Demokratie und Selbstverwaltung – Selbstverwaltung in der Demokratie: 25. Bad Iburger Gespräche 9783737004589, 9783847104582, 9783847004585

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Demokratie und Selbstverwaltung – Selbstverwaltung in der Demokratie: 25. Bad Iburger Gespräche
 9783737004589, 9783847104582, 9783847004585

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Bad Iburger Gespräche zum Kommunalrecht

Band 23

Herausgegeben von Pascale Cancik

Pascale Cancik (Hg.)

Demokratie und Selbstverwaltung – Selbstverwaltung in der Demokratie 25. Bad Iburger Gespräche

V& R unipress Universitätsverlag Osnabrück

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7408 ISBN 978-3-8471-0458-2 ISBN 978-3-8470-0458-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0458-9 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Ó 2015, V& R unipress GmbH in Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Professorin Dr. Pascale Cancik Eröffnung und Begrüßung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Landrat Dr. Michael Lübbersmann Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Demokratie in einem zusammenwachsenden Europa

. . . . . . . . . . .

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Professor Dr. Christoph Möllers, LL.M. Zum Demokratieverständnis des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . .

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Diskussion (1. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Professor Dr. Gunnar Folke Schuppert Governance-Perspektiven für Demokratie und Selbstverwaltung . . . . .

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Diskussion (2. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Professor Dr. Hubert Meyer Entwicklungen, Gefährdungen, Chancen der kommunalen Selbstverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Diskussion (3. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Professor Dr. Eberhard Eichenhofer Selbstverwaltung im Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

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Inhalt

Diskussion (4. Teil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Professor Dr. Jörn Ipsen Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Teilnehmer

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Vorwort

Im Jahre 1989 wurden das Institut für Kommunalrecht und seine Tagungsreihe, die »Bad Iburger Gespräche«, gegründet. Jedes Jahr wurden seitdem aktuelle Rechts- und Politikfragen rund um die Kommunen behandelt. Wissenschaft und Praxis stellten ihr Wissen, ihre Problemwahrnehmungen, ihre Lösungsvorschläge zur Diskussion. Das 25-jährige Jubiläum sollte nun Gelegenheit bieten, einen Schritt zurück zu treten und aus der Distanz einen Blick zu wagen auf die Verortung der Grundideen von Demokratie und Selbstverwaltung, für die gerade die Kommunen in der deutschen Tradition stehen. Das Thema »Demokratie und Selbstverwaltung – Selbstverwaltung in der Demokratie« ruft Vieles auf: die Geschichte von Ideen, von Verfassung, Politik und Verwaltung; das Recht und die Praxis von Herrschaft durch »das Volk«, in Deutschland weitgehend realisiert durch staatliche Verwaltung wie durch funktionale und kommunale Selbst-Verwaltung; und schließlich, immer mitlaufend, die Frage nach erforderlicher Veränderung, nach Anpassungs- oder auch Widerstandsbedarf. Einiges von diesem Vielen konnte dank der Beiträge der Referenten diskutiert werden: Demokratie in europäischem Rahmen, der (un)mögliche Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zu jenem Demokratiediskurs, die Erfassung von Demokratie und Selbstverwaltung in an Governance geschulten Beschreibungen, und schließlich die Frage nach Anspruch und Wirklichkeit – der Selbstverwaltung der Kommunen wie der Selbstverwaltung im Sozialrecht. Auf welche Weise solche Fragen mit einem Rechtswissenschaftlerleben verknüpft sein können, belegt das Schlusswort des Gründers des Instituts: Jörn Ipsen. Ihm sind Tagung und Tagungsband gewidmet. Osnabrück, im Mai 2015 Professorin Dr. Pascale Cancik

Professorin Dr. Pascale Cancik

Eröffnung und Begrüßung

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich heiße Sie willkommen zu den 25. Bad Iburger Gesprächen, die dem Thema »Demokratie und Selbstverwaltung – Selbstverwaltung in der Demokratie« gewidmet sind. Mit meinen Institutskollegen, Professor Ipsen und Professor Hartmann, freue ich mich sehr, dass Sie in diesem Jahr den Weg nach Bad Iburg und in den herrlichen Rittersaal dieses Schlosses gefunden haben. Nach guter Tradition dieser Tagung gibt es keine langen Honneurs in der Begrüßung der Direktorin, ich darf aber besonders unsere Gastgeberin, Frau Bürgermeisterin Niermann, begrüßen. In einem Schloss wie diesem zu tagen, ist eine Ehre für uns. Wir sind sehr dankbar für die Gastfreundschaft und die vielfältige Unterstützung im Vorfeld des heutigen Tages. Auch dem Landkreis gebührt Dank für die Unterstützung. Ich begrüße Herrn Landrat Dr. Lübbersmann, dem ich im Anschluss auch das Wort übergeben werde. Besonders begrüßen möchte ich außerdem natürlich die Referenten des heutigen Tages. Sie haben im aktualisierten Programm schon gesehen, dass Professor Huber, Richter des Bundesverfassungsgerichts, leider absagen musste. Er bedauert das sehr, aber einem Plenartermin des Gerichts muss man sich beugen. Wir sind sehr froh, dass Professor Edzard Schmidt-Jortzig sich kurzfristig bereit erklärt hat, zu Fragen der Demokratie im zusammenwachsenden Europa zu sprechen. Herr Schmidt-Jortzig war unter anderem Bundesminister der Justiz und vieles mehr, besonderer Dank an Sie und herzlich willkommen. Ich begrüße außerdem Professor Christoph Möllers von der Humboldt-Universität zu Berlin, Professor Gunnar Folke Schuppert vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Professor Eberhard Eichenhofer von der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Professor Hubert Meyer, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Niedersächsischen Landkreistages in Hannover. Vielen Dank, dass Sie uns bereichern werden. 25 Jahre ergeben ein Vierteljahrhundert und einen schönen Anlass, zurückzublicken auf die vielen Facetten des kommunalen Alltags, die in den letzten Jahren Gegenstand dieser Tagungsreihe waren. Wenn wir uns auf diesen

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Pascale Cancik

Rückblick einlassen, finden wir Tagungen zu damals wie heute aktuellen Themen, wie etwa der Zustand der Gemeindeverfassung, das Vergaberecht, die Finanzkrise oder heute sollte man wohl sagen »eine« Finanzkrise, Privatisierung, öffentlicher Dienst, Gemeindegebietsreform, öffentliche Unternehmen, Energieversorgung, Sicherheit in Städten, Schulträgerschaft und vieles mehr. Zugleich erfassen wir mit diesem Rückblick einen Ausschnitt aus dem Tätigkeitsfeld unseres Kollegen Jörn Ipsen und damit kommen wir zum zweiten Jubiläum unserer Bad Iburger Tagung: dem Jubiläum des Gründers des Instituts für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften und Begründers dieser Tagung. Jörn Ipsens Ehrentag war uns ein Anlass, den kommunalen Alltag einmal etwas beiseite zu schieben und einen Grundlagenblick zu wagen. Dieser Grundlagenblick ist inspiriert von den zwei Themenfeldern, die Jörn Ipsen vielleicht am meisten umgetrieben haben: Demokratie und Selbstverwaltung. Er nähert sich diesen Themenfeldern auf verschiedene Weise. Mit verfassungshistorischem Blick und rechtsdogmatischem Zugriff. In Verfolgung der größeren Linien wie im rechtspolitischen Beitrag zu aktuellen Streitfragen, mit rechtswissenschaftlicher Distanz wie mit der Erfahrung des Verfassungsrechtspraktikers. Von Jörn Ipsen zu erzählen, ihn angemessen zu würdigen, sind andere in diesem Kreis berufener als ich. Ich kleide also meine kleine Verbeugung vor Ihnen, lieber Herr Ipsen, in einige Worte zur Sache. Ende des 18. Jahrhundert beginnt in deutschen Landen ein Diskurs, der gleichsam den Ideenhaushalt unseres Themas Demokratie und Selbstverwaltung entwickelte. Anknüpfend an antike Ideen von »Auto-nomia« (Selbstbestimmung) und an Organisationsformen für diese Selbstbestimmung in einer Gesellschaft, formulieren einige wenige frühe Demokraten Versuche, die individuelle Fähigkeit und Aufgabe der Selbsterhaltung, der Selbsttätigkeit mit der Übertragung dieser Selbsttätigkeiten in den Staat hinein zu verbinden. Selbstregierung, Selbstgesetzgebung, Selbstverwaltung lauten die Ausdrücke, die solche Konzepte beschreiben sollen. Sie werden zu konkreten Forderungen verarbeitet im Vorfeld der 1848er Revolution. Selbstverwaltung heißt damals oft auch volkstümliche Verwaltung und bezeichnet deutlich weitergehende Vorstellungen, als die später dem Reichsfreiherrn von Stein zugeschriebenen Konzepte der Selbstverwaltung der Kommunen. Sie richtete sich gegen typische, immer wieder kritisierte Phänomene. Dazu gehören der Vorwurf der Vielregiererei, des Maschinenhaften, Mechanisierten sowie der Distanz von Staat und Gesellschaft, aber auch der Korruption, der Verschwendung finanzieller Ressourcen und schließlich des mangelnden Sachverstands. Unsere Welt wie auch unsere Vorstellungen von Demokratie und Selbstverwaltung haben sich seitdem sehr verändert. Doch ist es frappierend, wie viele Anklänge an die alten Debatten um die Organisation und Gewährleistung der Selbsttätigkeit der Bürger und zunehmend auch der Bürgerinnen in den heutigen Debatten um Europäisierung

Eröffnung und Begrüßung

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und Globalisierung mitschwingen. Ich vermute sehr, dass wir dazu Einiges hören werden. Bevor ich das Wort übergebe, möchte ich einen letzten nicht minder wichtigen Dank abstatten. Der Dank geht an Frau Küpper und Frau Proske und an die anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts, die uns in der Vorbereitung dieser Tagung unentbehrlich sind und uns vielfältig unterstützen. Wir sind Ihnen allen sehr verbunden.* Der Schriftsteller Jean Paul, im letzten Jahr 250 Jahre alt, hat einmal formuliert: »Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widerspruchskünstler ist undenkbar.« Für eine Tagung über Demokratie und Selbstverwaltung müssen es vielleicht keine »paar Hundert« sein, aber Widerspruchskunst ist ohne Zweifel hilfreich. In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine bereichernde und diskussionsfreudige Tagung.

* Besonderer Dank gebührt Dipl.-Jur. Bianka Trötschel-Daniels, M.A., für die mühsame Korrektur der Diskussionsbeiträge.

Landrat Dr. Michael Lübbersmann

Grußwort

Sehr geehrte Frau Professorin Cancik, sehr geehrter Herr Professor Ipsen, liebe Familie Ipsen, sehr geehrte Herren Referenten, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie heute hier an historischer Stätte begrüßen zu können und freue mich natürlich an dieser Stelle auch, dass wir die neue Bürgermeisterin von Bad Iburg hier heute das erste Mal begrüßen dürfen. Liebe Annette, schön, dass Du dabei bist. Wir haben heute sozusagen zwei Jubiläen – wir haben es eben gehört – zu begehen. Zum einen jähren sich die Bad Iburger Gespräche zum 25. Mal. Diese Veranstaltungsreihe hat von Beginn an starke Impulse gesetzt und hatte sich zu einer großartigen Erfolgsgeschichte entwickelt. Herr Professor Ipsen hat die außerordentlich fruchtbare Idee, neben der universitären Institutsarbeit ein Veranstaltungsformat zu entwickeln, in dem sich Wissenschaft und Praxis auf das Trefflichste verbinden. Das Ziel war damals wie heute gleich. Es ging und geht immer noch darum, sich nicht nur abstrakt mit verwaltungsrechtlichen Fragestellungen auseinanderzusetzen, vielmehr widmen sich die Bad Iburger Gespräche ganz konkret den kommunalen Themen der Praxis und damit der kommunalen Ebene. Gerade auch aus diesem Grunde und der immer währenden Aktualität der Themen ist es gelungen, sowohl das Institut für Kommunalrecht als auch die Bad Iburger Gespräche zu einer anerkannten und hoch renommierten Einrichtung zu entwickeln. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann mich noch gut an verschiedenste Tagungen, die weit über den Tag nachklangen, erinnern. Themen sind vorhin schon genannt worden, ich würde sie aber durchaus gern wiederholen. Da waren zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Herausforderung für Gemeinde und Kreis, oder Aufgabenerfüllung im Zeichen der Finanzkrise. Zu den ersten Referenten 1989 gehörten übrigens auch der damalige niedersächsische Innenminister Josef Stock aus Melle oder Professor

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Michael Lübbersmann

von Arnim. Bei meinen ersten Bad Iburger Gesprächen bei Professor Ipsen war ich noch Referendar und auch mit wachsender kommunalpolitischer Verantwortung konnte ich immer wieder nachhaltig von dieser Veranstaltungsreihe profitieren. Das Gleiche gilt übrigens für alle meine Mitarbeiter des Landkreises Osnabrück. Aus dem breiten Themenspektrum und der Expertise der hochkarätigen Referenten konnten immer wieder wichtige Informationen und Anregungen für unsere ganz praktische Arbeit gewonnen werden. Doch so wunderbar wie die Bad Iburger Gespräche auch für die regional Verantwortlichen sind, die Strahlkraft dieser Veranstaltungsreihe geht weit darüber hinaus. Sie genießt bundesweit hohes Ansehen in Fachkreisen und damit haben die Bad Iburger Gespräche auch eine überragende Bedeutung für das Osnabrücker Land. Sie sind zu einem Markenzeichen, zu einem Aushängeschild für die Region geworden. Herr Professor Ipsen, Sie haben die Bad Iburger Gespräche nicht nur aus der Taufe gehoben, sondern Sie haben über lange Jahre diese Veranstaltungsreihe außerordentlich geprägt. Dafür unseren ganz herzlichen Dank. Und gerade deshalb sind wir unglaublich froh, mit Frau Professorin Cancik eine so wunderbare engagierte Nachfolgerin zu haben, die die Bad Iburger Gespräche ebenfalls zu ihrer Sache gemacht hat und sie weiterführt. Ihnen und Ihrem Team vom Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften der Universität Osnabrück gilt deshalb mein Dank für Organisation, Umsetzung und inhaltliche Gestaltung der Bad Iburger Gespräche. Meine sehr verehrte Damen und Herren, damit bin ich beim zweiten Jubiläum des heutigen Tages: dem 70. Geburtstag von Herrn Professor Ipsen. Ein Dichter hat mal gesagt, es ist immer zu früh, ein Lebenswerk bei noch Lebenden zu würdigen, gleichwohl bin ich froher Erwartung vieler noch kommender Projekte und möchte dies trotzdem tun. Zuerst gilt es aus kommunaler Sicht Danke zu sagen. Es ist ganz ausdrücklich hervorzuheben, dass es Ihrem Wirken und Handeln, sehr geehrter Herr Professor Ipsen, zu verdanken ist, dass die Lücke zwischen Wissenschaft und Praxis im Kommunalrecht kleiner geworden ist und sich weiter schließt. Ein ganz wesentlicher Meilenstein dazu war seinerzeit die Gründung des Instituts für Kommunalrecht an der Universität Osnabrück im Jahr 1989, dem Sie bis zu Ihrer Emeritierung treu geblieben sind. Das Niedersächsische Kommunalforum hat das Institut seit 1990 unterstützt. Sie, Herr Professor Ipsen, konnten insbesondere im Bereich der Forschung bundesweit Maßstäbe setzen. Von diesem Potential haben nicht nur Juristen und Wissenschaftler profitiert, sondern auch Generationen von Studenten und Doktoranden, ich gehöre übrigens auch dazu. Ihr wissenschaftliches Renommee und die hochkarätige Arbeit des Instituts, das Renommee der Fachveranstaltungen, vor allem aber Ihre Persönlichkeit, Herr Professor Ipsen,

Grußwort

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haben im Jahr 2007 zu Ihrer Berufung zum Präsidenten des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs geführt. Sie waren auch bereit, an der Aufarbeitung von Juristischen Fakultäten in den neuen Bundesländern mitzuwirken. Als Beispiel nenne ich hier nur Greifswald oder Jena. An der Universität Osnabrück leiteten Sie mehrere Jahre als Dekan den Fachbereich Rechtswissenschaften. Sehr geehrter Herr Professor Ipsen, über lange Jahre sah es so aus, als wenn das Institut und die Person Jörn Ipsen quasi eins und untrennbar waren. Die Institutsarbeit und Leitung war von absoluter Kontinuität und Identität gekennzeichnet. Hervorzuheben ist an dieser Stelle auch Ihre enge Verbundenheit mit den Institutsmitarbeitern und den Studenten. Darauf haben Sie immer großen Wert gelegt und Ihr Bestreben war es stets, beide zu fördern. Um dieses Ziel zu erreichen, haben Sie immer wieder Veranstaltungen auch außerhalb des Instituts organisiert, vielleicht auch schon legendär sind gemeinsame Ausflüge mit kulturhistorischen Angeboten und Inhalten. An dieser Stelle will ich die Kultur auch nicht unerwähnt lassen, Sie setzen sich beispielhaft für die Ausrichtung von Konzerten im Kloster Malgarten in Bramsche ein, dessen Schirmherr Sie mittlerweile sind. Dafür auch ein ganz großes Dankeschön. Gerade auch wegen Ihrer sehr engen Verbundenheit zum und mit dem Institut war die Frage der Nachfolge der Institutsleitung schon eine gewisse Herausforderung und Weichenstellung. Aus meiner Sicht und Bewertung darf ich feststellen, dass die Überleitung und Übergabe des Instituts in die Hände von Frau Professor Cancik hervorragend gelungen ist. Auch dieser Ablauf war von hoher Professionalität geprägt. Für das Institut ist das ein Glücksfall. Wir können heute schon erkennen, dass sich das Institut in neuer Leitung ständig weiterentwickelt und dass neue Akzente gesetzt werden. Auch Ihnen, Frau Professorin Cancik, vielen Dank für Ihr Engagement und meine ganz persönliche Anerkennung. Sehr geehrter Herr Professor Ipsen, Sie haben in Ihrem Wirken insbesondere mit der Institutsgründung und auch den Bad Iburger Gesprächen Maßstäbe und Akzente gesetzt, die weit in die Zukunft und weit in die Bundesebene hinausstrahlen. Dieses gilt es heute zu würdigen. Als Vertreter des Landkreises Osnabrück aber auch ganz persönlich möchte ich mich für all Ihr Engagement, Ihre unermüdliche Arbeit und Ihre Ideen auf das Herzlichste bedanken. Nicht nur die Kommunalrechtler und die Praktiker des Kommunalrechts haben Ihnen ganz viel zu verdanken. Im Namen der Mitglieder des Kommunalforums und sicher auch im Namen der hier Anwesenden danke ich Ihnen für Lebenswerk und wünsche Ihnen für die Zukunft alles Gute, vor allem Gesundheit und Gottes Segen. Danke schön.

Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig

Demokratie in einem zusammenwachsenden Europa*

Vor Juristen über Europa zu sprechen (zumal vor Verfassungsrechtlern), verlangt allemal, von einer gerüttelten Dogmatik zur Existenz des Staates herzukommen. Und dann womöglich noch zwischen orthodoxen und extensiven Lesarten unterscheiden zu wollen, würde bereits an die Grenzen der Fachdisziplin rühren. Wirtschaftswissenschaftler richten ihr Augenmerk stattdessen auf die Anreize und Effekte, die in dem System angelegt sind bzw. von ihm ausgehen. Auch die endogenen Steuerungskräfte oder spezifischen Kostenfaktoren sind von Interesse, und die Aktivierbarkeit von Synergien spielt eine Rolle. Soziologen endlich schauen auf die Einstellungen und das Verhalten der Menschen und, wie diese sich unter dem Einfluss der neuen politischen Institution verändern. Gesetzmäßigkeiten und Rollenverständnisse bei der Funktionswahrnehmung treten hinzu. Man könnte die spezifischen Sichtweisen der jeweiligen Betrachter noch beliebig erweitern, auf Historiker, Kulturwissenschaftler etwa oder Politiker. Aber es scheint, dass all solche Sonderbetrachtungen der Sache nicht wirklich gerecht werden. Wichtig dürfte vielmehr eine Gesamtschau sein oder jedenfalls ein Blick, der auch jeweils andere Aspekte noch mit berücksichtigt. Ich habe deshalb den in der Erstfassung des Programms vorgesehenen Titel dieses Eingangsreferats bewusst deskriptiver gefasst, narrativ : Statt »Europäische Demokratie« also »Demokratie i n « dem europäischen Gebilde, und auch nicht einfach in »Europa«, sondern, um dessen stete Wandlung und Vielseitigkeit zu betonen, im »zusammenwachsenden Europa«. Nageln Sie mich also bitte nicht auf ein streng deduktives Vorgehen oder gar eine normative Prämisse fest – obwohl ich natürlich methodisch und in der inhaltlichen Grundierung meine Juristenherkunft nicht verleugnen kann und will.

* abgedruckt auch bereits in: NdsVBl. 2015, Heft 1.

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Edzard Schmidt-Jortzig

I. Schon für den Ausgangsbegriff »Demokratie« schuldet man allerdings gleich eine genauere, semantische Erklärung. Bereits im allgemeinen Sprachgebrauch werden mit »Demokratie« bzw. »demokratisch« ja ganz unterschiedliche Konnotationen verbunden. Nikolaus Lobkowicz etwa identifiziert hier (neben dem staatrechtlichen Zusammenhang) ausdrücklich noch sozialpolitische sowie partizipatorische Gehalte1. Und dass diese Bedeutungen oft verschwimmen, ist ein wirkliches Dilemma der Diskussion. In unserem Rahmen aber will ich getrost davon ausgehen, dass von »Demokratie« im staatsrechtlichen Sinne gesprochen werden soll. Auch da aber weiß man ja, dass es für eine Definition mit der einfachen Übersetzung »Demokratie gleich ›Herrschaft des Volkes‹« nicht getan ist. Denn dass wirklich das Volk – also die Gesamtheit der ein Gemeinwesen (gleich welcher konstitutiven Verfestigung) tragenden Menschen – es sei, welches herrscht, will selbst in der Theorie nicht recht überzeugen. Das scheitert in der Massendemokratie schon ganz profan an den Quantitätsproblemen der jeweiligen Willens- (und nicht nur Meinungs-)bildung, vom erforderlichen zügigen Reagierenkönnen der praktisch politischen Akteure ganz zu schweigen. Und wenn jeder Bürger sich wirklich voll mit der richtigen Lenkung des Gemeinwesens beschäftigen wollte, käme das reale soziale Leben auch rasch zum Erliegen. Über diesen gedanklichen Graben vermag eben selbst die schönste Abstraktion, wie sie die Repräsentationstheorie verlangt, nicht wirklich hinwegzuhelfen. Vielmehr geht es bei »Demokratie« auch staatsrechtlich – und das vergessen viele europakritische Stimmen schnell – allein darum, dass das real erfolgende Herrschaftshandeln der berufenen Personen jederzeit mit unzweifelhafter Legitimation durch das Volk geschieht. Und für die substantiellen Anforderungen hierfür darf man dann getrost auf das Bundesverfassungsgericht zurückgreifen2 : Es braucht einfach jede hoheitliche Aktion eine »ununterbrochene Legitimationskette« vom Volke aus hin zu den Akteuren und ihren Funktionsäußerungen, u. zw. sowohl in institutioneller und funktioneller wie in personeller und sachlich-inhaltlicher Hinsicht. Wie also steht es dazu nun im ›zusammenwachsenden Europa‹, d. h. in der Europäischen Union? Immerhin wird in ihrer Grundordnung ja mit großen Worten beschworen, dass die Arbeitsweise der Union »auf der repräsentativen Demokratie beruht«, dass »alle Bürgerinnen und Bürger das Recht (haben), am 1 Nikolaus Lobkowicz, Das Dilemma dreier Demokratiebegriffe, in: Epoche IV (1980), S. 36ff. 2 BVerfGE 83, 60 (71f.); 93, 37 (66ff.); 107, 59 (87f.); 130, 76 (123f.), jeweils mit Rückverweisungen.

Demokratie in einem zusammenwachsenden Europa

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demokratischen Leben der Union teilzunehmen«, und dass sie auf Unionebene eben »unmittelbar im Europäischen Parlament vertreten« sind3.

1. Als Ausgangspunkt der Betrachtung muss hierfür zunächst auf das Bezugssubjekt »Volk« eingegangen werden. Dass es bei der Europäischen Union überhaupt an einem veritablen Volk mangele, das demokratische Legitimation verschaffen könnte, ist ja ein Standardeinwand, und zwar nicht nur bei der Diskussion um die Verfassungsqualität ihrer Grundordnung. Nach Art. 9 des Unionsvertrages ist jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaats automatisch zugleich Unionsbürger (ebenso Art. 20 AEUV). Nominell bildet damit die Gesamtheit der Mitgliedstaatsangehörigen das Volk der Europäischen Union. Und da jeder Unionsbürger unter den ausgefeilten Bedingungen des Zuteilungs- und Verfahrensregimes auch »das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament« hat (Art. 22 AEUV), ist formell jedenfalls die notwendige Ausgangsgröße demokratischer Legitimation in Europa vorhanden. Denn es kommt für die Demokratie nicht darauf an, dass das Legitimation gebende Volk »Staatsvolk« ist, sondern nur darauf, dass es eine konstitutiv abgegrenzte und ein Gemeinwesen tragende Gesamtheit darstellt.

2. Schon die erste und grundlegende Stufe eines demokratischen Legitimationsflusses, nämlich die Wahl eines Vertretungs- oder Repräsentativorgans für das Volk, in unserem Fall also des Europäischen Parlaments, weist dann allerdings verschiedene Unzulänglichkeiten auf. Dabei geht es m. E. noch gar nicht so sehr um die Ungleichheit des nach Einwohnerzahl der Mitgliedstaaten gestaffelten Gewichts der einzelnen Wahlstimmen4. Denn für den sog. »Grundsatz der degressiven Proportionalität«, der das europäische Wahlrecht bestimmt und eben die Wahlrechtsgleichheit (hier : Erfolgswertgleichheit) aller Stimmen einschränkt, gibt es gute Gründe. Auch 3 Art. 10 EUV: »Demokratische Grundsätze«. 4 Dazu nur Rudolf Streinz, Europarecht (9. Aufl. 2012), Rn. 303f.; Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozess der europäischen Integration, in: J. Isensee / ders., Handbuch des Staatsrechts (3. Aufl.), Bd. X (2012), § 214 Rn. 5, 165; oder Sven Hölscheidt, in: E. Grabitz / M. Hilf / M. Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (Stand 2014), Bd. I, Art. 14 EUV Rn. 82ff. Auch BVerfGE 123, 267 (371ff.).

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Edzard Schmidt-Jortzig

kann man die tatsächlich höchst geringe Wahlbeteiligung kaum gegen das normative Demokratiekonzept ins Feld führen. Denn die ist ja in den Mitgliedstaaten nicht nur ganz unterschiedlich (bei der letzten Wahl etwa im Mai 2014 zwischen 13 % in der Slowakei und dem mehr als dreifachen Wert, 45 %, in Litauen), sondern eben überhaupt von nationspezifischen politischen Umständen oder jeweils aufgewendeten Mobilisierungsanstrengungen abhängig. Vielleicht spiegelt sie ja sogar – was aber natürlich ein unkorrekter Gedanke ist – eine relative Zufriedenheit, jedenfalls Nichterregung bei den Wählern über das europäische Geschehen wider. Und ähnliches Desinteresse der Menschen (wenn auch noch nicht so krass) beobachtet man ja auch bei den nationalen Parlamentswahlen. Viel problematischer erscheint mir, dass es der Rat immer noch nicht geschafft hat, seiner in Art. 223 Abs. 1 AEUV niedergelegten Verpflichtung nachzukommen, nämlich ein gemeinsames, EU-einheitliches Wahlverfahren einzuführen. Deshalb können – worauf unlängst zu Recht erneut Frank Decker hingewiesen hat – die europäischen Parteien weiterhin keine gemeinsamen Wahllisten bilden. Und obwohl sie Spitzenkandidaten präsentieren und dann als Einheitsfraktionen den Parlamentsbetrieb bestimmen, bewerben sich bei den Europawahlen eben nach wie vor die nationalen Herkunftsparteien5. Gemeinsame Wahllisten würden zudem die Chance bieten, die »gewünschte Bevorzugung der kleinen Länder auf die Ebene der Kandidatenaufstellung und damit der Parteien zu verlagern« und damit die Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit zu verringern6. Selbst der spezifische Europabezug des Wahlakts, die europawirksamen Alternativen der mit der Stimmabgabe zu treffenden Entscheidung oder überhaupt die bisher kaum erkennbaren europapolitischen Standpunkte von Parteien wie Kandidaten würden mit gemeinsamen EuropaWahllisten gewiss deutlicher werden.

3. Auch die Weitergabe des grundlegenden Legitimationsimpulses vom Europäischen Parlament an jene besonderen Organe und ihre Funktionsträger, welche die unionseigenen Handlungen vornehmen und Entscheidungen treffen, ist immer noch alles andere als lückenlos.

5 Frank Decker, Die Europäische Union auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie?, in: APuZ 64 (2014) Nr. 38–39, S. 3 (6f.). 6 Decker, a. a. O., S. 8.

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a) Beim Europäischen Rat, also dem Konvent der mitgliedstaatlichen Staats- und Regierungschefs (samt Präsident und Kommissionspräsident), will man ja schon eine unionsspezifische demokratische Legitimation gar nicht erst erwarten. Dies Organ ist ja das letzte Relikt des völkerrechtlichen Ursprungs der Union, quasi ein Fossil aus der Vorzeit des eigenständigen europäischen Gemeinwesens. Hier kommt Legitimation allein aus der mitgliedstaatlichen Souveränität her. b) Bereits bei der Einsetzung des Kommissionspräsidenten aber ist insoweit eine bemerkenswerte Emanzipation erfolgt. Hier hat es durch die Dynamik der Europawahl im letzten Mai eine Weiterentwicklung gegeben. Und sie bedeutet nun immerhin eine unverkennbare Parlamentarisierung. Die großen Parteifamilien hatten bekanntlich für die Wahl erstmalig Spitzenkandidaten nominiert, die man als Kommissionspräsident haben wollte. Und nach der Wahl legte sich das Parlament dann konsequenterweise auf den Spitzenkandidaten der erfolgreichsten Parteiengruppe als entsprechenden Aspiranten fest. An sich steht dem Rat nach dem Unionsvertrag das Recht zu, gemäß eigenen Vorstellungen »dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission« vorzuschlagen7, den das Parlament dann akzeptieren oder ablehnen kann (worauf der Rat einen neuen Kandidat zu präsentieren hätte). Der Rat aber mochte sich im letzten Sommer – wollte er nicht einen (endlosen) Konflikt mit dem Parlament riskieren – dem Vorvotum der Abgeordneten nicht entziehen und schlug eben den parlamentsgewollten Kandidaten vor. Dadurch ist faktisch jetzt das Bestellungsrecht des Kommissionspräsidenten vom Rat auf das Parlament übergegangen, denn dass man künftig hinter diese Praxis zurückfällt, ist politisch undenkbar. c) Hiernach die europäische Ordnung bereits als ein demokratisch-parlamentarisches System anzusehen, wäre indessen sicherlich fehl am Platze. Davon könnte erst die Rede sein, wenn nicht nur der Präsident, sondern auch die übrigen Amtswalter der EU ihre Legitimation vom Parlament ableiten würden und in ihrer Amtsführung (und sei es nur mittelbar) dem Parlament verant7 Art. 17 VII 1 EUV.

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wortlich wären. Und vor allem müsste das Parlament eigene – u. zw. die wesentlichen – Regelungsbefugnisse für das Gemeinwesen haben. Dem Europäischen Parlament aber fehlt schon jedes Recht zur Gesetzesinitiative, und im Bereich von Gesetzgebung und Budgetierung verfügt es lediglich über (wenn auch durchaus gewichtige) Mitwirkungskompetenzen. Namentlich aber ist ungeachtet des Kommissionspräsidenten die übrige »Regierung«, die Kommission als solche, überhaupt nicht parlamentslegitimiert. Schon für die Berufung gilt dies leider völlig. Der Kommissionspräsident nämlich kann nach der entsprechenden EUV-Vorschrift8 die Kommissare (samt dem EU-Außenbeauftragten) nur im Einvernehmen mit dem Europäischen Rat dem Parlament zur Zustimmung vorschlagen, und dies auch nur in toto, was für das Parlamentsakzept ebenso gilt (auch wenn bei der vorausgehenden Anhörung einzelne Kandidaten noch so publikumswirksam ins Visier genommen – im Politjargon: »gegrillt« – werden). Für die abschließende Ernennung durch den Rat hat dieser ja ohnehin noch eigenes Ermessen. In ihrer Amtsführung sodann ist die Kommission erst recht nicht vom Parlament abhängig. Das wirksamste Mittel dafür, nämlich die Option eines Misstrauensvotums gegenüber Kommissionspräsident und Kommission, bleibt dem Parlament von vornherein versagt. Entsprechend gibt es auch für die Kommission bzw. den Kommissionspräsidenten keine Möglichkeit zur Vertrauensfrage. Und vom letzten gouvernementalen Übereinbringungshebel einer vorzeitigen Parlamentsauflösung kann dann natürlich auch keine Rede sein. d) Erst recht aber gilt die demokratische Defizitanzeige für den Ministerrat, im EUVertrag schlicht »Rat« genannt. Im vorliegend vielleicht am meisten interessierenden Ressort heißt er übrigens »Justiz- und Innenrat« (man beachte die Reihung, hierzulande wird ja meist von »Innen- und Rechtspolitik« gesprochen9). Dem Ministerrat also kommt gemeinsam mit dem Europäischen Parlament immerhin die Aufgabe als Gesetzgeber zu. Und er besteht bekanntlich (Art. 16 Abs. 2 EUV) aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaates auf Ministerebene, ist demzufolge von jeder europaeigenen, d. h. mindestens über das Europaparlament laufenden Legitimation unberührt. Nun soll freilich nach einer neueren Doktrin die demokratische Legitimation nicht nur nach dem einheitlichen demogenen »Input«, also in Europa dem vom Gemeinschaftsvolk herrührenden Impuls bemessen werden. Vielmehr sei als zusätzlicher demokratischer Legitimationsfaktor der Fokus auch auf die tat8 Art. 17 VII 2 EUV. 9 Und das lässt vielleicht doch Rückschlüsse auch auf tiefer liegende Wertigkeitsprioritäten zu.

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sächliche, inhaltliche Gediegenheit der Herrschaftsausübung zu richten, nämlich darauf, welche Ergebnisse und Auswirkungen die einzelne Betätigung von Herrschaftsgewalt für das davon erfasste Gemeinwesen hat, und dies sei nicht zuletzt nach der materialen Rationalität für die Erreichung der (›input-mandatierten‹) Herrschaftsziele zu beurteilen10. Für diese demokratische »Output«Bewertung nun kann und muss die durch das Heimatparlament gewährleistete Kontroll- und Akzeptanzvermittlung eine wichtige Rolle spielen11. Die einzelnen Ratsmitglieder sind nun zwar (wie mittelbar auch immer) jeweils ihren nationalen Parlamenten verantwortlich. Aber ihr Wirken im Rahmen des EU-Ministerrates ist nur in Ausnahmefällen wirklich Thema nationaler Parlamentsbefassung. Jedenfalls kann man das für Deutschland so feststellen. Die zur Ratsentscheidung führenden Verhandlungen werden realiter auf Betreiben der heimischen ministeriellen Fachbeamten vom deutschen EUBotschafter geführt12, können in den strikt ohne Drittpersonen stattfindenden, streng vertraulichen sog. »Kaminabenden« noch wieder umgedreht werden, und die eigentliche Ratssitzung besteht dann nur noch aus dem Ritual der betreffenden Standpunkt- bzw. Votumsabfrage. Die nationale Öffentlichkeit jedenfalls erfährt lediglich das Ergebnis, und dieses lässt den Abstimmungsanteil des eigenen Ministers eben in der Regel hinter dem scheinbar entrückten Beschluss des hohen Europaregimes verschwinden. Mitunter wird deshalb seitens der Regierung ja auch erfolgreich »über Bande« gespielt: Was man beim eigenen, nationalen Parlament nicht genehmigt bekommt (oder sich nicht traut, offen anzustreben), wird dezent über den EUMinisterrat eingegeben, um dann mit hilflosem Achselzucken die entsprechende europäische Entscheidung entgegen zu nehmen und nun eben umsetzen zu müssen.

10 Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt (2004), S. 601ff., 645ff.; oder Veith Mehde, Neue Steuerungsmodelle und Demokratieprinzip (Hamburger Rechtstudien, Bd. 92, 2000), S. 514ff. Selbst das Bundesverfassungsgericht zeigt Ansätze in diese Richtung, wenn betont wird, Demokratie verlange Nachvollziehbarkeit und Folgerichtigkeit ihrer Entscheidungen und müsse deshalb den dorthin führenden politischen Prozess als rationalen Diskurs gestalten: BVerfGE 121, 317 (350); 122, 210 (230f.); 125, 104 (121ff.); – diesen Hinweis verdanke ich Christoph Möllers. 11 Die (sogar zunehmende) Wichtigkeit jener demokratischen »output-Legitimation« für die europäische Herrschaftsgewalt wird auch in der europarechtlichen Literatur mehrfach betont; vgl. nur Marcus Höreth, Die Europäische Union im Legitimationstrilemma (1999), S. 87; Christian Tietje, Internationalisiertes Verwaltungshandeln (2001), S. 526ff.; oder Thomas Oppermann, Europarecht (2. Aufl. 1999), Rn. 923f.; in der 6. Aufl. 2014 zus. m. Claus Dieter Classen / Martin Nettesheim, § 16 Rn. 14. 12 Bei manchem Bundesminister war es außerdem (heute ist das natürlich völlig anders) geradezu Prinzip, niemals selber im Ministerrat zu erscheinen, sondern sich stets durch einem Staatssekretär vertreten zu lassen.

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Edzard Schmidt-Jortzig

4. Wenn also das Europäische Wirkungssystem für seine demokratische Legitimation immer noch stark auf die aus den Mitgliedstaaten kommende Rechtfertigung bauen muss, mithin demokratisch von der Rückanbindung der Unionsakte und ihrer Träger an die nationalen Parlamente lebt, sollte sich dieser Strang wenigstens auch als stabil, belastbar und effektiv erweisen. Für Deutschland etwa heißt es deshalb in Art. 23 Abs. 2 GG bekanntlich: »In Angelegenheiten der Europäischen Union wirken der Bundestag und durch den Bundesrat die Länder mit«. Dass dies aber problemlos funktionierte, lässt sich leider nicht bestätigen. Erst jüngst hat ja mit großem Aplomb der Deutsche Bundestag darüber geklagt, dass die Brüsseler Texte in der Regel bloß auf Englisch vorlägen13. Dass ein nationales Parlament nämlich in Bezug auf allein fremdsprachige Gegenstände seinem verfassungsmäßigen Beratungsauftrag substantiell genügen könnte, ist gewiss zu verneinen, auch über den eher protokollarischen Aspekt der eigenstaatlichen Selbstachtung hinaus14. Hinzu kommt, dass die europäischen Vorlagen regelmäßig so kurzfristig geliefert werden bzw. mit so knappen Äußerungsfristen versehen sind, dass vom Bundestag auch zeitlich bloß Kenntnisnahme, nicht aber kritische Beratung geboten werden kann. Nun könnte man manche dieser Engpässe gewiss durch straffere interne Organisation der Parlamentsbefassung entschärfen. Namentlich ließe sich im Bundestag der »Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union« mit Handlungsvollmacht für den Gesamt-Bundestag ausstatten. Art. 45 GG sieht diese Möglichkeit ja ausdrücklich vor, und das Parlament würde damit in europäischen Dingen wesentlich reagibler. Der Bundestag aber hat sich zu dieser Gliederungsentscheidung immer noch nicht durchringen können (dabei hat der Bundesrat mit seiner Europakammer eigentlich vorgemacht, wie es gehen könnte15).

13 Siehe nur etwa: Freundlich auf die Übersetzung warten. Der Bundestag und EU-Dokumente, FAZ v. 17. 9. 2014, S. 4. 14 Denn bei fachlichen Texten ist eben wirklich jede einzelne Formulierung wichtig. Und nirgendwo wird ja die eigene Fremdsprachenkompetenz bereitwilliger überschätzt als beim Englischen. 15 §§ 45 b ff. GOBR gemäß Art. 52 IIIa GG.

Demokratie in einem zusammenwachsenden Europa

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II. Meine Quintessenz lautet also: 1. Die Demokratie im zusammenwachsenden Europa läuft noch nicht über einen einheitlichen, konsistenten Legitimationsstrang. Die europaeigene Demokratieinduzierung ist nach wie vor lückenhaft, gibt aber Hoffnung, sich im realen Politikprozess noch weiter zu entwickeln und zu vervollständigen. Die Europäische Union befindet sich insoweit augenscheinlich in einem historischen Prozess, an dessen Ende – und da schließe ich mich ausdrücklich der Bewertung von Jörn Ipsen an – »ein ›echtes‹ Parlament mit herkömmlichen Parlamentsfunktionen« sowie eine von ihm vermittelte valide demokratische Legitimation der europäischen Autoritäten stehen könnte16. 2. Komplementär und konsolidierend muss (jedenfalls bis dahin) die vom nationalen Volk kommende Legitimation hinzutreten. Und sie muss umso valider sein, je defizitärer die europaeigene Demokratie noch ist. Auch hier aber gibt es noch viele Schwachstellen, die offenbar nur im Zusammenspiel des Mitgliedstaates mit der Europäischen Union behoben werden können. 3. Demokratie in Europa ist aber nicht zuletzt auch für den Bürger noch unnötig kompliziert und unübersichtlich. Da zudem die europäischen Themen in ihrer Komplexität für den Interessenten oft nur schwer zu durchdringen sind und die Konfliktstruktur der europäischen Politik wenig ausgeprägt ist, bleibt mithin rein faktisch das bürgerliche Engagement für Europa weit hinter dem gewünschten Standard zurück. Demokratische Ausfüllung und Begleitung Europas verlangt vom europäischen Citoyen jedenfalls, sich mehr zu kümmern und zu informieren, als er offenbar bereit ist, auf diesem Feld zu investieren. 4. Diese Verhältnisse zu verbessern, ist dann aber letztlich auch eine Forderung an die Politik bzw. ihre Mandatare und die Parteien, nämlich mehr noch zu tun für die Vermittlung von Inhalt und Erfordernis ihrer Tätigkeit, von deren Fragestellungen, Argumentationsvielfalt und Entscheidungsbahnen – einfach Notwendigkeit wirksamer demokratischer Politikbetreibung eben.

16 Jörn Ipsen, Staatsrecht I (26. Aufl. 2014), Rn. 334.

Professor Dr. Christoph Möllers, LL.M.

Zum Demokratieverständnis des Bundesverfassungsgerichts*

I.

Einleitung: Haben Gerichte ein Demokratieverständnis?

Es ist eine große Freude, zu Ehren von Herrn Ipsen reden zu können, der einer der ganz großen Allrounder der deutschen Staatsrechtslehre ist und sich gerade mit dem Thema Demokratie auf allen möglichen Ebenen auseinandergesetzt hat: im Parteienrecht, im Wahlrecht, im Kommunalrecht und natürlich im klassischen Staatsorganisationsrecht. Obwohl die Zeit knapp ist und der Thesen einige entwickelt werden müssen, muss ich zwei Vorbemerkungen machen, um dem Thema gerecht werden zu können und um klarzumachen, inwieweit man dem Thema nicht vollständig gerecht werden kann. Die erste Vorbemerkung wirft die Frage auf, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt so etwas wie ein Demokratieverständnis haben kann. Es ist immerhin ein Gericht und Gerichte fällen Entscheidungen, sie treffen Urteile, und sie tun das allenfalls mit mittelreichweitigen Theorien, schon weil ihre Begründungen auf konkret-individuelle Probleme zugeschnitten sind. Es scheint mir eine typische d¦formation professionnelle der akademischen Rechtswissenschaften zu sein, aus Entscheidungen große Theorien herauslesen zu wollen, die über den Fall zu weit hinausgehen. Die Funktion eines Gerichts, Konflikte durch Rechtsform zu definieren, zu begrenzen und sie nur derart begrenzt zu entscheiden, darf nicht in Vergessenheit geraten, wenn man nach seinem Demokratieverständnis fragt. Die zweite Vorbemerkung betrifft das Problem der Zurechnung. Kann eine bestimmte Entscheidung oder ein bestimmtes theoretisches Vorverständnis, das in einer Entscheidung zum Ausdruck kommt, stets dem Bundesverfassungsgericht zugerechnet werden oder ist das Bundesverfassungsgericht nicht einfach ein typischer Akteur im Ipsenschen »Staat der Mitte«, ein Organ, das auf seine ganz eigene Art und Weise ein Demokratieverständnis zum Ausdruck bringt, das wir mehr oder weniger alle teilen? Es gibt in den Vereinigten Staaten eine alte * Leicht veränderte Fassung des Vortrags, dessen Form beibehalten wurde.

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Christoph Möllers

und interessante Diskussion darüber, ob der Supreme Court wirklich eine minoritäre Institution ist, die Minderheitenrechte, Individualrechte schützt, oder ob man seine Entscheidungspraxis besser erfasst, wenn man sie als Ausdruck der herrschenden politischen Mehrheitsverhältnisse versteht. Vielleicht entscheidet das Gericht mit einer anderen Taktung, mit einem anderen Rhythmus, aber doch so, dass es letztlich sehr häufig in der Mitte der amerikanischen Gesellschaft gestanden hat, auch bei Fragen, in denen die Gesellschaft zerrissen ist.1 So könnte man sagen, dass fünf zu vier Stimmen zugunsten der Verfassungskonformität einer öffentlichen Krankenversicherungspflicht in den USA ein sehr knappes Ergebnis sei, aber es gibt nach meinem Eindruck die andauernde Spaltung der amerikanischen Gesellschaft über diese Frage doch gut wieder.2 Vielleicht gelten ähnliche Beobachtungen auch für das Bundesverfassungsgericht und vielleicht ist der Verdacht gar nicht so falsch, dass ein Gericht in vielen Zusammenhängen, gerade in Gesellschaften, deren politisches System funktioniert, erst einmal ein Verständnis von Demokratie zum Ausdruck bringt, das mehrheitsfähig ist, auch – und das ist der Clou – wenn dieses Verständnis in von Mehrheiten abhängigen Verfahren gerade nicht in gleicher Weise zum Ausdruck gebracht werden könnte. Das wäre im Kontext der Bundesrepublik ein Demokratieverständnis, das rechtlichen Formen stark vertraut, das an die Verregelung demokratischer Institutionen glaubt, das einen gewissen Repräsentationsperfektionismus an den Tag legt, das großen Wert auf formalisierte Gleichheit legt. Dies ist im Folgenden näher auszuführen. Ein solches Verständnis von Demokratie wäre nicht einfach Ausdruck einer Befindlichkeit des Gerichts, sondern der Gesellschaft, deren Teil das Gericht ist. Um diese einleitende Intuition etwas konkreter zu machen, sei ein Vergleich mit Großbritannien angestellt. Es ist in Großbritannien bekannt, dass die Labour Party seit langem etwas mehr als 37 % der Stimmen braucht, um eine Mehrheit im Parlament zu bekommen, während die Tories mehr als 40 % Stimmanteil benötigen, um diese Mandatszahl zu erreichen. Das könnte auch bei den nächsten Wahlen politisch entscheidend werden. Dennoch redet man darüber wenig. Darüber spricht auch der Premierminister nicht, dessen Wiederwahlchancen durch genau diesen Umstand in Frage gestellt sind. Natürlich würde niemand auf die Idee kommen, deswegen zu klagen oder einen formalisierten Gleichheitsmaßstab auf das Repräsentationssystem anzuwenden. Das System ist irgendwann einmal entstanden und man muss da durch. Man muss als Konservativer relativ mehr Stimmen gewinnen und wird es versuchen. Ein solches Verständnis kommt uns eigenartig vor, vielleicht sympathisch – mir 1 Grundlegend: R. A. Decision-making in a democracy. The Supreme Court as a national policy-maker«, in: The Journal of Public Law 6 (1957), S. 279–295. 2 National Federation of Independent Business v Sebelius, 132 SCt 2566 (2012).

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jedenfalls –, vielleicht aber auch etwas fatalistisch, traditionsbewusst, wenig rechtsgläubig, wenig davon überzeugt, dass solche Probleme mit Hilfe von Gerichten gelöst werden könnten. Ich will Ihnen das gar nicht als besser oder schlechter verkaufen. Ich will nur versuchen, Ihnen nahezulegen, wie erstaunlich anders das Demokratieverständnis in einem Land ist, das nicht so weit entfernt von uns liegt und mit dem wir institutionell relativ eng verbunden sind. Dies soll das Leitmotiv sein, wenn ich jetzt vier Beobachtungen zum Demokratieverständnis des Bundesverfassungsgerichts entwickele. Die erste Beobachtung betrifft die Vorstellung, Demokratie lasse sich in festen Regeln definieren. Der zweite Punkt betrifft Erwartungen an den politischen Raum, in dem sich demokratische Legitimation abspielen kann. Die dritte Beobachtung betrifft das Wahlrecht und die vierte schließlich die parlamentarische Repräsentation.

1.

