die schwerwiegendste Konsequenz des systematischen Igno­ rierens der sozialen Realitäten von Religionen besteht darin, dass die identitätspolitischen Ansichten und Praktiken selbst nicht als religionsanaloge Formationen erkannt werden. Die Kategorie der »religionsanalogen Formationen« beschreibt die funktionalen Paral­ lelen zwischen Religionen und diversen anderen gesellschaftlichen Feldern. Da der Begriff »Religion«, wie wir gesehen haben, abweh­ 45 Pluckrose & Lindsay (2020); McWhorter, John (2021), Woke Racism: How a New Religion Has Betrayed Black America, New York (Portfolio); Doyle (2022). 46 Lyons, N. S. (2022), »No, the Revolution Isn’t Over. None of the Fundamental Drivers of ›Wokeness‹ Have Relented«, in: Substack Newsletter. The Upheaval, 18. Februar 2022 (https://theupheaval.substack.com/p/no-the-revolution-isntover).

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rende, widerstreitende bis hin zu aggressiven Emotionen triggert, bevorzuge ich, weniger aus analytischen als vielmehr aus diploma­ tischen Gründen, den Ausdruck »religionsanalog«. Ausgangspunkt für diesen Ansatz ist eine vorläufige Bestimmung von Religion, nach der sie Beziehungen zwischen Menschen und vorgestellten, außerhalb des Menschen stehenden Instanzen kultiviert – etwa Bezie­ hungen zu angenommenen Göttern, übermenschlichen Wesen oder transzendenten Ordnungen. Wie wir gesehen haben, basieren die identitätspolitisch orientierten Ansätze der Religionswissenschaft auf ontologisch vergleichbaren Annahmen. Sie postulieren das Wirken einer Macht in sozialen Beziehungen, unserem Denken und unseren Kategorien. Somit basiert ihre Ontologie auf transzendenten Annah­ men. Das Identitätsdogma gilt als unhinterfragbar, da es als Basis für das Verständnis unseres Selbst und der Welt aufgefasst wird. Die Lehre vom erlösenden Potential, das als unterdrückt angesehe­ nen Identitäten zugeschrieben wird47, lässt sich als überempirisch diagnostizieren. Die ausgeprägte Scheu, bestimmte Dinge zu benen­ nen, der offensichtliche Anspruch, zu den »Erwachten« zu gehören, die eine Wahrheit erkannt haben, sowie die Dynamik der Schuld48, sprechen ebenfalls für den religionsanalogen Charakter der identitäts­ politischen Ansätze der Religionswissenschaft. Gegenwärtig erleben wir die disruptive Transformation der Gesellschaft durch die Implementation von künstlicher Intelligenz. Technologische, datenbasierte und mathematische Konzepte haben sich weitgehend durchgesetzt. Auffällig ist der Kontrast zu identitäts­ politischen Ansätzen, die Rationalität und Wissenschaft in Frage stel­ len, indem sie sich auf als solche angesehene alternative Epistemolo­ gien und empirisch vage Größen wie Gefühle und Identität berufen. In diesem Sinn können die identitätspolitischen Ansätze als gegenwelt­ liche Entwürfe zur dominierenden und unentrinnbar erscheinenden technologischen Realität angesehen werden und erweisen sich auch in dieser Hinsicht als Formationen, die religionstypische Züge aufwei­ sen. All diese Befunde erhärten die Vermutung, dass sich in Gestalt der Identitätspolitik ein neuer großer Fisch im Ozean der Welterklä­ Vgl. Holland (2021). Kostner, Sandra (2019c), »Einleitung. Identitätslinke Läuterungsagenda. Genese des Analysekonzepts und Ziele des Bandes«, in: Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften, Sandra Kostner (Hg.), Stuttgart (Ibidem), S. 7–16. 47

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rung, Sinnstiftung, Gesellschaftskritik und Herrschaftsstabilisierung tummelt. Meines Erachtens gilt es, unsere Netze zu flicken und aus­ zuwerfen, um bislang unentdeckte, kleine und große Fische im Ozean der Religionen einzufangen und adäquat analysieren zu können.

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III. Ausgrenzung in den Wissenschaften

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Akademische Verbannung. Auch ein Zwischenbericht

Ich habe mal versucht, eine Professorin für Genderstudien, die mich über drei Jahre diffamiert hat, zu einer Diskussion zu bewegen. Und sie antwortete, meine Position verdiene es nicht, dass man sich mit ihr vernünftig auseinandersetzt. Kathleen Stock, Der Spiegel, 20.2.2022

1. Vorüberlegungen und begriffliche Klärungen Die Frage, von wem und zu welchem Zweck der Begriff der »Cancel Culture« genutzt wird, ist so interessant wie schwierig und wird ins­ besondere die Kulturwissenschaften noch eine Weile beschäftigen. Kaum zu bestreiten ist aber, dass der Begriff negativ konnotiert ist. Wer etwa Versuche, den Vortrag eines Redners zu stören oder zu ver­ hindern, als Ausdruck der Cancel Culture bewertet, gibt damit typi­ scherweise zu erkennen, solche Vorgehensweisen für verwerflich zu halten. Verstünde man nun unter »Cancel Culture« in Bezug auf die Wissenschaften die Praxis, Personen und Positionen durch bestimmte einschränkende Mittel die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs zu erschweren oder sie zu verhindern, dann wäre es, weil der Begriff negativ konnotiert ist, nicht möglich, diese Praxis als legitim zu begreifen, obwohl sie im Einzelfall durchaus legitim sein könnte. Wer es etwa einem Astrologen faktisch unmöglich macht, auf einer Tagung über Astronomie einen astrologischen Vortrag zu halten oder in astro­ nomischen Fachzeitschriften astrologische Aufsätze zu publizieren, der schränkt ihn ein, aber eben mit gutem Grund; wer verhindern will, dass ein Philosoph wie Robert P. George einen ethischen Vortrag darüber hält, dass homosexuelle Akte moralisch falsch seien, der schränkt ihn ebenfalls ein, aber, wie ich argumentieren werde, ohne

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hinreichend guten Grund – auch wenn das natürlich nicht impliziert, dass George mit seiner These recht hätte. Was beide Fälle gemeinsam haben ist die Inanspruchnahme bestimmter Grenzen der Wissen­ schaftsfreiheit, die es unbestritten gibt, und zwar positivrechtliche, moralische und wissenschaftslogische Grenzen. So erwähnt Art. 5 Absatz 3 GG die »Treue zur Verfassung«, und es gibt auch strafrecht­ liche Grenzen (Beleidigung, Volksverhetzung, Embryonenfor­ schung); einen mehr oder weniger schwachen bzw. starken morali­ schen Realismus vorausgesetzt, gibt es zudem moralische Grenzen, die nicht rechtlich kodifiziert sind oder jedenfalls nicht so, dass sie bestimmte Handlungen verbieten (z. B. Tierversuche); und wissen­ schaftslogische Grenzen sind jene, die durch die Praxis der Wissen­ schaften selbst gesetzt werden (Astronomie ist eine Wissenschaft, Astrologie nicht) und zu denen man auch die akademische Tugend­ haftigkeit und Regeln der good scientific practice rechnen kann. Wer bestimmte exkludierende Vorgehensweisen für legitim hält, ist also nicht in der Lage, deren Legitimität mit dem Begriff der »Can­ cel Culture« zu verteidigen oder auch nur zu beschreiben, weil »Cancel Culture« ein dichter Begriff (thick concept) geworden ist, und zwar ein negativer: Man kann bestimmte Vorgehensweisen nicht als »Cancel Culture« bezeichnen, ohne sie damit zugleich als negativ zu bewerten. Ich werde daher diesen Begriff im Folgenden nicht mehr oder nur noch eingeschränkt verwenden. Ich werde stattdessen in positiver Hinsicht von legitimer Begrenzung sprechen. Der parallele Begriff in negativer Hinsicht ist der der illegitimen Begrenzung. Da dieser mir aber in kritischer Perspektive zu schwach erscheint, spreche ich von akademischer Verbannung. »Akademische Verbannung« nenne ich also rechtswidrige oder moralisch unerlaubte Versuche, Menschen in der Ausübung ihrer Wissenschaftsfreiheit zu behindern. Von einer Kultur akademischer Verbannung zu sprechen ist dann gerechtfertigt, wenn es eine weit verbreitete oder bedrohlich wachsende Atmosphäre im akademischen Raum gibt, in der akademische Verbannung gedeiht und ausgeübt wird. Von akademischer Verbannung sollte man dagegen nicht spre­ chen, wenn Menschen aus offenkundig unmoralischen Gründen ver­ suchen, andere Menschen in ihrer Wissenschaftsfreiheit zu beschrän­ ken, ohne selbst dabei angeblich moralische Gründe in Anspruch zu nehmen. Wenn etwa Männer versuchen, Frauen aus der Wissen­ schaft fernzuhalten, dann ist das sexistisch motivierte akademische Diskriminierung, aber keine Verbannung im eben erläuterten Sinne;

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denn der Sexist nimmt (in der Regel) keine moralischen Gründe in Anspruch (sondern gar keine oder vorgeschobene pragmatische). Zwar sind die Gründe für akademische Verbannung auch unmoralisch (denn diese Verbannung stellt ja eine illegitime Begrenzung dar); aber ihre Akteure begreifen die Gründe selbst ja als moralische (jemand sei Rassist, Sexist, Ableist usw.), ohne dass diese Gründe allgemein gesprochen und prima facie keine wären. Dagegen mag der Antisemit, der keine Juden in der Wissenschaft zulassen will, zwar irgendwie und aus seiner Sicht moralische Gründe geltend machen (Überlegenheit der arischen Rasse oder vergleichbarer Irrsinn); aber diese Gründe haben keinerlei Chance darauf, als mögliche moralische Gründe anerkannt zu werden, wogegen das Argument, jemand sei Rassist, ja ein guter moralischer Grund sein kann. Im Folgenden werden diese Begriffe weiter präzisiert und erläu­ tert.1 Ohne den Begriff der akademischen Verbannung verengen zu wollen, soll er hier vor allem auf die moralisch motivierte akade­ mische Verbannung bezogen werden; man könnte also auch von moralisch-akademischer Verbannung sprechen. Denn wer meint, die Freiheit von Forschung und Lehre von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern etwa durch de-platforming einschränken zu dürfen, obwohl es dafür (noch) keine juristische Grundlage gibt, beruft sich dabei typischerweise (aber nicht nur) auf moralische Gründe, die in moralischen Vorwürfen auftreten. Es wird geltend gemacht, dass Menschen ihr Recht auf freie Forschung und Lehre verwirken, weil 1 Dabei können hier natürlich nicht alle Aspekte behandelt werden. Zum Diskussi­ onskontext gehören nicht nur die Auseinandersetzungen um die (nicht-akademische) Cancel Culture in der Kunst, sondern im öffentlichen Leben überhaupt (Zensur auf youtube, twitter usw.); auch damit einhergehende Phänomene wie Political Correct­ ness, Trigger Warnings, Denkmalstürze, Gendern wie überhaupt Eingriffe in die Spra­ che (»N-Wort«, »Bonusvater«), Fake News, Mansplaining, Critcial Race Theory usw. können hier nicht erörtert werden. Zum Thema Wissenschaftsfreiheit wiederum gehören nicht nur die Argumente zu ihrer Verteidigung (Autonomie, Mills Fallibilis­ mus, das demokratietheoretische Argument; vgl. ausführlich Wilholt, Torsten (2012), Die Freiheit der Forschung. Begründungen und Begrenzungen, Berlin (Suhrkamp); Himpsl, Franz (2017), Die Freiheit der Wissenschaft. Eine Theorie für das 21. Jahrhun­ dert, Stuttgart (Metzler); kurz Schönecker, Dieter (2020), »Rassismus, Rasse und Wissenschaftsfreiheit. Eine Fallstudie«, in: Philosophisches Jahrbuch, vol. 20(2), S. 248–273, S. 251 f.), sondern auch Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit durch bestimmte Phänomene, die hier aus Raumgründen aber ebenfalls nicht analysiert werden, wie etwa Drittmittelfokussierung, Verzahnung von Wirtschaft und Wissen­ schaft, militärische Forschung, staatliche Themensetzung, Monopolisierung des Publikationsmarktes, Zensur, Prekarisierung des Mittelbaus.

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sie rassistisch seien oder auch antisemitisch, xenophob, antiziganis­ tisch, islamophob, gruppistisch, ableistisch, nationalistisch, völkisch, klassistisch, sklavistisch, sexistisch, homophob, transphob, speziesis­ tisch, biologistisch, sozialdarwinistisch, elitaristisch und dergleichen. Obwohl solche Vorwürfe und die damit einhergehenden Praxen oft genug moralisch-akademisch verbannend sind, ist die Kritik, die Inanspruchnahme jener moralischen Gründe sei Ausdruck einer Hypermoral im Sinne einer »Mikrologie«2, nicht zielführend. Denn wenn jemand tatsächlich rassistisch oder homophob ist, hat man einen sehr guten, nämlich einen moralischen Grund zur Kritik und gegebenenfalls auch zur legitimen Begrenzung. Die bloße Tatsache, dass wir heute mehr Handlungen für moralisch verwerflich oder auch erlaubt halten als früher, ist nicht Resultat einer Hypermoral, sondern Ausdruck moralischen Fortschritts: Aristoteles hatte kein Problem mit der Sklaverei, wir (fast alle) schon; Kant hatte ein Problem mit Homosexualität, wir (oder jedenfalls viele von uns) nicht. Das kritikwürdige Phänomen ist also nicht eine inflationäre Moralisierung. Kritikwürdig ist vielmehr, dass die damit verbundenen Vorwürfe oft nicht gerechtfertigt oder jedenfalls zweifelhaft sind und der epistemischen Arroganz entspringen.3

2. Was klar sein sollte Die aktuelle Debatte um die Wissenschaftsfreiheit leidet u. a. daran, dass über Dinge geredet wird, über die man eigentlich nicht reden muss, weil die Sachlage klar ist oder jedenfalls klar sein sollte. So ist es herrschende juristische Meinung, dass die Positionen derjenigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die bisher in Deutschland durch akademische Verbannung inkriminiert wurden, durch Art. 5 Abs. 3 GG geschützt sind; doch nicht jeder scheint dies zu wissen. 2 Kant, Immanuel, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (EA 1797), hier zitiert nach der Akademieausgabe, Band 6, S. 409. ‒ Unter »Hypermoral“ verstehe ich hier nicht das in der Tat problematische Phänomen, dem je anderen in simplifizieren­ den Kategorien von Gut und Böse moralische Vorwürfe zu machen und aus dem Dis­ kurs auszuschließen, sondern den Vorwurf, immer mehr Bereiche des Lebens mora­ lischen Kategorien zu unterwerfen. 3 Und wenn sie es nicht sind, liegt auch kein moralischer Fortschritt vor. So ist es vielleicht kein Ausdruck moralischen Fortschritts, das, was »kulturelle Aneignung« genannt wird, für moralisch falsch zu halten.

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Akademische Verbannung. Auch ein Zwischenbericht

Auch versteht es sich von selbst, dass Kritik in den Wissenschaften essenziell ist; dennoch wird oft so getan, als leugneten Kritiker der akademischen Verbannung das. Und schließlich ist es empirisch beleg­ bar, dass es eine nennenswerte Zahl akademischer Verbannungen in Deutschland gibt. Betrachten wir das etwas genauer.

2.1 Wissenschaftsfreiheit als Recht im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG Die Wissenschaftsfreiheit im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG umfasst als Individualrecht ohne Gesetzesvorbehalt die Freiheit einzelner Sub­ jekte oder Forschungsgemeinschaften in Bezug auf Forschungsge­ genstände bzw. Forschungsziele und Forschungsmethoden, und dies sowohl in negativer Hinsicht als Abwehrrecht und in positiver Hin­ sicht als Recht auf etwas (vor allem Forschungsmittel), und sie umfasst zugleich die Freiheit der Lehre. Art. 5 Abs. 3 GG gewährt ein »Recht auf Abwehr jeder staatlichen Einwirkung auf den Prozess der Gewinnung und Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse« (BVerfGE 35, 79 [111 f.]). Dazu gehören auch die Wahl des Gegen­ standes, die Methode und der Ort der Erkenntnisgewinnung«4. Es steht außer Frage, dass in Theorie und Praxis dieses Recht sehr liberal ausgelegt wird. Die Fälle, um die prominent gestritten wird, sind ohne jeden Zweifel alle im Sinne der Inkriminierten zu bewerten: »Der Schutz freier Lehre hängt auch nicht davon ab, wem die vertre­ tenen Thesen oder auch nur die behandelten Themen missfallen, ob die Positionen als politisch inopportun gelten, wie meinungsstark, gut organisiert und empörungsaffin ihre Gegner sind oder mit welchem Anspruch moralischer Überlegenheit sie antreten. Auf wissenschaftli­ cher Basis darf das Kopftuch ebenso als Instrument der Unterdrückung wie als Zeichen der Selbstbestimmung gewertet werden. Totalitaris­ musforscher dürfen die Schreckensherrschaft des Dritten Reiches mit dem Stalinismus vergleichen, Historiker der Frage nachgehen, ob die Vertreibung der Armenier durch die Türken nach heutigen Maßstäben einen Völkermord darstellte. Rechtswissenschaftler dürfen den Umgang mit den Flüchtlingsströmen im Herbst 2015 als rechtmäßig oder rechtswidrig beurteilen, Vertreter anderer Disziplinen den Brexit Decken, Kerstin von der (2018), »Art. 5: Recht der freien Meinungsäußerung, Medienfreiheit, Kunstfreiheit, Wissenschaftsfreiheit«, in: Kommentar zum Grundge­ setz, Köln (Carl Heymanns), S. 352.

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oder Scientology differenziert bewerten: Alle diese Entscheidungen sind von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt.«5

Dabei ist Art. 5 Abs. 3 GG auch ein Anspruchsrecht auf staatlichen Schutz vor freiheitsbeschränkenden Eingriffen Dritter. So schreibt Bender: »Wiederholt hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass der Gesetzgeber durch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG gehalten ist, durch geeignete organisatorische Maßnahmen sicherzustellen, dass Störun­ gen und Behinderungen der freien wissenschaftlichen Tätigkeit und auch der Lehrfreiheit der Hochschullehrer durch Einwirkungen ande­ rer – auch studentischer – Gruppen soweit wie möglich ausgeschlos­

5 Coelln, Christian von (2019), »Hochschullehre zwischen Äußerungsfreiheit, Poli­ tical Correctness und Mäßigungsgebot«, in: Wissensschaftsrecht, vol. 52, Heft 1, S. 3– 26, S. 9. An anderer Stelle (S. 3) erwähnt von Coelln die bekannten Fälle Baberowski, Münkler, Schröter und auch Schönecker. In Bezug auf dessen Einladung von Sarrazin schreibt er, diese sei »weder rechtfertigungs- noch verhandlungsbedürftig« (Coelln, Christian von (2019), »Hochschullehre zwischen Äußerungsfreiheit, Political Cor­ rectness und Mäßigungsgebot«, in: Wissenschaftsrecht, vol. 52, no. 1, S. 3–26, S. 10). Gärditz schreibt zwar, scheinbar abweichend: »Ex-Banker beispielsweise, die ihre irr­ lichternden Thesen rassistischer Bestseller vorstellen wollen, betreiben keine Wis­ senschaft und gehören nicht an eine Universität, die keine Mehrzweckhalle für kruden Klamauk ist.« (Gärditz, Klaus F. (2021), »Die politische Grammatik der Wissen­ schaftsfreiheit«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 46/2021, S. 10–16, S. 13.) Das mag Gärditz so sehen; aber er weiß natürlich ganz genau, dass es fraglos zum Recht eines Universitätsprofessors gehört, auch Personen wie Sarrazin einzuladen, wenn es dafür gute Gründe gibt – und ob diese Gründe genug sind, darüber haben nicht Dritte und erst recht nicht Dekane oder Rektoren zu entscheiden (selbstredend ungeachtet des Rechts auf Kritik); es haben auch nicht Dritte darüber zu entscheiden, ob es z. B. in bestimmten Kontexten nicht gute Gründe geben kann, einen Flüchtling einzuladen, auch wenn dieser kein Wissenschaftler ist. Unmittelbar nach der Sarrazin-Schelte zitiert Gärditz übrigens auch die berühmte Formulierung des Bundesverfassungsge­ richts, wonach als Wissenschaft anzusehen ist, »was nach Inhalt und Form als ernst­ hafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist« (zit. bei Gärditz (2021), S. 13). Gärditz selbst betont den offenen Charakter der Wissenschaft und die unbestreitbare Tatsache, dass nicht-staatliche Organe (wie Dekane oder Rek­ toren) nicht festlegen dürfen, was Wissenschaft ist und was nicht. Und er schreibt weiter: »Aus dem Tatbestand der Wissenschaftsfreiheit lassen sich daher nur solche Arbeiten ausscheiden, deren wissenschaftliche Tragfähigkeit sich positiv unter Her­ anziehung allgemein anerkannter Rationalitätsstandards evident widerlegen lässt« (ebd. S. 14). Von einer solchen ‚evidenten Widerlegung‘ auch nur der Thesen Sarrazins, geschweige denn der Sicht Schöneckers, es könne lohnend sein, Sarrazin einzuladen, kann natürlich keine Rede sein. Und weiter: »Im Zweifel ist daher der Freiheitsschutz des Artikel 5 Absatz 3 Satz 1 GG zu gewähren und eine Falsifikation der scientific community zu überlassen.« (ebd. S. 15).

