Berlin im Krisenjahr 1923. Parallelwelten in Literatur, Wissenschaft und Kunst [1. ed.] 9783826085963, 9783826085970

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Berlin im Krisenjahr 1923. Parallelwelten in Literatur, Wissenschaft und Kunst [1. ed.]
 9783826085963, 9783826085970

Table of contents :
Frontmatter
Christine Frank Berlin im Krisenjahr 1923: Parallelwelten in Literatur, Wissenschaft und Kunst
Valentina Di Rosa Berlin – Theben hin und zurück
Cornelia Ortlieb Exile der Liebe, neue Sprachen, kleine Frauen und ihre Vorbilder
Norbert Aping 1923 – Film in Deutschlandvor der ‚Hollywood Invasion‘
Swati Acharya Berliner Straßen als Topos des Verführerischenin der Großstadtästhetik der Moderne
Jutta Müller-Tamm Albert Einsteins Berliner Jahre
Michiko Mae Hoshi Hajime: Retter der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft
Stephan Braese Diktatur der Vernunft?
Lara Tarbuk „Ich bitte um mildernde Umstände für ein Gespenst: Hier sitzt die Zeit der Inflation."
Olga Voronina Death, Reimagined: Nabokov’s Berlin Tragedies and the Art of Redemption
Vivian Liska Krise, Entscheidung und Aufschub: Walter Benjamin und Carl Schmitt oder Die Abwehr des Dezisionismusaus dem Geiste des Judentums
Arata Takeda Wider das katastrophische Verständnis der Tragödie
Yasumasa Oguro „Das dritte Reich“ vor der NS-Zeit in Ost und West
Backmatter

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Christine Frank (Hg.) — Berlin im Krisenjahr 1923 Parallelwelten in Literatur, Wissenschaft und Kunst

Berlin im Krisenjahr 1923 Parallelwelten in Literatur, Wissenschaft und Kunst

Herausgegeben von Christine Frank

Königshausen & Neumann

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2023 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics / coverart Umschlagabbildung: Das für den Titel verwendete Foto zeigt Eisenbahnschienen, die durch das Kanto-Erdbeben am 1. September 1923 im Großraum Tokio verbogen wurden. Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 137-007166 / Fotograf: Burton, W.K. (William Kinninmond); Milne, John Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 978-3-8260-8596-3 eISBN 978-3-8260-8597-0 www.koenigshausen-neumann.de www.ebook.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Inhalt Christine Frank Berlin im Krisenjahr 1923: Parallelwelten in Literatur, Wissenschaft und Kunst. Einführung in den Band .......................................7 Valentina di Rosa Berlin – Theben – hin und zurück. Figurationen des Judentums bei Else Lasker-Schüler................................. 17 Cornelia Ortlieb Exile der Liebe, neue Sprachen, kleine Frauen und ihre Vorbilder. Kafkas Berlin ................................................................................................. 37 Norbert Aping 1923 – Film in Deutschland vor der ‚Hollywood Invasion‘ ....................... 65 Swati Acharya Berliner Straßen als Topos des Verführerischen in der Großstadtästhetik der Moderne. Karl Grunes Film „Die Strasse“ (1923) ....................................................... 99 Jutta Müller-Tamm Albert Einsteins Berliner Jahre .................................................................. 115 Michiko Mae Hoshi Hajime: Retter der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Ein Beitrag zu den deutsch-japanischen Beziehungen in den 1920er Jahren .......................... 137 Stephan Braese Diktatur der Vernunft? Heinrich Mann im Krisenjahr 1923 ................... 155 Lara Tarbuk „Ich bitte um mildernde Umstände für ein Gespenst: Hier sitzt die Zeit der Inflation.“ Das Jahr 1923 in Ödön von Horváths Sladek oder: Die schwarze Armee (1928) ................ 175

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Olga Voronina Death, Reimagined: Nabokov’s Berlin Tragedies and the Art of Redemption ........................................................................ 191 Vivian Liska Krise, Entscheidung und Aufschub: Walter Benjamin und Carl Schmitt oder Die Abwehr des Dezisionismus aus dem Geiste des Judentums ............. 215 Arata Takeda Wider das katastrophische Verständnis der Tragödie. Ludwig Marcuses Die Welt der Tragödie (1923)........................................ 233 Yasumasa Oguro „Das dritte Reich“ vor der NS-Zeit in Ost und West. Von Berlin 1923 über Tokio 1913 bis nach Berlin 1900 ............................ 253 Kurzbiographien der BeiträgerInnen......................................................... 269

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Christine Frank

Berlin im Krisenjahr 1923: Parallelwelten in Literatur, Wissenschaft und Kunst Jahrestage sind ein willkommener Anlass um auf vergangene Ereignisse aufmerksam zu machen, sie aus zeitlichem Abstand noch einmal zu rekapitulieren, aber auch, um sie gesellschaftlich oder ökonomisch zu vermarkten. Der Rückblick auf ein historisches Krisenjahr erfolgt nicht ohne aktuellen Bezug. Seit 2020 erlebt auch die westliche Welt durch die CoronaPandemie, durch die Auswirkungen extremer klimatischer Entwicklungen, durch nicht einzudämmende Finanzkrisen, innerpolitische Spannungen und immer mehr in ihr Zentrum vordringende Kriegshandlungen in zunehmendem Masse Krisen, die sich kaum mehr ausblenden lassen. Als gesundheitliche und ökonomische Beeinträchtigung gehören sie unterdessen zum Alltag vieler Menschen, die sich davon überwältigt fühlen und kaum Mittel zu deren Bewältigung sehen. Diese gegenwärtige Lage war sicher eine der Voraussetzungen dafür, dass in den letzten Monaten eine überraschend große Anzahl von Sachbüchern um breitere Aufmerksamkeit für das historische Krisenjahr 1923 werben konnte. Angesichts der erneut politisch und ökonomisch angespannten Situation wird von 2023 aus mit besonderem Interesse auf das „Krisenjahr“ 1923 zurückgeblickt, allen voran die Rekonstruktion der Ereignisse durch die renommierten Historiker Mark William Jones und Volker Ullrich. Jones’ Buch 1923. Ein deutsches Trauma erschien 1922 zuerst in der deutschen Übersetzung und erst ein Jahr später im englischen Original; 1 Ullrichs Buch Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund entstand während des pandemiebedingten Lockdowns und gehört unterdessen zu den im deutschen Sprachraum meistzitierten Darstellungen dieses Jahres. 2 Auf diese Darstellungen folgten mehr als zehn weitere einschlägige Titel, darunter Christian Bommarius’ Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923, Jutta Hoffritz’ Totentanz. 1923 und seine Folgen, Peter Longerichs 1

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Jones, Mark: 1923. Ein deutsches Trauma. Basierend auf neu erschlossenem Quellenmaterial aus europäischen Archiven. Berlin: Ullstein Buchverlage 2022 (übersetzt von Norbert Juraschitz); ders., 1923. The Forgotten Crisis that Led to Hitler’s Rise to Power. New York: Basic Books, 2023. Ullrich, Volker: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund C.H.Beck, München 2022, zweite Auflage 2023.

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Außer Kontrolle. Deutschland 1923, Wolfgang Niess’ Der Hitlerputsch 1923. Geschichte eines Hochverrats, Peter Reichels Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923 und Peter Süß’ 1923. Endstation. Alles einsteigen! 3 Wie sich an den Verlagsnamen ablesen lässt, gehen die meisten dieser Publikationen von einem breiteren öffentlichen Interesse für das „Krisenjahr 1923“ aus. Sie sind mehrheitlich historisch orientiert, einige jedoch widmen sich vorrangig Kunst und Kultur. Neben den politischen Spannungen und dem Disaster der Hyperinflation wird – besonders mit Blick auf Berlin – die aufblühende Unterhaltungskultur in den Fokus gerückt, und dabei das Bild einer Art Walpurgisnacht vor dem endgültigen Untergang (in Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg) gezeichnet, während die LeserInnen gewissermaßen post festum zu ‚Followern‘ der Literaten und Künstler werden, die „im Rausch“ oder „außer Kontrolle“ in den „Abgrund“ blicken, einen „Totentanz“ aufführen oder an die „Endstation“ gelangen. Schon den Titeln lässt sich die Tendenz vieler dieser Publikationen ablesen, eher eine allgemeine Sensationslust zu bedienen, anstatt die damalige Lage grundlegend zu analysieren, um daraus vielleicht Einsichten – und mögliche Strategien – angesichts der gegenwärtigen Situation zu gewinnen. Wissenschaftlichen Ansprüchen genügen viele dieser panoramatischen Skizzen nicht in ausreichendem Masse. Eine wirklich fundierte, erkenntnisorientierte Auseinandersetzung mit Literatur und Geistesgeschichte um 1923 aus der Perspektive der in diesem Jahr manifesten ‚Krise‘ wird in den genannten Publikationen kaum geleistet. Ungeachet des tages- (oder jahres-) aktuellen Jubiläums verdient jedoch das Jahr 1923, betrachtet man das ganze Spektrum der überlieferten Zeugnisse aus Literatur, Wissenschaft und Kunst, durchaus eine differenzierte Betrachtung. Die systematische Analyse der Situation um 1923, ihrer Vor- und Nachgeschichte, sowie der Vielfalt der Diskurse und Strategien, mit denen auf die Krise reagiert wurde, ist zweifelsohne ein Desiderat, das weitere Forschung wert wäre. Dies kann freilich auch in der vorliegenden Publikation nur aufgezeigt, aber nicht im erforderlichen Umfang geleistet werden. Sie versteht sich eher als Dokument einer wissenschaftlichen Bemühung, das Spektrum des kritisch zu Betrachtenden beispielhaft auszumessen, um damit einmal mehr auf die Vieldimensionalität der damaligen Krisensituation und ihrer Bearbeitung in Literatur, Wissenschaft und Kunst aufmerksam zu machen.

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Vgl. u.a. Bommarius, Christian: Im Rausch des Aufruhrs. Deutschland 1923. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 2022; Hoffritz, Jutta: Totentanz. 1923 und seine Folgen. Hamburg: Harper Collins 2022; Longerich, Peter: Außer Kontrolle. Deutschland 1923. Wien: Molden Verlag 2022; Niess, Wolfgang: Der Hitlerputsch 1923. Geschichte eines Hochverrats. München: C.H.Beck 2023. Reichel, Peter: Rettung der Republik? Deutschland im Krisenjahr 1923. München: Hanser 2022; Süß, Peter: 1923. Endstation. Alles einsteigen! Berlin: Berenberg 2022.

Ausgehend von dem allgemeinen Interesse für das Krisenjahr 1923 und mit Blick auf die damit verbundenen brisanten Fragestellungen habe ich im Sommersemester 2023 an der FU Berlin im Rahmen des Programms „Offener Hörsaal“ eine Ringvorlesung zum Thema organisiert, deren einzelne Beiträge hier mit einer Ausnahme gesammelt vorgelegt werden. Sie präsentieren punktuelle Stichproben und Analysen, bei weitem aber keine flächendeckende Darstellung des gesamten Problemfelds. Im Gegensatz zu den genannten Darstellungen unter anderen von Bommarius, Hoffritz oder Süß zeichnet die Ringvorlesung ein etwas weniger grelles, wenn auch nicht weniger beunruhigendes Bild. Sie versucht der Frage nachzugehen, mit welchen Aktivitäten, Aktionen und vielleicht auch Ausflüchten AutorInnen, Wissenschaft-lerInnen und KünstlerInnen auf die Krisen des Jahres 1923 in Deutschland – und über die Grenzen Deutschlands hinaus – reagierten, wie sie sich zu ihnen verhielten oder sich ihnen entgegen zu stemmen suchten. Die einzelnen Vorlesungen machen so auf paradigmatische Weise aufmerksam auf die Notwendigkeit einer genaueren Inblicknahme und einer umfassenderen Rekapitulation der Vorgeschichte der aufkommenden Epoche des Faschismus in diesem krisenhaften historischen Moment, wie er sich in diversen Beiträgen aus Literatur, Wissenschaft und Kunst manifestiert. Die Liste der Beispiele, die hier angeführt werden könnten, ist lang. 1923 – das ist auch das Jahr, in dem Rilkes Duineser Elegien erschienen oder Thomas Manns Felix Krull; Martin Bubers Ich und Du, Ernst Blochs Geist der Utopie und Sigmund Freuds Das Ich und das Es. In Berlin werden 1923 Walter Benjamins Übersetzungen von Baudelaires Les fleurs du mal ins Deutsche und Vladimir Nabokovs Übersetzung von Lewis Carroll’s Alice in Wonderland ins Russische gedruckt – unabhängig voneinander konzipierte und entstandene Publikationen, die dennoch alle auf ihre Weise ihrer Zeit geschuldet sind, auch wenn sie kaum je im Hinblick auf das Krisenjahr 1923 gelesen wurden. Und, das sollte nicht vergessen werden zu erwähnen, in Paris gründet 1923, genau einen Monat nach dem Beginn der Ruhrbesetzung, die den Graben zwischen Deutschland und seinen westlichen Nachbarn wieder vertiefte und die die Weimarer Republik zu zerreißen drohte, Romain Rolland zusammen mit der Gruppe Clarté die Zeitschrift L’Europe als Signal der Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich. Die heute immer noch bestehende Zeitschrift feierte 2023 ihr 100-jähriges Anniversarium. Krisen führen nicht immer in den Abgrund. Sie rufen zunächst einmal Krisenbewältigungsversuche hervor. Die Versuche des Jahres 1923 reichen über Berlin, über die deutsche Sprache, über Deutschland hinaus – und sie reichen noch bis in unsere Zeit hinein. Vielleicht lassen sich von hier aus, von 1923 aus, in der Rückschau nicht nur Indikatoren der historischen Krise, sondern Denkmodelle und Handlungsmuster erkennen, die sich auch in der Gegenwart des Jahres 2023 noch als wertvoll erweisen.

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Von den eingangs genannten einschlägigen Publikationen zum Jahr der Krise 1923 unterscheidet sich die Ringvorlesung konzeptuell durch die Einführung des Leitbegriffs der „Parallelwelten“, der in den einzelnen Beiträgen explizit und implizit aufgenommen wird. Damit wird darauf aufmerksam gemacht, dass und in welcher Weise an einem Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt ganz unterschiedliche Abläufe und Ereignisse, Gedanken und Diskurse, Entscheidungen und Schicksale stattfinden, die nicht unbedingt auf Einflüssen oder Kontakten beruhen, die aber alle unter ‚demselben Stern‘ stehen – so zum Beispiel die seltsame Koinzidenz, dass nach jahrelanger Verzögerung Charlie Chaplin’s The Kid genau an jenem 9. November 1923 (endlich) uraufgeführt – und entsprechend gefeiert – wird, an dem in München Hitler und Ludendorff durch ihren Putschversuch diesen Tag endgültig zum ‚deutschen Schicksalstag‘ machten (siehe dazu den Beitrag von Norbert Aping). Zwei voneinander völlig unabhängige Ereignisse, die dennoch in einem Zusammenhang betrachtet werden können. Ohne je aufeinander zu treffen, ohne sich nur irgend zu begegnen, bilden die Werke und Taten der unter denselben Bedingungen der sich zuspitzenden politischen und ökonomischen Krise in Berlin 1923 agierenden AutorInnen, KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen Konstellationen, die vielleicht erst im nachhinein als solche erkennbar werden, lesbar als Ausdruck dieses Krisenjahrs und als Widerstand des damit ringenden menschlichen Geists. „Berlin 1923“ war nicht eine isolierte Welt am Abgrund. Im Fokus von 1923 lassen sich „Parallelwelten“ künstlerischen und geistigen Schaffens erkennen. Sie verweisen auf die Vielfalt und Unabschließbarkeit eines Zeitbilds, das immer nur punktuell, damit aber zugleich als Teil eines Systems von Beziehungen erfasst werden kann. Symbolisch dafür steht das auf dem Titel dieses Bands reproduzierte historische Foto vom September 1923, das das Deutsche Bildarchiv freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Es zeigt die parallen Geleise einer Eisenbahnlinie. Das Motiv ist nicht etwa mit photoshop in Schwingungen versetzt worden. Die abgebildeten Geleise sind unweit von Tokyo aufgenommen worden, wenige Tage nach dem großen Kanto-Erdbeben am 1. September im Jahr 1923, in dessen Folge die Städte Tokyo und Yokohoma fast völlig zerstört wurden. Krisen gab es 1923 nicht nur in Deutschland. In Japan waren die Kräfte des Kanto-Erdbebens so stark, das die hier gezeigten Eisenbahnschienen wellenförmig verbogen wurden. Das historische Foto aus Japan, einem Land, das im Jahr 1923 eine parallel verlaufende, aber anders motivierte und anders ausgetragene Krise erlebte, betont besser als ein Bild von der Ruhrbesetzung oder von den Schubkarren voller Inflationsgeld den Aspekt der „Parallelwelten“, der in dieser Vorlesung als Leitbegriff für die diversen Auseinandersetzungen mit den Krisen des Jahres 1923 in Literatur, Wissenschaft und Kunst fungiert.

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Expliziter Fokus der Vorlesung war Berlin. Jedoch weisen einige der Beiträge auch deutlich über die Stadt und den Raum Deutschlands hinaus, so etwa im punktuellen Blick auf Vertreter des russischen Berlin oder in der mehrfachen Problematisierung der deutsch-japanischen Beziehungen im historischen Spannungsfeld zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs (aus dem Japan als eine der Siegermächte hervorging) und der sich anbahnenden Achse Berlin-Tokyo im Konzept des „dritten/Dritten Reichs“. Im Einzelnen beschäftigen sich die zwölf in dem vorliegenden Sammelband zusammengeführten Beiträge mit literarischen Texten von Else Lasker-Schüler, Franz Kafka, Ödön von Horváth, Viktor Šklovskij und Vladimir Nabokov; mit theoretischen Texten von Heinrich Mann, Carl Schmitt, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Ludwig Marcuse und Arthur Moeller van den Bruck; mit Filmen von Charlie Chaplin und Karl Grune, sowie mit wissenschaftlichen Konstellationen um Albert Einstein einerseits, um die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft andererseits. Den Auftakt macht Valentina di Rosa, die in ihrem Beitrag BerlinTheben – hin und zurück auf das Werk von Else Lasker-Schüler zurückblickt. Bei der literarisch und bildkünstlerisch tätigen Autorin steht, so di Rosa, das Krisenjahr 1923 „tatsächlich im Zeichen einer bedeutsamen Werkzäsur. Von ihr selbst werden Signale einer Schaffenskrise angedeutet, die mit einer konsequenten Umorientierung in ihrer ästhetischen Praxis sowie in ihrem Selbstverständnis als deutsch-jüdischer Autorin einhergeht.“ Auf geradezu schmerzhafte Weise schildert di Rosa nicht nur die akuten drastischen Folgen der Inflation; sie rekonstruiert auch wie LaskerSchüler in ihrem Rekurs auf das Repertoire der biblischen Symbole die antisemitischen Diffamierungen, denen die Autorin und Künstlerin auch ausgesetzt war, und damit die Berliner Parallellwelten zwischen Anerkennung und Ausgrenzung zum Ausdruck gebracht hat. Einen ähnlich skeptischen Blick wirft Cornelia Ortlieb in ihrem Beitrag über Exile der Liebe, neue Sprachen, kleine Frauen und ihre Vorbilder auf „Kafkas Berlin“. Auch hier werden „Parallewelten“ aufgezeigt: In Berlin befinden sich neben Kafka (der hier zunächst hoffnungsvoll und schließlich zunehmend bedrängt die letzten Monate seines Lebens verbrachte) noch weitere Versprengte im „Exil der Liebe“, so etwa der Literaturtheoretiker und Schriftsteller Viktor Borisovič Šklovskij, einer der bekanntesten Vertreter des russischen Formalismus und des „russischen Berlin“ der 1920er Jahre. Kafka und Šklovskij – zwei paradigmatische und dabei so verschiedene wie einmalige Gestalten, die vorübergehend, für einen Augenblick im Jahr 1923, gemeinsam und doch weit entfernt voneinander in Berlin die „Unmöglichkeit glücklicher Liebe“ umkreisten und die sich, ‚Tumulten und Aufständen‘ öffentlicher wie privater Natur entflohen, hier erneut mit ‚Tumulten und Aufständen‘ konfrontiert sahen.