Statik: Demokratie als Verwirklichung eines unabänderlichen Regelungsrahmens

Mein Eindruck ist, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung, namentlich in seiner Europarechtsprechung, davon ausgeht, dass Demokratien durch ein definiertes Regelwerk ermöglicht werden, das seinerseits nicht mehr dem demokratischen Wandel unterliegt. Nun wird man sich schnell darüber einig werden, dass Demokratien auch durch Regeln konstituiert werden. Fragen der demokratischen Gleichheit, etwas im Parteien- und im Wahlrecht, bedürfen einer regelhaften Ausformulierung. Aber nach meinem Eindruck lässt das Gericht relativ wenig Raum für die Konkretisierung dieser Regeln und für die Möglichkeit ihres Wandels. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich. Demokratie muss nicht als Ordnung verstanden werden, die auf einem festdefinierten unabänderlichen Fundament von Regeln steht. Man könnte auch hervorheben, dass Demokratien sich ändern, dabei auch ihre eigenen Grundlagen umbilden und dennoch demokratisch bleiben. Es wäre an eine Metapher des Wissenschaftstheoretikers Otto Neurath zu erinnern: Die Demokratie könnte als ein Schiff verstanden werden, das, während es schwimmt, umgebaut wird, das seine Fundamente in der Bewegung wandelt. Aber das scheint nicht das Verständnis des Demokratieprinzips, das wir beim Bundesverfassungsgericht entdecken. Woher beziehe ich diesen Eindruck? Ich beziehe ihn auch daher, dass das Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil ausdrücklich formuliert hat, dass das Demokratieprinzip nicht abwägbar sei und es begrifflich mit der Menschenwürde gleichgestellt hat.3 Abwägung ist freilich im deutschen Ver3 BVerfGE 123, 267 (343).

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fassungsrecht auch ein wesentliches Mittel, um mit Wandel umgehen zu können. Von dieser Möglichkeit wäre das Demokratieprinzip abgeschnitten. Dieser Eindruck bestätigt sich darin, dass das Bundesverfassungsgericht gerade in der Europarechtsprechung mittlerweile dazu übergegangen ist, den Prüfungsmaßstab aus Art. 79 Abs. 3 GG i. V. m. mit Art. 20 GG zu ziehen, also im Grunde die Höchstrangigkeit des demokratischen Kerns zum normalen Maßstab zu machen. Es wäre interessant noch einmal rückzuverfolgen, wie es dazu gekommen ist. Man würde vielleicht ein wechselseitiges Hochschaukeln in den Entscheidungen des politischen Prozesses einerseits und im Prüfungsmaßstab anderseits entdecken. Selbstverständlich ist es ja zunächst nicht, ein Zustimmungsgesetz zur Änderung europäischer Verträge mit verfassungsändernder Mehrheit von Bundestag und Bundesrat zu beschließen. Es ist auch nicht zwingend, ein solches Zustimmungsgesetz, soweit es den Text des Grundgesetzes nicht ändert, an Art. 79 Abs. 3 GG zu messen. In dieser Konstellation droht alles, was das Gericht zu diesen Fragen sagt, den Hauch der Ewigkeit anzunehmen, der im politischen Prozess, aber auch für das Gericht selbst auf Dauer zu einem Fluch werden könnte. Ein weiteres Anzeichen für ein statisches Verständnis des Demokratieprinzips zeigt sich wiederum – Herr Schmidt-Jortzig hat diesen Punkt schon erwähnt4 – in Fragen der europäischen Integration. Diese können wir auch aus Sicht des Demokratieprinzips nicht mit dem gleichen Maßstab bewerten wie solche des innerstaatlichen Rechts. Das Demokratieprinzip des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG hat eine andere Bedeutung als das des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, weil beim Ersteren die Besonderheiten der europäischen Konstruktion und die Demokratieverständnisse anderer Mitgliedstaaten mitgedacht werden müssen. Wir bedürften eines doppelten Demokratiemaßstabs. Diese Doppelung ist dem Gericht nicht gelungen. Sie ist sehr schwierig zu bewerkstelligen. Es ist komplex, aus demselben Prinzip verschiedene Rechtsfolgen, verschiedene Legitimationsvorstellungen zu entwickeln. Die Ansätze, die das Gericht dafür gewählt hat, erscheinen bescheiden, letztlich scheint es doch darum zu gehen, mit einem einheitlichen Maßstab die verschiedenen Ebenen zu bewerten. Schließlich gestattet das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf das Wahlrecht ausdrücklich eine Maßstabsvielfalt, die davon abhängt, welche Systementscheidung der Gesetzgeber mit Blick auf die Ausgestaltung des Bundestagswahlrechts getroffen hat. Aber es ist nach den letzten Entscheidungen fraglich, ob dies noch mehr als ein Lippenbekenntnis sein kann.5 Wenn man den Gleichheitsmaßstab so konsequent mit der Verhältniswahl verbindet wie das Gericht – und dafür spricht ja manches – kann ein Mehrheitswahlsystem oder 4 In diesem Band S. 17ff. 5 Namentlich BVerfGE 131, 316.

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ein Grabenwahlrecht dem nicht mehr entsprechen. Hier wird Vielfalt suggeriert, die die Rationalität der Entscheidungen wohl nicht hergibt.

2.

Demokratischer Legitimationsprozess: homogener Kommunikationsraum

Ich komme schon zum zweiten Punkt, der Frage des Legitimationsraums. Es wäre völlig falsch, dem Bundesverfassungsgericht ein substantialistisch-homogenes Verständnis von Staatsvolk zu unterstellen. Das ist in der ausländischen Kritik ab und zu geschehen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber bereits in seinen Entscheidungen zum Ausländerwahlrecht in den Kommunen ganz ausdrücklich gesagt, dass es von einem Volksbegriff ausgeht, der vom demokratischen Gesetzgeber selbst gestaltet werden muss.6 Diesem steht es frei, dafür unterschiedliche Anknüpfungen zu wählen. Es geht hier also nicht um eine Homogenität des Staatsvolkes in irgendeinem materiellen Sinne, denn es gibt immer die Möglichkeit des Gesetzgebers, die Zusammensetzung des Staatsvolkes auszugestalten, andere Möglichkeiten der Einbürgerung zuzulassen. Dies ist für das Gericht kein Problem des Demokratieprinzips. Der Kern der Legitimationsidee des Gerichts stellt sich mir anders dar. Man könnte ihn vielleicht als Idee kommunikativer Homogenität bezeichnen. Das Gericht hat einen demokratischen Prozess vor Augen, in dem alle Beteiligten miteinander ins Gespräch kommen, Argumente austauschen, eine gemeinsame Problemwahrnehmung teilen und auch zu gemeinsamer Problemlösung kommen können. Die Überlegungen, die der Zweite Senat des Gerichts in seiner Europarechtsprechung zu der Frage der Legitimation auch im Vergleich des nationalen zum europäischen politischen Prozess angestellt hat, erinnern an die Rechtsprechung des Ersten Senats zum verfassungsrechtlichen Status des öffentlichen Rundfunkrechts.7 Hier herrscht die Idee eines gemeinsamen kommunikativen Raums, einer geteilten Öffentlichkeit, wie im Fall der »Tagesschau«, bei der alle gemeinsam vor dem Fernseher sitzen, dieselben Nachrichten sehen, dieselben Sachverhalte als relevante politische Probleme ausmachen und dann gemeinsam darangehen können, diese zu lösen. Im Ergebnis spricht normativ viel für ein solches Ideal, das wohl auch nicht zufällig an die Demokratietheorie von Jürgen Habermas erinnert. Das Problem mit dem Modell könnte allerdings darin liegen, dass es zu anspruchsvoll und damit auch zu eng ist. Es dürfte die Normalität demokratischer Nationalstaaten überschätzen und dies könnte wiederum besonders für die europäische De6 BVerfGE 83, 37 (52). 7 Vgl. etwa BVerfGE 123, 267 (358) und BVerfGE 119, 181 (214).

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mokratiedebatte bedenklich sein. Denn nicht alle demokratischen Nationalstaaten sind so wenig in ihrer Öffentlichkeit fragmentiert, konvergieren in ihren Debatten so stark, haben eine derart kompakte Problemwahrnehmung und sind auch parteipolitisch so nah beieinander wie die Bundesrepublik. Stellen wir eine Kontrollüberlegung an. Welcher Staat in Europa könnte der Europäischen Union mittelfristig als institutionelles Vorbild dienen? Die Schweiz käme in den Sinn. Sie hat eine Konsensregierung, die nicht im engeren Sinne parlamentarisch verantwortlich ist, weil sie praktisch nicht abgewählt werden kann. Sie hat »souveräne« Kantone, Art. 3 BV, mit starker politischer und kultureller Identität. Vor allem hat sie wegen der Vielsprachigkeit eine relativ fragmentierte Öffentlichkeit. Man muss sich nur mal ein Lehrbuch des schweizerischen Bundesstaatsrechts anschauen, um festzustellen, dass bis vor kurzem die deutschschweizerischen Kollegen sehr ungern französische Lehrbücher des Bundesstaatsrechts zitieren und umgekehrt. Während wir darüber klagen, dass wir im Europarecht zu wenig englischsprachige Literatur heranziehen, sind die Schweizer teilweise noch der Meinung, dass die Kollegen aus demselben staatlichen Verband auch im übertragenen Sinn in einer anderen Sprache schreiben. Ähnliches lässt sich nach meinem Eindruck auch für die öffentliche Wahrnehmung von politischen Problemen sagen, die in der Westschweiz oft ganz anders aussehen als in der Ostschweiz. Vergleichbare Beobachtungen gelten für die Öffentlichkeiten der Vereinigten Staaten oder Indiens, die in dieser Vielfalt auch eine demokratische Tugend sehen. Der vergleichende Blick mag es uns helfen zu verstehen, dass heterogene Kommunikationsräume die Entstehung demokratischer Prozesse nicht ausschließen – eine Lehre, die für die Beurteilung der europäischen Integration von Bedeutung ist, aber vielleicht auch für deutsche Demokratie, die nicht immer so kommunikativ kompakt bleiben muss, wie sie es jetzt – vielleicht – noch ist.

3.

Demokratische Verfahren: Repräsentationsperfektionismus bei Gelegenheit

Dies führt mich zum nächsten Punkt, zum Verfahren demokratischer Repräsentation. Das Gericht verfolgt nach meinem Eindruck gerade in seiner Rechtsprechung zum Wahlrecht eine gewisse Form von Repräsentationsperfektionismus – und damit bringt es vermutlich, siehe oben, ein weit geteiltes Sentiment zum Ausdruck. Wir wollen ein Wahlsystem haben, das eine Menge Dinge leistet, die widerspruchsfrei nicht zu haben sind. Das Wahlrecht soll natürlich proportional sein. Es soll aber auch Wahlkreise haben. Es soll ein handlungsfähiges Parlament herstellen können und es soll föderal gegliedert sein. Diese vier Prinzipien lassen sich, und das ist oft durchgerechnet worden, nicht konsistent

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verwirklichen. An irgendeiner Stelle hakt es immer und die Einsicht in die notwendige Unvollkommenheit unseres anspruchsvollen Wahlsystems wird immer am Anfang der Frage stehen, welchen Teil davon man perfektioniert und konstitutionalisiert. Diese perfektionistische Modellierung des Wahlrechts verliert auch dadurch einiges von ihrer Überzeugungskraft, dass sie in der Rechtsprechung oft aus zufällig wirkendem Anlass entwickelt wird. Das Bundesverfassungsgericht trifft sehr grundlegende Entscheidungen, die es schon bei viel früherer Gelegenheit hätte treffen können. Dafür nur zwei Beispiele. Da wäre die Entscheidung zum negativen Stimmgewicht.8 Dieses wird in der Entscheidung des Zweiten Senats zur Dresdner Nachwahl mit starken, Evidenz suggerierenden Worten als offensichtlich gleichheitswidriger, geradezu perverser Effekt dargestellt. Tatsächlich scheint es sich eher um ein schwer vermeidliches (und auch bis in das gegenwärtige Wahlrecht nicht völlig vermiedenes) kalkulatorisches Nebenprodukt der vielen anderen normativen Anforderungen an ein perfektes Wahlrecht zu handeln. Die Rhetorik dieser Entscheidung ist dramatisch, aber es ist klar, dass das Gericht schon früher das negative Stimmgewicht hätte entscheiden können, weil dieser Effekt schon in anderen Fällen gerügt worden war.9 Doch plötzlich wurde dieser Frage eine so dramatisch formulierte Bewertung zuteil, vielleicht weil sie sich an der Nachwahl in Dresden so gut vorführen ließ. Eine rationale Erklärung bietet dies aber nicht. Ähnlich unvermittelt entschied das Gericht in seiner vielleicht am wenigsten gelungenen Entscheidung zum Wahlrecht, derjenigen zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche.10 Das Wahlrecht für Auslandsdeutsche ist – wenn ich es richtig sehe – mindestens vier Mal Gegenstand von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geworden. Es war zudem in seiner vom Gericht dann aufgehobenen Fassung, soweit ersichtlich, verfassungsrechtlich unbestritten, ein seltener Zustand im Wahlrecht. Aus diesem Kontext heraus stellte der Senat auf einmal mit 7:1 Stimmen einen Maßstab auf, nach dem es verfassungswidrig sei, von deutschen Staatsangehörigen zu verlangen, dass sie irgendwann einmal drei Monate am Stück in Deutschland gelebt haben müssten, um ihr Wahlrecht wahrnehmen zu dürfen. Es ist eine Frage, wie das zu der Vorstellung eines geteilten kommunikativen Prozesses in der Demokratie passt, die das Gericht an anderer Stelle entwickelt hat. Es ist eine andere, dass solche Maßstäbe bei Gelegenheit entwickelt werden und dadurch viel von der Überzeugungskraft eines prinzipiengeleiteten Arguments einbüßen. Ein zweites, gleichfalls aus der Prozesssituation resultierendes Problem ist 8 BVerfGE 121, 266. 9 Freundlicher Hinweis des Kollegen Hans Meyer. 10 BVerfGE 132, 39.

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dagegen zwar unvermeidlich, aber doch zu erwähnen: Ein Defizit jeder gerichtlichen Konstruktion des demokratischen Legitimationsvorgangs besteht im methodischen Individualismus der Argumentation. Es ist klar, dass das Wahlrecht vor das Gericht kommt, wenn sich eine Wählerin oder ein Wähler darüber beschwert, meistens zunächst im Wahlprüfungsverfahren, deutlich seltener über Bundestagsabgeordnete. Im Regelfall geht es um die Perspektive der Wahlberechtigten. Das ist prozessual zwingend, doch demokratietheoretisch anfechtbar, weil wir als Wählerin oder Wähler, nicht als Individuum, sondern immer schon vergemeinschaftet unser Wahlrecht zum Ausdruck bringen und weil wir diese Vergemeinschaftung immer schon zu dem Zweck vollziehen, in einen kollektiven Handlungszusammenhang, nämlich in eine repräsentative parlamentarische Struktur überzugehen. Das Problem besteht darin, dass in der Prüfung des Wahlrechts die individuelle Seite zur »eigentlich« normativen wird, während die parlamentarisch repräsentative Seite bloß funktionalistisch gedeutet wird. Die entsprechende Formel lautet, dass die »Funktionsfähigkeit des Parlaments« gesichert werden müsse. So werden 5 %-Hürde und andere Abweichungen von der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt. Dogmatisch ist dieses Schema von Eingriff und Rechtfertigung gefestigt. Demokratietheoretisch legt es die Argumentationslast bei der Frage, ob ein Parlament in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen, nicht auf die Seite des politischen Prozesses. Seine Zuspitzung erfuhr das Problem im Lissabon-Urteil, in dem auch ein subjektives Recht auf Abwehr einer europäisch-bundesstaatlichen Revolution durch das Bundesverfassungsgericht erfunden wurde. Hier führt die direkte Konfrontation eines auf Individualrechte zugeschnittenen Rechtsschutzes mit dem Inbegriff des juristisch nicht mehr zu regelnden pouvoir constituant zu einem seltsamen Ergebnis: einer Art subjektivem einklagbaren Recht auf europapolitische Gegen-Revolution.

4.

Demokratische Repräsentation: Parlament und Regierung

Meine letzte Beobachtung betrifft das Verständnis von Parlament und Regierung. Auch hier zeigen sich Widersprüche. Auf der einen Seite legt das Gericht großen Wert auf eine vollständig parlamentarische Regierung, die vom Wechsel von Regierung und Opposition geprägt ist. Das formuliert es ganz deutlich im Lissabon-Urteil: Ein wirklich demokratischer Prozess erfordere eine Opposition, die Regierung im Wartestand ist. Doch kennt nicht nur die Schweiz eine solche Form der Opposition nicht, sie wird auch in der EU auf absehbare Zeit fehlen. Das formuliert das Gericht wiederum in den beiden Entscheidungen zur 5 %- und 3 %-Hürde im Europäischen Parlament, in denen es deutlich macht, dass sich die Notwendigkeit zu einer 5 %- oder 3 %-Hürde nicht aus einem

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Zwang zur Mehrheitsbildung im Europäischen Parlament ergibt.11 Nun können wir an dieser Stelle offen lassen, ob diese Behauptung faktisch zutrifft. Entscheidend ist das gerichtliche Postulat eines engen Zusammenhangs zwischen Parlament und Regierung, der Möglichkeit, zwischen Regierung und Opposition zu wechseln, und der Notwendigkeit, parlamentarische Mehrheiten zusammenzubekommen, die dann eine Regierung stützen. Diese Westminster-Sicht des Parlamentarismus steht nämlich in einem gewissen Widerspruch zu der Rechtsprechung des Gerichts zu den Kontrollbefugnissen des Parlaments mit Blick auf die Finanzierung der europäischen Krisenmechanismen.12 Hier hat das Gericht das Parlament sehr stark gemacht. Wir haben nun eine sehr weitgehende parlamentarische Ingerenz bei der Vergabe von Krisenmitteln. Diese verlangt vom Parlament eher exekutiv anmutende Kompetenzen, weil die Abgeordneten anfangen müssen, Bilanzen zu lesen und sich in die Vorgänge anderer Staaten hineinzuarbeiten. Hieraus ergeben sich auch neue Legitimationsprobleme, wenn der Deutsche Bundestag einen anderen politischen Prozess im Alltag beobachten muss, wie das mit Blick auf die Haushaltsführung Zyperns geschehen ist. Für uns entscheidend ist aber, dass all die Regeln, die dafür sorgen sollen, dass das Parlament entscheidungsmächtig an den ausgehandelten Rettungsprozessen auf europäischer Ebene beteiligt ist, einer anderen Rationalität im Verhältnis von Parlament und Regierung folgen, als dies bei der Vorstellung einer die Regierung tragenden Parlamentsmehrheit — la Westminister der Fall ist. Denn in den Entscheidungen zur Euro-Rettung gewinnt man den Eindruck, dass das Parlament auch in seiner Mehrheit zu einer institutionalisierten Opposition gegenüber der Regierung ausgebaut werden soll. Hier wird der Deutsche Bundestag ironischerweise auf einmal in seiner Rolle dem Europäischen Parlament angeglichen, bei dem wir es nicht mit einem Westminster-Parlament, sondern mit einem Arbeitsparlament zu tun haben, das die Kommission kritisch beobachtet, weil diese nicht die »eigene« Regierung ist.13 Wir begegnen in der Rechtsprechung damit zwei recht unterschiedlichen Vorstellungen davon, wie sich Parlament und Regierung zueinander verhalten: einerseits das Parlament als politische Versammlung, die die Regierung ermöglicht, sie stützt, sie nach außen darstellt, ihr Personal liefert und somit als politisches Parlament funktioniert, das das Gegeneinander von Regierung und Opposition abbildet. Auf der anderen Seite das kontrollierende Parlament, das im Ganzen dem, was die Regierung tut, mit politischem Misstrauen gegenübersteht. 11 BVerfGE 129, 300; U. v. 26. 2. 2014, 2 BvE 2/13. 12 BVerfGE 129, 124; 130, 518; U. v. 18. 3. 2014, 2 BvE 6/12 u. a. 13 Zur Unterscheidung P. Dann, Parlamente im Exekutivföderalismus, 2004.

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Ein zweiter und mein letzter Punkt ist die Prämisse des Gerichts, dass ein parlamentarisches Verfahren, wenn es denn demokratische Legitimität und Anerkennung auch vom Gericht verdienen soll, als rationaler Vorgang verstanden werden muss. Das Gericht räumt – und das bildet die Idee des Volks als Kommunikationsgemeinschaft wiederum ab – dem Bundestag dann besonderen Spielraum ein, wenn dieser plausibel machen kann, dass er einer konsistenten Rationalität folgt. Das ist nicht unproblematisch, weil klar ist, dass in der Logik parlamentarischer Entscheidungen die Rationalitätsgenerierung politischer Prozesse auch außerhalb des Parlaments stattfindet. Manchmal kann diese vielleicht gar nicht stattfinden, weil, aus gar nicht so unvernünftigen Gründen demokratischer Selbstbestimmung, ein gewisser Voluntarismus auch zu einem gelingenden demokratischen Prozess gehört. Lassen Sie mich nur zwei Fallgruppen nennen, in denen dieses Verständnis demokratischen Prozesses zum Ausdruck kommt. Da ist zum einen die etwas unscheinbare, aber interessante Rechtsprechung zum Vermittlungsausschuss.14 In diesen Entscheidungen hat das Gericht immer genauer nachvollzogen, was das Parlament beim Vermittlungsverfahren tatsächlich tut und wie bestimmte Argumente an welchem Punkt eingeschleust werden. Die jüngste Entscheidung ist aus dem Jahr 2009. In ihr hatte das Gericht festgestellt, dass die Einbringung bestimmter Dokumente im parlamentarischen Prozess, das berühmte Koch-Steinbrück-Papier, im Prinzip so geschehen muss, dass die Abgeordneten in der Lage sind, nachzuvollziehen, was passiert, und das Dokument auch wirklich nach dessen Einführung zu lesen. Das ist ein hartes Kriterium, weil niemand genau wissen kann, wer was liest, und weil nicht klar ist, ob das Gericht sich in die Lage versetzen sollte, mit einer so scharfen Lupe die Auseinandersetzung um bestimmte Argumente mit Blick auf eine Regelung, wie die des § 45a PBefG, nachzuvollziehen. Eine andere Rechtsprechungslinie, die viel größer und diffuser ist, betrifft den Gleichheitssatz und andere Grundrechte. Das Gericht ist mittlerweile schon in mehreren Entscheidungen zu dem Ergebnis gekommen, der Gesetzgeber habe ein an sich verfassungsrechtlich mögliches Ergebnis anders begründen müssen. Das ist grundrechtsdogmatisch problematisch, weil es so die Bevorzugung des rationalen vor dem weniger intensiven Eingriff zum Ausdruck bringt. Ich bin mir nicht sicher, ob das Gericht dem Gesetzgeber Angebote machen sollte, die Grundrechte stärker einzuschränken, wie es dies in der Entscheidung zum Rauchverbot in Gaststätten recht ausdrücklich – und zum berechtigten Leidwesen der abweichenden Meinung – getan hat.15 Mit Blick auf unser Thema liegt das Problem darin, dass das Gericht den, notwendigerweise durch Koalitionsbildung fragmentierten, politischen Prozess zu einem rationalen Diskurs stili14 Zuletzt und besonders streng BVerfGE 125, 104; zuvor BVerfGE 101, 297; 120, 56. 15 BVerfGE 121, 317 (384f.) abw. Meinung Masing.

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sieren möchte und die fehlende Rationalität politischer Auseinandersetzung dann zum Anlass nimmt, verfassungsrechtliche Maßstäbe auszubuchstabieren. Doch müssen wir in einer repräsentativen Demokratie mit Parteien davon ausgehen, dass Rationalitätsprobleme an anderer Stelle gelöst werden und nicht immer im engeren Sinne im politischen Prozess. Wir müssen auch Vertrauen darin haben, dass das verfasste Parlament intern schon das Richtige tut, weil wir selber auch nicht besser wissen, was das Richtige denn sein soll.

II.

Fazit

Man kann sich kritisch äußern über das Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Demokratieprinzip, aber wann immer wir solche Kritik äußern, können wir auch versuchen, sie als Selbstkritik zu verstehen. Vieles von dem, was das Bundesverfassungsgericht als für eine Demokratie notwendig oder selbstverständlich hält, scheint in bundesrepublikanischem Konsens fundiert zu sein: das Vertrauen in die Verregelung, das Misstrauen gegenüber einem politischen Prozess, der sich verselbständigt, die Hoffnung in die Rationalität der Beteiligten, der Glaube an die legitimierende Kraft des Diskurses in Parlament und Öffentlichkeit. All diese Dinge scheinen sehr bundesrepublikanisch. So mag das Gericht herrschende gesellschaftliche Ideale demokratischer Politik mal verstärken, mal verzerren, mal bändigen – und sie zugleich stets spiegeln.

Diskussion (1. Teil)

Cancik (Diskussionsleitung): Vielen Dank für zwei sehr anregende Referate, die, so unterschiedlich sie waren, dann doch einiges gemeinsam hatten. Beide haben eine beobachtende, beschreibende Perspektive gewählt, bezogen auf die europäische Entwicklung, auf die Frage, wie denn Politik in der Praxis gestaltet wird. Im Hintergrund steht eine normative Demokratie-Vorstellung, die aber durchaus sehr relativ und entwicklungsoffen gehalten bleibt. Beschreibend war zunächst auch die Perspektive auf das Bundesverfassungsgericht: wie ordnet sich das Bundesverfassungsgericht ein in diese Entwicklung oder wie ordnet es sich vielleicht auch gerade nicht ein. Mir scheint, dass bei der Wahrnehmung der Demokratieentwicklung in Europa beide Referenten nicht weit auseinander sind, aber vielleicht korrigieren Sie mich insofern. Diese beschreibende Perspektive einzunehmen hilft natürlich, weil sie es ermöglicht, rechtsdogmatische Entscheidungszwänge zu vermeiden – rechtsdogmatische Entscheidungszwänge, in denen ein Gericht manches Mal ist. Ich will gar nicht mehr sagen, denn die Widerspruchsfreude ist sicher schon geweckt. Man darf aber den Referenten natürlich auch zustimmen, das ist durchaus erlaubt. Wer macht den Anfang? Herr Kollege Volkmann bitte. Volkmann (Johannes-Gutenberg-Universität Mainz): Ja, zu Christoph Möllers, ganz kurz: Du hast gesagt, wir schauen auf uns, wenn wir über das Bundesverfassungsgericht reden. Ich habe mich schon in vielem von dem wiedererkannt, was das Bundesverfassungsgericht gemacht hat, aber Herr Möllers schaut eher von außen und sieht es kritisch. Es ist jetzt also vielleicht kein Verständnis von uns allen, sondern das Verständnis einer gewissen Mehrheit unter uns, die Du dann kritisch beurteilst. Ich habe mich nämlich bei dem, was Du als das Demokratieverständnis des Bundesverfassungsgerichts geschildert hast, eigentlich bei allen Punkten dabei ertappt zu sagen, ja, das macht das Bundesverfassungsgericht zwar so, aber mir ist das eigentlich ganz sympathisch. Vieles von dem, was Du uns erzählt hast, gehört vielleicht auch einfach zu der Vorstellung von Normativität dazu, dass wir sagen, wir haben eine Verfassung,

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die regelt Dinge, und es ist nicht die Verfassung, die sich nach der tatsächlichen Entwicklung richtet, sondern die Verfassung enthält die Maßstäbe, nach denen sich die tatsächlichen Verhältnisse richten sollen. Das versuchen wir solange aufrecht zu erhalten, wie das irgendwie geht. Das fällt mir beim ersten Punkt auf: statische Vorstellung, Regelgläubigkeit. Das kennzeichnet für mich eigentlich gerade das Wesen von Normativität, dass wir Maßstäbe haben, die eine gewisse Zeit aufrechterhalten werden sollen. Bei Art. 79 Abs. 3 GG, glaube ich, täuscht man sich, wenn man sagt, dass der tatsächlich so statisch ist. Denn wenn man genau reinguckt, würde man auch feststellen, dass sich da ganz viel verändert. Also dieser neue Satz, dass zum Art. 79 Abs. 3, Souveränität und Staatlichkeit der Bundesrepublik zum unantastbaren Kern dazugehören, hat man im Grunde erst 1990 entdeckt. 40 Jahre vorher war das Niemandem aufgefallen und auch da sind Relativierungen möglich. Und dann zur Demokratie als kommunikativer Raum, als gemeinsames Unternehmen oder Gespräche unter allen. Auch das ist erstmal eine Vorstellung, die mir nicht unsympathisch ist und die vielleicht auch einfach dazugehört, wenn wir sagen, Demokratie ist nicht nur eine bloße Form oder ein Verfahren, das darin besteht, dass alle vier Jahre gewählt wird, sondern zur Demokratie gehört mehr. Das ist nicht nur ein formaler Begriff, sondern ein materialer Begriff. Und wenn wir einen materialen Begriff haben, dann müssen wir uns natürlich überlegen, was ist das für ein Material, was ist diese Substanz, und dann ist das mit dem gemeinsamen Gespräch erstmal keine schlechte Idee. Und dass wir alle daran irgendwie festhalten, liegt daran, dass es eine bestimmte gemeinsame Vorstellung dahingehend gibt: Nicht nur die Tagesschau, sondern die Wahlen finden an einem Sonntag statt, wo alle können, da gehen alle hin, alle verlassen ihr Haus, alle gucken im Grunde auch, wie die Wahlen denn ausgehen. Da ist etwas von dieser Vorstellung des gemeinsamen Gesprächs drin. Die Schweiz ist, glaube ich, auch kein Gegenbeispiel, denn die Schweizer wählen in direkter Demokratie. Bei diesen Vorgängen wie Volksabstimmungen kommen eben auch alle zusammen und die Franzosen und die deutschsprachige Schweiz und auch die italienischsprachige Schweiz, die denken alle, vielleicht aus unterschiedlichen Sprachen heraus, über dasselbe Thema nach und entscheiden darüber. Also so schlimm ist es da wiederum auch gar nicht. Cancik: Danke. Als nächstes habe ich Herrn Kollegen Starck auf der Liste. Starck (Universität Göttingen): Vielen Dank den beiden Referenten hier für die Vorträge, die sehr umfangreich waren. Auch bei Herrn Möllers, der ja so schnell sprechen kann, dass man sozusagen den Inhalt von einer Stunde in einer halben schafft. Ich möchte zu beiden zwei Punkte sagen.

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Herr Schmidt-Jortzig, Sie haben diese dynamische Vorstellung entwickelt, wie sich die demokratischen Gedanken der europäischen Union weiterentwickeln. Mir schien, dass Sie dabei einen wichtigen Punkt vergessen haben, nämlich die Subsidiarität. Es geht doch, wenn ich demokratische Entscheidungen treffe, immer darum, worüber wird entschieden. Wir haben in Deutschland die Erfahrung gemacht, dass die örtliche Gemeinschaft darüber entscheidet ein kommunales Parlament. Dann haben wir den Unterschied zwischen der Kompetenz der Länder und des Bundes. Für uns ist das sozusagen ein ganz normales Nachdenken, dass wir immer fragen, ist diese Angelegenheit dort richtig angeordnet. Und deswegen scheint mir, die Überlegung, was soll eigentlich die Europäische Union entscheiden, was soll der Nationalstaat und was sollen die unter ihm liegenden Instanzen entscheiden. Das scheint mir so wichtig zu sein, dass man das eigentlich, wenn man über die dynamische Entwicklung der Europäischen Union spricht, nicht vergessen darf. Das schwerwiegendste Problem auf diesem Gebiet ist letztendlich der Euro. Ist der Euro, ist das gemeinsame Geld eigentlich ein Gegenstand, der von der Europäischen Union entschieden werden soll, oder ist das nicht eine Angelegenheit, die man doch lieber bei den Ländern hätte lassen sollen oder in kleinere Gemeinschaften verlegen sollte. Das ist jetzt sozusagen das Hauptproblem. Es gibt unendlich viele andere kleinere Sachen, über die wir wachen, die Gurkenkrümmung, die Mähmaschinen, diese ganzen Sachen, die sind alle geregelt worden von der Europäischen Union oder früher von der Europäischen Gemeinschaft. Es scheint mir ein ganz wichtiges Problem zu sein. Zu Herrn Möllers: Er hat sehr viel gesagt über das Bundesverfassungsgericht und diese zu dogmatische Betrachtung des Demokratiegedankens in Deutschland. Ich möchte einen Punkt herausgreifen, den Sie gesagt haben, nämlich über das englische Wahlrecht und genauer gesagt das Wahlrecht in Großbritannien. Das ist natürlich für uns ungeheuerlich, wie das geregelt ist. Ich habe das auch mal studiert und habe mir die Mühe gemacht und nachgelesen, wie die Engländer das selber betrachten. Die Engländer betrachten das selber überhaupt nicht als irgendwas Unangenehmes oder als etwas Falsches. Für die Engländer ist die constituency, also der Wahlkreis, der eigentliche demokratische Sitz. Da wird das entschieden und da wird repräsentiert und deshalb kommt es auch zustande. Die Labour brauchen 37 % und die Konservativen brauchen 42 %, um so die Mehrheit zu haben. Das stört sie überhaupt nicht und daran kann man doch sehen, dass ein völlig verschiedenes Demokratieverständnis da ist. Das Volk ist gar nicht souverän, souverän ist das Parlament, also das, aus den constituency zusammengesetzte Parlament ist souverän. Daran kann man sehr gut auch sehen, wie man über Demokratie sprechen muss. Ich würde daraus allerdings nicht den Schluss ziehen, dass es eine reine Beobachtungsangelegenheit ist, wenn das Bundesverfassungsgericht den Demokratiebegriff zugrunde legt in

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seiner Entscheidung, sondern da wird es wahrscheinlich so sein müssen, dass wir da unseren verfassungsrechtlichen Demokratiebegriff zugrunde legen müssen und dann ist man gespannt, wie das im Einzelnen ausgeht. Cancik: Herzlichen Dank. Ich würde gerne Herrn Kollegen Schuppert bitten und dann würden wir eine kleine Gegenrederunde hier auf dem Podium erleben. Schuppert (Wzb Rule of Law Centers, Berlin): Ich habe nur eine ganz kurze Frage an Dich, Edzard. Du hast gesagt, als Legitimationsquelle sei das europäische Volk ja da, denn wir sind ja nicht nur deutsche Staatsbürger, sondern durch eine Eingemeindungsaktion gewissermaßen auch Unionsbürger. Nun hast aber Du, lieber Christoph, gesagt, und das leuchtet mir sehr ein, dass es eigentlich bei dem Volksbegriff auf die kommunikative Homogenität ankommt, also Volksgemeinschaft als Kommunikationsgemeinschaft. Wenn wir das jetzt auf Europa übertragen, dann hapert es natürlich mit dem Legitimationssubjekt, denn trotz aller wunderbaren Bücher und Aufsätze zur europäischen Öffentlichkeit gibt es diese nicht, so meine Frage an Dich, Edzard, um sie ganz klar zu präzisieren: Müssen wir auf Europa warten bis es eine europäische Tagesschau und einen europäischen Tatort gibt? Schmidt-Jortzig: Zunächst zu Ihnen, lieber Herr Starck. Ich habe ganz bewusst am Anfang gesagt, ich komme nicht von einer Dogmatik und erst recht nicht von der ihr zugrundeliegenden geschriebenen Grundordnung her, will also meiner Beobachtung keinerlei Normativität zuweisen. Deswegen ist das mir politisch und natürlich auch dogmatisch naheliegende Subsidiaritätsprinzip in der Realität der Entwicklung von europäischer parlamentarischer Regierungssystematik in meinen Augen – das kann man natürlich heftig beklagen – nicht sonderlich wirksam oder nicht sonderlich wichtig. Also, ich bestreite die Normativität und die heftig gewünschte Normativität des Subsidiaritätsprinzips, das findet sich ja auch hinreichend wieder im Unionsvertrag, überhaupt nicht, aber ob sie für die reale Entwicklung eines parlamentarisch demokratischen Systems in Europa wirklich eine Rolle spielt, bezweifele ich eher. Lieber Herr Schuppert, der Kommunikationsraum, der da vorangestellt wird, ist ja zunächst auch mal ein Dogma, eine These, von der ab ich dann etwas ableite, was dann bitte schön in Europa oder sonstwo sein müsste und ich bestreite diese Prämisse. Woher nimmt man die eigentlich? Es wäre ja schön und in Deutschland sehen wir das vielleicht auch so, obwohl ich gerade beim Tatort immer den Eindruck habe, die Leute legen ganz viel Wert darauf, ob der Tatort aus ihrem eigenen Bereich kommt, Kiel immer mit Borowski, und die aus Bayern für ihres und das ist auch gar nicht so integrativ und gemeinschaftskommunikativ. Also, die Anforderungen, die wir an die Ausgangsgröße »Volk« stellen, die

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müssen in der Tat viel voraussetzungsloser und vor allem ideologieloser nach meiner Sicht bemessen werden. Und wenn man das tut, dann sehe ich eigentlich nicht, weshalb man nicht so etwas wie Demokratie, im Entwicklungsprozess, auch in Europa gestalten können müsste. Immerhin sind 370 Mio. Einwohner, potentielle Bürger also, nicht alle Aktivbürger, aber immerhin Bürger, doch eine Quantität, bei der es sich schon aus eben diesen Quantitätsgründen als fraglich hinstellt, ob man dann einen einheitlichen Kommunikationsraum organisieren könnte oder sich auch wirklich nur idealiter vorstellen sollte. Also auch hier eine Absage an Dogmatismus, obwohl ich Dir den gar nicht vorwerfen will, dafür kenne ich Dich zu gut. Danke. Möllers: Vielen Dank. Zu Herrn Volkmann: Mir ging es erstmal darum zu verstehen, was das Demokratieverständnis des Gerichts ist und das abzubilden in der Tat mit einer bundesrepublikanischen Befindlichkeit. Ob ich demgegenüber kritisch stehe, möge man von Fall zu Fall sehen, und es scheint mir aber wichtig zu sein, dass wir natürlich in dieser Befindlichkeit auch interne Widersprüche erkennen und diese Widersprüche muss man dann vielleicht auch mal formulieren. Ich glaube nicht, dass wir so etwas haben wie ein geschlossenes oder widerspruchsfreies Bild oder eine widerspruchsfreie Erwartung an den demokratischen Prozess. Was aber glaube ich nicht geht – und da will ich auch explizit widersprechen – ist diese Sicht zu etwas Universalem wie etwa der Normativität der Verfassung zu stilisieren, zu sagen, na ja, wenn man die Verfassung als Norm versteht, dann ist es eine Norm, die diese und jene Inhalte hat und die dann auch gerichtlich überprüft wird. Das ist einfach falsch, glaube ich. Da müssen wir nicht nach Großbritannien gucken, das können wir, aber das würde meine These nochmal bestätigen, dass diese Sache erstmal ganz anders läuft. Wir können auch nach Frankreich schauen, oder auch in viele andere Länder schauen, gerade in Länder mit alten demokratischen Traditionen, mit monarchisch-konstitutionellen Traditionen, die erfolgreich parlamentarisiert wurden, skandinavische Länder, die Niederlande, Dänemark, nicht wahr, in denen das einfach ganz anders gesehen wird und in denen ich nicht erzählen kann, sie hätten keine normative Verfassung. Sondern da gehen wir dann im Grunde schon in eine spezifisch postautoritäre Konstellation, in der halt sozusagen Länder, die mal einen autoritären, kommunistischen, faschistischen, nationalsozialistischen Prozess hatten, glauben dieses Problem, mit Staatsverfassungsgerichtbarkeiten lösen zu können. Das ist die Geschichte eigentlich, die bei weltweitem Rechtsvergleich, also statistisch überwältigend, also wirklich irgendwie so läuft. Der zweite Punkt ist, selbst wenn wir solche Verfassungsgerichte haben, wenn wir sie haben in Taiwan, in Indien, in Spanien, in Italien und in Argentinien, werden wir wenig finden, die sich so intensiv z. B. mit dem parlamentarischen Prozess beschäftigen, die das Wahlrecht so intensiv verrechtlichen, die so genaue Vor-

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stellungen davon haben, welche Rationalität einer gerichtlichen Verfassung im Moment ist. Das ist relativ einmalig und da, denke ich, können wir uns nicht damit begnügen, zu sagen, wenn man der Meinung ist, dass die Verfassung eine Norm ist, dann kommt das da raus, das ist empirisch einfach nicht zutreffend. Lassen Sie mich noch eine ganz kurze Bemerkung machen. Ich bin ein Schüler von Peter Lerche, der ist ja ein großer Gegner des Subsidiaritätsprinzips. Und ich finde Zweifel an der Wirkung der Währung wichtig, weil ich es eigentlich nochmal umdrehen möchte. Die Währung ist ja nicht zuletzt deswegen vereinheitlicht worden, weil die Währungen faktisch alle schon an der DM hingen. Es gab ja schon so etwas wie eine Form von Hegemonie der deutschen Währung, ein Problem, das dann mit der Vergemeinschaftung der Währung gelöst wurde. Damit will ich das gar nicht rechtfertigen. Sie haben damit ein Problem, aber es ist nicht der richtige Weg. Man kann nicht einfach sagen, da gab es eine dezentrale Lösung, die funktioniert hat. Es gab eine dezentrale Lösung, die nicht funktioniert hat. Nämlich die Tatsache, dass es ohne die DM nicht funktionieren konnte. (Zwischenruf: Da ist noch die Abwägungsmöglichkeit.) Ja, die Abwägungsmöglichkeit, da glauben immer alle dran, weil wir es nicht mehr können. Die berühmte vereinheitlichte Gurke ist in 90 % aller Fälle eine Vereinheitlichung, die von der Industrie an einen Mitgliedstaat herangetragen wurde und dann von den Mitgliedstaaten in den Rat kommt, das ist schon beschrieben, das berühmte Doppelspiel. Denn vereinheitlichte Produkte bringen die Möglichkeit eines gemeinsamen Marktes. Auch hier sehe ich nicht wirklich das kleine Problem, das man dezentral lösen würde. Wer will, dass die Gurke vereinheitlicht wird? Die Landwirtschaft. Das ist keine Bürokratenidee, die Landwirtschaft will das, dann können sie nämlich alle in denselben Transporter gepackt und über die Grenzen geschickt werden. Es gibt so ein paar Mythen der Subsidiarität, die man sich auch nochmal genauer anschauen müsste. Cancik: Danke. Ich habe eine Rednerliste, mit den Herren Kollegen Bauer, Weber und Groß und dann hat Herr Pieroth sich gemeldet. Herr Bauer bitte. Bauer (Universität Potsdam): Ich würde gerne plädieren für eine Perspektivenerweiterung, die angesiedelt ist im Umfeld des Petitionsrechts. Jetzt werden manche von Ihnen denken an den Supplikanten, der händeringend eine Gunsterweisung von seinem Fürsten erwartet, das passt ja auch zu diesem Raum hier. Aber um den geht es mir nicht. Es geht mir um die demokratische Funktion des Petitionsrechts, die wir bis in die Paulskirchenverfassung zurückverfolgen können. Dort sind millionenfach Petitionen eingereicht worden, um diesen Prozess zu befeuern. Zwei Institutionen scheinen es mir zu sein, die man hier aufgreifen kann und auch sollte. Das eine ist das Institut, das Peter M. Huber, wenn er hier wäre, sicher aufgegriffen hätte, daran hat er nämlich mitgedreht:

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die europäische Bürgerinitiative. Und das andere sind, auf der nationalen Ebene, die öffentlichen Petitionen beim Bundestag. Europäische Bürgerinitativen in der einen Richtung, die der Vertrag von Lissabon gebracht hat, und zwar in Reaktion auf das Demokratiedefizit, das Vielbeklagte, und die den Bürgern nun ermöglicht, die Kommission aufzufordern, rechtssetzend in bestimmten Bereichen tätig zu werden. Diese europäische Bürgerinitative ist mittlerweile auch umgesetzt, es gibt erste Ergebnisse, »Right to Water«. Sie hat verhältnismäßig hohe Anforderungen was die Zahl betrifft: es müssen 1 Million von europäischen Bürgern diese Initiativen unterstützen. Das ist bei 500 Millionen Einwohnern niedrig, aber diese 1 Million muss nach bestimmten Vorgaben aus sieben Ländern kommen derzeit. Und das macht es natürlich schwierig schon allein der Sprachenvielfalt wegen, aber auch sonst sich zu organisieren grenzüberschreitend. Da zeichnet sich ansatzweise das ab, was wir schon jetzt haben, nämlich an europäischer Öffentlichkeit. Bei den Petitionen ist das auch gelungen. Jetzt streiten Juristen aber wieder gerade über das, was denn das Ergebnis einer Petition ist und wie die Kommission handeln muss, in welche Richtung, das sind dann für jemanden, der das mehr so rechtstatsächlich beobachtet, zweitrangige Fragen. Wir können bei dieser »Right to Water« z. B. feststellen, dass es schon im Ausstellungsprozess gesehen worden ist: »Verdammt nochmal, wir schaffen diese Zahlen«. Das führte dazu, dass Wasser/Abwasser aus der Dienstleistungsrichtlinie, die damals im Überarbeitungsprozess war, herausgenommen worden ist und damit im Grunde schon die Weichenstellung für die Rekommunalisierung gestellt wurde. Das war eine ganz spannende Entwicklung, die europäische Bürgerinitiative war erfolgreich mit 1,4 oder 1,5 Millionen Unterstützern, hat die Zahl bekommen, die sie braucht, und die Kommission hat im März darauf geantwortet, das Anliegen nicht in Folgen gesetzt, aber es gibt schon Teilaspekte, die umgesetzt worden sind, mit dem Stichwort »Rekommunalisierung« habe ich einiges angedeutet. Ich war vorgestern – und das ist jetzt mein zweiter Punkt – auf einer Tagung in Berlin, da hat man sich mit dem Petitionsrecht beschäftigt und ein zentraler Aspekt waren die öffentlichen Petitionen. Es ist gelungen, beim Deutschen Bundestag eine elektronische Plattform einzurichten und auf dieser Plattform kann man eine Petition öffentlich bereitstellen. Die Technik ist so, dass man sich einschalten kann, die Petition mit kommunizieren und diskutieren und am Ende auch per Mausklick unterstützen kann. Da sieht man, wie weit das mit dem Potential dort ist, dass man am Ende per Mausklick Petitionen mitzeichnen kann. Bei den entsprechenden Netzwerken ist es durchaus vorstellbar, dass es bei Petitionen zu Millionenzahlen kommen kann. Diese öffentlichen Petitionen haben eine unglaubliche Anziehungskraft. Im letzten Petitionsbericht, also dem Tätigkeitsbericht des Petitionsausschusses, kann man nachlesen, dass täglich über 33.000 Klicks auf diese Seite kommen. Wenn Sie rechnen, in 10 Tagen auf

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über 330.000 und in 100 Tagen dann 3,3 Millionen. Das ist durchaus eine beachtliche Resonanz, die hier neue Felder demokratischer Partizipation eröffnet. Ich denke, dass man diese Petitionen einbeziehen sollte in den Diskurs, sowohl auf der europäischen als auch auf der nationalen Ebene. Vielen Dank. Cancik: Danke schön. Herr Weber bitte. Weber (Universität Osnabrück): Das ist ein wichtiger Punkt, den Herr Bauer da aufgegriffen hat. Es ist ein Aspekt, wie wir europäische Öffentlichkeit besser herstellen können. Ich bin immer etwas progressiver gewesen hinsichtlich der Gestaltung Europas und war und bin auch heute noch der Meinung, dass wir natürlich geduldig sein müssen, aber dass der europäische Raum – Herr Möllers hat ihn mehr als Kommunikationsraum beschrieben – natürlich aus verschiedenen Komponenten besteht, langsam zusammenwächst. Man könnte natürlich auf die Idee kommen und das Brandt’sche Diktum zitieren »Es wächst zusammen, was zusammen gehört«. Wir haben eine Gemeinschaftsgeschichte, wir haben keine gemeinsame Sprache – das ist auch gar nicht notwendig – und gerade das von Ihnen zitierte prominente Beispiel der Schweiz lehrt uns das. Es ist übrigens nicht das einzige, es gibt noch andere Länder, die mehrere Sprachen haben, auch Spanien im Übrigen. Ich bin weitaus weniger skeptisch als etwa Herr Grimm, der das immer so prominent vertritt, dass alles dies nicht möglich sei. Der entscheidende Punkt, glaube ich, liegt aber auch bei dem, was Herr Schmidt-Jortzig angesprochen hat, nämlich der möglichen Parlamentarisierung des europäischen Regimes. Ich persönlich kann mir eigentlich nichts anderes vorstellen, auch trotz des Gegenbeispiels der Schweiz, dass wir auf lange Sicht in unseren verfassungshistorischen Bahnen weitergehen werden. Ich will nicht sagen, wir hätten keine Alternative, aber wir sind ja vorgeprägt durch unsere gemeinsame Geschichte und all die Staaten, die sie auch zitiert haben, haben nur parlamentarische Regime und die Schweiz ist nicht dabei. Wir können von der Schweiz eine Menge lernen, natürlich vor allem das plebiszitäre Element. Frau Cancik hat uns das ja neulich auch mal dargelegt, was man alles daraus machen kann. Wir können eine Menge machen. Dazu gehört natürlich auch die Bürgerinitiative. Ich will jetzt nicht noch lange auf den Vortrag von Herrn Möllers eingehen, das Bundesverfassungsgericht ist natürlich ein wichtiger Pfeiler zur Stärkung der mittelbaren Demokratie. Das hat es immer wieder gesagt und in der Eurokrise wird es ja auch gesagt haben, ja gestärkt, vielleicht manchmal sogar zu weit. Es bleibt, glaube ich, dieses Dilemma bestehen, dass wir auf dieser mittelbaren demokratischen Schiene weiterfahren müssen und gleichzeitig die unmittelbare demokratische Legitimation stärker ausbauen, insbesondere – da stimme ich Ihnen zu – durch ein gemeinsames Wahlrecht.