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sen werden«6. (Aus meiner Sicht beinhaltet Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG ggfs. auch das Anspruchsrecht auf staatlichen Schutz vor z. B. rassis­ tischen Handlungen, sofern solche Handlungen im Kern die Wissen­ schaftsfreiheit verletzen; wer z. B. aus rassistischen Gründen ver­ sucht, dunkelhäutigen Menschen eine akademische Karriere zu verbauen, der verletzt nicht nur Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, sondern auch Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, wenngleich Privatpersonen keine unmittel­ bare Grundrechtsbindung haben, sondern nur eine Bindung an das grundrechtskonform ausgestaltete Gesetz; bei Berufungskommissio­ nen sieht das wieder anders aus). Es besteht also kein Zweifel daran, dass all jene, deren Forschung und Lehre aktual (wie es mit dem codeword heißt) umstritten ist, das grundgesetzlich garantierte Recht haben, ihre Forschung und Lehre so zu betreiben, wie sie es tun. Um mehr oder weniger bekannte Bei­ spiele aus der Philosophie zu nehmen: Georg Meggle hatte mit Art. 5 Abs. 3 GG das Recht, Peter Singer zu einem Vortrag einzuladen, und er hat auch (grundsätzlich gesehen) das Recht, ein Seminar zur Frage abzuhalten, ob Boykottmaßnahmen gegen den israelischen Staat legitim sein können; Dieter Schönecker hatte das Recht, in einem wissenschaftlichen Kontext Thilo Sarrazin zu einem Vortrag einzula­ den;7 und wenn man Art. 5 Abs. 3 GG ex hypothesi einmal auf andere 6 Bender, Philipp (2019), »Die Schutzverantwortung des Staates für eine freie Lehre«, in: Wissenschaftsrecht, Jahrgang 52, Heft 1, S. 27–48, S. 32. 7 Vgl. Schönecker, Dieter (2021g), »Singer und Sarrazin. Eine vergleichende Studie zur Wissenschaftsfreiheit«, in: Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. Grundlagen – Herausforderungen – Grenzen, Elif Özmen (Hg.), Berlin, Heidelberg (Metzler) S. 123– 140. ‒ Döring schreibt: »Für die Frage sowohl, ob eine bestimmte Meinungsäußerung, als auch, ob ein bestimmter Sprecher an die Universität gehört, sind erstens episte­ mische Zielsetzung, zweitens Einschlägigkeit und drittens methodische sowie argu­ mentative Qualität entscheidend.« (Döring, Sabine (2021), »Epistemische Gerech­ tigkeit und epistemische Offenheit – eine Versöhnung«, in: Wissenschaftsfreiheit im Konflikt, Elif Özmen (Hg.), Berlin (Metzler), 60 f.) Aber erstens ist die Frage, ob in einem bestimmten Falle die Kriterien erfüllt sind, nicht durch irgendeine externe Stimme (etwa durch einen Dekan, Rektor oder Fakultätsrat) zu beantworten; die Ent­ scheidung dafür liegt regelmäßig bei dem, der, wie etwa im Siegener Fall mit der Ein­ ladung Sarrazins, einlädt. Und zweitens dürfen selbstredend Wissenschaftler aus wis­ senschaftlichen Gründen Nicht-Wissenschaftler einladen, die diese Kriterien nicht erfüllen (Döring meint dagegen irrigerweise [S. 61], dass z. B. ein eingeladener Sati­ riker diesen Kriterien genügen müsse). Natürlich reicht das wissenschaftliche Niveau Thilo Sarrazins nicht an das von Peter Singer heran. Aber es kann gleichwohl wissen­ schaftliche Gründe geben, Sarrazin zu einem Vortrag an eine Universität einzuladen (übrigens auch Gründe im Rahmen der sog. Third Mission), zumal wenn der Einla­

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Staaten überträgt: Das Bard College hatte das Recht, Marc Jongen zu einem Vortrag einzuladen; Kathleen Stock hat das Recht, in Seminaren oder Vorträgen die These zu vertreten, es gebe einen biologischen Unterschied zwischen Männern und Frauen wie auch die These, Transmenschen, die sich für eine Frau halten, seien keine weiblichen (females), sondern männliche Menschen (males); John Finnis und Robert P. George haben das Recht, auch in akademischen Kontexten die These zu vertreten, homosexuelle Akte seien moralisch falsch. Daher haben Universitätsleitungen dafür Sorge zu tragen, dass ent­ sprechend ‚umstrittene‘ Personen nicht akademisch verbannt werden. Allerdings ist auch aus liberaler Sicht, anders als Jaster & Keil behaupten, mit dieser Erinnerung an die Rechtslage keineswegs »das Entscheidende« bzw. »das Wichtigste schon gesagt«8. Denn erstens können bestimmte Handlungen oder Handlungsweisen rechtmäßig sein im Sinne von Art. 5 Abs. 3 GG und dennoch kritikwürdig; es kann rechtmäßig sein, Sarrazin einzuladen und dennoch in anderen Hin­ sichten eine sehr schlechte Idee. Zweitens kann die Wissenschafts­ freiheit verletzt werden, obwohl der Verletzte sich dabei nicht auf Art. 5 Abs. 3 GG berufen kann. Die Verletzung von Art. 5 Abs. 3 GG ist nur eine hinreichende Bedingung dafür, dass jemandes Wissen­ schaftsfreiheit verletzt wird; sie ist nicht notwendig, weil es noch andere (moralische, wissenschaftslogische) Formen geben kann, die Wissenschaftsfreiheit zu verletzen. Wer ein Rektorat dazu auffordert, eine unliebsame Person wieder auszuladen, verletzt nicht unmittelbar Art. 5 Abs. 3 GG, aber er fordert dazu auf, dass jemand das Grundrecht desjenigen verletzt, der die Einladung ausspricht.9 Außerdem ist, drittens, noch zu fragen, ob bestimmte Akte akademischer Verban­

dende selbst die von Döring genannten wissenschaftlichen Kritierien erfüllt. Die Ent­ scheidung darüber, ob diese Gründe gute Gründe sind, liegt in der Hand desjenigen, der als Wissenschaftler einlädt. Es ist jedenfalls zu beachten, dass der Siegener Fall insofern ein Spezialfall ist, als dabei ein Nicht-Wissenschaftler von einem Wissen­ schaftler eingeladen wurde. Die allermeisten Fälle liegen aber anders: Wissenschaftler werden (von Wissenschaftlern) akademisch verbannt. 8 Jaster, Romy & Keil, Geert (2022), »Wer muss draußen bleiben?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band 70 Heft 3, 474–491, S. 489 f. 9 Die Grundrechte (und somit auch Art. 5 Abs. 3 GG) binden alle Staatsgewalt (siehe Art. 1 Abs. 3 GG). Damit binden sie Privatpersonen nicht unmittelbar. Die Grund­ rechte verpflichten aber in ihrer Schutzdimension den Staat zum Schutz der Freiheit. Der Staat hat deshalb durch Gesetzgebung und vollziehende Gewalt die Freiheit der Wissenschaftler vor Störungen zu schützen.

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nung als Akte rechtswidrigen, aber legitimen zivilen Ungehorsams moralisch erlaubt oder sogar geboten sein könnten (s. Kap. 3.1).

2.2. Kritik, akademische Verbannung und intellektuelle Redlichkeit Es gehört zu den Standardeinwänden gegen eine liberale Auffassung von Wissenschaftsfreiheit, dass sie berechtige Kritik mit (angebli­ chen) Verletzungen von Wissenschaftsfreiheit verwechsle. Kritik und Widerspruch seien auszuhalten und nicht als Cancel Culture zu dif­ famieren ‒ was häufig genug den wahren Zweck habe, sich gegen berechtigte Kritik vor allem marginalisierter Gruppen zu immunisie­ ren.10 Nun ist es eine der herausragenden und hart umkämpften intel­ lektuellen Errungenschaften nicht nur der Aufklärung, dass sowohl Kritik wie auch die Bereitschaft, sich auf Kritik einzulasssen, unver­ zichtbare Elemente der Wahrheitsfindung und epistemischen Legiti­ mation sind; das scheint uns heute so evident, dass zumindest in unserem Kontext eine Beweisführung nicht nötig ist. Aber Kritik ist eine Sache, Angriffe auf die Wissenschaftsfreiheit sind eine andere, und auch wenn nicht immer klar ist, wo die Grenze liegt (s. Kap. 3.2.), so ist sie doch in den Fällen, die zur Diskussion stehen, eindeutig. Wer kritisiert, nimmt mit Thesen und Argumenten an einer Debatte teil, Vgl. stellvertretend für viele Daub, Adrian (2019), »Die Legende vom Meinungs­ diktat«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.11.2019; Daub, Adrian (2021), »Wer aktuell vor Cancel Culture warnt, wird damit nicht arm«, in: Philosophie Magazin, 6.12.2021 (https://www.philomag.de/artikel/adrian-daub-wer-aktuell-vor-cancelculture-warnt-wird-damit-nicht-arm); Hornuff, Daniel (2021), »Mit Widerspruch leben lernen«, in: Deutschlandfunk Kultur, 05.03.3021, Müller, F. Julian (2021), »Cor­ don Sanitaire: Epistemische Geschlossenheit als Wagnis«, in: Wissenschaftsfreiheit im Konflikt, Elif Özmen (Hg.), Berlin (Metzler), S. 105–122 und Reutlinger, Alexander (2021), »Wissenschaftsfreiheit? Nur dem Namen nach! Ein kritischer Kommentar zum ›Netzwerk Wissenschaftsfreiheit‹«, in: Praefaktisch, 09.03.2021. Typisch ist auch die Stellungnahme »Für Freiheit in Forschung und Lehre« der Forschungsstelle für Interkulturelle Studien der Universität zu Köln (2020). Darin wird festgehalten: »Meinungsfreiheit bedeutet nicht, alles unwidersprochen sagen zu kön­ nen«. (Forschungsstelle für Interkulturelle Studien der Universität zu Köln (2020), »Für Freiheit in Forschung und Lehre. Eine Stellungnahme der Forschungsstelle für Interkulturelle Studien (FiSt) der Universität zu Köln« (https://www.hf.uni-koel n.de/data/fist/File/Stellungnahme%20final.pdf).) Gewiss, aber das bestreitet auch niemand. 10

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wer akademisch verbannt, will diese Debatte gerade verhindern; an die Stelle von Austausch und Diskurs treten Einschüchterung, Mob­ bing, Bedrohung, Bestrafung, Ausgrenzung, Existenzgefährdung. Der aus der akademischen Verbannungskultur erwachsende Versuch, die Rede einer Person auch an einer Universität effektiv zu verhindern, ist ein Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Kritik und Protest sind dagegen selbst Element und Praxis dieser Freiheit, auch wenn sie sehr scharf oder polemisch ausfallen. Wer scharf kritisiert wird, sollte in der Tat nicht jammern; aber die berechtigte Klage über akademische Verbannung wiederum darf nicht als Jammern abgetan werden. Diejenigen, die akademisch verbannen, lassen übrigens genau die Diskurstugenden und damit die intellektuelle bzw. akademische Redlichkeit vermissen, die Jaster und Keil11 einfordern. An der Uni­ versität solle nur reden dürfen, wer »intellektuell redlich« sei oder solche Redlichkeit zumindest nicht aktiv untergrabe. Intellektuelle Redlichkeit bestehe (u. a.) darin, für seine Thesen zu argumentieren und auf Gegenargumente zu reagieren, beim Thema zu bleiben, wohlwollend zu verstehen, was der andere sagt, sowie in der Bereit­ schaft, seinen Standpunkt gegebenenfalls zu modifizieren. Es sind aber typischerweise nicht die Inkriminierten, die sich dem Diskurs verweigern, sondern deren Ankläger, oder vielmehr ist ja gerade die Diskursverweigerung ein entscheidender Wesenszug akademi­ scher Verbannung. Wenn Jaster und Keil Recht haben mit ihrer These von der intellektuellen Redlichkeit, so dass eine »Einladung an die Universität nicht für Personen in Frage [kommt], die sich selbst vom akademischen Diskurs ausschließen, indem sie dessen konstitutive Normen missachten«12, dann dürften gerade diejenigen, die akademische Verbannung fordern und betreiben, nicht mehr zu Vorträgen an Universitäten eingeladen werden; denn sie sind es, die den Diskurs verweigern und damit eine urkonstitutive Norm der Wissenschaft verletzen.13 11 Vgl. Jaster, Romy & Keil, Geert (2021), »Wen sollte man nicht an die Universität einladen?«, in: Wissenschaftsfreiheit im Konflikt, Elif Özmen (Hg.), Berlin (Metzler), S. 141–159. Und Jaster & Keil (2022). 12 Jaster & Keil (2021), S. 152. 13 Döring (2021) macht mit Verweis auf Bejan (Bejan, Teresa. M. (2017), »The two clashing meanings of ›free speech‹“, in: The Atlantic, 2. 12. 2017 (https://www.theat lantic.com/politics/archive/2017/12/twoconcepts-of-freedom-of speech/ 546791/).) den Unterschied zwischen isegoria und parrhesia geltend. Aber es gibt zwischen dem Ziel der epistemischen Gerechtigkeit (grob: alle dürfen reden, insbe­

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2.3. Fälle akademischer Verbannung im deutschsprachigen Raum Ein weiterer Standardeinwand gegen die liberale Auffassung von Wissenschaftsfreiheit besteht darin, dass das Engagement gegen die sogenannte Cancel Culture insofern einem Kampf gegen Windmüh­ len ähnele, als es diese gar nicht gebe. Zumindest in Bezug auf die USA ist dieser Einwand grotesk. Gewiss muss man darüber reden, ab wann genau von einer Kultur akademischer Verbannung gesprochen werden darf, wie gravierend die Situation und was an der sog. Cancel Culture im Sinne der legitimen Begrenzung womöglich berechtigt ist (s. Kap. 3.3). Aber zu bestreiten, dass es in den USA eine akademische Verbannungskultur überhaupt gebe, ist, wenn nicht Lüge, dann doch humbug oder bullshit. Die Fakten und Zahlen, die durch Organisationen wie FIRE, die Heterodox Academy oder auch die Academic Freedom Alliance auf den Tisch gelegt werden,14 sind überwältigend klar, so wie jeder, der einmal an geisteswissenschaft­ lichen US-Departments geforscht oder gelehrt hat, weiß, was für ein Geist dort überwiegend weht. Wer Teil dieses Geistes ist, wird seine Auswüchse, wohlwollend interpretiert, nicht wahrnehmen, weil nicht die Gefahr besteht, selbst Opfer akademischer Verbannung zu werden; weniger wolhlwollend geht es darum, die Hegemonie der vorherrschenden akademischen Elite zu bewahren. Wer also wie etwa der Stanforder Literaturwissenschaftler Adrian Daub15 oder wie der Princetoner Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller16 bestreitet, dass es (in den USA) eine akademische Verbannungskultur gibt, sondere die Marginalisierten) und dem der epistemischen Offenheit (alles darf gesagt werden, was der Wahrheitsfindung dient) keinen Widerspruch; Liberale setzen sich auch und besonders für die Wissenschaftsfreiheit derjenigen Stimmen ein, die aus rassistischen, sexistischen oder anderen perfiden Gründen marginalisiert wurden (epistemisch ungerecht behandelt, vgl. Döring (2021), S. 55 f.). Aber deren Recht darf nicht gegen das derjenigen ausgespielt werden, die historisch gesehen privilegiert waren (und es vielleicht immer noch sind). Es geht um den Inhalt dessen, was gesagt wird, nicht darum, wer etwas sagt. 14 Vgl. z. B. https://www.thefire.org/research/disinvitation-database/. 15 Vgl. Daub (2019) & (2021). 16 Vgl. Müller, Jan-Werner (2020), »Die Mär von der illiberalen Linken«, in: ipgjournal (https://www.ipg-journal.de/regionen/nordamerika/artikel/die-maer -von-der-illiberalen-linken-4569/). Und Müller, Jan-Werner (2021), »Wokeness, Cancel-Culture, Political Correctness: Warum sind die Liberalen so wehleidig?« in: Neue Zürcher Zeitung, 10.04.2021.