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Zur selben Zeit bereitet sich im Verlauf des Jahres 1923 die bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs anhaltende ‚Hollywood Invasion‘ vor. Minutiös und detailreich zeichnet Norbert Aping nach wie der Filmpionier Charlie Chaplin ab August 1921 Deutschland gleichsam „im wahnwitzigen Tempo“ eroberte und damit US-Grotesken den Weg in die deutschen Kinos bereitete, und wie er dazu beitrug, dass der US-Film in dem ebenso wirtschaftlich prekären wie politisch aufgeheizten Jahr der deutschen Hyperinflation bestehen konnte. Komplementär dazu analysiert Swati Acharya Karl Grunes 1923 entstandenen Film „Die Strasse“, in dem Berliner Straßen als Topos des Verführerischen als Prototyp für die Großstadtästhetik der Moderne erscheinen. In einem feministisch-kritischen Ansatz zeigt sie auf, wie das damals aufkommende Genre des „Straßenfilms“, als dessen Prototyp Grunes Film gelten kann, zwar ästhetisch als hoch innovativ eingestuft werden muss, gleichzeitig aber die überkommene „Binarität der Frauenbilder innerhalb des Kodex der Sittsamkeit“ nur bestätigte. Nicht nur das neue faszinierende Medium Film war Tagesgespräch der 1920er Jahre. Auch das „Phänomen“ Einstein, besser gesagt, dessen zum Schlagwort heruntergebrochene Theorie der Relativität wurde zum vieldiskutierten Paradigma der Zeit, wobei sich progressive und konservative Geister nicht ohne weiteres unterscheiden ließen. In ihrem Beitrag über Albert Einsteins Berliner Jahre zeigt Jutta Müller-Tamm an konkreten Beispielen aus dem Jahr 1923 auf, wie Einsteins Theorie (und damit auch seine Person) „verfügbar [wurde] für affektive Besetzungen der unterschiedlichsten Art, eine Figur, an der sich die Gemengelage der Befindlichkeiten und der politisch-ideologischen Überzeugungen in den krisenhaften Jahren der frühen Weimarer Republik kristallisieren konnte.“ Als Gegenstück widmet sich Michiko Mae einem eher im Hintergrund agierenden, bis heute kaum einer größeren Öffentlichkeit bekannten Mäzen der deutschen Wissenschaft, dem chemischen Industriellen Hoshi Hajime aus Japan, der, so Mae, „an eine positive Entwicklung der Menschheitsträume durch die Wissenschaft glaubte“ und der in der inflationsbedingten Krisenzeit zum Retter der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft (die Vorgängerorganisation der heutigen Deutschen Forschungsgemeinschaft) wurde. Dieses Engagement des einstigen Kriegsgegners Japan im Krisenjahr 1923 war, wie Mae ausführt, kein Einzelfall und für die deutsch-japanischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit durchaus von wesentlicher Bedeutung. Was steht hinter der Idee einer Diktatur der Vernunft, wie sie angesichts der politisch-gesellschaftlichen Krise von 1923 Heinrich Mann in einem bedenkenswerten Pamphlet gefordert hat? Stephan Braese diskutiert Manns Argumentation dezidiert im Kontext der historischen Sachverhalte dieses Jahres vom Ruhrkampf über Stinnes’ Pressearbeit bis hin zu den politischen Entwicklungen der Regierung Cuno oder den Separationsbestrebungen

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einzelner deutscher Länder, wie sie bei Mann teils in tagespolitischer Ausdifferenzierung behandelt werden. Nur so lässt sich, argumentiert Braese, der spektakuläre Aufruf von Heinrich Mann an Stresemann, diktatorischvernünftig zu agieren, richtig einschätzen. Einen anderen Weg, um auf „die tiefgreifenden Folgen und Fortwirkungen der ausgemachten Bedrohungslage der frühen Republik im Jahr 1923“ aufmerksam zu machen, so Lara Tarbuk, wählt Ödön von Horváth. In seinem 1927/28 entstandenden Theaterstück Sladek oder: Die schwarze Armee bittet er auf entlarvende Weise „um mildernde Umstände für ein Gespenst: Hier sitzt die Zeit der Inflation.“ Detailliert rekonstruiert Tarbuk in ihrem Beitrag, inwiefern Horváth hier die illegale Aufrüstung der Reichswehr sowie die damit in Zusammenhang stehenden Fememorde von 1923 problematisiert und wie sein Stück, ausgehend von der gerichtlichen und politischen Aufarbeitung dieser Sachverhalte, die Rolle des Theaters sowie der theatralen Aufführung innerhalb einer demokratisch gedachten Öffentlichkeit neu bestimmt. Äußerlich scheinbar unberührt von den politischen Ereignissen um ihn herum, versucht nahezu zur selben Zeit und am selben Ort der junge Dichter, Romancier und Übersetzer Vladimir Nabokov, der gerade erst sein Literaturstudium in Cambridge abgeschlossen hat, die privaten Rückschläge zu verarbeiten, die ihn seit seiner Rückkehr aus England nach Berlin getroffen haben: den Tod seines Vaters, der 1922 in der Berliner Philharmonie eher versehentlich von einem politischen Gegner erschossen worden war, einerseits, und das Ende einer Liebesbeziehung andererseits. Olga Voronina zeigt in ihrem Beitrag Vladimir Nabokov’s Berlin. Tragedies and the Art of Redemption anhand der im Jahr 1923 in Berlin entstandenen, bis heute kaum bekannten und von ihr erstmals aus dem Russischen übersetzten Gedichten Nabokovs auf, nicht nur, wie er beide Ereignisse im Lichte dieses Krisenjahrs übereinanderblendet, sondern auch in welcher Weise wichtige Züge dieser frühen Dichtung in Werken, die erst viele Jahre später und unter ganz anderen historischen Umständen entstanden sind, wieder zum Vorschein kommen. Die frühe Lyrik Nabokovs aus dem Jahr 1923 erweist sich daher nicht nur als ein bewegendes Zeugnis privater Trauerarbeit, sondern ebenso als ein bedeutendes Zeitdokument. 1923 veröffentlicht der anti-liberale politische Theoretiker Carl Schmitt seine Schrift Die Krise des Parlamentarismus, in der er „angesichts der Schwäche der Weimarer Republik seiner Kritik an der repräsentativen Demokratie, die für ihn eine lähmende politische Konstellation darstellt, vollen Ausdruck verleiht und in dem er seine Überzeugung entwickelt, dass die gegenwärtige Krise nur durch die Entscheidungsbereitschaft einer starken Führerpersönlichkeit überwunden werden kann“ – eine historisch folgenreiche Position des späteren „Kronjuristen“ Adolf Hitlers. Vivian Liska setzt sich in ihrem Beitrag Krise, Entscheidung und Aufschub kritisch mit

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Schmitts schon die Zeitgenossen faszinierenden „Dezisionismus“ auseinander und setzt ihm Franz Kafkas Geste des „Aufschubs“, Gerschom Scholems „Vertagung“ und Walter Benjamins „Verzögerung“ entgegen. Insbesondere in den Schriften Benjamins läßt sich um 1923 eine intensive Auseinandersetzung mit – und Argumentation gegen – Schmitts „Dezisionismus“ erkennen. Wie die anderen von Liska angesprochenen Autoren widersetzt sich Benjamin gerade aus dem Geist des Judentums der Gewalt der Entscheidung, wie sie Schmitt argumentiert. „Wir leben in der Welt der Tragödie“ konstatiert andererseits Ludwig Marcuse, der dieser Welt der Tragödie im selben Jahr 1923 ein höchst eigenwilliges, heute kaum mehr bekanntes Buch gewidmet hat. Anders als zu erwarten gewesen wäre, nimmt er darin explizit kaum auf die zeitgenössische Krisensituation Bezug. Dass Marcuse hier ein Buch wider das katastrophische Verständnis der Tragödie vorgelegt hat, kann Arata Takeda in seinem Beitrag detailliert nachweisen. Vielleicht kann man in Marcuses nicht immer ganz konsistentem Ansatz den Versuch erkennen, den absehbaren ‚tragischen‘ Verlauf der Weltgeschichte zu kontern – in der Hoffnung auf eine „Überwindung der Tragödie“. Zum Abschluss der Ringvorlesung widmet sich Yasumasa Oguro einem ähnlich traditionsreichen, vielsagenden und historisch folgenreichen begrifflichen Konzept, das durch Arthur Moeller van den Brucks ebenfalls 1923 erschienenes Buch in der auf das Krisenjahr 1923 folgenden Epoche Geschichte gemacht hat: Das dritte Reich. In einem historischen Rückblick verweist Oguro auf die neo-joachimistische Tradition, nach der in der Moderne die Vorstellung von einem dritten Reich eine neue Aktualisierung erfahren hat – und dies nicht allein in Deutschland, sondern durch dieselben Vermittler dieser Tradition wie Ibsen oder Mereschkowski auch zur selben Zeit in der parallelen Welt Japans. So kann Oguro abschließend den Weg des Konzepts des „dritten Reichs“ vor der NS-Zeit in Ost und West von Berlin 1923 über Tokio 1913 bis nach Berlin 1900 verfolgen und damit sowohl der Vor- wie der Nachgeschichte der Entwicklungen im Krisenjahr 1923 geistesgeschichtliche Kontur verleihen. In der nun vorliegenden Dokumentation der Ringvorlesung wurde die Abfolge der einzelnen Beiträge beibehalten. Nicht in den Druck übernommen wurden die Beiträge einer Podiumsdiskussion zum Auftakt der Vorlesungsreihe, sowie die Vorlesung von Anne Fleig, die eine besonders intensive Diskussion angeregt hatte: „Marieluise Fleißer auf dem Sprung nach Berlin: ‚Die Dreizehnjährigen‘ und ‚Fegefeuer in Ingolstadt‘“. Ersatzweise sei hier auf die immer noch einschlägige Darstellung der in Frage stehenden Werke

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von Fleißer durch Anne Fleig im Band „Meisterwerke“ verwiesen. 4 Bei der Podiumsdiskussion haben der ehemalige Rektor der FU Berlin und Inhaber des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur, Peter-André Alt, zusammen mit der Autorin und Stellvertretenden Präsidentin der Berliner Akademie der Künste Kathrin Röggla, dem Filmregisseur, Theaterregisseur und Autor Andres Veiel und der seit 1985 in Berlin ansässigen Komponistin Mayako Kubo die Frage „1923 / 2023 – Krise oder Aufbruch?“ diskutiert. An dieser Stelle sei nochmals allen Beteiligten – den Vortragenden wie den TeilnehmerInnen am Podium, aber auch den im Hintergrund für Organisation und Technik Zuständigen (Sebastian Treu und Andreas Donath) – für ihre engagierten Beiträge und ihre sorgsame und immer zuverlässige Unterstützung gedankt. Die Durchführung der Vorlesungsreihe mit ihren ungewöhnlich vielen externen ReferentInnen wurde durch die Universitätsleitung der FU Berlin ermöglicht. Die große Resonanz, die die Vorlesung beim Auditorium gefunden hat – messbar an hohen Teilnehmerzahlen und intensiven Diskussionen – hat alle Beteiligten in dem Eindruck bestätigt, dass mit den einzelnen Beiträgen historisch relevante und zugleich aktuelle Fragen bearbeitet wurden. Je mehr sich die ökonomische und politische Krise im Jahr 1923 zuspitzte, umso größer wurden bei einzelnen AutorInnen die Anstrengungen Freiheit und Würde des Menschen durch geistige und künstlerische Leistungen als unanfechtbar unter Beweis zu stellen. Diese Leistungen aus heutiger Sicht neu zu betrachten, zu befragen und zu würdigen erscheint gerade angesichts der Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Krisen sowohl für die Wissenschaft wie für eine breitere interessierte Öffentlichkeit nicht nur lohnenswert; es ist vielleicht gerade der Blick auf die Details, auf Einzelfälle, der Einsichten auch für die akute Gegenwart erlaubt, deren Wert über die historische Erkenntnis hinaus reicht.

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Fleig, Anne: „Marieluise Fleißer. Fegefeuer in Ingolstadt (1926)“. In: Claudia Benthien, Inge Stephan (Hg.): Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Köln, Wien, Berlin 2005, S. 110–132.

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Valentina Di Rosa

Berlin – Theben hin und zurück Figurationen des Judentums bei Else Lasker-Schüler Der Dichter vermag eher eine Welt als einen Staat aufzubauen. 1

Das Krisenjahr 1923 steht im Falle Else Lasker-Schülers im Zeichen einer Zäsur. Signale einer schwierigen Phase in ihrem Leben und Schaffen finden sich in Texten und privaten Äußerungen verstreut: Sie verweisen einerseits auf den Versuch einer Umorientierung in ihrer ästhetischen Praxis als freie Künstlerin und anerkannte deutsch-jüdische Autorin, andererseits auf die konkreten Nöte einer finanziell zunehmend prekären Existenz. Im Allgemeinen gilt es festzuhalten, dass die 1920er Jahre für LaskerSchüler zumal im Hinblick auf den lyrischen Anteil ihres Œuvres nicht so produktiv wie das vorausgegangene Dezennium sind: Wenig Neues entsteht. Ganz umgekehrt verhält es sich hingegen mit der steigenden Popularität, die sie sowohl dank der Edition ihrer Gesammelten Werke (1919/1920) gewinnt – der Verleger Paul Cassirer feiert sie bei dieser Gelegenheit als die „größte Dichterin der Jetztzeit“ (KA 4.1, 49) – als auch dank des wachsenden Erfolgs ihrer öffentlichen Auftritte und Lesereisen im deutschsprachigen Raum. Ebenso intensiv ist Lasker-Schüler in der Medienlandschaft der Weimarer Republik präsent als renommierte, exzentrische Protagonistin der literarischen Szene der Großstadt Berlin, gleichgültig ob sie sich selbst mit eigenen Beiträgen in Tageszeitungen oder Zeitschriften zu Wort meldet oder als wichtige Stimme zu unterschiedlichen Themen oder Anlässen nach ihrer Meinung befragt wird. Hierbei sorgen ihre meistens unverblümten Antworten freilich nicht selten für Überraschungen oder gar Irritationen, denn zum Hauptmerkmal ihres Habitus gehört der Anspruch, sich vom engstirnigen Konformismus des Mainstreams resolut abzugrenzen und somit die eigene ästhetische Physiognomie im Zeichen einer unumgänglichen Alterität nachdrücklich zu markieren. 1

Vgl. Lasker-Schüler, Else: Werke und Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von Norbert Oellers, Heinz Rölleke und Itta Shedletzky, Frankfurt/M. 1996–2010, [KA] Bd. 4.1, S. 66.

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1927 wendet sich etwa das Neue Wiener Journal an Lasker-Schüler als eine der „namhaftesten Persönlichkeiten des Schrifttums“ mit der Bitte um nähere Auskünfte über ihre Schreibtätigkeit in einer „der Kunst so wenig geneigte[n] Zeit“. Da quittiert sie alle Erwartungen an sprachliche Eloquenz mit überaus lakonischer Geste: „Ich arbeite schon Jahre an mir ohne Erfolg“ (KA 4.1, 141). Und als sie 1929 bei einer Rundfrage nach ihrer Position zum umstrittenen Paragraph 218 befragt wird, bezieht sie mit ihrer unmittelbaren Replik resolute Frontstellung gegen die konventionelle bürgerliche Moral: „Was noch nicht atmet, lebt nicht. [...] Aber warum werden nicht unschädliche Mittel verkauft? Außerdem haben nur weibliche Richter über diesen Paragraphen zu bestimmen, da bekanntlich Männer noch nie im Leben es bis zum neunten Monat gebracht haben“ (KA 4.1, 225). Im April 1922 wird Lasker-Schüler von der Vossische[n] Zeitung eingeladen, einen Essay zum Thema „Berlin und die Künstler“ zu schreiben. Dabei ergreift sie die Gelegenheit, unter dem Titel Die kreisende Weltfabrik ihre Hass-Liebe-Beziehung zu der Stadt zum Ausdruck zu bringen, die seit der Jahrhundertwende das Gravitationszentrum ihres literarischen Aktionismus darstellt: Unsere Stadt Berlin ist stark und fruchtbar und ihre Flügel wissen, wohin sie wollen. Darum kehrt der Künstler – doch immer wieder zurück nach Berlin, hier ist die Uhr der Kunst, die nicht nach, nicht vor geht. Diese Realität ist schon mystisch. (KA 4.1, 26)

Im Hinblick auf ihr literarisches Schaffen fallen in das Jahr 1923 zwei sehr wichtige, obgleich durch die Sekundärliteratur relativ vernachlässigte Publikationen, die beide im Zeichen einer bilanzierenden Rückschau stehen: Als erster ist der Band Theben. Gedichte und Lithographien zu erwähnen, der als bibliophile Ausgabe nach einem für Lasker-Schüler prägenden ästhetischen Verfahren aus einer dialogischen Gegenüberstellung von Schrift und Bild besteht und beim Querschnitt-Verlag von Alfred Flechtheim in einer limitierten Auflage von 200 Exemplaren erscheint. 2 Die zweite Publikation ist ein an sich spezieller editorischer Fall, insofern sie als „Anklage“ gegen ihre Verleger unter dem Titel Ich räume auf! im Selbstverlag erscheint und in direktem Zusammenhang mit dem technisch aufwendigen Herstellungsprozess desselben Theben-Bands entsteht. 3 Dieses polemische Pamphlet, aus dem Lasker-Schüler bereits im November 1923 einige Ausschnitte öffentlich vorlas, richtet sich nicht nur – direkt und

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Lasker-Schüler, Else: Theben. Gedichte und Lithographien, Querschnitt Verlag, Frankfurt/M. – Berlin 1923 (Vgl. KA 1.2, 38–39). Der Text erscheint 1925 mit fiktiver Verlagsangabe. Vgl. Lasker-Schüler, Else: Ich räume auf! Meine Anklage gegen meine Verleger. Im Lago-Verlag, Zürich 1925 (und dazu KA 4.2, 57ff.).

persönlich – gegen den Verleger und Kunsthändler Alfred Flechtheim, (denselben, den man in leicht gekrümmter Körperhaltung aus dem berühmten Portrait von Otto Dix kennt 4), sondern gegen das gesamte Verlagswesen und die damals bereits steigende Tendenz zur Kommerzialisierung der Literaturbranche. Lasker-Schüler verteidigt hier den autonomen Eigenwert der Poesie, indem sie mit programmatisch unbequemer Geste die Frage der Ausbeutung in Form der Unterbezahlung der Autor:innen frontal und ungehemmt adressiert. Als Dichterin geht es ihr in allererster Linie um eine kritische Vermessung der Distanz, welche die Kunst von der zynischen Vernunft des Kapitals unversöhnlich trennt – eine Absicht, die ihr ferner den Anlass bietet, entlang dem Faden ihrer editorischen Erfahrungen die verschiedenen Stationen ihrer Autorschaft Revue passieren zu lassen. Zur weiteren Kontextualisierung dieser Phase gilt es schließlich noch den auffallenden Kontrast zwischen Ruhm und Not zu unterstreichen, der Lasker-Schülers Existenz zu diesem Zeitpunkt – erst recht durch die Folgen der Inflation – prägt. 1919/1920 ist die zehnbändige Ausgabe ihrer ‚Gesammelten Werke‘ im Verlag von Paul Cassirer erschienen. 5 1920 hat Kurt Wolff eine weitere Auflage ihrer Gesammelten Gedichte gedruckt, nachdem die erste – 1917 erschienen – rasch vergriffen war. 6 Beide Editionsprojekte verweisen auf den fortschreitenden Prozess der Kanonisierung der Dichterin, die sich als „ständig wiederkehrender Name“ einer nunmehr konsolidierten Reputation rühmen kann. Zur Vorbereitung auf die Frankfurter Buchmesse des Jahres 1924 widmet ihr etwa Das Börsenblatt des deutschen Buchhandels als einziger Autorin zwei volle Werbeseiten: Die erste präsentiert Auszüge aus den lobendsten Rezensionen ihres Werks; die zweite verzeichnet ausführlich die neu verfügbaren Titel. 7 Mit der Veröffentlichung ihrer „gesammelten Bücher“ (KA 8, 21) beginnt sich ein gewisses Nachlassbewusstsein herauszubilden. Die Erwartung einer gewissen Stabilität als Konsequenz ihrer steigenden Anerkennung steht jedoch ganz im Gegensatz zur objektiven materiellen Bedrängnis, unter der Lasker-Schüler als freie Autorin zu leiden hat. Nach wie vor lebt sie zumal nach der offiziellen Scheidung von Herwarth Walden (1912) als

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Dix, Otto: Bildnis des Kunsthändlers Alfred Flechtheim (1926). Staatliche Museen zu Berlin.https://recherche.smb.museum/detail/966647/bildnis-des-kunsth%c3%a 4ndlers-alfred-flechtheim (letzter Zugriff am 30.08.2023). Lasker-Schüler, Else: Gesamtausgabe in zehn Bänden, Berlin 1919–1920 (Vgl. KA 4.1, 507). Die Edition erschien zunächst im Verlag der Weißen Bücher Leipzig und wurde dann vom Kurt Wolff Verlag übernommen. Ihr vorangestellt ist das literarische Porträt, das Peter Hille 1904 als Hommage an die Freundin entworfen hatte: „Else Lasker-Schüler ist die jüdische Dichterin. Von großem Wurf. Was Deborah!“ (Vgl. KA 1.2, 23–25). Vgl. Börsenblatt des deutschen Buchhandels Nr. 204 (30. August 1924).