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Cancik: Vielen Dank. Herr Groß bitte. Groß (Universität Osnabrück): Ich möchte einen Aspekt, insbesondere der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Demokratieprinzip, aber natürlich auch der literarischen Unterstützung, herausgreifen, den ich als nationale Introvertiertheit der Auslegung des Demokratieprinzips bezeichnen möchte. Das ist gerade auch ein Punkt, der die Rezeption der europabezogenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – vornehm formuliert – erschwert und ich würde die These aufstellen – ich habe es nicht quantifiziert –, dass die Kritik am Lissabon-Urteil außerhalb Deutschlands wahrscheinlich noch größer, verbreiteter und zum Teil heftiger war, als innerhalb Deutschlands. Das kann man exemplifizieren gerade an dem schon angesprochenen Thema des Wahlrechts. Wenn es tatsächlich richtig wäre, dass für eine nationale Demokratie eine strikte Erfolgswertgleichheitsgarantie im Wahlrecht notwendig ist, dann sind wir umgeben von undemokratischen Staaten. Das ist klar meiner Meinung nach für Staaten, die das Verhältniswahlrecht haben, nicht nur Großbritannien, sondern auch in der etwas modifizierten Form in Frankreich, das gilt genauso für Staaten, die eine Mehrheitsprämie haben, wie etwa Italien. In Italien hat die demokratische Partei bei der letzten Wahl, ich glaube, 26 % errungen, hat aber die Mehrheit der Sitze im Parlament durch eine wirklich sehr problematische, aber eben in Italien mit Mehrheit verabschiedete Klausel. Ähnlich ist es in Griechenland: ein 50-Sitze-Zuschlag für die stärkste Partei. In Spanien haben wir ein Wahlsystem, was keinen nationalen Ausgleich kennt, auch die großen Parteien extrem bevorteilt. Und außerdem fliegen natürlich auch noch die Staaten aus der Kurve, die eine gleichberechtigte zweite Kammer haben, die rein nach dem System »ein Bundesstaat, eine Stimme« zusammengesetzt sind, nämlich die USA, aber auch die Schweiz. Also, wenn es richtig wäre, dass das Demokratieprinzip notwendig verlangt, dass ein Wahlrecht die Erfolgswertgleichheit garantieren muss, dann sind Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, die USA, Schweiz und auch Griechenland, und man könnte wahrscheinlich noch mehr Länder finden, mit Parlamenten ausgestattet, die durch ein Wahlverfahren gewählt worden sind, was bei uns nicht einmal durch Verfassungsänderung eingeführt werden dürfte. Kann das richtig sein? Cancik: Danke. Herr Kollege Pieroth. Pieroth (Universität Münster): Herr Möllers hat uns in sehr subtilen und scharfsinnigen Beobachtungen gezeigt oder die Vermutung geäußert, dass das Bundesverfassungsgericht in gewisser Weise einen Konsens, eine Gemeinschaftlichkeit juristischen Denkens in der gegenwärtigen Bundesrepublik widerspiegelt. Ich möchte das nur um einen kleinen Aspekt erweitern. Nicht nur in

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der gegenwärtigen Bundesrepublik, natürlich der spezifisch-rechtsstaatlichen Traditionen Deutschlands. Und da knüpfe ich ein bisschen an Herrn Ipsen an, der der Verfassungsgeschichte auch immer den ihr gebührenden Rang einräumt und diese starke Rechtsstaatlichkeit, diese starke Orientierung an Regeln, was Sie, Herr Möllers, hier ja zu Recht identifiziert haben, das reicht eben ganz weit zurück. Ich benenne hier nur zugespitzt einige Sachen, die allen bekannt sind. Das Reichskammergericht vor 500 Jahren hat zum ersten Mal auf der Welt eine gerichtliche Entscheidung politischer Konflikte institutionalisiert. Im 19. Jahrhundert ist in Deutschland die Verwaltungsgerichtsbarkeit erfunden worden, das Bundesverwaltungsgericht hat das Verhältnismäßigkeitsprinzip erfunden. Und wir haben mit Hans Kelsen, das ist kein Deutscher, einen wichtigen Autor, der die spezifische Verfassungsgerichtsbarkeit in die Welt gesetzt hat. Dieses stark justizförmige, rechtsförmige, regelgeleitete Denken ist eben nicht nur aufgesetzt, sondern sehr stark verwurzelt. An der Stelle knüpfe ich ein bisschen an das an, was Herr Volkmann gesagt hat, viele Entscheidungen, die Sie sozusagen in ihrer Widersprüchlichkeit uns gezeigt haben, haben mich vom Ergebnis her doch auch sehr überzeugt. Von daher müssen wir natürlich weiterhin uns selbstkritisch betrachten. Wir haben jetzt einige Beispiele gehört, an welchen Stellen wir das machen sollen. Aber die Grundtendenz des Rechtsstaats möchte ich weiter immer sehr hoch halten. Cancik: Vielen Dank. Ich gucke noch einmal in die Runde, ob es noch einen Widerspruchskünstler gibt. Wenn das nicht der Fall ist, würde ich die Rednerliste schließen und noch einmal für eine Schlussrunde das Wort erteilen. Herr Möllers, möchten Sie anfangen? Möllers: Ja, vielen Dank. Zunächst an Herrn Bauer : Ich glaube, es ich wichtig, die Perspektive weiterzubringen, auch weil sie in gewisser Weise an einer typischen deutschen Verengung gelitten hat. Also ich glaube Petitionsrechte sind natürlich interessant, weil sie nochmal einen ganz anderen Umgang mit politischer Mobilisierung ermöglichen, der nicht gleich in der Repräsentation des Parteiensystems aufgefangen wird. Das ist wichtig, weil wir immer ein doppeltes Problem haben in der Demokratie. Wir haben Untermobilisierung, wir haben Leute, die nicht zur Wahl gehen, weil sie sich nicht interessieren, aber wir haben manchmal auch Übermobilisierung, die keinen Ort findet, weil sie sich mit bestimmten Formen der repräsentativen Politik eigentlich beschäftigen müsste. Das ist natürlich immer die Kunst der guten Institutionen für so eine Nachfrage eben auch Orte zu schaffen. Das Petitionsrecht ist dann natürlich besonders interessant, zumal wenn es transnational funktioniert. Zumal diese Vorwirkungen, von denen Sie ja geredet haben, tatsächlich Effekte erzeugen, informal, aber doch nachweisbar, und damit im Grunde einen ganz eigenen Beitrag zur Konstitu-

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ierung europäischer Öffentlichkeit leisten. Ich glaube auch, Herr Groß hat mir zugestimmt, ich hätte es wahrscheinlich weniger zugespitzt gesagt letztendlich, weil man gucken muss, inwieweit das Bundesverfassungsgericht alles, was es aus dem Wahlrecht heraus oder aus dem Demokratieprinzip für das Wahlrecht heraus entwickelt, auch für veränderungsfest hält, das ist ja nicht ganz klar. Ich bin mir nicht sicher, was passieren würde, wenn wir das Europawahlrecht ohne Hürde in das Grundgesetz schreiben würden, ob die das auch kippen würden. Das ist unklar. Aber wichtig scheint mir in der Tat auch zu sein, dass wir in diesem Kern des Demokratieprinzips die Ermöglichung von demokratischer Legitimation durch Wahlen, halt in einer unglaublichen Vielfalt beobachten können, dass wir sehr vorsichtig sein müssen, mit auch einer nicht ganz untypischen Geste, Dinge, die wir wirklich mal sehr schlecht gemacht haben, die wir uns dann nochmal ganz gemütlich selbst angeeignet haben, so zu perfektionieren, dass wir dann allen anderen erklären, wie es funktionieren soll. Das ist ja so ein bisschen der gemeinsame Nenner von Demokratie und Menschenwürde, dass wir sozusagen in einer Weise Schluss gemacht haben, wie kaum ein anderes Land auf der Welt, um jetzt so genau Bescheid zu wissen, dass wir allen sagen können, wie das so ist. Und das ist eine Geste, die jenseits aller Dogmatik, geschichtspolitisch ein bisschen heikel ist. Ich möchte nochmal klar machen, was meine Position ist mit Blick auf Herr Pieroth. Ich bin sehr dankbar, dass Sie nochmal diese große Tradition klar gemacht haben, und ich glaube auch, wir können wie das Bundesverfassungsgericht gar nicht denken. Die große rechtsstaatliche Tradition des 19. Jahrhunderts und die noch viel ältere des alten Kaiserreichs und der Notwendigkeit im alten Kaiserreich in diesem fragilen, aber doch dann irgendwie recht zähen Gebilde, irgendwie Verrechtlichung für diese ganz ungewöhnliche Art und Weise zu installieren. Mein Punkt ist – wie gesagt – nicht, dass das alles ein Problem ist. Ich möchte das nicht alles über den Haufen werfen, sondern gucken, was sozusagen unser Weg ist und dass wir in dem Moment vorsichtig sein müssen, wo wir ihn europäisieren. Das ist ein historisch kontingenter, wenn auch erfolgreicher, teilweise auch nicht erfolgreicher, aber im Moment erstmal erfolgreicher Weg, aber es ist nicht sozusagen »der« Weg der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf der Welt und auch nicht in Europa. Es ist etwas sehr Spezifisches, etwas in gewisser Weise Schräges, auch in seinem Rechtsvertrauen Liebenswürdiges, teilweise auch hoch Funktionales – also wir haben ein wunderbar funktionierendes politisches System immer noch im Vergleich zu vielen anderen Ländern. Aber all diese Verwöhntheit mit einem funktionierenden System und diese Überzeugungskraft des normativen in Regelformen, die ich gar nicht hier dekonstruieren möchte, das ist halt erstmal unseres und wir können sie in dieser Form weder einem Briten, noch einem Niederländer, noch einer Spanierin, noch einem Polen als das verkaufen, was das eigentliche des demokratischen Rechtsstaates ausmacht. Das wäre nicht nur

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wegen der Vergangenheit problematisch, sondern wahrscheinlich systematisch falsch. Schmidt-Jortzig: Ich möchte zunächst nur drei kurze Anmerkungen zu den Diskussionsbeiträgen noch geben und dann einen gewissen Konsens am Schluss zu finden oder zu suchen. Erstens: Herr Bauer, die Sache mit dem öffentlichen Petitionsrecht ist jedenfalls im deutschen Kontext, jedenfalls hier in der Bundesrepublik und darauf bezog es sich ja, das muss man deutlich sehen, ein Ersatz für offenbar politisch nicht durchsetzbare plebiszitäre Ergänzungen des repräsentativen Demokratiesystems auf Bundesebene. Das kann man gut finden. Ich finde grundsätzlich auch diese Anreicherung des repräsentativen Systems durch plebiszitäre Elemente voll unterstützenswert. Ich habe nur immer ein bisschen Probleme und speziell auch bezüglich dieser öffentlichen Petition, wenn dadurch andere Teile der Bevölkerung ausgegrenzt werden. Wir kennen ja aus der kommunalen Ebene bei den Bürgerinitiativen das soziologische Phänomen, dass dann nicht nur die Aktiv- sondern die Protestbürger fordern und die, die eigentlich zufrieden sind, die werden dann hinten rüber gekippt und bei den öffentlichen Petitionen ist das auch so. Die Oma, die aus Entwicklungsgründen noch nie was mit Computern am Hute hatte und es auch nicht mehr haben wird, oder der, der aus weltanschaulichen Gründen sagt, ich gehe auf diese Kommunikationsebene bei so wichtigen Dingen wie demokratischer Teilhabe nicht ein, die sind ausgeschlossen und da werden mitunter Stimmen, die wichtig und vernünftig in der Demokratie zu hören sind, überbewertet und andere, die ebenso wichtig sein müssten, einfach nicht gehört. Das muss man sehen. Also zu sehr jetzt schon und überhaupt normativ darauf zu setzen, dass alles digital dann ablaufen muss, ist für die Idee der Demokratie auch nicht ganz ungefährlich. Bei Herrn Weber bin ich natürlich beglückt, ich habe das auch gar nicht anders erwartet, dass genau wie in meinem Herzen den enthusiastischen Europäer durchgehört zu haben und dabei fällt mir noch einmal ein, lieber Herr Starck, ich bin wie Sie der Auffassung ganz entgegen Angela Merkel, Europa, die EU, ist durchaus ohne Euro gut denkbar. Die Idee, wer gegen den Euro ist oder davon etwas Kritisches sagt, ist gegen Europa halte ich für schlichte Demagogie und an Populismus nicht zu überbieten. Aber das hat ja auch mit der Entstehung mit der Europäischen Gemeinschaft zunächst nicht unbedingt etwas zu tun, sondern ist eine von außen gewissermaßen hinzugetretene Entwicklung mit der gemeinsamen Währung. Herr Weber, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie sagen, es ist möglich in Europa, wir müssen es nur stärker forcieren und auch gedanklich unterstützen. Ich finde auch völlig richtig, dass wir möglicherweise schon neben den Quantitätsproblemen stärker auf die Vermittlungsposition des Parlaments setzen müssen, als es vielleicht in anderen kleiner gestrickten, kleiner dimensio-

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nierten Gemeinwesen der Fall sein müsste. Herr Groß, die Fraglichkeit der Erfolgswertgleichheit, da kann ich mich auch Herrn Möllers nur anschließen, und Ihnen auch im Vergleich der europäischen oder überhaupt Nachbarstaaten. Für uns in Deutschland ist es ja auch, wenn man einmal genauer hinschaut, auch gar nicht so dramatisch um die Erfolgswertgleichheit gestellt. Sie ist ja nicht, um den Verfassungswortlaut zu gebrauchen, an anderer Stelle unantastbar, sondern in der Tat abwägungsfähig. Das haben wir ja lange genug auch mit der 5 %-Klausel – und ich erinnere in unmittelbarer Nachkriegszeit auf kommunaler Ebene zumindest hatten wir 6 %- oder 7,5 %-Klausel etc. – die ist also abwägungsfähig und es dürfte für die Verfassungsgerichte verschiedener Staaten durchaus auch ganz andere Abwägungsaspekte geben, die es dann rechtfertigen, an der Erfolgswertgleichheit gewisse Abstriche vorzunehmen. In Deutschland sind wir da auch gar nicht so unbeweglich. Also, meine Quintessenz und der Konsenspunkt, der nicht unbedingt über die Diskussion gelegt werden soll, aber mich jedenfalls mit Herrn Möllers augenscheinlich verbindet, ist die Fraglichkeit des Ansatzes, dass wir als Deutsche mit der festen Überzeugung unserer Großartigkeit oder jedenfalls der Großartigkeit unseres demokratischen Prinzips dieses zum Maßstab für Europa verbindlich machen wollen. Das ist zwar sehr verständlich und ich würde das vor jedem Österreicher oder namentlich Franzosen auch mir vorstellen, dass die das Gleiche für sich beanspruchen. Aber ob es für das Europa, die Gemeinschaft dieser vielen Vaterländer der entscheidende Ansatz ist, möchte ich bezweifeln. Und wenn wir da ein bisschen Relativierung in unsere Standpunkte für die europäische Normativität gebracht haben, dann ist diese Veranstaltung hier schon mal ganz toll. Danke sehr. Cancik: Vielen Dank. Ich bin sehr angetan und darf mich sehr bedanken bei den Diskutanten und auch bei den Referenten. Wir würden hier gerne um 14.00 Uhr weitermachen und dürfen Sie jetzt nach nebenan einladen, um sich ein bisschen zu stärken. Nochmal vielen Dank an Sie beide und für die schönen Referate, die wir gehört haben.

Professor Dr. Gunnar Folke Schuppert

Governance-Perspektiven für Demokratie und Selbstverwaltung*

Als ich davon erfuhr, dass ich auf dieser Veranstaltung referieren sollte, habe ich schon geahnt, dass ich dem Thema »Governance« nicht würde entkommen können. Also setze ich mir jetzt wunschgemäß die Governance-Brille auf und lade Sie herzlich ein, sich mir bei einem Streifzug durch dieses für Juristen ja nach wie vor etwas exotische Terrain zu begleiten. Das was ich vortragen werde, wird möglicherweise nicht ganz Ihren Erwartungen entsprechen. Ich werde also weder den Freiherr vom Stein bemühen, noch die Einrichtung der kommunalen Selbstverwaltung als unverzichtbaren Bestandteil der Institutionenkultur unseres Gemeinwesens feiern und auch nicht das hohe Lied der lokalen Demokratie anstimmen. Andererseits werde ich mich auch nicht an so ausgefallenen Beiträgen wie »Entenhausen als selbstreferentielles System«1 oder »Ist Entenhausen ein Musterfall der Selbstorganisation?«2 orientieren. Ich werde mich irgendwo dazwischen aufhalten und möchte mit Ihnen fünf Punkte besprechen.

1. Der erste Punkt hat mit Governance zu tun, und zwar mit dem Begriff der Governance-Kollektive. Wenn man bei der Betrachtung der Institutionenlandschaft einer hoch ausdifferenzierten Gesellschaft die Governance-Brille aufsetzt, dann wird eine große Vielzahl von Governance-Kollektiven sichtbar und um solche geht es bei der Governance-Forschung. Denn es geht bei ihr um Regelungsstrukturen und institutionelle Arrangements eines bestimmten Kollektivs * Der Vortragsstil wurde beibehalten; die Literaturnachweise sind daher auf das Nötigste beschränkt. 1 Michael Stolleis, Entenhausen als selbstreferentielles System, in: Milosˇ Vec/Marc-Thorsten Hütt/Alexandra M. Freund (Hrsg.), Selbstorganisation. Ein Denksystem für Natur und Gesellschaft, Köln/Weimar/Wien 2006, S. 188–197. 2 Milosˇ Vec, Ist Entenhausen ein Musterfall von Selbstorganisation?, Interview mit Patrick Bahnen und Andreas Platthaus, in: Selbstorganisation (Fn. 1), S. 147–186.

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und um Regelungen, die im Interesse eines Kollektivs erlassen werden3. Das klingt jetzt vielleicht etwas abstrakt, aber die gemeinte Sache wird schnell klar, wenn wir einen anderen Begriff nehmen, nämlich den des Gemeinwohls. Natürlich möchte ich hier nicht den aussichtslosen Versuch unternehmen, den Begriff des Gemeinwohls inhaltlich zu definieren4, sondern stattdessen Bezug nehmen auf die schöne Frage von Klaus Offe »Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?«5. Ist es das von Bad Iburg oder, um einen großen Schritt zu machen, von Osnabrück? Ist es das Wohl des Landes Niedersachsen? Ist es das Wohl der Bundesrepublik? Ist es das Gemeinwohl des deutschen Volkes als Kommunikationsgemeinschaft, wie wir soeben von Christoph Möllers gelernt haben? Ist es das Gemeinwohl der Europäischen Union? Ist es das Gemeinwohl nachfolgender Generationen? Also: es geht mit anderen Worten immer um ein bestimmtes Kollektiv. Da ja zahlreiche Vertreter der kommunalen Selbstverwaltung hier versammelt sind, möchte ich nicht versäumen, ergänzend darauf hinzuweisen, dass der Begriff des Gemeinwohls eigentlich kommunalen Ursprungs ist und »Stadtnutz« hieß, den es zu mehren galt; erst im Laufe der Herausbildung von zentralisierten Nationalstaaten wurde der Gemeinwohlbegriff gewissermaßen »verstaatlicht«.6 Die Basiseinheiten, von denen ich im Folgenden spreche, sind also immer bestimmte Kollektive, seien diese territorialer, ethnischer oder religiöser Natur. Dass wir es demgemäß mit einer Pluralität von solchen Kollektiven – von mir Governance-Kollektive genannt – zu tun haben, erschließt sich leicht, und jetzt mache ich einen Ausflug in die Tagespolitik – wenn das Governance-Kollektiv Staat, das wir alle kennen und als Staatsrechtslehrer auch lieben, erodiert oder ganz verschwindet; und dies erleben wir täglich. Denken Sie an die Vorgänge im Südsudan: kaum entstanden, fällt der Staat wieder auseinander ; denken Sie an Mali, denken Sie an Lybien, denken Sie an den Irak. Überall entstehen sogenannte Räume begrenzter Staatlichkeit7, weil die zentrale Staatsgewalt nicht 3 Vgl. Michael Zürn, Governance in einer sich wandelnden Welt. Eine Zwischenbilanz, in: G.F. Schuppert/Michael Zürn (Hrsg.), Governance in einer sich wandelnden Welt, PVS-Sonderheft 41 2008, S. 354: »Governance soll […] heißen: Die Gesamtheit der kollektiven Regelungen, die auf eine bestimmte Problemlage oder einen bestimmten gesellschaftlichen Sachverhalt zielen und mit Verweis auf das Kollektivinteresse der betroffenen Gruppe gerechtfertigt werden.« 4 Näher dazu G.F. Schuppert, Gemeinwohl, das. Oder : Über die Schwierigkeiten, dem Gemeinwohlbegriff Konturen zu verleihen, in: derselbe/Friedhelm Neidhardt (Hrsg.), Gemeinwohl – Auf der Suche nach Substanz, WZB-Jahrbuch 2002, Berlin, S. 19–64. 5 Claus Offe, Wessen Wohl ist das Gemeinwohl?, in: Lutz Wingert/Klaus Günther (Hrsg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt am Main 2001, S. 459–488. 6 Peter Blickle, »Der Gemeine Nutzen«. Ein kommunaler Wert und seine politische Karriere, in: Herfried Münkler/Harald Blum (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn. Historische Semantiken politischer Leitbegriffe, Berlin 2001, S. 85–108. 7 Siehe dazu die Beiträge in: Thomas Risse/Ursula Lehmkuhl (Hrsg.), Regieren ohne Staat?

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mehr funktioniert. Dann aber stellt sich die spannende Frage, wer oder was dann an die Stelle der sich verabschiedenden Staatsgewalt tritt. Soweit ersichtlich, kommen dafür vor allem drei Kandidaten in Betracht: erstens sind dies ethnische Governance-Kollektive, also Stämme oder Volksgruppen, die – wie im Südsudan – um die Macht im Staate konkurrieren; Stichwort: »Staat als Beute«. Der zweite Kollektiv-Typ, der immer dramatischer in Erscheinung tritt, sind religiöse Governance-Kollektive. Sie werden immer wichtiger und wir wissen nicht so ganz, wie man eigentlich mit ihnen umgehen soll. Denken Sie an die ägyptische Muslimbruderschaft8, die Hisbollah im Libanon oder die Hamas in Palästina; dies sind interessante Governance-Kollektive, die immer schon wohlfahrtsstaatliche Funktionen wahrgenommen haben, indem sie – wie etwa die Muslimbruderschaft – Krankenhäuser, Schulen und Sportstätten unterhielten. Oder denken Sie an die Auseinandersetzung zwischen Schiiten und Sunniten im Irak und in Syrien. Das dritte Kollektiv sind Räuberbanden. Diese haben nämlich – aus analytischer, nicht aus wertender Perspektive – ebenfalls Regeln und Governance-Strukturen. Sie haben zum Beispiel Regeln über die Beuteverteilung, an die man sich – wie die zahlreichen, im Moment sehr populären Piratenfilme zeigen – als Bandenmitglied auch halten sollte. Ein ganz anderer Typ von »Räuberbanden« mit weitreichenden Governance-Ansprüchen9 beschäftigt momentan die Weltöffentlichkeit und ist dabei, den ganzen Nahen Osten zu destabilisieren; gemeint sind die Milizen des sogenannten Islamischen Staates, die nach Meinung vieler in der Tat nur terroristische Räuberbanden sind, die sich allerdings religiös camouflieren und auf diese Weise eine spezifische Legitimationsbasis für sich reklamieren. Wie dem auch sei; was zu lernen war, ist, dass es geradezu von GovernanceKollektiven verschiedener Art und Herkunft nur so »wimmelt« und dass diese Governance-Kollektive zum Teil Funktionen erfüllen, die nach unseren Vorstellungen an sich der Staat wahrnehmen müsste, dies aber nicht kann oder will10.

Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit, Baden-Baden 2007; einschlägig insbesondere die Aufsätze in: Marianne Beisheim/G.F. Schuppert (Hrsg.), Staatsverfall und Governance, Baden-Baden 2007. 8 Materialreich dazu Muhammed Sameer Murtaza, Die ägyptische Muslimbruderschaft. Geschichte und Ideologie, Verlag Rotation 2011. 9 Siehe dazu Marc Engelhardt, Heiliger Krieg, heiliger Profit – Afrika als neues Schlachtfeld des internationalen Terrorismus, Berlin 2014. 10 Vgl. dazu Christoph Zürcher, Gewollte Schwäche. Vom schwierigen analytischen Umgang mit prekärer Staatlichkeit, in: Internationale Politik, Jg. 60 (2005), S. 13–22.

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2. Jetzt möchte ich mich dem zweiten Punkt zuwenden, und zwar der Frage, welches denn eigentlich die Hauptfunktionen von solchen Governance-Kollektiven sind. Zwei dieser Funktionen lassen sich identifizieren, die jeweils auf ein bestimmtes, den Kollektiven inhärentes Gen zurückgeführt werden können. Das erste Gen nenne ich das Selbstregelungsgen. Alle Kollektive, die wir besprochen haben, und auch alle Gruppen, die ich kenne, neigen dazu, sich Regeln zu geben. Die Staatsrechtslehrervereinigung macht da keine Ausnahme. Mein Lieblingsbeispiel aber ist der Roman von William Golding mit dem Titel »Herr der Fliegen«, den Sie vielleicht früher einmal gelesen haben. Dieser Roman handelt von einer Gruppe von jungen Leuten, eigentlich großen Kindern, die schiffbrüchig werden und sich auf einer unbewohnten Insel wiederfinden. Also müssen sie versuchen, ihr Leben zu organisieren und sie tun dies unter anderem dadurch, dass sie eine Reihe von Regeln aufstellen. Sie beschließen Regeln darüber, wer das Feuer bewachen muss, wer Ausschau halten muss, ob auf dem Ozean ein Schiff zur Rettung naht, sie machen Regeln darüber, wie Entscheidungsprozesse gefällt werden, ja sogar darüber, wer das Wort ergreifen will und wie er diese Absicht zu kommunizieren hat. Das heißt, jede Gruppe gibt sich Regeln. Besonders deutlich kann man dies bei einer Gruppe studieren, die Sie alle kennen, weil Sie ihr alle angehören, nämlich der Gruppe der Professionen. Jede Profession, also jede Berufsgruppe, gibt sich Regeln, seien dies Rechtsanwälte, Ärzte oder Finanzanalysten: früher hieß dies Standesrecht, heute nennt man diese Regelwerke »Codes of Conduct«11. Solche Regeln erfüllen eine doppelte Funktion, sie stabilisieren die Gruppe einerseits nach innen und grenzen sie gleichzeitig nach außen ab.12 Mein anderes Lieblingsbeispiel für regelungsgeneigte Governance-Kollektive sind Religionsgemeinschaften, unter denen unter Governance-Gesichtspunkten die katholische Kirche ein geradezu faszinierendes Beispiel darstellt. Die katholische Kirche – von ihrem Selbstverständnis her stets »Rechtskirche« – zählt zu ihren bedeutendsten Päpsten die sogenannten »Juristenpäpste« und verfügt in Gestalt des »Codex Iuris Canonici« (CIC) über eine eigene kodifizierte Rechtsordnung, die man – wie der schöne Titel »Dr. iuris utriusque« zeigt – auch erlernen musste. Das zweite Gen, das ich erwähnen möchte, ist das Selbstverwaltungs- oder Selbstorganisationsgen. Denn die von uns besprochenen Kollektive neigen nicht 11 Näher dazu mit weiteren Nachweisen G.F. Schuppert, Governance und Rechtsetzung. Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft, Baden-Baden 2011. 12 William J. Goode, Community within a Community : The Professions, in: American Sociological Review, 1957, S. 195.

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nur dazu, sich eigene Regeln zu geben, sondern auch dazu, ihre eigenen Angelegenheiten selbstverwaltend in ihre Obhut zu nehmen. Dies zeigt sich einmal daran, dass sie keine informale Gruppe bleiben wollen, sondern eine institutionelle Verfestigung anstreben, sei es – wie bei den christlichen Religionsgemeinschaften – als Kirche, sei es – wie im Fall der Professionen – als Kammern. Die Beliebtheit der Kammern erschließt sich leicht, erleichtert diese Organisationsform mit Zwangsmitgliedschaft es doch ungemein, die Herde zu hüten und die Schäfchen im Auge zu behalten. Das Selbstgestaltungsgen äußert sich auch darin, dass Governance-Kollektive als Regelungsgemeinschaften bestrebt sind, die Einhaltung ihrer Gruppenregeln sicherzustellen und Verstöße gegen sie zu sanktionieren. Daher bilden sie in aller Regel eigene, gruppenspezifische Normdurchsetzungsregime aus13, sei dies die staatliche Justiz, die Kammergerichtsbarkeit oder die Exkommunikation. Regelungs- und Selbstverwaltungsgemeinschaften sind daher in aller Regel auch Jurisdiktionsgemeinschaften mit einer eigenen, gemeinschaftsspezifischen Juristdiktionskultur.

3. An dieser Stelle möchte ich einen kleinen rechtshistorischen Ausflug unternehmen und Ihnen an drei Beispielen zu zeigen versuchen, wie wirkmächtig die identifizierten Gene – als das Selbstregelungsgen und das Selbstorganisationsgen – historisch immer gewesen sind. Drei Beispiele sind mir insoweit eingefallen, nämlich erstens die Gilden und Zünfte, zweitens die Kaufmannschaft und drittens die europäische Stadt. Was zunächst die Gilden und Zünfte angeht, so bildeten sie einen wichtigen Baustein in der Governance-Architektur des Mittelalters, in der Statusgruppen und Korporationen aller Art eine zentrale Rolle spielten14. Ihr – wie man es verwaltungswissenschaftlich formulieren würde – »organizational behaviour«15 ist leicht zu erklären; zwei ihnen gestellte Aufgaben und die für eine gute Aufgabenerfüllung gewährte Prämie vermögen die oft beschriebene zünftlerische Handlungslogik zu erklären: einmal galt es, die Qualitätsstandards der in den Zünften und Gilden organisierten Berufe hoch zu halten: Qualitätssicherung als 13 Näher dazu G.F. Schuppert, The World of Rules. Eine etwas andere Vermessung der Welt, 4. Kapitel: »Von der Pluralität der Normenordnungen zur Pluralität ihrer Normdurchsetzungsregime« (voraussichtlich Frühjahr 2016). 14 Karl Jürgen Bieback, Die öffentliche Körperschaft, ihre Entstehung, die Entwicklung ihres Begriffes und die Lehre vom Staat und den innerstaatlichen Verbänden in der Epoche des Konstitutionalismus in Deutschland, Berlin 1976. 15 Näher dazu G.F. Schuppert, Institutional Choice im öffentlichen Sektor, in: Dieter Grimm (Hrsg.), Staatsaufgaben, Baden-Baden 1994, S. 647–684.

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Governanceproblem16 ; zum anderen wurde von ihnen erwartet, ihre Mitglieder zu disziplinieren: Sozialdisziplinierung als Governanceproblem. Im Gegensatz zu diesen Erwartungen konnten sie für sich reklamieren, den Zugang zum Markt zu regulieren und dadurch den Wettbewerb aus ihrer Zunftperspektive zu minimieren oder ganz auszuschließen: Staatsentlastung durch Autonomiegewährung17. Was die Kaufmannschaft betrifft, so ist sie in dreifacher Weise ein bemerkenswertes Governance-Kollektiv. Einmal hat sie – wegen des grenzüberschreitenden Charakters von Handel und Wandel – ein eigenes transnationales Regelungsregime entwickeln müssen, das unter dem Namen »lex mercatoria« die zeitgenössische Rechtstheorie intensiv beschäftigt18. Ob es sich bei der sogenannten »neuen lex mercatoria« wirklich um eine zivilgesellschaftliche Reanimation eines mittelalterlichen Regelungswerkes oder eher um einen Fall »normativer Hochstapelei«19 handelt, mag hier dahinstehen – Nils Christian Ipsen hat diesbezüglich klare Worte gefunden20. Zweitens hat die Kaufmannschaft in Gestalt der Kaufmannshanse – der Vorläuferin der Städtehanse – eine eigene Governancestruktur ausgeformt21, die ein wunderbares Beispiel für die Wirkmächtigkeit des Selbstorganisationsgens darstellt. Drittens schließlich hat die Kaufmannschaft ein eigenes Leitbild entwickelt, das nach wie vor Gültigkeit beansprucht: gemeint ist das Leitbild des »Ehrbaren Kaufmanns«, das fester Bestandteil auch der heutigen Unternehmensethik ist22. Insofern erweist sich die Kaufmannschaft vor dem Hintergrund der Tatsache, dass heutzutage jede Organisation meint, über ein eigenes Leitbild verfügen zu müssen, als ultramoderne Institution.

16 G.F. Schuppert, Qualitätssicherung als Governanceproblem?, in: Rechtswissenschaft 2011, S. 334–354. 17 Zur Staatsentlastung durch Gewährung von Selbstverwaltungsrechten siehe G.F. Schuppert, Selbstverwaltung als Beteiligung Privater an der Staatsverwaltung? Elemente zu einer Theorie der Selbstverwaltung, in: von Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft. Festgabe zum 70. Geburtstag von Georg Christoph von Unruh, Heidelberg 1983, S. 183ff.; derselbe, Selbstverwaltung, Selbststeuerung, Selbstorganisation – Zur Begrifflichkeit einer Wiederbelebung des Subsidiaritätsgedankens, in: Archiv des öffentlichen Rechts (AöR) 114 (1989), S. 127–148. 18 Siehe stellvertretend Gralf-Peter Callies, Transnationales Verbrauchervertragsrecht, in: RabelsZ 68 (2004), S. 244. 19 Karsten Schmidt, Lex mercatoria: Allheilmittel? Rätsel? Chimäre?, in: Murakami, Marutschke, Riesenhuber (Hrsg.): Globalisierung und Recht. Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 153–176. 20 Nils Christian Ipsen, Private Normenordnungen als Transnationales Recht?, Berlin 2009. 21 Manfred Schelzel, Hansehandel, Rostock 2003. 22 Vergl. dazu Daniel Klink, Der Ehrbare Kaufmann: Das ursprüngliche Leitbild der Betriebswirtschaftslehre und individuelle Grundlage für die CSR-Forschung, in: Joachim Schwebbach (Hrsg.), Corporate Social Responsibility, Wiesbaden 2008, S. 57f.

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Das dritte, hier nur kurz zu erwähnende Governance-Kollektiv ist die von Harold J. Berman so eindringlich beschriebene europäische Stadt: »Die neuen europäischen Städte des 11. und 12. Jahrhunderts waren auch juristische Vereinigungen in dem Sinne, dass jede von einem gemeinsamen städtischen Rechtsbewusstsein und eigenständigen städtischen Rechtsinstitutionen zusammengehalten wurde. Die meisten europäischen Städte entstanden ja durch einen Rechtsakt, gewöhnlich durch eine Privilegienurkunde; sie entstanden nicht einfach, sondern wurden gegründet. Und fast immer verkündete die Gründungsurkunde die Grund-›Freiheiten‹ der Bürger, zu denen gewöhnlich wesentliche Selbstverwaltungsrechte gehörten.«23

4. Jetzt komme ich zum vierten Punkt, der die Überschrift »Die Selbstverwaltung auf der Suche nach Verwandten und funktionalen Äquivalenten« trägt24 und der der umfangreichste meines kleinen Vortrages ist. Beginnen möchte ich damit, nach Verwandten der Selbstverwaltungsidee Ausschau zu halten und zugleich danach zu fragen, ob es sich – falls wir welche aufspüren – um echte oder sich nur aufdrängende Verwandte handelt.

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echte und falsche Verwandte

Zwei Kandidaten kommen bei dieser Verwandtensuche in den Blick, und zwar das Institut der Privilegien und der Gedanke der Autonomie. Zunächst zu den Privilegien. Man könnte ja meinen, dass man diesen Begriff auf einer solchen Veranstaltung wie heute, bei der es um Selbstverwaltung und Demokratie geht, gar nicht in den Mund nehmen dürfe, ist doch nach einem Diktum des Bundesverfassungsgerichts »Die Demokratie die Grundgesetzes […] eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie«25 und in dem Standardlehrbuch des kanonischen Rechts von Aymans-Mörsdorf heißt es gleichsinnig:

23 Harold J. Berman, Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt am Main 1991, S. 611. 24 Diese schöne Überschrift stammt von Peter Collin, Selbstverwaltung auf der Suche nach Verwandten und Äquivalenten, in: Rechtsgeschichte, 2012, S. 409–413. 25 BVerfGE 40, S. 317.

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»Das Wort Privileg hat in den am Gleichheitsdenken orientierten demokratischen Gesellschaften keinen guten Klang. Es schwingen Gedanken an Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Willkürherrschaft mit.«26

Sich diesem Verdammungsurteil anzuschließen, wäre aber voreilig und würde verkennen, dass es sich bei der Einräumung von Privilegien aus historischer Perspektive um ein höchst flexibles Regelungs- und Steuerungsinstrument handelte: Privilegienerteilung als Governancemodus. Privilegien – so lehrt es ein Blick in den von Barbara Dölemeyer und Heinz Mohnhaupt herausgegebenen Band über »Das Privileg im europäischen Vergleich«27 konnten eingesetzt werden zum durchaus eigennützigen Schutz von Juden und der Judenschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation28, zur Förderung der Ansiedlung der aus Frankreich vertriebenen Hugenotten29 oder auch zur Einräumung von Selbstverwaltungsrechten an Handelskompanien, die ich in meinem Buch »Verflochtene Staatlichkeit« als Staatlichkeitsunternehmer bezeichnet habe30. Diese sogenannten »Chartered Companies«, vornehmlich – die 1600 gegründete britische Ostindische Handelskompanie (East India Trading Company, EIC), – die 1602 gegründete niederländische Vereenigte Oostindische Compagnie (VOC), – die 1670 gegründete Hudson’s Bay Company (HBC) sowie – die 1889 gegründete British South Africa Company (BSAC) können als institutionelle Innovation der frühen Globalisierung gelten31 und werden in der politikwissenschaftlichen Literatur gerne als eindrückliches Beispiel transnationalen Regierens behandelt32. 26 Aymans-Mörsdorf, Kanonisches Recht. Lehrbuch aufgrund des Codex Iuris Canonici, Bd. I., Paderborn u. a., 1991, S. 256. 27 Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Band 1, Frankfurt am Main 1997. 28 J. Friedrich Battenberg, Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in: Dölemeyer/Mohnhaupt (Fn. 27), S. 139–190.; siehe auch – diesmal unter dem Etikett Selbstverwaltung – derselbe, Die jüdischen Gemeinden und Landjudenschaften im Heiligen Römischen Reich. Zwischen landesherrlicher Kontrolle und Autonomie, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Selbstverwaltung in der Geschichte Europas in Mittelalter und Neuzeit, Berlin 2010, S. 101–136. 29 Barbara Dölemeyer, Die Aufnahmeprivilegien für Hugenotten im europäischen Refuge, in: dieselbe/Mohnhaupt (Fn. 27), S. 303–328; vgl. auch – diesmal unter dem Etikett Selbstverwaltung – Matthias Asche, Hugenotten und Waldenser im frühmodernen deutschen Territorialstaat zwischen korporativer Autonomie und obrigkeitlicher Aufsicht, in: Helmut Neuhaus (Fn. 28), S. 63–94. 30 G.F. Schuppert, Verflochtene Staatlichkeit. Globalisierung als Governance-Geschichte, Frankfurt/New York 2014, S. 38ff. 31 Schuppert, Fußnote 30, S. 42f.

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Aber der Horizont des Instituts der Privilegienerteilung ist aus historischer Perspektive weiter gespannt und es ist in der Tat reizvoll, beispielhaft den Text eines renommierten Rechtshistorikers durch die Governance-Brille zu lesen und dabei festzustellen, dass beide Brillen hervorragend zueinander passen; in dem von uns gemeinten Beitrag von Hans Mohnhaupt über »Erteilung und Widerruf von Privilegien nach der gemeinrechtlichen Lehre vom 16.–19. Jahrhundert« – heißt es zur Flexibilität dieses Steuerungsinstruments eindrucksvoll wie folgt: »[…] war das Privilegienrecht flexibles Recht, von höchster Anpassungsfähigkeit an Individuen, Personengruppen, Gegenstände, soziale und wirtschaftliche Situationen, private und staatliche Institutionen, Territorien, Städte und Regionen. Es erlaubte, auf jede persönliche, sachliche oder politische Herausforderung individuell und gezielt zu reagieren, und bildete insoweit ein höchst mobiles Rechtslenkungssystem, in dem sich subjektive Bevorrechtigung und allgemeinpolitische oder gesellschaftliche Regelungszwecke überlagerten. Es war eine große Herausforderung an die dogmatische Konstruktionsfähigkeit der Juristen, subjektive bzw. individuelle Berechtigung und objektiven Lenkungszweck auszubalancieren oder die Entscheidung gewichtender Wertung zugunsten der einen oder anderen Seite hin zu fällen«33.

Die Privilegien waren also – so können wir für unseren Zweck zusammenfassen – ein flexibles Steuerungsinstrument, mit dem auf fruchtbare Weise das Selbstverwaltungsgen bestimmter Governance-Kollektive mit der umfassender gedachten staatlichen Gemeinwohlverantwortung ausbalancierend miteinander verbunden werden konnte; aus rechtshistorischer Perspektive wird man daher sagen können, dass das Institut der Privilegien die Verwandtschaftsprobe durchaus bestehen kann. Schwieriger liegen die Dinge beim Konzept der Autonomie, ein Konzept, das angesichts der vielfach publizierten staatskritischen Stimmen34 eine gewisse Renaissance zu erfahren scheint. Was es schwierig macht, in das Horn der Autonomie zu blasen, sind die dafür in aller Regel präsentierten drei Beispiele. Das erste Beispiel ist das Privatfürstenrecht, also das Privileg des hohen Adels, eigene Hausgesetze zu erlassen, die z. B. das Vermögens- und Erbrecht betreffen; bei allem Geschick des Adels, sich selbst als gegen alle Um- und Einbrüche resilientes Kollektiv zu stilisieren35, dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass über ein Sonderrecht des Adels die Zeitläufe hinweggegangen sind. 32 Vgl. Klaus Dieter Wolf, Transnationales Regieren in historischer Perspektive: im Westen nichts Neues?, zur Veröffentlichung vorgesehenes Manuskript. 33 Heinz Mohnhaupt, Erteilung und Widerruf von Privilegien nach der gemeinrechtlichen Lehre vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: Dölemeyer/Mohnhaupt (Fn. 27), S. 113. 34 Vergl. Stellvertretend den Titel des Sonderbandes 5 der Zeitschrift Politik »Der entmachtete Leviathan. Löst sich der souveräne Staat auf ?«, herausgegeben von Maurizio Bach, BadenBaden 2013. 35 Siehe dazu Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006.

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Nicht so recht in die Zeit passen will auch das Konzept eines autonomen, nicht vom Staat verliehenen oder der staatlichen Anerkennung bedürfenden Selbstverwaltungsrechts der Gemeinden, das ihnen gewissermaßen als »diritto naturale del Commune«36 zustehe; aus governancetheoretischer Pespektive würde man heute unter Überwindung solcher letztlich vormodernen Konzepte von der Stellung der Kommunen in einem verfassungsrechtlich ausgeformten Mehrebenensystem sprechen, also von »multilevel governance«. Auch das dritte Beispiel – die sogenannte »lex mercatoria« als Rechtschöpfungsakt der Zivilgesellschaft – vermag uns nicht für das Autonomie-Konzept zu entflammen; wir glauben nicht an einen solchen Schöpfungsakt, sondern sehen in der Propagierung einer neuen »lex mercatoria« einen Akt privater Normsetzung, bei dem private Akteure als öffentliche Institutionen fungieren.37 Soweit zum Institut der Privilegien und zum Autonomiegedanken. Was aber noch zu tun ist, ist die Identifizierung von »falschen« Verwandten, die aus Gründen der Tarnung in beeindruckenden begrifflichen Gewändern daherkommen. Gemeint sind die von Margrit Seckelmann unlängst in eine Überschrift gepackten Begriff »Regulierte Selbstregulierung – Gewährleistungsstaat – kooperativer Staat und Governance«38. Um den wahren Grad der Verwandtschaft dieser Phänomene mit dem Konzept der Selbstverwaltung verlässlich herauszufinden, schlage ich vor, sie jeweils einer DNA-Probe zu unterziehen und ihr jeweils spezifisches Erbgut zu entschlüsseln; dabei habe ich Folgendes herausgefunden: – Bei der regulierten Selbstregulierung geht es nicht – wie bei der Selbstverwaltung – um ein Autonomiegen sozialer vorstrukturierter Governancekollektive, sondern um eine spezifische staatliche Steuerungsstrategie39, die für den Staatstypus des Gewährleistungsstaates charakteristisch ist, der die unterschiedlichen Handlungsrationalitäten privater und staatlicher Akteure miteinander zu verbinden sucht40 ; im Vordergrund steht also – wie Martin 36 Näher dazu Thorsten Keiser, Selbstregulierung im entstehenden Nationalstaat: Autogoverno und Corpi intermedi in Italien, in: Peter Collin et al. (Hrsg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert. Zwischen Autonomie und staatlichen Steuerungsansprüchen, Frankfurt am Main 2011, S. 138f. 37 Instruktiv dazu Andreas Engert, Private Normsetzungsmacht: Die Standardisierung von Regelungen im Markt als Form der Fremdbestimmung, in: Rechtswissenschaft. Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 2014, S. 301–340. 38 Margrit Seckelmann, Regulierte Selbstregulierung – Gewährleistungsstaat – kooperativer Staat – Governance: Aktuelle Bilder des Zusammenwirkens von öffentlichen und privaten Akteuren als Analysekategorien für historische Kooperationsformen, in: Peter Collin et al. (Hrsg.), Regulierte Selbstregulierung in der westlichen Welt im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2014, S. 27–56. 39 Vgl. den programmatischen Titel des Beiheftes 4 / Die Verwaltung 2001: »Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates«. 40 Ausführlich dazu G.F. Schuppert, Das Konzept der regulierten Selbstregulierung als Be-

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Eifert in seinem Beitrag über »Regulierungsstrategien« zutreffend herausgearbeitet hat – eindeutig die Steuerungsperspektive: »Der Steuerungsansatz nimmt positiv die Potentiale gesellschaftlicher Selbstregulierung auf, respektiert sie in ihrer Eigenlogik und zielt auf ein freiheitsschonendes, privates Wissen und Initiative aufgreifendes Konzept der Gemeinwohlsicherung durch rechtliche Strukturierung und Überformung. Er reagiert damit einerseits auf die erkannten Schwächen der hoheitlich-imperativen Regulierung und ermöglicht andererseits eine Vorverlagerung der staatlichen Steuerung. In immer mehr Bereichen hat der Staat die Ansatzpunkte der Steuerung tiefer in die Wirtschaft und Gesellschaft hineinverlagert, in der Hoffnung, die öffentlichen Interessen letztlich wirksamer und mit größerer Akzeptanz verwirklichen zu können. Beispiele bilden etwa die Konzepte der Vorsorge, des integrierten Umweltschutzes und der Kreislaufwirtschaft im Bereich des Umweltschutzes oder der Zugriff auf Entwicklung und Produktionsweisen im Produktsicherheitsrecht.«41

– Was nun den Gewährleistungsstaat angeht, so besteht der harte Kern dieses Staatsbildes im Konzept der Verantwortungsteilung, also der Vorstellung, dass staatliche und nicht-staatliche Akteure bei der Beförderung des Gemeinwohls verantwortungsteilend zusammenwirken.42 Für die Rechtsetzung im Gewährleistungsstaat bedeutet dies im Ergebnis: »Der Staat setzt nicht alles Recht selbst, gewährleistet aber die Gemeinwohlverträglichkeit der Rechtsetzung durch Dritte«43. In gleichsinniger Weise formuliert es Georg Müller wie folgt: »Der Gewährleistungsstaat setzt nicht alles Recht selbst. Er veranlaßt oder fördert die Regelung bestimmter Bereiche durch Private, vor allem durch Wirtschaftsverbände, Fachvereinigungen und ähnliche Organisationen. Diese Selbstregulierung steuert der Staat in unterschiedlicher Form und Intensität. Häufig überträgt das Gesetz den Privaten die Aufgabe oder räumt ihnen die Befugnis ein, bestimmte Bereiche zu normieren, behält aber die Genehmigung durch den Staat vor. Das Gesetz kann auch die Ziele und Schranken der Selbstregulierung festlegen oder vorsehen, daß unter gewissen Voraussetzungen die von Privaten aufgestellten Regelungen als verbindlich erklärt standteil einer als Regelungswissenschaft verstandenen Rechtswissenschaft, in: Beiheft 4, Die Verwaltung 2001: »Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates«. 41 Martin Eifert, Regulierungsstrategien, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann/A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2. Aufl. München 2012, § 19, Rdnr. 54. 42 Näher dazu G.F. Schuppert, Der Gewährleistungsstaat – Ein Leitbild auf dem Prüfstand, Baden-Baden 2005. 43 G.F. Schuppert, Das Konzept der regulierten Selbstregulierung als Bestandteil einer als Regelungswissenschaft verstandenen Rechtswissenschaft, in: Beiheft 4, Die Verwaltung 2001: »Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates«.