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verabschiedet sich mit dieser Strategie polemischer Verharmlosung als ernstzunehmender Diskutant aus der Debatte.17 In Analogie: Man kann darüber streiten, ob Lockdowns und Impfungspflicht geeignete Maßnahmen gegen das Coronavirus sind; aber wer bestreitet, dass es das Virus überhaupt gibt, ist kein ernstzunehmender Diskussions­ partner mehr. Der Frankfurter Sozialphilosoph Stephan Lessenich hat wie viele vor ihm behauptet, zur Stützung der These, es gebe in Deutschland akademische Verbannung oder sogar eine Verbannungskultur, werde immer nur auf ganz wenige Fälle verwiesen.18 Er behauptete dies zu einem Zeitpunkt, als bereits wiederholt von verschiedenen Akteu­ ren nachgewiesen worden war, dass es in Deutschland keineswegs nur eine kleine Zahl weniger bekannter Fälle gibt, sondern eine recht große und zunehmend wachsende. Anders dagegen jemand wie Karsten Schubert19: Er leugnet nicht die Existenz der Cancel Culture, sondern versteht sie eben nicht als akademische Verbannung, sondern als legitime Begrenzung und zugleich als legitimes Mittel demokratischen Fortschritts. Die These, Kritiker der (angeblichen) akademischen Verbannungskultur könnten immer nur auf einige wenige Fälle verweisen, akademische Verbannung finde gar nicht oder so gut wie gar nicht statt, sondern sei ein Mythos ‒ ist selbst das:

Die Realität der akademischen Verbannungskultur zu bestreiten steht auf einer Stufe mit der These, es gäbe an amerikanischen Universitäten kein überwiegend linkes Kollegium; s. mehr dazu unten Kap. 3.3. 18 Er sagte: »Ich bestreite, dass es eine Cancel Culture gibt. Das ›Netzwerk Wis­ senschaftsfreiheit‹ und ähnliche Akteure suggerieren zwar, dass das ein großes Problem an hiesigen Universitäten sei. Aber mit meinen Erfahrungen deckt sich das keineswegs. Es werden immer wieder an zwei Händen abzählbare Ereignisse genannt, die zum Teil lange zurückliegen und als Beleg für eine Cancel Culture herhalten sollen« (Lessenich, Stephan (2021), »Ich bestreite, dass es eine Cancel Culture gibt«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.05.2021.). Ähnlich der Berliner Philosoph Robin Celikates: Er vertrat in einem Beitrag für den Deutschlandfunk Kultur (7.3.2021) die Auffassung, dass »in Deutschland die selbst ernannten Verteidiger der Wissenschaftsfreiheit ideologische Nebelkerzen werfen und vom vermeintlichen Siegeszug von Political Correctness, Cancel Culture und Identitätspolitik fabulieren«. Er gehörte zugleich zu den Unterzeichnern eines »Offenen Briefes gegen Transphobie in der Philosophie«, der sich de facto gegen Kathleen Stock richtete. 19 Vgl. Schubert, Karsten (2020), »Demokratisierung durch »Cancel Culture“. Zum Verhältnis von Kunstfreiheit und Emanzipation«, in: Verfassungsblog (https://dx.doi .org/10.17176/20201203-220333-0). 17

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ein Mythos oder genauer ein Metamythos.20 Tatsächlich gibt es eine wachsende Zahl von Fällen akademischer Verbannung, besonders auch in den letzten Jahren. Es sind mehrere Dutzend, wobei damit allein die gut dokumentierten, klaren Fälle gezählt sind; nicht einge­ rechnet sind dabei die mehr oder weniger großen Einschränkungen, die atmosphärischer Natur sind und oft in Selbstzensur münden (s. Kap. 3.3). Ich selbst habe auf solche Fälle mehrmals hingewiesen;21 ich will sie hier nicht noch einmal auflisten, sondern setze die Bekannt­ schaft mit ihnen unter Verweis auf die Dokumentation des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit voraus (auch wenn diese keineswegs vollständig ist).22 Zu diesen Fällen gehören: Versuche, Vorträge zu stören oder zu verhindern und Veranstaltungen zu verbieten; bestimmte Thesen und Themen für nicht mehr diskussionswürdig zu erklären und aus dem Diskurs auszuschließen; Forderungen, unliebsame Personen zu Vgl. Schönecker, Dieter (2021a), »Bedrohte Wissenschaftsfreiheit: Alles nur Ein­ zelfälle?«, in: Merkur, 10. Februar 2021. Ein Beitrag der Sendung »Kontraste« (14. November 2019) schließt mit dem Satz: »Das Gerede von der fehlenden Mei­ nungsfreiheit an den Hochschulen – es ist ein Mythos.« In den Naturwissenschaften gibt es dasselbe Phänomen; vgl. Farrell, Wesley S. (2022), »Cancel Culture in Science is Real«, 10.02.2022 (https://hxstem.substack.com/p/cancel-culture-in-science-isreal) contra Micheel, Mathias (2022), »The Myth of Cancel Culture in Chemistry (and Science)«, 02.02.2022 (https://gdch.app/article/the-myth-of-cancel-culture-in-ch emistry-and-science). 21 Vgl. Schönecker (2021a). Schönecker, Dieter (2021b), »Eine Vorlesung zu sprengen ist kein legitimer Wider­ spruch«, in: Deutschlandfunk Kultur, 18.3.20221. Schönecker, Dieter (2021c), »Im Namen von Wissenschaftsfreiheit. Eine Replik«, in: Praefaktisch, 24.3.2021. Schönecker, Dieter (2021d), »Auf dem akademischen Schlachtfeld der Wokeness“, in: Die Welt, 31.3.2021. Schönecker, Dieter (2021e), »Ja, es gibt die Cancel-Culture. Und nein, es handelt sich nicht um harmlose Einzelfälle. Letzteres zu behaupten, hieße sogar: zu bagatellisie­ ren«, in: Neue Zürcher Zeitung, 13.4.2021. 22 Vgl. https://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de/dokumentation/. ‒ Es fehlt z. B. der Fall Georg Meggle, Ehrenpräsident der GAP: Er wollte im Sommersemester 2021 an der Universität Salzburg ein Seminar zu Boykottstrategien – Pro & Contra geben (im Kern zum BDS); es wurde ihm wegen angeblich antisemitischer Tendenzen versagt. (Jüngst wurde Meggle auch von der GAP11 ausgeladen, weil er einen politi­ schen Appel unterschrieben hat, der weder verfassungsrechtlich noch strafrechtlich bedenklich ist.) Es fehlt auch der Fall des Philosophen Hans Jürgen Wendel: Nachdem er öffentlich gemacht hatte, der AfD beigetreten zu sein, forderte Friedrich Stadler, wie Wendel Herausgeber der Moritz Schlick Gesamtausgabe, gemeinsam mit Martin Kusch vom Institut Wiener Kreis, diese Gesamtausgabe »to reorganize« (tweet Martin Kusch, 3.5.2021). 20

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entlassen; Mittelstreichungen durch Rektoren oder Dekane; Dienst­ aufsichtsbeschwerden; massiver sozialer Druck durch Offene Briefe oder shitstorms bis hin zu Morddrohungen; die Verhinderung von Publikationsmöglichkeiten bis hin zur Zensur. Ob die klaren Fälle zusammen mit den atmosphärischen Einschränkungen es erlauben, in Deutschland von einer Kultur akademischer Verbannung zu spre­ chen, bedarf weiterer Überlegungen und empirischer Daten (s. Kap. 3.3).

3. Offene Fragen: Ziviler Ungehorsam, Hasskritik, Verbannungskultur Es sollte, so habe ich argumentiert, unstrittig sein, dass die typischen Fälle (angeblicher) akademischer Verbannung zumindest bezüglich des inhaltlich Umstrittenen die Wissenschaftsfreiheit im Sinne von Art. 5.3 GG verletzen; es sollte ferner unstrittig sein, dass Kritik essentiell, aber von akademischer Verbannung zu unterscheiden ist; und schließlich sollte unstrittig sein, dass es auch im deutschsprachi­ gen Raum eine beträchtliche Zahl von Fällen akademischer Verban­ nung gibt. Dennoch bleiben offene Fragen in Bezug auf diese drei Punkte: Kann es trotz anerkannter Rechtswidrigkeit moralische Ver­ bannung geben, die durch zivilen Ungehorsam legitimiert wird (und die dann legitime Begrenzung heißen muss)? Kann Kritik in Hass­ kritik und damit in akademische Verbannung umschlagen? Gibt es eine Kultur akademischer Verbannung?

3.1 Recht und ziviler Ungehorsam Gelegentlich wurde im Streit um die Cancel Culture argumentiert, dass es einen rechtswidrigen, aber gleichwohl legitimen (moralisch erlaubten oder gebotenen) Protest gegen bestimmte Redner und Wissenschaftler geben könnte.23 Was hier geltend gemacht werden 23 Vgl. Breitenstein, Peggy H. (2021), »Jargon der Unsachlichkeit. Kriegsmetapho­ rik im Namen der Wissenschaftsfreiheit«, in: Praefaktisch, 31.5.2021 & Reutlin­ ger (2021).

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könnte, ist ein moralisches Recht auf zivilen Ungehorsam.24 Demnach hat jemand wie Bernd Lucke zwar das juridische Recht, seine Vor­ lesung ungestört zu halten; es gebe aber zugleich das moralische Recht, dagegen auf rechtswidrige Weise zu protestieren. Als zivi­ len (zivilisierten) Ungehorsam begreife ich dabei den bewussten, öffentlich vorgenommenen (d. h. in der Täterschaft identifizierbaren), gewaltfreien Bruch eines Gesetzes oder die Verletzung eines Rechts bei grundsätzlicher Anerkennung der Rechtsordnung mit der Bereit­ schaft, dafür bestraft zu werden und mit dem Ziel, die Änderung einer bestimmten Praxis (auch) durch eine Gesetzesreform zu bewirken.25 Nun ist zunächst grundsätzlich bezweifelbar, ob es in demokra­ tischen Rechtsstaaten ein moralisches Recht auf zivilen Ungehorsam gibt. Ziviler Ungehorsam respektiert tatsächlich weder die grundsätz­ liche Unantastbarkeit und Obergewalt des Rechtsstaates noch die in demokratischen Aushandlungsprozessen gewonnene und dadurch legitimierte Praxis des Zusammenlebens, er pervertiert sogar die Rechtsstaatlichkeit, indem er die Gesetze nicht nur bricht, sondern zweckwidrig instrumentalisiert. Es ist ein Widerspruch, einerseits den liberalen und demokratischen Rechtsstaat, der vielfältige Möglichkei­ ten zur politischen Partzipation und Regeländerung erlaubt, anzuer­ kennen, ihm aber dann durch Handlungen, die nicht nur als solche rechtswidrig, sondern ihrem Wesen nach so sind, dass sie die Regeln der politischen Partizipation aufheben, eben diese Anerkenntnis zu verweigern. ‒ Aber all das ist ein weites Feld. Selbst wenn man also for the sake of the argument davon ausgeht, dass ziviler Ungehorsam grundsätzlich moralisch erlaubt ist, erscheint es sehr fragwürdig, ob Ein Recht auf Widerstand im grundgesetzlichen Sinne (Art. 20) kann hier klarer­ weise nicht herangezogen werden. Ich setze ebenfalls außer Acht, ob es in diesem Kontext (Wissenschaftsfreiheit) Formen eines unmittelbar gewaltsamen Protestes geben könnte, die als nicht-ziviler Ungehorsam bis hin zum Terror erlaubt sein könn­ ten. Diese Frage selbst wiederum zu diskutieren – sehr grob: kann Terrorismus mora­ lisch erlaubt sein? ‒ fällt m. E. unter das Recht auf Wissenschaftsfreiheit. 25 Vgl. zum Überblick Delmas, Candice & Kimberley Brwonlee (2021), »Civil Dis­ obedience«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Winter 2021 Edition), Edward N. Zalta (Hg.) (https://plato.stanford.edu/archives/win2021/entries/civildisobedience/). Sowie: Madsen, Tine H (2021), »Are Dissenters Epistemically Arrog­ ant?«, in: Criminal Law and Philosophy, vol. 15, S. 1–23, S. 3–5). ‒ Ob dieses angeb­ liche moralische Recht auch ein juridisches sei, selbst wenn ziviler Ungehorsam als solcher nicht rechtswidrig ist, ist eine Frage, die ich hier außen vor lasse, da sie fall­ unabhängig ‒ also unabhängig von der spezifischen Rechtsverletzung, die damit ein­ hergeht ‒ kaum beantwortet werden kann und jedenfalls umstritten ist. 24

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er auch dann praktiziert werden darf, wenn er sich als direkter ziviler Ungehorsam unmittelbar gegen die konkrete Inanspruchnahme eines Grundrechts wie das der Wissenschaftsfreiheit wendet.26 Nun wird man einwenden, dass von einer Verletzung der Wissenschaftsfreiheit durch zivilen Ungehorsam aber nur dann die Rede sein könne, wenn die Person, gegen die sich der zivile Ungehorsam richtet, sich selbst innerhalb der (u.a.) moralischen Grenzen der Wissenschaftsfreiheit bewegt.27 Ein (angeblich) homophober Wissenschaftler wie Robert P. George etwa verletze durch seine Homophobie diese Grenzen, verwirke also auch sein moralisches Recht auf Wissenschaftsfreiheit, so dass ziviler Ungehorsam gegen ihn erlaubt sei; dieser sei eine legitime, wenn auch rechtswidrige Begrenzung, keine akademische Verbannung. Aber diese Überlegung hat Schwächen, die zugleich die faule Wurzel akademischer Verbannung ans Licht bringen ‒ die epistemische Arroganz ihrer Advokaten. Darunter verstehe ich den Hang eines Subjekts, die eigene Meinung bezüglich einer de facto umstrittenen und mit gegenläufigen Evidenzen verknüpften Sachfrage mit einem hohen Grad an subjektiver Gewissheit zu hegen, verbunden mit der Überzeugung, es besser zu wissen als andere Sub­ jekte, die eine andere Meinung haben ‒ eine Gewissheit und Über­ zeugung, welche die Bereitschaft schmälern oder verhindern, andere Meinungen als diskussionswürdig anzuerkennen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Epistemische Arroganz erfordert also nicht nur eine hohes Maß an subjektiver Gewissheit bis hin zur Annahme der eigenen Infallibilität; sie verlangt zudem den Bezug auf einen umstrittenen Sachverhalt und eine bestimmte exklusive Haltung.28 Die in Anspruch genommene Infallibilität eines amtierenden Papstes bezüglich mancher Überzeugungen ist nicht zwingend Ausdruck von Indirekt sind dagegen Formen des zivilen Ungehorsams, die als solche mit dem Zweck des Ungehorsams nichts zu tun haben (etwa eine Straße zu blockieren, um gegen Lebensmittelverschwendung zu demonstrieren). 27 Ob die Wissenschaftsfreiheit eines rassistischen Mathematikers, der sich in For­ schung und Lehre jedes Rassismus enthält, beschränkt werden darf, ist nicht ohne zusätzliche Überlegungen klar. Unklar scheint mir auch, ob sexuelles Verhalten, das (möglicherweise) verwerflich ist, akademische Begrenzung rechtfertigt (man denke an die Fälle Thomas Pogge und John Searle). 28 Madsen (2021) verteidigt dagegen (mit besonderem Bezug auf zivilen Ungehor­ sam) die These, dass das, was sie ‚inflating the epistemic worth of one’s view‘ nennt, hinreichend sei für epistemische Arroganz (vgl. ebd. S. 10–13); in diesem Zusam­ menhang findet sich auch eine Diskussion der neueren Literatur zum Begriff der epis­ temischen Arroganz. 26

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Arroganz, so wenig wie die felsenfeste Überzeugung, dass 2+2 = 4 als solche arrogant wäre oder die Überzeugung, dass es letztbegründete Wahrheiten gibt.29 Ein Beispiel: Wer die körperliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung besonders von Frauen und damit das auch juridische Recht auf Abtreibung für ein Menschenrecht hält, der wird jenen, die Abtreibung für so eklatant falsch halten, dass sie durch zivilen Ungehorsam dagegen protestieren (indem sie etwa versuchen, Philosophen, die für ein Abtreibungsrecht argumentieren, bei Vorträgen zu stören),30 typischerweise das Recht auf solchen Ungehorsam gegen ein gesetzlich kodifiziertes Abtreibungsrecht absprechen. Abtreibungsgegner hingegen werden argumentieren, dass Frauen zwar ein Recht auf Selbstbestimmung haben, dieses aber seine moralische Grenze darin finde, dass die Rechte eines anderen (und seien es auch diejenigen eines ungeborenen) Menschen gravie­ rend verletzt werden. Sie werden also genau so argumentieren wie diejenigen, die ihre Akte zivilen Ungehorsams gegen einen universi­ tären Redner wie George dadurch zu legitimieren versuchen, dass dieser zwar ein Recht auf Wissenschaftsfreiheit habe, dieses aber seine moralische Grenze darin finde, dass die Rechte anderer, sc. homose­ xueller Menschen, gravierend verletzt würden. Was dabei jeweils vorausgesetzt wird, ist die völlige Gewissheit über die Richtigkeit in der Begriffsbildung und Subsumtion: Abtreibungsgegner meinen mit Gewissheit zu wissen, was ein Mensch ist (Begriffsbildung), und dass menschliche Embryonen und Föten Menschen sind (Subsumtion). Kritiker von Homophobie meinen mit Gewissheit zu wissen, was Homophobie konstituiert (Begriffsbildung) und wann eine Position Die in Anspruch genommene Infallibilität des Papstes ist insofern ein schwieriger Fall, als sie innerhalb der katholischen Kirche ja durchaus exklusiven Charakter hat: Wenn der Papst ex cathedra etwas bestimmt und erklärt, dann gelten abweichende Überzeugungen damit als häretisch (freilich greifen freiheitsbeschränkende Maßnah­ men des katholischen Lehramts auch diesseits der Unfehlbarkeit). Vertreter einer Philosophie der Letztbegründung (Apel, Kuhlmann, Hösle) sind nicht dadurch in Erscheinung getreten, abweichende Auffassungen etwa dazu, ob es letztbegründende Wahrheiten gibt, in ihrer Wissenschaftsfreiheit zu beschränken; vgl. dazu Ossa, Miriam & Schönecker, Dieter (2004), »Ist keine Aussage sicher? Eine Rekonstruktion und Kritik der deutschen Fallibilismusdebatte«, in: Zeitschrift für philosophische For­ schung, vol. 58, No. 1, S. 54–79. 30 Die umgekehrte Situation lässt sich in einem neueren Fall belegen: Der AStA der Uni Münster und die Vereinigung »Kritische Mediziner*innen« forderte 2021, dem Mediziner Paul Cullen die außerplanmäßige Professur zu entziehen; begründet wurde das u. a. mit seinem Engagement gegen Abtreibung. 29

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oder Handlungsweise homophob ist (Subsumtion). Aber sie alle ignorieren dabei, dass sowohl diese Begriffsbildungen wie auch die damit verbundenen Subsumtionen nicht nur gesellschaftlich, son­ dern auch wissenschaftlich (hier: philosophisch) umstritten sind. Es muss dabei nicht (primär) darüber gestritten werden, ob die Tötung unschuldiger Menschen oder Homophobie erlaubt sind; sie sind es nicht. Aber es herrscht keine Einigkeit darüber, was oder wer genau als »Mensch« oder als »homophob« zu gelten hat und wer oder was genau unter diese Begriffe fällt. Mills Fallibilismus in On liberty mahnt zur epistemischen Bescheidenheit, die ja gerade auch bei ihm politischen Niederschlag findet. Epistemische Bescheidenheit und die von ihr unterstützte Einsicht, dass andere vernünftige, wohlmeinende Menschen andere Auffassungen haben können als man selbst, erfor­ dert die für eine liberale und pluralistische Gesellschaft notwendige Toleranz, die von zivilem Ungehorsam symbolisch missachtet und real zerstört wird.31 31 Es stimmt zwar, dass, wer epistemisch unbescheiden ist, nicht zwingend ein illi­ berales Verständnis von Wissenschaftsfreiheit an den Tag legen muss, aber der Mangel an epistemischer Unbescheidenheit fördert den Hang zur Intoleranz; zur epistemi­ schen Bescheidenheit vor dem Hintergrund des Fallibilismus vgl. auch Keil, Geert (2019), Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit, Ditzin­ gen (Reclam). Keil spricht von ‚intellektueller Demut‘. ‒ Der Hang zur epistemischen Arroganz zeigt sich m. E. auch bei Horn (siehe: Horn, Christoph (2021), »Meinungs­ freiheit und ihre Grenzen: Eine Auseinandersetzung in Zeiten des Rechtspopulis­ mus«, in: Wissenschaftsfreiheit im Konflikt, Elif Özmen (Hg.), Berlin (Metzler), S. 94 – 104). Er vermag »akademisch diskutierbare, potentiell wahrheitsfähige Überzeu­ gungen« (ebd. S. 97) etwa zum Thema Migration bei den ‚neuen Rechten‘ überhaupt nicht zu erkennen; deren Vertreter dürfe man daher auch nicht an eine Universität einladen. (Ähnlich Michael P. Lynch in seinem Aufsatz über epistemische Arroganz und politischen Einspruch: Ausnahmslos alle Beispiele für ›dissent‹ kommen aus einer bestimmten poitischen Richtung: Black Live Matters, Anti-Trump, Migration, usw. Siehe: Lynch, Michael Patrick (2018), »Epistemic Arrogance and the Value of Political Dissent«, in: Voicing Dissent: The Ethics and Epistemology of Making Disagreement Public Rebecca Johnson (Ed.), New York (Routledge), S. 129–140.) Den Gedanken, dass andere umgekehrt ‚akademisch diskutierbare, potentiell wahrheitsfähige Über­ zeugungen‘ bei den neuen Linken (oder Vertretern der Gender Studies usw.) nicht zu erkennen vermögen, nimmt Horn nicht in den Blick ebenso wenig wie die Tatsache, dass zumindest manche Philosophen die ‚Überzeugungen‘ zumindest mancher Ver­ treter der ‚neuen Rechten‘ zumindest insofern anders einschätzen, als sie sie für dis­ kussionswürdig halten. Das scheint mir exakt das Problem zu sein: Niemand bestrei­ tet, dass es Grenzen der Wissenschaftsfreiheit gibt; aber sie werden viel zu früh und eng gezogen. Der Grund für diese frappierende Intoleranz mag darin liegen, dass Horn das Prinzip eines ›epistemischem Pluralismus‹ im Widerspruch sieht zum Toleranz­