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alleinerziehende Mutter in ökonomisch äußerst prekären Verhältnissen und in einer gesellschaftlich marginalisierten Position. „Glauben Sie nur, ich bin fortwährend im Kampf mit dem Tag […],“ schreibt sie im Januar 1926 an den deutsch-schweizerischen Bekannten Felix Pinkus und fährt fort: Jedenfalls lebte ich, Sir, die letzten bangen Jahre wie ein Lump. Ich will es nicht beschönigen. Oft empfand ich mich so abgerissen äußerlich und seelisch, daß ich, um keinen Bekannten zu begegnen, durch die Gassen lief. Ich – spuckte mich selbst an Übermaß aller Trauer. [...] Es ist so komisch, wenn man sich Geld geben läßt für Dinge, die man aus Herz webt. (KA 8, 55–56)

Vor dem Hintergrund dieser schwierigen Lebensumstände repräsentiert die bibliophile Ausgabe des Buchs Theben vordergründig ein finanziell motiviertes Projekt, mit dem sich die Dichterin erhofft, in relativ kurzer Zeit ein relativ hohes Honorar zu erzielen – sie selbst beschreibt den Band in ihrer privaten Korrespondenz als ein „Luxuswerk“. Hinsichtlich der Textauswahl handelt es sich um eine Wiederaufnahme von bereits publiziertem Material, das allerdings nicht nur den anthologischen Charakter einer Retrospektive besitzt, sondern im Zusammenspiel mit den Zeichnungen zum Gegenstand eines ästhetisch eigensinnigen Kunstprojekts wird – zehn Gedichte und zehn handkolorierte Zeichnungen bilden hier nun eine neue Motivkonstellation. Der schmale und kostbare Band kreist um die zentrale Chiffre „Theben“, die zunächst als nur kryptische Abbreviatur auf dem Frontispiz zu lesen ist – dort erscheint sie in Verbindung mit der Titelzeichnung „Der Bund der wilden Juden“, die auf eine biblisch-orientalisch anmutende Dramaturgie anspielt. Evoziert wird durch den Namen der antiken Stadt die zeiträumliche Ferne eines exotischen Phantasieraums, der wiederum im direkten Zusammenhang mit der Selbstprofilierung der Autorin in der Rolle des regierenden „Prinz von Theben“ steht. In diesem Sinn gestaltet sich der Entwurf Lasker-Schülers gleichzeitig als Zitat und als Rückbindung an eine frühere Phase ihres Schaffens oder gar als symbolischer Abschied von der Inspiration einer vergangenen Periode, die – chronologisch noch diesseits des traumatischen Bruchs des Ersten Weltkriegs situiert – mit einem drastischen Perspektivwechsel assoziiert wird. Das vielzitierte Selbstporträt, das Lasker-Schüler 1919 für die berühmte Anthologie Menschheitsdämmerung verfasst hatte, kondensiert in knappen anspielungsreichen Bildern nicht von ungefähr das Gefühl einer geistigen Erlahmung. Die Katastrophe wird zwar nicht ausdrücklich genannt, der beschworene Horizont wirkt aber sehr fern:

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Ich bin in Theben (Ägypten) geboren, wenn ich auch in Elberfeld zur Welt kam im Rheinland. Ich ging bis 11 Jahre zur Schule, wurde Robinson, lebte fünf Jahre im Morgenlande, und seitdem vegetiere ich. (KA 3.1, 525) 8

Jenseits der halb ernst gehaltenen, halb spielerischen Fiktionalisierung der eigenen Identität ist die Autorin darum bemüht, sich mit dem Ende des intensiven Jahrzehnts der expressionistischen Avantgarde auseinanderzusetzen und dabei den Verlust der Entstehungsbedingungen ihrer literarischen Praxis zu reflektieren. Schreiben im Dienst eines Weltveränderungspathos repräsentierte nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der kollektiven Ebene das verbindende Alphabet einer Gemeinschaft von geistesverwandten Künstler:innen, die – wie Kurt Pinthus ebenso rückblickend vermerkt – sich gegenseitig „kannten, erkannten und anerkannten“. 9 Als Herausgeber der berühmten Anthologie hatte sich Pinthus selbst dazu gezwungen gesehen, eine ernüchternde Bilanz zu formulieren: Von den 23 der in seiner Auswahl vertretenen Autor:innen waren zu diesem Zeitpunkt bereits sieben – also fast ein Drittel – verstorben. Nicht wenige der Künstler und Weggefährten aus dem unmittelbaren Umkreis von Lasker-Schüler hatten im Krieg ihr Leben verloren. So hatte sich im November 1914 Georg Trakl an der Ostfront das Leben genommen; im Juli 1915 war Hans Ehrenbaum-Degele gefallen; im März 1916 war Franz Marc an der Reihe gewesen; im Juni 1916 Peter Baum. Gustav Landauer und Johannes Holzmann sind als politische Opfer der Revolutionen der Zeit noch dazu zu zählen. Landauer wurde im Zusammenhang mit der gewaltsamen Niederschlagung der Münchner Räterepublik ermordet; Johannes Holzmann starb noch im Zaristischen Russland. In einem öffentlichen Brief, den sie 1919 an den Feuilleton-Redakteur der Neuen Zürcher Zeitung Eduard Korrodi schrieb, schildert Lasker-Schüler die Tragik des Kriegs in Zusammenhang mit der Phantasie der Parallelwelt von Theben im Sinne einer drastischen Entzauberung: Denn selbst der Mond über der Hauptstadt von Deutschland ist nicht mehr der alleinige wohlbeleibte alte Herr; zusammengeschrumpft, gallenerkrankt murrt er griestrübe über ein Land, dessen Herz blutgenagelt an der Verzweiflung hängt. Von der maschinellen Bewegung des Krieges waren die Menschen eingeschläfert. Zu Maschinengewehren gehören Bleisoldaten. Die wilden Stämme der Wüste überfallen sich über Nacht, um sich in der Frühe schluchzend zu versöhnen. Solche Kämpfe sind mir verständlich, 8

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Vgl. auch Pinthus, Kurt (Hg.): Menschheitsdämmerung. Ein Dokument des Expressionismus, Berlin 1959, S. 350. Schreiben und Zeichnen gehen auch in diesem Kontext Hand in Hand. Neben dieser Selbstanzeige schickt Lasker-Schüler ein als „Selbstporträt“ tituliertes Bild von Jussuf, das in der Anthologie mitgedruckt ist (vgl. S. 149). Pinthus: Menschheitsdämmerung, S. 12.

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sie sind organisch und menschlich und sozusagen wild aufgewachsen. Aber da ich nie lernen konnte, bin ich vielleicht nicht maßgebend, Herr Doktor. Manchmal dichte ich auch wieder von Theben; ich bin alleine noch von allen Prinzen übrig geblieben; […] Wir sterben alle an zu wenig Zucker, der ersetzte wenigstens noch die Liebe. Aber die Liebenden sind aus den Wolken gefallen, nur ich feiere ab und zu noch Himmelfahrt in Versen. (KA 3.1, 426f.)

Das Buch Theben findet in dieser Konstellation seinen Ausgangspunkt. Schaut man sich die Gegenüberstellung von Texten und Bildern näher an, ist zunächst einmal festzuhalten, dass die handschriftlichen Transkriptionen als eigenartige Zeichensprache in freier Anlehnung an die arabische Tradition der Arabeske eingesetzt werden und mit zu den ästhetischen Gestaltungsprinzipien gehören. Bereits das Titelbild „Der Bund des wilden Juden“ verweist dabei – gleichsam in Form eines Auftakts in medias res – auf eine zentrale Motivkonstellation des Buchprojektes und des literarischen Diskurses von Lasker-Schüler. Das erste Gedicht mit dem Titel Gebet ist – nicht zuletzt durch die Assoziation mit der Widmung an den verstorbenen Freund Franz Marc („Meinem teuren Halbbruder, dem blauen Reiter“) – bereits Programm. In der Text-Bild-Montage steht es nämlich in dialogischer Verbindung sowohl mit der Ikonographie der imaginierten Stadt Theben als auch mit der Figur Jussufs als Prinz von Theben. Ich suche allerlanden eine Stadt, Die einen Engel vor der Pforte hat. Ich trage seinen großen Flügel Gebrochen schwer am Schulterblatt Und in der Stirne seinen Stern als Siegel. Und wandle immer in die Nacht … Ich habe Liebe in die Welt gebracht, – Daß blau zu blühen jedes Herz vermag, Und hab ein Leben müde mich gewacht, In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag. (KA 1.1, 190)

Trauer und kosmische Einsamkeit stehen wiederum als Leitmotive der Lyrik im Spannungsverhältnis zu Episoden, Figuren, Peripetien des fabulierten Reichs von Theben. Als visuelles Gegenüber gilt eine Ansicht der imaginierten Stadt mit ihren orientalisch anmutenden Häusern, Treppen, Dächern und Balkonen, wobei in einem kleinen Bogenfenster wie umrahmt das Profil Jussufs zu erkennen ist. Der Titel lautet: „Theben mit Jussuf“. 10 Mit 10

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Vgl. KA 1.2, 38–40. Zur visuellen Dimension der Poetik Lasker-Schülers vgl. Hedgepeth, Sonja: A Matter of Perspective. Regarding Else Lasker-Schüler as a Visual Artist, in: Schürer, Ernst und Sonja Hedgepeth (Hg.): Else Lasker-Schüler. Ansichten und Perspektiven. Views and Reviews, Tübingen-Basel 1999, S. 249–265;

mobilisiert wird dadurch ein komplexes mythopoietisches Zeichensystem, das in der mehrschichtigen Pluralität seiner Anspielungsebenen auf die Grundmotivation des gesamten literarischen Entwurfs Lasker-Schülers zurückverweist. Was den lyrischen Anteil des Bandes anbelangt, sind die zehn Gedichte verschiedenen früheren Sammlungen entnommen. Die meisten von ihnen stammen aus den gefeierten und breit rezipierten Hebräische Balladen, die, 1913 veröffentlicht, seither im Mittelpunkt des lyrischen Schaffens LaskerSchülers stehen – und diese Position beibehalten werden. Über Jahrzehnte hinweg werden sie zum favorisierten Repertoire ihrer Lesungen gehören und die Autorin bis in die Emigration nach Palästina als symbolische ‚portative‘ Heimat in der Tasche begleiten. Im Buch Theben kommen die ‚Balladen‘ gleichsam als Zitate vor: Mein Volk; Joseph wird Verkauft; Ein alter Tibetteppich; Gott hör. 11 Die andere literarische Quelle, die insbesondere durch die Geste der Zueignung an Franz Marc in der Konzeption des Theben-Bandes eine besondere Rolle einnimmt, ist der Briefroman Malik. Eine Kaisergeschichte (1919), der wiederum eine literarische Verarbeitung des Karten- und Briefwechsels zwischen der Dichterin-Zeichnerin und dem befreundeten Maler darstellt. 12 Insofern ist die Entstehung dieser fabulierten Welt von Theben und deren Hauptfigur Jussuf im ursprünglichen Umfeld der Berliner Bohème der Jahrhundertwende anzusiedeln. Der Kontext ist der kulturkritische Aktionismus der entstehenden Avantgarde und somit das Unbehagen am Konservativismus der wilhelminischen Zeit, in dem sich das dichte Gefüge der

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Dick, Ricarda: Zeichensetzungen. Zur Kunst der Else Lasker-Schüler, in: Birthälmer, Antje (Hg.): Else Lasker-Schüler. ‚Prinz Jussuf von Theben‘ und die Avantgarde‚ Wuppertal 2019, S. 73–76. Vgl. dazu KA 1.2, 38–40. Folgende zehn Gedichte gehören zur Auswahl: „Gebet“; „Meine Mutter“; „Versöhnung“; „Mein Volk“; „Senna Hoy“; „Marieë von Nazareth“; „Ein alter Tibetteppich“; „Ein Lied“, „Joseph wird verkauft“; „Gott hör“. Den einzelnen Gedichten entsprechen jeweils folgende Zeichnungen: „Theben mit Jussuf“; „Joseph modelliert seine Mutter“; „Jussuf und sein treuer Bruder Bulus im Tempel“; „Imre trägt die heilige golden Schlange“; „Der Bund der wilden Juden“; „Marieë“; „Prinz Jussufs Morgenmusik“; „Jussuf geht mit seinem Straus spazieren“; „Schlôm“; „Jussuf geht zu Gott“. (Vgl. hierzu Lasker-Schüler, Else: Die Bilder, hg. von Ricarda Dick, Berlin 2010, S. 47–53 und 219ff.). Im September 1913 und Februar 1914 kam eine erste Veröffentlichung der Texte und Briefe unter dem Titel „Briefe und Bilder“ in „Die Aktion“ zustande; als „Der Malik. Briefe an den blauen Reiter Franz Marc“ kam es 1913/1914 zur Publikation einer weiteren Reihe in Der Brenner und im August 1915 in Die Aktion. Als Franz Marc im März 1916 an der Front fällt, wandelt sich der Briefwechsel zu einer Erzählung, die in Fortsetzungen von Juli 1916 und Februar/März 1917 in der von den Brüdern Herzfelde redigierten Zeitschrift Neue Jugend publiziert wird. Nochmals überarbeitet kommen die Briefe erst 1919 in Buchform heraus: Lasker-Schüler, Else: Der Malik. Eine Kaisergeschichte mit Bildern und Zeichnungen. Berlin 1919.

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Intellektuellen- bzw. Künstlerassoziationen als Auftakt zur expressionistischen Revolte in Berlin und Umgebung allmählich formiert. „Diskutieren“, „Revolutionieren“, „Aufbauen“, „Schaffen“ gelten als die kategorischen Imperative der Stunde und prägen in diesem Sinn auch Inspiration und Richtung von Lasker-Schülers lyrischem Debüt. Einen besonderen Stellenwert in diesem ästhetischen Horizont besitzt das kurzlebige Experiment der Künstlerkolonie der Neuen Gemeinschaft (1900–1903), wo sie unter anderen Gustav Landauer und Martin Buber begegnet. Auffallend sind allerdings, und zwar bereits seit dieser anfänglichen Phase, Symmetrien und Berührungspunkte zwischen dem neuen Pathos Nietzschescher Provenienz dieser antibürgerlichen Enklaven und den geistigen Impulsen, welche die parallel aufkommende zionistische bzw. kulturzionistische Bewegung kennzeichnen. Die Rede ist dort von einer messianisch gefärbten „jüdischen Renaissance“, die als Gegenentwurf zum Konformismus der Assimilation propagiert wird, wobei der Weg der Befreiung aus solch lähmendem Joch als Rückkehr zur Tradition geschildert wird. 13 Lasker-Schüler wird von diesen identitätsstiftenden Diskursen stark beeinflusst, und dies noch bevor sie sich der expressionistischen Avantgarde insbesondere dem Sturm-Umkreis anschließt und Georg Lewin, den jungen talentierten Musiker und späteren Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm, heiratet – und symbolisch umtauft. 14 Die Chiffren ‚Jerusalem‘ und ‚Heimweh‘ tauchen dementsprechend sehr früh in ihrem lyrischen Vokabular auf und dienen dazu, zwei Welten, d.h. zwei Koordinaten- und Wertsysteme – Orient und Okzident – drastisch voneinander zu trennen. „Ich kann die Sprache /Dieses kühlen Landes nicht/ Und seinen Schritt nicht gehen“, (KA 1.1, 155) schreibt Lasker-Schüler im berühmten, poetologisch fundierten Gedicht Heimweh, das 1909 in „Die Fackel“ von Karl Kraus veröffentlicht wird. Ihr Versuch, eine neue ‚hebräische‘ Mythologie zu gestalten, artikuliert sich dementsprechend in direktem Zusammenhang mit der alttestamentarischen Tradition und kreist um das Paradigma der biblischen Figur von Joseph von Ägypten, aus dessen biblischem Schicksal die Dichterin ein vielfältiges Motivrepertoire schöpft. Ausgehend von der ersten literarischen Erfindung der Prinzessin Tino von Bagdad, die 13

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Zur Idee der „Neuen Gemeinschaft“ und ihrer Nähe zu Bubers Programm der jüdischen Renaissance sowie zu Lasker-Schülers Erfahrungen im Umkreis der Künstlerkolonie am Schlachtensee vgl. Di Rosa, Valentina: „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im utopischen Entwurf Lasker-Schülers. Aus dem Italienischen von Susanne Koopmann, Paderborn 2006 (insbesondere S. 21–141). In die Literaturgeschichte ist er bekanntlich als Herwarth Walden eingegangen. Lasker-Schüler hatte ihn auch umgetauft, und zwar – so meine Hypothese – nach dem Protagonisten von Henry Thoreaus Walden or Life in the Woods, der via Ralph Emerson in den Berliner Literaturkreisen stark rezipiert wurde. Vgl. Di Rosa, „Begraben sind die Bibeljahre längst“, S. 123.

sich in der Kulisse eines märchenhaften, islamisch anmutenden Morgenlands bewegt, bis hin zur Neuerfindung der alttestamentarischen Figur des Sohns Jakobs, lässt sich der Entwurf einer utopischen Dimension des jüdischen Orients erkennen, womit die Rückprojektion eines fiktionalisierten Ichs in einer uralten, biblisch anmutenden Welt einhergeht. Ich bin hier in Berlin der einzige vorsintflutliche Jude noch; mein Skelett fand man neben einem versteinerten Ichtiosaurusohr und einem Skarabäus in einer Felsspalte vor, für die Nachwelt. (KA 3.1, 442)