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werden. Gelegentlich »droht« der Staat mit dem Erlaß bestimmter Vorschriften, sofern es nicht zur gewünschten Selbstregulierung kommt.«44

– Auch der kooperative Staat hat wenig mit Selbstverwaltung zu tun; viel mehr bringt die auf Ernst-Hasso Ritter zurückgehende Beschreibung des modernen Verwaltungsstaates als kooperativen Staat45 den vielfach erhobenen Befund auf den Begriff, dass die Steuerungstechniken einseitigen Anordnens sich zunehmend als unzureichend erweisen und deshalb mehr und mehr durch zwei- oder mehrseitige Übereinkommen ergänzt bzw. substituiert werden müssen.46 Der kooperative Staat ist daher primär ein verhandelnder Staat:47 Scharpf spricht daher von der ubiquitären Praxis ausgehandelter Regelungen und sieht in dieser aushandelnden Steuerung eine Ergänzung der hierarchischen Steuerung in Form von Geboten und Verboten. Hinsichtlich des Herzstücks des verhandelnden Staates, dem Sich-Arrangieren mit den organisierten Interessen vor allem in Gestalt von Verhandlungen zwischen Staat und Verbänden unterscheidet Scharpf vier Erscheinungsformen: Selbstregulierung, bilaterale Verhandlungen, trilaterale Konstellationen im Sinne neokorporatistischer Verhandlungssysteme und schließlich pluralistische Politiknetzwerke.48 Diese wenigen Bemerkungen mögen an dieser Stelle als Kurzportrait des kooperativen Staates ausreichen.49 – So bleibt zum Schluss nur noch die Aufgabe, nach der Rolle des GovernanceKonzepts im Konzert der von Margrit Seckelmann erörterten zeitdiagnostischen Begriffe zu fragen. Tut man dies, so springt ins Auge, dass der Governancebegriff auf einer gänzlich anderen Ebene als die anderen Begriffe – regulierte Selbstregulierung, Gewährleistungsstaat, kooperativer Staat – anzusiedeln ist. Governance ist weder eine bestimmte Steuerungs- oder Regelungsstrategie, noch ein bestimmtes Staatsbild mit benennbaren Konsequenzen für das Staatshandeln; Governance ist – um es auch hier noch einmal 44 Georg Müller, Rechtsetzung im Gewährleistungsstaat, in: Max-Emanuel Geis/Dieter Lorenz (Hrsg.), Staat – Kirche – Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag, München 2001, S. 234. 45 Ernst-Hasso Ritter, Der kooperative Staat. Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Wirtschaft, AöR 104 (1979), S. 389ff. 46 Näher dazu G.F. Schuppert, Verwaltungswissenschaft. Verwaltung, Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre, Baden-Baden 2000, S. 115ff., S. 277ff. 47 Fritz W. Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Staat und Demokratie in Europa, Opladen 1992, S. 33ff.; derselbe, Versuch über Demokratie im verhandelnden Staat, in: Roland Czada/Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Verhandlungsdemokratie, Interessenvermittlung, Regierbarkeit. Festschrift für Gerhard Lehmbruch, Opladen 1993, S. 25ff. 48 Scharpf, Handlungsfähigkeit (Fn. 47), S. 36f. 49 Weiterführend Ernst-Hasso Ritter, Das Recht als Steuerungsmedium im kooperativen Staat, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, 1990, S. 50ff.

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zu wiederholen50 ein Analyseinstrument, um die Regelungsstrukturen und Steuerungsmodi eines bestimmten Governancekollektivs genauer in den Blick zu nehmen – sei dies eine Metropolregion, das Mehrebenensystem der EU oder die Strukturen des im Moment51 Gestalt annehmenden islamischen Staates (IS).52 – Wenn wir jetzt einen Moment innehalten und auf unsere Verwandtensuche zurückblicken, so kann man nur feststellen, dass sie vergeblich war ; die von Margrit Seckelmann erörterten Begriffe sind definitiv keine Verwandten der Selbstverwaltung, da ihre Wurzeln anderswo liegen und ihre Funktionslogik eine andere ist. Drei dieser Begriffe – regulierte Selbstregulierung, Gewährleistungsstaat, kooperativer Staat – gehören in eine steuerungstheoretischen Kontext und handeln von verschiedenen Steuerungsstrategien und Steuerungsmodi des modernen Verwaltungsstaates und berühren sich mit dem Konzept der Selbstverwaltung nur dann und insoweit, als die Einräumung von Selbstverwaltung instrumentell eingesetzt wird53, um die Akzeptanz des staatlichen Verwaltungshandelns zu erhöhen und ihm eine zusätzliche Legitimationsbasis zu sichern. Das Governance-Konzept schließlich ist auf einer gänzlich anderen Ebene angesiedelt und ist eine reine Analysekategorie, die in dieser Eigenschaft natürlich auch auf das Phänomen der Selbstverwaltung angewandt werden kann. Angesichts dieses enttäuschenden Ertrages drängt sich die Überlegung auf, ob es nicht ertragreicher wäre, nach funktionalen Äquivalenten statt weiter nach Verwandten von Selbstverwaltung Ausschau zu halten; dies wollen wir jetzt gemeinsam tun.

50 Siehe etwa in: Alles Governance oder was?, Baden-Baden 2011. 51 Oktober 2014. 52 Vgl. dazu die Analyse von Martin Gehlen, Wie organisiert ist der »Islamische Staat«, in: Der Tagesspiegel vom 28. September 2014, S. 5. 53 Im Hinblick auf diese Versuchung jedweder Obrigkeit, gesellschaftliche Selbstverwaltungspotentiale positiv zu nutzen, haben wir an anderer Stelle (Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 2000, S. 598) von »Selbstverwaltung als Steuerungsprinzip« gesprochen und darunter die folgenden sechs Selbstverwaltungsfunktionen subsummiert: 1. SV als Dezentralisierungskonzept oder SV als Organisationsprinzip, 2. SV als Verzahnung von Staat und Gesellschaft oder SV als politisches Prinzip, 3. SV als Disziplinierungsinstrument, 4. SV als Betroffenenpartizipation oder SV als Anwendungsfall des Demokratieprinzips, 5. SV als Methode der Integration gesellschaftlicher Interessen in die Staatsorganisation und schließlich 6. SVals Staatsentlastung: Entstaatlichung durch Förderung von Selbststeuerung und Selbstorganisation. Aus heutiger Sicht würde ich den Steuerungsaspekt relativieren und – wie gleich zu zeigen sein wird – in den meisten der soeben aufgelisteten Fälle von funktionalen Äquivalenten von Selbstverwaltung sprechen.

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b)

Verflechtungsstrukturen von gesellschaftlicher Selbstkoordination und staatlicher Steuerung als funktionale Äquivalente von Selbstverwaltung

Schon seit längerem sind wir der Auffassung, dass mit einem Denken in Dichotomien von staatlich/nicht-staatlich bzw. staatlich/gesellschaftlich oder staatlich/privat den Realitäten des Verwaltungsstaates weder für das 19., noch für das 21. Jahrhundert beizukommen ist. Was wir nämlich allenthalben beobachten können, sind Verflechtungsstrukturen zwischen »gesellschaftlicher Selbstkoordination und staatlicher Steuerung«54, ein Befund, der die von mir vorgeschlagene und genereller gemeinte Begriffsschöpfung »Verflochtene Staatlichkeit« zu bestätigen scheint. Ebenso wie ich in meinem Buch über das Phänomen der verflochtenen Staatlichkeit versucht habe, verschiedene Typen von Verflechtungsstrukturen zu identifizieren, sollten wir auch in dem thematischen Umkreis der Selbstverwaltung nach solchen Verflechtungsstrukturen Ausschau halten und uns dann fragen, ob wir sie unter das begriffliche Dach »Funktionale Äquivalente der Selbstverwaltung« subsumieren können. Peter Collin ist es, der in seinem Beitrag »Privatisierung und Etatisierung als komplementäre Gestaltungsprozesse«55 drei solcher Verflechtungsstrukturen ausgemacht hat, auf die wir jeweils einen ganz kurzen Blick werfen wollen. Öffentlich-rechtliche Organisationen als Orte gesellschaftlicher Selbstorganisation Was mit dieser sehr vielversprechend klingenden Überschrift gemeint ist, erklärt uns Collin am Beispiel des auch uns allen gut vertrauten Kammerwesens: »Die Etablierung von Handwerkskammern, Landwirtschaftskammern, Handelskammern, Ärztekammern und Rechtsanwaltskammern als öffentlich-rechtliche Körperschaften verbürgte, zugespitzt gesagt, nicht ein Weniger, sondern ein Mehr an Entfaltungsmöglichkeiten und gesellschaftlichem Einfluss auf die Staatsgeschäfte. Erstens garantierte die Institution der öffentlich-rechtlichen Körperschaft einen rechtlich abgesicherten Raum für eigenverantwortliche Betätigung. Zweitens versprach die mit der öffentlich-rechtlichen Form einhergehende Zwangsmitgliedschaft eine verbreiterte und zuverlässige Finanzierungsbasis. Drittens konnte gerade aufgrund dieser Zwangsmitgliedschaft der Anspruch plausibel gemacht werden, für alle Berufsgenossen eines bestimmten wirtschaftlichen Sektors zu sprechen. Und viertens erhöhte dieser Umstand und der mit der Körperschaftsform verbundene amtliche Status auch die Durchsetzungschancen gegenüber dem Staat, sei es als anerkanntes Repräsentationsgremium, sei es als Beratungsorgan, sei es als Mitglied in staatlichen Gremien. 54 Formulierung bei Peter Collin, Privatisierung und Etatisierung als komplementäre Gestaltungsprozesse, in: JZ 2011, S. 274–282. 55 Fn. 54.

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Verwunderlich ist es daher nicht, dass der Wunsch nach öffentlich-rechtlicher Selbstorganisation gar nicht so sehr vom Staat, sondern vielmehr von der Gesellschaft selbst, das heißt den betreffenden Berufsgruppen ausging.«56

Dieser Analyse ist außer Zustimmung nichts hinzuzufügen. Integration privatrechtlicher Organisationsformen in die Erfüllung öffentlicher Aufgaben Was sich hinter dieser von Collin selbst formulierten Überschrift verbirgt, erläutert er zunächst am Beispiel der sogenannten Kriegsgesellschaften57, dann aber vor allem und wirklich lehrreich am Beispiel der Integration privater Vereine in die öffentliche Wohlfahrt; es kann uns nicht überraschen, dass in der nachstehend zitierten Collinschen Passage denn auch die Begriffe »Verflechtungen« und »Verflechtungsformen« vorkommen – ganz so, als hätten wir sie souffliert: »Die Vereine der freien Fürsorge wiesen schon Ende des 19. Jahrhunderts starke personelle und informationelle Verflechtungen mit der Kommunalverwaltung auf, die Repräsentanz lokaler Amtsträger in den Vorständen und gemeinsame Auskunftsstellen gehörten hierzu. Während des Ersten Weltkriegs erfolgte eine feste Einbindung in das System der Kriegsfürsorge, teilweise operierten die Vereine als Nebenstellen der kommunalen Sozialverwaltung. Diese enge organisatorische Anbindung wurde nach dem Krieg wieder gelöst. An ihre Stelle traten aber andere Verflechtungsformen: Die Wohlfahrtsvereine organisierten sich nun in einem Kartell von sieben Spitzenverbänden. Die spitzenverbandsangehörigen Vereine galten als Träger öffentlicher Aufgaben und wurden subventioniert. Reichsfürsorgeverordnung und Jugendwohlfahrtsgesetz statuierten das Subsidiaritätsprinzip, welches den Vereinen den Vorrang bei einer Vielzahl von Fürsorgeaufgaben sicherte, die sie weitgehend eigenverantwortlich wahrnehmen konnten, während der Staat sich auf Rahmensetzungen beschränkte.«58

Errichtung von Konsultationsgremien innerhalb der staatlichen Verwaltungsorganisation Als eine dritte Organisationsvariante institutionalisierter Selbstregulierung identifiziert Collin »konsultative Mitwirkungsrechte«, ein Phänomen, das hier nur nachrichtlich erwähnt werden soll, weil es uns sonst zu einem Ausflug in das

56 Fn. 54, S. 275f. 57 Momme Rolack, Kriegsgesellschaften (1914–1918). Arten, Rechtsformen und Funktionen in der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkrieges, 2001. 58 Fn. 54, S. 276f.

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weit verzweigte Beiratswesen zwingen würde, wozu wir hier aber keine Zeit haben. Wenn man diese Beispiele – vor allem die ersten beiden – noch einmal Revue passieren lässt, so scheint uns die begriffliche Klammer »funktionale Äquivalente der Selbstverwaltung« durchaus zuzutreffen, handelt es sich doch hierbei in der Tat – wie Peter Collin es so plastisch ausgedrückt hat – um eine »Organisationsprivatisierung innerhalb des Staates«. Nunmehr aber wollen wir den Schauplatz wechseln und uns dem Thema »Selbstverwaltung und kollektive Identität« zuwenden.

5. In diesem letzten Punkt meines Vortrages möchte ich dem Zusammenhang von Selbstverwaltung und kollektiver Identität nachspüren und einen Blick auf die Funktion von Selbstverwaltung werfen, als »Gehäuse von Zugehörigkeit«59 zu fungieren. Schon in einem 1997 publizierten Beitrag hatte mich die Frage umgetrieben, wie es eigentlich mit dem »Platz des organisierten Menschen in der Demokratietheorie« bestellt ist; diesem mit der Überschrift »Assoziative Demokratie« versehenen Beitrag60 lag ganz offenbar die Annahme zugrunde, dass dem Menschen ein – übrigens verfassungsrechtlich geschütztes (Art. 9 GG) – Assoziationsgen eigen ist, das von Alexis de Tocqueville in seiner berühmten Abhandlung »Über die Demokratie in Amerika« als ein typisch amerikanisches Gen identifiziert worden ist: »Die Amerikaner jeden Alters, jeden Standes, jeder Geistesrichtung schließen sich fortwährend zusammen. Sie haben nicht nur kaufmännische und gewerbliche Vereine, denen alle angehören, sie haben auch noch unzählige andere Arten: religiöse, sittliche, ernste, oberflächliche, sehr allgemeine und sehr besondere, gewaltige und ganz kleine; die Amerikaner tun sich zusammen, um Feste zu geben, Seminarien zu begründen, Gasthöfe zu bauen, Kirchen zu errichten, Bücher zu verbreiten, Missionare zu den Antipoden zu entsenden; sie errichten auf diese Weise Spitäler, Gefängnisse, Schulen. Handelt es sich schließlich darum, eine Wahrheit zu verkünden oder ein Gefühl mit Hilfe eines großen Beispiels zu fördern, so gründen sie Vereinigungen. Überall, wo man in Frankreich die Regierung und in England einen großen Herrn an der Spitze eines

59 Begriff bei Agathe Bienfait, Im Gehäuse der Zugehörigkeit. Eine kritische Bestandsaufnahme des Mainstream-Multikulturalismus, Wiesbaden 2006. 60 Assoziative Demokratie. Zum Platz des organisierten Menschen in der Demokratietheorie, in: Ansgar Klein/Rainer Schmalz-Bruns (Hrsg.), Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997, S. 114–152.

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neuen Unternehmens sieht, wird man in den Vereinigten Staaten mit Bestimmtheit eine Vereinigung finden.«61

Und die »Erfinder« des Begriffs der »Politischen Kultur« – Gabriel A. Almond und Sidney Verba – gehen gar so weit, das Assoziationswesen zum Lebenselixier des demokratischen Staates zu erklären: »The existence of voluntary association increases the democratic potential of society«.62 Wenn sich dies so verhält, liegt der Gedanke nahe, die zeitgenössische Demokratietheorie danach zu befragen, welchen Stellenwert sie dem assoziativ verbundenen Menschen einräumen und welches demokratietheoretische Potenzial dadurch unserem eingangs dieses Beitrags entfalteten gruppen- und governancetheoretischen Ansatz tendenziell zufließt. Als besonders ertragreich erscheint in diesem Zusammenhang ein Blick auf die sogenannte multikulturalistische Demokratietheorie63, für die die Namen Charles Taylor64 und Will Kymlicka65 als repräsentativ gelten können66. Als unser Referenzautor soll uns Will Kymlicka dienen, da sich an seinen Überlegungen in besonders plausibler Weise eine Brücke zum Thema der Selbstverwaltung schlagen lässt. Für Kymlicka ist die Mitgliedschaft in einer Gruppe für die Identität einer Person von ausschlaggebender Bedeutung: »Nur die Mitgliedschaft in einer kulturellen Gruppe sichert den Zugang zu einem kulturellen Kontext, ohne den ein Mensch keine bedeutungsvollen Entscheidungen in Bezug auf seine bevorzugte Art zu leben treffen kann: ›[F]reedom involves making choices amongst various options, and our societal culture not only provides these options, but also makes them meaningful to us‹. Die Zugehörigkeit zur kulturellen ›Herkunftsgruppe‹ ist besonders schützenswert, denn sie besitzt für die meisten Menschen eine kaum ersetzbare identitäre Bedeutung.«67

61 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. Zweiter Teil von 1840, Zürich 1987, 5. Kapitel »Über den Gebrauch, den die Amerikaner im bürgerlichen Leben von Zusammenschlüssen machen«, S. 160. 62 Gabriel A. Almond/Sidney Verba, The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton University Press 1963. 63 Zu der Vielzahl der Demokratietheorien siehe Oliver W. Lemcke/Claudia Ritzi/Gary S. Schaal (Hrsg.), Zeitgenössische Demokratietheorie, Bd. 1: Normative Demokratietheorien, Wiesbaden 2012. 64 Charles Taylor (Titel nachtragen, im Buch Normative Demokratietheorie im WZB vorhanden). 65 Will Kymlicka, Multicultural Citizenship. A Liberal Theory of Minority Rights, Oxford 1995; derselbe, Liberalism, Community, and Culture, Oxford 1989. 66 Informativer Überblick bei Sophia Schubert, Zwischen Universalismus und Relativismus. Die multikulturalistische Demokratietheorie, in: Lemcke et al., Fn. 63, S. 387–416. 67 Schubert, Fn. 66, S. 402.

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Von hier ist es kein weiter Weg zur Befürwortung von Gruppenrechten verstanden als Schutzmantel für die kollektive Identität68 ethnischer oder religiöser Gruppen: »Vor diesem Hintergrund ist es Kymlickas Anliegen, eine liberale Demokratietheorie zu entwerfen, die zusätzlich zu Individual- auch Sonderrechte für nationale Minderheiten und ethnische Gruppen anerkennt. Sein Ziel ist es zu zeigen, dass gewisse Sonderrechte den Grundprinzipien der liberalen Demokratietheorie nicht widersprechen und sogar aus diesen selbst abgeleitet werden können. ›I will show that minority rights are not only consistent with individual freedom, but can actually promote it. I will defend the idea – common in earlier liberal theorists [sic!] – that, ›the cause of liberty‹ often ›finds its basis in the autonomy of a national group‹‹.«69

Diese von Kymlicka eingeforderten Gruppenrechte sind in drei Variationen denkbar : erstens als echte »Selbstverwaltungsrechte« im Sinne von politischen Autonomierechten, zweitens als ethnische Rechte zur Pflege der gruppenspezifischen Kultur sowie als Repräsentationsrechte etwa in Form einer Quotenregelung; Sophia Schubert hat dies alles wie folgt zusammengefasst: »Dieses Argument besagt, dass Sonderrechte für nationale Minderheiten darüber hinaus gerechtfertigt sind, wenn sie das Ergebnis historischer Entwicklungen darstellen.«

Kymlicka bemüht sich also nicht nur um einen stärkeren Bezug zur gegenwärtigen multikulturellen »Realität« liberaler Staaten, sondern auch um eine Berücksichtigung der jeweils unterschiedlichen historischen Bedingtheit dieser sozialen Realität: »[W]e cannot begin to understand and evaluate the politics of multiculturalism unless we see how the historical incorporation of minority groups shapes their collective institutions, identities, and aspirations«.

Zudem ergänzt er sein Plädoyer für eine Privilegierung von kulturellen Minderheiten (anders als Taylor) um eine detaillierte Typologie dieser Rechte: »Selbstregierungsrechte« beinhalten eine dauerhafte partielle Machtdelegation des Staates an nationale Minderheiten. Es handelt sich hierbei um politische Autonomierechte, die sich etwa auf den Anspruch einer nationalen Minderheit auf einen Teil des staatlichen Territoriums beziehen und häufig in Form föderaler Strukturen realisiert werden. Sie entsprechen dem Anliegen nationaler Minderheiten, als »Volk« anerkannt zu werden und sich als solches auf das völkerrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht berufen zu können. »Polyethnische Rechte« dagegen kommen dem Bedürfnis ethnischer Gruppen nach, 68 Näher dazu Carolin Emcke, Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen, Frankfurt/New York 2000. 69 Schubert, Fn. 66, S. 402.

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innerhalb multikultureller Staaten ihre Besonderheit leben zu können und nicht diskriminiert zu werden. Dies bezieht sich auf dauerhafte Regelungen konkreter kultureller Praktiken einer ethnischen Gruppe, wie z. B. die Frage der Finanzierung spezieller Feste und Vereine. Dabei werden keine politischen Kompetenzen seitens des Staates abgetreten. »Spezielle Repräsentationsrechte« schließlich zielen darauf, die Unterrepräsentation nationaler und ethnischer Gruppen in öffentlichen Institutionen, etwa durch einen garantierten Prozentsatz von Sitzen im Parlament, auszugleichen. Selbstregierungsrechte sollen primär nationalen Minderheiten, polyethnische Rechte eher ethnischen Gruppen zugestanden werden; allerdings ist das in der Realität schwer zu trennen und in den jeweiligen Ländern je nach Situation politisch zu entscheiden. Deshalb fügt Kymlicka dieses letzte Recht hinzu, das die Fairness der politischen Prozesse, innerhalb derer die jeweiligen länderspezifischen Gesetze dann beschlossen werden, erhöhen soll.70 Damit sind wir am Ende unseres langen Marsches durch das Selbstverwaltungsthema angekommen und es bleibt mir nur noch die Aufgabe, mich für Ihr geduldiges Zuhören zu bedanken.

70 Fn. 66, S. 405.

Diskussion (2. Teil)

Hartmann (Diskussionsleitung): Lieber Herr Schuppert, herzlichen Dank für einen ganz breit gefächerten Vortrag. Sie haben uns an die Hand genommen und uns Governance-Kollektive als Phänomen nahegebracht, uns die Funktionen gezeigt, Rechtsgeschichte kam vor, die Verwandten und am Ende Selbstverwaltung als Instrument der Dezentralisierung. Da steckte so viel »drin«, dass wir das vielleicht jetzt direkt diskutieren wollen. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich melden mögen und bitte nicht vergessen würden, Ihren Namen zu nennen. Üben Sie sich in Widerspruchs- oder in Zustimmungskunst, ganz wie es Ihnen beliebt. Den Anfang macht Herr Weber. Weber (Universität Osnabrück): Ja, Herr Schuppert, weil Sie am Schluss die transnationale Komponente angesprochen haben, Gott sei Dank, und da können wir die Brücke zu Europa schlagen. Ich habe immer verzweifelt gesucht, wie man das verwerten kann. Ich bin auf einige Aufsätze gestoßen von Ihnen bei Governance und da wurde festgehalten von anderen Autoren, das sei ein sehr zweideutiger Begriff, das kann man jetzt zumindest feststellen. Wenn man jetzt mal in die Beherrschung oder Zähmung der Euro-Krise geht – da wird Herr Möllers wahrscheinlich noch am meisten von wissen –, dann sehen Sie in sämtlichen Dokumenten den Begriff Economic Governance. Im Deutschen haben wir ja immer den Begriff der Steuerung, wir müssen ständig mit Fremdwörtern arbeiten, also nehmen wir jetzt Economic Governance, Gouvernance ¦conomique. Es ist niemandem völlig klar, was damit gemeint ist. Wir müssen uns damit sehr auseinandersetzen, weil es natürlich politische Forderung sind, vor allem, aber nicht nur, von der französischen, auch von der italienischen Seite. Ich persönlich bin eher der Auffassung, dass es sich um eine influenzielle, also eine beeinflussende Wirtschaftssteuerung handelt, die nur Teil einer imperativen Wirtschaftssteuerung ist. Wenn Sie dazu noch was sagen könnten, denn mit all den Kriterien, die Sie hier aufgeführt haben, kann man ehrlich gesagt wenig anfangen. Man kann sie nicht operationalisieren.

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Diskussion (2. Teil)

Schuppert: Das mache ich gerne. Ich fange mal an damit, Ihnen zuzustimmen. Das macht sich immer gut und dann kann ich in der Tat ein bisschen überlegen. Sie haben natürlich vollkommen Recht, Herr Weber, es handelt sich bei Governance um, wie jemand so schön formuliert hat, einen anerkannt uneindeutigen Begriff. Das hat er mit anderen Begriffen durchaus gemeinsam, z. B. Gemeinwohl, da weiß auch kein Mensch, was das ist. Da ist der Begriff Governance sogar noch wesentlich klarer. Was das ist, kann man sich eigentlich relativ leicht klar machen, wenn man überlegt, dass es ein Nachfolgebegriff von Steuerung ist. Steuerung ist auch ein vielfältiges Instrument. Man kann hierarchisch steuern, man kann konsensual steuern, man kann unmittelbar steuern, man kann mittelbar steuern, man kann kooperativ steuern, man kann wie auch immer steuern. Dann kam irgendwann die Karriere des Governance-Begriffs, zusammenhängend auch mit der Weltbank. Ich kam mir immer vor, wenn ich über Governance gesprochen habe, wie ein Vertreter, der so einen neuen Staubsauger anpreisen soll und wurde dann gefragt, was ist denn jetzt neu an dem Governance-Begriff. Und Renate Mayntz, die ja sehr einflussreich ist und eine weittragende Stimme nicht nur im Bereich der Sozialwissenschaften, sondern auch der Rechtswissenschaften hat, hat gesagt, und das ist dann so Allgemeingut geworden, dass die Steuerungsperspektive etwas zu sehr unter der Perspektive des Steuerungssubjekts und des Steuerungsobjekts leidet. Also mir fällt dazu Helmut Schmidt ein mit seiner maritimen Kopfbedeckung, das ist ein Steuermann par exellence, der das Staatsschiff mit ruhiger Hand auch bei hoher See in den Hafen führt. Renate Mayntz hat gesagt, das ist etwas zu simpel gedacht, wir brauchen mehr eine institutionelle Perspektive und müssen die Regelungsstrukturen und die institutionellen Arrangements stärker in den Mittelpunkt stellen, innerhalb derer sich Akteure bewegen. Das ist so ein bisschen die Herkunft des Governance-Begriffs. Und wenn ich das schon mal klarstellen darf, ich verwende Governance nicht als normatives Konzept. Ich spreche nicht von Good Governance mit der Wunschliste Meinungsfreiheit, keine Korruption usw. wie Freedom House das macht und die Weltbank usw. Das ist eine Art Wunschliste. Ich unterrichte zwar Good Governance, nächste Woche kommt eine Kohorte aus Russland, die wollen das gerne erfahren. Das meine ich nicht, sondern ich benutze Governance als eine analytische Kategorie. Ich gucke mir an, meinetwegen am Feld Ökonomie, wie funktioniert dort tatsächlich Governance. Wie wird da gesteuert? Das kann man dann benennen. Und gerade die Finanzkrise ist ja auch unter Governance-Gesichtspunkten eine Fundgrube. Es sind vollkommen neue Institutionen entstanden, wie der Rettungsfonds. Das gab es doch vorher gar nicht, eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts. Die Krise ist sowieso immer die Geburtsstunde neuer Instrumente, um mit diesen Krisen fertig zu werden. Das sind neue Governance-Strukturen. Und wenn man sich auf dem Gebiet bewegt, so wie Sie, Herr Weber, denke ich, dass Sie diese

Diskussion (2. Teil)

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wichtigen Governance-Instrumente, in Aufsatzform oder nicht, auflisten können. Hartmann: Dass wir uns in Widerspruchskunst üben sollen, hat uns Pascale Cancik aufgegeben. Sie hat jetzt selbst das Wort. Cancik: Mein erster Punkt wäre eine Bestätigung. Das Interesse am Verwalten vor Ort nimmt zu. Man kann das deutlich sehen bei den Historikern, auch bei den Kulturwissenschaftlern. Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass auch das Interesse an Recht möglicherweise zunimmt und zwar an Recht als Rechtspraxis. Und die Implementation von Recht sehen wir eben vor Ort. Ich glaube, dass das einer der Punkte ist. Möglicherweise ist auch die Rekommunalisierungsbewegung eine Form, die einen Konflikt des Verwaltens vor Ort versus als entgrenzend wahrgenommene Privatisierung austrägt. Das weiß ich nicht, das müssen irgendwann die Historiker mal überlegen. Einen Widerspruch oder vielleicht eher eine Frage habe ich in dem Punkt Steuerungsperspektive versus Selbstverwaltungsperspektive. Sie haben das relativ antagonistisch aufgestellt. Meine Frage wäre, gibt es eigentlich Selbstverwaltung ohne Steuerungsperspektiven? Kann man das, wenn man historisch-empirisch schaut, überhaupt finden? Möglicherweise ist es kein Zufall, dass die sehr stark an individuelle Autonomie denkenden Selbstverwaltungskonzepte nie realisiert worden sind und dass die kommunale Selbstverwaltung, die in Preußen eingeführt und aufgebaut worden ist, in der historisch manchmal etwas verklärten Städteordnung beginnt mit einer Einbindung der Kommunen in den Staat und eben nicht mit dem Unabhängigsein der Stadt. Insofern die Frage: wie kann man das miteinander kombinieren? Kann man es antagonistisch aufstellen? Dazu gehört auch die Frage, wie frei und selbstbestimmt sind eigentlich Kammermitglieder? Diese Frage kann man sich ja immer wieder stellen. Einerseits wird uns immer wieder in der zu Recht aufgeführten Historie der Selbstregulierung etwas die Geschichte der Zünfte als Beispiel für Selbstorganisation und Autonomie dargestellt. Das ist richtig. Und doch gibt es viele Kammermitglieder, die sich lieber noch viel selbständiger organisieren und zwar außerhalb der Kammer. Schuppert: Vielen Dank, Frau Cancik, zunächst für die Zustimmung. Ich nehme das auch ein bisschen so wahr. Wir haben ja ein verschiedenes disziplinäres Verhältnis zu den Sozialwissenschaften, insbesondere zur Politikwissenschaft. Die wollen sich ja nicht immer auf die Rechtswissenschaften einlassen. Was ich insofern verstehe, wenn man ihnen ansinnen würde, sich nun an der Lösung von Rechtsfragen zu beteiligen. Das tut aber niemand. Aber es gibt inzwischen eine ganze Menge Kollegen, ebenfalls vom WZB zum Beispiel, Michael Zorn usw., die

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Diskussion (2. Teil)

interessieren sich für die Funktion von Recht. Also welche Bedeutung hat Recht für die Steuerung einer Gesellschaft zum Beispiel? Da muss man ja keine Rechtsfragen lösen oder sich in Rechtsdogmatik auskennen. Es geht um die Funktion von Recht und wir haben heute viel gehört über die Tendenzen zur Verrechtlichung. Wir haben eine stark verrechtlichte politische Kultur. Alle politischen Auseinandersetzungen werden als rechtliche geführt. Man ist da nicht nur politischer Gegner, sondern möglicherweise denkt man verfassungswidrig. Deswegen kommt das auch alles zum Bundesverfassungsgericht. Mit dem zweiten Punkt, Frau Cancik, da haben Sie einen gewissen sensiblen Punkt bei mir erwischt. Ich habe nämlich bei der Vorbereitung dieses Vortrags in meine eigenen Publikationen geguckt, die ich auch ganz gerne mal lese, und da bin ich gestolpert in dem Buch Verwaltungswissenschaft über einen kleinen Abschnitt »Selbstverwaltung als Steuerungsprinzip«, also da habe ich das ein bisschen anders gesehen. Da habe ich sozusagen Steuerungseffekte von Selbstverwaltung stark hervorgehoben, Staatsentlastung auch und so weiter. Und Sie haben Recht, Frau Cancik, man würde das in der endgültigen Fassung dann vielleicht etwas klarer stellen, dass ich das nicht antagonistisch gegenüberstellen will, sondern bei der Enttarnung der falschen Verwandten ging es mir darum, dass diese Funktionslogik von regulierter Selbstregulierung, kooperativer Staat und Gewährleistungsstaat, dass das eine Logik oder die Perspektive staatlicher Steuerung ist, wie er seine staatliche Steuerung effektuieren kann. Während es bei der Selbstverwaltung nicht eine rein staatliche Perspektive ist, sondern der Witz liegt in der Verflechtungsstruktur zwischen den Selbstverwaltungswünschen oder dem Selbstregelungsgen, von dem ich gesprochen habe, und der Nutzbarmachung dieses Selbstregelungsgens für die staatliche Verwaltung und die staatliche Steuerung. Es ist also eine doppelte Perspektive. Aber Sie haben mich da fast erwischt, aber nur fast. Hartmann: Mal sehen, ob Herr Schmidt-Jortzig Sie auch erwischen will. Er stellt die nächste Frage. Schmidt-Jortzig: Das ist mir natürlich völlig fern, Dich erwischen zu wollen. Aber ich bin auch bei Deinen Verwandtschaften oder den Verwandtschaften für die Selbstregulierung. Da habe ich bei einer Verwandtschaft zumindest einige Differenzierungen anzubringen. Da gibt es den Kalauer mit den vielen Verwandtschaften, die man so hat, die Realverwandtschaft, die Wahlverwandtschaft, die Bezahlverwandtschaft, die Egalverwandtschaft und die Schlimmste ist die Qualverwandtschaft. Da geht es um Usurpierung, so habe ich es glaube ich genannt, von Regelungsbefugnissen durch Governance-Objekte. Die Kaufmannschaft, die das neue Kaufmannsrecht in Selbstregulierung gerne machen würde und nach Deiner Beobachtung auch macht, meine Beobachtung ist an der

Diskussion (2. Teil)

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Stelle etwas anders. Es ist nicht die Kaufmannschaft, die sich diese GovernanceRegeln – dort heißen die Dinger ja Compliance – macht, sondern das hat der Staat ihnen aufgedrückt, aus welchen Gründen auch immer hat sich die Politik darauf gesetzt, als die entsprechenden Skandale hochkamen, Mannesmann, Siemens, etc. Das muss man ja gar nicht alles einzeln aufzählen. Und weil es doch eine heikle Aktion ist, hat die Politik dann ein Compliance-Gremium geschaffen und den Beteiligten aufgegeben, dies und jenes bitte zu regeln. Auch jetzt noch ist ständiges Klagen aus der Compliance-Kommission, dass sie bestimmte Dinge da in ihre Regelungswerke reinbringen soll, die der Staat gerne hätte, die Politik sich aber selbst nicht rantraut, die Kaufleute selbst aber nicht haben wollen. Dann machen die also ihren Compliance-Codex mehr oder weniger gepresst von oben und nun setzt sich der Staat regelungsmäßig darauf. Wenn wir uns das im Aktiengesetz angucken, werden alle möglichen Rechtsfolgen daran geknüpft, ob sich der einzelne Wirtschaftsteilnehmer compliance-gerecht verhält oder nicht. Aber diese Compliance-Regeln sind nie staatlich geschöpft, sondern auf legitimationslose Rechtssetzung hin zustande gekommen. Ich sehe also eher umgekehrt die Problematik, dass staatliche Regulierungsfreude sich neuer Wege bedient und nicht, dass andere Gruppierungen Compliance-Subjekte von sich aus etwas okkupieren und dann machen. Die sind eigentlich ganz froh, wenn sie in Ruhe gelassen werden. Schuppert: Ja, zunächst einmal, Edzard, vielen Dank für diese wunderbare Typologie der Verwandtschaft. Das werde ich an anderer Stelle zu verwenden wissen, Verwandtschaft, Zahlverwandtschaft, Qualverwandtschaft, Egalverwandtschaft fehlt mir noch. Was Deine Ausführungen in der Sache angeht, so meine ich, dass wir etwas differenzieren müssen. Es sind vier Dinge zu unterscheiden. Erstens gibt es den Corporate-Governance-Codex. Das ist eine Sache. Die zweite Sache ist Compliance. Das hängt damit zusammen, ist aber noch etwas anderes. Drei Dinge sind es, die ich ansprechen will. Das Dritte ist die Übernahme privatrechtlicher Regelungen durch den Staat. Also zunächst einmal zum Corporate-Governance-Codex, das ist richtig, dass die Bundesregierung dieses Gremium gegründet und einberufen hat. Das hat ja dann die Juristen vor gewisse Qualifikationsprobleme gestellt, weil es kein rechtsverbindliches Recht ist. Aber es wurde im Bundesanzeiger veröffentlicht und im § 163 Aktiengesetz steht drin, dass, wenn man als börsenorientiertes Unternehmen davon abweichen will, von den Vorgaben des Corporate-Governance-Codex, das erklären muss, warum man das nicht tut. Diese Steuerungstechnik heißt »comply oder explain« und ist eine ganz besonders raffinierte, wie ich finde. Das ist so ein Borderline-Text zwischen staatlicher Regulierung und privatrechtlicher Regelung. Die Compliance-Geschichte, die ist zwar auch Bestandteil des CorporateGovernance-Codex, aber bezeichnet eigentlich die Rechtspflicht von Unter-

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nehmen, ein Compliance-System aufzubauen, wenn sie nicht haftbar gemacht werden wollen. Das heißt, es verlagert die Außenkontrolle in den Binnenbereich des Unternehmens. Das kennen wir schon von den Umweltbeauftragten, das nennt man, glaube ich, reflexive Steuerung. Das heißt, das Unternehmen wird angehalten, selbst darüber nachzudenken, wie es sich dort verhält. Mercedes hat eine Compliance-Beauftragte, die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Frau Hohmann-Dennhardt, das ist ja auch eine interessante Personalkonstellation. Man geht nicht in den Vorstand der Bahn, sondern wird Compliance-Beauftragter, weil man sich mit der Durchsetzung von Recht auskennt. Dieses Compliance-System ist inzwischen so wichtig, dass Sie, wenn Sie in die mangelnde amerikanische Börsenaufsicht kommen, was Ihnen leicht passieren kann, wenn Sie in New York Geschäfte machen oder gar an der dortigen Börse notiert sind, dann hängt die Höhe der Strafe davon ab, ob Sie nachweisen können, ein funktionierendes Compliance-System zu haben. Das heißt, es ist ein hochinteressantes Governance-Instrument, das aber nicht identisch ist mit dem Corporate-Governance-Codex. Das Dritte, was Du angesprochen hast, das ist noch ein anderes Phänomen, das auch Nils Ipsen in seiner Arbeit über private Normordnungen untersucht hat. Es gab einen Übernahme-Codex und es gibt Codices, die werden von Wirtschaftsprüfern und Rechnungslegungsprüfern entwickelt und der Staat guckt sich das dann an und sagt, kann ich das gebrauchen, und möglicherweise auch auf EU-Druck übernimmt er das in die staatliche Rechtssetzung. Das nennt man legislation on demand. Das sind Erscheinungsformen, wie ich das nennen würde, von Verflechtung. Mein neuestes Buch, Sie haben es ja dankenswerterweise erwähnt, da brauche ich nicht selbst Reklame machen, heißt »Verflochtene Staatlichkeit«. Dem liegt die These zugrunde, dass der Staat, eigentlich auch rechthistorisch betrachtet, immer sehr stark mit anderen Akteuren kooperiert hat. Das macht er auch mit den Wirtschaftsorganisationen in ganz intensiver Weise. Da kann man sehen und das führt dann zu dem interessanten Phänomen, was in den Jura-Klausuren, glaube ich, noch nicht vorkommt, aber was auf Englisch heißt: the hardian of soft law. Aus soft law kann also hard law werden, wenn es entweder natürlich in den Gesetzesrang erhoben wird, das ist ja klar, aber es reicht auch, wenn in den Spruchkammern der WTO darauf Bezug genommen wird. Das heißt, wir haben – wie Hoffmann-Riem das genannt hat neulich – unterschiedliche Härtegrade von Recht. Vielleicht ist das ein Thema für eine Tagung. Schmidt-Jortzig: Das ist eben staatliche Regelungsraffinesse und nicht partikulares Regelungssystem. Schuppert: Ja, es ist ein symbiotisches Verhältnis, würde ich sagen. Wie bei den Kammern, die leben auch wunderbar mit dem Staatsbegriff.

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Hartmann: Auf meiner Rednerliste ist jetzt noch Herr Starck. Ich schaue in die Runde, ob es noch weitere Wortmeldungen gibt. Das ist nicht der Fall, also die letzte Frage von Ihnen, Herr Starck. Starck (Universität Göttingen): Herr Schuppert, ich fand Ihre Bemerkung wichtig, dass Sie gesagt haben, dass Ihr Vortrag einen analytischen Charakter hat und in diesem Zusammenhang haben Sie dann erwähnt, die Pluralisierung von Recht, das ist natürlich ein sehr schönes Thema, die Analyse des Rechts. Ich will nur dazu etwas sagen und zwar Pluralisierungen gibt es ja in verschiedene Richtungen. Einmal haben wir die von Ihnen erwähnte Pluralisierung, also in Richtung zur Kommune, das ist ja das Thema, weswegen wir uns zusammengefunden haben, also das Kommunalrecht. Dann haben Sie ja Pluralisierung gerichtet auf das Privatrecht. Da gibt es zwei Phänomene. Einmal das Phänomen, dass Private Regeln schaffen, die man dann anwenden muss. Dann gibt es diese großen Regeln der großen Gesellschaftsverträge, die werden ja auch privat besetzt, zwar im Rahmen des Gesellschaftsrechts, aber ich würde sie auch zur Pluralisierung rechnen. Und dann ist uns ja allen bekannt das Kirchenrecht, das kanonische Recht der katholischen Kirche, die evangelischen Kirchen haben auch Kirchenrecht, weil keine Organisation ohne Recht auskommt, das haben Sie auch sehr schön am Anfang ausgeführt. Das Völkerrecht, auch das ist sozusagen eine andere Rechtsquelle. Und das alles zusammen ist schon lange bekannt, also das Staatsrecht, das Völkerrecht, das Kommunalrecht, das meine ich müsste stärker betont werden, weil die Lösungsansätze für das Verständnis dieser Phänomene natürlich deutlicher werden, wenn man sagt, es hat immer schon Regelungen gegeben, was ist Staatsrecht, was ist Völkerrecht. Dahinter steht – also Sie gehen ja immer vom Staat aus, und sagen, es kann nicht alles der Staat machen – die Frage der Staatsaufgaben. Sie würden natürlich jetzt sagen, Staatsaufgaben ist ein normativer Begriff und den möchten Sie hier nicht verwenden. Man würde sagen, was kann der Staat. Diese Beispiele, die ich genannt habe, die muss man natürlich unter verschiedenen Gesichtspunkten interpretieren, etwa das Kirchenrecht, da würde ich sagen heutzutage, dass darf der Staat gar nicht machen. Die Regelungen unter den Gläubigen, das ist nicht Aufgabe des Staates. Dann das Steuerrecht, das Behörden des Staates und Private nicht zusammenarbeiten, das geht nur mit Hilfe des Vertrages. Dann, ganz abgeleitet davon, ist das Europarecht, über das ich jetzt nicht sprechen will. Auf der lokalen Ebene ist es so, dass der Staat nicht jedes Detail regeln kann, also muss man Selbstverwaltung lassen, Selbstregulierung lassen, für die kommunalen Einrichtungen. Sehr schlau sind ja dann diese wenigen Staaten, die es auf der Welt gibt, die bundesstaatlich organisiert sind, weil sie sagen, wir haben von vornherein zwei Schichten des Staates und in diesen zwei Schichten gibt natürlich die obere Schicht an durch die Verfassungsgebung, was ist die Aufgabe des Zen-

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tralstaates und was ist die Aufgabe des Föderalstaats. Das sind – und deswegen habe ich das so ausführlich gesagt – eigentlich ganz alte Sachen. Ich würde mich jetzt dafür interessieren, was diese Governance-Wissenschaft da an Neuerungen bringt. Sind das neue analytische Möglichkeiten, die ich habe? Sind es eventuell neue Hinweise, wie man das regeln soll? Schuppert: Ja, die Frage nach dem Neuen, die wundert mich nicht, dass die kommt. Ich würde gern was sagen zu dem Phänomen der Pluralisierung des Rechts. Das ist natürlich nicht neu. Das ist ein ganz alter Hut. Es gibt ja einen ganzen Zweig der Rechtswissenschaft, der sich nur mit »legal pluralism« beschäftigt. Da gibt es zwei Bereiche. Das ist einmal das Verhältnis von staatlichem Recht und Gewohnheitsrecht. 80 % aller Streitfälle in Schwarz-Afrika, also südlich der Sahara, werden nach wie vor nach Gewohnheitsrecht entschieden und zwar von customary courts. Und dann ist die Frage, wie ist das Verhältnis von customary courts zu state courts. Das ist in der südafrikanischen Verfassung genau geregelt und ausbuchstabiert. Dann gibt es natürlich das Verhältnis zu den Kirchen, Kirchenrecht, Kirchenjustiz. Das ganze Mittelalter war durchzogen von der Dualität der Normenordnung. Das ist nichts Neues. Das Kolonialrecht war geregelt durch das Recht der Kolonialmächte und das indigene Recht. Jetzt haben wir durch die Globalisierung noch eine stärkere Pluralisierung des Rechts. Islamisches Recht in Deutschland, wie weit ist das verbindlich, wenn wir davon ausgehen würden, dass eine Art Parallelgesellschaft entsteht, dieser Begriff ist politisch heiß, das weiß ich, aber es gibt den Begriff der parallelen Ordnung. Damit sind wir beim Normativen. Wenn es stimmt, was ich gelesen habe in dem Buch von Herrn Wagner, »Richter ohne Gesetz«, gibt es Streitfälle in Neukölln usw., die nicht entschieden werden durch staatliche Gerichte, sondern durch Schiedsverhandlungen zwischen den beteiligten Familien. Es geht niemals um den Täter und das Opfer als Einzelpersonen, es geht um Familienverbände, die dann unter sich aushandeln, wie hoch der Schadenersatzanspruch ist, und das macht ein Iman oder ein Rechtsgelehrter. Das heißt, wir haben klassische Kollisionsfälle/Pluralitätsfälle und wir haben neuere Pluralitätsfälle. Einfach sind die zu handhaben, wo Kollisionsregeln bestehen, denn wenn wir natürlich plurale Ordnung haben, wäre es schön, wenn man eine Kollisionsregel hat, wie Bundesrecht bricht Landesrecht oder das Verhältnis von Völkerrecht zu Staatsrecht oder Europarecht zu deutschem Recht. Jetzt ist gerade der spannende Fall, wie verhält sich die europäische Menschenrechtskonvention und die Urteile des Europäischen Menschengerichtshofs zum staatlichen Recht. Ich habe jetzt gerade ein Gutachten gemacht über Streikrecht für Beamte. Der Europäische Gerichtshof sagt, natürlich müssen die Streikrecht haben, soweit sie keine Hoheitsfunktion ausüben. Jetzt gibt es eine Pluralität von Recht in einer anderen Dimension, nämlich privates Recht und transnationales Recht. Der Staat kann

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nur da regeln, wo er eine Regelungskompetenz hat. Im transnationalen Bereich hat er sie nicht und im privaten lässt er vieles gewähren. Also die gesamten allgemeinen Geschäftsbedingungen oder die allgemeinen Versicherungsbedingungen, die gemacht wurden von der Versicherungswirtschaft und dann von der Transportwirtschaft. Und zwar von der Versicherungswirtschaft nach dem Erdbeben von San Francisco, wo ich immer nicht genau weiß, war das 1984 oder 1996, da ist die Versicherungswirtschaft fast pleite gegangen wegen der Höhe des Schadenswerts. Darauf haben sie in die Versicherung geschrieben, Fälle von höherer Gewalt sind nicht versicherbar. Das heißt, danach richtet sich das internationale Versicherungsrecht und da haben wir keine Kollisionsregeln. Wir haben mit den DIN-Normen keine Kollisionsregeln, mit den Standards haben wir keine Kollisionsregeln. Das heißt, die ganze Rechtswirklichkeit ist von einer pluralen Rechtsordnung gekennzeichnet. Der deutsche Jurist sieht das bloß nicht täglich. Die staatliche Rechtsordnung ist natürlich nach wie vor die Wichtigste. Aber es gibt eben nicht nur dies und da muss man sich angucken und deswegen analytisch und deswegen ist das der Governance-Ansatz, der guckt sich an, in welchem Problembereich bestehen denn welche, was sind da die tatsächlichen Regelungsstrukturen. Oder, wenn sie es angelsächsisch haben wollen: What are the rules of the game? Was sind die Regeln, nach denen das tatsächlich abläuft? Wenn es plurale Regeln sind, dann muss man sich überlegen, ist das ein Kollisionsproblem? Und wenn es ein Kollisionsproblem ist, gibt es eine Kollisionsregel? Zum Beispiel alle islamischen Staaten haben Kollisionsregeln. Wenn Sie in die Verfassungen von Pakistan, Iran usw. schauen, heißt es in Art. 1: Pakistan ist eine islamische Republik, Art. 2: kein Gesetz, keine internationale Verpflichtung darf verstoßen gegen die Grundsätze des Koran, Art. 3: darüber zu wachen, ist Aufgabe des Richterrats. Das heißt, wir haben eine eigene Governance-Struktur eingerichtet, um solche Kollisionsfälle zu lösen. Zu der Frage, was ist neu? Ich behaupte ja gar nicht, dass etwas neu ist. Das ist eine veränderte und neue Perspektive und ich habe die Erfahrung gemacht, dass, wenn man sich diese Governance-Brille aufsetzt, dann ist das so, wie man es von einer Brille erwartet, dass man manche Dinge einfach etwas schärfer und klarer sieht. Damit will ich weder das staatliche Recht ablösen, noch die Steuerungsperspektive als demode erklären, sondern die Governance-Perspektive hat einen bestimmten Suchscheinwerfer, den sie auf reale Probleme ansetzt. Damit wird die Analyseschärfe erhöht, mehr nicht. Es geht nicht um etwas grundsätzlich Neues, es geht um eine neue Perspektive. So hat das auch Schmidt-Aßmann formuliert. Hartmann: Das nächste Referat kommt zum rechten Zeitpunkt. Nachdem der erste Begriff aus dem Oberthema Demokratie von den Kollegen Möllers und Schmidt-Jortzig europäisch und grundgesetzlich beleuchtet worden ist und Herr

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Schuppert dann die Brücke zur Selbstverwaltung geschlagen hat, sind wir jetzt im Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung angekommen und damit im Herzen der Bad Iburger Gespräche. »Kontinuität oder Reform – Die Gemeindeverfassung auf dem Prüfstand« war das erste Thema der Bad Iburger Gespräche 1989 und so schließt sich jetzt gewissermaßen ein Kreis, wenn wir uns mit der Entwicklung, Gefährdung und den Chancen der kommunalen Selbstverwaltung befassen wollen. Herr Meyer wird das aus der Sicht der Kreise tun. Er ist seit 1991 für die Sache der Landkreise unterwegs, zunächst in MecklenburgVorpommern und dann seit 2006 in Niedersachsen. Lieber Herr Meyer, Sie kennen die Entwicklung, Gefährdungen und Chancen sehr genau. Wir freuen uns auf Ihren Vortrag. Bitte schön.