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Der Hang zur epistemischen Arroganz hat zudem seit einiger Zeit ein Vehikel gefunden, das ihn noch gefährlicher macht, den soge­ nannten concept creep. Mit diesem ursprünglich aus der Psychologie stammenden Begriff32 lässt sich das Phänomen beschreiben, dass sowohl horizontal immer mehr Handlungen als kritikwürdig erfasst werden (was aber, wie gezeigt, nicht zwingend problematisch ist) wie auch vertikal die Begriffe (Rassismus, Sexismus, Ableismus, Homo­ phobie) selbst inflationär aufgebläht werden, sodass ihr Umfang immer größer wird; gefährlich ist dies deshalb, weil die epistemische Arroganz dadurch ihr Feld erweitert, auf der sie wirksam werden kann. Ein Paradebeispiel ist der Begriff und Vorwurf des Rassismus: Während damit ursprünglich der biologische Rassismus gemeint war, wird nun Rassismus kulturell definiert, bis hin zum »Rassismus ohne Rassen«. Mit gutem Grund spricht daher der Verfassungsrechtler Ingo von Münch33 von der »Rassismuskeule«; für rassistisch wird es ja bereits gehalten, überhaupt auch nur die Existenz menschlicher Rassen für möglich zu halten, obwohl die These, es gebe menschliche Rassen, evidenterweise nicht Rassismus impliziert.34 Es gibt gewiss Grenzen dessen, was man noch für erträglich halten kann. Wer sich aber im Rechtsstaat durch zivilen Ungehorsam selbst leichtfertig zum Richter aufschwingt, der riskiert eben diesen Rechtsstaat. Ziviler Ungehorsam an der Universität ist die Einladung zum akademischen Bürgerkrieg. Wer das für übertrieben hält, blicke in die USA.

begriff: Wer (wie A) konzediere, dass der andere (B) recht haben könnte, könne B gar nicht tolerieren, »denn dann läge ja bei A eine kognitive Unsicherheit vor, die mit Toleranz unvereinbar ist. Toleranz setzt doch gerade voraus, dass sich A der Richtigkeit seiner Position und der Falschheit von Bs Haltung sicher ist, aber diese Verfehltheit hinnimmt« (Horn 2021, 101 f.). Aber es gibt Grade der epistemischen ‚Sicherheit‘. Nur der Infallibilismus verlangt Sicherheit im Hornschen Sinne; vom Infallibilismus zur zumindest praktischen Illiberalität ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. 32 Vgl. mit erweitertem Horizont Haidt, Jonathan (2016), »Why Concepts Creep to the Left«, in: Psychological Inquiry, vol. 27, no. 1, S. 40–45 (https://doi.org/10.108 0/1047840X.2016.1115713). 33 Münch, Ingo von (2017), Meinungsfreiheit gegen Political Correctness, Berlin (Duncker & Humblot), S. 78. 34 Man kann konsistent die Position vertreten, (i) dass es menschliche Rassen gibt, und (ii) dass diese Rassen bzw. deren Mitglieder in allen wesentlichen menschlichen Eigenschaften und insbesondere moralisch absolut gleich und gleichwertig sind. Vgl. ausführlich Schönecker (2020).

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3.2 Kritik, Schmähkritik, Hasskritik Eine moralische und vielleicht auch eigens juridisch zu kodifizierende Grenze der Redefreiheit kann die Hassrede (hate speech) sein. Analog dazu scheint es erwägenswert, ob es nicht auch Formen der Kritik geben könnte, die man als Schmähkritik oder eben sogar Hasskritik klassifizieren müsste und die als solche akademische Verbannung konstituieren würden, weil sie als eine Weise sozialer Tyrannei (Mill) insbesondere bei nicht unbefristeten WissenschaftlerInnen Einschüchterungseffekte35 (sog. chilling effects) auslösen könnten. In der Konsequenz würde die Wissenschaftsfreiheit durch indirekte Aufforderung zur Selbstzensur eingeschränkt. Nun hat das Bundesverfassungsgericht an die Klassifikation einer Kritik als Schmähkritik wiederholt sehr anspruchsvolle Bedin­ gungen geknüpft (auch wenn »Schmähkritik« selbst ein unbestimm­ ter Rechtsbegriff ist). So heißt es etwa im Beschluß des Ersten Senats vom 26. Juni 1990: »Eine Meinungsäußerung wird nicht schon wegen ihrer herabsetzenden Wirkung für Dritte zur Schmähung. Auch eine überzogene und selbst eine ausfällige Kritik macht für sich genommen eine Äußerung noch nicht zur Schmähung. Eine herabsetzende Äuße­ rung nimmt vielmehr erst dann den Charakter der Schmähung an, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der Herabsetzung der Person bestehen«.36 Und erst 2019 gab es wieder einen Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats, der beweist, dass das BVerfGE im Zweifel für die Meinungsfreiheit plädiert.37 Zwar ist die Meinungs­ freiheit natürlich von der Wissenschaftsfreiheit zu unterscheiden.38 Diesen Ausdruck nutzt etwa das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Großen Lauschangriff 2004 (BVerfGE 109, 279); vgl. Assion, Simon (2014), »Was sagt die Rechtsprechung zu Chilling Effects?«. In: telemedicus, 09.05.2014 (https:// www.telemedicus.info/was-sagt-die-rechtsprechung-zu-chilling-effects/). Zur Rolle von Gefühlen dabei vgl. Döring (2021), 57 f. 36 BVerfGE 82, 272. 37 Die Kammer wertete den Vorwurf eines Klägers gegen eine Richterin, deren Ver­ handlungsführung erinnere »stark an einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten« nicht als Schmähkritik, da daran »strenge Maßstäbe« anzuwenden seien und die Kritik einen sachlichen Bezug habe (1 BvR 2433/17 -, Rn. 1–23). 38 Auch wenn Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit zusammenhängen und »Meinungsfreiheit« faktisch ein als Hyperonym genutzter Begriff für alle Freiheiten 35

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Aber so wie im Zweifel die Meinungsfreiheit höher zu bewerten ist als der Ehrenschutz, so wäre im Zweifel die Wissenschaftsfreiheit derjenigen, deren wissenschaftliche Kritik im Verdacht stehen könnte, wissenschaftliche Schmähkritik oder gar Hasskritik zu sein, höher zu bewerten als der Ehrenschutz derjenigen, die kritisiert werden, auch wenn die Kritik faktisch geeignet ist, andere Menschen wiederum in deren Wissenschaftsfreiheit zu beschränken. Wie bei den realen Fäl­ len, über die die Gerichte entschieden haben, hängt alles vom Einzel­ fall ab. Gewiss kann man Morddrohungen gegen Eingeladene oder Einladende nicht mehr unter »Kritik« subsumieren, auch wenn ihnen ein Sachbezug zugrundeliegt. Und wer als Rassist, Sexist, als islamo­ phob usw. bezeichnet wird, soll dadurch in der Regel moralisch aus der scientific community ausgestoßen werden, so wie diejenigen, denen vorgeworfen wird, Verschwörungstheorien zu verbreiten, wis­ senschaftslogisch als Scharlatane disqualifiziert werden sollen (wenn­ gleich das zugrundeliegende Motiv für den Vorwurf, eine Position sei verschwörungstheoretisch, wiederum moralisch motiviert sein kann).39 Es scheint mir unmöglich zu sein, auf eine allgemeine Weise bestimmen zu wollen, was man aushalten können muss und was nicht, da sehr viele Faktoren eine Rolle spielen: die individuelle Resilienz, das Alter, die berufliche Position usw. Aber vor dem Hintergrund der ständigen Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit liegt es auf der Hand, dass juridisch gesehen der Vorwurf der wissenschaftlichen Schmäh­ kritik nur schwer zu erbringen sein wird. Und da in diesem Punkt der Unterschied zwischen juridischen und moralischen Grenzen keine Rolle spielt, zieht auch nicht das Argument, bestimmte Formen der Kritik konstituierten zwar vielleicht juridisch gesehen keine Schmäh­ kritik, es gehöre aber zu den Tugenden akademischer Redlichkeit, Kritik so vorzutragen, dass sie nicht zur akademischen Verbannung beitrage. Der Vorwurf etwa, jemand sei Rassist, ist auszuhalten, ist, wie sie in Art. 5 GG entfaltet werden (vgl. von der Decken (2018, S. 334), ist der Unterschied evident: Meinungsfreiheit ist quantitativ und qualitativ viel umfassender. Sahra Wagenknecht hat das Recht, ihre Meinungen frei zu äußern, aber sie hat selbst­ redend nicht das Recht, einen Vortrag an einer Universität zu halten; nicht minder selbstverständlich ist es das Recht eines Wissenschaftlers, sie zu einem Vortrag an eine Universität einzuladen. 39 Ich erinnere an die Reaktionen auf die These Roland Wiesendangers, das Coro­ naviraus entstamme einem Labor, eine These, die sich dann als durchaus plausibel erwiesen hat; ihm wurde »antiasiatischer Rassismus“ vorgeworfen. Das Urteil des Landgerichts Hamburg vom Mai 2022 ändert daran nichts; Wiesendanger darf Drosten nur nicht die Täuschung der Öffentlichkeit vorwerfen.

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solange diese Kritik mit Gründen vorgetragen wird. Der Vergleich mit der Schmähkritik in Sachen Meinungsfreiheit legt also nahe, dass eine liberale Auslegung des (auch moralischen) Rechts zur Kritik geboten ist; anderfalls untergrübe man das, was doch geschützt werden soll – die Wissenschaftsfreiheit, die eben auch die Freiheit zu scharfer und polemischer Kritik ist.

3.3. Gibt es eine Kultur akademischer Verbannung? Wie wäre eine Kultur akademischer Verbannung zu beschreiben, wenn sie denn tatsächlich existiert?40 Es gibt (i) eine hinreichend große Gruppe akademisch sozialisierter Menschen, die sich durch (ii) gemeinsame, identitätsstiftende moralisch-politische Überzeugun­ gen und Praxen ausszeichnet, die (iii) tradiert werden und aus der heraus (iv) hinreichend viele Handlungen akademischer Verbannung ausgeführt werden. Man könnte statt von einer »Kultur« auch von einem »Klima« akademischer Verbannung sprechen, so wie man etwa von einem »Klima der Angst« (Kinzelbach & Spannagel 2021, 38) spricht. Dieser Begriff des Klimas scheint mir aber nicht gut geeignet, einen wesentlichen Aspekt der Kultur akademischer Verbannung zu erfassen: Das, um was es geht, ist nicht von außen herangetragen, sondern von innen und selbst erzeugt, und es wird tradiert – das Klima ist als cultura eben angebaut, gepflegt, ausgebildet. Betrachten wir das nun genauer, wenn hier auch nur eine grobe Skizze gezeichnet werden kann. Ad (i) Von einer akademischen Verbannungskultur sollte man nur dann sprechen, wenn es hinreichend viele Fälle gibt, die als Wir­ kungen der Kultur messbar sind, und zweitens eine hinreichend große Zahl derer, die solche Wirkungen hervorbringen. Dabei liegt es m. E. auf der Hand, dass die Suche nach einer exakt quantifizierbaren Größe so hoffnungslos ist wie die Bestimmung der Zahl von Sandkörnern, die einen Haufen konstituieren. 40 Für einen Überblick zum Kulturbegriff vgl. May, Sarah (2020), »Kultur«, in: Kul­ turtheoretisch argumentieren. Ein Arbeitsbuch, Timo Heimerdinger & Markus Tau­ schek (Hg.), Münster/New York (utb), S. 237–270. Sie betont, dass »Kultur« ein Begriff ist, für den es keine allgemeine und allgemeingültige Definition gibt (a.a.O., 237, 241).

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Ad (ii) Die Frage, ob die Gruppe groß genug ist, hängt auch davon ab, was ihre Merkmale sind. Die sehr große Zahl von öffentlichen Fällen akademischer Verbannung in den USA belegt, dass die sie her­ vorbringenden Akteure in moralisch-politischer Perspektive über­ wiegend dem, klassisch gesprochen, linken und links-liberalen und insbesondere dem identitätspolitischen Spektrum zugeordnet werden können: Wenn Menschen legitim begrenzt oder akademisch verbannt werden, dann ganz überwiegend deshalb, weil sie aus Sicht der Akteure rassistisch, sexistisch, homophob usw. sind.41 Dabei ist es ist eine typische Einstellung solcher Akteure, ihre Hegemonie an Uni­ versitäten oder jedenfalls einigen ihrer Fakultäten zu leugnen.42 Die Zahlen sprechen aber ein anderes Bild. Die Studie von Langbert und Stevens43 über die Situation in den USA kommt zu dem Ergebnis, dass das Verhältnis registrierter Demokraten zu registrierten Republika­ nern an acht ausgewählten Typen von (auch naturwissenschaftlichen) Departments 8,5:1 beträgt. An den geisteswissenschaftlichen Depart­ ments ist das Verhältnis noch viel unausgewogener: Anthropologie 41 Ich betone ausdrücklich, dass akademische Verbannung in den USA und auch in Deutschland gegenwärtig zwar ganz überwiegend von linken bzw. identitätspoli­ tischen Akteuren betrieben wird, sie aber weder auf solche Akteure beschränkt ist und in der zahlenmäßigen Gewichtung zukünftig auch nicht beschränkt sein muss. Epistemische Arroganz und die damit verbundene Illiberalität findet sich grundsätz­ lich genauso bei rechten Akteuren; wären diese unter Forschenden und Studierenden stärker vertreten, gäbe es auch aus diesem moralisch-politischen Spektrum mehr Fälle akademischer Verbanung zu verzeichnen. 42 Vgl. etwa die Stellungnahme von Elif Özmen: »Die These, dass die Intelligenzia im Ganzen und die Universitäten im Besonderen Horte der »linken pc-Meinungsdik­ tatur« wären, ist nicht nur empirisch falsch, sondern bedient einen Mythos, der seit den 1990er Jahren von konservativen bis hin zu rechtsextremistischen Bewegungen verbreitet wird« (Özmen in: Carrier, Martin/ Maria Kronfeldner/ Sibylla Lotter & Elif Özmen (2019), »Ausgrenzung oder Diskurs? Stellungnahmen von Martin Carrier, Maria Kronfeldner, Maria Sibylla Lotter und Elif Özmen zu Fragen des Umgangs mit extremen Positionen«, in: Information Philosophie 2019, NO. 4, S. 36–47, S. 44). Dagegen stellt der Historiker Niall Ferguson fest: »Ich muss es so direkt wie simpel sagen: Die Linken haben die Macht [an den Universitäten] übernommen« (Ferguson, Niall (2019), »Interview«, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.03.2019). Vgl. Petersen, Thomas (2020), »Forschungsfreiheit an deutschen Universitäten. Ergebnisse einer Umfrage unter Hochschullehrern«, in: Akademie der Konrad-Ade­ nauer Stiftung, Berlin, 12.02.2020. 43 Langbert, Mitchell & Stevens, Sean (2020), »Partisan Registration and Con­ tributions of Faculty in: Flagship Colleges« in: National Association of Scholars, Jan. 2020 (https://www.nas.org/blogs/article/partisan-registration-and-contribu­ tions-of-faculty-in-flagship-colleges).

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42,2:1, Englisch 26,8:1, Soziologie 27:1. Julian Müller (2021) verweist auf eine Studie von Peters et al. (2020) in Philosophical Psychology, die bezüglich der Situation in der Philosophie zu folgendem Ergebnis kommt: »Using the familiar distinction between the political left and right, we surveyed an international sample of 794 subjects in philos­ ophy. We found that survey participants clearly leaned left (75 %), while right-leaning individuals (14 %) and moderates (11 %) were underrepresented«44. Zahlen über die Situation in Deutschland liegen m. W. nicht vor; zumindest für die geistes- oder kulturwissenschaft­ lichen Fakultäten zeigt aber alle Erfahrung, dass es sich ähnlich ver­ hält. Ad (iii) Dass die identitäspolitische oder linke Verbannungskul­ tur tradiert und gebildet wird, belegt auch die Studie von Revers & Traunmüller45. So meinten 30 % der befragten Studierenden, ein Redner dürfe auf dem Campus nicht sprechen, wenn er die These ver­ träte, der Islam sei mit dem Westen unvereinbar. 54 % dachten eben dies bezüglich der These, Homosexualität sei unmoralisch; 83 % mein­ ten, wer diese These vertrete, dürfe nicht an der Universität lehren. 64 % sind der Auffassung, wer die These vertrete, es gebe biologische Unterschiede in den Talenten zwischen Männern und Frauen, dürfte nicht an der Uni lehren. Es gibt auch Hinweise auf Konformitäts­ druck: Ein Viertel der befragten Studierenden gibt an, für eine von ihnen gemachte Äußerung bereits persönlich attackiert worden zu sein; ein Drittel berichtet, dass sie es lieber vermeiden, in einer Semi­ nardiskussion ihre ehrlichen Ansichten zu teilen. Dabei korreliert der Wunsch, die Redefreiheit einzuschränken, mit der politischen Ein­ stellung: Studierende, die sich politisch als links beschreiben, sind weniger bereit, sogenannte »umstrittene« Standpunkte zu Themen wie Gender, Einwanderung oder sexuellen und ethnischen Minder­ heiten zu tolerieren.46 44 Peters, Uwe/ Honeycutt, Nathan/ Block, Andreas de & Jussim, Lee (2020), »Ideological diversity,hostility, and discrimination in philosophy«, in: Philo­ sophical Psychology, vol. 33, no. 4, S. 511–548., zit. nach. Müller (2021), S. 120. 45 Revers, Matthias und Richard Traunmüller (2020), »Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, vol. 72, no.3, S. 471 – 497. 46 Die Studie wird kontrovers diskutiert; vgl. auch Villa, Paula-Irene/ Richard Traun­ müller & Matthias Revers (2021), »Lässt sich ‚Cancel Culture‘ empirisch belegen? Impulse für eine pluralistische Fachdebatte«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, vol. 71, no. 46, S. 26–33, S. 28; vgl. auch den »Campus Express Survey« zur Situation an

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Ad (iv) Selbst wenn es eine linke Mehrheit an deutschen Uni­ versitäten gibt, muss dies noch nicht beweisen, dass es auch eine Kul­ tur akademischer Verbannung gibt (wobei man umgekehrt von einer »Kultur« auch dann sprechen könnte, wenn es diese linke Mehrheit nicht gäbe). So verweist Özmen in ihrem Aufsatz auf eine Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie von 2020,47 derzufolge 93 % der befragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Ansicht sind, in Deutschland gebe es »sehr viel« oder »viel« Wissen­ schaftsfreiheit. Die »Debatte um die Verletzung akademischer Frei­ heiten«, so schreibt sie, »scheint nicht recht zu diesen Zahlen zu pas­ sen«.48 Nun gibt es, wie bemerkt, hierzulande mehrere Dutzend dokumentierte Fälle akademischer Verbannung. Ob diese alleine aus­ reichen würden, von einer Kultur akademischer Verbannung zu spre­ chen, ist aufgrund der Vagheit des hier verwendeten Kulturbegriffs so unklar wie es unklar wäre, ob mehrere Dutzend Fälle rassistischer Diskriminierung durch Polizisten es rechtfertigen würden, von einem strukturellen Rassismus bei der Polizei zu sprechen. Wichtig ist aber, dass man jene Fälle akademischer Verbannung als Spitze eines Eis­ bergs verstehen muss; mehr oder weniger unsichtbar darunter gibt es eine Vielzahl kleinerer, kaum wahrgenommener Begebenheiten sowie Einstellungen, die als Dispositionen, so ist zu befürchten, zumindest den Beginn einer Kultur akademischer Verbannung anzei­ gen. So vernachlässigt Özmen bei ihrer Erwähnung der Umfrage des Allensbach-Institutes, dass dieser Studie zufolge 53 % der Befragten zugleich der Auffassung sind, an einer Universität solle der Klima­ wandel nicht bestritten werden dürfen und weitere 25 % meinen, es solle ebenfalls nicht erlaubt sein, den Gebrauch einer gendergerechten Sprache zu verweigern; nur 22 % sind der Auffassung, dass Rassefor­ schung erlaubt sein sollte, nur 23 % meinen, der Islam als Religion US-amerikanischen Hochschulen (Heterodox Academy, CES-Report, 2022 (https:// heterodoxacademy.org/wp-content/uploads/2022/02/CES-Report-2022-FINAL .pdf).). 47 Vgl. Petersen(2020). Zu den begrifflichen und methodischen Schwierigkeiten empirischer Studien vgl. Villa & Traunmüller & Revers (2021) sowie für den inter­ nationalen Vergleich: Kinzelbach, Katrin & Spannagel, Janika (2021), »Die Vermes­ sung von Wissenschaftsfreiheit«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, vol. 71, no. 46, S. 34–42. 48 Özmen, Elif (2021), »Epistemische Offenheit als Wagnis. Über Wissenschafts­ freiheit und Wissenschaftsethos in der Demokratie“, in: Wissenschaftsfreiheit im Kon­ flikt, Berlin/ Heidelberg (Springer), S. 29 – 47, S. 30.