Poesie und Wahrheit, Fiktion und Realität, Verklärtes und Erlebtes: In dieser ebenso ambitionierten wie ambivalenten Inversion der Koordinaten scheint der autobiographische Diskurs für Lasker-Schüler nicht nur auf das komplexe Porträt einer Seele zu verweisen, sondern auch eine parallele, befreiende Dimension des Als Ob zu integrieren – in den Vordergrund tritt dabei die herausfordernde Dimension eines fortwährend reversiblen Schicksals, das genauso wie ein Text das Experimentieren mit verschiedenen Fassungen ermöglicht. Eines der ersten literarischen Dokumente dieses ästhetischen Verfahrens ist ein Brief, den Lasker-Schüler 1909 an Karl Kraus adressiert. Es handelt sich um die fabulierende Chronik einer vermeintlichen jüdisch-orientalischen Präexistenz, die nicht zuletzt als poetologisch reflektierte Geburt der eigenen Inspiration aus dem Geist des jüdischorientalischen Mythos orchestriert wird: Sie glauben mirs doch wenn ich Ihnen sage, daß ich 25 Sträuße in Bagdad besaß, ich schwöre es Ihnen, daß ich Ihnen die volle Wahrheit sage. [....] In Bagdad sagte mir mal eine Zauberin, ich hätte viele Tausendjahre als Mumie im Gewölbe gelegen und sei nicht mehr und nicht weniger als Joseph, der auf arabisch Jussuf heißt. Ich meine ja auch es wandeln sich die Lebenden mit den Toten, nur daß Könige und Prinzessinnen sich mit ihresgleichen wandeln und kennen Sie Jemand der vornehmer war wie Joseph von Egypten, Jakobs und Rahels Sohn, den man in die Grube warf – immer trug er den lammblutenden Rock. [...] Ich bin gerade so traurig wie Joseph von Egypten, lieber Herzog. Tino (KA 6, 99–100)

Das Schicksal des biblischen Joseph, der von seinen Brüdern verraten und verkauft wird, der aber dank seiner Gabe als Traumdeuter in der Fremde des ägyptischen Pharaonenhofs seine Erlösung findet, wird in Lasker-Schülers Deutung zum Emblem des Künstler-Propheten, der – „vornehm“ und „traurig“ – zwischen menschlicher Geworfenheit und göttlicher Auserwählung gespalten lebt. Er steht insofern mit seinem emblematischen Schicksal nicht nur für den intrinsischen Dualismus der conditio judaica, sondern ist auch und vor allem symbolische Verkörperung einer Idee der Poesie als prophetischer Gabe im Zuge der ehrwürdigen Tradition der alttestamentarischen Propheten. Zwei sind seine prägenden Eigenschaften, die wiederum mit ästhetischen Implikationen gekoppelt sind: Zum einen besitzt er als

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Anführer der „wilden Juden“ die Züge einer Kämpfernatur, die sich auf die rebellische Tradition der makkabäischen Vorfahren der Bibel beruft – seine edlen Insignien sind neben dem „Kriegshut“ ein Speer und ein Sternenmantel mit Mondsichel auf der Wange. Zum anderen ist er eine androgyne Gestalt, ein „holder“ Knaben-Dichter, der seine Freundschafts- und Liebesbindungen in romantisch-biblischer Unschuld fromm kultiviert – sein Emblem ist das Herz. Im beiden Fällen fungieren diese fiktionalen Attribute der literarischen Maske als Merkmale einer singulären Distinktion bzw. als nachdrückliche Garantie einer elitären Distanz der Poesie von der Prosa der bürgerlichen Konvention. Ich hasse die Juden, da ich David war oder Joseph – ich hasse die Juden, weil sie meine Sprache mißachten, weil ihre Ohren verwachsen sind und sie nach Zwergerei horchen und Gemauschel. Sie fressen zu viel, sie sollten hungern. [...] Sie sind bös? Und spreche doch die Wahrheit und schreibe mit Ekel und Abscheu und Einsamkeit und Rührung. (KA 7, 11–12)

Durch einen nur scheinbar paradoxen Widerspruch wird hier wiederum eine scharfe Trennungslinie zwischen zwei Welten gezogen: Einerseits das integrierte spießbürgerliche Judentum, andererseits die archaische Sagenwelt des biblischen Heldentums – mit anderen Worten: Vergangenheit versus Gegenwart, Mythos versus Geschichte, Heiliges versus Profanes. Die Autorin und zugleich „Übersetzerin“ ihrer biblisch-orientalischen Visionen ist bei ihren öffentlichen Auftritten nicht nur exotisch kostümiert, wie ihre berühmtesten Fotografien der 1920er Jahre sie zeigen, 15 sondern sie unterwirft auch die Sprache einer rhythmisch-musikalischen Diktion, welche die Phantasie des Morgenlands durch das Echo fremd klingender Idiome erwecken soll. Die Rezitationsanweisungen, die am Rande eines Exemplars vom Buch Der Prinz von Theben aufgezeichnet sind, zeugen von der bewusst experimentellen Suche nach Klangeffekten: „Klopfen“‘, „Trillern“, „pochen“, „Schnell“, „heftig“, „laut“, „leise“, „leiernd“, „singend“, „Pause“. (KA 3.2, 291). Auch die Briefe fungieren als Dokumentation bzw. Planung von literarischen Darbietungen: „Ich spreche doch Syrisch, ich bin doch mein halbes Leben in Asien gewesen [...]. Sie müssen nur hören wie Syrisch

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Auf den Unterschied zwischen eher ‚klassischen‘ Autorinszenierungen und der Autorfiktion Lasker-Schülers verweist Florack, Ruth: Prinz Jussuf und die Neue Frau. Else Lasker-Schüler und Vicki Baum im „Uhu“, in: Grimm, Günter E. und Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen. Bielefeld 2008, S. 71–86. Siehe auch Specht, Benjamin: ‚Autorfiktion‘ in Theorie und Geschichte. Skizze am Beispiel von Else Lasker-Schülers ‚Prinz Jussuf von Theben‘, in: KulturPoetik 21/1 (2021), S. 94–113.

sich anhört herrlich, wie Vögel in der Wüste. Böser Gesang, süße Triller und dazwischen Sandsturm! Châ machâ lâaaooooo!“ (KA 6, 148f.). 16 Eine komplementäre Valenz dieser exotischen Fiktionen ist deren Funktion als Projektionsfläche des Liebesdiskurses. Die starke Erotik, die Lasker-Schüler Lyrik prägt, paart sich dabei mit der Sehnsucht nach der uralten Welt des Alten Testaments als Schauplatz der Begegnung Gottes mit seinem auserwählten Volk, die sich dem regressiven Mythos eines glücklichen Paradieses noch verpflichtet erweist. „Versöhnung“, „Konzert“, „Spiel“ sind dabei die dominanten Chiffren eines poetisch-religiösen gefärbten Kosmos, in dem Figuren und Rollen aus dem Repertoire des Alten Testaments als antike Reminiszenzen wieder auftauchen, um meistens paarweise neu erfunden zu werden, sei es als Liebes- oder Spielgefährten: Isaak und Ismael, Jakob und Esau, David und Jonathan, Pharao und Joseph, Ruth und Boas, Sulamith und Salomon. Lasker-Schülers bekanntestes Gedicht Ein alter Tibetteppich lebt vor diesem Hintergrund von einer raffinierten Verflechtung solcher orientalischer Motive – ein Spiel von Konkordanzen und Konsonanzen, das in der spiegelbildlichen Umkehrung des „Tibetteppich“ in der abstrahierenden, rein sprachlichen Intuition des „Teppichtibet“ einen eigentümlichen Kulminationspunkt findet. Deine Seele, die die meine liebet Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet Strahl in Strahl, verliebte Farben, Sterne, die sich himmellang umwarben. Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit Maschentausendabertausendweit. Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzentron Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon. (KA 1.1, 130)

Als konstant wiederkehrendes Alter Ego steht Jussuf insofern für eine simultane Koexistenz von disparaten und dennoch kohärenten Eigenschaften: für den Kult der Freundschaft und der Liebe als sakrale Gefühle; für eine schelmische Neigung zum Spiel d.h. zur Verkleidung und Koketterie; 16

In den 1910er Jahren hatte Lasker-Schüler zu diesem Zweck das futuristische Varietéprogramm „Der Fakir“ selbst entworfen, das aber aus Mangel an finanziellen Mitteln scheitern musste. Seitdem trat sie als Gast bei verschiedenen Veranstaltungen mit avantgardistischen Ansprüchen auf – darunter etwa beim „Neopathetischen Cabaret“ in Berlin, beim dadaistischen „Cabaret Voltaire“ in Zürich oder beim Bauhausfest in Weimar (1920). Vgl. u.a. Sprengel, Peter: Else Lasker-Schüler und das Kabarett, in: Text+Kritik 122 (1994), S. 75–86 sowie Hallensleben, Markus: Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung, Tübingen 2000 (insbesondere S. 43–65).

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für die Subversion der Geschlechterrollen und die androgyne Hybridisierung der Weiblichkeit als Geste moralischer Transgression; für die lyrische Inszenierung des Liebesdiskurses als Bereitschaft zu konspirativen Allianzen, für die prinzipielle Aufhebung des Realitätsprinzips. Was daraus resultiert, ist ein augenzwinkerndes Spiel mit Maskeraden und Verkleidungen, in das Lasker-Schüler nicht nur das eigene Ich, sondern auch viele ihrer Künstlerfreund:innen involviert, mit dem Ziel, sich gegen die Misere einer Welt „ohne Wunder“ zu wehren und somit die prosaische Ordnung der vorgegebenen Welt systematisch zu unterwandern. „Jedenfalls liebe ich nach meiner Sehnsucht die Leute alle zu kleiden, damit ein Spiel zu Stande kommt. [...] Spielen ist alles. Allerdings wie in einem Schauspiel, wo der Herr neben dem Knecht geht, der König seine Untertanen küßt, der Prophet das Volk segnet.“ (KA 6, 209) Die thebanische Utopie der „wilden Juden“ nimmt hier ihren Ausgangspunkt als Gegenentwurf zur grauen Kulisse des Berliner Alltags: Gestern hielt der Kampf an bis in der Nacht. [...] Ruben, ich bin mitten in der Schlacht. Ruben denke an mich; o liebe mich, daß ich nicht einsam bin. Du, die Soldaten sind begeistert, wir nahmen Irsahab ein, die Goldstadt. [...] Ich bin leicht an der Schläfe verwundet. Jussuf. (KA 3.1, 316f.)

Die Fiktion eines solch imaginären Kreuzzugs gegen die Misere des profanen Abendlands erweist sich allerdings auf den letzten Seiten des Buchs Malik als überaus fragil und zumal gegen die brutale Wirklichkeit des Ersten Weltkriegs zum Scheitern verurteilt. Durch das reale und traumatische Kriegsgeschehen kommt das Epos zu einem abrupten Ende: Jussuf ist nun auf einmal „der traurigste Mensch in Theben“ (KA 3.1, 413) – die Zeichnung „Jussuf erhängte sich, jedoch die Thebaner glaubten, Ossman habe ihn – auf sein Geheiß – erschlagen“ 17 besiegelt in der Ökonomie des Texts die unmögliche Plausibilität eines Happy Ends. Im Theben-Buch findet sich parallel dazu eine deutliche Entsprechung dazu sowohl in der Entscheidung, das erste und das letzte Gedicht im Zeichen einer Hinwendung an Gott miteinander zu kombinieren – die Zeilen von Gebet entsprechen jenen von Gott hör in Form einer beabsichtigten Zirkularität – als auch im religiösen Fluchtpunkt der letzten Zeichnung Jussuf geht zu Gott. 18 Allerdings bewirkt erst recht die handwerkliche Produktion der Texte und Bilder den Konflikt mit dem Verleger und in der nicht nur rhetorischen Anklage der Autorin kommt der rebellische Elan Jussufs noch einmal zur Geltung. Was Lasker-Schüler bei der nachdrücklichen Geste des ‚J’accuse‘ vorschwebt, ist eine Frontbeziehung aller ihrer Dichterkolleg:innen im Namen einer Gerechtigkeit, die sie mit feierlichem Gestus die

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Vgl. Lasker-Schüler: Die Bilder, S. 176. Vgl. dazu Anm. 11 dieses Beitrags.

„allerhöchste Justiz, die des Herzens“ nennt (KA 4.1, 70). 19 Geist und Geld fungieren in der Konzeption ihres vehementen Pamphlets als entgegengesetzte Kategorien, die zur Bestätigung der Inkompatibilität von zwei separaten Sphären gegeneinander ausgespielt werden. So artikuliert sich diesmal die Verteidigung der Heiligkeit der Kunst gegen den Primat der ökonomischen Interessen durch den Rekurs auf die Aura einer neutestamentarischen Symbolik: „Ich bin bereit, und unentwegt gehe ich gegen den verdammungswürdigsten Buchhandel vor. [...] Ich werde die Händler aus dem Tempel jagen, den wir Dichter ihnen aufgerichtet haben.“ (KA 4.1, 49). 20 Der Akt der Anklage wird für Lasker-Schüler somit zur Rekapitulation des eigenen literarischen Werdegangs und zugleich zum emanzipatorischen Akt der Selbstlegitimation. 21 Es handelt sich um eine mäandernde Textpartitur, die durch etliche Gedankensprünge, elliptische und freilich nicht so selten auch intrikate Passagen gekennzeichnet ist, wobei die rhetorische Projektion auf die captatio benevolentiae eine maßgebliche Rolle im Arrangement des Texts spielt, insofern das Pamphlet nicht nur für den Druck, sondern auch für die unmittelbare öffentliche Rezitation gedacht ist. 22 Die Autorin arbeitet demnach mit einer intendierten Diskontinuität im Duktus

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Bereits Ende April 1923 hatte Lasker-Schüler an Margarete Hauptmann geschrieben und sich über die Haltung des Verlags beschwert: „Ich bin wieder die Else LaskerSchüler, die Sie nicht kennen, aber die sich schon einige Male an Sie wandte. Würde Gerhart Hauptmann, den ich immer bewundere, meinem Anwalt [...] schreiben, ob er mich für eine große Dichterin hält? Damit mein Verlag mir endlich etwas bezahlt.“ (KA 7, S. 260) Einige Tage später hatte sie sich an den „Hochzuverehrende[n] Herr[n] Hauptmann“ direkt gewendet: „Ich bin Else Lasker-Schüler, wollen Sie mein Schiedsrichter sein, da ich schon seit Jahren von sämmtlichen Verlagen: Wolf (Juncker selig Angedenkens) Cassirer – ich will sagen sehr stiefmütterlich behandelt worden bin.“ (Ebd.) Vom Buch Theben hatte sie sich Erfolg versprochen und sich entsprechend bei der Selbstwerbung engagiert – etwa im Brief vom 22. Juni 1923 an den Geschäftsmann Louis Asher: „Ich I have a new verry large Luxusbook painted and poems 10 pictures 10 poems. Please say a bookhandlung, shall bestellen a book verry verry beautiful a Schmuck. […] Jou must look it, Mr. Asher.“ (KA 7, S. 264–265). Es handelt sich um Matthäus 21,12. (Vgl. KA 4.2, S. 57ff.) Der Text erscheint in Buchform 1925. Die Illustration des Umschlags zitiert das berühmte Foto von Lasker-Schüler in ihrer Jussuf-Verkleidung mit Flöte und orientalischen Kleidern. Die erste öffentliche Lesung fand im November 1923 statt (Vgl. KA 4.2, 61). Dazu äußert sich unter anderen Herbert Ihering in einer ausführlichen und positiven Rezension, in dem er Lasker-Schüler zu den wenigen Autoren zählt, die „sich nicht industrialisiert haben“: „Diesen Mut zu sich selbst, diese Versunkenheit in sich selbst geben dem Aufschrei ‚Ich räume auf‘ das Erschütternde.“ (Vgl. Ihering, Herbert: Else Lasker-Schüler, in: Berliner Börsen-Courier. Jg. 56, Nr. 557 vom 28. November 1923, Beilage. S. 5, (Vgl.: https://www.kjskrodzki.de/Dokumente/ Text_051.htm, letzter Zugriff am 30.05.2023).

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der Sprache, wodurch der expressive Verkündigungsstil durch die rhythmisch-rhetorischen Pausen und Wendungen akzentuiert wird. Aber ich bin erwacht, ich bin erwacht, h. P., und es ist Zeit aufzuräumen! Haben Sie meine Dichtungen gelesen und die meiner verehrten Freunde, mit deren Gedichte meine Verse einträglich spielen? Rücken Sie näher zueinander, daß ich mein Herz auf Ihren Schoß legen kann [...] deren Gedichte Euch die Welt vervielfachen, Euch entrücken in eine Paradiesinnerlichkeit, in der man nur durch den Zauber der Dichtung schon im Leben heimzulanden vermag. [...] Wir Gottminiatüren erschaffen Weltminiatüren. ‚Zuerst war das Wort.‘ [...] Sind wir Dichter der Künste etwa nicht Priester? Unsere Kunst nicht unser Gottbeiuns? (P 4.1, 55f. und 78f.)

Das Publikum wird dabei gleichsam doppelt involviert: zum einen als Zeuge einer solch frontalen Protestaktion, die gleichsam als Anklage in Präsenz gedacht ist; 23 zum anderen als Adressat bzw. Leser eines Texts, der Einblick in die komplexe Genese einer Poetik gewähren soll. Dieser Weg durch die eigene literarische Produktion wird von Lasker-Schüler nicht nur am Leitfaden der Erinnerung geschildert, sondern auch gleichsam performativ reaktualisiert. Die Realitätsbezüge sind auch in diesem Fall – und zwar nicht verwunderlich – fiktionalisiert. Überaus frei ist auch der Umgang mit der Autorrolle und mit der Figur Jussuf, denn gemeint ist kein Diskurs über die Wahrheit, sondern ein Metadiskurs über die Dichtung. Zwei Schwerpunkte werden insbesondere fokussiert und die gelten beide der Stilisierung der eigenen Werkbiographie im Zeichen ihrer jüdischen bzw. hebräischen Signatur. Die Gedichte meines ersten Buches: Styx, das im Verlag Axel Juncker erschien, dichtete ich zwischen 15 und 17 Jahren. Ich hatte damals meine Ursprache wiedergefunden, noch aus der Zeit Sauls, des Königlichen Wildjuden herstammend. Ich verstehe sie heute noch zu sprechen, die Sprache, die ich wahrscheinlich im Traume einatmete. Sie dürfte Sie interessieren zu hören. Mein Gedicht Weltflucht dichtete ich u.a. in diesem mystischen Asiatisch. Weltflucht: Ich will in das Grenzenlose Zu mir zurück, Schon blüht die Herbstzeitlose -Vielleicht ist es zu spät – zurück 23

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Elbanaff: Min salihihi wali kinahu Rahi hatiman fi is bahi lahu fassun – Min hagas assama anadir,

Julia Ingold hat die etwas „inflationäre[n]“ Wiederholungen der Anrede „hochzuverehrendes Publikum“ (meistens als Abkürzung „h. P.“ im Text) zusammengezählt, die den Fluss der Ansprache regelmäßig skandieren und auf die rhetorischen Konventionen eines Gerichtssaals verweisen. Vgl. Ingold, Julia: Arabeske und Klage. Aspekte des Ausdrucks bei Else Lasker-Schüler, Göttingen 2022, S. 130–150, hier: 134: „S. 49 (2x), 51 (3x), 52, 54–56, 58–61, 62 (2x), 64 (2x), 66, 67 (2x), 68, 70 (3x), 71 (2x), 73, 74, 75 (2x), 76, 77 (3x), 80 (3x), 81 (3x), 82 (2x), 83, 84 (3x), 85“.

Ob ich sterbe zwischen euch Die ihr mich erstickt mit euch. Fäden möchte ich um mich ziehen Wirrwarr endend, Verwirrend, Zu entfliehen Meinwärts.

Wakan liachad abtal, Latina almu lijádina binassre. Wa min tab ihi Anahu jatelahu Wanu bilahum. Assama ja saruh fi es supi bila uni El fidda alba hire Wa wisuri – elbanaff (KA 4.1, 58f.)