Professor Dr. Hubert Meyer

Entwicklungen, Gefährdungen, Chancen der kommunalen Selbstverwaltung

I.

Jörn Ipsen und das Kommunalrecht

Auf einem Symposium aus Anlass des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Jörn Ipsen über die kommunale Selbstverwaltung referieren zu dürfen, bedeutet gleichermaßen Ehre und Last. Wir sprechen über einen Wissenschaftler von bewundernswerter Schaffenskraft. Ein Blick in das kaum zu überschauende Veröffentlichungsverzeichnis des Jubilars weist neben dem Staatsrecht, dort dem Wahl- und Parteienrecht im Besonderen, dem allgemeinen Verwaltungsrecht, dem Sicherheits- und Ordnungsrecht, dem Hochschulrecht und dem Recht der Biotechnologie, das Kommunalrecht als einen Schwerpunkt des wissenschaftlichen Interesses aus. Dies kann aus Raumgründen nicht mit einzelnen Beispielen, sondern nur mit gerafften Fakten unterlegt werden. Jörn Ipsen ist alleiniger Autor des Standardlehrbuchs zum Niedersächsischen Kommunalrecht, das aktuell in vierter Auflage vorliegt. Er ist Herausgeber und Autor eines beeindruckenden Kommentars zum Niedersächsischen Kommunalverfassungsgesetz. Nahezu jedes Jahr lässt sich auch mindestens eine Einzelveröffentlichung mit kommunalrechtlichem Einschlag nachweisen, nicht nur, aber häufig in den von ihm mit herausgebenden Niedersächsischen Verwaltungsblättern, deren 20jähriges Jubiläum wir in wenigen Wochen feiern. Welch hoher Stellenwert dem Kommunalrecht im Wirken von Jörn Ipsen zukommt, wird aber auch an wenigstens drei weiteren Foren deutlich, mit denen er den wissenschaftlichen und rechtpolitischen Diskurs der vergangenen Jahre maßgeblich geprägt hat. Über 50 Doktoranden haben ihre Promotion bei Jörn Ipsen als Erstbetreuer abgeschlossen. Eine Zahl, die seine hohe Wertschätzung als Hochschullehrer und sein Engagement für die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses verdeutlicht. Viele nehmen heute herausragende Positionen in der Justiz, der öffentlichen Verwaltung oder an sonstiger Stelle ein. Der Niedersächsische Landkreistag freut sich über zwei Landräte und zwei Kreisrätinnen/räte aus diesen Reihen. Nennenswert erscheint mir, dass nicht weniger als 24 Disserta-

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tionen ein kommunalrechtliches Thema zum Inhalt haben. Der Versuchung zum Herausheben einzelner bedeutender Arbeiten widerstehend sind als Schwerpunkte der Forschungstätigkeit das Sparkassenwesen, das Recht der inneren Kommunalverfassung, einzelne Fragen der wirtschaftlichen Betätigung und immer wieder auch Fragen der Verwaltungsorganisation im weitesten Sinne zu nennen. Und Jörn Ipsen sorgt dafür, dass die wissenschaftlichen Arbeiten seiner Schüler aber auch anderer Kollegen nicht in der grauen Flut der veröffentlichungspflichtigen Dissertationen untergehen. Dazu hat er vor 25 Jahren gemeinsam mit seinen Kollegen Franz-Ludwig Knemeyer (Würzburg) und Albert von Mutius (Kiel) als Herausgeber im Nomos-Verlag die Reihe »Kommunalrecht – Kommunalverwaltung« ins Leben gerufen. An die Stelle von Franz-Ludwig Knemeyer ist inzwischen Joachim Suerbaum getreten, der zwischenzeitlich in Göttingen und nunmehr in Bochum lehrende Thomas Mann hinzugekommen. Bisher sind 60 Bände erschienen, die das kommunalrechtliche Schrifttum bereichern. Die »grüne Reihe« gehört damit neben den im Verlag Boorberg erscheinenden »Schriften zum deutschen und europäischen Kommunalrecht«1 und der Schriftenreihe des Freiherr-vom-Stein-Institutes2 zu den drei Publikationsreihen, die das Kommunalrecht im Wissenschaftsbetrieb wahrnehmbar machen, ein nicht zu unterschätzender Verdienst. Schließlich und insbesondere aber : Im fünfundzwanzigsten Jahr der maßgeblich von Ipsen initiierten Gründung des Institutes für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften das 25. Bad Iburger Gespräch. Möglicherweise mit Ausnahme des 16. Gesprächs 2005 zur Reform des öffentlichen Dienstes immer Tagungen mit kommunalen Schwerpunkten und Bezügen, ganz im Sinne der Zielsetzung des Instituts, die Kommunen als Akteure der Rechtsumsetzung in den Blick zu nehmen.3 Wenn es im Folgenden um Entwicklungen des Rechts der kommunalen Selbstverwaltung gehen soll, fokussieren die Bad Iburger Gespräche jedenfalls für Niedersachsen die anzusprechenden Themen. Grundfragen des Verhältnisses von Kommunen, Länder, Bund und Europa wurde 1997 (innerstaatlich) und 1998 (europäisch) nachgegangen. Vielleicht überraschend standen nur 1994 die Finanzen im Mittelpunkt. Nicht weniger als sieben Mal wurden unterschiedliche Fragen der wirtschaftlichen Betätigung im weiteren Sinne diskutiert: 1991 (Energie), 1993 (Privatisierung/Private Finanzierung öffentlicher Investitionen), 2000 (Öffentliche Aufgaben und Wettbewerb), 2006, mit deutlichen Verbindungen zur inneren Struktur der Kommunen 1 Herausgegeben von Eberhard Schmidt-Aßmann und Friedrich Schoch. 2 Wissenschaftliche Forschungsstelle des Landkreistages Nordrhein-Westfalen an der Universität Münster, Geschäftsführender Direktor Prof. Dr. Janbernd Oebbecke. 3 Vgl. hierzu und zum Folgenden Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Tätigkeitsbericht 1989–2013.

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(Unternehmen Kommune?), 2011 (Rekommunalisierung) und zweimal, in den Jahren 1992 und 2003, standen die Sparkassen und ihre aus der kommunalen Trägerschaft folgenden Aufgaben und Organisationsbedingungen auf der Tagesordnung. Jeweils drei Tagungen waren den inneren Strukturen der Kommunen, dem Kommunalverfassungsrecht (1989, 2001, 2010) und den Fragen zur Änderung ihrer äußeren Strukturen, also möglichen Gebiets- und Funktionalreformen (1995, 2007, 2013) gewidmet. Welche Themen die niedersächsischen Kommunen im letzten Viertel Jahrhundert inhaltlich neu gefordert haben lässt sich an den Schwerpunkttagungen 1996 (Öffentliches Auftragswesen), 1999 (Arbeitslosigkeit), 2002 (Wasserversorgung), 2004 (kommunale Aufgaben in einem gewandelten Sozialstaat), 2008 (Schule) und 2012 (Sicherheit unserer Städte) nachzeichnen. Nicht weniger als 10 aktive Landesminister ; parlamentarische und beamtete Staatssekretäre auf Bundesebene; ehemalige und künftige Ministerpräsidenten, Bundesminister, Bundesverfassungsrichter ; die erste Reihe der deutschen Staatsrechtslehrer ; hochrangige Vertreter der Ministerialverwaltung; Kollegen der kommunalen Spitzenverbände auf Bundes- und Landesebene; aber immer wieder auch engagierte kommunale Praktiker kennzeichnen das breite Spektrum der Referenten. Sie symbolisieren die Zielsetzung der Bad Iburger Gespräche: Nicht nur wissenschaftliche Beschäftigung mit kommunalrelevanten Themen, sondern auch rechtspolitische Reflexion und Einflussnahme. Vorträge und Gespräche nah an den kommunalen Themen der Praxis, aber immer mit dem Bemühen um wissenschaftliche Durchdringung und Systematisierung. Ganz wenige durften übrigens zweimal auftreten, der Rekord liegt nach meinen Ermittlungen bei drei Vorträgen. Die Veranstalter sind erkennbar daran interessiert, die jeweils sachkundigsten Referenten zu gewinnen. Ich hatte schon im letzten Jahr auf die Schwierigkeiten hingewiesen, jeweils im Vorjahr zu prognostizieren, welche Themen von solch hohen Interesse sind, dass sie eine eintägige Veranstaltung auf dem Niveau der Bad Iburger Gespräche tragen. Das ist gelungen, und bis auf die heutige Veranstaltung hat dafür Prof. Jörn Ipsen die überwiegende oder jedenfalls maßgebliche Mitverantwortung getragen. Auch dies ein nennenswerter Beitrag zur Stabilisierung der kommunalen Selbstverwaltung in Niedersachsen und darüber hinaus.

II.

Entwicklungen

Im Folgenden soll die Entwicklung des Kommunalrechts in dem Zeitraum in den Blick genommen werden, den die 25 Bad Iburger Gespräche abdecken. Dieses Vierteljahrhundert umfasst den Zeitraum ab der Maueröffnung. Die Reaktivierung der kommunalen Selbstverwaltung in den östlichen Bundesländern

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nach der Deutschen Wiedervereinigung bildet eine Zäsur, die nicht ohne Rückwirkung auf die kommunale Selbstverwaltung auf dem Gebiet der früheren Bundesrepublik geblieben ist. In der gebotenen summarischen Kürze werden also die Entwicklungen in den dreizehn Flächenbundesländern insgesamt und für Niedersachsen im Besonderen erfasst. Es kann sich hierbei nur um höchst subjektiv geprägte Schlaglichter und Federstriche handeln.

1.

Rechtsstellung der Kommunen im bundesstaatlichen Verfassungsrecht

Wenn Entwicklungen der kommunalen Selbstverwaltung nachgespürt werden soll, gilt es zuvörderst das Verfassungsrecht in den Blick zu nehmen. Wohl wissend um die eher gesteigerte Relevanz des Landesverfassungsrechts im Allgemeinen4 und die Bedeutung der landesverfassungsrechtlichen Garantien der kommunalen Selbstverwaltung im Besonderen muss das Interesse auf das Grundgesetz fokussiert werden. Hier bietet nicht nur die kommunalrechtliche Fundamentalnorm des Art. 28 Abs. 2 GG Anlass für eine kurze Reflexion, sondern auch weitere Grundgesetzänderungen, die Auswirkungen auf die Stellung der Kommunen im gesamtstaatlichen Gefüge haben.5 Das Zusammenwirken der kommunal relevanten Verfassungsbestimmungen ist zuletzt durch das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 07. Oktober 2014 über 16 kommunale Verfassungsbeschwerden6 eindrucksvoll herausgearbeitet worden. a.

Konkretisierungen und Erweiterungen des Art. 28 Abs. 2 GG

Das Fundament der knappen Vorschrift des Art. 28 Abs. 2 GG trägt fast die gesamte Last des bundesdeutschen Kommunalrechts. Art. 28 Abs. 2 GG bilde, so heißt es in einem der führenden bundesdeutschen Lehrbuch zum Kommunalrecht,7 eine der schwierigsten Grundgesetzbestimmungen zwischen dem Staatsorganisationsrecht und dem Verwaltungsrecht, zu der sich eine spezifische Dogmatik herausgebildet habe. Art. 28 Abs. 2 GG enthält gleichermaßen eine die

4 Instruktiv zum Verhältnis von Landes- und Bundesverfassungsrechts vgl. nur Huber, NdsVBl 2011, 233ff.; Baldus, S. 25ff. in Die Verfassungsgerichte der Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen (Hrsg.), 20 Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in den neuen Ländern, 2014. 5 Zur Entwicklung des kommunalen Selbstverwaltungsrechts im GG insgesamt vgl. Meyer, S. 113ff. in Schliesky/Ernst/Schulz (Hrsg.), Die Freiheit des Menschen in Kommune, Staat und Europa, FS für Edzard Schmidt-Jortzig, 2011. 6 BVerfG, Urt. v. 07. 10. 2014–2 BvR 1641/11. 7 Burgi, Kommunalrecht, § 6 Rz. 1, 4. Aufl., 2012.

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Landes(verfassungs)gesetzgeber verpflichtende bundesrechtliche Mindestgarantie8 wie unmittelbar bindendes Verfassungsrecht, eine »Durchgriffsnorm«.9 (1) Die Gesetzgebungskompetenz für das Kommunalrecht obliegt nach Art. 70 Abs. 1 GG den Ländern.10 Geradezu lehrbuchartig hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 07. Oktober 2014 das Kommunalrecht definiert als die Summe der Rechtssätze, die sich mit der Rechtsstellung, der Organisation, den Aufgaben und den Handlungsformen der kommunalen Selbstverwaltungskörperschaften befassen. Darunter falle auch das Gemeindeverfassungsrecht und insbesondere die Art und Weise der kommunalen Willensbildung.11 Die auf dem Prüfstand des Verfassungsgerichts stehende Norm des § 6a Abs. 2 S. 3 SGB II, die eine Zweidrittelmehrheit in den Stadträten und Kreistagen als Voraussetzung der Ausübung der sog. Option vorsieht, betreffe die interne Willensbildung in den Kommunen, die Verwirklichung des Mehrheitsprinzips, der Demokratie auf der kommunalen Ebene und in gewissem Sinne auch die funktionale Zuständigkeitsverteilung zwischen den Organen. Es handele sich um eine Vorschrift, die wesentlicher Bestandteil des Kommunal(verfassungs) rechts sei und daher keiner Regelungskompetenz des Bundes unterfalle. (Nur) um die Erfüllung gesetzlicher Pflichtaufgaben mangels hinreichender gesetzlicher Grundlagen nicht zu gefährden hat das Bundesverfassungsgericht von der Feststellung der Nichtigkeit des § 6a Abs. 2 S. 3 SGB II abgesehen und lediglich als unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt.12 Sie darf mithin künftig nicht mehr angewandt werden. (2) Die Gemeinden haben unmittelbar aus der Verfassung heraus das Recht, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft anzunehmen (sog. Universalität des gemeindlichen Wirkungskreises).13 Auch außerhalb des den Gemeinden garantierten Kernbereichs enthält Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG ein verfassungsrechtliches Aufgabenverteilungsprinzip hinsichtlich der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zugunsten der Gemeinde, das der Zuständigkeit verteilende Gesetzgeber zu berücksichtigen hat.14 Demgegenüber können sich die Landkreise nur auf den gesetzlich bestimmten Wirkungskreis berufen, 8 Dazu bereits Schmidt-Jortzig, Kommunalrecht, 1982, Rz. 456ff.; Ipsen, Niedersächsisches Kommunalrecht, 4. Aufl., 2011, m. w. N. 9 Nierhaus, Rz. 39 zu Art. 28, in: Sachs (Hrsg.), GG, Kom., 5. Aufl., 2009. 10 Ständige Rspr. des BVerfG, vgl. nur BVerfGE 22, 189, 210; 77, 288, 299. 11 BVerfG, o. Fn. 6, Rz. 132. 12 Vgl. BVerfG, o. Fn. 6, Rz. 127ff., insb. 132, 147ff. 13 Vgl. aus der jüngeren Judikatur des Gerichts BVerfGE 79, 127, 147, 151f., 155; 83, 363, 381; 110, 370, 400; o. Fn. 6, Rz. 163. 14 Vgl. bereits BVerfGE 26, 228, 237f.; 56, 298, 312; 59, 216, 226; 79, 127, 150ff.; 83, 363, 382f.; über die Mindestgarantie des Art. 28 Abs. 2 GG noch hinausgehend Art. 57 Abs. 3 NV, vgl. dazu NdsStGH, NdsVBl. 2008, 37, 40 und Meyer, Rz. 4ff. zu § 2 m. w. N., in: Blum / Häusler / Meyer (Hrsg.), Niedersächsisches Kommunalverfassungsgesetz, Kom., 3. Aufl., 2014.

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haben also kein originäres Zugriffsrecht auf einzelne Sachmaterien.15 Allerdings darf der Gesetzgeber die verfassungsrechtliche Gewährleistung des Selbstverwaltungsrechts der Kreise aus Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG nicht dadurch unterlaufen, dass er den Kreisen keine Aufgaben zuweist, die in der Verfassung selbst gewährten Eigenverantwortlichkeit wahrgenommen werden können. Es muss daher auch einen Mindestbestand solcher Aufgaben für die Kreise geben.16 (3) Durch die Formulierung des Art. 28 Abs. 2 GG »in eigener Verantwortung zu regeln« wird ein positiver Handlungs- und Entfaltungsspielraum garantiert. Umschrieben und konkretisiert wird das Merkmal der eigenverantwortlichen Regelung durch die sog. Hoheitsrechte der Kommunen. Hier soll nur ein kurzer Blick auf die Finanz- und Steuerhoheit geworfen werden. Zur Finanzhoheit äußert sich das Bundesverfassungsgericht seit jeher bemerkenswert zurückhaltend.17 Als bereichsbezogene Verstärkung der durch Art. 28 Abs. 2 GG gewährleisteten Finanzautonomie sei aber Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG zu verstehen, der seit 1969 den Gemeinden das Recht zusichert, die Hebesätze der Realsteuern, also der Grundsteuer und der Gewerbesteuer, im Rahmen der Gesetze festzusetzen.18 1994 wurde dem Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG ein neuer S. 3 angefügt, wonach die Gewährleistung der Selbstverwaltung auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung umfasst. Die Rechtsprechung19 bewertete dies bereits als eine materiell-rechtliche Verstärkung der Gewährleistung einer aufgabenadäquaten Finanzausstattung der Kommunen. Als politische Konsequenz des Abschaffens der Gewerbekapitalsteuer wurde 1997 dem S. 3 des Art. 28 Abs. 2 GG ein zweiter Halbsatz hinzugefügt. Danach gehört zu den Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung eine den Gemeinden mit Hebesatzrecht zustehende Wirtschaftskraft bezogene Steuerquelle.

b.

Finanzverfassungsrechtliche Bestimmungen

(1) Ein Schattendasein selbst in der juristischen Fachwelt führen die Bestimmungen der Finanzverfassung. Hierunter wird die in den Art. 104a ff. GG geregelte Grundordnung des Steuerwesens und der durch Legislative, Exekutive und Judikative ausgeübte staatliche Finanzhoheit, ihre bundesstaatliche Aufteilung und ihre kommunalen Gewährleistungen verstanden (Finanzverfassung

15 16 17 18 19

Vgl. BVerfGE 79, 127, 150; 83, 37, 54; 83, 363, 383. Vgl. BVerfGE 119, 331, 353; BVerfG, o. Fn. 6, Rz. 163f. Vgl. zuletzt erneut BVerfG, o. Fn. 6, Rz. 183. BVerfG, NVwZ 2010, 895, 898. Vgl. BVerwG, DÖV 1998, 731, 733.

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im engeren Sinne)20. Diese Missachtung in Teilen der (Fach)Öffentlichkeit steht in einem krassen Missverhältnis zur tatsächlichen Bedeutung der dort geregelten Materie für die Aufgabenwahrnehmung des Staates und der Kommunen. Garanten einer Aufgaben angemessenen Finanzausstattung der Kommunen im zweistufigen föderalen Staatsaufbau der Bundesrepublik sind zuvörderst die Länder.21 Nach Art. 105 Abs. 9 GG gelten als Einnahmen und Ausgaben der Länder im Sinne des Art. 106 GG auch die Einnahmen und Ausgaben der Gemeinden (Gemeindeverbände). Bezug nehmend auf die Ergänzung des Art. 28 Abs. 2 GG um den neuen Satz 3 hat das Bundesverfassungsgericht aber bereits in seinem grundlegenden Urteil zum Länderfinanzausgleich vom 11. 11. 199922 festgestellt, das Grundgesetz erkenne die finanzielle Eigenverantwortung der Kommunen nunmehr ausdrücklich an. Diese gestärkte finanzwirtschaftliche Unabhängigkeit und Verselbständigung der Kommunen modifiziere die bisherige Zweistufigkeit der Finanzverfassung. (2) Die Karlsruher Verfassungsrichter haben bei anderer Gelegenheit23 betont, auch die Neuregelung des Art. 28 Abs. 2 GG im Jahr 1997 bedeute aber keine institutionelle Garantie gerade der Grundsteuer oder der Gewerbesteuer. Die wirtschaftskraftbezogene Gewerbesteuer dürfe nur nicht abgeschafft werden, ohne dass die Gemeinden an ihrer Stelle eine andere wirtschaftskraftbezogene Steuerquelle mit Hebesatzrecht erhielten. Beschränkungen des in Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG gewährleisteten Hebesatzrechtes der Gemeinden auf die Realsteuern sind als Ausdruck der nur »im Rahmen der Gesetze« gewährleisteten gemeindlichen Selbstverwaltung grundsätzlich zulässig, müssen aber zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet sowie erforderlich und verhältnismäßig sein.24 (3) Im geltenden Verfassungsrecht eröffnet Art. 106 Abs. 5 Satz 3 GG eine weitergehende gesetzgeberische Option für die Gemeinden auf die Einkommenssteuer. Der 70. Deutsche Juristentag hat sich vor kurzem mit Mehrheit dafür ausgesprochen, auch den Ländern ein Zu- und Abschlagsrecht zur Einkommens- und zur Körperschaftssteuer zuzugestehen und den Gemeinden nach Maßgabe des Art. 106 Abs. 5 S. 3 GG durch Bundesgesetz ein Hebesatzrecht auf die Einkommenssteuer zu eröffnen.25 20 So Henneke, Rz. 4 zu Vorb. v. Art. 104a, in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum GG, 13. Aufl., 2014. 21 BVerfGE 39, 96, 109; 119, 331, 364; o. Fn. 6, Rz. 90; ferner Henneke, Die Kommunen in der Finanzverfassung des Bundes und der Länder, 5. Aufl. 2012, S. 224. 22 DVBl. 2000, 42, 48. 23 BVerfG, NVwZ 2010, 895, 898 m. w. N. 24 BVerfG, NVwZ 2010, 895, 900; ebenso BVerwG, Urt. v. 27. 10. 2010–8 C 43.09. 25 70. Deutscher Juristentag Hannover 2014, Beschlüsse, Abteilung Öffentliches Recht, Thesen 10 und 12; vorbereitend dazu das Gutachten von Kempny/Reimer, Neuordnung der Fi-

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(4) Strukturell deutlich zur Stärkung der gemeindlichen Autonomie und Finanzkraft beigetragen hat die in Art. 106 Abs. 5a GG fixierte Beteiligung der Gemeinden seit dem 01. Januar 1998 am Aufkommen der Umsatzsteuer. Dieser Anteil von derzeit 2,2 % des Umsatzsteueraufkommens wird von den Ländern auf der Grundlage eines orts- und wirtschaftsbezogenen Schlüssels an die Gemeinden weitergeleitet.26 (5) Erhebliche praktische Bedeutung hat in Folge des vom Bund beschlossenen Konjunkturpaketes27 zur Linderung der Auswirkungen der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise auch schnell die im Zuge der Föderalismusreform I eingefügte Regelung über die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes in Art.104 b GG gewonnen. Sie erlaubt es dem Bund, soweit das Grundgesetz ihm Gesetzgebungsbefugnisse verleiht, den Ländern unter bestimmten Voraussetzungen Finanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu gewähren. Ziel des Verfassungsgebers war es, die Möglichkeit der Finanzhilfen des Bundes zurückzuführen. Die Eigenverantwortung der Länder soll nicht über das »süße Gift« des Bundesgeldes unterhöhlt werden, denn die durch Art. 104 b GG dem Bund eröffneten Befugnisse berühren den Grundsatz der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern.28 Die zu Jahresbeginn 2009 beschlossene partielle Rückänderung des Art. 104 b Abs. 1 Satz 2 GG für den Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzsituation erheblich beeinträchtigen,29 ändert an dieser prinzipiellen Zielsetzung nichts.30

c.

Durchgriffsverbot des Bundes und Konnexitätsprinzip in den Landesverfassungen

(1) Nach Art. 83 GG führen die Länder die Bundesgesetze grundsätzlich als eigene Angelegenheiten aus. Für diesen Regelfall sah Art. 84 Abs. 1 GG alte Fassung vor, dass die Länder die Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, allerdings nur, soweit nicht Bundesgesetze mit Zustimmung des Bundesrates etwas anderes bestimmten. Die Handhabung dieser Norm hat sich aus

26 27 28 29 30

nanzbeziehungen – Aufgabengerechte Finanzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen, D 53f. und 63f. Zu Einzelheiten vgl. Henneke, o. Fn. 20, Rz. 102ff. zu Art. 106. Sog. Zukunftsinvestitionsgesetz vom 02. 03. 2009, BGBl. I, 416. Vgl. Meyer/Freese, NVwZ 2009, 609, 613; ausdrücklich zustimmend BVerfG, DVBl. 2010, 1364 m.w.N. Ausf. dazu Henneke, Bundesstaat und kommunale Selbstverwaltung nach den Föderalismusreformen, 2009, S. 135ff. Vgl. BVerfG, DVBl. 2010, 1364, 1365.

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kommunaler Sicht über viele Jahrzehnte als bundesstaatliches Ärgernis ersten Ranges erwiesen. Der Bund beschloss den Um- und Ausbau des Sozialstaates. Die Bundesländer verständigten sich im Bundesrat augenzwinkernd mit dem Bund über die Einrichtung der Behördenzuständigkeit durch Bundesgesetz. Ein klassischer Vertrag zu Lasten Dritter : Gegen den Bund konnten die Kommunen keine Ansprüche geltend machen, die Länder hatten keine Regelung beschlossen. Die Konnexitätsbestimmungen in den Landesverfassungen liefen leer.31 Friedrich Schoch32 hat plastisch von einem manifestierten Verfassungsbruch gesprochen, der zum politischen Alltag gehöre und maßgeblich für die destraströse Situation der Kommunalfinanzen verantwortlich zeichne. Dieser unbefriedigende Zustand ist im Zuge der Föderalismusreform I mit Wirkung ab 01. 09. 2006 beseitigt worden. Nach dem nunmehrigen Satz 7 des Art. 84 Abs. 1 GG dürfen durch Bundesgesetz Gemeinden und Gemeindeverbänden Aufgaben nicht übertragen werden. Dieses sog. Durchgriffsverbot führt dazu, dass nur noch die Länder den Kommunen Aufgaben zuweisen dürfen, mögen sie dem Grunde nach auch in Bundesgesetzen angelegt sein.33 Für den Fall des Ausführens von Bundesgesetzen durch die Länder im Auftrage des Bundes enthält Art. 85 Abs. 1 S. 2 GG ein entsprechendes Aufgabenübertragungsverbot. Damit greifen die landesverfassungsrechtlichen Schutzmechanismen zu Gunsten der Kommunen.34 Für nach früherer Rechtslage entstandene bundesgesetzliche Aufgabenzuweisungen an die Kommunen gilt nach der Übergangsregelung in Art 125 a Abs. 1 GG das Bundesrecht weiter, kann aber durch Landesrecht ersetzt werden.35 (2) In allen Bundesländern finden sich nunmehr in den Landesverfassungen Regelungen über die Verpflichtung der Kommunen zur Übernahme und Durchführung öffentlicher bzw. ursprünglich staatlicher Aufgaben durch oder aufgrund eines Gesetzes. Durchweg wird in diesem Zusammenhang auch die Frage der Kostenabgeltung mit geregelt. Hierzu hat es in den vergangenen zwei Jahrzehnten in vielen Ländern Modifikationen gegeben,36 die nicht ohne Auswirkungen auf die Verfassungsrechtsprechung geblieben sind.37 31 Zur seinerzeitigen Problemlage und der rechtspolitischen Diskussion Meyer, P 53, P 73ff., Referat zu: Klarere Verantwortungsteilung von Bund, Ländern und Kommunen? Verhandlungen des 65. Deutschen Juristentages, 2004. 32 Der Landkreis 2004, 367, 368f. 33 Umfassend zur Entstehungsgeschichte des Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG Henneke, NdsVBl. 2007, 57ff.; Försterling, Der Landkreis 2007, 56, 57f.; Schoch, DVBl. 2007, 261, 265ff. 34 Signifikant VerfGH NW, NWVBl 2011, 54; zustimmend von Kraack, NWVBl. 35 Vgl. zum Streit um den Anwendungsbereich des Art. 125 a nur Kallerhoff, DVBl. 2011, 6ff.; Maiwald, Rn. 8 zu Art. 125a in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, o. Fn. 20. 36 Ausführlich dazu Ritgen. S. 21ff. in Schöneburg u. a., Verfassungsfragen in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, 2013; Überblick über die einzelnen Bundesländer bei Henneke, Die Kommunen in der Finanz-

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Das strikte Konnexitätsprinzip hat sich bewährt. Verfassungsrechtliche Auseinandersetzungen um seine Durchsetzung sind Zeichen für ein lebendiges Recht.38 Das Konnexitätsprinzip wirkt in erster Linie aber »präventiv« auf politischer Ebene und hat beispielsweise in Niedersachsen beim Ausbau des Betreuungsangebotes für Unter-Dreijährige auch nennenswerte unmittelbare finanzielle Auswirkungen gehabt. Derzeit steht seine Wirkung hinsichtlich der Umsetzung der auf Art. 24 der UN-Behindertenrechtskonvention beruhenden Inklusion in der Schule durch die Bundesländer auf dem Prüfstand.39 Für die Frage einer aufgabengerechten Finanzausstattung der Kommunen ist das Konnexitätsprinzip hingegen nicht maßgeblich, weil die Vorschrift einen aufgabenbezogenen Kostenausgleich im Einzelfall, nicht aber das Sicherstellen der kommunalen Finanzausstattung insgesamt beinhaltet. (3) Das »Kooperationsverbot« wird gleichwohl zum Teil kritisiert und (auch aus dem kommunalen Raum) vereinzelt wieder nach »direktem« Bundesgeld für kommunale Aufgaben gerufen.40 Dem ist entschieden zu widersprechen: Die Reform der Art. 84 und 85 GG im Zuge der Föderalismusreform I und die Schärfungen der Konnexitätsregelungen in den Landesverfassungen demonstrieren das aufeinander angewiesen sein und Ineinandergreifen von Bundesund Landesverfassungsrecht. Die negative Kompetenzvorschrift41 in Art. 84 Abs. 1 S. 7 GG hat den landesverfassungsrechtlichen Sicherungen erst zur Wirksamkeit verholfen. Es besteht keinerlei Grund, die gerade errichteten Dämme wieder einzureißen. Diese Einschätzung hat die Öffentlich-Rechtliche Abteilung des 70. Deutschen Juristentages mit überzeugender Mehrheit geteilt.42

d.

Art. 91 e GG – Zusammenwirken bei der Grundsicherung für Arbeitssuchende

Die aus kommunaler, insbesondere aus Landkreissicht bemerkenswerteste Entwicklung hat sich mit dem Einfügen des neuen Art. 91 e GG durch das Gesetz

37 38 39 40 41 42

verfassung, o. Fn. 21, S. 226ff.; speziell zur Ausgleichspflicht der Länder bei bundesgesetzlichen Aufgabennormierungen zuletzt Becker, Der Landkreis 2014, 232ff. Zuletzt VerfGH NW, DVBl. 2010, 1561ff.; HessStGH, NVwZ-RR 2012, 625ff.; BbgVerfGH, DVBl. 2013, 852ff. Zu skeptisch daher Kempny/Reimer, o. Fn. 25, D 40f., auch wenn sie im Ergebnis gegen Verfassungsänderungen und für Verbesserungen der Ausführungsgesetze plädieren. Vgl. dazu Trips, NdsVBl 2013, 297ff.; Höfling/Engels, NWVBl 2014, 1ff.; Faber, Der Landkreis 2014, 228ff.; Kingreen, NdsVBl. 2014, 265ff. Beispiele bei Meyer, o. Fn. 5, S. 113, 131; ferner vgl. Landsberg, Stadt und Gemeinde 2012, 125; Hurrelmann, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 2/2012, 4ff.; dezidiert wie hier hingegen Henneke, Der Landkreis 2012, 128f. Henneke, Rn. 41 zu Art. 84 in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), o. Fn. 20. 70. Deutscher Juristentag Hannover 2014, o. Fn. 25These 5.

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zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. 7. 201043 vollzogen. In Abweichung vom grundgesetzlichen Regelfall sieht Abs. 1 der Norm bei der Ausführung von Bundesgesetzen auf dem Gebiet der Grundsicherung für Arbeitssuchende im Regelfall ein Zusammenwirken von Bund und Ländern oder die nach Landesrecht zuständigen Gemeinden oder Gemeindeverbände in gemeinsamen Einrichtungen vor. Abs. 2 ermöglicht es dem Bund, einer »begrenzten Anzahl von Gemeinden und Gemeindeverbänden« auf ihren Antrag und mit Zustimmung der obersten Landesbehörde die Aufgaben der Grundsicherung für Arbeit zur alleinigen Wahrnehmung zu überlassen. Einige Landkreise hatten sich zuvor mittels einer Verfassungsbeschwerde mit Erfolg gegen die seinerzeit in § 44 b SGB II geregelte Verpflichtung der kommunalen Träger der Grundsicherung für Arbeitssuchende gewandt, mit den Agenturen für Arbeit durch privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Verpflichtung Arbeitsgemeinschaften zu bilden und diesen die Wahrnehmung der Aufgaben zu übertragen. Die Arbeitsgemeinschaften als eine gesetzlich angeordnete Form der Mischverwaltung zwischen unterschiedlichen Ebenen der öffentlichen Hand44 sahen sich von Beginn an vielfältigen Anfragen und Kritik ausgesetzt.45 Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Urteil46 fest, der Gesetzgeber müsse nicht nur den Kernbereich der Selbstverwaltungsgarantie unangetastet lassen. Vielmehr habe er den verfassungsgewollten, prinzipiellen Vorrang einer dezentralen, also gemeindlichen, vor einer zentral und damit staatlich determinierten Aufgabenwahrnehmung zu berücksichtigen. Inhaltliche Vorgaben bedürften eines gemeinwohlorientierten, rechtfertigenden Grundes. Überschreite der Gesetzgeber die in Art. 83ff. GG gesetzten Grenzen zulässigen Zusammenwirkens, bedeute dies zugleich eine Beeinträchtigung des kommunalen Selbstverwaltungsrechtes. Die eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung der Gemeinden und Gemeindeverbände werde beeinträchtigt, wenn der Gesetzgeber ohne hinreichend rechtfertigenden Grund die gleichzeitige Aufgabenwahrnehmung durch verschiedene Verwaltungsbehörden verbindlich anordne. Zweimal wurde darauf hingewiesen, die Verwaltungszuständigkeiten ständen auch einvernehmlich nicht zur Disposition. Der nach dem Grundgesetz zuständige Verwaltungsträger müsse seine Aufgaben grundsätzlich mit eigenen 43 BGBl. I 2010, 944. 44 Vgl. dazu umfassend Mempel, Hartz IV-Organisation auf dem verfassungsrechtlichen Prüfstand, 2007. 45 Vgl. nur Henneke, DÖV 2005, 177, 186ff.; dens., Der Landkreis 2007, 327, 335ff.; Hesse, Der Landkreis 2007, 340ff.; Graaf, Der Landkreis 2007, 344ff. 46 BVerfGE 119, 331, 363ff. = NVwZ 2008, 183ff.; vgl. dazu P. M. Huber, DÖV 2008, 844ff.; Korioth, DVBl. 2008, 812ff.; Cornils, ZG 2008, 184ff.; Meyer, NVwZ 2008, 275ff.; Küchenhoff, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Mischverwaltung, 2010; jew. m. m. N.

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Verwaltungseinrichtungen, also mit eigenem Personal, eigenen Sachmitteln und eigener Organisation wahrnehmen. Die Arbeitsgemeinschaften seien weder im Grundgesetz vorgesehen, noch lägen Umstände vor, die eine prinzipiell denkbare Ausnahme rechtfertigten. Auch die Neuregelung in Art. 91 e GG sah sich verschiedener Kritik ausgesetzt. Neben den bereits erwähnten Bedenken der bundesrechtlichen Regelung einer kommunalrechtlichen Materie47 richtete sie sich seitens der Optionsbefürworter insbesondere gegen das Regel-Ausnahme-Verhältnis von gemeinsamen Einrichtungen und Optionskommunen, deren zahlenmäßige Beschränkung durch den einfachen Gesetzgeber und die vom Bund reklamierten Prüfungsbefugnisse.48 Von anderer Seite49 wurde gar der Vorwurf verfassungswidrigen Verfassungsrechts erhoben. Dem letzteren Vorwurf ist nicht zu folgen. Der Verfassung ändernde Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des Art. 91 e GG im Abschnitt über die Gemeinschaftsaufgaben und die Verwaltungszusammenarbeit an sinnvoller Stelle mit einer schlanken Formulierung für beide Modelle der Aufgabenwahrnehmung eine Zuständigkeit der kommunalen Ebene für eine der zentralen gesellschaftspolitischen Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts fixiert. Das Bundesverfassungsgericht hat Art. 91 e GG als eine Spezialregelung für den Vollzug der Verwaltungsaufgabe Grundsicherung für Arbeitssuchende qualifiziert, die die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung konkretisiere, soweit Kommunen betroffen seien. Soweit sein Anwendungsbereich reiche, gehe Art. 91 e GG den Regelungen des Grundgesetzes über die Ausführung der Bundesgesetze und der Bundesverwaltung sowie das Finanzwesen vor. Das Gericht wiederholt das grundsätzliche Verbot der Mischverwaltung. Die eng begrenzte Durchbrechung der grundsätzlich auf Trennung von Bund und Ländern angelegten Verteilung der Verwaltungszuständigkeiten nach Art. 83ff. GG stelle die in Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG und durch Art. 79 Abs. 3 GG abgesicherten Systementscheidungen der Demokratie sowie des Rechts- und Bundesstaates aber nicht in Frage.50 Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, Art. 91 e Abs. 2 GG räume den Gemeinden und Gemeindeverbänden keinen Anspruch, wohl aber eine Chance ein, die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende als kommunale Träger 47 Vgl. dazu oben unter II 1 a (1). 48 Ausführlich dazu vgl. Henneke, Rz. 72ff. zu Art. 91 e in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), o. Fn. 20. 49 Vgl. nur Klein, Rz. 13 in Maunz/Dürig, GG., Kom., Stand Mai 2011; Siekmann, Rz. 11 in Sachs(Hrsg.), GG, Kom., 6. Aufl. 2011; Engels, Rz. 13 in Berliner Kommentar zum GG, 32. Ergänzungslieferung; a. A. insoweit. Henneke, Rz. 50 in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), o. Fn. 20; jew. zu Art. 91e. 50 BVerfG, o. Fn. 6, Rz. 77, 80, 81 und 84.

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alleinverantwortlich wahrzunehmen. Die gesetzliche Ausgestaltung dieser Chance müsse willkürfrei erfolgen. Ihre Wahrnehmung falle in den Schutzbereich der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Der dem Gesetzgeber in Art. 91 e Abs. 3 GG eröffnete weite Gestaltungsspielraum für die Ausgestaltung des Verwaltungsvollzugs sei nicht überschritten, insbesondere lasse sich aus dem Wortlaut des Art. 91 e Abs. 2 GG eine konkrete Zahl möglicher Optionskommunen nicht ableiten.51 Das konkrete Begehren der klagenden Kommunen auf Zulassung zur Option blieb daher unerfüllt. Von Bedeutung über den entschiedenen Fall hinaus sind die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Aufsicht. Das Gericht stellt fest, Art. 91 e GG begründe eine unmittelbare Finanzbeziehung zwischen dem Bund und den Optionskommunen und ermögliche eine Finanzkontrolle. Dieses Instrument verortet das Bundesverfassungsgericht neben den klassischen Instrumenten der Aufsicht, als auch der Tätigkeit des Bundesrechnungshofes. Rechts- und Fachaufsicht sei nicht Regelungsgegenstand von Art. 91 e GG, sie bleibe (allein) Sache der Länder. Ausdrücklich hebt das Gericht hervor, die Finanzkontrolle diene nicht der Rückkopplung des Gesetzesvollzugs an die Absichten des Gesetzgebers und insbesondere nicht der Gewährleistung eines grundsätzlich einheitlichen Gesetzesvollzuges.52 Damit wird die Eigenstaatlichkeit der Länder geschützt und den kommunalen Aufgabenträgern wertvolle Freiheitsräume bewahrt. Dies gilt insbesondere deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht an späterer Stelle den Bund ausdrücklich verpflichtet, »vertretbare Rechtsauffassungen« der zugelassenen kommunalen Träger zu achten und einer in der Vergangenheit geübten Praxis des Bundes einen Riegel vorschiebt: Es sei unzulässig, einzelne Optionskommunen von dem automatisierten Verfahren für das Haushalts-, Kassenund Rechnungswesen des Bundes (HKR-Verfahren) auszuschließen.53

2.

Kommunale Strukturen

Ein Dauerthema für Landesgesetzgeber bilden die kommunalen Strukturen. Hier ging es nach dem Beitritt der fünf seinerzeit »neuen« Bundesländer in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zunächst einmal darum, überhaupt selbstverwaltungstaugliche äußere Strukturen wieder herzustellen.54 Die damit zusammenhängenden Fragen müssen hier aus Raumgründen außen vor bleiben. An51 52 53 54

BVerfG, o. Fn. 6, Rz. 101ff. und 153ff. BVerfG, o. Fn. 6, Rz. 94ff., insb. 99; 182f. BVerfG, o. Fn. 6, Rz. 182. Zusammenfassend dazu vgl. Bernet, LKV 1993, 393ff.; Henneke, Der Landkreis 1994, 145ff.; dens. NVwZ 1994, 555ff.; Stüer/Landgraf, LKV 1998, 209ff.

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gesichts der Dynamik des Diskussionsprozesses soll hier im Wesentlichen der Zeitraum seit Beginn dieses Jahrtausends in den Blick genommen werden.55 a.

Gemeindeebene

Eine flächendeckende Gemeindegebietsreform hat im vergangenen Jahrzehnt allein Sachsen-Anhalt umgesetzt. Finanziellen Anreizen auf freiwilliger Basis, wie z. B. in Niedersachsen im Rahmen des sog. Zukunftsvertrages56, war kein durchschlagender Erfolg beschieden. Die Modelle politisch selbständige Gemeinden zusammenfassender Gemeindeverbände in Brandenburg (Ämter), Mecklenburg-Vorpommern (Ämter), Niedersachsen (Samtgemeinden), Sachsen-Anhalt (Verbandsgemeinden), Schleswig-Holstein (Ämter) und Rheinland-Pfalz (Verbandsgemeinden) scheinen im Grundsatz fortgeführt zu werden. Die Zahl dieser Gemeindeverbände sinkt in allen Bundesländern durch Anhebung der Einwohnerwerte und/ oder durch Umwandlung bestehender Gemeindeverbände in Einheitsgemeinden. Verfassungsrechtliche Probleme zwischen funktionaler faktischer Aufgabenentwicklung der Gemeindeverbände und der durch das Demokratieprinzip gebotenen hinreichenden Legitimation ihrer handelnden Organe treten bei den Gemeindeverbänden auf, die auf eine Direktwahl des Vertretungsorgans verzichten. Nach einem Urteil des dortigen Landesverfassungsgerichts57 hat der Landesgesetzgeber in Schleswig-Holstein den wenig überzeugenden Versuch unternommen, die Zahl der auf die dortigen Ämter übertragbaren Aufgaben per Gesetz zu beschränken.58 Zum Teil für Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein, insbesondere aber für Rheinland-Pfalz59, ist zu fragen, ob das Vorhandensein einer Gemeindeverbandsebene als Freibrief dafür dienen darf, die Funktionalität der gemeindeverbandsangehörigen Kleinstgemeinden zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben entsprechend Artikel 28 Abs. 2 GG und den landesverfassungsrechtlichen Verbürgungen zu vernachlässigen.

55 Ausführlich hierzu Meyer, ZG 2013, 264ff.; ders., S. 157ff. in Henneke (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung in der Bewährung, 2013. 56 Vgl. dazu NLT-Information 2010, S. 4ff. 57 LVerfG SH, NordÖR 2010, 156ff.; vgl. dazu Schultz, NordÖR 2011, 311ff. 58 Vgl. § 5 Abs. 1 und 2 der Amtsordnung in der Fassung vom 13. 04. 2012; krit. auch Brüning, EILDIENSTLKT NRW 2012, 164ff. 59 Zutreffend dazu vgl. Wallerath, DÖV 2011, 289, 299.

Entwicklungen, Gefährdungen, Chancen der kommunalen Selbstverwaltung

b.

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Kreisebene

Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen auch im vergangenen Jahrzehnt die Gebietsreformen auf der Kreisebene.60 Flächendeckende Gebietsreformen hat es in unterschiedlicher Herangehensweise und mit unterschiedlicher Zielsetzung in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt gegeben. Von den Kreistagen beschlossen ist eine freiwillige Fusion der niedersächsischen Landkreise Göttingen und Osterode am Harz im Jahr 2016. In Sachsen und Sachsen-Anhalt sind im bundesweiten Vergleich leistungsfähig erscheinende Landkreise unter Berücksichtigung der spezifischen Bedingungen des jeweiligen Bundeslandes entstanden. Selbst im teilweise dünn besiedeltem Flächenland Sachsen-Anhalt zählen die 11 Landkreise nunmehr im Durchschnitt 160.000, die 10 sächsischen Landkreise gar über 280.000 Einwohner. Der im Jahr 2002 begonnene Versuch einer Bildung von fünf sogenannten Regionalkreisen in dem bevölkerungsschwachen und dünn besiedelten Bundesland Mecklenburg-Vorpommern war von Beginn an stark konfrontativ belastet61 und scheiterte letztendlich durch das Urteil des Landesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2007,62 das über den Einzelfall hinaus insbesondere durch seine grundlegenden Ausführungen zum Stellenwert des Ehrenamtes in der Selbstverwaltung Bedeutung erlangte. Der zweite Reformanlauf 201063 führte zu Landkreisen, die von der Flächenausdehnung von durchschnittlich 3.813 qkm und dessen z. T. deutliche Überschreitung in zwei Fällen im bundesweiten Vergleich hervorragen. Er hielt einer erneuten verfassungsgerichtlichen Überprüfung64 stand, vermag aber nicht als Blaupause für andere Flächenbundesländer zu dienen.65 Die Zahl der kreisfreien Städte wurde im Zuge der Gebietsreformen in 60 Überblick auch bei Henneke, Der Landkreis 2012, 674ff. 61 Vgl zur Zielsetzung und Kritik nur die Beiträge von Bosch, S. 9ff.; Ipsen, S. 17ff.; Stüer, S. 33ff. und Dombert, S. 47ff. in: Meyer/Wallerath (Hrsg.), Gemeinden und Kreise in der Region, 2004; Meyer, DÖV 2006, 929 ff; Rothe, Kreisgebietsreform und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, 2004. 62 DVBl. 2007, 1102ff.; tendenziell zustimmend Stüer, DVBl. 2007, 1267ff.; Hubert Meyer, NVwZ 2007, 1024f.; ders., NdsVBl. 2007, 265ff. Henneke, Der Landkreis 2007, 438ff.; ders., S. 17, 36ff. in: Trute/Groß/Röhl/Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, 2008; Henneke/Ritgen, DVBl. 2007, 1253ff.; Katz, DVBl. 2008, 1525ff.; März, S. 11, 60ff., insb. 77 in: Zwölf Jahre Verfassungsgerichtsbarkeit in Mecklenburg-Vorpommern, 2008; H. Schönfelder/A. Schönfelder, SächsVBl. 2007, 249ff.; Schultz, Das Rathaus 2007, 135ff.; krit. Mehde, NordÖR 2007, 331ff.; Bull, DVBl. 2008, 1ff.; Hans Meyer, NVwZ 2008, 24ff.; Erbguth, DÖV 2008, 152ff.; Scheffer, LKV 2008, 158ff. 63 Vgl. GVBl.MV 2010, 366ff. 64 Vgl. LVerfG MV, LKV 2011, 507ff. 65 In diesem Sinne auch Henneke, Der Landkreis 2011, 385, 387; Obermann, LKV 2011, 495, 498.

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Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen konsequent zurückgeführt. Da die Landesverfassungen kreisfreie Städte weder fordern noch institutionell voraussetzen, kommt ihnen nur ein beschränkter Bestandsschutz zu.66 c.

Stabile Formentypik

Bilanzierend darf festgehalten werden, dass die kommunale Formentypik mit einem zweistufigen Verwaltungsaufbau im kreisangehörigen Raum sich nach über sechs Jahrzehnten Geltung der Selbstverwaltungsgarantie des Artikel 28 Absatz 2 GG als äußerst stabil erwiesen hat. »Kreisfreie Samtgemeinden« in Niedersachsen,67 die Wiederherstellung von Landkreisen in der Größenordnung früherer Ämter in Schleswig-Holstein,68 die Eingemeindung eines kompletten ländlichen Landkreises in eine kreisfreie Stadt in Niedersachsen, die Bildung »kommunaler Verwaltungsregionen« wiederum in Schleswig-Holstein,69 letztlich auch die Bildung von Kreisgrenzen sprengenden Regionalkreisen in Mecklenburg-Vorpommern haben nicht den Weg in die Gesetzblätter gefunden oder hatten dort keinen Bestand. Die Bildung der Region Hannover im Jahr 200270 stellt ebenso wie der bereits seit 1974 existierende Stadtverband Saarbrücken und die 2009 ins Leben gerufene Städteregion Aachen keine Durchbrechung des Systems dar. Im Wesentlichen handelt es sich um Landkreise, die den spezifischen Bedingungen der Umlandbeziehung im Verdichtungsraum Rechnung tragen sollen und eine etwas abweichende Aufgabenverteilung zwischen Kreis- und Gemeindeebene aufweisen.