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dürfe abgelehnt werden.49 Offenkundig ist also eine große Zahl der Befragten der Auffassung, es widerspreche gar nicht der Wissen­ schaftsfreiheit, niemanden an einer Universität reden zu lassen, der den Klimawandel bestreitet, das Gendern verweigert oder Rassenfor­ schung betreiben will.50 Wer solche Einstellungen aber als Ausdruck epistemischer Arroganz versteht, aus der z. B. Versuche erwachsen, Vorträge zu verhindern, in denen der Klimawandel bestritten oder Rasseforschung betrieben wird, der wird sie mit großer Sorge sehen und als Beleg dafür, dass hier eine Gefahr für die Wissenschaftsfrei­ heit besteht oder jedenfalls droht. Zu solchen Einstellungen passt, dass nur 21 % der Befragten glauben, dass man mit der Einladung eines Linkspopulisten auf »erheblichen Widerstand« stoßen würde, während immerhin 67 % glauben, dass man mit der Einladung eines Rechtspopulisten mit solchem Widerstand rechnen müsste. Und zu solchen Befunden passt auch, dass die oben zitierte Studie von Peters et al. folgendes Ergebnis fand: »[…] Finally, while about half of the subjects believed that discrimination against left or right-leaning individuals in the field is not justified, a significant minority displayed an explicit willingness to discriminate against colleagues with the opposite ideology«51Auch wenn es nur eine »minority« ist – Minder­ heiten haben und bilden Kulturen (wie man an Teilen des wissen­ schaftlichen Nachwuchses erkennen kann).52 49 In der Stellungnahme »Für Freiheit in Forschung und Lehre« der Forschungsstelle für Interkulturelle Studien der Universität zu Köln (2020) wird schon die Aussage »Das Kopftuch ist ein Zeichen für Unterdrückung« für diskriminierend und menschenver­ achtend gehalten. ‒ 2020 (bzw. 2019) gaben 13 % an, Political Correctness »verhin­ dere es, dass man bestimmten Forschungsfragen nachgehen kann«, 2021 waren es 18 % (s. Peterson 2020, 2021). In meinen Augen steht dieser Befund im Widerspruch zu dem Ergebnis, dass 93 % der befragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Ansicht sind, in Deutschland gebe es »sehr viel« oder »viel« Wissenschaftsfreiheit. 50 Es ist selbstverständlich das Recht jedes Bürgers als Bürgers, den Klimawandel zu bestreiten; dies liegt in der Natur des Rechts auf Meinungsfreiheit, auch wenn sich zunehmend Stimmen finden, die der irrigen Meinung sind, nur rationale oder gar wahre Meinungen fielen unter den Schutz der Meinungsfreiheit. 51 zit. bei Müller (2021), 120 f. 52 Im neuesten Academic Freedom Index (Kinzelbach, Katrin et al. (2022), Academic Freedom Index. Update 2022 (https://www.pol.phil.fau.de/files/2022/03/afi-updat e-2022.pdf)) wird zwar zu Recht hervorgehoben, dass Deutschland im internationalen Vergleich sehr gut abschneidet. Es ist aber zu beachten, dass durch die ausschießli­ che Berücksichtigung externer Kräfte, die versuchen, die Wissenschaftsfreiheit zu beschneiden, entsprechende Versuche aus dem Inneren der Universität heraus, wie sie typisch sind für die akademische Verbannung, gar nicht erfasst werden.

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Akademische Verbannung. Auch ein Zwischenbericht

Einstellungen sind eine Sache, öffentlich wahrgenommene und eindeutige (harte) Fälle akademischer Verbannung eine andere. Dazwischen liegen weiche Formen akademischer Verbannung, die weder durch Art. 5.3 erfasst werden noch als spezifische Fälle (immer) an die Öffentlichkeit gelangen, und sei es deshalb, weil sie überhaupt gar nicht öffentlich werden können. Die öffentliche Aufforderung, einen begutachteten Text nicht zu publizieren,53 ist für Dritte leicht zu erkennen, die anonyme Begutachtung eines eingereichten Aufsatzes, der abgelehnt wird, weil er angeblich rassistisch sei, keineswegs. Die Möglichkeiten, die wissenschaftliche Arbeit an einer Hochschule, die Chancen bei der Drittmitteleinwerbung und auch die Anstellungs­ chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erschweren oder einzuschränken, sind, wie jeder weiß, zahlreich. Dass sie genutzt werden, steht außer Frage.54 Außer Frage steht m. E. auch, dass es erhebliche Einschüch­ terungseffekte gibt. Ist es etwa kein Anzeichen zumindest für das Erwachsen einer Verbannungskultur, wenn ein philosophisches Semi­ nar eine Kollegin eines anderen Seminares zu einem Vortrag einlädt, diese aber ablehnt mit der Begründung, die Aktivitäten eines Mit­ gliedes des einladenden Seminars für das Netzwerk Wissenschafts­ freiheit würden sie »abschrecken«? Oder dass ein Philosoph von seiner Mitgliedschaft dieses Netzwerks wieder zurücktritt, weil er von sei­ nem unmittelbaren (linken) Umfeld attackiert wird? Insbesondere für die Vertreter des Mittelbaus scheint zu gelten, dass sie nicht mehr hinreichend frei forschen und lehren können, wenn sie (bei bestimm­ ten Themen) nicht links-liberal positioniert sind. Wie sonst soll man es verstehen, wenn dem Migrationsforscher Ruud Koopmans antimuslimischer Rassismus vorgeworfen wird und der Forschungsdi­ rektor eines anderen Instituts seinen Mitarbeitern den wissenschaft­ lichen Austausch mit Koopmans Mitarbeitern untersagt? Die Vgl. in der Dokumentation des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit den Fall Bruno Klauk. 54 Julian Müller (2021), S. 120, verweist auf eine Arbeit von Inbar und Lammers aus dem Jahre 2012, wonach deren Studie mit 800 befragten Sozialpsychologen Folgendes belegte: »In decisions ranging from paper reviews to hiring, many social and perso­ nality psychologists said that they would discriminate against openly conservative colleagues. The more liberal respondents were, the more they said they would dis­ criminate«. Bei Müller fehlt die bibilographische Angabe: Inbar, Joel & Lammers, Joris (2012), »Political Diversity in Social and Personality Psychology«, in: Perspectives on Psychological Science, vol. 7, issue 5, Sep., 2012 (https://journals.sagepub.com/doi/ 10.1177/1745691612448792). 53

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Dieter Schönecker

Ethnologin Susanne Schröter berichtet von Doktoranden, deren Dis­ sertationen nicht abgenommen worden seien, weil sie Themen behan­ delt hätten wie z.B. »Ehrenmorde«; für ihr eigenes Fach gelte: »Wenn ein Ethnologe über Islamismus arbeitet, ist seine Karriere beendet.«55 Hätte eine Nachwuchswissenschaftlerin auch nur den Hauch einer Chance auf eine akademische Karriere, wenn sie etwa kommunitaris­ tisch mit MacIntyre den Begriff des Patriotismus verteidigte und Mer­ kels Flüchtlingspolitik kritisierte?56 Das Phänomen der sogenannten akademischen Cancel Culture ist komplex, und es wirft eine Reihe von interessanten philosophi­ schen Fragen auf. Ich habe vorgeschlagen, statt von ‚akademischer Cancel Culture‘ von ‚akademischer Verbannung‘ zu sprechen. Vor allem aber habe ich argumentiert, dass bei dem Versuch, jene Fragen zu formulieren und sie zu beantworten, zwei Punkte nicht mehr als strittig betrachtet werden sollten: Erstens ist die herrschende Mei­ nung im Recht ausgesprochen liberal. Die Positionen der bisherigen Opfer akademischer Verbannung sind durch das Recht auf Wissen­ schaftsfreiheit geschützt, und dieses Recht muss von den Apologeten akademischer Verbannung ernst genommen werden. Zweitens ist akademische Verbannung auch in Deutschland ein reales Problem; niemandem ist damit gedient, es zu leugnen. Damit bleibt aber immer noch viel Raum für Abwägung und Differenzierung.57

55 Zit. nach Zoske, Sascha (2022), »Wissenschaftsfreiheit. Forscht ein Ethnologe über Islamismus, ist die Karriere beendet«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.03.2022. 56 Vgl. z. B. jüngst die Forderungen der LandesAstenKonferenz Berlin im Januar 2022. Schon die Kritik an Merkels Flüchtligspolitik wird dabei als »rechtsideologisch« verstanden, https://www.lak-berlin.de/rechte-ideologie-exmatrikulieren?fbclid=Iw AR1srkE-PWCIapUmoTH89VANV7iiQ1Zkwu5aDQSCtnqFfYrRfavodAXwqbc. 57 Für sehr wichtige Hinwiese und Hilfestellungen danke ich Wolfgang Fischer-Bos­ sert, Marie-Luisa Frick, Adrian Lauschke, Sibylla Lotter, Gerd Morgenthaler, Chris­ tiane Turza und Vojin Saša Vukadinović.

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Georg Meggle

Akademische Freiheit? Ein Kübel voller Gegenbeispiele

»Wissenschaft hat, wie der Soziologe Ralf Dahrendorf einmal schrieb, eine besondere Rolle. Als kritische Instanz einer modernen Gesell­ schaft hat sie »die Pflicht, alles Unbezweifelbare anzuzweifeln« … Sie muss … die unbequeme Möglichkeit wahrnehmen, »alle jene Fragen zu stellen, die sonst niemand zu stellen wagt.««1 Das klingt sehr gut – und so sähe ich‹s auch selber gerne. Wenn‹s doch nur so wäre. Drei Aspekte dieser Dahrendorfschen Funktionsbestimmung von Wissenschaft als kritischer Instanz einer modernen Gesellschaft schei­ nen mir besonders wichtig: (a)

Dass das Recht zum Zweifeln – der Kern aller akademischen Freiheiten der Rede, der Forschung und der Lehre – nach diesem Ansatz nicht nur wissenschaftsimmanent, sondern auch gesell­ schaftsfunktional begründbar ist. (b) Dass dieses Recht mehr als nur ein Recht ist, das man in Anspruch nehmen kann oder auch nicht; für Wissenschaftler ist dieses Recht, so Dahrendorf, auch eine Pflicht. Und (c) Dass die Wissenschaft als Institution so organisiert sein muss, dass die Erfüllung dieser Pflicht auch möglich ist. Insbesondere darf somit eine Universität – wie auch jede andere Institution der Wissenschaft – die Erfüllung dieser Pflicht nicht verhindern. Im Gegenteil: Es muss – auch wenn das »unbequem« sein könnte – garantiert sein, dass Wissenschaftler ihrer Pflicht selbst dann Genüge tun können, wenn die gestellte Frage eine ist, »die sonst niemand zu stellen wagt«.

So Römmele, Andrea (2022), »Wissenschaftskommunikation neu denken«, in: Forschung & Lehre, Heft 4/22, S. 257.

1

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Georg Meggle

So viel zu meinem Ideal. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Versuchen Sie’s doch einfach mal selbst und folgen Sie der Dahrendorfschen Wissenschaftler-Pflicht im Hier und Heute. Stellen Sie – vielleicht im Kontext der Corona-Pandemie oder des Ukraine-Krieges – einmal selbst eine von den Fragen, »die sonst niemand zu stellen wagt«. Nun möchte ich hier keinen philosophischen Querdenkerkurs abhalten, sondern einen Erfahrungsbericht über meine einschlägigen Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten geben,2 um die Frage aufzu­ werfen, wie man mit solchen Situationen auch anders – und vielleicht ja sogar besser – umgehen könnte.

1 Mein akademischer Hintergrund Zuerst ein paar Bemerkungen zu meinem akademischen Hinter­ grund3: Nach dem Beginn meines Studiums war ich rasch bei der Ana­ lytischen Philosophie gelandet4. Anfangs war diese Art Philosophie für mich – wie wohl für viele meiner Kolleginnen und Kollegen – nur ein von der Realität abgehobenes, höchst sublimes Glasperlenspiel. Was wohl auch nötig ist, wenn man dieses Spiel auch nur in den Grundzügen beherrschen will. Zum Glück war die Analytische Philosophie damals noch, wie wir sagten, »die echte«, d.h. die sprachanalytische mit der Sprachphi­ losophie als ihrem Zentrum. Die philosophische Semantik bildete die Königsdisziplin. Von dieser Semantik gibt es zwei Varianten: 2 Eine ausführlichere Beschreibung findet man in den Kapiteln (74) und (75) des OpenAccess Bandes Denken, Reden Handeln: Brandl, Johannes L., Messelken, Daniel & Wedman, Sava (Hg.) (2021), Denken, Reden. Handeln / Thinking. Talking. Acting. Nachträge zu einem Salzburger Symposium mit Georg Meggle, Salzburg (https://eplu s.uni-salzburg.at/obvusboa/content/titleinfo/6202655). 3 Zu meinem nicht-akademischen Hintergrund vgl. »Die Philosophie und ich«, eine Kompilation mehrerer autobiographischer Notizen in der Festschrift von Fehige, Christoph, Lumer, Christoph & Wessels, Ulla (Hg.) (2009), Handeln mit Bedeutung und Handeln mit Gewalt. Philosophische Aufsätze für Georg Meggle, Paderborn (men­ tis), S. 20–40. Und über beide Hintergründe Meggle, Georg (2021), »Georg Henrik von Wright – Was er für mein Leben bedeutet« in: Brandl et al. (2021), S. 967–984. 4 Näheres hierzu in: »Mein Weg zur analytischen Philosophie«, erster Teil von »Die Philosophie und ich«, in: Brandl et al. (2021). Zu meinem nicht-akademischen Familienhintergrund siehe auch: Meggle, Georg, »Zu meinem nicht-akademischen Hintergrund«, (https://userblogs.fu-berlin.de/firstgenphilosophers/2022/08/29/ georg-meggle/).

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Die traditionelle und in Form der modernen formalen Logiken per­ fekt präzisierte Repräsentations-Semantik einerseits und die von der (damals) neuen Philosophie der normalen Sprache (ordinary language philosophy) wiederentdeckte gebrauchstheoretische Semantik anderer­ seits. Der Kern dieser zweiten Richtung ist simpel: Bedeutung = Gebrauch. Der Frage, was diese simple Gleichung genau besagen sollte, waren meine akademischen Qualifikationsarbeiten (MA, Diss und Habil) gewidmet. Es gibt auf diese Frage im wesentlich zwei Antworten. Die erste: Gebrauch heißt hier regelgeleiteter Gebrauch. Die zweite Antwort: Um die Bedeutung von Zeichen zu kennen, muss man wissen, welche Ziele und Zwecke mit ihrer Verwendung jeweils erreicht werden sollen. Die erste Antwort, die regelianistische, schaut sich an, wie ein Zeichen gebraucht wird – und wird meist mit der Position des späten Wittgenstein verbunden. Dessen Position hatte ich in meiner Magisterarbeit beschrieben – und voller Überzeugung nachgebetet. Die zweite Antwort, die instrumentalistische oder intentionalistische, schaut sich an, wozu ein Zeichen gebraucht wird – und war damals zwar von Paul Grice bereits ganz grob skizziert, aber noch von niemandem wirklich zu einer echten Theorie ausgebaut worden. Das war meine Chance; und die nutzte ich – auch wenn das für mich anfangs, da ich ja als Regelianer angefangen hatte, einen riesigen Paradigmenwechsel bedeutete. Um meine ganze Sprachphilosophie in zwei Sätzen zusammen­ zufassen: (i) Sprache ist primär zum Kommunizieren da; und (ii) die Bedeutung sprachlicher Zeichen wird durch Konventionen für deren kommunikativen Gebrauch in sogenannten Standardsituationen kon­ stituiert. Den in (i) verwendeten allgemeinen Kommunikationsbegriff habe ich in meiner Dissertation5 erklärt; die These (ii) habe ich in meiner Habil-Schrift6 entwickelt – und zwar so, dass die beiden Para­ digmen – die regelianistische und die instrumentalistische – nicht mehr, wie bis dahin üblich, als unvereinbare Gegensätze, vielmehr als sich einander notwendig ergänzende Ansätze zu sehen sind.

5 Meggle, Georg (1981, 21997), Grundbegriffe der Kommunikation, Berlin/ New York (de Gruyter). 6 Meggle, Georg (2010), Handlungstheoretische Semantik, Berlin/ New York (de Gruyter).