Das Augenmerk richtet sich zunächst einmal auf die erste Gedichtsammlung, wobei im Fokus der Rückschau nicht zufällig eines der ersten berühmten Gedichte steht, das in der programmatisch ego-zentrischen Radikalität des Adverbs „meinwärts“ mündet. Neu ist allerdings die Akzentverlagerung, d.h. die Gegenüberstellung der vermeintlichen ‚Übersetzung‘, durch die Lasker-Schüler die orientalischen Wurzeln ihres Schreibens nachdrücklich betonen möchte. Auch dies geschieht allerdings im Zeichen einer ästhetischen Stringenz. Die Lautsequenz im Auftakt von Elbanaff, „Minsalihihi wali kina hu raha hatiman fi isbin lahu fassun“ kommt nämlich bereits in verschiedenen Briefen vor (die wiederum als Berichte von Vortragsabenden zu lesen sind), 24 ist insoweit weder willkürlich zusammengesetzt, noch als beliebiger Nonsense gedacht, sondern vielmehr als erwogene Klangpartitur durchkomponiert, welche die Stimmung jener „mystisch-asiatischen“ Ferne heraufbeschwören soll. Zur Stilisierung der jüdischen Genealogie ihres Talents dienen nicht zuletzt die wiederholten Exkurse in die Kindheit, wo die ersten fiktionalisierten Begegnungen mit der Figur Jussuf – und mithin die Genese des „Theben-Komplex” – verortet werden. Die Re-Konstruktion der „herzliche[n] Zeit” der frühen Lebensjahre wird dabei zu einem elliptischen Kurzschluss zwischen autobiographischer und poetologischer Ebene: Ich flüchtete immer durch die liebevollen Bäume des Waldes, über Wiesen, ich liebe jede Blume – heute eile ich ans Meer und überall blicke ich nach einem heimatlichen Boden aus, wer von uns hätte den gefunden und nicht erlitten des Heimwehs qualvollste Angst. Fand ich denn einmal die Heimat – in deinem Auge – durfte ich auch dort nicht rasten. In der Nacht meiner tiefsten Not erhob ich mich zum Prinzen von Theben. Welchen Ahnen nachfolgte ich, welche Mumie salbte meine entschlossene Tat? – Immer wieder tauche ich vom kühlen Strand meiner Broschüre in 24

Vgl. etwa den Brief an Richard Dehmel im Oktober 1910: „Wenn Sie mich gesehn hätten nach meines Landes Sitte, in meines Landes Prinzentracht, Sie hätten sicherlich mit mir und meiner Tänzerin und meinen drei Negern das kriegerische Schaustück gespielt. Minsalihihi wâli kina hu rahâ hâtiman fi isbin lahu fassun!! In der Extase habe ich mit den Dolchen im Spiel meine Hände verletzt.– [....] Allah Kehrim! (anschließend eine Reihe Sterne)“ (KA 6, 174).

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die lockende Welle meines Blutes, sie drängt über Sie zu kommen, Sie von meiner Anklage Ernst zu überzeugen. Ich stehe vor Ihnen, h. P., anzuklagen, keineswegs zu schwärmen, aber aufzuräumen, bin des Verlegers Kehraus und des Dichters warnendes Beispiel. 25 (P 4.1, 69–70)

In dieser allegorischen Inszenierung der eigenen Rolle bzw. in der Geste der Selbstermächtigung als Reaktion auf die Erfahrung der „tiefste[n] Not“ kommt zwischen den Zeilen die Physiognomie des „bewussten Paria“ exemplarisch zum Ausdruck, so wie sie Hannah Arendt am Beispiel von Rahel Varnhagen exemplifiziert und später im amerikanischen Exil in Zusammenhang mit dem retrospektiven Entwurf einer sogenannten „verborgenen Tradition“ neu reflektiert hat. 26 Als kompromissloser Mut zur Selbsttreue impliziert auch dieses jüdische Modell den Preis des Verzichts auf soziale Akzeptanz. Bei Lasker-Schüler handelt es sich um ein ebenso kompromissloses Bekenntnis zur eigenen Identität und als solches will es auch rezipiert werden. Die sakrale Aura des Theben-Buchs fügt hier weitere allegorische Be-

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In dieselbe Richtung weist die Erinnerung an das kindliche Spiel mit den Reimen unter fürsorglicher Anleitung der Mutter, sowie das Knopfspiel, das vom Reiz des Gedichte-Schreibens zeugen soll: „Ich legte Knopf an Knopf, je vier oder fünf, ebenmäßige Reihen in Zwischenräumen auf den großen Tisch und führte dann mein klein Fingerchen über die Knopfreihen der abgeteilten Knopfstrophen. Wenn ich dann durch die Unregelmäßigkeit der Knopfgrößen mit der Fingerspitze stolperte oder gar mit dem ganzen Finger abglitt, schrie ich laut auf, genau wie ich mich heute körperlich verletzt fühle, durch einen Vokal oder Konsonanten, der Störungen im Maß oder Gehör undefiniert verursacht. Aber einer der herrlichsten Knöpfe durfte überall liegen, wo er wollte; er war aus Jett, besäet mit goldenen Sternlein und ich staunte ihn an. Er war das Himmelreich meiner Knöpfe und hieß: Josef von Ägypten.“ (KA 4.1, 57–58) Arendt folgt mit dieser Bezeichnung Bernard Lazare. Vgl. Arendt, Hannah: „Wir Flüchtlinge“, in: dies.: Zur Zeit. Politische Essays, hg. von Marie Luise Knott, Berlin 1986, S. 20: „Die moderne jüdische Geschichte, die mit Hofjuden begonnen hatte und sich mit jüdischen Millionären und Philanthropen fortsetzt, unterschlägt leicht diese andere Richtung jüdischer Tradition – die Tradition, in der Heine, Rahel Varnhagen, Schalom Aleichem, Bernard Lazare, Franz Kafka und selbst Charlie Chaplin stehen. Es handelt sich um die Tradition einer Minderheit unter den Juden, die keine Emporkömmlinge sein wollten und den Status des ‚bewußten Paria‘ vorzogen. Alle gepriesenen jüdischen Eigenschaften – das ‚jüdische Herz‘, Menschlichkeit, Humor, Unvoreingenommenheit – sind Paria-Eigenschaften. Alle jüdischen Mängel – Taktlosigkeit, politische Dummheit, Minderwertigkeitskomplexe und Geldscheffeln – sind Charaktereigenschaften von Emporkömmlingen. Es hat immer Juden gegeben, die ihre menschliche Einstellung und ihren natürlichen Wirklichkeitssinn nicht zugunsten eines engstirnigen Kastengeistes oder der Nichtigkeit finanzieller Transaktionen aufgeben wollten.“ Vgl. auch Arendt, Hannah: Sechs Essays. Die verborgene Tradition, in: dies.: Kritische Gesamtausgabe. Druck und Digital, Bd. 3., hg. von Barbara Hahn, Göttingen 2019.

deutungsschichten hinzu – die Feierlichkeit der Ritualität, die Kontinuität der Tradition: Welche Hände blättern in meinem kostbaren Bilderbuch Theben? Beugst du dich über seine Gedichte, seine Zeichnungen? Oder stieren dreiste Augen meine Heiligenbilder an und plappern genießende Lippen meine Feiertagsgedichte her? Es ist Mode, auch kostbare Bücher im Salon auf Marmortischchen liegen zu haben. Das weiß der Verleger und denkt an seinen Vorteil. Mein Buch ‚Theben‘, es ist meine Mutter, mein Vater, mein Kind, mein Bruder, meine Schwester, meine Spielgefährtin und mein Versöhnungstag, meines Herzens Synagoge Abendmahl. Erheben Sie sich im Geist mit mir, h.P. (KA 4.1, 73)

Der Mut zur „Nichtübereinstimmung“ ist zugleich Fundament für die Selbstbehauptung der eigenen Alterität. 27 Eine wichtige Rolle für das Eigenverständnis der bewussten Pariah spielt nicht nur im Hintergrund die uralte Erfahrung der latenten Diskriminierungen bzw. offenen antisemitischen Diffamierungen, die in der literarischen Karriere Lasker-Schülers auch vor 1933 freilich auch nie gefehlt haben. Ein Beispiel davon ist der feindliche Kommentar zu ihrer Sprache, den 1921 Ludwig Thoma als Chefredakteur des Miesbacher Anzeiger unterschrieb: Wir wissen kaum, wer Lasker-Schüler ist, und unsere Leser werden es auch nicht wissen, aber der Jacobsohn in Berlin sagt, dass sie die größte Dichterin Deutschlands ist, und der Judassohn sagt es auch. [...] Die erste Dichterin Deutschlands scheint zu besitzen nichts von der Sprache Deutsch. [...] Wir drucken es ab, damit der wirkliche Deutsche sieht, wie die Saubande sogar mit seiner Sprache Schindluder treibt. Unzählige Fehler, Sinnwidrigkeiten, Häßlichkeiten, sind durch das Pressegesindel in unsere Muttersprache eingeschmuggelt worden. Seit zehn und mehr Jahren benützt die Bande ihre Zeitungsmacht, um den ganzen Bau der deutschen Sprache zu zerstören und an ihre Stelle das jiddische Gauner- und Verbrecherkauderwelsch zu setzen. 28

Trotz solch offener Attacke, die gegen jüdische Autor:innen in der Presse immer lauter wurden, wird Lasker-Schüler 1932 der Kleist-Preis – die bedeutendste literarische Auszeichnung der Weimarer Republik – verliehen. Aus ihrer Sicht handelt es sich allerdings um eine viel zu späte Anerken27

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Zu Else Lasker-Schülers ästhetischen Verfahren als „auch – aber nicht nur – Reaktionen als Marginalisierungen als Jüdin, Frau und Alleinstehende“ vgl. Wolf, Uljana: „Heimliche Heimat“. Else Lasker-Schülers Ankunftssprachen, in: dies.: Etymologischer Gossip. Essays und Reden, Berlin 2021, S. 114–124, hier: 119. Vgl. https://www.literaturportal-bayern.de/journal?task=lpbblog.default&id=1419, (letzter Zugriff am 30.05.2023).

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nung, nach der sie sich bereits lange gesehnt hatte. So hatte sie bereits im Spätsommer 1916 Fritz Engel, den Redakteur des Berliner Tageblatt und Mitbegründer der Kleist-Stiftung, direkt darauf angesprochen – und zwar in der für sie typischen, zwischen Spiel und Ernst changierenden Geste: „Ich bin Else Lasker-Schüler – wollte nur fragen, ob ich nicht mal einen Preis irgendwoher bekomme zum Beispiel von Ihrer Kleist-Stiftung. Kleist hätte ihn mir sicher gegeben.“ (KA 7, 123). Jetzt wo ihre Erwartungen in Erfüllung gehen, muss sie aber den Preis teilen: Die Auszeichnung gilt ex aequo dem österreichischen Theaterautor Richard Billinger, der sich bald darauf zur nationalsozialistischen Ideologie bekennen wird. Für Lasker-Schüler bedeutet diese Tatsache erst einmal die unerfreuliche Konsequenz, dass die Geldsumme geteilt werden muss. Statt 1500 Mark ist es nur die Hälfte, über die sie verfügen kann, also: „750 Mark – wie sie schreibt – 476 Miete Schuld sofort bezahlt etc. Dann tranken wir Burgunder.“ (KA 8, 123). Während Gottfried Benn der befreundeten Kollegin noch in Namen „der deutschen dichtung“ zu gratulieren gedenkt 29 – und dies ein Jahr bevor er das Hitlers Regime begrüßen wird – diffamiert der Völkische Beobachter die preisgekrönte Autorin als „Tochter eines Beduinenscheichs“: Sie schreibe als „knabenhafte dürre Judin“ eine hebräische Poesie, die den deutschen Lesern „gar nichts angeht“. 30 Lasker-Schüler ist vorläufig die letzte Preisträgerin, denn ein Jahr später werden die Nazis unter anderem auch den Kleist-Preis abschaffen. Was bleibt, ist der Weg ins Exil, wobei die Vertreibung aus Deutschland ebenfalls Sujet einer bildlichen Darstellung wird. Unter dem Titel Die verscheuchte Dichterin skizziert Lasker-Schüler eine Episode, von der immer noch in der Forschung gerätselt wird, ob sie fingiert sei oder ob sie sich tatsächlich zugetragen habe. Zu sehen ist eine weibliche Figur, die eine deutliche Ähnlichkeit mit der Dichterin aufweist und sich in einem „Hospital“ „wegen Verletzungen der Naci“ befindet. Ein Zitat aus einem Gedicht aus dem ersten Band Styx (Müde) ist Teil des Ensembles aus Schrift und Bild: „Wüßt ich einen Strom wie mein Leben so tief – flösse ich mit seinen Wassern“ (KA 1.1, 34). 31 Die Zeichnung trägt das doppelte Datum 1933– 1942 (denn vermutlich wurde sie erst in Jerusalem vollendet) und besiegelt symbolisch Lasker-Schülers Abschied von Deutschland – sowie von der Phantasie eines anderen Lebens. Theben und Berlin sind nun nicht mehr entgegensetzte Pole, sondern zwei komplementäre Namen derselben Nostalgie:

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Vgl. Bauschinger, Else Lasker-Schüler. Biographie, Göttingen 2004, S. 347. Ebd. Vgl. Lasker-Schüler, Die Bilder, S. 103 u. 253.

Ich glaube wir sind alle für einand’ gestorben – Und auch gestorben unser Café in Berlin. Arm zog ich aus, ich habe nichts erworben. Doch Thränen liess ich in Berlin. [...] Ich hab mein Märchenland – es war einmal – verloren, Verloren .... (KA 1.1, 325)

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Abb. 1

Abb. 2

Cornelia Ortlieb

Exile der Liebe, neue Sprachen, kleine Frauen und ihre Vorbilder Kafkas Berlin Ein besonderer Ort der Sehnsucht, des Kummers und des Glücks ist Berlin zeitlebens für Franz Kafka gewesen und im Jahr 1923 endlich ein Wohnort. Im Frühjahr 1924, nach einem knappen halben Jahr in der Stadt, wird er ihn wieder verlassen müssen, krank und unaufhaltsam dem Ende seines Lebens entgegengehend. Auf der topographischen Zeitreise mit den Mitteln der Literatur begegnen in Kafkas Berlin von 1923 bekannte Elemente und Orte; die Rekonstruktion oder Imagination dieser historischen Parallelwelt endet jedoch vielmals unweigerlich im Leeren der Zerstörung und Vernichtung oder des bloßen Verschwindens und Vergessens. Eine Annäherung kann so, mehr oder weniger willkürlich, in drei Schritten und Kapiteln erfolgen, die verschiedenen Orten und Figuren gewidmet sind: dem Zoo, den Figurationen des Schiffs und der Schwelle, und schließlich den Skizzen im doppelten Sinn, dem ‚gestrichelten Berlin‘ in Kafkas Tagebuch und den faszinierenden Zeichnungen. Mit ihnen lässt sich schließlich auch ein anderer Blick auf Kafkas einzige Erzählung von 1923 werfen, in der die ‚kleinen Frauen‘ seiner früheren Zeichen-Experimente in anderer Gestalt wiederkehren werden. Dass auch „Der Bau“, die Geschichte des Tiers, das sich eingräbt, seine Behausung richtet und zur Verteidigung vorbereitet, offenbar in den letzten beiden Monaten des Jahres 1923 begonnen wurde, ist ein weiteres sprechendes Detail. Die folgenden Überlegungen sind jedoch nicht vorrangig diesen literarischen Produkten der Berliner Zeit gewidmet, sondern den außerordentlichen Umständen des Lebens und Schreibens an diesem besonderen Ort, der Kafka zufolge so viele Gefahren wie Versprechen birgt. 1. Zoo oder Exile der Liebe und das russische Berlin Kafkas Berlin, oder auch: der Mythos Berlin bei Kafka, lässt sich mindestens bis zum Jahr 1912 zurückverfolgen, etwa zur Begegnung mit Felice Bauer in Prag und dem Beginn eines einzigartigen Briefwechsels. 1 Die 1

Franz Kafka: Briefe an Felice – und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hg. v. Erich Heller und Jürgen Born, Frankfurt a.M. 1976.

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Briefbeziehung wird Kafka auch tatsächlich mehrmals nach Berlin führen, das eine Art imaginäres Exil der Liebe bildet, bis nach zwei Verlobungen und ihren zwei Auflösungen – mit wenig Zeit in Berlin – die endgültige Trennung folgt und damit auch der Abschied von der Idee, an diesem besonderen Ort ein ganz anderes Leben führen zu können oder gar: ein anderer zu sein, das Versprechen von Berlin, damals wie heute. 2 Entsprechend glaubt man zu verstehen, was es impliziert, wenn in Hans-Gerd Kochs unverzichtbarem Buch Kafka in Berlin zu lesen ist, dass Felice Bauer mit ihrer Familie in der Immanuelkirchstraße 29, Ecke Winsstraße gewohnt hat, bis zum Umzug in die Wilmersdorfer Straße 73 im April 1913. 3 Sie hat demnach zunächst am Prenzlauer Berg gewohnt, auf dem Berg sogar, und ist dann mit ihrer Familie nach Charlottenburg gezogen, dorthin, wo sich heute eine beliebte Fußgängerzone mit zahllosen Läden und einfachen Cafés befindet. 4 Tatsächlich versteht man mit solchen Verortungen wenig bis gar nichts, denn sie setzen die Vorstellung des zerstörten alten Zentrum Berlins voraus, dem gegenüber der neue Westen ein passender Ort für Künstler*innen und moderne Menschen zu sein versprach. Das gilt offenbar auch für die jüdische Familie Bauer, die erst 1899 aus Oberschlesien nach Berlin gezogen und auf die finanzielle Unterstützung durch diese Tochter angewiesen war, eine erfolgreiche berufstätige Frau in einem zeitgemäßen und zukunftsträchtigen Geschäftsleben, dem Handel mit Büromaschinen, darunter Diktiergeräte wie der sagenumwobene Parlograph. 5 Darüber ist schon viel geschrieben worden, auch über einen Brief Kafkas an Felice Bauer, in dem er quasi den Anrufbeantworter erfindet, also Telefon und Tonband zusammenbringen will, damit der Angerufene die Nachricht hören kann, ohne selbst sprechen zu müssen – heute in den allgegenwärtigen Sprachnachrichten umgekehrt vielfach genutzt, um sprechen zu können, ohne hören zu müssen. Es ist einer der schönsten Briefe Kafkas an Felice Bauer, geschrieben in der Nacht des 22. Januar 1913, fünf Monate nach der ersten Begegnung in Prag, und er beginnt mit einer liebevollen Anrede und einem Paradox:

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Wie eng zumal das Ende der Beziehung mit dem ‚Gerichtsort‘ Berlin verknüpft ist, hat zuerst Canetti eindrucksvoll nachgezeichnet, vgl. Elias Canetti: Der andere Prozess. Kafkas Briefe an Felice, München 1984. Hans-Gerd Koch: Kafka in Berlin, Berlin 2008, S. 53. Vgl. zur historischen Umgebung Koch: Kafka in Berlin, S. 53–56. Reiner Stach widmet in seiner großangelegten mehrbändigen Biographie Kafkas auch Felice Bauer einige Aufmerksamkeit, vgl. Reiner Stach: Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a.M. 2002. Koch belegt zudem mit der Deutung einer Traumerzählung Kafkas vom Jahresbeginn 1914, dass die „Frage“ berechtigt ist, „ob Kafka tatsächlich in diese Berlinerin verliebt war oder nicht vielmehr in die Stadt, in der sie lebte“. Koch: Kafkas Berlin, S. 57.