3.

Kommunalverfassungsrecht

Ein Blick auf das Kommunalverfassungsrecht. Hierunter ist mit Jörn Ipsen71 der Inbegriff der Rechtssätze zu verstehen, die die Kreation der Organe kommunaler 66 Vgl. SächsVerfGH, BeckRS 2008, 35585 S. 12ff.; LVerfG MV, BeckRS 2011, 53645 S. 19f. 67 Vgl. dazu den Gesetzentwurf der Niedersächsischen Landesregierung vom 20. 12. 2005, Nds. LT-Drs. 15/2495; krit. Klaus-Albrecht Sellmann/ Christian Sellmann, NdsVBl. 2006 S. 98ff.; offener hingegen Ipsen, NdsVBl. 2005, S. 313, 317, der eine »experimentelle« Abweichung für zulässig erachtete. 68 Vgl. dazu Schliesky, NordÖR 2012, 57, 64. 69 Krit. dazu Erps, Der Landkreis 2006, 472ff. 70 Vgl. NdsGVBl 2001, 348; dazu näher Meyer, Rz. 4 zu § 1 in Blum/Häusler/Meyer (Hrsg.), o. Fn. 14. 71 Niedersächsisches Kommunalrecht, o. Fn. 8, Rz. 199.

Entwicklungen, Gefährdungen, Chancen der kommunalen Selbstverwaltung

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Gebietskörperschaften, ihre Zuständigkeiten und ihr Verfahren regeln.72 Ungeachtet manch landesgesetzlicher Verästelungen des Kommunalverfassungsrechts, das eines der wenigen Spielfelder bildet, die den Landesgesetzgebers verblieben sind, sind zwei Megatrends zu konstatieren.

a.

Direkte Demokratie in den Kommunen

Formen unmittelbarer Bürgerbeteiligung führten über Jahrzehnte in der alten Bundesrepublik ein Schattendasein in Baden-Württemberg. Die Kommunalverfassungen rezipierten das repräsentative System der Bundes- und Landesebene. Ein Schub in Richtung unmittelbarer bürgerschaftlicher Beteiligung in Sachfragen ging von den Umständen der Wende in der damaligen DDR aus. Eine unmittelbare Folge der ebenso friedlichen wie machtvollen Bürgerrevolution war die Aufnahme von Bürgerantrag, Bürgerentscheid und Bürgerbegehren in § 18 des Gesetzes über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR vom 17. Mai 199073. Diese Instrumente der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene wurden nicht nur durchweg in die Kommunalverfassungsgesetze der sich im Oktober 1990 bildenden fünf neuen Bundesländer übernommen und weiter ausgestaltet.74 Weniger als ein Jahrzehnt dauerte es, bis auch alle westdeutschen Flächenländer die Instrumente des Bürgerbegehrens und des Bürgerentscheids auf der Gemeindeebene eingeführt hatten.75 Für die Kreisebene ist allerdings bis heute in Baden-Württemberg (!), Hessen und Thüringen diese Form der Bürgerbeteiligung nicht eröffnet. Nach zwei Jahrzehnten Anwendungserfahrung sind eine Vielzahl offener Fragen insbesondere an die Fragestellung, die Begründungsintensität und den in der Regel notwendigen Aussagen zu den Kosten des Vorschlags inzwischen einer gerichtlichen Klärung zugeführt worden. Die direktdemokratischen Elemente ersetzen nicht den auch auf kommunaler Ebene geltenden Grundsatz der re72 Bundesweiter Überblick bei Ipsen, § 24 in Mann/Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 1, 3. Aufl., 2007; zur Entwicklung der Kreisverfassungssysteme vgl. dort Meyer, § 25. 73 GBl. DDR I S. 255; vgl. dazu Plate, Rz. 1ff. zu § 18 in Schmidt-Eichstaedt/Petzold/Melzer/ Penig Plate/Richter, Gesetz über die Selbstverwaltung der Gemeinden und Landkreise in der DDR, 1990. 74 Exemplarisch vgl. § 20 KV M–V, dazu Glaser, Rz. 1ff. in Darsow/Gentner/Glaser/Meyer (Hrsg.), Schweriner Kommentierung der Kommunalverfassung des Landes MecklenburgVorpommern, 4. Aufl., 2014. 75 Vgl. den Überblick bei Neumann in HKWP, o. Fn. 72, § 18 Rz. 15 ff; zu Vorzügen und Nachteilen sowie praktischen Erfahrungen vgl. die Beiträge von Hendler, S. 101 ff und Erbguth, S. 115ff. in Henneke (Hrsg.), Aktuelle Entwicklungen der inneren Kommunalverfassung, 1995.

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präsentativen Demokratie, sondern ergänzen ihn.76 Eine ständige Herausforderung bleibt gleichwohl, die Balance zwischen den auf punktuelle Interessen gerichteten Anliegen insbesondere eines Bürgerentscheids einerseits und der Verantwortung der dem Gemeinwohl insgesamt verpflichteten Organe der Kommune andererseits gesetzgeberisch zu justieren. In besonderer Weise manifestiert sich diese Problematik an der Höhe eines (Mindest)Zustimmungsquorums als Nachweis gesellschaftlicher und politischer Akzeptanz des verfolgten Anliegens.77 Dies wird auch an der aktuellen Debatte um eine mögliche Absenkung des Quorums in § 33 Abs. 3 S. 3 NKomVG deutlich.

b.

Direktwahl der Hauptverwaltungsbeamten

Noch bedeutsamer für das Binnengefüge der Verwaltungen wie für die Außenwahrnehmung der Kommunen ist der Siegeszug der Direktwahl der kommunalen Hauptverwaltungsbeamten. Sie ist nunmehr auf der Gemeindeebene in allen Bundesländern verankert, auf der Kreisebene nur noch nicht in BadenWürttemberg und nicht mehr in Schleswig-Holstein. Jörn Ipsen hat diese Entwicklung, die in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen mit der Abschaffung der Doppelspitze der Verwaltung einherging, sorgfältig begleitet und ihr – gemeinsam mit Janbernd Oebbecke – ein eigenständiges Bad Iburger Gespräch gewidmet.78 Die an britischem Vorbild79 orientierte Doppelspitze aus Gemeindedirektor/ Bürgermeister bzw. Oberkreisdirektor/ Landrat wurde vielfach als dysfunktional empfunden. Das Ausbleiben im Nachhinein geradezu befremdlich anmutender Befürchtungen in Folge der Umstellung haben Ipsen zur Abwandlung einer berühmten Sentenz von Otto Mayer veranlasst: »Kommunalverfassung vergeht, Kommunalverwaltung besteht«80. Die Urwahl der Hauptverwaltungsbeamten stärkt politisch deren Stellung im Gefüge der Verwaltungsorgane erheblich. Die Abhängigkeit der Amtsinhaber von den sie nominierenden Parteien, soweit sie überhaupt als Parteikandidaten antreten, ist gesunken. Vielmehr versuchen die Parteien, ihr angehörende Hauptverwaltungsbeamte als »Zugpferde« für den Kommunalwahlkampf zu nutzen, die umstrittene Synchronisierung der Amtszeiten in Niedersachsen dürfte maßgeblich durch dieses Motiv mit motiviert gewesen sein. Wie bei den 76 Vgl. dazu exemplarisch Wefelmeier, jew. Rz. 1ff. zu §§ 32 und 33 in Blum/Häusler/Meyer (Hrsg.), NKomVG, o. Fn. 14. 77 Überblick bei Neumann, § 18 Rz. 58f. in HKWP, o. Fn. 72. 78 Vgl. dazu Ipsen/Oebbecke (Hrsg.), Kommunalverfassung im Zeichen der Eingleisigkeit, 2002. 79 Vgl. dazu Ipsen, NdsVBl. 2010, 57ff. 80 Ipsen, S. 19 in Oebbecke/Ehlers/Schink/Diemert (Hrsg.), Kommunalverwaltung in der Reform, 2004.

Entwicklungen, Gefährdungen, Chancen der kommunalen Selbstverwaltung

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jüngsten Direktwahlen im Mai 2014 in Niedersachsen zu beobachten, werden erfolgreiche Amtsinhaber oftmals auch parteiübergreifend unterstützt.81 Eine politische Gleichgerichtetheit der Mehrheit in der Vertretung mit dem Hauptverwaltungsbeamten, wie sie von Befürwortern der Synchronisierung der Wahlzeiten erhofft wird, dürfte angesichts der eher von der Persönlichkeit der Bewerber geprägten Direktwahl kaum gesichert sein. Die Dominanz der Juristen in der Position des Hauptverwaltungsbeamten ist gebrochen. Konsequenterweise verzichten die Kommunalverfassungen heute weitgehend auf berufliche Vorqualifikationen der Bewerber. Eine Abkehr hiervon82 dürfte fachlich schwer zu begründen und politisch chancenlos sein. Ohne Zweifel ist damit das Amtsverständnis der heutigen Hauptverwaltungsbeamten politischer als in früheren Zeiten. Dies ist der Urwahl geschuldet. Gleichwohl führen die (Ober)Bürgermeister und Landräte heute oftmals eine große Verwaltung mit vielen nachgeordneten Einrichtungen. Der Hauptverwaltungsbeamte steht daher nicht nur vor Herausforderungen im politischen Management, sondern auch für einen rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichteten Verwaltungsvollzug. Auf der Kreisebene führt die Direktwahl der Landräte zum weiteren Zurückdrängen des staatlichen Einflusses und der Stärkung des Selbstverwaltungscharakters dieser Gebietskörperschaften.83 Eine Ungleichbehandlung bei der Wahl von Bürgermeistern und Landräten ist verfassungsrechtlich nicht gefordert und sachlich nicht geboten. Die in Schleswig-Holstein beschlossene Rückkehr zur indirekten Wahl der Landräte84 stärkt sicher die Position der Kreistage, schwächt aber eher die Position der Landkreise in der öffentlichen Wahrnehmung. Verfassungsrechtliche Hinweise auf eine differierende Selbstverwaltungsgarantie von Gemeinden und Landkreisen oder gar des unterschiedlichen Aufgabenbestandes vermögen85 jedenfalls nichts zur Legitimation einer Differenzierung beitragen.

81 So trat bei drei von vierzehn Landratswahlen (Landkreise Ammerland, Heidekreis, Leer) nur der Amtsinhaber mit breiter Unterstützung an; in Vechta und in Oldenburg (mit einer gesonderten kommunalpolitischen Situation) standen allein die jeweiligen Ersten Kreisräte zur Wahl. 82 Vgl. dazu noch Henneke, Der Landkreis 2003, 762, 767; a. A. bereits Ipsen, in Oebbecke/ Ehlers/ Schink/Diemert (Hrsg.), o. Fn. 80, S. 19, 26. 83 Nach Abschaffen der staatlichen Ernennung des Landrats im Saarland und Rheinland Pfalz bestehen nur noch in Baden-Würtemberg staatliche Ingerenzrechte, vgl. Meyer, § 25 Rz. 71 in HKWP, o. Fn. 76. 84 Vgl. § 43 Abs. 1 Kreisordnung S.-H. 85 Entgegen Schliesky/Luch/Neidert, Die Wiedereinführung der mittelbaren Wahl von Landräten, 2008, insb. S. 55 ff und 63ff.

102 c.

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Vereinheitlichungstendenzen und weitere Entwicklungen

Angesichts einer unübersehbaren Angleichung der Kommunalverfassungssysteme hat Jörn Ipsen schon im Jahr 2007 die Bundesländer auf einem Weg zu einem gemeindeutschen Kommunalverfassungsrecht gesehen.86 Ob es soweit kommen wird, bleibt abzuwarten. Tatsache ist, dass wesentliche Systemunterschiede nivelliert worden sind. Neben den bereits geschilderten Entwicklungen ist die Abschaffung der Magistratsverfassung in Schleswig-Holstein im Jahr 199587 zu erwähnen. Nur in Hessen (und Bremerhaven) halten sich Reste des Magistratsprinzips, also einer kollegialen Verwaltungsführung. Die Direktwahl des Bürgermeisters scheint mit dieser Konstruktion, die ihn in die Gefahr bringt, als Mitglied des Magistrats bzw. Gemeindevorstands überstimmt zu werden, nur schwer vereinbar.88 Der früher gern gepflegte Diskurs um die Etikettierung einer Kommunalverfassung89 hat sich weitgehend erübrigt. Tendenziell hat sich das Süddeutsche Kommunalverfassungsmodell mit einem monokratisch ausgestalteten Hauptverwaltungsbeamten als Ausführungsorgan neben der Vertretung durchgesetzt. Neben den beiden genannten Organen tritt in einer Reihe von Bundesländern ein beschließender Hauptausschuss mit im Einzelnen durchaus unterschiedlichen Kompetenzen. Prototyp ist der der niedersächsische Verwaltungs- und Kreisausschuss.90 Jörn Ipsen91 spricht deshalb mit guten Gründen von einer Entwicklung weg von einem Dualismus, hin zu einem Trialismus der Organe. Landesrechtliche Unterschiede im Kommunalverfassungsrecht finden sich heute eher »in der zweiten Reihe«. Dies gilt für die Stellung des Vorsitzenden der Vertretung, die Wahlzeit und Stellvertretung des Hauptverwaltungsbeamten, ob dieser Stimmrecht in der Vertretung und/oder im Hauptausschuss hat, soweit ein solcher existiert und vieles mehr, auf das hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden kann.92 Eine interessante Entwicklung für kommunalrechtlich Interessierte zeichnet sich hinsichtlich der gesetzestechnischen Einkleidung dieser Materie ab: Die im Bad Iburger Gespräch im Jahr 201093 diskutierte Ablösung der Gemeinde- und Kreisordnung, des Regionsgesetzes und des Göttingen-Gesetzes durch eine einheitliche integrative Kommunalverfassung in 86 87 88 89 90

Vgl. Ipsen, HKWP, o. Fn. 72, § 24 Rz. 291ff. Vgl. GVOBl. SH 1996, 33. Krit. dazu auch Lange, DÖV 2007, 820, 825; ders., Kommunalrecht, 2014, Kap. 3 Rz. 14. Aktuelle Übersicht dazu bei Lange, Kommunalrecht, Kap. 3 Rz. 1ff. Ausführlich dazu Wilkens, Verwaltungsausschuss und Kreisausschuss in Niedersachsen, 1992. 91 HKWP, o. Fn. 72, Rz. 302ff. 92 Rechtsvergleichend für Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vgl. dazu Meyer, NordÖR 2012, 475ff. 93 Vgl. Ipsen (Hrsg.), Das neue Kommunalverfassungsgesetz, 2011.

Entwicklungen, Gefährdungen, Chancen der kommunalen Selbstverwaltung

103

Niedersachsen94 hat binnen kurzem Nachahmung in Sachsen-Anhalt gefunden.95

III.

Gefährdungen

Gefährdungen der kommunalen Selbstverwaltung können rechtlicher wie faktischer Natur sein, soweit das Recht keinen hinreichenden (verfassungs)rechtlichen Schutz gewährleistet. Auch insoweit müssen ausgewählte Schlaglichter genügen.

1.

Unzureichender Schutz auf europarechtlicher Ebene?

Die interpretative Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen berührt eine Vielzahl von Sachgebieten, die nach deutschem Recht kraft Verfassung oder aufgrund einfachem Gesetzesrechts (auch) den Kommunen zur Wahrnehmung zugewiesen sind. Die allgemein für die nationale Gesetzgebung konstatierte »Omnipräsenz« des Gemeinschaftsrechts hat für die kommunale Selbstverwaltung ein Ausmaß erreicht, dass mit Recht von einer »Europäisierung« der in Art. 28 Abs. 2 GG normierten Selbstverwaltungsgarantie gesprochen werden kann.96 Art. 28 II Abs. 2 GG lässt sich nicht als verfassungsrechtliches Argument gegen die Anwendung europäischen Rechts in Stellung bringen, weil die Norm nach zutreffender Auffassung nicht »europafest« ist.97 Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Rolle der Kommunen als bloße Objekte und wehrlose Verwalter Europas aufgeworfen worden.98 Ein verbesserter, hinreichender Schutz der kommunalen Selbstverwaltung kann nur aus dem europäischen Primärrecht heraus selbst erfolgen.99 Ein erster ermutigender Schritt hierzu ist durch den Vertrag über die Euro94 Vgl. Nds. GVBl. 2010, 576. 95 Vgl. GVBl. LSA 2014 S. 288ff. 96 Zutr. Schmahl, DÖV 1999, 852; vgl. auch Schink, Eildienst LKT NW 1999, 517ff.; Steger, Die Gemeinde SH 2000, 242ff.; Hobe/Biehl/Schroeter, Europarechtliche Einflüsse auf das Recht der kommunalen Selbstverwaltung, 2004. 97 Vgl. bereits Schoch, S. 11, 18ff. in Henneke (Hrsg.), Kommunen und Europa – Herausforderungen und Chancen, 1999; aus neuerer Zeit nur Schaffarzik, § 14 Rz. 5 und Ruffert, § 38 Rz. 5, jew. HKWP, o. Fn. 72; Stern, NdsVBl. 2010, 1, 4; Mehde, Art. 28 Rz. 8 in Maunz/Dürig, GG, Kom., Stand November 2012, jew. m. w. N.; wenig überzeugend a. A. z. B. SchmidtEichstaedt, KommJur 2009, 249, 252. 98 Eine Formulierung von Knemeyer, BayVBl. 2000, 449ff. aufnehmend vgl. Meyer, NVwZ 2007, 20ff.; Blanke, 2010, 1333ff. 99 Ebenso Mehde, in Maunz/Dürig, o. Fn. 97, Art. 28 Rz. 8 m. w. N.

104

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päische Union in der Lissabon-Fassung vom 01. 12. 2009 erfolgt. Nach Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV achtet die Union die Gleichheit der Mitgliedsstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt. Dies ist als Ende der vielfach beklagten »Kommunalblindheit«100 Europas gewertet worden. Sie stellt zwar kein Art. 28 Abs. 2 GG vergleichbares subjektives Abwehrrecht dar, bildet aber eine negative Kompetenzausübungsschranke: Der Union ist es verwehrt Maßnahmen zu ergreifen, die zu einer Nichtachtung der nationalen Identitäten der Mitgliedsstaaten führen.101 Kein Geringerer als Klaus Stern102 hat interpretationstechnisch eine Parallele zum Kernbereichsschutz des Art. 28 Abs. 2 GG gegenüber dem nationalen Gesetzgeber gezogen. Ganz sicher sind die europarechtlichen Gefährdungen der kommunalen Selbstverwaltung deutscher Prägung damit nicht vom Tisch. Aber es ist ein erster wirksamer Schutzwall errichtet.

2.

Gefahr staatlicher Überregulierung

Kennzeichnend für das Recht der Selbstverwaltung ist die Eigenverantwortlichkeit des Verwaltungsträgers. Es realisiert sich das Prinzip der Dezentralisation, welches Autonomie verlangt. Die Kommunen haben nach Art. 28 Abs. 2 GG die Befugnis zur eigenverantwortlichen Regelung und Erledigung der überantworteten Aufgaben. Im Rahmen des verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehaltes sollen die Kommunen frei von Zweckmäßigkeitserwägungen anderer Hoheitsträger agieren können.103 Diese verfassungsrechtlichen Determinanten begrenzen z. B. die Kommunalaufsicht auf eine Rechtsaufsicht, die sich nicht zur Einmischungsaufsicht verdichten darf.104 Gleichwohl gibt es rechtliche Einfallstore zum Zurückdrängen der kommunalen Eigenverantwortlichkeit, die von interessierter Seite entsprechend genutzt werden. Als ein solcher Zugang zum Zurückdrängen der kommunalen Eigenverantwortung hat sich beispielsweise die Auslegung der kommunalen Organisationshoheit erwiesen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung räumt dem staatlichen Gesetzgeber eine weitgehende Befugnis ein, die Organisationsstrukturen nach seinen Vorstellungen zu regeln. Die Organisationshoheit sei von 100 101 102 103

Exemplarisch vgl. nur Ruffert, HKWP, o. Fn. 72, § 38 Rz. 5. Schwind, S. 133, 136f. in FS Schmidt-Jortzig, o. Fn. 5. NdsVBl. 2010, 1, 6. Schoch, S. 11, 43 in Henneke/Meyer (Hrsg.), Kommunale Selbstverwaltung zwischen Bewahrung, Bewährung und Entwicklung, 2006, m. w. N. 104 BVerfGE 78, 331, 342.

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105

vornherein nur relativ gewährleistet,105 ein Verständnis, für das der Wortlaut der Verfassung jedenfalls keinen Ansatzpunkt bietet. Ein anderes Stichwort bildet die Bundesauftragsverwaltung. Sie bildet die Durchbrechung des in Art. 83 GG fixierten Grundsatzes, dass die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen. Die Bundesauftragsverwaltung bietet die Gewähr, in staatsrechtlich elementaren Fragen einen einheitlichen Vollzug des Bundesrechts zu sichern. Tatsächliche Bedeutung erlangt sie aber über die Vorschrift des Art. 104 a Abs. 3 GG, wonach bei Geldleistungsgesetzen, bei denen der Bund die Hälfte der Ausgaben oder mehr trägt, der Gesetzesvollzug in Bundesauftragsverwaltung umschlägt. Nach dem herrschenden Verständnis dieser Norm kann sich der Bund auch bei sog. Mischgesetzen106 zwischen Sach- und Geldleistungen mit einer nur hälftigen Ausgabentragung des Geldleistungsanteils die Gestaltungsmacht über die Gesamtausführung eines Gesetzes »erkaufen«107. Diese Gefahr besteht insbesondere bei kostenträchtigen Sozialgesetzen, deren Vollzug seitens der Bundesländer wiederum auf die Kommunen übertragen wurde. Das komplexe Instrument der Bundesauftragsverwaltung ist zugeschnitten auf das Durchsetzen von Bundesinteressen gegenüber politisch »renitenten« obersten Landesbehörden, darf aber nicht die Schleuse öffnen, an den Ländern vorbei bis in die Sachbearbeitung kommunaler Behörden hineinzuregieren. Der 70. Deutsche Juristentag hat sich daher für das Streichen der systemwidrigen Regelung in Art. 104 a Abs. 3 Satz 2 GG ausgesprochen,108 ob der Bund sich darauf einlässt bleibt indes abzuwarten.

3.

Aushöhlen der finanziellen Grundlagen

Die Kommunen, insbesondere die Landkreise und kreisfreien Städte, sind überwiegend Träger der großen öffentlichen Fürsorgeleistungen Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe für Behinderte und der Grundsicherung für Arbeitssuchende sowie Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Die Aufgaben sind durchweg vor Greifen der oben beschriebenen neueren verfassungsrechtlichen Schutzmechanismen übertragen worden. Die daraus resultierenden finanziellen Lasten dominieren die kommunalen Haushalte.109 105 Ausdrücklich BVerwG, Beschluss v. 14. 09. 2006–9 B 2.06 – KStZ 2007, 72, 73, unter Bezug auf BVerfGE 91, 228, 240. 106 Dazu Henneke, Der Landkreis 2013, 304, 307. 107 Plastisch Henneke, Rz. 34 zu Art. 104a, in Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, o. Fn. 20. 108 70. Deutscher Juristentag Hannover 2014, o. Fn. 25 These 6c. 109 Zahlen zu den einzelnen kommunalen Ebenen bei Henneke, 70. Deutscher Juristentag 2014, Abteilung Öffentliches Recht, Referatsbegleitendes Datenmaterial, Tabellen 6 und 7.

106

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Die Mehrzahl der Kommunen profitiert augenblicklich von der äußerst erfreulichen konjunkturellen Entwicklung der letzten Jahre.110 Dies darf nicht dazu führen, die strukturellen Gefährdungen aus den Augen zu verlieren. Die kommunale Finanzhoheit als Bestandteil der Selbstverwaltungsgarantie der Gemeinden und Landkreise umfasst nach zutreffender Auffassung auch die Gewährleistung einer angemessenen finanziellen Mindestausstattung. Die Landesverfassungsgerichte haben überwiegend einen solchen Anspruch grundsätzlich bejaht, ohne freilich stets die stringenten Konsequenzen daraus zu ziehen.111 Vielmehr haben etliche Verfassungsgerichte außerhalb des Kernbereichs den Anspruch auf eine aufgabengerechte Finanzausstattung dadurch relativiert, dass sie es für zulässig erachten, den sog. Grundsatz der Verteilungssymmetrie zur Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit des Landes zur Anwendung zu bringen.112 Dieser Grundsatz verträgt sich aber nicht mit der verfassungsrechtlichen Finanzgarantie der Kommunen, denn er ermöglicht es Mitspielern, nämlich den Ländern, die ihre Regeln autonom (mit)bestimmen können, die Kommunen in ein fremdbestimmtes Korsett zu zwängen. Zusätzliche Relevanz erhält die Diskussion um die finanzielle Mindestausstattung durch die in Art. 109 Abs. 3 GG iVm Art. 109 a und Art. 115 GG eingeführte Schuldenbremse des Grundgesetzes.113 Die Kommunen werden weder auf Ebene des Bundes- noch des Landesverfassungsrechts erwähnt, obwohl ihre Verschuldung ebenso wie die der Sozialversicherungsträger in die Berechnung der bundesdeutschen Gesamtverschuldung zur Überprüfung der sog. Maastricht-Kriterien einbezogen werden. Dies führt zu einer offenen Flanke eines möglichen Verschiebens von finanziellen Lasten der Länder auf die Kommunen.114

110 Zur Entwicklung der Kreisfinanzen zuletzt Wohltmann, der Landkreis 2014, 314ff. 111 Vgl. aus neuerer Zeit nur LVerfG MV, LVerfGE 22, 285, 288f.; grundlegend ThürVerfGH, NVwZ-RR 2005, 665 ff; bestätigend U. v. 02. 11. 2011, BeckRS 2011, 25477 S. 14; HessStGH, NVwZ 2013, 1151, 1153; sich dem für das Bundesverfassungsrecht anschließend BVerwGE 145, 378, 384; dezidiert a. A. allerdings VerfGH NW, DVBl. 2011, 1155; umfassend die Darstellung der neueren Rechtsprechung bei Henneke, o. Fn. 21, S. 331ff. 112 In jüngerer Zeit ThürVerfGH, ThürVBl. 2010, 152, 152f.; SächsVerfGH, Der Landkreis 2010, 104, 105; vgl. ferner NdsStGH, NdsVBl. 2010, 236, 239; LVerfG MV, KommJur 2010, 292, 296. 113 Instruktiv und unterhaltsam zu den Hintergründen ihrer Einführung Henneke, Der Landkreis 2013, 290, insb. 294 ff; ferner ders., Der europäische Fiskalpakt und seine Umsetzung in Deutschland, 2013. 114 Näher dazu Meyer, S. 31ff. in Schöneburg u. a., Verfassungsfragen in Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, 3013.

Entwicklungen, Gefährdungen, Chancen der kommunalen Selbstverwaltung

4.

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Schwächung der inneren kommunalen Strukturen

Seit vielen Jahren wird die Beteiligung an den allgemeinen Wahlen insgesamt, in den Kommunen aber im Besonderen, kritisch hinterfragt. Hier scheint sich der Trend zu manifestieren, eröffnete Partizipationsmöglichkeiten nur bei besonderer persönlicher Betroffenheit auch wahrzunehmen. Auf der anderen Seite stellt das gewinnen qualifizierter Bewerber für die ehrenamtliche Kommunalpolitik stellt eine echte Herausforderung dar. Die Politik sollte deshalb nicht nur den Stellenwert des Ehrenamtes soweit wie möglich fördern. Sie sollte auch dysfunktionale Entwicklungen im Kommunalverfassungsrecht und den Eindruck der politischen Beliebigkeit des Wahlrechts auf kommunaler Ebene vermeiden. Wenn die Stellung fachlich unabhängiger Gleichstellungsbeauftragter weiter gestärkt, neue Pflichtgremien für Anliegen bestimmter Politikbereiche geschaffen oder die Hürden für verbindliche Bürgerentscheide gesenkt werden, sind die Rückwirkungen auf die Arbeit der Vertretungen zu beachten, die eine politische Gesamtverantwortung für das Gemeinwohl wahrnehmen. Anlass zu mahnenden Worten bietet insoweit aber insbesondere der Umgang mit der Stellung und Wahl der Hauptverwaltungsbeamten. Der Gebietskörperschaft Kommune schadet es, wenn man versucht, einzelne ihrer Organe durch partielle gesetzgeberische Eingriffe zu schwächen oder ihr Zusammenspiel zu verkomplizieren. Gefordert sind eine klare Kompetenzabgrenzung und der wechselseitige Respekt für die Zuständigkeit des anderen Partners.115 Kritisch zu bewerten ist vor diesem Hintergrund zum Beispiel die zum Teil gegen den massiven Widerstand der kommunalen Spitzenverbände vorgenommene neuerliche Verkürzung der Wahlzeiten auf diejenige der Vertretungen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. In beiden Ländern wird noch für eine längere Amtsdauer gewählten Inhabern der kommunalen Spitzenposition die Option eröffnet, ihr Amt anlässlich der nächsten allgemeinen Kommunalwahlen vorzeitig niederzulegen. Hier ist nicht der Ort, die inhaltliche Diskussion erneut aufzunehmen.116 Man muss auch nicht so weit gehen, durchgreifende verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Ausgestaltung des Art. 5 Abs. 5 des Gesetzes zur Stärkung der kommunalen Demokratie (!) in Nordrhein-Westfalen und in § 80 Abs. 8 und 9 NKomVG zu hegen.117 Permanente Änderungen des Wahlrechts erwecken aber den Eindruck politischer Beliebig- und Gestaltbarkeit. Dies ist der kommunalen Selbstverwaltung sicher nicht förderlich.

115 Vgl. dazu bereits Meyer, DVP 2013, 53ff. 116 Vgl. dazu NLT-Information 5/2013, 128ff. 117 So aber Henneke, NdsVBl. 2014, 145, 150ff.

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IV.

Chancen

1.

Mut zur Aufgabenübertragung / -wahrnehmung

Die oben118 geschilderte Übernahme der Grundsicherung für Arbeitssuchende entweder in gemeinsamer Verantwortung mit der Bundesagentur und erst Recht als allein verantwortliche Optionskommune zeigt am deutlichsten die den Kommunen eröffneten Chancen zur weiteren Aufgabenverantwortung. Die damit verbundenen Auseinandersetzungen verdeutlichen aber auch die Schwierigkeiten: Es geht oftmals am wenigsten um die Frage, kann eine Kommune eine Aufgabe fachlich wahrnehmen. Tatsächlich steht im Mittelpunkt darf/ soll sie die Verantwortung übertragen bekommen, was mit Steuerungs- und Einflussverlust an anderer Stelle verbundenen ist. Und das SGB II-Beispiel verdeutlicht, dass die kommunale Landschaft vielfältig ist. Nicht jeder will zusätzliche Verantwortung übernehmen. Unterschiedlich mutig haben sich die Landesgesetzgeber darin gezeigt, den Kommunen weitere Aufgaben zu übertragen. Die bedeutendste Funktionalreform der vergangenen Jahrzehnte ist aus Baden-Württemberg zu vermelden. Durch das Verwaltungsstruktur-Reformgesetzes (VRG)119 wurden rund 350 zuvor staatliche Verwaltungseinheiten mit Wirkung zum 1. Januar 2005 aufgelöst. Die Aufgaben der vormaligen Schul-, Landwirtschafts-, Versorgungs-, Forst-, Vermessungs-, Flurneuordnungs-, Straßenbau- und Gewerbeaufsichtsämter sowie der Gewässerdirektionen wurden überwiegend den 35 Landratsämtern der Landkreise und neun Bürgermeisterämtern der Stadtkreise übertragen. Wesentliche Aufgaben der ebenfalls aufgelösten beiden vorherigen Landeswohlfahrtsverbände, beispielsweise die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen, wurden ebenfalls direkt den Stadt- und Landkreisen zugewiesen.120. Etwa 12.000 ehemalige Mitarbeiter der Landesverwaltung wechselten zu den Landratsämtern und 300 zu den Stadtkreisen. Auch aus Sachsen und mit gewissen Abstrichen aus Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt sind nennenswerte Aufgabenübertragungen auf die Kreisebene zu berichten.121 Thematisch kristallisieren sich insbesondere die Themenfelder Jugend- und Sozialhilfe sowie der Umweltschutz mit all seinen Facetten als Schwerpunkte heraus. Ob Aufgaben des Landes auf die Kreisebene übertragen werden ist in erster Linie eine politische, 118 Unter II 1 d. 119 Vom 01. 07. 2004, GBl. BW S. 469ff. 120 Zu weiteren Einzelheiten der Reform vgl. auch Kibele, VBlBW 2005, 14; Schenk, VBlBW 2006, 228; erste Bilanz ziehend vgl. Trumpp, in: Henneke/Meyer (Hrsg.), o. Fn. 103, S. 209, insb. 215ff. 121 Vgl. im Einzelnen die Übersicht bei Meyer, ZG 2013, 264ff.

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keine fachlich determinierte Entscheidung. Das Gelingen hängt vom politischen Willen Weniger und der Organisation des Prozesses ab. Andere Aufgaben sind den Kommunen in den letzten Jahrzehnten in Folge des gesellschaftlichen Wandels zugewachsen. Hierfür steht exemplarisch die Kinderbetreuung. Bildete im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrtausends noch die Frage eines hinreichenden Angebotes von Betreuungsmöglichkeiten im Kindergarten die kommunalpolitische Herausforderung, erstreckt sich dies nunmehr auch auf die jüngsten Einwohnerinnen und Einwohner. Allen Unkenrufen zum Trotz wurde auch der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz zum 01. 08. 2013 weitgehend geräuschlos umgesetzt.122 In jüngster Zeit zeichnet sich die Erschließung der Fläche mit einem schnellen Internetangebot als neue kommunale Herausforderung ab. Der adäquate Zugang zur digitalen Welt muss heute als ein grundlegender Bestandteil der gesellschaftlichen Teilhabe angesehen werden. Soweit sich weder die auf dem Markt tätigen Telekommunikationsunternehmen noch der Staat in der Lage sehen, einen flächendeckenden Ausbau eines Breitbandnetzes zu gewährleisten, stellen sich die Kommunen aus Sorge um die Infrastruktur der Zukunft sich dieser eigentlich nicht örtlich verwurzelten Aufgabe.

2.

Mut zur Stärkung der Autonomie / zur eigenen Verantwortung

Sollen den Kommunen Aufgaben übertragen werden, pflegen Landesregierung und Landesgesetzgeber anzukündigen, vorrangig eine Übertragung in den eigenen Wirkungskreis der Kommunen vornehmen zu wollen. In der Regel verbleibt es bei diesem guten Vorsatz. Die vermuteten positiven Effekte äußerer Einwirkungsmöglichkeiten einer Weisung im übertragenen Wirkungskreis erscheinen offenbar zu verlockend. In der Verwaltungspraxis wird von diesen Weisungsmöglichkeiten weniger Gebrauch gemacht, als es auch in der Rechtswissenschaft vermutet wird. Das mangelnde Zutrauen der Gesetzgeber in die Selbstverwaltungsmechanismen der Kommunen ist zu beklagen. Staatliche Einwirkungs- und Aufsichtsmöglichkeiten sind bei Weitem nicht so effizient wie die thematische Befassung in den Selbstverwaltungsgremien und die damit hergestellte Verantwortung und Transparenz. Fast noch wichtiger als der rechtliche Rahmen ist die faktische Möglichkeit der eigenen Aufgabenwahrnehmung. Die kommunale Ebene benötigt eine hinreichende, auch autonom zu gestaltende Finanzausstattung. Dies gilt auch für die allein am Tropf des Länderfinanzausgleichs und über die Kreisumlage der Gemeinden und Städte hängenden Landkreise. Es ist bizarr, dass die 2013 über 122 Exemplarisch vgl. für Niedersachsen dazu Meyer/Henke, Der Landkreis 2012, 681ff.

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aufaddierte Einnahmen in Höhe von 56,42 Mrd. Euro verfügenden Landkreise über einen (abnehmenden Jagd)Steueranteil von 0,01 Mrd. Euro123 verfügen. Vor diesem Hintergrund hat sich der 70. Deutsche Juristentag (erneut) dafür ausgesprochen, der Kreisebene als zentralen Träger von Sozialleistungen eine eigene bedarfsorientierte Beteiligung am Umsatzsteueraufkommen zuzuweisen.124 Derselbe Juristentag hat sich, nach zum Teil sehr kontroverser Diskussion und Widerstand gerade aus dem gemeindlich/städtischen Raum, auch für eine Stärkung der in Art. 28 Abs. 2 GG angelegten Steuerautonomie der Gemeinden ausgesprochen. Den Gemeinden solle nach Maßgabe von Art. 106 Abs. 5 Satz 3 GG durch Bundesgesetz ein Hebesatzrecht auf die Einkommenssteuer eröffnet werden. Auf diese Weise ließen sich Defizite der Gewerbesteuer abmildern, die aufgrund ihrer Volatilität und der großen Aufkommensstreuung zwischen den Kommunen die Aufgabengerechtigkeit und Planbarkeit der kommunalen Finanzausstattung nicht hinreichend gewährleiste.125 Nicht wenige gerade kommunale Vertreter befürchteten, die zugedachte Autonomie werde zu einer weiteren Verzerrung zwischen den im Standortwettbewerb stehenden Kommunen beitragen. Eine nachdenklich stimmende Resonanz, die – aus welchen Gründen auch immer – etwas über das Streben nach Selbstverwaltungsautonomie durch die betroffenen Akteure aussagt.

3.

Kommunen als politische Heimat in einer globalisierten Welt

Bemerkenswerterweise haben sich die vielfach beschriebenen Megatrends einer Europäisierung der bundesdeutschen Politik und die Globalisierung keinesfalls zu einer Schwächung der deutschen kommunalen Selbstverwaltung geführt. Joachim Wieland, einer der profundesten Kenner der kommunalen Selbstverwaltung und des deutschen Staatsrechts, hat vor kurzem festgestellt: Je mehr Entscheidungen auf die aus Sicht der Bürger deutlich weiter entfernteren Organe der Europäischen Gemeinschaft verlagert würden, desto wichtiger werde die demokratische Mitwirkung auf gemeindlicher und kreislicher Ebene. Hier erlebten die Bürger demokratische Selbstverwaltung unmittelbar. Sie sähen, dass sie sich einbringen könnten und dass ihre gewählten Vertreter Entscheidungen träfen, die auf ihr Leben unmittelbar Einfluss hätten. Die stärkere europäische Integration stelle also keine Bedrohung, sondern eine Chance für die Kommu-

123 Angaben nach Wohltmann, Der Landkreis 2014, 314, 318 und 347f. 124 70. Deutscher Juristentag Hannover 2014, o. Fn. 25, These 13. 125 70. Deutscher Juristentag Hannover 2014, o. Fn. 25, These 12.

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111

nen dar.126 Besser formulieren hätte es auch kein Vertreter eines kommunalen Spitzenverbandes können und wollen.

V.

Fazit

»60 Jahre, doch ein bisschen leise: Die grundgesetzlich garantierte Selbstverwaltung.« So titelte Hans-Günter Henneke127 einen Beitrag aus Anlass der unterschiedlichen Würdigung des 60. Jahrestages des Inkrafttretens des Grundgesetzes, bei der er die kommunale Selbstverwaltung ein wenig in den Hintergrund gedrängt sah. Man kann es auch positiv sehen: es besteht kein Anlass zu lautem Klagen. Die vor 30 Jahren geäußerte These, die kommunale Selbstverwaltung leide an einer »schleichenden Aushöhlung«, an »fortschreitender Auszehrung«128, hat sich als nicht belastbar erwiesen.129 Die kommunale Selbstverwaltung ist im Grundgesetz nicht nur in Art. 28 Abs. 2 gefestigt, sondern hat auch normativ Spuren an anderen Stellen der Verfassung hinterlassen. Die Föderalismusreformen haben die Selbständigkeit der Länder gestärkt, die Kommunen ihren Stellenwert in den Landesverfassungen insbesondere im Hinblick auf die finanziellen Folgen neuer Aufgaben ausgebaut. Dies trägt dazu bei, dass sie heute eine wesentliche Säule im zweigliedrigen Bundesstaat bildet, der sich durch eine kommunale und zwei staatliche Vollzugsebenen auszeichnet. Die prägenden Aufgaben des Sozialstaates von der frühkindlichen Betreuung und Bildung bis zur Pflege im Alter befinden sich maßgeblich in kommunaler Verantwortung. Wichtig aber bleibt, die Kommunen nicht nur als dezentrale Verwaltungsebene, sondern als autonome Selbstverwaltungskörperschaften zu sehen. Sie können und sollen die Potentiale vor Ort zur Lösung der jeweiligen Aufgaben bestmöglich aktivieren. Dies setzt die Akzeptanz unterschiedlicher Wege zum Ziel voraus. Die Gesetzgeber sind aufgefordert, die notwendigen Spielräume zu schaffen und zu achten. Günter Püttner hat die Funktion der Kommunen als »Keimzelle der Demokratie« betont. Er würdigt insbesondere die ehrenamtliche Mitwirkung von über 100.000 Mandatsträgern auf der kommunalen Ebene. Dadurch werde die Demokratie nicht nur breiter, farbenreicher und im besten Sinne des Wortes bürgernäher. Sie werde auch in einem ganz anderen Maße getragen als bei einer zentralistischen Struktur.130 Dem ist nichts hinzuzufügen. 126 Wieland, Der Landkreis 2014, 113, 117. 127 Der Landkreis 2009, 399ff. 128 So Blümel, S. 265, 276f. in von Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, FG von Unruh, 1983. 129 Gegen die These vom Funktionsverlust auch Ipsen, Nds. Kommunalrecht, o. Fn. 8, Rz. 37. 130 Püttner, HKWP, o. Fn. 72, § 19 Rz. 24ff.

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Hubert Meyer

Genau darin liegt ihre Chance und ihre Perspektive. Deswegen konnte aus kommunaler Sicht das Motto des 25. Bad Iburger Gesprächs, das Ehrensymposium für Jörn Ipsen, kaum treffender lauten als »Demokratie und Selbstverwaltung – Selbstverwaltung in der Demokratie«.

Diskussion (3. Teil)

Hartmann (Diskussionsleitung): Vielen Dank, Herr Meyer, für Ihren gründlichen Bericht. Sie haben ausführlich über die Entwicklung kommunaler Selbstverwaltung referiert. Aus dem Verfassungsrecht haben Sie – ich hebe das mal heraus – die aktuelle Entscheidung über Optionskommunen nach Art. 91e Abs. 2 GG benannt und haben über das Konnexitätsgebot aus den Landesverfassungen geredet. Das Kommunalwahlrecht für Ausländer mussten Sie aus Zeitgründen auslassen, obwohl es ja zu unserem Oberthema auch gepasst hätte. Sie haben über kommunale Strukturen gesprochen, über die Flächengebietsreform, über die direkte Demokratie in den Kommunen und haben dann auch noch die Gefährdungen und die Chancen behandelt. Dazu gibt es bestimmt eine Reihe von Fragen. Ich lade Sie ein und habe zunächst Herrn Oebbecke, dann Herrn Hufen und dann Herrn Starck auf meiner Liste. Oebbecke (Universität Münster): Herr Meyer, das war ein, wie ich glaube, sehr gelungener Überblick und ich kann dem eigentlich fast vollständig zustimmen. Ich will nur an zwei Stellen vielleicht auf Fehlstellen hinweisen. Die eine ist bei Gefährdungen, das ist doch relativ typisch, es wird in der Diskussion der organisierten Kommunalpolitik doch gerne übergangen, dass wir es mit einem zunehmenden Mangel an Personen zu tun haben, die bereit sind, sich den Aufgaben zu unterziehen. Das Problem verschwindet ja nicht dadurch, dass man es verschweigt. Wir haben eigentlich eine Tradition, dass man vor Ort die Einzelnen auch mit Zwang anhalten kann, sich zu beteiligen. Reste davon kennen wir im Wahlrecht. Da muss man gute Gründe vorweisen, wenn man nicht im Wahllokal mithelfen will, wenn man einmal dafür ausgeguckt ist. Wir haben das aber sonst sehr stark zurückgefahren. Wir haben natürlich auf der anderen Seite das Problem, dass die Rekrutierung sehr stark in den Händen der Parteien liegt, die nicht im besten Zustand sind. Da haben wir auf die Dauer eine Gefährdung, die, glaube ich, sehr ernst zu nehmen ist. Man kann das vielleicht damit auffangen, indem man Gremiengrößen zurückfährt. Mir kann niemand erklären, warum bei derselben Gemeindegröße in Nordrhein-Westfalen die Räte heute ein

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Diskussion (3. Teil)

Drittel größer sind als 1970. Aber das Problem wird bleiben und da wird man sich auf die Dauer etwas einfallen lassen müssen. Ich sehe momentan noch nicht was. Das Zweite ist ein finanzieller Punkt: Die Kommunen brauchen Geld. Sie haben das ja auch – wie ich fand – für die Verhältnisse eines Vertreters eines Spitzenverbandes sehr zurückhaltend angesprochen heute. Selbstverwaltung kostet auch Geld. Ich frage mich inzwischen, ob man den Art. 28 Abs. 2 GG auch so verstehen kann, dass man sagt, die kommunale Selbstverwaltung ist ein Freibrief dafür, unnötig Geld auszugeben. Ich will sagen, worum es mir geht. Wir haben in Nordrhein-Westfalen 430 Kommunen und angeblich etwa 250 Datenverarbeitungsdienstleister. Mir hat ein Landrat erzählt, wenn Kommunalwahl ist, dann sitzen die abends in der Kreisverwaltung und versuchen, die Wahlergebnisse zusammenzubekommen von insgesamt 13 verschiedenen Datenverarbeitungssystemen. Es handelt sich exakt um dieselbe Aufgabe. Das ist ja nicht nur hier im Wahlrecht der Fall, sondern in weiten Bereichen, die auch alle nicht so furchtbar politiknah sind. Da wird man sich auf Dauer etwas einfallen lassen müssen, weil man das nicht rechtfertigen kann. Man kann das auch deshalb nicht rechtfertigen, weil die kommunalen Sparkassen vorgemacht haben, wie es anders geht. Die haben inzwischen für ungefähr 400 Sparkassen in der Bundesrepublik nur noch einen einzigen Dienstleister und sie sparen nach eigenem Bekunden damit viele Millionen im dreistelligen Bereich ein. Ich sehe jetzt auch im Moment noch nicht, wie man diesen Zustand, den wir bei den Kommunen haben, beendigen kann. Wir haben ja Probleme, es gibt dieses Rastede-Urteil, wo das Bundesverfassungsgericht ganz fahrlässig mal gesagt hat, ich darf nicht eingreifen, um Geld zu sparen. Das ist in einer Welt mit begrenzten Ressourcen ziemlich mutig, finde ich. Da muss man nochmal drüber nachdenken. Dass die Kommunen das freiwillig hinkriegen, halte ich aber auch für unwahrscheinlich. Da haben wir sicher Handlungsbedarf. Hartmann: Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit nehmen wir jetzt noch die beiden anderen Wortmeldungen hinzu. Die nächste kommt von Herrn Hufen. Hufen (Universität Mainz): Es ist bemerkenswert, ich hatte genau den gleichen Aufhänger auf meinem Zettel, mit welchem Herr Oebbecke auch angefangen hat. Ich weiß nicht, wie es in Niedersachsen ist, aber in Rheinland-Pfalz haben wir inzwischen eine dreistellige Zahl von Gemeinden, wo es nicht möglich ist, Kandidaten für Gemeinderäte und Bürgermeister zu finden. Meine Frage ist, womit das zusammenhängt? Hat es vielleicht damit zu tun, dass die Selbstverwaltung eben keine Selbstverwaltung der Bürger ist, sondern Teilhabe am Staat. Ich habe seitdem ich mich mit dem Thema beschäftige immer gesagt, es gibt zwei Konzeptionen: Selbstverwaltung von oben, d. h. also Teilhabe an örtlichen

Diskussion (3. Teil)

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Gegebenheiten und Angelegenheiten der Gemeinschaft, oder Teilhabe von unten, echte Selbstverwaltung sich selbst verwaltender – da möchte ich hinzufügen – Grundrechtsbürger. Ich habe in den vielen Jahren, in denen ich an der Universität bin, das Glück gehabt, 12 Jahre in Bayern zu sein, wo Selbstverwaltung von unten originär ist, es kommt von unten. Ich bin jetzt in einem Bundesland, in dem auch bis heute noch – in Rheinland-Pfalz – trotz aller teilweise preußischer Traditionen in der Verfassung die Selbstverwaltung der Gemeinden im Grundrechtsteil steht. Hat es vielleicht damit zu tun, dass wir uns angewöhnt haben, diese Konzeption der sich selbst verwaltenden Bürger für ein Märchen oder für Romantik zu erklären. In den anderen Bereichen gibt es auch das Phänomen, dass die Leute sich für ihre eigenen Angelegenheiten interessieren und dort sehr bereit sind, sehr engagiert sind, Tierschutz, Stuttgart 21 usw., aber wenn es darum geht, ganz allgemein zu handeln, für sich selbst zu handeln, sich selbst zu verwalten, da finden wir dann keine Ehrenamtlichen mehr, die das tun. Hat es vielleicht damit zu tun, dass wir doch zu einer etwas ursprünglichen Konzeption der Selbstverwaltung zurückkehren müssen? Hartmann: Vielen Dank. Herr Starck bitte. Starck (Universität Göttingen): Ich will es mit Rücksicht auf die fortgeschrittene Zeit kurz machen. Auch ich möchte etwas zur Finanzverfassung sagen. Dankenswerterweise haben Sie sehr viel über die bundesstaatlichen finanzverfassungsrechtlichen Probleme gesagt und zur niedersächsischen Verfassung relativ wenig. Wir haben in Niedersachsen eine sehr gut überlegte finanzverfassungsrechtliche Garantie. Einmal heißt es, dass ein Finanzausgleichsgesetz zu erlassen ist durch den Landtag. Da wird also zwischen den finanzschwachen und den finanzstarken Gemeinden und Kreise ausgeglichen. Es gibt aber noch eine weitere Garantie. Da steht drin, dass der Staat staatliche Aufgaben an die Gemeinden übertragen kann, wenn zugleich Regelungen über die Kosten getroffen werden müssen. Das ist lange Zeit überhaupt nicht beachtet worden. Dann hat der Staatsgerichtshof zweimal darüber entschieden und hat beide Male darauf hingewiesen, dass es zwei verschiedene Garantien sind, die man nicht einfach so zusammenfassen kann. Aber der Gesetzgeber hat sich, soweit ich das sehe, nie daran gehalten. Es gibt ein Finanzausgleichsgesetz, das etwas völlig anderes ist, als ein Kostenerstattungsgesetz. Die Kostenerstattung kommt in einem Paragraphen, glaube ich, vor, aber schon die Überschrift heißt nicht etwa Finanzausgleichsgesetz und Kostenerstattungsgesetz, sondern heißt nur Finanzausgleichsgesetz. Man weiß im Grunde nicht, woran man ist. Ich wollte das hier nochmal öffentlich sagen, weil das ja gedruckt wird und möglicherweise im Landtag doch nochmal Aufmerksamkeit erzielt.