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Georg Meggle

Auch die von mir später skizzierten Logiken der Abschreckung, des Terrorismus und weiterer politisch relevanter Begrifflichkeiten7 rekurrieren allesamt auf die analytische Handlungstheorie. Sie gab mir das erforderliche Selbstvertrauen, um bei solchen Ausflügen in Bereiche, die nicht mehr zur reinen Philosophie gehören, nicht die Orientierung zu verlieren. Es hat mich immer wieder überrascht, wie fruchtbar sich diese handlungstheoretische Basis bei diversen Begriffs-Erkundungen erwiesen hat. Um sich davon zu überzeugen, muss man sich freilich erst einmal selber in diese polit-semantischen Minenfelder begeben. Vielleicht verstehen Sie jetzt, warum ich ein großer Fan von George Orwell bin. Seine Grundprämisse ist auch die meine: »Lan­ guage« is not »a natural growth«, but »an instrument which we shape for our own purposes.«8 Da die »Sprache unser wichtigstes Denkund Macht-Instrument« ist, achte ich darauf, was politischer Sprach­ gebrauch in der Praxis bewirkt – und/oder verhindert. Die Semantik gehört auch in der Politik zu den notwendigen Voraussetzungen eines jeden vernünftigen Denkens und Redens. So viel zu meinem Hintergrund. Nun aber zu den Realitäten: Seit über 30 Jahren finde ich mich durch meine Arbeit als Analytischer Philosoph immer wieder in diverse Affären verwickelt und gerate in die hotspots der Cancel-Culture.

2 Saarbrücken – Die Singer-Affäre (1989 ff.)9 Die Singer-Affäre begann 1989 – kurz nachdem ich von der Univer­ sität Münster an die Universität Saarbrücken gewechselt war. Mein Lehrstuhl sollte der erste Lehrstuhl für Praktische Ethik in Deutsch­ land werden.10 Mein erstes Seminar hat den Titel »Praktische Ethik«; 7 Wie z.B. des Kollateralschadens sowie der diversen Arten der einfachen und der höherstufigen Täuschungsabsichten (inklusive der diversen Arten der Fake News). 8 Orwell, George (1981), A Collection of Essays, New York (Harvest), im Kapi­ tel: »Politics and the English Language« [1946], S. 156. 9 Siehe zu dieser Affäre auch § 3 von Kapitel (74) des in FN 2 genannten Bandes Brandl et al. (2021); sowie ebd. das Kapitel (88), i.e.: Schweitzer, Stephan (2021), »GMs Saarbrücken: Singer & Gründung der GAP“, in: Brandl et al. (2021), S. 1125– 1134. 10 Unter meinem Vorgänger war dieser Lehrstuhl auf die System-Philosophie des Deutschen Idealismus (insbesondere Kant, Fichte und Hegel) fokussiert. Zur Begrün­

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in seinem Zentrum steht das Reclam-Bändchen Praktische Ethik von Peter Singer.11 Am heftigsten streiten wir uns über das Kapitel 7: Töten: Euthanasie. Dort erörtert Singer die Frage, ob es, entgegen der Auffassung von der absoluten Heiligkeit des Lebens, nicht doch Fälle geben könne, in denen eine aktive Euthanasie (Tötung durch eine Spritze) aus moralischen Gründen der passiven (einem sich über Tage hin erstreckenden qualvollen Verdurstenlassen) vorzuziehen sei. Und er beantwortet diese Frage letztendlich mit einem klaren Ja. Wir erfahren, dass Singer sich gerade in Deutschland aufhält und dass seine Vorträge von mehreren Universitäten nach Protesten aus der Behindertenbewegung wieder abgesagt worden seien. Ich lade ihn sofort ein. Nota bene: Es war nicht so, dass ich Singers Begründung sei­ ner Position gänzlich teilte. Ich wollte meinen Seminarteilnehmern jedoch die Chance eröffnen, mit Singer selbst über seine Begründung zu streiten. Diese Differenz spielte jedoch in der gesamten SingerAffäre nie auch nur die geringste Rolle, was für Affären dieser Art typisch zu sein scheint. Das Wort »Shitstorm« war 1989 noch nicht üblich. Was durch meine Singer-Einladung hervorgerufen wurde, war allerdings nicht weniger als ein Shit-Hurricane. Am Tag der Singer-Veranstaltung rollen auf dem Uni-Campus aus der ganzen Bundesrepublik Busse mit Behinderten-Aktivisten an. Das überfüllte Auditorium Maximum vibriert. Mir wird schnell klar, dass ein normaler Verlauf der Veran­ staltung unmöglich ist. Ich biete den Protestierenden das HörsaalMicrophon an und bitte sie darum, allen ihre Vorwürfe gegen Peter Singers Position näher zu erklären – unter einer Bedingung: Dass Singer auf diese Vorwürfe dann auch selber antworten darf. Die Veranstaltung dauert fast doppelt so lange wie geplant; es wird die heftigste und engagierteste Diskussion, die ich bis dahin erlebt habe.12 dung des geplanten Systemwechsels siehe: Meggle, Georg & Fehige, Christoph (1990), »Plädoyer für eine Institutionalisierung Praktischer Ethik«, in: Ethik in den Wissenschaften – Ariadnefaden im technischen Labyrinth?, Klaus Steigleder & Dietmar Mieth (Hg.), Tübingen (Attempto), S. 257–269. 11 Singer, Peter (11984), Praktische Ethik, Stuttgart (Reclam); englische Originalaus­ gabe: Singer, Peter (11979), Practical Ethics, Cambridge (CUP). 12 In der zweiten Auflage von Practical Ethics beschreibt Peter Singer – in dem Anhang: Wie man in Deutschland mundtot gemacht wird (On Being Silenced in Ger­ many) – den Verlauf so: »Als ich mich in Saarbrücken erhob, setzten ein TrillerpfeifenKonzert und das Geschrei eines kleinen Teils der Zuhörerschaft ein, der es auf Ver­

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Dieser Cancel-Versuch war also gescheitert. Das machte mich für einige Singer-Gegner erst recht zu einem roten Tuch. Und zwar auf mehreren Ebenen: ● ●



Auf der politischen: Ein Mitglied des Saarländischen Landtags forderte meine Entlassung. Auf der universitären: In einer Sondersitzung des Fakultätsrates wurde über diese Forderung debattiert; ebenso darüber, welche Restriktionen für weitere Einladungen meinerseits gelten soll­ ten. Auf der medialen: es gab eine Extra-TV-Sendung des Hessischen Rundfunks. Als mein Kontrahent wurde Ernst Klee, einer der besten Kenner des Nazi-Euthanasie-Programms eingeladen.

Nachdem zunächst Bilder von glücklich auf einem Spielplatz spielen­ den Kindern mit Downsyndrom mit nicht weniger glücklichen Eltern um sie herum gezeigt werden, beginnt der Vorspann der Sendung (sinngemäß) mit den folgenden Worten, hinterlegt von Dokumentar­ aufnahmen von den berüchtigten Vergasungsbussen der NS-Zeit: »Euthanasie – ein Teil des Grauens der Geschichte Deutschlands. Wir dachten, diese Zeit sei heute – 45 Jahre später – vorbei. Doch dem ist nicht so. Der Saarbrücker Ethik-Professor Meggle ….« Mir schwinden fast die Sinne; es ist, als würde sich unter mir plötzlich eine Falltüre öffnen, durch die ich in die Tiefe stürze. Mir wird klar: Egal, was auch immer ich jetzt noch sage, nichts wird – aus der Sicht der diese Sendung miterlebenden Zuschauer – meinen Sturz in diesen Abgrund aufhalten können. Die einzig richtige Reaktion wäre gewesen: aufzustehen und diese Sendung unter Protest zu verlassen. Aber dazu war ich damals noch nicht fähig. Später erfahre ich, dass Ernst Klee im Unterschied zu mir über diesen Vorspann vorab informiert worden war. In einem Bericht der Saarbrücker Zeitung über meine Antrittsvorlesung »Ethik hinderung des Vortrags angelegt hatte. Professor Meggle gab den Demonstranten Gelegenheit zu begründen, warum ich ihrer Meinung nach nicht reden sollte. Dabei zeigte sich allerdings ihr gründliches Missverständnis meines Standpunkts. Viele glaubten offensichtlich, ich stünde politisch weit rechts. Jemand gab zu bedenken, dass mir die Erfahrung der Deutschen mit dem Nationalsozialismus fehle; jedoch waren er und andere Zuhörer betroffen, als ich ihnen sagte, ich sei Kind österreichisch-jüdischer Flüchtlinge und drei meiner Großeltern seien in Konzentrationslagern der Nazis umgekommen.« Singer, Peter (21993), Practical Ethics, Cambridge (CUP), S. 346; dtsch. Singer, Peter (1994) Praktische Ethik, Stuttgart (Reclam), S. 435 f.

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– raus aus der Uni?«13, mit der ich bereits auf die gegen Singer und mich erhobenen Vorwürfe reagiere, heiße ich dann nicht »Dr. Meggle«, werde vielmehr mit dem furchtbaren Namen »Dr. Men­ gele« bezeichnet. ●



Und auf der kollegialen Ebene: Ausgerechnet jener Kollege, der sich für meine Berufung nach Saarbrücken am stärksten einge­ setzt hatte, lässt sich für die Fakultätsratssitzung, auf der über mein akademisches Überleben entschieden werden soll, einfach entschuldigen. Ein Kollege aus der Pädagogik, den ich noch nie getroffen hatte und der von Peter Singer, wie er selbst zugab, noch nie auch nur eine einzige Zeile gelesen hatte, fragt mich am Telefon mit genau diesen Worten: »Stimmt es, Herr Kollege, dass sie Faschist sind?« Auf dem ganzen Campus hängen Plakate mit der Forderung: MEGGLE – FASCHIST – RAUS!!! Einige Monate später, der absolute Gipfel: Nachdem die Habil-Kom­ mission einen von mir betreuten auswärtigen Habilitanden in der letzten entscheidenden Runde trotz vier positiven Gutachten soeben hatte durchfallen lassen, nähern sich mir, der ich noch leicht geschockt am runden Tisch sitze, zwei Historiker und sagen mir (leider ohne Dritte als Zeugen) direkt ins Gesicht: »Sagen Sie ihrem Kandidaten: Dies war nicht gegen ihn gerichtet.« Und last not least auch auf der privaten Ebene: Behindertenfunk­ tionäre rufen bei meiner Frau im Münsterland an und sagen ihr, dass sie unsere beiden Kinder zu Krüppeln machen würden. Damit auch wir wüssten, was es heißt, mit schwer behinderten Kindern zu leben.

Worte können töten. Seit der Singeraffäre – seit nunmehr 30 Jahren also – weiß ich, wie wahr das wirklich ist. Ein mir im Kontext dieser Affäre zum Freund gewordener Kollege aus der Behinderten-Pädago­ gik begeht, ähnlichem Druck ausgesetzt, Selbstmord. Wie wird man mit so etwas fertig? Wie überlebt man das? Niemals alleine. Und auch nicht durch akademisch abgehobenes Schwadronieren über den Sinn und die Tragweite der Forschungsund Lehrfreiheiten – obgleich nach solchen Erfahrungen ein kritisches Nachdenken über das in jeder akademischen Sonntagsrede über diese 13 Leicht überarbeitet als Kapitel 1 in meinem Band Philosophische Interventio­ nen: Meggle, Georg (2011), Philosophische Interventionen, Paderborn (mentis), S. 11– 22.

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Freiheiten schon x-mal Gesagte und Gehörte eigentlich unvermeidbar sein sollte. Meine eigene praktische Schlussfolgerung war folgenreich. Ich wende mich zunächst hilfesuchend an die AGPD (Allgemeine Gesell­ schaft für Philosophie in Deutschland – inzwischen umbenannt in DGPhil / Deutsche Gesellschaft für Philosophie). Auf dem Treffen des engeren Kreises dieser Gesellschaft (September 1989 in Mainz) erstatte ich Bericht und bitte den Vorstand um eine öffentliche Stel­ lungnahme. Der Präsident erklärt mir, dass die AGPD als Fachgesell­ schaft für einen solchen politischen Akt nicht zuständig wäre. Er legt mir nahe, meinen Antrag auf eine Stellungnahme zurückzuzie­ hen, in welchem Falle mir zugesagt werde, dass eine entsprechende Petition in der Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie (der offiziellen Zeitschrift der AGPD) veröffentlicht werde; jedes AGPD-Mitglied könne dann ja individuell unterzeichnen oder auch nicht. Ich ziehe meinen Antrag zurück. Die Petition ist in der Zeitschrift nie abge­ druckt worden.14 Durch diese AGPD-Nicht-Reaktion auf mein Hilfeersuchen fühlte ich mich schlicht und einfach »verarscht«. Diese Erfahrung war das entscheidende Motiv, mich für eine neue Philosophen-Gesell­ schaft stark zu machen, die auf ähnliche Situationen in Zukunft anders reagieren sollte. Ohne jene Verarschung gäbe es die im Mai 1990 gegründete GAP (Gesellschaft für Analytische Philosophie) nicht.

3 Die Leipziger Zeit (1994–2009) – Eine Wende 1994 konnte ich die Uni Saarbrücken endlich verlassen. Den Ruf auf den neu eingerichteten Leipziger Lehrstuhl für Philosophische Grundlagen der Anthropologie und der Kognitionswissenschaften nahm ich mit Freuden sofort an. Und in der Tat: Die folgenden 15 Jahre bis zu meiner Emeritierung (2009) kamen meinen Vorstellungen davon, wie ein sinnvolles philosophisches Leben und Arbeiten an einer Universität aussehen könnte, fast irreal nahe. Was nicht heißt, dass es dort keine Probleme gegeben hätte. Im Gegenteil. Nach knapp 10 Jahren anfänglicher Ruhe an der 14 Sie ist dann unter dem Titel »Erklärung deutscher Philosophen zur sog. »SingerAffäre«“ als Anhang erschienen in: Hegselmann, Rainer & Merkel, Reinhard (Hg.) (1991), Zur Debatte über Euthanasie, Frankfurt am Main (Suhrkamp), S. 327–330.

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Cancel-Front,15 provozierte mein Tun erneut heftigen Widerstand. Diesmal vor allem von Seiten der sogenannten Anti-Deutschen. Aber die Reaktion der Leipziger Universität war ganz anders als in Saar­ brücken. Das Institut, die Fakultät, das Rektorat und das sächsische Wissenschaftsministerium standen in all diesen Jahren stets hinter mir. Ich bin auch heute noch überzeugt: Was ich an der Universität Leipzig bewirken konnte, wäre an keiner anderen deutschsprachigen Universität möglich gewesen. Damals nicht – und heute erst recht nicht. Heute vermutlich nicht mal in Leipzig. Auch für den weiteren Ausbau meiner sprachphilosophischen Interessen war Leipzig ein idealer Ort. Es gab dort Kollegen, die meine Interessen teilten, wenn auch mit etwas anderen Schwerpunk­ ten. Der Name unserer von der DFG geförderten mehrjährigen For­ schergruppe sagt über den Schwerpunkt wie über den Geist unserer damaligen Gruppe schon alles: Kommunikatives Verstehen. Meine organisatorischen Erfahrungen kamen mir dann bei einigen Projekten zu Gute, in denen ich jenen politischen Fragen nachging, die mich auch heute noch am stärksten interessieren – Fragen, die auch derzeit wieder von größter Aktualität sein dürften: 1. Unter welchen Voraussetzungen ist selbst der Eintritt in einen Krieg legitim? 2. Was ist Terrorismus – und wie steht es um dessen ethische Bewertung? 3. Welche Lehren sollte Deutschland aus dem Holocaust ziehen? Und welche Verpflichtungen ergeben sich daraus mit Blick auf den so genannten Israel-Palästina Konflikt? Schon am Abend des 9/11 entschließe ich mich spontan zu einer Änderung meines Lehrplans für das bevorstehende Wintersemester (2001/02). Ich kündige ein Seminar zum Thema Terrorismus an.16 Um mir diesen neuen Kontinent systematisch zu erschließen, beginne ich mit Planungen, die beim Leipziger Uni-Rektorat und anderswo 15 Diese Ruhe an der Cancel-Front ist nicht zu verwechseln mit Untätigkeit. Ich organisierte und leitete eine DFG-Forschergruppe Kommunikatives Verstehen, arbei­ tete mich anlässlich des Kosovo-Krieges (1999) in die Theorie des Gerechten Krieges ein, führte am ZiF/Bielefeld die internationale Konferenz Ethics of Humanitarian Interventions durch und beteiligte mich mit öffentlichen Vorträgen an den Debatten um die bereits gestarteten oder vorbereiteten Kriege im Irak und gegen den Iran. Aber all diese Themen wurden offenbar nicht von dem Radar jener Gruppen erfasst, von deren Störsendern in den folgenden Berichten über die nächsten Jahre die Rede sein wird. 16 Am deutlichsten findet sich meine eigene Position in meinem letztjährigen Artikel »Chomsky on Terrorism«, Meggle, Georg (2021), »Chomsky on Terrorism«, in: Chomsky on State and Democracy, Günther Grewendorf (Hg), Baden-Baden (Nomos), S. 177–210.

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auch sofort auf reges Interesse stoßen. 2002/03 findet eine einjährige öffentliche Ringvorlesung Terror & Der Krieg gegen ihn statt, zu der ich die weltweit besten Experten einladen kann. Um der bei diesem Thema starken US-Dominanz entgehen zu können, strebe ich die Einrichtung eines European Centre in Terrorist Studies an. Die Vorbereitung dieses Centre soll einer eigenen Forschergruppe am ZiF (Zentrum für interdisziplinäre Forschung) an der Universität Bielefeld obliegen. Auch dieser Plan stößt auf großes Interesse. 2002 führe ich am ZiF die internationale Konferenz Ethics of Terrorism & Counter-Terrorism durch. In all diese Pläne ist das CAPPE (Centre for Applied Philosophy and Public Ethics) an der Universität von Melbourne / Australien eng eingebunden, sowie der dort lehrende jüdische Philosoph Igor Primoratz von der Hebrew University Tel Aviv, der in Sachen Terrorismus-Semantik m.E. der weltweit Beste ist. Meine Terrorismus-Ringvorlesung hatte auch bei der Leipziger Bevölkerung großen Anklang gefunden. Und so ist die Unileitung bereit, sich zusammen mit zahlreichen anderen Institutionen17 auf eine weitere einjährige Ringvorlesung zu einem heißen Thema ein­ zulassen: Deutschland / Israel / Palästina. Ich bereite, während ich meine Logik des Terrorismus weiter voranbringe, mit meiner Tochter Sarah eine Reise nach Israel und Palästina vor, um die wichtigsten Vortragenden von dort vorher persönlich kennenlernen zu können.