Sehr spät, Liebste, und doch werde ich schlafen gehen, ohne es zu verdienen. Nun, ich werde ja auch nicht schlafen, sondern nur träumen. Wie gestern z. B., wo ich im Traum zu einer Brücke oder einem Quaigeländer hinlief, zwei Telephonhörmuscheln, die dort zufällig auf der Brüstung lagen, ergriff und an die Ohren hielt und nun immerfort nichts anderes verlangte, als Nachrichten vom ‚Pontus‘ zu hören, aber aus dem Telephon nichts und nichts zu hören bekam, als einen traurigen, mächtigen, wortlosen Gesang und das Rauschen des Meeres. Ich begriff wohl, dass es für Menschenstimmen nicht möglich war, sich durch diese Töne zu drängen, aber ich ließ nicht ab und ging nicht weg. 6

Gerhard Neumann hat gezeigt, das mit dem geheimnisvollen Pontus, dem Schwarzen Meer, auch an Ovid erinnert ist, den dorthin verbannten römischen Dichter, und seine Liebesdichtung, die entscheidend auf der Trennung von der Geliebten, ihrer Abwesenheit beruht. 7 Aber das eigentümlich Poetische dieser Traumerzählung vom unerreichbaren Anderen geht ja noch darüber hinaus, konzentriert in der „Muschel“, vielmehr in ihrer Doppelung, die dem traumtypischen Verhören ebenso entspricht wie dem gewöhnlichen metaphorischen Sprechen: Als die Telefone noch Hörer hatten, hat man deren geformtes Ende eben so ans Ohr gepresst wie die großen Muscheln, in denen man vermeintlich das Meer rauschen hört – und interessanterweise werden die äußeren Bereiche menschlicher Ohren gleichfalls als Muscheln bezeichnet. Der traurige, wortlose Gesang einer nicht-menschlichen Stimme in diesem Rauschen in Kafkas Traum mag ein Hinweis auf den lockenden Sirenengesang sein, der im Mythos aus der Ferne ans Ohr dringt, und entsprechend wäre es eine klassische Wunscherfüllung im Sinn Freuds, dass dem Traum-Ich gelingt, was der historische Autor in keiner Verlobung schaffen wird, „[I]ch ließ nicht ab und ging nicht weg“. 8 Dass die Hörer „zufällig“ auf dem Brückengeländer liegen, der Träumer aber offenbar zielstrebig zu ihnen läuft, dass die Botschaft gleichermaßen undeutlich und, wie es in der berühmten Erzählung „Vor dem Gesetz“ gezeigt wird, nur für ihn 6 7

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Franz Kafka: Brief an Felice Bauer, 22./23.1.1913, Briefe an Felice, S. 264. Drei Elemente des Ovidschen Schreibens sind in diesem Brief Kafkas auszumachen: Die Rede von der Liebe ist geprägt von Distanz, also von einer unwiderruflichen Trennung vom geliebten Objekt, zugleich auch von der Atmosphäre der Fremdheit unter Barbaren, weit weg vom kulturellen Zentrum der Welt, und schließlich, so Neumann, „wird gerade die Entfernung vom Ort der Liebe dem Exilierten zur letzten einzigen Bedingung von Literatur überhaupt“. Gerhard Neumann: „Nachrichten vom Pontus“, in: Wolf Kittler, Gerhard Neumann (Hg.): Franz Kafka. Schriftverkehr, Freiburg 1990, S. 164–198, S. 167. Diesen Satz und den folgenden übernehme ich wörtlich aus Cornelia Ortlieb: Telephonie. Eine Literaturgeschichte der Stimmenübertragung, in: Renate Stauf, CordFriedrich Berghahn (Hg.): Wechselwirkungen. Die Herausforderung der Künste durch die Wissenschaften, Heidelberg 2014, S. 185–200, S. 195.

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bestimmt ist, sind typische Paradoxien des Kafkaschen Erzählens, die sich hier um das Bild der zwei Telefonhörmuscheln auf der steinernen Brüstung verdichten 9, etliche weitere finden sich im Schreiben in und über Berlin. Damit zurück nach 1923, in den neuen Westen der Stadt, der allerdings bereits genau zwanzig Jahre vor Kafka, 1903, von einem jungen Schweizer entdeckt wird, der nach Berlin mit dem unbestimmten Ziel kommt, dort ein besseres Leben zu beginnen, das mit Kunst zu tun hat – es ist Robert Walser, der sich seinem älteren Bruder Karl anschließen kann, einem schon bekannten Maler. Als Mitglied der Berliner Sezession kann dieser dem Bruder eine Anstellung als deren Sekretär verschaffen, so dass er immerhin irgendwie schreiben darf, bevor er dann eine Reihe kleiner Berlin-Texte für die Feuilletons Berliner Zeitungen verfasst. 10 Und unter den sehr wenigen Menschen, die diese Texte nachweislich gelesen und ihre Qualität erkannt haben, ist interessanterweise Franz Kafka – heute kann man dieses Erlebnis etwa mit der schönen Textsammlung Die kleine Berlinerin nachholen, deren Titel bereits auf Kafkas Berlin-Erzählung von 1923 vorausweist. 11 Die gleichnamige Erzählung von 1909, aus der Perspektive einer naiven und selbstbewussten jungen Frau, enthält auch einige Reflexionen über die Stadt, etwa: „Unser Berlin platzt bald überhaupt vor Neuheit. […] Es ist die sauberste, modernste Stadt der Welt“ – so zumindest „der Papa“. 12 Robert Walser hat bei seinem Maler-Bruder in der Kaiser-FriedrichStraße Nr. 70 gewohnt, gleichfalls im schicken Westen, in Charlottenburg. Wie man sich diesen 1923 vorstellen soll, lässt sich am besten bei Viktor Schklowski nachlesen, einem anderen neu Hinzugekommenen, der auch daran erinnert, dass dieser Stadtteil bis heute aus Gründen russisch anmuten mag – unverkennbar beispielsweise am Bahnhof Charlottenburg, der einen russischen Supermarkt birgt. Schklowski, ein bedeutender Vertreter des russischen Formalismus ist Literaturinteressierten besonders für seine bahnbrechende Theorie der Prosa bekannt. 13 In deren Zentrum steht das Konzept des Kunstgriffs, und sie handelt von Techniken, die mit einem 9 10

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Ortlieb: Telephonie, S. 195. Vgl. zu Walsers Schreibarbeiten für die Sezession und ihrem Kontext Katja Barthel: Interferenz von administrativer und literarischer Schreibszene – Robert Walsers Korrespondenz bei der Berliner Secession mit Walther Rathenau (1907), in: dies. (Hg.): Dynamiken historischer Schreibprozesse. Diachrone Perspektiven vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne, Berlin 2022, S. 279–309. Ob die „kleine Frau“ in diesem Sinn auch eine Antwort auf die „kleine Berlinerin“ ist, wäre eine eigene Untersuchung wert, die zudem die auffälligen Ähnlichkeiten von Vokabular und Schreibweise näher in den Blick nehmen müsste. Robert Walser: Die kleine Berlinerin (1909), in: Die kleine Berlinerin. Geschichten aus der Großstadt. Mit einem Nachwort von Clemens J. Setz. Hg. v. Pino Dietiker u. Reto Sorg, Berlin 2018, S. 87–95, S. 91. Viktor Šklovskij: Theorie der Prosa. Hg. u. aus dem Russischen übers. v. Gisela Drohla, Frankfurt a.M. 1966.

berühmten Begriff Bertolt Brechts, wenn auch in anderem Sinn, ‚Verfremdung‘ genannt werden können. Kaum merkliche Änderungen und Verschiebungen dienen demnach der Erhöhung der Aufmerksamkeit und einer Veränderung der Wahrnehmung im Lesen. „Das Ziel der Kunst“ ist es nach Schklowski nämlich, „uns ein Empfinden für das Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die Kunst zwei Kunstgriffe: die Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern.“ 14 Für eine solche Schreibweise wäre im Kontext dieser Vorlesung zuallererst Schklowskis Roman Sentimentale Reise zu lesen, ein ironisch-bitteres Zitat der Sentimental Journey Laurence Sterne’s. 15 Denn diese offensichtlich gleichermaßen autobiographische wie zeithistorisch belastete und belastbare Erzählung handelt von Schklowskis Beteiligung am Ersten Weltkrieg, an der Februarrevolution von 1917, von Kämpfen in Rumänien und in der Türkei, von der Rückkehr in die Sowjetunion nach der Oktoberrevolution, schließlich von der Flucht nach Finnland und der Ankunft in Berlin 1922. Das kürzlich neuaufgelegte Buch enthält notwendigerweise eine Fülle schrecklicher Details, die es aber auch zu wissen gilt – etwa, wenn Schklowski schildert, wie es ist, in unsicheren Bürgerkriegszeiten als jüdischer Russe in die deutsch besetzte Ukraine zu gehen. 16 Für das bessere Verständnis von Kafkas Berlin sollte man aber zunächst einmal Schklowskis Briefroman Zoo oder Briefe nicht über die Liebe von 1923 entdecken oder wiederlesen, gerade neu erschienen in der schönen Übersetzung von Olga Radetzkaja, gleichfalls ein historischer Schlüsselroman, denn er handelt von der unerfüllten Berliner Liebe Schklowskis zur russisch-französisch-jüdischen Schriftstellerin Elsa Triolet und basiert auf dem Briefwechsel der beiden. Mit dem ersten Titelstichwort ist selbstredend der heute noch so zu findende doppelte Zoo gemeint, Zoologischer Garten und benachbarter Bahnhof Zoo, und es ließe sich entsprechend kurz darüber sinnieren, wie eigenartig der Berliner Blick vom Bahngleis Richtung Hauptbahnhof auf die Giraffe gegenüber an der Hauswand, mit dem Pfeil Richtung „Zoo“, ist. Umgekehrt muss der Blick im Zoo-Zoo beim Betrachten der Tiere auch auf die Züge und S-Bahnen direkt hinter ihnen fallen, eine eigentümliche und sinnenverwirrende Nähe von Bahn- und Tierwelt. 17

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Šklovskij: Kunst als Kunstgriff, in: Theorie der Prosa, S. 7–24, S. 13. Vgl. zur Auseinandersetzung mit diesem Roman Šklovskij: Die Parodie auf den Roman. Tristram Shandy, in: Theorie der Prosa, S. 115–143. Viktor Schklowskij: Sentimentale Reise. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja, Berlin 2017. Vgl. zur legendenhaften Verknüpfung von Krieg und Zoo Marcel Beyer: Das wilde Tier im Kopf des Historikers, in: Stefan Deines, Stephan Jaeger, Ansgar Nünning

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Berlin-Ankömmlingen muss man heutzutage zudem erst einmal erklären, dass der Tiergarten nicht der Zoo ist, der Zoo aber im Stadtteil und Park Tiergarten liegt – und dass wiederum der andere Zoo im Osten Tierpark genannt wird… In einem Vorwort mit programmatischen Hinweisen zum Status des Textes und seiner Lektüre findet Schklowski noch ein weiteres, altehrwürdiges Wort für solche animalischen Parallelwelten: Er habe zuerst „eine Reihe von Skizzen über das russische Berlin geplant“, die dann aber durch ein gemeinsames Thema verbunden werden sollten, eben jenen erstaunlichen Zoo (der Tiere), bei ihm „die Menagerie“ genannt. So kam es demnach zum ersten Teil des Titels, dann: die Idee, „eine Art Briefroman daraus zu machen“, der wiederum eine „Motivierung“ brauche, einen „Grund […], warum die Figuren korrespondieren“, das ist, wie Schklovskij lakonisch schreibt, „für gewöhnlich Liebe, und etwas oder jemand, der die Liebenden trennt.“ 18 Mit dieser Kurzbeschreibung ist zugleich die Geschichte dieser überaus beliebten europäischen Literatur-Gattung mindestens seit dem 18. Jahrhundert umrissen und die ältere Liebesdichtung, aus der sie sich speist. Im „Sonderfall“ der bekannten Motivierung in diesem neuen Entwurf, heißt das, in Abwandlung eines klassischen Motivs: „Die Briefe schreibt ein Liebender an eine Frau, die für ihn keine Zeit hat.“ 19 Diese Beschreibung und Begründung, die für die traditionell unterschiedlich erklärte Abwesenheit der Geliebten deren zeitgemäße (berufliche) Beschäftigung setzt, würde auch für viele Briefe Franz Kafkas an Felice Bauer passen. Und gleichermaßen gilt für den Briefroman, den Kafka für Felice Bauer schreibt, in der Fülle teils täglich verfasster Briefe, was der „Achtzehnte Brief“ bei Schklowski nüchtern benennt: „Ein tragisches Ende oder zumindest ein gebrochenes Herz ist schon durch den Briefroman vorgegeben.“ 20 In diesem Brief geht es unter anderem um die Frage, wie man Städte beschreiben kann. Zunächst Hamburg: sehr leicht zu beschreiben, Hafen, Wasser, Kräne, Schaufelbagger und so weiter. 21 „Dresden“, so der Briefschreiber, „macht da schon mehr Arbeit“. Man kann aber dafür, wie in der russischen Literatur üblich, „irgendeine Einzelheit“ herausnehmen, etwa die graue Farbe, aus Gründen, die hier beiseite bleiben können, und schon geht der Rest wieder von allein. Anders jedoch die Hauptstadt des Deutschen Reiches: „Berlin dagegen ist schwer zu beschreiben. Man be-

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(Hg.): Historisierte Subjekte - Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin, Boston 2003, S. 295–302. Viktor Schklowski: Zoo. Briefe nicht über die Liebe oder die dritte Heloise. Aus dem Russischen und mit einem Nachwort von Olga Radetzkaja. Mit einem Essay von Marcel Beyer, Berlin 2022, S. 5. Ebd. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67.

kommt es nicht zu fassen“, heißt es dann, und das ist natürlich die Einleitung zu einer sehr speziellen Beschreibung Berlins, die mit dem Datum des Vorworts – 5. März 1923 – gleichsam tagesaktuell zu sein beansprucht. In Olga Radetzkajas bildreicher Neuübersetzungwird aus dem, was „nicht zu fassen“ ist, schnell ‚bekanntes‘: Die Russen wohnen in Berlin bekanntlich rund um den Zoo. Die Bekanntheit dieses Umstands ist kein Grund zur Freude. Während des Krieges hieß es: ‚Der Frühling bringt bekanntlich meist eine deutsche Offensive‘. Als wäre die deutsche Offensive eine Art Wetterumschwung. Die Russen in Berlin kreisen um die Gedächtniskirche wie Fliegen um eine Deckenlampe. Und wie eine Fliegenpapierkugel an der Lampe, so ist an dieser Kirche eine seltsame stachlige Nuss über dem Kreuz angebracht. 22

Die zitierte Kirche ist Teil der historischen Platzanlage am heutigen Breitscheidplatz, vormals Gutenbergplatz und seit 1892 Auguste-Viktoria-Platz, die im Zweiten Weltkrieg zerstört und in den 1950er Jahren verändert wiederaufgebaut wurde; ihr vollständiger Name Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche wird auch heute meist nur verkürzt genannt. Sie hat fünf Türme, auf dem Hauptturm, der heute als markante Ruine die umliegenden Straßen und Plätze überragt, war tatsächlich solch eine Kugel, allerdings über dieser ein Kreuz – so sieht es zumindest auf alten Photos aus, die aber das „Stachlige“ nicht gut erkennen lassen. Es sei aber auch daran erinnert, dass die Kirche 1895 fertig gestellt wurde, nach nur vier Jahren Bauzeit, im Auftrag des Kaisers Wilhelm II. zum Gedenken an seinen Großvater Kaiser Wilhelm I., in Erinnerung an den Sieg von 1871 im deutsch-französischen Krieg, der diesem den Beinamen eines ‚Friedenskaisers‘ eingetragen hatte; entsprechend waren in der Eingangshalle der Kirche ein Bildzyklus zum Leben Wilhelms I. und Schlachtszenen von 1870/71 zu sehen. Der Blick in die Höhe und die imaginierte Perspektive von oben, aus der Luft, kann und muss so wiederum an den letzten Krieg erinnern, der ja auch unmittelbar zuvor bei Schklowski erwähnt ist, der so genannte Große Krieg oder Erste Weltkrieg, der erstmals besonders gefürchtete und verheerende Kampfeinsätze aus der Luft brachte. Entsprechend passend wechselt der nächste Satz erstaunlicherweise zu einem (phantasmatischen) Blick, wiederum von oben: Die Straßen, die man aus der Höhe der Nuss sieht, sind breit. Die Häuser sind gleichförmig wie Koffer. Durch die Straßen gehen Damen in Sealmänteln [aus braun-schwarzem Robbenfell, CO] und schweren Lederstiefeln, und dazwischen Du im Mausmantel mit Sealbesatz.

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Durch die Straßen gehen Spekulanten in Zottelmänteln und paarweise russische Professoren, die Hände mit dem Regenschirm auf dem Rücken gekreuzt. Trambahnen gibt es viele, aber damit zu fahren, hat keinen Zweck, weil die Stadt überall gleich aussieht. Paläste von der Stange. Denkmäler wie ein Satz Tafelgeschirr. Wir fahren nirgendwohin, wir leben auf einem Haufen inmitten der Deutschen wie ein See inmitten seiner Ufer. Einen Winter gibt es nicht. Mal schneit es, mal taut es. Versunken in Feuchtigkeit und Niederlage verrostet das eiserne Deutschland, und mit ihm verrosten wir, die nicht aus Eisen sind, wir rosten aneinander fest. 23

Über Berliner und preußische Implikationen der Betonung dieses besonderen (Bau- und Schmuck-)Materials wäre einiges zu sagen; hier mag der Hinweis genügen, dass das Regieren ‚mit eiserner Hand‘ oder der ‚eiserne Kanzler‘ auch bekannte Topoi einer ortstypischen politischen Metaphorik sind. 24 Mit kleinen Auslassungen lässt sich dieser Strom unterbrechen bis zu einer weiteren Station an der „Kleiststraße“, zwei Häuser werden benannt, russisch bewohnt alle beide, dann: Zwischen diesen beiden berühmten Häusern schießt die Untergrundbahn aus der Erde und erklimmt kreischend das Hochgleis. Heulend wie eine aufsteigende schwere Granate rast der Zug vom Bahnhof Wittenbergplatz, der einem großen Maulwurfshügel gleicht, zum Hochbahnhof Nollendorfplatz. Weiter saust er hinter einer roten Kirche vorbei – die Kirchen in Berlin ähneln sich so sehr, dass wir sie nur anhand der Straßen unterscheiden, in denen sie stehen. Er saust hinter der roten Kirche vorbei und durch einen Durchbruch in einem Haus, wie durch einen Triumphbogen. 25

Auch dieses Verkehrswesen Berlins, in dem Menschen des 21. Jahrhunderts ihr eigenes wiedererkennen, ist in seinem Beschreibungsvokabular durch und durch militärisch organisiert. Ihren vorläufigen Höhe- oder vielmehr Knotenpunkt erreicht die Berlin-Schilderung nach dem so evozierten „Sausen“ durch das Haus, wie es heute beim Durchqueren des allerdings erst

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Ebd., S. 68f. Die Staatliche Eisenkunstgießerei Berlin wurde zwar schon 1873 geschlossen, nachdem ihr ‚Mutterunternehmen‘, die Gleiwitzer Hütte, bereits ein Jahr zuvor die Produktion eingestellt hatte, doch die seit den napoleonischen Kriegen zur patriotischen Pflicht erklärte Herausgabe von Goldschmuckstücken im Tausch gegen Broschen oder Ringe aus Eisen (mit der Inschrift Gold gab ich für Eisen) wurde im Ersten Weltkrieg neuerlich gefordert, preußisches Eisen war und blieb das omnipräsente Symbol militärischer Stärke. Schklowski: Zoo, S. 69.