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Diskussion (3. Teil)

Hartmann: Vielen Dank, Herr Starck. In Nordrhein-Westfalen, Sie haben es angesprochen, gibt es ein eigenes Gesetz, ein Konnexitätsausführungsgesetz, das genau diesen Fall regelt. Herr Meyer bitte. Meyer : Herzlichen Dank für die Zustimmung und die Nachfragen. Herr Oebbecke und Herr Hufen haben ja beide nochmal die Finger in die Wunde gelegt und gefragt, haben wir eigentlich noch genug Kandidaten und weiter gefragt, haben wir noch genug richtige Kandidaten für die Besetzung der Gremien. Ich hatte versucht, das anzudeuten, dass das aus meiner Sicht ein ernstes Problem ist. Herr Hufen, mir fehlt die Phantasie zu überlegen, wie können wir das ins Werk setzen, was sie hier als ursprüngliche Konzeption der Selbstverwaltung geschildert haben, um dem entgegenzuwirken. Das, glaube ich, ist eher schwierig. Den meisten, die sich bewerben, sind ja auch die feinen feinsinnigen staatsrechtlichen Unterschiede vom eigenen und übertragenen Wirkungskreis und dergleichen völlig fremd. Das muss man vielleicht auch nicht wissen, wenn man sich zur Wahl stellt. Einiges kriegt man mit, wenn man es dann abarbeiten muss. Ich glaube, wir müssen erstens zur Kenntnis nehmen, dass es einen gesellschaftlichen Trend gibt, sich zu engagieren, aber nicht über Parteien oder auf Dauer. Auch viele Wohlfahrtsorganisationen klagen über Nachwuchsprobleme, viele Feuerwehren klagen über Nachwuchsprobleme, man übernimmt nichts auf Dauer, sondern das Engagement ist punktuell und zielgerichtet und zeitlich begrenzt. Und das ist ein gesellschaftlicher Trend, der uns vor hohe Herausforderungen stellt. Deswegen meine mahnende Zwischenbemerkung jedenfalls zu sagen: bei allen wir befördern, auch im kommunal-verfassungsrechtlichen Sinne durch Elemente direkter Demokratie, die ich im Grundsatz begrüße; aber wir müssen auch darauf achten, dass es nicht dazu führt, dass man das Engagement derer, die sich auf Dauer bereitstellen unterläuft und konterkariert. Wenn es ernst wird, dann kommt ohnehin die Bürgerinitiative und schießt mich raus. Das ist ein ernstes Thema. Herr Oebbecke hat noch einmal das Thema Geld angesprochen. Ich habe seit 22 Jahren diese Funktion als Geschäftsführer eines kommunalen Spitzenverbandes. Ich bin ganz sicher, wenn ich dann nochmal gewählt werden sollte, wird es kein Jahr geben, in dem wir nicht über Geld klagen. Aber ich finde schon, dass wir auch nach außen deutlich machen müssen, dass es unterschiedliche Intensitäten und Situationen gibt, wo man nach Geld ruft. Ich finde, es ist immer sehr einfach zu sagen, im Moment haben wir zu wenig Geld, da muss Berlin etwas zur Verfügung stellen. Wir haben dafür gefochten, dass es Spielregeln gibt, wie Verantwortung wahrgenommen wird und wie diese Verantwortung finanziert wird. Meine Botschaft wäre, da sind wir ein beträchtliches Stück vorangekommen durch das Aufgabenrückholverbot und die landesverfassungsrechtlichen Konnexitätsregelungen. Ob das jetzt vor Ort reicht, muss man halt im Lande

Diskussion (3. Teil)

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austragen, das ist ein politischer Konflikt, den man austrägt in aller Regel. Das ist die Überleitung zu Herrn Starck, das ist der Konflikt um die Frage, ist der Finanzausgleich insgesamt hinreichend dotiert. Damit kann man sich auseinandersetzen mit dem Land. Wir haben – ich persönlich halte es für einen der größten Erfolge des letzten Jahrzehnts – die Konnexitätsprinzipien in den Landesverfassungen geschärft. Ich bin nicht sicher, ob wir darüber hinaus weitere Erfolge erzielen, wenn wir Konnexitätsausführungsgesetze erlassen, wie wir sie in anderen Ländern kennen, in Niedersachsen wird das auch diskutiert. Das kann sein, ich würde sagen, eher etwas unter der Kategorie, »nice to have« oder eben auch nicht. Dies ist aber nicht entscheidend für die Frage, wie wird das umgesetzt, sondern viel wichtiger ist, wir haben eine Vielzahl verfassungsrechtlicher Entscheidungen zu der Frage, ob man das Konnexitätsprinzip umsetzen muss. Wir haben also eine Praxis und wir haben eine Rückkopplung in die Politik und die Rückkopplung in die Politik ist enorm. Sie besteht darin, dass man sich in den Landtagen überlegen muss, können wir uns neue Gesetze leisten? Weil ein neues Gesetz bedeutet, es kommt so sicher wie das Amen in der Kirche die Frage der Konnexität seitens der Kommunen. Das führt z. B. dazu, dass wir bei der Frage des Ausbaus der Kinderbetreuung wir bei den Krippen etwa eine ganz andere Diskussion hatten, als bei den Kindertagesstätten in den 90er Jahren. Die Kindertagesstätten der 90er Jahre sind weitgehend von der kommunalen Seite finanziert worden. Die Krippen sind unter der Herkunft der Konnexitätsregelungen weitgehend jedenfalls mitfinanziert worden von der Landesebene. Das hat überhaupt den Ausbau bis zum 1. 8. 2012 ermöglicht. Insofern hat das geholfen. Das ist nicht immer wirkungslos. Wir sind jetzt in mehreren Bundesländern, jedenfalls auch in Niedersachsen, vor den Staatsgerichtshöfen, mit der Frage, wie es um die Umsetzung der Inklusion in Schulen steht. Da wird suggeriert, das sei Weltrecht, UN-Recht, da habe man gar kein nationales Gesetz und müsse keine Kosten regeln. Sie werden feststellen, dass das UN-Recht sehr unterschiedlich umgesetzt werden kann vom Landesgesetzgeber und diese unterschiedliche Umsetzung schlägt sich in der Tat auch in den Kosten nieder. Aber wir werden das anfechten oder auch nicht. Seitdem wir Klage erhoben haben in Niedersachsen vor dem Staatsgerichtshof, gibt es auch Verhandlungen auf der politischen Ebene. Vorher gab es die nicht. Ich bin kein Fan, der Urteile sammelt, ich möchte gerne, dass wir zu Lösungen kommen. Eine letzte Bemerkung noch zu dem, was Herr Starck angeführt hat, auch aus Praxis seiner doch sehr langen Verfassungsgerichtsbarkeit. Der niedersächsische Staatsgerichtshof hat den Kommunen bundesweit durch verschiedene Urteile geholfen, er hat uns aber nicht durchgängig geholfen. Sie haben auch eine Relativierung vorgenommen, mit der man nicht beim Konnexitätsprinzip, sondern beim allgemeinen Finanzausgleich gesagt hat, es gibt aber auch die Leiden des Landes und das Stichwort der Verteilungssymmetrie und des Vorbehaltes der

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Diskussion (3. Teil)

Leistungsfähigkeit des Landes. Das wird noch ein Thema sein, dass wir beide aus kommunaler Sicht bearbeiten müssen. Auch da sind wir dabei. Aber da nehme ich zur Kenntnis, dass die Landesverfassungsgerichtsbarkeit auch einen so starken Wunsch haben, dass es im Grunde nur noch politisch revidieren kann, indem man auch auf der Verfassungsebene etwas anderes klarstellt, wenn man will. Danke. Hartmann: Ich darf noch darauf hinweisen, dass sich genau zu dieser Frage der Konnexität im Zusammenhang mit der Inklusion an Schulen ein Beitrag in Ihren Tagungsunterlagen befindet. Sie finden darin das aktuelle Heft der Niedersächsischen Verwaltungsblätter, dessen Spitzenaufsatz genau dieser Frage gewidmet ist. Ich schaue noch einmal in die Runde und halte Ausschau, ob sich jemand meldet. Wir haben noch eine letzte. Wilkens (Landkreis Osnabrück) So kurz wie es geht. Ich möchte die Chance nutzen, da die Staatsrechtler und die Kommunalrechtler in einem Saal sitzen, was ja angesichts der Präsenz und des Anlasses von Professor Ipsen naheliegt. Herr Professor Möllers hat heute Morgen in einem Nebensatz angedeutet, dass es ja auch für den Bundestag nicht immer ganz leicht ist, mit der sperrigen und der immer komplexer werdenden Materie umzugehen. Er hatte EMS als Beispiel genannt. Steht uns noch vor Augen. Nun wollen wir uns als Landkreis nicht in diese luftigen Höhen begeben, aber mit der Komplexität in unseren parlamentarisch strukturierten Gremien haben wir auch unsere Probleme, auch mit der Überforderungstheorie, mit Überlastungsthemen sowieso, manchmal auch mit Überforderungsthemen. Ich nenne nur mal komplexe planerische Entscheidungen in regionalem Raumordnungsprogramm, wo Hunderte, manchmal Tausende von Seiten zu studieren wären, wenn man die Beschlüsse wirklich nachvollziehen wollte, die man da fasst, was möglicherweise nicht von jedem einzelnen Abgeordneten dann auch geleistet wird. Die Frage ist: Haben die Staatsrechtslehrer gute Ratschläge für die kommunale Ebene, wie wir damit umgehen können, wenn die Themen im Grunde genommen immer komplexer werden, aber das Leistungsvermögen aller Beteiligten, der Hauptamtlichen auch, aber der Ehrenamtlichen erst recht, vielleicht nicht genügend veränderbar ist? Hartmann: Weil hier mehrere Staatsrechtslehrer auf der Bühne sitzen, aber namentlich keiner erwähnt war, richte ich die Frage an Sie, Herr Schuppert. Schuppert: Ich fühle mich überfordert, obwohl das relativ selten der Fall ist, da ich kein Spezialist auf dem Gebiet des Kommunalrechts und in der Komplexität

Diskussion (3. Teil)

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der kommunalen Verwaltungsaufgaben, so dass ich finde, dass die ideale Aufgabe, darauf zu antworten, die von Jörn Ipsen wäre. Meyer : Ich will versuchen, nochmal an einem Beispiel das Problem, das von Herrn Wilkens geschildert wurde, nochmal zu untersetzen. Wir sind in Niedersachsen in Verzug bei der Umsetzung von Ausbreitung europäischer Schutzgebiete nach Natura 2000. Es drohen Verfahren der Europäischen Kommission, Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Wir waren vor wenigen Wochen im Oktober beim zuständigen Generaldirektor der Kommission, mit dem man sich, weil er auch ein Deutscher ist, verbal gut verständigen kann, inhaltlich war es schwierig, um Kenntnis dafür zu werben, dass, wenn man den niedersächsischen Weg geht – der niedersächsische Weg heißt, wir müssen über die Kreistage politische Mehrheiten für die Ausweisung von Schutzgebieten organisieren –, dass das möglicherweise etwas mühsamer und anstrengender ist, als wenn man das in einem Zentralstaat anordnet und sagt, bis zum 21. 12. 2016 hätte ich gerne Vollzugsmeldungen. Auf der anderen Seite haben seine Mitarbeiter gerade bei der Beschreibung in dieser Situation zu sagen, wir wollen den Bürger mitnehmen bei der Umsetzung des europäischen Umweltrechts, fleißig in ihre Blöcke notiert. Das ist eben auch ein Weg, Akzeptanz für europäische Institutionen und europäische politische Vorgaben zu schaffen. Aber sie sind eben ein Stück mühsamer, als wenn man sie in einem Zentralstaat abarbeitet. Hartmann: Zwei Bemerkungen noch von mir. Als erstes ein ganz herzlicher Dank an die Referenten und die Diskutanten. Dann ein organisatorischer Hinweis: Wir können nun eine Kaffeepause bis 16.30 Uhr genießen, sollen aber darauf achten, dass wir, wenn wir zurückkommen, keine Getränke mit in diesen Saal nehmen. Das war eine Auflage dafür, dass wir ihn überhaupt bekommen konnten, und deshalb bitte ich Sie herzlich, sich daran zu halten.

Professor Dr. Eberhard Eichenhofer

Selbstverwaltung im Sozialrecht

I.

Hohler Anspruch – leeres Wort – Sinnestäuschung?

Die »Selbstverwaltung im Sozialrecht« erscheint zumeist als beschönigende Umschreibung oder leeres Versprechen – beschönigend, weil Sozialrecht gesetzgeberischer Hyperaktivität unterliegt; das SGB ist die üppigste, freilich jüngste Kodifikation; nur, wer kennt sie? Und hält die Selbstverwaltung im Sozialrecht, was sie den dazu Eingeladenen verheißt? Sie begegnen ihr oft indifferent oder ablehnend. Das Sozialrecht beruht freilich seit seinen Anfängen auf der Selbstverwaltung (II) und sie prägt es in der Sozialversicherung bis heute (III). Aber ihre Tragweite ist weder klar, noch ihre Rechtfertigung eindeutig. Sie verwirklicht die Sozialpartnerschaft – in der Vergangenheit durchaus mehr als derzeit geschätzt (IV). Selbstverwaltung im Sozialrecht veranschaulicht damit die Vielfalt demokratischer Mitwirkungsrechte und enthüllt damit den Zusammenhang von Freiheit, Solidarität und Teilhabe (V).

II.

Selbstverwaltung – prägende und verpflichtende Tradition des Sozialrechts

1.

Entstehung des Sozialstaats in Europa aus christlichen Wurzeln

Der Sozialstaat folgt christlichen Traditionen.1 Im Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) verpflichteten sich die Christen, den Armen, Fremden und Kranken zu helfen. Kirchen und Klöster sollten ein Asyl (Xenodochium) als Ort für Armenpflege (cura pauperum) aufweisen.2 Hospitäler boten fortan den Bedürftigen Zuflucht, 1 Le Goff, Jacques, L’Europe est-elle n¦e au Moyen Age ?, Paris 2003. 2 Crotti, Renata, Il sistema caritativo –assistenziale nella Lombardia medievale, Pavia 2002, p. 110 et sequ.

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Unterkunft, Nahrung und medizinische Versorgung.3 Mit Konstantin (321 n. Chr.) wurde die Kirche zur Almosen- und Hilfegewährung verpflichtet; anstelle antiker Großzügigkeit trat seither christliche Barmherzigkeit.4 Sie verpflichtete jeden einzelnen zu tätigem Handeln – nicht um soziale Ungleichheiten zu überwinden, sondern sie zu bewahren. Denn Armut galt als Vorgegebenheit menschlichen Daseins.5 Für wohltätige Zwecke Vermögen zu opfern, galt darum als frommes Werk, versprach Aussicht auf Seelenheil und brachte dem Spender schon zu Lebzeiten gesellschaftliche Anerkennung.6

2.

Armenpflege als Hervorbringung der Städte

Im 12. Jahrhundert entstand die Stadt als Einwohnergenossenschaft, amicitia oder Eidgenossenschaft,7 die auf engem Raum zusammen lebenden Menschen zu gemeinsamem Handeln verbindet. Sie förderte durch Steuerbefreiungen die kirchliche und private Wohlfahrt.8 Die Aufnahme eines Unfreien in die Stadt beendigte die Hörigkeit und machte ihn zum freien Bürger (Stadtluft macht frei).9 Städte zogen daher seit jeher Zuwanderung an. 1349 verpflichtete die englische königliche Ordinance of Labourers – gegen Bettelei und Landstreicherei gerichtet – die Städte, alle arbeitsfähigen Armen von öffentlicher Hilfe auszuschließen und diese auf arbeitsunfähige Kranke, Alte und Kinder zu beschränken. 1388 ermächtigte ein erstes englisches Armengesetz die Städte zur Gewährung von Armenunterstützung.10 1522 regelten Augsburg und Nürnberg und 1525 Ypern die Armenpflege als eigene städtische Verantwortlichkeit.11 1530 und 1531 räumte Kaiser Karl V. den Städten des Reiches allgemein die Befugnis 3 Ebd., p. 90 et sequ, 197. 4 Mollat, Michel, Les pauvres en moyen age, Paris 1978, p. 31. 5 Erstmals Thomas Paine und Condorcet hielten ausgangs des 18. Jahrhunderts die Überwindung der Armut angesichts der Industrialisierung und der dadurch ermöglichten Machbarkeit von Welt denkbar ; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts , München 2013,32. 6 Albini, Giuliana, Carit— e governo delle povert— (secoli XII–XV) , Milano 2002. 7 Ganshof, Francois Louis, Einwohnergenossenschaft und Graf in den flandrischen Städten des 12. Jahrhunderts, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, 1957, S. 98ff.; Bethmann-Hollweg, Moritz August von, Ursprung der Lombardischen Städtefreiheit, Bonn 1846, 125ff. 8 Crotti, Renata, Il sistema caritativo-assistenziale nella Lombardia medievale, Pavia 2002, 2000, p. 123. 9 Mitteis, Heinrich, Über den Rechtsgrund des Satzes »Stadtluft mach frei«, in: Haase, Carl (Hg.), Die Stadt des Mittelalters, Bd. 2, Darmstadt 1987 (3. Aufl.), 82; Below, Georg von, Der Ursprung der deutschen Stadtverfassung, Düsseldorf 1892, S. 116. 10 Leonhard, Ellen M., The Early History of English Poor Relief, Cambridge 1900, p. 5. 11 Ebd. p. 20.

Selbstverwaltung im Sozialrecht

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ein, Landstreicherei und Bettelei der Arbeitsfähigen zu untersagen, Armenpflege zu erbringen und dafür Armensteuern zu erheben. Im 19 Jahrhundert entstand daraus eine demokratische und sozial verpflichtete Gemeinde-Politik12.

3.

Entstehung der Sozialversicherung im 19. Jahrhundert

Um 1500 wandelte sich die Arbeitswelt. Lohnarbeit, selbständige Tätigkeiten und die Zünfte als berufsständische Einrichtungen kamen auf. Selbständige Handwerker fanden durch sie zur Berufstätigkeit und sie sicherten ihre Mitglieder : Meister, zuweilen auch Gesellen und Lehrlinge und deren Familien bei Unglück und Not. Die Zunft bewirtschaftete Nahrungsmittelvorräte, gewährte Darlehen an verarmte Meister, bot Gesellen bei Arbeitslosigkeit Beschäftigung, Kost und Logis, gliederte Junge in die Arbeit ein und sicherte Kranke, Unfallopfer, Alte und Hinterbliebene. Aus Arbeitslosen-, Begräbnis- und Krankenkassen flossen Zahlungen. Verträge von Gesellenvereinen mit Ärzten, Apotheken und Hospitälern stellten die Krankenversorgung sicher.13 Die Französische Revolution verwarf alle intermediären Gewalten und beseitigte auch die Zünfte. Sie sicherte Gewerbefreiheit und hob den vormals bestehenden sozialen Schutz auf. Fabrikarbeit und Industrien entstanden. 1853 stellte eine preußische Regierungskommission fest, »dass die ›ökonomische Lage‹ der Fabrikarbeiterbevölkerung, von den Konjunkturen des Handels und Verkehrs durchaus abhängig, mithin in hohem Grade gefährdet« sei und »der Ertrag der Arbeit den Arbeiter nicht bloß in gesunden, sondern auch in kranken Tagen ernähren und erhalten«14 müsse. Damals bestanden in Preußen Ortsstatute für Hilfskassen. 1854 erlaubte die Gewerbeordnung den Gemeinden, durch Satzung solche Hilfskassen zu errichten. In diesem Jahr bestanden in Preußen schon 2622 Ortskassen mit 246.000 Mitgliedern.15 Bayern, Baden und Württemberg gestatteten, die Armenfürsorge durch Ortskrankenkassen zu organisieren.16 Der Kassenzwang legalisierte eine sich bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückgehende Praxis.17 Gesundheitsvorsorge durch »K(l)assensolidarität«18 entlastete die Armenpflege19 und eröffnete der gesamten Bevölkerung den Zu12 13 14 15 16

Osterhammel, Anm. 5, 863ff: »Munizipalsozialismus«. Kluge, Arnd, Die Zünfte, Stuttgart 2007. Tennstedt, Florian, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Göttingen 1981, 11. Ebd., 113. Töns, Hans, Ein Jahrhundert Ortskrankenkasse, DOK 1983, 515, 518; Ritter, Ludwig, Die deutschen Krankenkassen. Offenbach 1909, 26ff. 17 Frevert, Ute, Krankheit als politisches Problem 1770–1880. Göttingen 1981, 293ff. 18 Ebd., 313. 19 Ebd., 296.

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gang zu den vormals den Vermögenden vorbehaltenen ärztlichen Leistungen. In diesen Initiativen bildeten sich originäre Rechte für die arbeitende Bevölkerung heraus. Sie standen für die »Einbürgerung des Proletariats« (Franz von Bader) in die vordem auf der formalen und abstrakten Rechtsgleichheit errichteten bürgerlichen Gesellschaft, die alle Statusrechte in Vertragsbeziehungen20 überführten21. Ausgehend mit der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 schuf das Deutsche Reich mit dem Kranken- (1883), Unfall- (1884) und Invaliditäts- und Rentenversicherungsrecht (1889) und zeitgleich mit der Österreich-Ungarn die Sozialversicherung. Die Kaiserliche Botschaft sah dafür »die korporative Genossenschaft unter staatlichem Schutz und staatlicher Aufsicht« vor, welche »den Anschluss an die realen Kräfte des Volkslebens«22 bringen sollte. Die Sozialversicherung überführte die Erwerbsgesellschaft in eine Solidargemeinschaft und gab damit die Antwort des späten 19. Jahrhunderts auf die im ausgehenden 18. Jahrhundert mit der liberalen Wirtschaftsgesellschaft hervorgerufene soziale Frage als Folge der durch die bürgerliche Gesellschaft ausgelösten Vereinzelung des Menschen. Zurückblickend konnte Helmut Schmidt23 feststellen: »Die größte Kulturleistung im 20. Jahrhundert ist der Sozialstaat.« Die Sozialversicherung war nach dem Urteil der Gründergeneration einem »ethischen Sozialgefühl«24 verpflichtet, weil die »Selbstverwaltung im Arbeiterversicherungsrecht in ein tieferes Erdreich der Volksschichten«25 hinabreichte, Selbsthilfe organisierte und rationelle Zukunftsvorsorge bezwecke.26 »Die vorhandenen Nachteile des Versicherungszwanges werden ausgeglichen durch die Freiheit der Versicherten auf dem Gebiete der ihnen gewährten Selbstverwaltung (eigene Satzungen, Teilhabe der Arbeitnehmer an der Verwaltung und Rechtsprechung)«.27

20 H. S. Maine, Ancient Law, London 1878, p. 170: from status to contract. 21 Gerold Stourzh, Zur Institutionengeschichte der Arbeitsbeziehungen und der sozialen Sicherung, in ders./Margarete Grandner (Hg.), Historische Wurzeln der Sozialpartnerschaft, Wien 1986, 13f., 15. 22 Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881. 23 Schmidt, Helmut, Interview in: DIE ZEIT 40/2006, 3. 24 Fritz Stier-Somlo, Ethik und Psychologie im deutschen Sozialrecht, in ders. Studien zum sozialen Recht, Leipzig 1912, 215. 25 Ebd., 221. 26 Alfred Manes, Sozialverwaltung, Berlin 1912, 3. Auflage, 11. 27 Fritz Stier-Somlo, Recht der Arbeiterversicherung, Bonn 1906, 9.

Selbstverwaltung im Sozialrecht

III.

Selbstverwaltung in der Sozialversicherung von heute

1.

Zwei Dimension von Selbstverwaltung

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Was erklären diese blumigen Charakterisierungen? Die von Art. 161 WRV28 geforderte Selbstverwaltung in der Sozialversicherung kennzeichnet nach heutigem Verständnis zwei Dimensionen:29 die gegenüber dem Staat selbständige Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben (§ 29 SGB IV) und die Beteiligung der von Maßnahmen der Träger Betroffenen an deren Organisation.30 Die Träger sind keine »direkte Untergliederung des Staates«,31 sondern gegenüber dem Staat selbständig.32 Nach Art. 87 II 1 GG sind die Sozialversicherungsträger Körperschaften des öffentlichen Rechts. Trotz Unabhängigkeit bleiben sie Teil der öffentlichen Verwaltung und sind also nicht Träger, sondern Adressaten der Grundrechte, die sie verpflichten und nicht berechtigen.33 Die eigenverantwortliche Aufgabenerfüllung gegenüber staatlicher Einzelvorgabe kennzeichnet ihre Unabhängigkeit34 ; in ihr äußert sich Ihre rechtliche Eigenständigkeit in Gestalt von Personal-, Haushalts- und Satzungsautonomie.35 »Die Selbstverwaltung dezentralisiert die staatliche Verwaltung und die politische Macht«.36 Die Träger sozialer Selbstverwaltung bestimmen ihre Führung, finanzieren ihre Aufgaben und genießen Satzungsautonomie. Deren praktische Bedeutung liegt in der Rentenversicherung bei der Rehabilitation, in der Unfallversicherung bei der Prävention und der Arbeitsförderung in der Integration Arbeitsuchender 28 »Zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens schafft das Reich ein umfassendes Versicherungswesen unter maßgebender Mitwirkung der Versicherten.« 29 Becker, Ulrich, in von Maydell/Ruland/Becker (Hg.), Sozialrechtshandbuch (SRH), 2012, 5. Aufl, § 13 Rn. 4; Seewald, Otfried, Gibt es noch eine Selbstverwaltung in der Unfallversicherung?, SGb 2006, 569. 30 Becker, Ulrich, in von Maydell/Ruland/Becker (Hg.), Sozialrechtshandbuch, 2012, 5. Aufl., § 13 Rn. 35ff.; Schnapp, Friedrich E., Probleme der Selbstverwaltung, SGb 1996, 621, 624 unterscheidet danach die »äußere« von der »inneren« Selbstverwaltung; vgl. auch Schulin, Bertram (Hg.), Handbuch Sozialversicherungsrecht – Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49–66f. 31 BT-Drucksache 17/14779, 2. 32 Becker, Ulrich, in von Maydell/Ruland/Becker (Hg.), Sozialrechtshandbuch, 2012, 5. Aufl., § 13 Rn. 5. 33 BVerfGE 21, 362, 369; 39, 302; 77, 340; anders Salzwedel, Zur rechtlichen Struktur der modernen Selbstverwaltung, ZfS 1963, 203. 34 Ebd., 65ff. 35 Reinhard Hendler, Die Funktion der Selbstverwaltung im gegenwärtigen Sozialrecht, in Deutscher Sozialrechtsverband (Hg.), Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, 1991, 65, 68. 36 Rische, rv aktuell 2011, 2; vgl. auch Jörn Ipsen, Stichwort »Autonomie«, in Werner Heun (Hg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart 2006, 159.

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in den Arbeitsmarkt. In der Krankenversicherung regeln die Träger neben Prävention und Rehabilitation37 gemeinsam mit den Leistungserbringern beträchtliche Teile des Leistungsgeschehens eigenverantwortlich, so dass angesichts dieser Befugnisse Zweifel laut werden, ob die Autonomie nicht viel zu weit reiche.38 Denn in der Gemeinsamen Selbstverwaltung bestimmen Krankenversicherung und Ärzte, Krankenhäuser, Apotheken oder Heil- und Hilfsmittelhersteller das Leistungsprogramm qualitativ und quantitativ eingehend selbst, ohne jede Intervention durch die staatliche Gesetzgebung.39 Solche »Staatsferne« ist jedenfalls – verglichen mit den (weltweit zahlreichen) nationalen Gesundheitsdiensten – beträchtlich. Im Gesundheitswesen hat die Selbstverwaltung fast alles zu bestimmen. Die Unabhängigkeit der Sozialversicherungsträger geht dort mit beträchtlicher Handlungskompetenz einher. Die Satzungsgewalt der Sozialversicherungsträger besteht auf Grund und nach Maßgabe des staatlichen Gesetzes. Sie begründet also keine originäre Autonomie,40 deren Kern staatlich unveränderlich garantiert wäre. Weder die Institution, noch die innere Struktur der Sozialversicherung sind gesetzgeberischer Veränderung entzogen.41 Denn sie wird durch Gesetzgebungsakte begründet. Darin äußert sich die Differenz zwischen der allgemein demokratischen und der mitgliedschaftlich-partizipatorischer Legitimation von Recht, die partikulär und damit gegenüber dem allgemeinen Gesetz nachrangig ist und bleiben muss.42

2.

Teilhabe der Versicherten- und Arbeitgebervertreter in der Verwaltung der Sozialversicherungsträger

Fraglich ist allerdings, ob die Selbstverwaltung deswegen als Teilhabe an staatlicher Willensbildung zu verstehen ist.43 Das tragende Element der Selbstver37 Herbert Rische, Prävention und Rehabilitation, in Deutscher Sozialrechtsverband (Hg.), Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, 1991, 81ff. 38 BSGE 78, 70; 81, 54; Fritz Ossenbühl, Richtlinien im Vertragsarztrecht, NZS 1997, 497; Udo di Fabio, Verlust der Steuerungskraft klassischer Rechtsquellen, NZS 1998, 449; Klaus Engelmann, Untergesetzliche Normsetzung im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung durch Verträge und Richtlinien, NZS 2000, 1, 76. 39 Dietmar Boerner, Normenverträge im Gesundheitswesen, München 2003; Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, Tübingen, 2000. 40 Anders Ingwer Ebsen, Autonome Rechtssetzung in der Sozialversicherung und der Arbeitsförderung als Verfassungsproblem, VSSR 1990, 57; Ebsen, in Schulin., Handbuch Sozialversicherungsrecht – Krankenversicherungsrecht, § 7–14ff. 41 BVerfGE 39, 302, 314; 36, 383, 393. 42 BVerfGE 79, 127, 150; 82, 310, 314; 107, 1, 12. 43 So Schnapp, in Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht – Krankenversicherungsrecht, 1994, § 49–74; Peter Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, Tübingen

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waltung in der Sozialversicherung liegt in der Beteiligung von Arbeitgeber- und Versicherten-Vertretern (§ 29 SGB IV), welche von den der jeweiligen Gruppe zugehörigen Mitgliedern regelmäßig in der Vertreter-Versammlungen der Sozialversicherungsträger nach Wahl entsenden (§ 44 SGB IV). Die Sozialversicherung bezieht also ihre Legitimation durch die sie tragenden sozialen Gruppen. Sie haben zugleich eine zentrale normsetzende Funktion im Arbeitsleben inne. Arbeitgeber-Verbände und Gewerkschaften handeln als »Vertreter der Großgruppen der Wirtschaftsgesellschaft«44 und werden in der Selbstverwaltung zu »partnerschaftlichem Zusammenwirken«45 zusammengeführt. Selbstverwaltung in der Sozialversicherung bedeutet so die »konzentrierte Teilhabe organisierter Interessen«.46 Ist sie durch die »Betroffenen-Partizipation« zu rechtfertigen?47 Erfüllt Selbstverwaltung eine kompensatorische Funktion als Surrogat für die aus der Zwangsmitgliedschaft resultierenden Autonomie-Verluste für die Versicherten? Arbeitgeber und Versicherte sind von der Sozialversicherung zwar gleichermaßen, aber nicht gleich »betroffen«. Die Sozialversicherung berührt die Arbeitgeber nicht persönlich, sondern als Beitragszahler und damit deren finanzieller Garant.48 Das Lohn-Abzugs-Verfahren verpflichtet sie zur Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen – die Arbeitnehmerbeiträge eingeschlossen. Die Versicherten werden durch die Sozialversicherung primär als Berechtigte sozialer Leistungen »betroffen«. Für die Beteiligung an der Selbstverwaltung ist es nicht einerlei, in welcher Stellung sich die zur Teilhabe befugte Gruppe befindet. Die Teilhaberechte beruhen auf der sozial-ökonomischen Unterscheidung zwischen Arbeitgebern und Versicherten als zwei gleichberechtigter Gruppen. Dies entspricht auch internationalen Geboten. Nach Art. 72 IAO-Übereinkommen No. 102 (1952)49 über die Mindestnormen sozialer Sicherheit zählt die Beteiligung der Versicherten an der Verwaltung zur Mindestausstattung für die Sozialversicherungsträger. Läge einzig in der »Betroffenheit« das sie tragende Motiv

44 45 46 47 48 49

2000, 298 ff; das Argument steht in der Tradition des liberal-republikanischen Ansatzes der Selbst- Regierung, dazu Pascale Cancik, »Selbst ist das Volk« Der Ruf nach der volkstümlichen Verwaltung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Der Staat 2004, 298. Heinrich Reiter, Die gesellschaftliche Bedeutung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in Deutscher Sozialrechtsverband (Hg.), 1991, 17, 20. Ebd. Friedhelm Hufen, Soziale Selbstverwaltung im demokratischen Rechtsstaat, in Deutscher Sozialrechtsverband (Hg.), 1991, 43, 49, Stourzh, 29f. Becker, in von Maydell/Ruland/Becker (Hg.), Sozialrechtshandbuch, § 13 Rn. 38, 59; Braun/ Klenk/Kluth/Nullmeier/Welti, Modernisierung der Sozialversicherungswahlen, 2009, 62ff.; BVerfGE 115, 25, 100, 1; 58, 81; Rische, rv aktuell 2011, 2, 3. Anders Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht – Krankenversicherungsrecht, 1994, § 6–90, der in Arbeitgeber-Anteil Lohnanteil sieht. IAO, Übereinkommen und Empfehlungen, 1993, Bd. 1 1919–1991, 920, jedenfalls der Träger die nicht eine Behörde sind und parlamentarischer Kontrolle unterliegen.

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der Beteiligung, dürften nur die Versicherten in der Selbstverwaltung vertreten sein; dagegen wäre nicht zu erklären, weshalb auch die Arbeitgeber paritätisch an der Selbstverwaltung mitzuwirken haben.

3.

Der Arbeitgeber-Versicherten-Gegensatz – Legitimationsgrund der Selbstverwaltung

Die Selbstverwaltung im Sozialrecht überwindet deswegen vor allem den Gegensatz von Arbeitgebern und Arbeitnehmern und bearbeitet damit den in der bürgerlichen Gesellschaft angelegten Grundkonflikt von Kapital und Arbeit. Selbstverwaltung in der Sozialversicherung geschieht durch »verbandliche Selbstverwaltung«,50 weil sie von den Koalitionen des Arbeitslebens getragen wird.51 Diese erlangen damit über ihre nach Art. 9 III GG durch das Tarifvertragsrecht gesicherte kollektive Autonomie bei Setzung von Normen für Arbeitsverträge hinaus bestimmenden Einfluss auf die Sozialversicherung.52 Die soziale Selbstverwaltung folgt zwar nicht aus Art. 9 III GG,53 findet aber in der dadurch gesicherten Tarifautonomie eine Entsprechung und bildet mit der betrieblichen und wirtschaftlichen Mitbestimmung die »Sozialpartnerschaft«.54 In der Selbstverwaltung der Sozialversicherung wird jene Differenz sichtbar, die Thomas Mann55 als den Unterschied »zwischen der kulturellen und der demokratischen Form der Sozialität« bestimmte. Anders formuliert: Demokratie 50 Walter Bogs, Autonomie und verbandliche Selbstverwaltung im modernen Arbeits- und Sozialrecht, RdA 1956, 1. 51 Harald Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, 1973, 122. 52 Andreas Hänlein, Rechtsquellen im Sozialversicherungsrecht, 2001, 150; Herbert Hofmeister, Die Rolle der Sozialpartnerschaft in der Entwicklung der Sozialversicherung, in Gerald Stourzh/Margarete Grandner (Hg.), Historische Wurzeln der Sozialpartnerschaft, Wien 1986, 278: »Kein zweites Rechtsgebiet weist eine so enge Nahebeziehung zum Phänomen der Sozialpartnerschaft auf wie das Sozialversicherungsrecht kontinentaleuropäischer Prägung«; Georg Wannagat, Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, in Deutscher Sozialgerichtsverband 1. Bundestagung, 1966, 9 ff; Collective bargaining – hatten heute eine Kernnorm internationalen Arbeitsrechts – überwindet für die Arbeitnehmerschaft das ihr 1791 in Frankreich durch die Loi Le Chapelier versagten Freiheit zum Zusammenschluß. 53 Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, 291. 54 Vgl. dazu Jörn Ipsen, Der Staat der Mitte, Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, 2009, 260. 55 Thomas Mann, Kultur und Sozialismus (1928), in ders., Von Deutscher Republik, Frankfurt/ Main, 1984, 259, 265; ders. Gedanken im Kriege (1914), ebd., 1, 16 »Was ist, was heißt noch »Zivilisation«, ist es mehr als eine leere Worthülse, wenn man sich erinnert, daß Deutschland mit seiner jungen und starken Organisation, seiner Arbeiterversicherung, der Fortgeschrittenheit aller seiner sozialen Einrichtungen ja in Wahrheit ein viel moderner Staat ist als etwa die unsauber plutokratische Bourgeois-Republik … – daß unser soziales Kaisertum eine zukünftigere Staatsform darstellt als irgendein Advokaten-Parlamentarismus, …«.

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bezeichnet die Selbstorganisation der Gesellschaft, Selbstverwaltung dagegen ist Ausdruck von Gemeinschaft.56

IV.

Selbstverwaltung im Sozialrecht als Leitbild der Sozialpartnerschaft

1.

Selbstverwaltung: »Anschluss an die realen Kräfte des Volkslebens«

Mit ihrer Begründung suchte sie den »Anschluss an die realen Kräfte des Volkslebens« – nicht durch Repräsentation57 des »Volkes«, sondern durch die Einbeziehung von dessen real gewordenen Kräften. Denn sie haben sich in der Selbstorganisation der Gesellschaft als fähig und willig erwiesen, um die ökonomischen und sozialen Belange der arbeitenden und wirtschaftenden Individuen und Institutionen zur Geltung wie zum Ausgleich zu bringen. Die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung ist damit Ausdruck von Korporatismus: Die rechtsförmige Organisation von Menschen und Institutionen, die eine gegensätzliche Stellung auf dem Arbeitsmarkt innehaben.58 Die Selbstverwaltung beruht folglich nicht auf Interessenhomogenität,59sondern auf Interessendivergenz von Arbeitgebern und Versicherten welche so durch die Sozialversicherung mediatisiert werden. Dies kann autoritär in der Tradition des stato corporativo berufsständischer Verfassungen einseitig staatlich verordnet oder im Einklang mit dem auf autonomen Gemeinschaften aufbauenden liberalen Korporatismus durch Verhandlungen und Arbeitskampf ausgehandelt und erstritten werden.60 Die letztgenannte Form ist in der EU im Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 301 AEUV) und im sozialen Dialog (Art. 154f. AEUV)61 sowie weltweit in der dreiseitigen Struktur der IAO ausgeformt. Ihr geht es beileibe nicht um den volksnahen Staat, sondern um die vor staatlicher Bevormundung freie gesellschaftliche Selbstbestimmung. Diese erklärt sich vor dem Hintergrund gesellschaftlich inhärenter sozialer Konflikte. Arbeitnehmer und Arbeitgeber stehen in einer Marktwirtschaft weder 56 Vgl. dazu eingehend Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1935, Darmstadt, Nachdruck 1979. 57 BSGE 36, 242; 39, 244. 58 Christoph Gusy, Vom Verbändestaat zum Neokorporatismus?, Wien 1981. 59 Dafür aber Schulin, Handbuch Sozialversicherungsrecht – Krankenversicherungsrecht, § 6–93. 60 Gerhard Lehmbruch, Sozialpartnerschaft in der vergleichenden Politikforschung, in Peter Gerlich /Edgar Grande/ Wolfgang C. Müller (Hg.), Sozialpartnerschaft in der Krise, Leistungen und Grenzen des Neokorporatismus in Österreich,1985, 84, 86ff. 61 Streinz – Eichenhofer, EUV, AEUV, 2012 (2.Aufl.), Art 154 AEUV Rn. 2ff.

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in konträrem, noch kontradiktorischem, wohl aber in einem subkonträren Gegensatz zueinander – nicht in konträrem oder kontradiktorischem Gegensatz, weil der Vorteil der einen nicht notwendig auf Kosten der anderen Gruppe gezogen wird, sondern beide Gruppen aus der Kooperation Vorteile ziehen. Sie stehen aber auch nicht in einem harmonischen Verhältnis zueinander. Denn Löhne und sonstige Zuwendungen an die Beschäftigten stellen für die Arbeitgeber Kosten dar. Löhne, Sozialleistungen für die mit der Erwerbsarbeit eng verbundenen sozialen Risiken und Arbeitsbedingungen bestimmen die Lebensbedingungen der Beschäftigten und prägen zugleich entscheidend die auch die Arbeitgeber – paritätisch – treffenden Kosten. Der Grundkonflikt zwischen Arbeit und Kapital setzt sich also auch bei der durch Sozialversicherung realisierten Ausgestaltung der ebenfalls an den Arbeitsmarkt gebunden sozialen Risiken fort und findet in deren Institutionen eine dem Tarifvertragssystem entsprechende Ausgestaltung.

2.

»Friedenswahlen« (§ 46 II SGB IV) – Symbol »verbandlicher Selbstverwaltung«

Diese Eigenheit gelangt in der die »Sozialwahlen«62 für Arbeitgeber und Versicherte normierenden Bestimmung des § 46 II SGB IV zum Ausdruck: »Wird aus einer Gruppe nur eine Vorschlagsliste zugelassen oder werden auf mehrere Vorschlagslisten nicht mehrere Bewerber benannt, als Mitglieder zu wählen sind, gelten die vorgeschlagenen als gewählt«.

Damit können die Gruppenmitglieder, die Wahl ihrer Vertreter durch den Personalvorschlag der sie repräsentierenden Organisationen – namentlich der Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften – ersetzen. Sozial-»Wahlen« sind – so die euphemistische Formulierung – »Friedenswahlen«. Die Rechtsprechung billigte diese,63 weil das zu Wahlen und Abstimmungen des Volkes verpflichtende Demokratiegebot (Art. 20 GG) nicht auf Arbeitgeber und Versicherten zu erstrecken sei. Diese seien nicht das »Volk«. Außerdem sei sie kostengünstiger und sichere ein Ergebnis, das auch in Wahlen erzielt würde.64 Sie nehmen vor allem den »Wahlen« ohne Wahl ihre Peinlichkeit. Die Bestimmung macht so klar, dass die Sozialversicherung »eine von den Organisationen der Sozialpartner 62 Wolfgang Ayaß, Zur Geschichte der Sozialwahlen, SozSich 12/2013, 422ff.; Braun/Klenk/ Kluth/Nullmeier/Welti, Modernisierung der Sozialversicherungswahlen, 2009; Der Bundeswahlbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, Schlussbericht des Bundeswahlbeauftragten für die Sozialversicherungswahlen zu den Sozialwahlen 2011, 2012. 63 BSGE 36, 242; 39, 244. 64 Jung, in Eichenhofer/Wenner, SGB I, IV, X, 2012, § 46 Rn. 6ff.

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gelenkte Institution unseres Staatsganzen«65 darstellt. Deren Selbstverwaltung wird vom »Interessenverbandsprinzip«66 getragen, von der »Gruppenparität«67 beherrscht und ist zur »Sache der Koalitionen des Arbeitslebens geworden«68. Solche Gegensätze anzuerkennen und durch Kompromiss auszugleichen, entsprach der in das 19. Jahrhundert zurückreichenden bürgerlichen Sozialreformbewegung69, der gleichfalls auf Überwindung von Klassengegensätzen und Solidarität bedachten katholischen Sozialethik70 sowie dem Menschen- und Gesellschaftsbild der deutschen Sozialdemokratie nach Godesberg71.

3.

Selbstverwaltung in der Sozialversicherung – Ausgestaltung von »Sozialpartnerschaft«

Darin gelangt eine bis in das Mittelalter zurück reichende Tradition genossenschaftlicher Selbstorganisation der Gesellschaft zum Ausdruck. Seit jeher gründen soziale Rechte in Gemeinschaften, Kirchen, Städten, Zünften, Berufsverbänden oder der staatlich organisierten Wirtschaftsgesellschaft, weil in ihnen Solidarität angelegt und ausgeformt ist.72 Diese »verbandliche Selbstverwal-

65 66 67 68 69

Harald Bogs, Die Sozialversicherung im Staat der Gegenwart, Berlin 1973, 113. Ebd., 119. Ebd., 120. Ebd., 121. Gestützt auf den nach dem Weberaufstand 1844 gegründeten Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen, dem 1872 begründeten Verein für Sozialpolitik und die ihn ablösende Gesellschaft für soziale Reform dazu Jürgen Reuleder, Frieden zwischen Kapital und Arbeit, in Gerald Stourzh/Margarete Grandner (Hg.), Historische Wurzeln der Sozialpartnerschaft, 1986, 38ff. 70 Alfred Klose, Geistige Grundlagen der Sozialpartnerschaft im katholischen Sozialdenken, in Stourzh/Grandner, ebenda, 53ff. 71 Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 2007, 154: »Das Gesellschaftsund Menschenbild des Godesberger Programms ist pluralistisch: die Gesellschaft wird verstanden als ein Gebilde unterschiedlicher organisierter Interessen. Die Konkurrenz der gesellschaftlichen Interessen führt unter den Bedingungen gleicher Aktionsbedingungen zu einem Über- und Unterprivilegierungen eindämmenden Ausgleich. Mithin wird die Klassenspaltung als überwindbar angesehen, nicht durch die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft durch den Befreiungskampf der unterdrückten Klassen, sondern durch die gleichrangige Partizipation aller gesellschaftlichen Kräfte im Gemeinwesen« – Übergang von der Klassen- zur offenen Gesellschaft. 72 Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt am Main 1992, 65: Das Konzept der distributiven Gerechtigkeit setzt eine Welt voraus, innerhalb deren die Güter zur Verteilung gelangen: Eine Gruppe von Menschen, die gewillt und bereit sind soziale Güter zu verteilen, auszutauschen miteinander gemein zu haben und dies vor allem und in erster Linie im eigenen Kreis zu Ende.

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tung«73 ist konzeptionell eigenwillig und basiert auf einer eigenständigen Legitimation. Die von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften wahrgenommenen Selbstverwaltungsbefugnisse in der Sozialversicherung standen historisch am Anfang einer wirtschaftlichen und sozialen Transformation der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands, welche nach dem 1. Weltkrieg entstandenen kollektiven Arbeitsrecht historisch vorausging und ihm erst den Boden bereitete.74 1918 wurde die Tarifautonomie mit Arbeitskampffreiheit und 1920 die Betriebsverfassung mit betrieblicher und Ansätzen zu wirtschaftlicher Mitbestimmung begründet, die nach 1950 bis zur paritätischen Mitbestimmung fortentwickelt werden konnte. Sie alle leitet das Bemühen, den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit durch Kompromiss zu überwinden.75 Soziale Konflikte finden sich zwar in jeder privaten Wirtschaftsordnung. Sie werden jedoch im Zeichen von Sozialpartnerschaft in ihrem Austrag gemäßigt und so in ein für Kapital und Arbeit beiderseitig vorteilhaftes Kooperationsverhältnis eingefügt. Die Sozialreform – die so in Sozial- und Arbeitsrecht Gestalt annahm – ersetzte die »entstaatlichte Warenproduktion« durch die »organisierte Gesellschaft«.76 Walther Rathenau bezeichnete das »Ziel der solidarischen Demokratie« als die »Herrschaft des Volkes über sich selbst, nicht vermöge der Verhältniszahlen seiner Interessen, sondern vermöge des Geistes und Willens, den es befreit«.77 Sie lässt sich als Ausdruck der kollektiv wahrgenommenen Vertragsautonomie denken, welche die atomisierte Gesellschaft zur Überwindung und zum Ausgleich der ihr innewohnenden und ihr angelegten Interessengegensätze hervorgebracht hat und sie so verpflichtend dazu anhält, sozial – d. h. auf Gemeinschaft angelegt und ausgerichtet – zu werden. Dieses Arrangement wurde in der Sozialversicherung historisch vorbereitet, begründet und durch sie entscheidend gefördert. Sie verband erstmalig und anfangs einmalig Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu einer Solidargemeinschaft zum Schutz der Arbeitnehmer vor den elementaren Daseinsrisiken der Krankheit, des Unfalls, der Invalidität und des Alters wie der Arbeitslosigkeit. Die 73 Walter Bogs, Autonomie und verbandliche Selbstverwaltung im modernen Arbeits- und Sozialrecht, RdA 1956, 1, 7. 74 Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht, 2012 (8.Aufl), Rn. 287. 75 Birger P. Priddat, Leistungsfähigkeit der Sozialpartnerschaft und in der sozialen Marktwirtschaft, Mitbestimmung und Kooperation, Marburg 2011; Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entscheidung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 1991, 87; Wannagat, Anm. 53, 9. »Die gleichwertige Partnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern in der Sozialversicherung wurde in einer Zeit täglich und standhaft praktiziert und gelebt, als sich diese Gleichberechtigung sowohl im arbeitsrechtlichen Raum …, als auch im politischen Raum … noch lange nicht durchgesetzt hatte, ja weitgehend unbekannt war.« 76 Karl Renner, Probleme des Marxismus, in Hans-Jörg Sandkühler/Rafael de la Vega (Hg.), Austromarxismus, Frankfurt/Main, 1970, 263, 266, 278. 77 Walther Rathenau, Die neue Gesellschaft, 1919, in ders., Schriften und Reden 1964, 278, 352; als.