4 Die Honderich-Affäre (2003 f.) In diesen Kontext platzt im August 2003 die sogenannte Ted Honde­ rich Affäre wie eine Bombe. Auf Empfehlung von Jürgen Habermas war im Suhrkamp Verlag die deutsche Übersetzung von Ted Honderichs After the Terror erschie­ nen, Honderichs Reaktion auf »den schrecklichen moralischen Weck­ ruf vom 11. September«. Anfang August 2003 erhebt Micha Brumlik in einem Leserbrief in der Frankfurter Rundschau gegen diese Publi­ kation Protest. Honderichs These von der Rechtfertigbarkeit des palästinensischen Terrorismus sei ein klarer Fall eines »antisemiti­ schen Antizionismus«. Ein Vorwurf, dem sich, obwohl Habermas Darunter neben dem Bundesministerium für Bildung und Forschung auch der Zentralrat der Juden in Deutschland, der Zentralrat der Muslime in Deutschland, das Amerikanische Konsulat Leipzig und die Vertretung Palästinas in Deutschland. 17

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sofort widerspricht, die deutschen Leitmedien unisono anschließen. Der Suhrkamp-Verlag stoppt die Auslieferung des Bandes. Brumliks Einspruch ist ein Musterbeispiel für maximal effizientes Canceln. Ein kurzer Leserbrief – und Deutschlands angesehenster Verlag zieht das philosophische Werk eines weltberühmten Autors zurück. Mit der Terror-Ringvorlesung im Rücken und der bevorstehen­ den Israel-Palästina-Ringvorlesung im Zukunfts-Programm bot sich die Universität Leipzig für eine Grundsatz-Diskussion über diesen Antisemitismus-Vorwurf an, zumal ich alle drei Kollegen persönlich kenne: Ted Honderich seit einem Kongress in Teheran (1999); und Jür­ gen Habermas und Micha Brumlik schon seit meiner Studentenzeit. In den 68er Jahren war ich ab und zu mit meinem Freund Günther Grewendorf vom Münchner Stegmüller-Institut zur Frankfurter Kon­ kurrenz gepilgert. Die Idee lag nahe, mit diesen drei Kollegen die Leipziger Tradition des Runden Tisches fortzusetzen. Ted sagte sofort zu. Die beiden anderen lehnten sofort ab. Micha schrieb, er werde sich doch nicht mit Leuten an einen Tisch setzen, die zum Mord an seinen Verwandten aufrufen. Und Habermas? Dieser schickte mir mein Fax postwendend mit dem Vermerk zurück: »Nicht im Traum denke ich daran!« – worauf ich, ebenso brüsk, ihm das gleiche Fax einfach mit der Bemerkung nochmal schickte: »Aha, verstehe: Diskursethik.«18 Die Reihe der Leipziger Sonntagsgespräche begann mit einem Vortrag von Ted Honderich. Ein starker Start, hieß es später. Er fand im Hörsaal 19 statt, dem (damals) größten der Uni Leipzig. Unter Polizeischutz, da auf Flugblättern die unbedingte Verhinderung, d.h. notfalls auch mit Gewalt, angekündigt worden war. Von dem engli­ schen Vortrag konnte man wegen des Störungslärms kaum etwas verstehen. Das machte aber nichts, denn sobald die glasklare Stimme der Übersetzerin zu hören war, wurde es mucksmäuschenstill. Man hätte eine Stecknadel fallen hören. Die Diskussion wurde dann aller­ dings durch lautes Hämmern mit mitgebrachten Bierflaschen auf die Stuhlreihenpulte verhindert. Einem meiner Mitarbeiter wurden beim Verlassen des Unigebäudes mehrere Zähne ausgeschlagen. Die gleich zu Beginn angekündigte ›Zusatz‹-Diskussion am folgenden Tag verlief hingegen störungsfrei. Die Leipziger Volkszeitung (LVZ) schrieb: »Der Mut der Alma Mater ihn [Ted Honderich] einzuladen, ist bemerkenswert« (20.10.2003) und »Demokratie heißt, auch kontroverse Meinungen 18

Wir haben uns dann beide wechselseitig für diesen Ton entschuldigt.

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auszuhalten« (21.10.2003). Der Frankfurter Rundschau (FR), die die Dokumentation der Honderich-Affäre zu ihrem Markenzeichen gemacht hatte, war diese Veranstaltung hingegen keinen Kommentar wert; auch nicht die Differenzierung zwischen zwei verschiedenen Arten von Terrorismus19, die für jede vernünftige Diskussion der Position Honderichs wesentlich wäre. Aber zur Denunzierung von Honderich war sich die FR nicht zu schade. Dazu ein kurzer Exkurs in Sachen Zeitungslektüre. In Honde­ richs englischem Brief heißt es: [E] It is despicable, too, to engage in personal slurs of association having to do with people whose politics I do not share. Das heißt sinngemäß soviel wie: [D2] Ich halte es zudem für widerwärtig, wenn man es darauf anlegt, mich mithilfe von persönlichen Anspielungen mit Leuten [wie z.B. den Nazis oder anderen Antisemiten] zu vergleichen, deren politische Ansichten ich nicht teile. Die FR machte daraus: [D-FR] Darüber hinaus halte ich es für widerwärtig, mich mit Perso­ nen in Beziehung zu setzen, deren politische Ansichten ich nicht teile. Das haben alle von mir befragten Testpersonen (19) durch die Bank so gelesen: [D1] Ich halte es zudem für widerwärtig, dass ich mich mit Personen [wie z.B. Brumlik] in Beziehung setzen [bzw. gar auseinander­ setzen] soll, deren politische Ansichten ich nicht teile. Der Satz [E] von Honderich impliziert eine klare Distanzierung gegenüber Antisemiten. Die Frankfurter Rundschau macht daraus einen Ausdruck einer allgemeinen Diskurs-aversiven Arroganz. Die Ein schwacher T-Akt richtet sich nur gegen »Legitime Gewaltziele«, ein starker auch gegen »Nicht-Legitime« – wie z.B., so mein Beispiel in meinem kritischen Con­ tra-Honderich-Beitrag, Kinder oder andere ›Unschuldige‹. Zu meiner Kritik an Hon­ derich siehe: Meggle, Georg (2005), »Kritischer Kommentar zu: Ted Honderich. Gibt es ein Recht auf Terrorismus?«, in: Nationale Interessen und Internationale Politik, Rechtsphilosophische Hefte, Band 10, Orsi, Giuseppe u.a. (Hg.), Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien (Peter Lang Verlag), 2005, S. 137–140. 19

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Worte, mit denen Honderich brieflich auf Brumliks Anklage antwor­ tete, werden ins blanke Gegenteil verkehrt. Medienethik? Sobald ich dieses Wort höre, fällt mir sofort dieser üble Trick ein.

5 Ringvorlesung DEUTSCHLAND / ISRAEL / PALÄSTINA (2005/06)20 Die Honderich-Affäre lieferte einen ersten Vorgeschmack für alles Kommende. Dank dessen, was man »guilt by association« nennt, schwebt die Wolke des »israelbezogenen Antisemitismus« seitdem nicht nur über Ted, sondern auch über mir. Sie verdunkelt alles, was sonst noch geschieht und von uns gesagt wird. Aber ein Gutes hatte diese Affäre: Die Uni Leipzig wusste jetzt, worauf sie sich einlässt, wenn sie eine Öffentliche Ringvorlesung zu dem Thema Deutschland / Israel / Palästina mitträgt. Es war deutlich geworden, dass die Wissenschaftsfreiheit mitunter sogar an einer Universität des Polizeischutzes bedarf. Der entscheidende Test, ob eine Universität die Wissenschaftsfreiheit wirklich ernst nimmt oder nicht, besteht schlicht und einfach in der Antwort auf diese Frage: Ist die Universität bereit, für die Durchsetzung dieser Freiheit unter Umständen auch Polizeischutz zu beantragen?21 Für meine neue Ringvorlesung hatte ich diese Bereitschaft schon im ersten Rektorats­ gespräch zur Bedingung gemacht. Einige der prominenten Referenten galten als stark anschlaggefährdet; und obgleich wir hofften, dass die Ringvorlesung friedlich verlaufen würde, waren das Rektorat und ich uns darin einig, dass wir uns für den Fall, dass dem – Gott behüte! – nicht so sein sollte, nicht unzureichende Sicherheitsvorkehrungen vorwerfen lassen wollten. Diese Prophylaxe erwies sich schon in der ersten Veranstaltung als notwendig. Die Eröffnungsvorlesung mit dem Titel »USA – Israel – Palästina« hielt am Ostermontag 2005 im Großen Saal des Leip­ ziger Gewandhauses der berühmteste Intellektuelle der Gegenwart: Siehe hierzu: Meggle, Georg (2007), »Deutschland / Israel / Palästina – Meine Bilanz«, in: Deutschland. Israel. Palästina. Streitschriften, Georg Meggle (Hg.), Ham­ burg (Europäische Verlagsanstalt), S. 341–360. 21 Ich schätze, dass in Deutschland und Österreich heute keine einzige Universität diesen Test noch bestehen würde.

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Noam Chomsky.22 Er war bereits im Vorfeld der Veranstaltung als »Antisemit« bezeichnet worden. Als er auf die Bühne trat, hielten hinter ihm Demonstranten ein großes Spruchband mit der Aufschrift »Toleranz tötet. Keine Diskussion mit Antizionisten« hoch. Noch vor seinem Vortrag wandte er sich ihnen zu und erinnerte sie an jenes logische Manko, das in allen politischen Debatten – insbesondere aber in allen Israel berührenden Debatten – immer wieder zu finden sei und das bereits ein Kennzeichen stalinistischer Propaganda gewesen sei: dass nicht unterschieden werde zwischen einer Kritik an der Politik eines Staates einerseits und einer Kritik an der Bevölkerung dieses Staates andererseits. Bei der Auswahl der 25 Referenten zu dieser Ringvorlesung hatte ich mir große Mühe gegeben. Es sollten nicht nur die drei Titel-Länder vertreten sein, sondern auch deren jeweiliges politisches Spektrum – auch deren Extreme. In diesem Punkt war ich freilich nicht ganz konse­ quent. Die Extreme waren zwar im Fall Israels vertreten: Uri Avnery, »der letzte Mohikaner der israelischen Friedensbewegung« einerseits versus auf der anderen Seite Abraham Sion, ein Likud-Vertreter, dem sogar ›der Schlächter‹ Scharon wegen des Rückzugs aus dem Gaza­ streifen viel zu lasch war. Auf der Seite von Palästina hingegen blieb die militante Position unbesetzt. Die Einladung eines Vertreters der Hamas hätte vermutlich sogar an dieser maximal offenen Leipziger Uni auch schon damals das Ende unserer Ringvorlesung bedeutet. Am heftigsten waren die Proteste bei Helga Baumgartens Vortrag »Hamas ante Portas«, obgleich sie nicht für, sondern nur über die Hamas sprechen wollte. Diese Veranstaltung war für alle Beteiligten eine Nerven-Strapaze, am stärksten wohl für Frau Baumgarten selbst. Ich hatte sie schon vorab gebeten, sich im Falle lautstarker Proteste einfach taub zu stellen – und unbeirrt ihren Manuskript-Text vorzu­ lesen, egal, ob man diesen akustisch verstehen könne oder nicht. Wir wollten immerhin zeigen, dass uns die Störer nicht zu einem Abbruch der Veranstaltung zwingen konnten. Helga Baumgarten hielt diese Rolle tatsächlich durch, obgleich die Störer eine Dreiviertelstunde mit ihren mitgebrachten Bierflaschen auf die Stuhlreihenpulte klopften. Sie las Satz für Satz ab. Man verstand kein Wort. Die anwesenden Polizisten in Zivil hatten die Anweisung erhalten, nur bei Gewalt 22 Die gesamte Festveranstaltung ist im Archiv der Uni Leipzig dokumentiert: https:/ /archive.org/details/2005-03-28_Noam-Chomsky_Uni-Gast-im-Gewandhaus-z u-Leipzig/050328_Noam-Chomsky_Uni-Gast-im-Gewandhaus-zu-Leipzig.mp4; Chomsky’s Vortrag ab 40:00.

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gegen Personen einzugreifen. Dieser Fall trat zum Glück nicht ein. Nach der Dreiviertelstunde legte ich die Folie auf: »Den Text dieser Vorlesung finden Sie im Netz auf unserer RIVO-Seite. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.« Wieder einmal war ein militanter Cancel-Versuch gescheitert. Zwar kein glänzender Sieg. Aber auch keine Niederlage. Und in Sachen akademischer Redefreiheit ist das schon ein Sieg. Wir befürchteten allerdings Schlimmes für Helga Baumgarten, die an der Universität von Bir Zeit (bei Ramallah in der Westbank) nur eine Gastdozentur hatte, keine feste Unistelle, und als Mitarbeiterin beim DAAD zuständig für die Studierenden in Israel und Palästina war. Solche DAAD-Stellen sind unsicher. Ein Wink vom Auswärtigen Amt – und die Stelle wird neu besetzt. Ich rechne es dem damaligen Leipziger Rektor, dem Juristen Franz Häuser, hoch an, dass er Helga Baumgarten für den Fall des Falles juristische Unterstützung zusagte und gleichzeitig eine öffentliche Erklärung abgab, in der er nachdrück­ lich vor einem solchen Schnellschuss warnte. (Diese Reaktion der Uni Leipzig war also, nota bene, das totale Gegenteil zu dem, worüber unten über die Salzburger Causa Meggle noch zu berichten sein wird.) Meine eigene Kernfrage, auf die mit Hilfe der Ringvorlesung eine Antwort zu erhalten ich gehofft hatte, war diese: Welche Folgerung aus dem Holocaust ist mit Blick auf Israel und Palästina für Deutsch­ land die normativ richtige? Nur zwei Beiträge gingen auf diese Frage direkt ein, die Vor­ träge von Michael Wolffsohn und von Hajo Meyer. Der Historiker Wolffsohn referierte, welche Lehren Deutschland und Israel aus dem Holocaust tatsächlich gezogen haben, welche sie faktisch bislang (für sich) für die »normativ richtigen« halten. Er fasste die Frage also deskriptiv auf. Die deutsche Lehre sei: Nie wieder Täter! Die jüdische: Nie wieder Opfer! Der einzige, der meine Kernfrage als eine moralische verstand und sie auch beantwortete, war der Physiker und Auschwitz-Über­ lebende Hajo Meyer. Er nahm, wie Wolffsohn, zwar auch auf die Perspektiven Deutschlands (Nie wieder Auschwitz!) und Israels (Nie wieder Opfer!) Bezug, stellte beide aber unter den universalisti­ schen Vorbehalt:

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[HM] Nie selber so werden wie die Täter! Die moralisch richtige und wahrlich jüdische Lehre aus dem Holocaust ist für Hajo Meyer diese: »Wir Juden dürfen nie so werden wie unsere Unterdrücker.« Das Denken Hajo Meyers war, wie er mir erzählte, durch seine Kontakte mit dem Wiener Kreis, der österreichischen Wiege der Analytischen Philosophie, mitgeprägt worden.23 Und es ist, glaube ich, genau diese Distinktion zwischen Universalismus und Partiku­ larismus, die den Rahmen einer jeden Bewertung der Israel-Politik (sowohl der Politik von wie auch der Politik gegenüber Israel) abge­ ben sollte.24 Der Streit um diesen fundamentalen Bewertungsrahmen wird nirgendwo so scharf geführt wie innerhalb des Judentums selbst. Bar Hillels ethischer Universalismus einerseits und ein radikal nationa­ listischer (und somit partikularistischer) Neozionismus andererseits stehen sich unvereinbar gegenüber. Dieser Streit kann auf höchstem intellektuellen Niveau geführt werden. Er kann aber auch, wie alles Menschliche, unter der Gürtel­ linie stattfinden. Eine seiner hässlichsten Seiten zeigte sich in der Äußerung, mit der ein jüdisch-deutscher Journalist auf den Vortrag von Hajo Meyer reagierte: Ich, Georg Meggle, hätte mir mit der Einladung des Auschwitz-»Berufs-Überlebenden« Meyer »meinen Hitler nach Leipzig geholt«. Eine hässlichere Artikulation dessen, was man »Judenhass« nennt, kenne ich nicht. Aber immerhin: Eine Anzeige des Leipziger Rektors Häuser hat bewirkt, dass diesem

23 Diesen und die folgenden beiden Absätze übernehme ich direkt aus Kapitel 74 von Brandl et al. (2021), S. 1030. 24 Mehr zu Hajo Meyers Position in Meyers, Hajo (2007), »Das Ende des Juden­ tums«, in: Meggle (2007), S. 191–304. Zu den sich bei jeder Diskussion des Univer­ salismus sofort stellenden philosophischen Grundsatzfragen, s. Meggle, Georg (1992), »Das Universalisierbarkeitsproblem in der Moralphilosophie«, in: Generalisierung und Individualisierung im Rechtsdenken, Maximilian Herberger, Ulfrid Neumann & Helmut Rüßmann (Hg.), ARSP- (Archiv für Rechts- und Sozial­ philosophie) – Beiheft 45, 1992, Stuttgart (Franz Steiner Verlag), S. 143–156. Und zu den damit verknüpften politisch-philosophischen Fragen im Israel-Kontext, s. meine beiden Telepolis-Beiträge: Meggle, Georg (2019), »Genau wann ist Israelkritik anti­ semitisch?«, in: heise online, 29.12.2019 (https://www.heise.de/tp/features/Genauwann-ist-Israelkritik-antisemitisch-4624152.html) und Meggle, Georg (2020), »Israels Singularität«, in: heise online, 19.01.2020 (https://www.heise.de/tp/featur es/Israels-Singularitaet-4630402.html).

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Star-Journalisten im Kontext dieser Behauptung die Verwendung des Wortes »Hitler« fürderhin gerichtlich untersagt worden ist.

6 Die Causa Meggle (Salzburg, 2021 & 2022) Lassen Sie mich zum Schluss kurz auf die derzeit (August 2022) letzte meiner universitären Cancel-Affären eingehen, die zweimalige Verhinderung meines Seminars Boykott-Strategien – Pro & Contra in meiner mehrjährigen Seminar-Reihe Ethische Interventionen am Philosophischen Seminar der Universität Salzburg. Dieser Fall beginnt am 1. März 2021 mit einem Protestbrief gegen das angekündigte Seminar Boykottstrategien – Pro und Contra. Das Seminar sollte die direkte Fortsetzung zu dem vorangegangenen Seminar Zum Antisemitismus sein, in dem wir uns mit den wichtigsten Definitionsalternativen zum Begriff Antisemitismus befasst und uns schließlich auf die denkbar einfachste Definition, nämlich auf »Anti­ semitismus = Judendiskriminierung«, als unsere zukünftige Arbeits­ grundlage geeinigt hatten. Judendiskriminierend (Antisemitisch) ist demnach eine Einstellung genau dann, wenn ihr zufolge ein Jude schon allein deswegen weniger wert ist, weil er Jude ist. Antisemitisch agiert eine Person, wenn sie jemanden als Juden diskriminiert. Anti­ semitismus ist somit eine spezielle Form von (negativer) Diskrimi­ nierung. Das Diskriminierungsverbot – bzw. das ihm entsprechende moralische Gleichheitsgebot – gilt universell. In dem für den Sommer 2021 geplanten Folge-Seminar sollte die praktische Anwendbarkeit dieser Definition an einem der höchst umstrittenen konkreten Fälle getestet werden: Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit Boykottstrategien im Allgemeinen wollten wir untersuchen, ob es sich bei der BDS-Bewegung (BDS = Boycott, Divestment and Sanctions), die sich primär gegen die israelische Besatzungspolitik wendet, um einen Fall von Antisemitismus han­ delt. Dass dem so sei, wird von national-zionistischen Organisatio­ nen und deren Unterstützern (sowie zahlreichen Regierungen und Parlamenten) immer wieder behauptet, zugleich aber von bedeuten­ den antizionistischen (darunter auch stark engagierten jüdischen) Gruppierungen wie auch von unabhängigen Gerichten ebenso regel­ mäßig bestritten. »Eine E-Mail«, so heißt es in der Salzburger Kronenzeitung (22.03.21), habe »die Sache … ins Rollen [gebracht]. Eine besorgte