1926 eröffneten Bahnhofs Kurfürstenstraße geschieht, 26 damals noch an der Station Bülowstraße. Sie wird bis heute kurz vor der „roten Kirche“ am ‚rechten‘ Rand durchfahren, zwischen den Bezirken Tiergarten [!] und Schöneberg: Dahinter liegt das Forum aller Berliner Züge, das Gleisdreieck. Für die Russen, die inmitten der Deutschen leben wie zwischen Ufern, ist das Gleisdreieck nur ein Umsteigebahnhof. Von hier eilt der Zug zum Leipziger und zu weiteren Plätzen, wo die Bettler ihre Streichhölzer verkaufen und die Blindenhunde ruhig unter kleinen Pferdedecken liegen. Die Leierkästen schluchzen, sie spielen nicht ‚O du lieber Augustin‘ und auch nicht ‚Deutschland, Deutschland über alles‘, sie stöhnen nur. Das ist das mechanische Stöhnen von Berlin. 27

Und mit einem kurzen Blick zurück zum Bahnhof Gleisdreieck kommt diese Mehrfach-Verortung an ihr fulminantes Ende: Über die Dächer der langgestreckten gelben Gebäude ringsum laufen Gleise, sie laufen am Boden und auf hohen eisernen Viadukten, überqueren andere Viadukte, klettern auf noch höhere Viadukte. Tausende Lichter, Signalleuchten, Weichen, Eisenkugeln auf drei Beinen, Ampeln, überall Ampeln. Die Sehnsucht, die Emigrantenliebe und die Tramlinie 164 hatten mich an diesen Ort gebracht, und ich lief lange auf Stegen über die Gleise, die sich hier kreuzen wie die Fäden eines Schals, den man durch einen Ring zieht. Dieser Ring ist Berlin. Für meine Gedanken ist es Dein Name. 28

Erst das ausführliche Zitat lässt die eigentümliche, poetische Verbindung von Stadtbeschreibung, metaphorischer Verdichtung und lakonischer Nüchternheit erkennen – und auch die teils erhöhte Geschwindigkeit, bei all den vielen Eindrücken und Dingen, die im Text so rasch aufeinanderfolgen. Der Blick auf Realien im Stadtraum lässt sich teilweise sogar heute noch nachempfinden; die hundert Jahre dazwischen verfliegen angesichts der UBahnstrecke zwischen Wittenbergplatz und Gleisdreieck, mit Stationen, die sogar ihren Namen behalten haben. Unüberhörbar ist mit all den technischen Einrichtungen und dem Lärm, den sie verursachen, wie mit den vielen Lichtern, jedoch nicht einfach die vielbeschworene Symphonie einer Großstadt gegeben, sondern eher die Kakophonie, der Missklang, in dem Krieg und Revolution nachhallen. Das zeigt sich, sprechend, in den Musikzitaten: Man hört hier nicht mehr die deutsche Nationalhymne, und auch nicht das 26

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Die sogenannte Entlastungsstrecke führt ‚neben‘ der hier zitierten Linie der ‚Hochbahn‘ Nollendorfplatz-Bülowstraße-Gleisdreck mit einer einzigen zusätzlichen Station, Kurfürstenstraße, gleichfalls vom Nollendorfplatz zum Gleisdreieck. Ebd., S. 69. Ebd., S. 69f.

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bekannte Wiener Volkslied aus dem 18. Jahrhundert mit seinem insistierenden Refrain: „O du lieber Augustin, alles ist hin.“ Der Text der Strophen mag heute nicht in ähnlicher Weise präsent sein, zumal der vierten, in der es um die (historische) Pest geht: O du lieber Augustin, Augustin, Augustin, O du lieber Augustin, alles ist hin. Geld ist weg, Mensch (Mäd’l) ist weg, Alles hin, Augustin. O du lieber Augustin, Alles ist hin. […] Jeder Tag war ein Fest, Und was jetzt? Pest, die Pest! Nur ein groß’ Leichenfest, Das ist der Rest. Augustin, Augustin, Leg’ nur ins Grab dich hin!“ 29

Aber der heiter-makabre Reim: „Nur ein groß’ Leichenfest, Das ist der Rest“ passt auch zu den nicht weit zurückliegenden historischen Ereignissen, die der Briefschreiber im „Elften Brief“ so zusammenfasst: „Wir haben keine andere Lebensform gekannt als Krieg und Revolution.“ 30 Entsprechend sind „Zug“ und „Flug“ auch lakonische Metaphern zur Beschreibung der Lage der Russen in Berlin: Im „Siebzehnten“ Brief heißt es, mit Bezug auf einen weiteren Neu-Berliner, den Schriftsteller Boris Pasternak, der „unruhig“ sei: [I]ch glaube, er spürt den fehlenden Zug in unserer Mitte. Wir sind Flüchtlinge – nein, keine Flüchtlinge. Ausgeflogene sind wir, und derzeit sitzen wir still. Bis auf Weiteres. Das russische Berlin fährt nirgendwohin. Es hat kein Schicksal. Keinerlei Zug. 31

Wie bei all der Fernsicht auf das Berliner Gewirr von Straßen, Häusern, Eisenbahngleisen und die gleichfalls summarisch aufgezählten Menschengruppen darin, die Russen, Professoren, Pelzmantelfrauen und Bettler der Blick jedoch auch im ‚Überfliegen‘ der Stadt auf das besondere Detail ge29

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Der Text wird oft (fälschlich) mit einem Dudelsackspieler in Verbindung gebracht, der die Wiener Pest 1679 unbeschadet überlebt haben soll, die Melodie erinnert an einen Wiener Walzer, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Marx_Augustin. Das Lied ist interessanterweise – entgegen anderer Legenden – erst um 1800 in einem böhmischen Theaterstück nachweisbar, vgl. zu den Details Rudolf Flotzinger: Augustin, Lieber, in: Österreichisches Musiklexikon. Onlineausgabe Wien 2002ff., https:// www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_A/Augustin_lieber.xml. Schklowski: Zoo, S. 42. Ebd., S. 65.

richtet ist, zeigt sich am Ende des „Achtzehnten Briefs“, der mit seiner Evokation von unverständlicher stimmlicher Lockung und Distanz einen Übergang zu Kafka anbietet: An der Ecke der Potsdamer Straße sehe ich jede Nacht dieselbe Prostituierte im roten Hut. Sie singt eine kleine Melodie, wenn sie mich sieht, und dann spricht sie in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Ich gehe vorbei, ich habe es noch weit. Nichts zu machen, Genossin im roten Hut! 32

2. Schiffe an der Schwelle Franz Kafka wird, wie eingangs erwähnt, in Berlin 1923 nur einen einzigen literarischen Text schreiben und beenden, schlicht und vielsagend betitelt: „Eine kleine Frau“. Für Berlin als Sehnsuchtsort hätte Kafka ab 1912 fünf Jahre lang mit Schklowskis Schlussworten aus dem „Achtzehnten Brief“ konstatieren können: „[D]ie Adressatin all meiner Worte ist eine Ausländerin“ 33 – wäre seine Berliner Briefpartnerin nicht offensichtlich eben keine ‚Ausländerin‘ für einen deutsch sprechenden jüdischen Schriftsteller in Prag. Eine andere Frau wird es Kafka schließlich ermöglichen, nach Berlin zu gelangen, in ein neues Leben, und auch nur für ein knappes halbes Jahr, doch diese Berliner Zeit muss eine besonders glückliche gewesen sein oder gar „die Herrlichkeit des Lebens“ versprochen und geboten haben. 34 Denn Kafka, unterdessen vierzig Jahre alt, hat im Sommer 1923 die Frau kennen gelernt, die ihm ermöglicht hat, erstmals auf Dauer nicht im Elternhaus zu sein, weg vom dominanten Vater, einem erfolgreichen Geschäftsmann, und dem Milieu der deutschsprachigen, assimilierten Juden, von dessen Atmosphäre Kafkas „Brief an den Vater“, wie von Haus und Geschäft der Kafkas, eindrucksvolle Schilderungen gibt. Nun aber, paradox, die Freiheit durch Krankheit, die Kafka selbst auch oft genug ironisch beschrieben hat, die Freiheit, einen Ort im deutschen Norden aufzusuchen, in der Hoffnung, dort ein heilendes Klima für die Tuberkulose zu finden, an der er seit Jahren litt, mit längst regelmäßigen Aufenthalten in Sanatorien. Im Badeort Müritz an der Ostsee, im Juli 1923, vielmehr: im Ferienheim des Berliner Jüdischen Volksheimes arbeitete die bereits genannte junge Frau mit dem poetischen jüdischen Namen Dora Diamant, Kafka 32 33 34

Ebd., S. 70f Ebd., S. 71. Dieses Briefzitat Kafkas liefert den Titel für Michael Kumpfmüllers eindrucksvollen Versuch, in einem solchermaßen zeithistorischen Roman die dokumentarisch verbürgten Elemente des Berlin-Aufenthalts, besonders der Liebesgeschichte mit Dora Diamant, adäquat umzuschreiben, mit notwendigerweise behutsam ergänzten fiktionalen Zugaben, die Lücken der Überlieferung und den privaten Raum des Erlebens und Empfindens füllen, vgl. Michael Kumpfmüller: Die Herrlichkeit des Lebens. Roman, 3. Aufl. Frankfurt 2013 [Köln 2011].

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wohnte unweit entfernt im Haus Glückauf. In einem Brief an seine Freunde Hugo und Else Bergmann in Jerusalem schildert er im Juli 1923 den Blick von seinem Balkon: Durch die Bäume kann ich die Kinder spielen sehn. Fröhliche, gesunde, leidenschaftliche Kinder. Ostjuden, durch Westjuden vor der Berliner Gefahr gerettet. Die halben Tage und Nächte ist das Haus, der Wald und der Strand voll Gesang. Wenn ich unter ihnen bin, bin ich nicht glücklich, aber vor der Schwelle des Glücks. 35

Und am Ende des Briefs schreibt Kafka: „Heute werde ich mit ihnen [mit den Kindern] Freitag-Abend feiern, ich glaube zum ersten Mal in meinem Leben.“ 36 Die US-amerikanische Schauspielerin und Autorin Kathi Diamant, erklärtermaßen nicht verwandt oder verschwägert mit Dora Diamant, der sie eine einlässliche und materialreiche Biographie gewidmet hat, erinnert daran, dass Kafka schon mindestens seit 1916 großes Interesse am Berliner Jüdischen Volksheim gezeigt hatte; er war durch seinen Freund, den Schriftsteller Max Brod, und durch den Philosophen Martin Buber über die zionistischen Ziele dieser Einrichtung gut informiert und hat schon Felice Bauer vielfach ermutigt, deren Möglichkeiten zu nutzen. Mit einer interessanten Wortwahl schreibt er beispielsweise im September 1916, also schon sieben Jahre zuvor, an Felice Bauer über das Arbeiten für das Volksheim: „Es ist, soviel ich sehe, der absolut einzige Weg oder die Schwelle des Weges, der zu einer geistigen Befreiung führen kann. Und zwar früher für die Helfer, als für die, welchen geholfen wird.“ 37 Auch für viele Figuren in Kafkas Erzähltexten geht es um Hindernisse, die sich auftürmen, teils ohne dass man wüsste, worin sie bestehen, und man könnte mit einem Paradox sagen, das größte Hindernis ist ihnen immer die Schwelle vor dem ersten Schritt, selbst wenn dieser Schritt die Rettung verspricht. Im vorletzten Zitat war ja auch von der „Berliner Gefahr“ die Rede, vor der die Kinder im Ferienheim „gerettet“ sind, und mit der – leicht ironisch oder sarkastisch gefärbten – Präzisierung, „Ostjuden“ würden hier von „Westjuden“ gerettet, ist daran erinnert, dass in Berlin nicht nur die ständige Teuerung gefährlich war, sondern ganz konkret die Unruhe in der Stadt, die drohenden Aufstände, Streiks, zudem die sozusagen ganz normale Nachkriegs-Gewalt auf den Straßen, die auch (weitere) Pogrome, besonders gegen solchermaßen identifizierte Juden, befürchten lassen musste. Das Jüdische Volksheim war dementsprechend ein Hilfs35 36 37

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Franz Kafka an Hugo Bergmann, Juli 1923, Briefe 1902–1924, Frankfurt a.M. 1975, S. 436. Kafka: Brief an Else Bergmann, 13. Juli 1923, ebd., S. 437. Franz Kafka an Felice Bauer: 12. September 1916, in: Briefe an Felice, Frankfurt a. M. 1976, S. 696f. Vgl. Kathi Diamant: Kafkas letzte Liebe. Die Biografie von Dora Diamant. Aus d. Amerikan. v. Wiebke Mönning und Christoph Moors. Mit einem Vorwort von Reiner Stach, Düsseldorf 2013 [New York 2003], S. 33.

werk, gegründet nach dem Ersten Weltkrieg, zur Unterstützung der Flüchtlinge Osteuropas, die ihre jüdischen Traditionen beibehalten können sollten, für die aus Galizien und Schlesien „durch Krieg, Hungersnot und Pogrome“ Vertriebenen, die bemüht waren, wie Diamant schreibt, „sich in den Elendsquartieren des übervölkerten Berliner Scheunenviertels, des alten jüdischen Viertels, ein Leben aufzubauen“. 38 Ost und West treffen sich so, konkret und im Wortsinn, in Berlin, Dora Diamant gehört aber als polnisch-jüdische Emigrantin aus einer ultraorthodoxen Familie, die in Berlin lebt, ebenso zu beiden Seiten, wie Kafka selbst, der die religiöse Feier zur Mann-Werdung, die Bar-Mizwa, als 13-jähriger erlebt hat, aber aus einer Familie stammt, die das Judentum nicht religiös praktiziert, wie auch der eben zitierte Brief an das Ehepaar Bergmann mit der antizipierten erstmaligen Sabbat-Feier erkennen lässt. 39 Nach dem frühen Tod der Mutter ohnehin in teils schwieriger Lage, ist Dora Diamant aus Krakau, wo sie die jüdische Mädchenschule besucht hat, zwei Mal geflohen, um nach Deutschland zu gelangen, in ein besseres, westliches Leben: „Im Jahr 1920 zog Dora nach Berlin und fand eine neue Heimat in der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands, im aufstrebenden kulturellen und künstlerischen Zentrum des Westens, das Tausende junge – und jüdische Einwanderer anzog“, einer Tagebucheintragung zufolge „in der ersten Zeit ‚von Deutschland berauscht‘“. 40 Sie konnte zudem sehr gut Hebräisch und glaubte wohl an eine Zukunft in Palästina oder sogar an einen eigenen jüdischen Staat. 41 Kafka hat mit ihr die Idee einer Auswanderung nach Palästina wiederbelebt, nachdem er auch schon zehn Jahre zuvor gleichermaßen ein freies Leben in Berlin im Sinn hatte, wie, mindestens, eine Reise nach Palästina. Für diese Verbindung findet er, unnachahmlich, im November 1923 besondere Worte, wiederum in einem Brief an eine vormals geliebte Frau, die 38 39

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Diamant: Kafkas letzte Liebe, S. 25. „Dora Diamant und Franz Kafka repräsentierten zwei entgegengesetzte Pole des europäischen Judentums. Dora hatte sich als Kind ultraorthodoxer chassidischer Juden in Polen von religiösen Tabus und gesellschaftlichen Fesseln befreit und sich dabei doch ihre jüdische Identität bewahrt. Kafka aber, der zwar mütterlicherseits einer Rabbinerfamilie entstammte, war so weit assimiliert, dass er im Alter von vierzig Jahren noch nie an einer Sabbatfeier teilgenommen hatte.“ – Wie Diamant weiter erklärt, hatte Kafka zwar die Bar-Mizwa sozusagen bestanden, die Initiationsfeier für männliche Jugendliche, bei der er mit 13 Jahren Passagen aus der Thora auf Hebräisch auswendig lernen und vortragen musste, aber ohne Sinn und Bedeutung wirklich verstehen zu können, und sie betont, dass Kafka als „Jude in einer antisemitischen Gesellschaft“ eben nicht die, wie sie es nennt, „stabilisierende, kräftigende Wirkung jüdischer Spiritualität“ erleben konnte“. Diamant: Kafkas letzte Liebe, S. 36. Ebd., S. 50. Vgl. ebd., S. 33f.

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Journalistin und Übersetzerin Milena Jesenská. Nach einer Bemerkung über das verletzende Ende ihrer (Paar-)Kommunikation steht hier ein häufig zitiertes Resümee der Ereignisse, mit einer prägnanten Schlusspointe: Inzwischen war im Juli etwas Großes mit mir geschehen – was es doch für große Dinge gibt! – ich war mit Hilfe meiner ältesten Schwester an die Ostsee nach Müritz gefahren. Weg von Prag immerhin, aus dem geschlossenen Zimmer hinaus. Mir war recht sehr übel in der ersten Zeit. Dann spann sich in Müritz die Berliner Möglichkeit unwahrscheinlich an. Ich wollte ja im Oktober nach Palästina, wir sprachen ja davon, es wäre natürlich nie dazu gekommen, es war eine Phantasie, wie sie jemand hat, der überzeugt ist, dass er sein Bett nie verlassen wird. Wenn ich mein Bett nie verlassen werde, warum soll ich dann nicht zumindest bis nach Palästina fahren. 42

Krank, ‚an das Bett gefesselt‘ wie es redensartlich heißt, kann man, paradox, tatsächlich genauso gut nach Palästina wie sonst irgendwohin reisen, wie die rhetorische Frage des letzten Satzes – entsprechend korrekt ohne Fragezeichen – behauptet. Bereits in Müritz am Meer ist man so gleichsam bereits in Berlin, mit der neuen Vorstellung einer „Möglichkeit“, wie Kafka sie in diesem Brief an Milena Jesenská beschreibt: Ich fing an die Möglichkeit zu denken, nach Berlin zu übersiedeln. Diese Möglichkeit war damals nicht viel stärker als die Palästinensische, dann wurde sie doch stärker. Allein in Berlin zu leben, war mir freilich unmöglich, in jeder Hinsicht, und nicht nur in Berlin auch anderswo allein zu leben. Auch dafür fand sich in Müritz eine in ihrer Art unwahrscheinliche Hilfe. 43

Wie gerade eben, lehren auch diese Sätze das Paradox: Wenn ich nirgends allein leben kann, dann kann ich genauso gut nicht in Berlin allein leben. Und dann die alles entscheidende Wendung: Man kann zu zweit nach Berlin gehen – aber Lesende haben selbst aus der Distanz eines Jahrhunderts ein Gefühl dafür bekommen, wie schwer es ist, das zu schaffen, und, wie Kafka schreibt, wie „unwahrscheinlich“ solche „Hilfe“ ist – oder gar ‚Rettung‘. Kafkas Berlin gäbe es also nicht ohne Dora Diamant, die auch die erste Wohnung für ihn gesucht und im Süden Berlins gefunden hat, ein möbliertes Zimmer in der Miquelstraße 8, in der Nähe des Steglitzer Rathauses, so 42

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„Als du nach unserem letzten Beisammensein plötzlich (aber nicht überraschend) verschwunden bist, hörte ich von dir zum ersten Mal wieder und in einer für mich schlimmen Art Anfangs September. Inzwischen war im Juli etwas Großes mit mir geschehen – was es doch für große Dinge gibt! – ich war mit Hilfe meiner ältesten Schwester an die Ostsee nach Müritz gefahren.“ Etc. Franz Kafka an Milena Jesenská, [Berlin, zweite Novemberhälfte 1923]. In ders.: Briefe an Milena. Erweiterte Neuausgabe, hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller, Frankfurt a.M. 1999, S. 333. Ebd.