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Selbstverwaltung der Sozialversicherung symbolisiert die Arbeitgeber und Arbeitnehmer verbindende Solidargemeinschaft.78 Die Verbände werden zu Stützen der mittelbaren Staatsverwaltung,79 ohne zugleich staatlicher Fachaufsicht ausgesetzt oder parlamentarischer Kontrolle unterworfen zu sein.80 Deutschland erscheint insoweit als »Vorreiter im Aufbau eines öffentlichen Sozialleistungssystems, aber ein Nachzügler in den gesellschaftlichen Kämpfen um politische Teilhaberechte. Die Brüderlichkeit in der Sozialpolitik war im Zweifelsfall wichtiger als die Gewährleistung rechtlicher Gleichheit oder politischer Freiheit für den einzelnen«.81

V.

Selbstverwaltung im Sozialrecht als gesellschaftliche Teilhabe

1.

Selbstverwaltung als Mitwirkungskompetenz der Sozialpartner

Wie angestammt die Gemeinden als genossenschaftliche Selbstverwaltung und Ort der Vermittlung von Markt und Öffentlichkeit, Landwirtschaft, Handwerk und Handel, Arm und Reich, Erwerbstätigen und Nichterwerbstätigen, Privates und Öffentliches miteinander verband und zum wirtschaftlichen wie sozialen Ausgleich führte,82 steht die Sozialversicherung für den Versuch, die Akteure wirtschaftlichen Austausches und des Arbeitsmarkts zum Vorteil beider auf öffentliche Belange zu verpflichten. Die Selbstverwaltung in der sozialen Sicherung steht für die »mittelbare Demokratie«,83 sie ist nicht gegen die parlamentarische Demokratie gerichtet, sondern deren Ausdruck.84 Sie ist allerdings nicht aus der allgemeinen Staatsgewalt abgeleitet, sondern gründet in einer originären von Art. 87 II GG voraus gesetzten Legitimation mittelbarer Staatsverwaltung durch die sozialen Gruppen als Nutznießer sozialer Sicherheit. Zu ihr gehört zwingend– wie schon von Art. 161 WRV bestimmt – die Selbstverwaltung und gesellschaftliche Gewährleistung.85 78 Winfried Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, Tübingen 1997, 239; Christoph Gusy, Vom Verbändestaat zum Neokorporatismus?, Wien 1981, 28ff. 79 Reinhard Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, 351ff. 80 Walter Bogs, RdA 1956, 7. 81 Heinz Bude, Die ironische Nation. Soziologie als Zeitdiagnose, Hamburg 1999, 21. 82 Hans Müthling, Die Geschichte der deutschen Selbstverwaltung Stuttgart, 1966, 9ff. 83 BVerfGE 11, 310, 321. 84 BVerfGE 33, 125, 157ff.; 39, 302, 313f.; Willy Brandt sah in der Demokratie ein Prinzip, »das alles gesellschaftliche Sein der Menschen beeinflussen und durchdringen muss, weil es ohne Mitbestimmung und Mitverantwortung keine ›stabile Demokratie‹ gibt« Grebing , Anm. 71, 176. 85 Jürgen Salzwedel, Zur rechtlichen Struktur moderner Selbstverwaltung, ZfS 1963, 202f.

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Sie formt die Verbandsautonomie die gegenüber dem Staat gerichtete Autonomie der Träger der kollektiven Ordnung des Arbeitslebens aus. Die Tarifvertragsparteien können so über die Ordnung des Arbeitslebens hinaus auch die Arbeitsbedingungen prägende soziale Sicherheit maßgeblich beeinflussen.86 Partizipation wird zur zentralen Steuerungsressource staatlicher Sozialpolitik. Dies verbürgt Effizienz und Legitimation, weil sie der Pluralität wie Divergenz gesellschaftlicher Interessen Raum gibt, um sie gerade dadurch zum Ausgleich zu bringen.87

2.

Verbandliche Selbstverwaltung und Demokratie

Verträgt sich die verbandliche Selbstverwaltung freilich mit der Demokratie? Was ist an »Friedenswahlen« demokratisch? Verkörpern sie etwas anderes als die Herrschaft überlebter, aus der Zeit gefallener Verbände zur Bevormundung der sich dadurch nicht frei und unmittelbar artikulieren könnenden »Betroffenen«? Diese Kritik ist legitim, freilich nicht neu, sondern sie war seit Anbeginn die zentrale Wegbegleiterin verbandlicher Selbstverwaltung.88 Diese Einwände übersehen, dass die sozialstaatlich organisierte Gesellschaft ohne Organisationen nicht zu haben ist. So wenig die Demokratie ohne Parteien89 auskommt, weil ihnen die Rekrutierung des Führungspersonals und Formulierung der politischen Programmatik zufällt, so ist auch die Vertretung wirtschaftlicher und sozialer Belange durch gleichartig Betroffene ohne Verbände nicht denkbar. Dies wird von Art. 21, 9 III GG verfassungsrechtlich anerkannt. Parteien wie Verbände sind zur Interessenvertretung durch Ausgleich und Kompromiss verpflichtet. Sie gewinnen ihre Durchsetzungskraft durch Einigkeit: L’union fait la force (Flora Tristan)! El pueblo unido nam—s sar— vincido! Einheit: Tarifeinheit und Ordnungsprinzip statt Tarifkonkurrenz und -pluralität stehen diesem traditionellen Konzept wirtschaftlicher wie sozialer Interessenvertretung näher als die syndikalistische Vielfalt, die nicht selten Privilegien schützen und Egozentrismus befördern. Mit Recht betont Hans F. Zacher den gesamtgesellschaftlichen Auftrag der Gewerkschaften: 86 Vgl. dazu eingehend Gunnar Folke Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, Göttingen, 1981, 65ff., 116ff. 87 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965. 88 Kohl/Mecke, Selbstverwaltung, in Eichenhofer/Rische/Schmähl (Hg.), Handbuch der gesetzlichen Rentenversicherung, SGB VI, Köln 2012 (2. Aufl.), Rn. 70ff.; Franz Ruland, Funktion und Tradition sozialer Selbstverwaltung am Beispiel der gesetzlichen Rentenversicherung, DRV 1993, 684ff. 89 Jörn Ipsen, in Sachs. M, Kommentar zum. GG, 2011(4. Aufl.), Art.21 Rn. 2ff

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»Das Kernstück des institutionellen Gefüges, in dem die Belange der abhängigen Arbeit diese Entfaltung finden, waren und sind die Gewerkschaften. Sie sind die institutionellen Repräsentanten des klassischen sozialen Titels, der mit der Arbeiterfrage entstanden ist und über die Zeit hin immer neue Aktualität erlangt hat.«90

Denn Interessenvertretung bedeutet nicht nur Kompromiss mit der Gruppe des sozialen Gegenspielers, sondern zugleich auch innerhalb der Gruppe unter den auch dort verschiedenen Interessenlagen. Der Ausgleich zwischen den Gruppen geht so mit dem Ausgleich innerhalb der Gruppen notwendig einher. Die Selbstverwaltung ist mit der Demokratie verträglich. Denn diese fordert nicht die Beseitigung der intermediären Gewalten durch die unumschränkte, das gesamte gesellschaftliche Leben durchdringende Herrschaft des auf Grund des Mehrheitsprinzips tendenziell allmächtigen Staates über die ihm umfassend unterworfenen Individuen. Demokratie ist vielmehr durch die Grund- und Menschenrechte begrenzt und gebunden. Sie muss der Gesellschaft deswegen nicht nur Raum zur autonomen Entfaltung ihrer selbst belassen, sondern sie hat im Sinne des »enabling« und »empowering state« die größtmögliche Entfaltungsfreiheit aller geradewegs zentral zu ermöglichen.91 Demokratie schafft deswegen den Raum zu autonomer Gestaltung des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens. Sie ist darin frei, wie weit dieser Raum gezogen wird. In diesem Denken ist gesellschaftliche Rechtsetzung die Ausprägung kollektiver Autonomie.92 Sie ist in einer staatlichen Rechtsordnung 90 Zacher, Hans F., Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und Bundesarchiv (Hg.), Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 333, 424f., Emmerich T‚los, Entwicklung, Kontinuität und Wandel der Sozialpartnerschaft in ders. (Hg.) Sozialpartnerschaft. Kontinuität und Wandel eines Modells, Wien 1993, 11, 18f.; Denis Segestin, Le ph¦nomen corporatiste. Essai sur l’avenir des syst¦mes professionnels ferm¦s en France, Paris 1985. Traditionell war der Berufsstand ein Monopolist, der den Zugang zu, die Ausbildung und Bedingungen in einem Beruf regelte (11) Korporatismus reflektiert die gesellschaftliche Arbeitsteilung; dadurch wird der offene zum geschlossenen Markt (56). Es entsteht ein System eigener Rechtsregeln, der den sozialen Konflikt zeitweilig beruhigt und auf Neujustierung ausrichtet (57). Die Vertretungen der Berufsgruppen weisen über die Vertretung ihrer speziellen Interessen hinaus und nehmen einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag wahr (59f.); sie fragmentieren den Arbeitsmarkt und setzen ihn danach neu zusammen (60). 91 Vgl. dazu näher Eberhard Eichenhofer, Soziale Menschenrechte im Völker-, europäischen und deutschen Recht, 2012, 60ff.; ders., Recht des aktivierenden Wohlfahrtsstaates, 2013, 65ff.; vgl. aber auch ganz in diesem Sinne Jörn Ipsen, Grundzüge einer Grundrechtsdogmatik, Der Staat 2013, 286ff.; ders., Grundrechte als Gewährleistungen von Handlungsmöglichkeiten, in Sachs/Siekmann (Hg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, Berlin 2012, 369, vgl. auch die pr¦ambule der Französischen Constitution vom 19 April 1946 »La R¦publique garantit — tous les hommes et a toutes les femmes vivant dans l’Union FranÅaise l’exercice individuel ou collectif des libert¦s et droit ci- aprÀs«. 92 Vgl. dazu Georges Gurvitch, L’ide¦ du droit social, 1931; dazu Hugo Sinzheimer, Theorie des

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ebenso möglich, wie deren Beeinflussung und Überlagerung durch internationales wie europäisches Recht, was im Rahmen einer auf einer Pluralität von Rechtsquellen beruhenden Mehr-Ebenen-Architektur das zeitgenössische Recht stärker prägt, als dies im Bewusstsein seiner Interpreten oft zum Ausdruck kommt. Die Selbstverwaltung sichert die autonome Macht von Gemeinschaften in der Gesellschaft. Es ist ein Gebot der Klugheit, neben dem Sachverstand und der Erfahrung der Selbstverwaltung auch die durch sie beständig erneuerte Verpflichtung auf die Institutionen sozialer Sicherheit als Mittel der Selbsterneuerung zu nutzen.

3.

Soziale Selbstverwaltung und sozialer Schutz

Denn die Selbstverwaltung der Sozialversicherung verbürgt vor allem die Nähe in ihrer ganzen Fülle des Wortes: Sachnähe, Fachnähe, räumliche Nähe, Wirtschaftsnähe, Problemnähe, Lebensnähe. Kurzum, Selbstverwaltung heißt Recht zugleich als concretum wahrnehmen und als Artefakt begreifen, das politisch gemacht und daher auch politisch geändert werden kann. Sozialrecht schafft eine Kunstwelt, die es ohne Recht nicht gäbe. Sie wirkte nicht gesellschaftlich ohne die aktive Teilhabe von deren Adressaten. Wenn Arbeitgeber keine Beiträge abführten und Arbeitnehmer keine Mitwirkungserwartungen erfüllten und keine Begehren erhöben, wäre die Sozialversicherung nicht wirkmächtig. Sozialversicherung lebt deshalb entscheidend vom Mittun ihrer Adressaten. Die Verwaltung ist nur das Medium, das funktioniert, wenn die sie tragenden finanziellen Stützen und sozialen Berechtigten und die übrigen Nutznießer sie annehmen und als Institution ausfüllen. Sozialversicherung lebt aus dem Geist der Gemeinschaft, den der Vordenker des Kommunitarismus Philip Selznick93 dahin umschreibt: »A community is not a special purpose or organization. It is a comprehensive framework for social life …Communities are, ideally, settings within which mediated participation takes place … The community is a locus of commitment, to be sure, but within it is preserved a substantial degree of autonomy and rationality.«

Einer solchen Solidargemeinschaft ist die Selbstverwaltung kongenial, weil sie die Verwaltung auf gesellschaftliche Institutionen und Mentalitäten aufbaut, um diese zu verstärken und weil der Staat sie braucht und nicht aus eigner Machtvollkommenheit hervorbringen könnte. Die soziale Selbstverwaltung entspricht daher der sozialen Struktur der Sozialversicherung. Sie gibt der Sozialpartnersozialen Rechts, in ders., herausgegeben von Otto Kahn-Freund/Thilo Ramm, Arbeitsrecht und Rechtssoziologie, Frankfurt am Main, Band 2, 1976, 164ff. 93 Ders., The Idea of Communitarian Morality, 75 (1987) California Law Review, 445, 449.

Selbstverwaltung im Sozialrecht

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schaft Ausdruck und bringt Wirtschaft und Soziales zum Ausgleich, dass dadurch die Gesellschaft Maß und Mitte finde. Deshalb ist die soziale Selbstverwaltung nicht und durch nichts zu ersetzen.

Diskussion (4. Teil)

Cancik (Diskussionsleitung): Vielen Dank, Herr Eichenhofer, für diesen reichen Vortrag, der die Grundfragen gestellt hat: was ist Sozial-Versicherung, was ist Sozial-Verwaltung. Ich traue mich gar nicht, Ihnen vorzutragen, was mir bei Ihrer Schilderung der Wahl durch den Kopf ging. Ich weiß nicht, ob Sie »Asterix auf Korsika« kennen, mit der Erzählung, wie der Dorfchef gewählt wird. Da werden die Urnen gefüllt mit allen Stimmen und versiegelt. Dann wird die Urne ins Meer geschmissen und der Stärkste gewinnt. Daran erinnerte mich das ein bisschen. Aber Scherz beiseite, wir haben ein ganz engagiertes Plädoyer dafür gehört, dass die Sozialversicherung bei allen ihren Defiziten doch ungefähr so sein solle, wie sie ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es hier gleich Zustimmung gibt, aber vielleicht auch ein bisschen Widerspruch. Ich schaue in die Runde. Ja, bitte schön. Hufen (Universität Mainz): Herr Eichenhofer, Sie haben das Loblied der Selbstverwaltung gesungen und gerade aus der Perspektive des den Grundrechten und dem Einzelnen sehr nahestehenden Staatsrechtslehrers ist das, glaube ich, ein sehr wichtiger Ton und ich würde ihn in allen Tönen mitsingen. Aber, mich treibt ein bisschen um, wie bei jeder Selbstverwaltung, wer ist selbst und wer wird verwaltet und bei wem entstehen die Folgen, wer ist Betroffener? Sie haben zu Recht gesagt, wir können Selbstverwaltung nicht überall so organisieren, dass Betroffenenpartizipation entsteht. Aber wir erleben ja gerade im Moment bei der Tarifautonomie, dass die wirklich Betroffenen nicht am Tisch sitzen, dass die wirklichen Schäden dort entstehen, wo nicht Arbeitgeber und Arbeitnehmer sozusagen aufeinander zugehen und sich ausgleichen usw., sondern bei uns, die wir gar nicht hier wären, wenn wir mit der Bahn hätten fahren müssen letzte Woche. Das sind Dinge, die mich so ein bisschen umtreiben und ich denke, auch in der Sozialverwaltung haben wir bei aller Berechtigung der Konzentration auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer, als Teilnehmer am Spiel, die auch am Tisch sitzen, auch dort haben wir Leute, die am Katzentisch sitzen, die nicht betroffen sind. Sie haben schon gesagt, die Patienten haben nichts zu

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Diskussion (4. Teil)

sagen, obwohl sie ja die Betroffenen sind. Leistungserbringer, die Ärzte, selbst die vielgescholtene Pharmaindustrie ist elementar abhängig in ihren Grundrechten, abhängig von dem, was hier in Selbstverwaltung anderer entschieden wird. Wie können wir das unter einen Hut bringen? Wie können wir die wirklich Betroffenen mit beteiligen an der Selbstverwaltung? Das treibt mich um. Cancik: Wir könnten noch Fragen sammeln, sofern sich jemand meldet? Herr Löwer bitte. Löwer (Universität Bonn): Herr Eichenhofer, es gibt noch eine Beziehung zwischen dem ersten Vortrag heute Vormittag zur Demokratietheorie des Bundesverfassungsgerichts und zu Ihren, zum Teil jetzt übersprungenen Darlegungen zum demokratischen Prinzip in der Selbstverwaltung. Das Bundesverfassungsgericht war im 107. Band, in der Lippe-Verbandsentscheidung, mit dem demokratietheoretischen Problem konfrontiert, wie sachliche Legitimation eigentlich gewährleistet sein soll, dass nicht das Gesamtvolk die Legitimationsquelle ist, sondern Betroffene. Und dort hat das Bundesverfassungsgericht die Sozialversicherungsträger als Beleg dafür angeführt, dass das Grundgesetz diese Form der Selbstverwaltung ja kennt, und hat dann weiter hinzugefügt, dass das Demokratieprinzip – ich kriege die Formulierung jetzt nicht genau zusammen – ja doch offen sei für eine Mitwirkung jenseits des eigentlichen Legitimationsprinzips der Demokratie, das von Staatsvolk spricht. Insofern ist diese Betroffenenlegitimation in jeder Hinsicht gerechtfertigt. Das heißt nicht, Herr Hufen, dass Wirkungen nicht auch Dritte treffen könnten, das ist bei normativen Entscheidungen häufig der Fall. Ich würde allerdings widersprechen, Herr Eichenhofer, dass Arbeitgeber nicht Betroffene sind, weil sie die Finanzierungsbetroffenen sind und sie gehören deshalb mit in das Boot hinein. Ansonsten vielen Dank auch für die gelehrten Fußnoten, die ich mit großem Vergnügen lese. Cancik: Ich gucke nochmal in die Runde. Gibt es noch Fragen oder Anmerkungen? Wenn das nicht der Fall ist, gebe ich Ihnen nochmal das Wort, Herr Eichenhofer. Eichenhofer : Also, im Grunde genommen sind beide Einwände außerordentlich interessant, weil sie den fiktionalen Charakter der Selbstverwaltung klarmachen. Die traditionelle Doktrin, die ja im Grunde genommen der Geist der 50er Jahre ist, das haben Sie wahrscheinlich gemerkt, das ist die Rekonstruktion der demokratischen Sozialversicherung nach 1945. Nachdem die Nazis diese Selbstverwaltungsstruktur zerstört hatten, hat man sie wieder in der Tradition der Vor-Nazi-Zeit rekonstruiert und hat sich sehr stark von dieser Vorstellung von

Diskussion (4. Teil)

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Sozialpartnerschaft, die die 50er Jahre geprägt hat, inspirieren lassen. Die Rechtsentwicklung ist seit dieser Zeit, jedenfalls was die Vertretung der Versicherten und der von der Versicherung Betroffenen, nicht weiter gegangen. Das heißt, worüber ich geredet habe, was so ein bisschen retromäßig klingt, ist natürlich nichts anderes als eine Schicht von Rechtsentwicklung, die in den 50er Jahren entstanden und seit dieser Zeit nicht mehr essentiell verändert worden ist. Es ist in nun andere Gesetzesform gekleidet worden, aber der Geist ist der gleiche geblieben. Sie weisen natürlich zu Recht darauf hin, dass diese Art von Partizipation problematisch ist im Hinblick auf eine Tarifvielfalt, die hinter die Idee der Einheitsgewerkschaft zurückfällt, GDL ist das Stichwort. Dann die Prägekraft der Tarifverträge, denn die Tarifverträge prägen die Arbeitsverhältnisse von 40–50 % in Ostdeutschland und 50–60 % in Westdeutschland und zwar bei einer geringer werdenden Zahl von Beschäftigten, weil die Beschäftigtenstruktur sich ändert. Das heißt, im Grunde genommen ist dieses Legitimationsmodell, das ich Ihnen vorgestellt habe, historisch erklärbar aus einer anderen wirtschaftlichen Sozialverfassung als die, die wir haben. Die Reaktion, die jetzt die Politik betreibt, ist zu versuchen, dass dort, wo diese Legitimationsmodalitäten sich als unzureichend erweisen, Musterbeispiel: gemeinsamer Bundesausschuss, neue Legitimationsressourcen zu mobilisieren. Der Bundesausschuss moderiert ja den Grundkonflikt zwischen dem ärztlichen Behandlungswahn, der einen titanenhaften Touch haben kann, »wir können alles, wenn die Kohle stimmt«, und den wirtschaftlichen Möglichkeiten, die die Krankenkassen präsentieren, die sagen, »wir können auch nicht den letzten Wunsch auf medizinische Optimierung bezahlen«. Dieser Grundkonflikt wird nun in diesem gemeinsamen Bundesausschuss moderiert. Die Beteiligung der Patientenvertreter hat nun den Sinn, dass man sagt, ja, wir können da aber sozusagen noch einbringen die im Sinne von John Rawes die Schwächstenperspektive, die nicht die Perspektive der Kassen ist, die ja Arbeitgeber und gesunde Arbeitnehmer vertreten, die können wir noch einfordern. Das heißt also mit anderen Worten, dieses partizipatorische Verlangen, das Sie formulieren, hat seinen Ort in der Überwindung von Defiziten, die das klassische Modell hinterlässt. Das ist mal klar. Insoweit ist die Frage nach der Betroffenheit sehr differenziert zu sehen. Da gibt es einmal die Betroffenheit, ich habe da noch ein Zitat, das muss ich auch mal reinbringen, dass die Gewerkschaften sozusagen den Anspruch erhöhen für die Arbeiterschaft als Ganze zu sprechen. Das ist auch so ein Legitimationsmuster, das sozusagen für dieses gesamte Selbstverwaltungskonstrukt besteht. Also, wenn wir sagen, die Gewerkschaften sind Vertreter von 200 Spezialisten und das interessiert und alles andere interessiert sie nicht, dann ist diese Vorstellung von Selbstverwaltung erledigt. Das heißt mit anderen Worten, ohne diesen letztlich gesamtgesellschaftlichen Anspruch, den die Verbände erheben müssen, um in diesem Selbstverwaltungskonzept legitim vorzukommen, ist eine

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Diskussion (4. Teil)

Begrenzung auf die Interessen einzelner Gruppen nicht vereinbar. Das ist klar. Darauf spielen Sie ab. Ich habe nicht gesagt, dass die Arbeitnehmer nicht betroffenen wären, ich habe nur gesagt, sie sind anders betroffen. Die Versicherten sind als Versicherte, die Arbeitgeber als Finanzierer oder als Mitfinanzierer betroffen und das ist eine unterschiedliche Form von Betroffenenheit, die aber auch genau in diesem Selbstverwaltungskonstrukt angelegt ist. Das heißt mit anderen Worten, natürlich geht ohne den Arbeitgeber nichts. Das hängt auch damit zusammen, dass die Sozialversicherung partiell Arbeitgeberfunktionen übernimmt, nehmen Sie das Beispiel der Unfallversicherung. Die Unfallversicherung ist ja nicht nur eine Eigenvorsorge für die versicherten Arbeitnehmer, sondern ist zugleich eine Haftpflichtversicherung für die Arbeitgeber, Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz, Sie kennen das. Von daher ist das klar, dass die Arbeitgeber a. in ihrer Funktion als Finanzierer, b. aber auch in ihrer Funktion als Mitgaranten von Riskmanagement, um das mal so schick zu formulieren, gebraucht werden. Stichwort: betriebliches Eingliederungsmanagement, Stichwort: Unfallverhütungsvorschriften, die zu schaffen, ist eine Riesenaufgabe der Unfallversicherer. Und die Funktion dieser Unfallverhütungsvorschriften besteht darin, die Arbeitgeber mit dem Gedanken anzufreunden, dass es besser ist, sichere Arbeitsplätze zu schaffen, als Risiken einzugehen. Das ist auch finanziell günstiger. Also, natürlich, ohne Arbeitgeber geht es nicht. Das paritätische Prinzip muss man erklären. Das paritätische Prinzip kann man nur dadurch erklären, dass man sagt, die Betroffenheit anerkennen wir, wir anerkennen sie auch in ihrer prinzipiellen Verschiedenheit. Das rechtfertigt auch die Parität. Wenn ich vielleicht noch etwas sagen darf: das Thema Demokratie und Selbstverwaltung. Ich versuchte das anzudeuten, aber habe es nicht so richtig ausdiskutiert. Ich glaube, dass wir uns von der Vorstellung der Partizipationsformel nach einem Muster verabschieden müssen. Das heißt, es gibt die den jeweiligen Vergesellschaftungsmodus gemäße Partizipationsform, die in der Gemeinde im Land, in Europa, im Bund, je unterschiedlich aussehen kann und die in den konkreten Vergesellschaften der Lebenswelt als Konsumenten, als Arbeitnehmer, als von sozialen Diensten Betroffener, unterschiedlich aussehen muss. Bei den Friedenswahlen, was Frau Cancik angesprochen hat, da wollte ich halt diesen autoritären Grundzug deutlich machen. Das heißt mit anderen Worten, in den Friedenswahlen steckt natürlich ein Element demokratischen Zentralismus’ drin. Das ist klar. Das ist SED, wenn Sie das kritisch wenden wollen. So ist in der DDR auch gewählt worden, Zettel falten haben die diese Art von Wahl genannt. Man muss sich aber die Frage stellen: Warum soll nicht in einem System der Einheitsgewerkschaft und in einem System, in dem idealiter ganze Wirtschaftszweige in einem Berufsverband organisiert sind, warum sollen da nicht die Verbände auch ihre Leute zu Sozialversicherungsgremien schicken,

Diskussion (4. Teil)

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wenn die Verbände demokratisch sind? Das heißt, ich wollte da die Parallele zu den Parteien ziehen, wo wir ja auch autoritative Elemente haben müssen, und der politische Prozess begünstigt diese, etwa beim Mehrheitswahlrecht. Wir begünstigen die großen Gruppen, das halte ich auch für legitim, und da steckt vielleicht ein autoritärer Zug, in dem demokratischen Partizipationssystem durch die Medien die wir im demokratischen Prozess brauchen, durch die Parteien drin. Das scheint mir ganz verständlich zu sein. Und die Verbände haben in dieser sozialen Selbstverwaltung eine ähnliche Funktion. Das wäre dann glaube ich meine Antwort, dass man sagt, Demokratie ist auch mit autoritativen Entscheidungsrechten kompatibel. Das ist auf den ersten Blick absolut ungewohnt, aber wenn man länger darüber nachdenkt, wenn man nach den sozusagen einheitsstiftenden Elementen demokratischer Mitbestimmungsprozesse sucht, wird man sie überall finden. Das ist ein Punkt, den habe ich übersprungen aus Gründen der Zeit. Dann kam ja noch dieser »El pueblo unido, jam‚s ser‚ vencido«: diese Idee, dass also auch in demokratischen Prozessen notwendigerweise Einheit stiftende Momente angelegt sein müssen in einem Partizipationssystem und dass das nicht fürchterlich ist, sondern normal. Das ist die Kehrseite der Wahlfreiheit. Cancik: Vielen Dank. Bestehen noch Fragen? Dann danke ich Ihnen sehr für die großen Dinge, die Sie uns geboten haben und darf zum Abschluss das Wort übergeben an Jörn Ipsen.

Professor Dr. Jörn Ipsen

Schlusswort

Meine Damen und Herren, auf dem Programm steht »Dankesworte und Schlusswort«. Zunächst kommen die Dankesworte. Ich bin begeistert, ich bin gerührt und ich bin erleichtert. Ich fange mit meiner Erleichterung an. Ich bin nicht etwa erleichtert, weil die Tagung jetzt zu Ende ist; ich hätte noch Stunden – ja Tage – zuhören können. Ich bin erleichtert, weil von mir die Last genommen ist, jährlich die Bad Iburger Gespräche zu veranstalten. Ich darf – mit Ihrer Erlaubnis, Frau Cancik – die diesjährigen Bad Iburger Gespräche einbeziehen und komme summa summarum, wenn man für jedes Bad Iburger Gespräch sechs Referate veranschlagt, im Laufe der letzten 25 Jahre auf 150 Referenten. Die durchschnittliche Teilnehmerzahl lag bei 100 Personen, insgesamt sind also 2500 Teilnehmer zu den Bad Iburger Gesprächen angereist. Manche der hier Anwesenden haben bei den Bad Iburger Gesprächen referiert, andere sich an den Diskussionen beteiligt. Es kam jeweils darauf an, zu Beginn des Jahres Thema und Referenten zu finden, die im Herbst noch aktuell sein würden, um eine möglichst große Zahl von Adressaten anzusprechen. Das ist in unserer schnelllebigen Zeit nicht ganz einfach und diese Last wird in Zukunft auf den Schultern von Frau Cancik und Herrn Hartmann ruhen. Dass mich das erleichtert, ist sicher nicht unverständlich. Ich bin gerührt von den Bekundungen der Freundschaft und der wissenschaftlichen Anerkennung. Mein verstorbener Vater hätte sich gefreut, meine verstorbene Mutter hätte es geglaubt. Es zählt zu den Üblichkeiten solcher Anlässe, dass man etwas übertreibt. Aber selbst wenn ich diese Übertreibungen abziehe, bleibt so viel übrig, dass ich gerührt bin. Ich bin aber auch begeistert von den Vorträgen des heutigen Tages, die von Kollegen gehalten worden sind, die auf diese oder jene Weise meinen Weg begleitet oder gekreuzt haben. Sie alle haben heute ein Beispiel für das hohe Niveau unserer Rechtswissenschaft und ihr verwandte Wissenschaften geleistet. Das war mein Dankeswort und ich komme jetzt zu meinem Schlusswort, für das ich sogar noch etwas Zeit habe. Ich will Sie allerdings nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Demokratie und Selbstverwaltung: Lassen Sie mich mit

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Jörn Ipsen

einer Episode aus meiner Schulzeit beginnen. Wenn man älter als 70 Jahre ist, darf man Histörchen erzählen. Erwarten Sie aber bitte keine FeuerzangenbowleAnekdote. Es geht um etwas viel Ernsteres. Ich bin seit jeher politisch interessiert gewesen, konnte mich aber nie entschließen, einer Partei oder auch Jugendorganisation beizutreten. Ich habe stattdessen in politischen Arbeitskreisen an Schulen – PAS – mitgewirkt. Wir befinden uns mitten im Kalten Krieg der beginnenden 60er Jahre. Ich bin Vorsitzender der Arbeitskreise in der Stadt Flensburg. Mit anderen Schülern komme ich auf die Idee, man müsse endlich mal mit den Sowjets reden, weil es keinen Zweck habe, nur Memoranden auszutauschen und über die andere Seite, nicht mit ihr zu sprechen. Die politischen Arbeitskreise an Schulen wurden seinerzeit durch die Landesregierung – den Landesbeauftragten für staatsbürgerliche Bildung in Schleswig-Holstein – finanziell unterstützt. Als der Landesbeauftragte von unseren Plänen erfuhr, bedeutete er uns, dass eine Förderung nicht mehr in Betracht kommen würde, wenn wir unseren Plan verwirklichten. Mit anderen Worten: es würde keine Mark mehr fließen. Daraufhin haben wir uns entschlossen, die Sache zu privatisieren und einen Verein zu gründen. Wir nannten ihn »Democratia – Gesellschaft zur Förderung des demokratischen Bewusstseins e.V.«. Die Eintragung war nur möglich, weil eine Arbeitsgemeinschaftsleiterin – der Frauenfachschule – bereits 21 Jahre alt war, während wir anderen erst 18 Jahre alt waren. Wir gründeten also eine Gesellschaft und richteten an die sowjetische Botschaft in Bonn eine Einladung zu einem Gespräch. Es verging lange Zeit bis zu einer Antwort und es ist zeitgeschichtlich nicht ganz uninteressant, dass diese nach Ende der Kuba-Krise eintraf und eine Gesprächsbereitschaft der Sowjetunion selbst auf unterer Ebene andeutete. Uns wurde mitgeteilt, dass zwei Mitglieder der sowjetischen Botschaft in Bonn – der erste Botschaftssekretär Mamontov und der zweite Botschaftssekretär Vladimirov – zu einem bestimmten Zeitpunkt nach Flensburg kommen würden und zu einem öffentlichen Gespräch bereit seien. Inzwischen waren die Oberstudiendirektoren aller Gymnasien informiert und weigerten sich, einen ihrer Räume zur Verfügung zu stellen. Nur ein Mittelschulrektor, der die Dinge nicht so genau verfolgt hatte, meinte, »Warum nicht« und stellte uns seine Aula zur Verfügung. In der Tat gab es ein überaus spannendes Gespräch zwischen uns Schülern und den beiden Sowjetdiplomaten. Wir fragten natürlich, wie sie dazu gekommen seien, Atomwaffen auf Kuba zu stationieren. Die Diplomaten verwiesen auf die Stationierung amerikanischer Raketen in der Türkei, von denen eine Bedrohung für die Sowjetunion ausgehe. Das sehr offene Gespräch war für die damalige Zeit – Anfang 1963 – ein völlig unglaubliches Ereignis. Die schleswig-holsteinische Presse berichtete eingehend; eine Schlagzeile lautete: »Schüler drückten Sowjets an die Wand«. Die Sache hatte etwas mit Demokratie und Selbstverwaltung zu tun, denn wir nahmen als Schüler unsere Freiheitsrechte in Anspruch und organisierten das

Schlusswort

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Gespräch in Selbstverwaltung. Es folgte ein Nachspiel: die Landesregierung übte Druck auf uns auf und veranlasste den Landessprecher zum Rücktritt. Mit anderen Worten: damals musste man noch Demokratie lernen. In dem Verwaltungsrechtslehrbuch von Ernst Forsthoff, das bis in die 70er Jahre hinein große Verbreitung gefunden hat, findet sich der Satz: »Demokratie und Selbstverwaltung sind unverwechselbar geschieden«. Hierin spiegelt sich eine Auffassung von Selbstverwaltung, die in der deutschen Staatsrechtslehre Tradition hatte. Selbstverwaltung wurde nicht etwa als Form der Verwirklichung von Demokratie – und möglicherweise die wichtigste – begriffen, sondern als »Disziplinierung von Sozialbereichen«. Der als allmächtig gedachte Staat ließ folglich nur in einzelnen Bereichen den Bürgern Spielräume für die Mitwirkung an örtlichen Aufgaben. Dass eine solche Auffassung heute nicht mehr vertretbar ist und nicht mehr vertreten wird, ist ein gutes Zeichen. In jeder Gemeindeordnung – auch in unserem Kommunalverfassungsgesetz – ist zu lesen, dass die Gemeinden die Grundlage der Demokratie sind. Demokratie war heute ein wichtiges Thema und ich möchte daran erinnern, dass die Demokratie in Deutschland nicht erkämpft worden ist, sondern ein Geschenk der Alliierten war, das zunächst nur zögernd angenommen worden ist. Michael Stolleis hat im vierten Band seines großartigen Werks ein Kapitel überschrieben mit »Lehrjahre der Demokratie«. Das trifft in der Tat den Punkt und wenn man sich mit der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik beschäftigt und insbesondere einen Blick auf die frühen 50er Jahre wirft – bevor das Wirtschaftswunder begonnen hat –, dann sieht man eine starke Reserve gegenüber dem Grundgesetz, das häufig als »Schundgesetz« diskreditiert wurde. Die Selbstverwaltung hat, wie wir soeben von Eberhard Eichenhofer gehört haben, zwar eine lange Tradition in Deutschland, hat sich aber erst im Laufe der Zeit mit der Demokratie verbunden. Eine zweite biographische Begebenheit stammt aus dem Jahr 1968. Befürchten Sie bitte keine Hommage an die Studentenbewegung; zum einen bin ich kein 68er und will auch heute die 68er-Bewegung ruhen lassen, obwohl sie unserer Demokratiediskussion wichtige Impulse vermittelt hat. Das hier zu berichtende Erlebnis ist ganz anderer Art. Ich habe 1968 mit einem Freund zusammen in meinem alten VW eine Ferienreise von Flensburg nach Istanbul gemacht; kürzer ging es nicht. Ich möchte kurz ins Bewusstsein zurückrufen, wie seinerzeit die europäische Landkarte aussah. Österreich war das letzte demokratische Land, das wir durchreisten. Jugoslawien stand unter der Herrschaft Titos, Bulgarien wurde von Schiwkow beherrscht, in Rumänien bestand das Schreckensregime Ceaucescus. In Griechenland herrschten die Obrisken und in der Türkei bestand ein semiautoritäres Regime. Wenn man den Blick nach Westen richtete, herrschte in Spanien der Diktator Franco, in Portugal Salazar. Die Länder hinter dem Eisernen Vorhang brauche ich nicht zu erwähnen. Die

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Demokratie hat in Europa seitdem – allen Voraussagen der Theorie zum Trotz – einen historisch einzigartigen Siegeszug angetreten. Die Auswirkungen eines Rückschlags haben wir seinerzeit selbst beobachten können. Der Prager Frühling hatte für die Bürger der Tschecheslowakai eine gewisse Reisefreiheit mit sich gebracht, die die Bürger auch zu Reisen nach Rumänien ausnutzten. Nach dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 sahen wir die Schlangen tschecheslowakischer Autos vor der Grenze stehen und die Menschen, die in ein besetztes Land zurückkehrten, in ihren Radios die neuesten Nachrichten hörend. Ich möchte mit diesem kurzen Rückblick der sehr verbreiteten Kritik an Europa und am Euro entschieden entgegentreten. Es ist heute unter Historikern keine Frage mehr, dass der Euro und die Wiedervereinigung die beiden Seiten einer Medaille waren. Das wird zwar von politischer Seite stets bestritten und noch vor wenigen Tagen hat Genscher bekundet, die Pläne für eine gemeinsame Währung hätten bereits vor der Vereinigung vorgelegen. Indes ist nicht zu bezweifeln, dass die deutsche Einigung mit ihrem Zwei-plus-Vier-Vertrag so nicht zustande gekommen wäre, wenn sich die Bundesrepublik nicht schon im Dezember 1989 zur Einberufung einer Regierungskonferenz bereit erklärt hätte. Insofern ist die Formel »Euro gegen Wiedervereinigung« zutreffend, aber auch eine Kennzeichnung richtiger Politik. In meiner Generation war der Wunsch nach einer Wiedervereinigung stets lebendig, denn wir haben uns mit der Teilung Deutschlands nie wirklich abgefunden. Für die Wiedervereinigung war deshalb kein Preis zu hoch und dass der Euro Europa weiter zusammengefügt hat, kann jeder ermessen, der eine Reise nach Rom, nach Paris oder wo auch sonst hin, unternimmt. Ich möchte davor warnen, besserwisserisch aufgrund eigener Theoriekonzepte die Demokratie anderer europäischen Staaten zu kritisieren. Wir sind nicht die Lehrmeister Europas und ich sehe nicht ohne Sorge, dass das Bundesverfassungsgericht sich nicht nur als praeceptor Germaniae, sondern als praeceptor Europae geriert. Die letzten Entscheidungen die in ihrer epischen Breite der Vereinigung Europas Grenzen zu setzen versuchen, scheinen mir vor dem Hintergrund unserer Geschichte überaus problematisch zu sein. Ich komme in einem letzten Punkt auf die kommunale Selbstverwaltung und leiste damit einen kleinen Beitrag auch zu diesem Thema der Tagung. Kommunale Selbstverwaltung ist zum einen kommunale Verwaltung. Sie ist also begrenzt auf lokale, allenfalls regionale Einheiten. Man könnte das Beispiel des Riesen Antäus oder Antaios wählen, der von der Erdmutter Gaia immer mit Riesenkräften versorgt wurde. In dem Moment, in dem er sich von der Erde löste – er hat ja gegen Herkules gekämpft – versagten seine Kräfte, weil er von seiner Erdmutter keine neuen Energien bekam. Genauso ist es mit der kommunalen Selbstverwaltung. Soweit sie sich von ihrem Boden löst – von ihrer »Erdmutter« –, wird sie pro-

Schlusswort

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blematisch und es gibt eine Fülle von Beispielen, dass das Ausweichen auf andere Märkte katastrophale Folgen gehabt hat. Die kommunale Selbstverwaltung ist Selbstverwaltung und hier schließt sich gewissermaßen der Kreis hinsichtlich des von Forsthoff vorausgesetzten Verhältnisses von Selbstverwaltung und Demokratie. Die kommunale Selbstverwaltung ist nämlich eine demokratisch legitimierte Verwaltung, nämlich eine Verwaltung, in der der Bürger die Möglichkeit hat, unmittelbar in die Verwaltung hineinzuwirken. Dabei will berücksichtigt sein, dass die kommunale Selbstverwaltung eben auch Verwaltung ist und hier stellt sich ein Problem, das ich an dieser Stelle nicht unerörtert lassen will. Wir verzeichnen ja eine Tendenz der Flucht ins Privatrecht, mit anderen Worten: viele Verwaltungsaufgaben werden nicht durch die Kommunalverwaltung im engeren Sinne erfüllt, sondern durch von der Kommune gegründete Gesellschaften, nämlich durch Aktiengesellschaften, regelmäßig aber durch Gesellschaften mit beschränkter Haftung. Sieht man sich die gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsberichte an, dann haben wir es nicht mehr mit der Kommune, wie sie dem Idealtypus entspricht, zu tun, sondern mit einem kommunalen Konzern. Dieser ist vielfach gestuft und hat Beteiligungsgesellschaften, denen wiederum Untergesellschaften nachgeordnet sind. Bei einer deutschen Großstadt, deren Name ich nicht zu erwähnen brauche, weist der Beteiligungsbericht rund 60 unterschiedliche Gesellschaften auf. Dass solche Gesellschaften zum einen die Neigung zur Verselbständigung haben, zum anderen aber Unternehmensparadigmen übernehmen, ist durch vielfache Veröffentlichungen geklärt. Insofern sind wir hier in der Tat an einem kritischen Punkt, dass nämlich die eigentliche Selbstverwaltung dadurch in Frage gestellt wird, dass wir eine Fülle privatrechtlicher Gesellschaften haben. Nebenbei sei bemerkt, dass in den Kontrollorganen, nämlich den Aufsichtsräten, die ja auch für Gesellschaften mit beschränkter Haftung vorgeschrieben sind, eine solche Vielzahl von Mandaten zu verteilen ist, die von einem Rat oder einem Kreistag sachkundig kaum zu bewältigen ist. Lassen wir es bei diesen wenigen Andeutungen als Schlusswort genügen. Ich darf als Fazit meiner eigenen Arbeit in Osnabrück – ich habe 1981 angefangen, das Institut ist 1989 gegründet worden – sagen, dass ich stets der Unterstützung des Landkreises und der Stadt habe sicher sein können. In diesem Rittersaal, der den festlichen Rahmen des heutigen Symposiums bildet, hat die Fakultät im Juli 1986 ein Bankett zu Ehren des UNO-Generalsekretär P¦rez de Cu¦llar gegeben, den am jenen Tag der erste Ehrendoktor unserer Fakultät verliehen worden ist. Dass an einem so heiligen Ort das Symposium aus Anlass meines Geburtstages stattfindet, erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und ich darf Ihnen allen für Ihr Erscheinen zu diesem Anlass herzlich danken.

Teilnehmer

Leitung des Symposiums Professorin Dr. Pascale Cancik Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Professor Dr. Bernd J. Hartmann, LL.M. (Virginia) Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück

Referenten Professor Dr. Dr. h.c. mult. Eberhard Eichenhofer Friedrich-Schiller-Universität Jena Professor Dr. Hubert Meyer Geschäftsführendes Vorstandsmitglied, Niedersächsischer Landkreistag Professor Dr. Christoph Möllers, LL.M. Humboldt-Universität zu Berlin Professor Dr. Edzard Schmidt-Jortzig Bundesminister a.D., Universität Kiel Professor Dr. Gunnar Folke Schuppert Wzb Rule of Law Centers, Berlin

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Teilnehmer Beigeordneter a.D. Heinrich Albers Sarstedt Kreisrat Rolf Amelsberg Landkreis Gifhorn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Christian von Bar European Legal Studies Institute, Uni Osnabrück Professor Dr. Hartmut Bauer Universität Potsdam, Dresden Geschäftsführer Martin Bienen PBW Treuhand GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, Bünde Stud. iur. Mareike Coordes Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Wiss. Mit. Jan Benjamin Daniels Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Präsidentin des Verwaltungsgerichts Dr. Bettina Dick Leizpig Professor Dr. Oliver Dörr, LL.M. European Legal Studies Institute, Universität Osnabrück Dr. Thomas Drewes Landkreis Osnabrück Rechtsanwältin Dr. Eva Ehebrecht-Stüer Münster Heidi Eichenhofer Jena

Teilnehmer

Teilnehmer

Ministerialrat Professor Dr. Joachim Erdmann Nds. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr Professor Dr. Thomas Groß European Legal Studies Institute, Universität Osnabrück Erster Gemeinderat Wigbert Grotjan Gemeinde Moormerland Hans-Jörg Haferkamp Landkreis Osnabrück Ministerialrat Professor Dr. Sven Hölscheidt Deutscher Bundestag, Berlin Professor Dr. Friedhelm Hufen Universität Mainz Dr. Dorothea Ipsen Bramsche Professor Dr. Jörn Ipsen Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Professor Dr. Dr. h.c. mult. Knut Ipsen Universität Bochum Rechtsanwalt Dr. Nils Ipsen, LL.M. Freshfields Bruckhaus Deringer LLP, Berlin Wiss. Mit. Konstanze Isensee Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Fachdienstleiter Michael Klumpe Stadt Diepholz Stadtdirektor a.D. Heinz Köhne Bad Iburg

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154 Kreisrätin Dr. Sigrid Kraujuttis Landkreis Emsland Dr. Carsten Kremer, M.A., M.Jur. (Oxford) Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Professor Dr. Jörg-Detlef Kühne Universität Hannover Susanne Küpper Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Professor Dr. Wolfgang Löwer Universität Bonn Kimberly Lübbersmann, M.A. Landkreis Osnabrück Landrat Dr. Michael Lübbersmann Landkreis Osnabrück Professor Dr. Siegfried Magiera Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer Wiss. Mit. Dr. Georgia Marfels Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Professor Dr. Jörg Manfred Mössner Universität Osnabrück Stud. iur. Henrike Mustert Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Stud. iur. Antje Neelen Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück

Teilnehmer

Teilnehmer

Stud. iur. Jens Niemeyer Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Bürgermeisterin Annette Niermann Stadt Bad Iburg Professor Dr. Janbernd Oebbecke Universität Münster Professor Dr. Bodo Pieroth Universität Münster Gabriele Proske Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Stellv. Bürgermeister Christian Pundt Gemeinde Hatten Professor Dr. Dr. h.c. mult. Dietrich Rauschning Institut für Völkerrecht und Europarecht der Georg-August-Universität Göttingen Inge Rauschning Kreistag Landkreis Northeim Vorstandsmitglied Dr. Stephan Rolfes Stadtwerke Osnabrück Wiss. Mit. Gerrit Rüwe Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Dagmar Sachs Köln Professor Dr. Michael Sachs Universität Köln

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156 Regierungspräsident a.D. Professor Dr. Axel Saipa, LL.M. Technische Universität Clausthal Professor Dr. Hero Schall Universität Osnabrück Finanzgerichtspräsident a.D. Professor Dr. Siegbert Seeger Universität Osnabrück Professor Dr. Hans-Wolf Sievert Universität Osnabrück Wiss. Hilfskraft Jörn Simme Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Stud. iur. Verena Sommer Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Brigitte Starck Göttingen Professor Dr. Christian Starck Universität Göttingen Professorin Dr. Katrin Stein Hessische Hochschule für Polizei und Verwaltung, Wiesbaden Professor Dr. Bernhard Stüer Münster Bürgermeisterin Elke Szepanski Gemeinde Hatten Wiss. Mit. Bianka Trötschel-Daniels Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück

Teilnehmer

Teilnehmer

Stud. iur. Sebastian Tülk Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Professor Dr. Christoph Vedder Universität Augsburg Annegret Venhaus Landkreis Osnabrück Professor Dr. Uwe Volkmann Johannes Gutenberg-Universität Mainz Professor Dr. Albrecht Weber Universität Osnabrück Kreisrat Dr. Winfried Wilkens Landkreis Osnabrück Erster Stadtrat Ulrich Willems Stadt Bramsche Stud. iur. Carolin Wahmhoff Institut für Kommunalrecht und Verwaltungswissenschaften, Universität Osnabrück Professor Dr. Fryderyk Zoll Universität Osnabrück

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