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Philosophie-Studentin schilderte, dass der Professor in seinem Semi­ nar antisemitische Bemerkungen mache.« Und schon die BetreffZeile des Protestschreibens (01.03.21), mit dem die ganze universi­ täre Causa Meggle beginnt, lautet: »Unterstützer der antisemitischen BDS-Bewegung unterrichtet über »Ethische Boykottbewegungen« an der Universität Salzburg.« »In aller Entschlossenheit« werde daher die sofortige Absage meines Seminars gefordert. Die Universität reagiert schnell. Am 17. März 2021 beschließt sie, mein Seminar für das laufende Sommersemester abzusagen und auf den nächsten Sommer zu verschieben. Zuvor solle – im Winter­ semester 21/22 – eine interdisziplinäre Veranstaltung zu den Gren­ zen der akademischen Freiheit stattfinden. Meine Studenten waren schockiert. Die zentrale Frage unseres Seminars – »Was halten wir denn selber von dem (angeblichen oder echten?) Antisemitismus der BDS?« – war auf einen Schlag für alle Seminarbeteiligten zu einem praktisch-persönlichen Problem geworden. Trotz dieser Absage trafen wir uns im Sommersemester 2021 zu regelmäßigen Zoom-Sitzungen – nun eben extra muros universitatis. Aber wir merkten bald, dass uns die Auseinandersetzung mit dem Ausschluss aus der Universität mehr Kraft kostete als es der Konzentration auf unser eigentliches Thema gut tat. Kurz: Wir merkten, wie wertvoll – ja, wie unersetzbar – echte Uniseminare sind. Meine Studenten verfassten zur Causa Meggle mehrere Stel­ lungnahmen, freuten sich mit mir über besorgte externe Anfragen an den Fachbereich Philosophie (u.a. von dem NW WF (Netzwerk Wissenschaftsfreiheit) und der GAP) und registrierten fassungslos, dass die Universität auf Nachfragen aus der Studentenschaft erst dann reagiert, wenn über das Ausbleiben einer Antwort auch in der Salzburger Kronenzeitung berichtet worden ist. Ein simpler Satz in einer Zeitung wie der KRONE, so lässt sich als Fazit festhalten, zählt für die Universität mehr als ein noch so differenziertes Exposé ihrer Studierenden. Dabei hätte sich alles auch ganz anders entwickeln können. Im Juni 2021 hatte ich mich mit dem Rektor der Universität Salzburg in seinem Büro zu einem halbstündigen Gespräch getroffen, das besser verlief, als ich es mir hätte erträumen können. Der Aufhänger: Der Rektor war mit anderen Uni-Rektoren vom Wiener Wissenschaftsmi­ nisterium zu einem Treffen zum Thema Cancel-Culture geladen und daher interessiert an meinen Ideen zum Thema Wissenschaftsfrei­ heit. Was für eine Chance! – d. h. was für eine Gelegenheit, anhand der

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Salzburger Causa Meggle paradigmatisch zu zeigen, wie ein optimaler Umgang mit dem Druck aussehen könnte, der bei strittigen Themen zunehmend auf einzelne Dozenten und Institutionen ausgeübt wird. Ich schlage ein Konzept vor, das sich auf meine Leipziger Ringvor­ lesungen und das Sonntagsgespräch stützte und beim Rektor nach anfänglicher Skepsis auf neugieriges Interesse stieß. Wir skizzierten gemeinsam einen ersten groben Zeitplan und vereinbaren, uns nach Rücksprache mit den in dieses Projekt einzubindenden Kollegen des Fachbereichs Philosophie erneut zu kontaktieren. Aber dort stieß die Idee auf sehr wenig Freude. Ein paar Tage später kam eine Mail vom Fachbereichsleiter: Von solchen Dingen sei nie die Rede gewesen. Die im Sommer 2021 angekündigte Veranstaltung zu den Gren­ zen der Wissenschaftsfreiheit fand übrigens statt, ohne dass ich jedoch, wie ursprünglich versprochen, dazu eingeladen wurde, noch wurden mir je die Ergebnisse der Diskussionen mitgeteilt. Und das ursprünglich nur verschobene Seminar konnte auch im nächsten Sommer nicht stattfinden, da der Leiter des Fachbereichs Philosophie den erforderlichen Antrag für einen (unbezahlten) Lehrauftrag gar nicht erst an das zuständige Dekanat weiterleitete. Schließlich kam die Mitteilung, dass der Fachbereich von einer weiteren Zusammenarbeit mit mir ab sofort gänzlich absehen möchte. So viel zur Phänomenologie der universitären Alltagswelt – und zum Stand der ›Streitkultur‹ in unserer derzeitigen akademi­ schen Philosophie.25

Zu dieser Salzburger Cancel Affäre Näheres in der Dokumentation: Salzburger Studienkreis, Zur CAUSA MEGGLE. Eine Salzburger Übung in Uni-interner Cancel Culture, Salzburg 2023: https://www.sozphil.uni-leipzig.de/fileadmin/Fakult%C3 %A4t_SozPhil/Institut_f%C3%BCr_Philosophie/Dokumente/Georg_Meggle/Pub likationen_GM/2023-CAUSA_MEGGLE-Salzburger_Studienkreis.pdf. 25

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258 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

Zu den Autoren

Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin. 2008 wurde sie als Professorin berufen und lehrte bis 2014 Politi­ sche Wissenschaften mit dem Schwerpunkt »Freiheitsforschung und Freiheitslehre« in Heidelberg. 2009 gründete sie das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung, das sie seitdem leitet. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit und eine viel­ gefragte Rednerin und freie Autorin für Funk und Print. Ihre neuesten Buchpublikationen sind: Die neue Schweigespirale. Wie die Politisierung der Wissenschaft unsere Freiheit einschränkt (2022), Das Schweigen der Mitte. Wege aus der Polarisierungsfalle (2020). Eric Hilgendorf, geb. 1960, studierte Philosophie, Neuere Geschichte, Religionswissenschaft und Rechtswissenschaft in Tübin­ gen. Er habilitierte 1997 mit einer Arbeit zu »Tatsachenaussagen und Werturteilen im Strafrecht«. Seit 2001 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Julius-Maximilians-Universität Würz­ burg. Sandra Kostner ist Historikerin und Soziologin. Seit 2010 ist sie Geschäftsführerin des Masterstudiengangs Interkulturalität und Inte­ gration an der PH Schwäbisch Gmünd. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Migrations- und Integrationspolitik sowie Identitätspolitik und die Zukunft von Demokratie und Liberalismus im Westen. Zuletzt veröffentlichte sie: Wissenschaftsfreiheit. Warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist (Nomos 2022), (mit Tanya Lieske) Pandemiepolitik. Freiheit unterm Rad? (ibidem 2022), (mit Elham Manea) Lehren aus 9/11. Zum Umgang des Westens mit Isla­ mismus (ibidem 2021) und Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften (ibidem 2019).

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Zu den Autoren

Maria-Sibylla Lotter studierte Philosophie, Religionswissenschaft und Ethnologie in Freiburg, Berlin und St. Louis/USA. Seit 2014 lehrt sie als ordentliche Professorin für Philosophie der Neuzeit, Ethik und Ästhetik am Institut für Philosophie I der Universität Bochum und schreibt gelegentlich Kolumnen und Artikel für die Rheinische Post, die ZEIT und die NZZ. Ihre Forschungsschwerpunkte sind derzeit Fragen der Schuld und Verantwortung, Lüge und Täuschung, das Verhältnis von Kunst und Moral sowie Probleme der Debattenkultur. Georg Meggle (* 1944) ist Analytischer Philosoph. Nach Professu­ ren für Logik und Wissenschaftstheorie (Münster), Praktische Ethik (Saarbrücken) und Philosophische Anthropologie (Leipzig, Emeritie­ rung 2009) derzeit Gastdozent an der AUC (American University in Cairo). Der Schwerpunkt seiner theoretischen akademischen Arbei­ ten lag auf einer instrumentalistischen Erklärung von Kommunika­ tion und konventionaler (insbesondere sprachlicher) Bedeutung. Von diesem Ansatz sind auch seine späteren „Philosophischen Interventio­ nen“ aus dem weiten Feld der semantischen Kriegsführung geprägt: Was gehört zum deskriptiven Kern solcher Begriffe wie Abschre­ ckung, Terrorismus, Humanitäre Interventionen, Kollateralschaden, Kollektive Identität, Fake News, Antisemitismus etc. – und wie werden diese Begriffe zum Zwecke politischer Wertungen gebraucht bzw. missbraucht? Seine wichtigsten jüngsten Arbeiten aus diesen beiden Bereichen sind: Rationality in Communication, in: Markus Knauff / Wolfgang Spohn (Hg.), Handbook of Rationality, Cambridge Mass. / London (MIT-Press), 2021, S. 601-610; und Chomsky on Terrorism, in: Gün­ ther Grewendorf (Hg.), Chomsky on State and Democracy, BadenBaden (Nomos), 2021, S. 177-210. Jan Menzner ist Politikwissenschaftler, lehrt an der Universität Mannheim und promoviert an der dortigen Graduate School (CDSS) zum Zusammenhang von Klimawandel, Emotionen und Demokra­ tie-Bewusstsein. Außerdem forscht er als wissenschaftlicher Mitar­ beiter am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt der Goethe-Universität Frankfurt unter anderem zu wahrgenommener Meinungsfreiheit und Selbst-Zensur.

260 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

Zu den Autoren

Inken Prohl ist Religionswissenschaftlerin und Japanologin. Seit 2006 lehrt sie als Professorin für Religionswissenschaft an der Uni­ versität Heidelberg. Zu ihren aktuellen Forschungsschwerpunkten zählen Materiale Religion, Transformationen buddhistischer Vorstel­ lungen und Praktiken in der Moderne sowie Religion und Künstli­ che Intelligenz. Dieter Schönecker, Philosoph und Lyriker, promovierte 1997 an der Universität Bonn. 1997–1999 war er Visiting Fellow an der Yale University, dann Assistent in Halle/Saale und anschließend drei Jahre Associate Professor am Stonehill College in den USA. Seit Januar 2006 ist er Professor für Praktische Philosophie an der Univer­ sität Siegen und war 2020 Gerda-Henkel-Visiting-Professor an der Stanford University. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Kant, Prak­ tische Philosophie und Religionsphilosophie. Zu diesen Bereichen veröffentlichte er eine Vielzahl von Monographien, Sammelbänden, Editionen und Aufsätzen. 2022 erschien sein erster Lyrik-Band. Richard Traunmüller ist seit 2020 Professor für Empirische Demo­ kratieforschung an der Universität Mannheim. Zuvor hatte er Posi­ tionen u.a. an der Goethe Universität Frankfurt sowie an den Univer­ sitäten Essex/GB, Bern/CH und Konstanz inne. Seine Forschung ist quantitativ-empirisch ausgerichtet, widmet sich den psycho-kul­ turellen sowie sozio-strukturellen Voraussetzungen von Demokratie und hat einen starken Fokus auf Fragen von sozialer Kohäsion und Konflikt. Ein weiterer Interessenschwerpunkt seiner Arbeit liegt im Bereich quantitativer politischer Methodologie. Seine Arbeiten wur­ den u.a. in internationalen Fachzeitschriften wie British Journal of Political Science, Comparative Political Studies, Journal of Conflict Resolution und Political Analysis veröffentlicht.

261 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

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Sachregister

akademische Verbannung 190– 192, 197, 198, 200, 202, 204, 208, 211, 214, 216 Ambivalenztoleranz 136 Analytische Philosophie 18, 218, 224 Antirealismus 182 Antisemitisch 233 Antisemitismus 35, 48, 139, 227, 229, 233, 234 Antizionismus 226 BDS – Boycott, Divestment and Sanc­ tions 139, 201, 233, 234 Boykottstrategien 201, 233 Brandenburg-Test 28 Cancel Culture 13, 17, 34, 35, 82, 93–97, 131, 132, 189–191, 197, 199–202, 212, 216, 239–241, 247, 250, 255–257 Causa Meggle 231, 233–235 Charlie Hebdo 28 Concept Creep – (begriffliche Dehnung) 103, 124, 157, 242, 243 Coronapolitik 13 Critical Race Studies 134 Critical Race Theory 16, 33, 137, 139, 145, 154, 240, 249 Critical Social Justice Theories 134 Critical Social Justice Theory 135, 145

Demokratie 7, 9, 10, 21, 23, 24, 26, 33, 40, 43–47, 50, 53, 54, 56, 65–69, 73, 76–78, 83, 84, 87, 110, 113, 121, 127, 142, 150, 213, 227, 250–252, 257, 259–261 Demütigung 32 Demütigungen 29, 156 Deutsche Gesellschaft für Philoso­ phie 224 Diskriminierung 12, 32, 96, 102, 132, 134, 139, 140, 145, 154, 158, 159, 161, 190, 213, 233, 240 Diskursklima 104, 111, 113, 119, 120, 122 Diskurstheorie 137 Diversität 178 Diversity 133, 178, 215, 240, 244 epistemische Arroganz 204, 206, 207 Equity 133 Euthanasie 221, 222, 224, 243 Fallibilismus 191, 206 Forschungs- und Lehrfreihei­ ten 223 Funktionsbestimmung von Wis­ senschaft 217 GAP – Gesellschaft für Analytische Philosophie 201, 220, 224, 234 gebrauchstheoretische Seman­ tik 219 gefühlte Meinungsfreiheit 9

263 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

Sachregister

Gender Studies 134, 139, 140, 142, 143, 206 Gleichstellungsstellen – Diversity Management 134 Grundgesetz 24, 26, 28, 106, 126, 127, 193, 240, 255, 257 grundgesetzlich 195 Grundrechte 24, 122, 196 Handlungstheorie 220 Hasskritik 202, 208, 209 Hassrede – hate speech 26, 29, 208 Hetze 9, 13, 23, 26, 32, 238, 241 heuristische Bestimmungen 174 Holocaust 33, 225, 231, 232 Hypermoral 192 Identitätsdogma 185 Identitätspolitik 33, 35, 100, 132, 134–136, 142, 144, 146, 165, 167, 177, 184, 185, 200, 244, 259 identitätspolitisch 107, 165, 167, 180–185 Inclusion 133 intellektuelle Redlichkeit 197 Intersektionalität 140 Israel-Palästina Konflikt 225 israelische Besatzungspolitik 233 Judendiskriminierung 233 Klimapolitik 13, 89 Klimaschutzbewegung 21 Klimawandel 11, 22, 105, 106, 108, 109, 112, 116, 125, 213, 214, 253, 257, 260 Kolonialismus 102, 132, 136, 145, 146, 175 Kolonialismuskritik 136 Kommunikatives Verstehen 225 Konformitätsdruck 87, 131, 212

kryptotheologisch 173 LGBTQI-Community 135 Marginalisierung 154, 158 Materialitäten – Materialisierung(en) 166, 168, 171, 182, 184 Mehrheitsgesellschaft 134, 135, 146 Menschenwürde 7, 27, 29, 32, 36 Microaggressions 89, 104, 154, 156, 239, 256 Mikroaggression 103, 104 Mohamed-Karikaturen 28, 150, 151 Moralisierung 11, 47, 49, 78, 107, 108, 113, 115, 136, 192, 250 Négritude 138 Netzwerk Wissenschaftsfrei­ heit 21, 104, 201, 215, 259 Opferstatus 162 Orientalismus 138, 254 Othering 139 Paradox der Meinungsfreiheit 34 Parrhesia 10, 40, 42, 53, 68, 70, 71, 73–75, 77, 149, 150 Polizeischutz 227, 229 Postcolonial Studies 134, 136, 139, 140 Postkolonialismus 138, 139 Postmoderne Ansätze 177 pragmatische Religionswissen­ schaft 169, 181 Praktische Ethik 220–222, 255 Queer Studies 134 Rassismus 12, 15, 32, 35, 48, 102, 103, 132, 134, 137, 138, 144, 145, 156, 161, 191, 204, 207, 209, 213, 215, 240, 255

264 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

Sachregister

religiösen Formationen 171 Religious Studies 169, 173–175, 237, 241, 245 Repräsentations-Semantik 219 Safe Spaces 89, 104, 136, 142, 156, 165, 239 Satiriker 21, 22, 195 Schadensprinzip 151, 152 Schmähkritik 208 Schweigespirale 44, 87, 133, 134, 165, 237, 252, 259 Selbstzensur 61, 65, 66, 83, 84, 96, 201, 208 Semantik 218–220, 226, 250 shukyogaku 169 Sprache 13–15, 31, 42, 82, 89, 105, 106, 135, 154, 177, 183, 191, 213, 219, 220 Sprachphilosophie 218, 219 Standpunkttheorie 15, 143 Streitkultur 8, 9, 39, 46, 52, 66, 67, 73, 74, 149, 161, 169, 177, 184, 235

subjektive Meinungsfreiheit 83, 85, 88, 97 Terrorismus 203, 220, 225, 226, 228, 250 Theologie 170 Transpersonen 152, 161, 163 triadische Religionswissen­ schaft 183 varifokale Methode 183 Verletzlichkeit 157 Verletzlichkeiten 157 Volksverhetzung 190 Wissenschaft als Institution 217 Woke Culture 131 Wokeness 16, 184, 199, 201, 248, 251, 255 Ziviler Ungehorsam 17, 202, 203, 207

265 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .

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Personenregister

Aristophanes 72–74 Aristoteles 76, 192, 237 Avnery, Uri 230 Baumgarten, Helga 230, 231 Beauvoir, Simone de 142 Böhmermann, Jan 36 Brandl, Johannes 218, 220, 232, 238 Brumlik, Micha 226–228 Butler, Judith 143, 239 Césaire, Aimé 138 Chomsky, Noam 225, 230, 250 Constant, Benjamin 54, 77, 239 Crenshaw, Kimberlé 140, 239, 249 Dahrendorf, Ralf 217 Delgado, Richard 137, 240, 249 Demosthenes 70, 76, 240 Euripides 67, 71 Fanon, Frantz 138 Fehige, Christoph 218, 221, 241, 250 Foucault, Michel 71, 75, 137, 146, 149–151, 241 Friedan, Betty 142 Gouges, Olympe de 140 Gramsci, Antonio 136, 139 Grice, Herbert Paul 219 Habermas, Jürgen 50, 226, 227, 243

Hartmann, Nikolas 164, 243 Häuser, Franz 231, 232 Hegselmann, Rainer 224, 243 Hitler, Adolf 232, 233 Holland-Cunz, Barbara 142, 244 Honderich, Ted 226–229, 250 Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W. 145, 237 Kant, Immanuel 46, 56, 118, 138, 139, 192, 220, 246, 249, 251, 256, 261 Luhmann, Niklas 47, 49–51, 248 Lumer, Christoph 218, 241 Lyotard, Jean-Francois 146, 248 Marcuse, Herbert 51, 96, 249 Marx, Karl 139, 143 Mbembe, Achille 138, 139, 249 Meggle, Georg 17, 18, 195, 201, 218, 219, 221–223, 225, 228, 229, 232, 238, 241, 249, 250 Merkel, Reinhard 224 Messelken, Daniel 218, 238 Meyer, Hajo 231, 232 Mieth, Dietmar 221, 250 Mill, John Stuart 57–61, 67, 86, 140, 141, 149, 152, 153, 208, 250, 251, 259 Millet, Kate 142 Mouffe, Chantal 46, 48, 51, 52, 251 Nietzsche, Friedrich 72, 251

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Personenregister

Noelle-Neumann, Elisabeth 44, 45, 87, 133, 251, 252 Nuhr, Dieter 21, 22 Orwell, George 220, 252 Primoratz, Igor 226 Römmele, Andrea 217, 254 Rowling, Joanne K. 143 Said, Edward W. 138, 254 Sarrazin, Thilo 194–196, 255 Schlesinger, Arthur M. 137, 254 Schweitzer, Stephan 220 Senghor, Léopold Sédar 138 Singer, Peter 195, 220–224, 255 Sion, Abraham 230 Spacey, Kevin 32, 258

Spivak, Gayatri Chakravorty 139, 140, 256 Stefancic, Jean 137, 240 Steigleder, Klaus 221, 250 Stock, Kathleen 13, 14, 16, 143, 161–163, 180, 189, 196, 200, 241, 256 Taylor, Harriet 57, 141, 251 Thukydides 67, 75, 76, 249, 257 Tocqueville, Alexis de 44, 86, 257 Wedman, Sava 218, 238 Wessels, Ulla 218, 241 Wolffsohn, Michael 231 Wollstonecraft, Mary 141 Wright, Georg Henrik von 218

268 https://doi.org/10.5771/9783495998076 .