das man ihren gemeinsamen Weg von dort an lesend weiterverfolgen kann, allerdings nur in Kafkas Briefen an die Familie und an die Freunde, denn der Briefwechsel des Paars ist verschwunden und vermutlich zerstört worden, etwa bei oder nach einer Durchsuchung der Wohnung Diamants durch die Gestapo im Jahr 1933. 44 Ein solches Mitlesen vertraulicher Nachrichten, beim absonderlichen Blick über die Schulter von Toten auf deren privaten Schreibtisch, kann etwas unbehaglich stimmen, aber der Ton dieser Briefe ist derselbe wie der jener Oktavhefte, in denen sozusagen Privates und sozusagen Literarisches ununterscheidbar nebeneinanderstehen, und mindestens in solchen TextVersatzstücken, die mehrfach gebraucht worden sind, lässt sich eine wiederum paradoxe Form der privaten Veröffentlichung entdecken. Dazu gehören etwa die Vergleiche für dieses Unternehmen einer Berlin-Reise oder Übersiedlung oder Auswanderung in verschiedenen Briefen, die eine sprechende kleine Sammlung ergeben. So schreibt Kafka im Juli, noch aus Müritz, an die schon erwähnte Else Bergmann, die ihn nach Palästina eingeladen hatte: „Ich weiß, daß ich jetzt ganz gewiß nicht fahren werde – wie könnte ich denn fahren – aber daß mit Ihrem Brief förmlich das Schiff an der Schwelle meines Zimmers anlegt und Sie dort stehen und mich fragen und mich so fragen, das ist nichts Geringes.“ 45 Hier ist die omnipräsente (metaphorische) Schwelle konkretisiert und vereindeutigt zur Türschwelle seines Zimmers, als könne man mit einem Schritt an Bord gehen – wenn da nur nicht diese Schwelle wäre. 46 Aber Kafka erklärt, nach einer mäandernden Passage über ein zwischen beiden ausgetauschtes Buch und damit verbundene Verwicklungen, wie man sich das genauer vorzustellen hat, mit einem Bild, das an zeitgenössische Kriminalfilme oder auch seine eigene Amerika-Erzählung erinnern kann: „Also zurück: es wäre keine Palästinafahrt geworden, sondern im geistigen Sinne etwas wie eine Amerikafahrt eines Kassierers, der viel Geld veruntreut hat, und daß die Fahrt mit Ihnen gemacht worden wäre, hätte die geistige Kriminalität des Falles noch sehr erhöht.“ 47 An seinen Freund Robert 44

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Vgl. Diamant: Kafkas letzte Liebe, S. 411, Anm. 2, zur Berliner Zeit Kafkas prägnant und präzise Hans-Gerd Koch: Endlich ein Berliner, in: Kafka in Berlin, S. 119– 127 und einlässlich mit vielen Details Reiner Stach: Franz Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, 3. Aufl. Frankfurt a.M. 2015, besonders S. 538–588. Franz Kafka an Else Bergmann, [Müritz, Juli 1923], Briefe 1902–1924, S. 437. Detlev Kremer betont die Bedeutung dieses Motivs: „Schwellenartige Konstellationen lassen sich in Kafkas Prosa in einem hohen Vorkommen von Übergängen und Brücken, Türen, Fenstern und Korridoren beobachten. Auf je unterschiedliche Weise markieren die Anfänge seiner drei Romane charakteristische Schwellensituationen.“ Detlev Kremer: Kafkas Topographie, in: Klaus R. Scherpe, Elisabeth Wagner (Hg.): Kontinent Kafka. Mosse-Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2006, S. 58–70, S. 61. Kafka an Else Bergmann, [Müritz, Juli 1923], Briefe 1902–1924, S. 437.

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Klopstock in Prag schreibt er dann Anfang August über verschiedene mögliche Reisepläne zurück Richtung Böhmen abschließend: Es ist also deshalb für mich in gewissem Sinn ein kleineres Wagnis, über Karlsbad als direkt nach Prag zu fahren, so wie etwa der Kaiser von Rußland auch seine Reisepläne nicht willkürlich ändern durfte, denn nur auf den schon vorbereiteten Strecken war er vor Überfällen geschützt. Meine Lebenshaltung ist nicht minder großartig. 48

Entsprechend folgt auf die imaginierte kaiserliche Reise interessanterweise die Phantasie der Rückkehr, nun dem Anderen angetragen – oder einmal mehr als rhetorische Frage, die behauptet, was sie in Frage zu stellen vorgibt, denn weiter heißt es: „Und späterhin, nach Prag? Das weiß ich nicht. Hätten Sie Lust nach Berlin zu übersiedeln? Näher, ganz nahe den Juden?“ 49 Und nach einem Kuraufenthalt, bei dem er dringend an Gewicht zulegen musste, schreibt er schließlich am 23. September aus Prag an den selben Freund, er fahre nun, wenn ihm nicht, „ein großes Hindernis aus dem finstern Hinterhalt entgegengeworfen“ werde „nach Berlin, aber nur für ein paar Tage. 50 Ab 26. September kommen tatsächlich Postkarten aus Berlin in Prag an, die nochmals das eigentlich Unmögliche dieser Reise akzentuieren, etwa adressiert an den Freund Oskar Baum, der erklärt bekommt, warum Kafka in Prag war und ihn nicht besucht hat: Wie hätte ich aber kommen können vor der tollkühnen Tat, die darin besteht, daß ich für ein paar Tage nach Berlin gefahren bin. Innerhalb meiner Verhältnisse ist das eine Tollkühnheit, für welche man etwas Vergleichbares nur finden kann, wenn man in der Geschichte zurückblättert, etwa zu dem Zug Napoleons nach Rußland. 51

Wenn es sich um das Abenteuer der Berlin-Reise – oder des Übersiedelns, habsburgisch für Umziehen – handelt, geht es somit nicht um das imaginäre Amerika der imaginierten Palästina-Reise; der kriminelle Kassierer war dort Kafkas alter ego, mithin einer der vielen dubiosen Auswanderer, die den Kontinent wechseln, um sich einer Strafverfolgung zu entziehen – wie in einem erstaunlich wenig gelesenen Roman von Theodor Fontane mit dem schlichten und mehrdeutigen Titel Quitt, der eine solche Flucht vor der 48 49 50

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Franz Kafka an Robert Klopstock, [Müritz, Anfang August 1923], Briefe 1902– 1924, S. 442. Ebd. „Lieber Robert, es ging nicht gut länger, ich fahre morgen, wenn nicht in den nächsten zwölf Stunden ein großes Hindernis aus dem finstern Hinterhalt mir entgegengeworfen wird, nach Berlin, aber nur für ein paar Tage […].)“ Franz Kafka an Robert Klopstock, [Postkarte. Prag, Stempel: 23. IX. 1923], Briefe 1902–1924, S. 446. Franz Kafka an Oskar Baum, [Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 26. IX. 1923], Briefe 1902–1924, S. 447.

Strafe ins ‚glückliche Amerika‘ schildert. 52 In Kafkas eigener AmerikaErzählung hat der 16jährige Karl Roßmann, der von seinen Eltern verstoßen wird, weil das Dienstmädchen ein Kind von ihm erwartet, große Mühe, sich in der Neuen Welt zurechtzufinden – oder auch nur das Schiff zu verlassen; in Kafkas Notizen figurieren Held und Erzählung unter dem passenden Titel Der Verschollene. 53 Die Erzählung „Der Heizer“ mit der berühmten Schiff-Episode des Beginns war zehn Jahre zuvor bei Kurt Wolff in Leipzig erschienen, mithin im Deutschen Reich, unweit von Berlin. 54 Auch andernorts ist in Kafkas Schreiben das herbeigesehnte Schiff ein ambivalenter Ort der Rettung und Gefahr, etwa im Entwurf eines Endes für die seit 1914 verfasste Erzählung „Aus der Strafkolonie“, das dem Reisenden ein imaginäres Verlassen der unheimlichen Insel ermöglicht – im Konjunktiv: „Hätte sich sein Schiff durch diesen weglosen Sand hierher zu ihm geschoben, um ihn aufzunehmen, – es wäre am schönsten gewesen.“ 55 Berlin ist dagegen interessanterweise – und wenig überraschend – zwei Mal eng mit „Rußland“ assoziiert, und eigentlich auch noch öfter, wenn wir einen weiteren Brief-Hinweis hinzunehmen, der irritieren mag und von der Vorstellung erhabener kaiserlicher Reisen abrupt entfernt, nämlich Kafkas Rat an Klopstock: „Sie müssen Ihr Leben anders einrichten im nächsten Jahr, vielleicht von Prag fortgehn z.B. in die schmutzigen Berliner Judengassen.“ 56 Das ist aber kein unerwarteter antisemitischer Ausfall, sondern eine für die Berliner Verhältnisse von 1923 zutreffende Beschreibung, denn das so genannte Scheunenviertel um den heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, vormals Bülowplatz, im heute pittoresken Berlin-Mitte, war die neue Heimat der sogenannten „Ostjuden“, die etwa als „Industriearbeiter“ in den neuen „Mietskasernen“ unterkamen, bündig beschrieben bei Koch:

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Theodor Fontane: Quitt. Roman. Hg. v. Christina Brieger, Berlin 1999. Die buchlange Erzählung war am Ende des Jahres 1890, vordatiert auf 1891, erschienen, somit vier Jahre nach der berühmten Amerika-Ballade „John Maynard“; Fontane hatte jedoch bereits seit 1885 mit den Recherchen begonnen und sich, wie später auch Kafka, für Details der Erzählung auf zeitgenössische Berichte von AmerikaReisenden gestützt. Vgl. zu Kafkas Schiff-Erzählung Kerstin Stüssel: In Vertretung. Literarische Mitschriften von Bürokratie zwischen früher Neuzeit und Gegenwart, Tübingen 2004. Die Kritische Ausgabe des Textes trägt entsprechend diesen Titel: Franz Kafka: Der Verschollene, hg. v. Jost Schillemeit, Frankfurt a.M. 1983. Franz Kafka: Der Heizer, Leipzig 1913. Von Max Brod herausgegeben, erschien der (unvollendete) ‚Roman‘ erst drei Jahre nach Kafkas Tod, Franz Kafka: Amerika, München 1927. Franz Kafka: Tagebücher, S. 826, in: Kritische Ausgabe der Schriften und Tagebücher, hg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, 15 Bde, Frankfurt a.M. 2002, Franz Kafka: In der Strafkolonie, Leipzig 1919. Franz Kafka an Robert Klopstock, [Postkarte. Müritz, Stempel: 2. VIII. 1923], Briefe 1902–1924, S. 438.

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Das Scheunenviertel war das Revier der armen Leute, eine Mischung aus Tagelöhnern, Kleingewerbetreibenden, Garküchen, Straßenhändlern, Talmudschulen, vor deren Hintergrund – in der Rückschau verklärt – eine verruchte Boheme mit ihren Kabaretts und Kleintheatern gedieh, deren Kehrseite aber bittere Armut, Prostitution und Kriminalität waren. 57

An diesem Ort wäre der mittellose Prager Medizin-Student Klopstock angekommen, ein „Wahlghetto“, wie Franz Hessel das Ende der 1920er Jahre in seinem berühmten Buch Spazieren in Berlin nennt, als es gerade überbaut zu werden droht: Aber eine Zeitlang gehen noch die Männer mit den altertümlichen Bärten und Schläfenlocken in langsamen, die schwarzhaarigen Fleischertöchter in munteren Gruppen den Damm ihrer Straße auf und nieder und reden Jiddisch. An Läden und Stehbierhallen sind hebräische Inschriften. 58

Das ist das jüdische Berlin, aber Kafka, der Neu-Berliner, lebt weit entfernt davon, in einer ganz anderen Welt, 59 wie wir einem Brief an seine Schwester Ottilie, genannt Ottla lesen: Liebste Ottla, eben bekomme ich kurz nach Deinem lieben Brief eine entzückende Nachricht: die Hausfrau ist angeblich mit mir zufrieden. Freilich, leider, das Zimmer kostet nicht mehr 20 K[ronen] sondern für September etwa 70 K[ronen] und für Oktober zumindest 180 K[ronen], die Preise klettern wie die Eichhörnchen bei Euch, gestern wurde mir fast ein wenig schwindelig davon und die innere Stadt ist davon und auch sonst für mich schrecklich. Aber sonst, hier draußen, vorläufig, hier ist es friedlich und schön. Trete ich abends an diesen lauen Abenden aus dem Haus kommt mir aus den alten üppigen Gärten ein Duft entgegen, wie ich ihn in dieser Zartheit und Stärke nirgends gefühlt zu haben glaube, nicht in Schelesen, nicht in Meran, nicht in Marienbad. Und alles andere entspricht dem bisher. 60

Kafkas Steglitzer Berlin ist demnach eine Art Super-Kurort, besser als die bekannten drei, die er in dieser Klimax angeführt hat. Wieder an Klopstock, der offenbar Besorgnis über dessen Berliner Leben geäußert hat, schreibt Kafka so mit neuen, entschiedenem Ton: 57 58 59

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Koch: Kafka in Berlin, S. 100. Franz Hessel: Spazieren in Berlin, zit. n. Ebd., S. 101f. „Es lag in einem friedlichen grünen Viertel, bewohnt von Beamten und Rentnern, eine halbe Stunde mit der Straßenbahn von Berlins Zentrum entfernt und in der Nähe der Gartenbauschule in Dahlem, wo Kafka, wie er später erklärte, irgendwann studieren wollte. Das Zimmer war keineswegs zu teuer, dennoch groß und hell, mit Erkerfenstern und einer Veranda, die Möbel waren komfortabel, und es gab auch ein eigenes Badezimmer und eine Küche. Geheizt wurde mit einem Kaminofen.“ Diamant: Dora Diamant, S. 53. Franz Kafka an Ottilie Kafka, [Stempel Berlin-Steglitz 2.10.23], Briefe an Ottla und die Familie, S. 134f.

[W]enn es nur irgendwie geht, will ich sehr gern den Winter hier verbringen. Wäre mein Fall ganz neu in der Geschichte, wäre die Besorgnis berechtigt, aber es gibt ja Vorgänger, auch Columbus z.B. hat die Schiffe nicht gleich nach ein paar Tagen wenden lassen. 61

Ausgefahren nach Russland, ist man demnach in Amerika angekommen – nicht als Kaiser, aber doch als legendärer Entdecker eines neuen Kontinents, der sich freilich verfahren und über seinen Ankunftsort getäuscht hat, aber das mag nicht Kafkas Idee von „Columbus“ gewesen sein, der ja auch nur als ein Beispiel dient. Die Verheißung Palästinas ist mithin durch Berlin ersetzt worden, aber mit einem weiteren Zitat-Mosaik aus verschiedenen Briefen lässt sich belegen, dass es Kafka gelungen ist, zugleich in Berlin und nicht in Berlin zu sein – dazu noch ein paar wenige Hinweise: Auf der zitierten Postkarte an Klopstock schreibt er, nach drei Wochen Aufenthalt, er sei nur drei Mal in der „inneren Stadt“ gewesen, sein Potsdamer Platz sei der Platz vor dem Steglitzer Rathaus, „noch er mir zu lärmend, glücklich tauche ich dann in die wunderbar stillen Alleen“. 62 In einem längeren Brief an Max Brod zählt er dann sechs solche Fahrten auf, zwei davon um befreundete Frauen zu treffen, eine zu Josty, dem berühmten Café, mit eben diesem Brod, einmal, vielzitiert „Wertheim, um mich photographieren zu lassen“, einmal Geld holen, einmal eine Wohnung ansehen und das Resümee lautet: „[D]as sind gewiß alle meine Ausflüge nach Berlin in diesen vier Wochen gewesen und von fast allen kam ich elend zurück und tief dankbar, dass ich in Steglitz wohne“. Denn: „Du mußt auch bedenken, daß ich hier halb ländlich lebe, weder unter dem grausamen, noch aber auch unter dem pädagogischen Druck des eigentlichen Berlin.“ 63 Tatsächlich sind seit dem 1. Oktober 1920 im sogenannten Groß-Berlin riesige Flächen und vormals unabhängige Städte eingemeindet, auch Steglitz gehört demnach seit drei Jahren mindestens verwaltungstechnisch zu Berlin. Aber an diesem anderen Ort, der bei Kafka zugleich Berlin und NichtBerlin ist, findet, wie der letzte Amerika-Verweis schon angedeutet hat, auch Kafkas größtmögliche Annäherung an Palästina statt: Er lernt zusammen mit Dora Hebräisch, liest hebräische Texte und besucht sogar Veranstaltungen der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, die 1872 in der heutigen Tucholskystraße 9, Leo Baeck-Haus, gegründet wurde. Wieder an den Freund Klopstock, dem er ja gleichfalls den Umzug nach Berlin angeraten hat, schreibt Kafka im Dezember 1923: „Die Hochschule für jüdische Wissenschaft ist für mich ein Friedensort in dem wilden Berlin und

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Franz Kafka an Robert Klopstock, [Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 16. X. 1923], Briefe 1902–1924, S. 452. Ebd. Franz Kafka an Max Brod, [Berlin-Steglitz, Ankunftsstempel: 25. X.1923], Briefe 1902–1924, S. 453.

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in den wilden Gegenden des Inneren.“ 64 Das nahe Scheunenviertel, der einzigartige, nicht preußisch-zivilisierte Ort osteuropäischen Judentums, freien Lebens und bescheidenen Künstlertums, ist jedoch unterdessen, wie Kafkas Bemerkung nur sehr indirekt zu erkennen gibt, alles andere als ein friedlicher Ort gewesen: Am 5. und 6. November hat hier ein Pogrom stattgefunden, von rechtsradikalen Agitatoren gezielt vorbereitet und organisiert durchgeführt, mit Aufrufen zur Gewalt und Vertreibung, die eine Vielzahl gefährlicher Übergriffe zur Folge hatten: Tausende ziehen in die Straßen des Scheunenviertels am Alexanderplatz, dem bevorzugten Wohnviertel Tausender aus Osteuropa eingewanderter Juden, die sich schon durch ihr Aussehen (den schwarzen Kaftan, Schläfenlocken, lange Bärte und große schwarze Hüte) leicht im Straßenbild identifizieren ließen. Es kommt jetzt zu Szenen, die – wie das ‚Berliner Tageblatt‘ schreibt – ‚manches Vorkommnis des zaristischen Russlands in den Schatten stellten‘. Auf offener Straße werden Juden überfallen, ausgezogen und beraubt, nur noch mit der Leibwäsche bekleidet johlend durch die Straßen gejagt. Geschäfte werden demoliert, in Wohnungen wird eingedrungen und randaliert, Autos werden angehalten und die Insassen verprügelt. 65

Auch im Westen gab es jedoch längst antisemitische Angriffe; „rechtsextrem[e] Organisationen“ hatten „seit den Anfangsjahren der Weimarer Republik am Kurfürstendamm und seiner näheren Umgebung jüdische Bürgerinnen und Bürger belästigt, beleidigt und auch physisch angegriffen“. 66 3. Das gestrichelte Berlin Mit der doppelten Bewegung von Annäherung und Rückzug ist Kafka in dieser Zeit nicht nur zu jüdischen Studien, sondern auch zum Schreiben wieder zurückgekehrt, nach einer langen Pause von womöglich drei Jahren, und sein literarisches Schreiben im engeren Sinn mutet womöglich komplett berlinisch oder vielmehr steglitzisch an, wenn man so ein Wort bilden kann. Denn Kafka verfasst im Steglitzer Herbst und Winter zwei ProsaTexte mit je reduzierter Narration, die vielgedeutete Erzählung des sich eingrabenden Tiers „Der Bau“ und die deutlich weniger beachtete Skizze einer speziellen Konstellation um „Eine kleine Frau“. Dora Diamant soll gesagt haben, erstere habe die Verteidigung der eben gewonnenen Selbst64 65

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Franz Kafka an Robert Klopstock, [Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 19. XII. 1923], Briefe 1902–1924, S. 470. Reiner Zilkenat: Der Holocaust. Niemand konnte ihn vorhersehen? Niemand kann ihn erklären? Zur Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 12. https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/ pdfs/Themen/Rechtsextremismus/zilkenat.pdf. Zilkenat: Der Holocaust, S. 15, mit Verweis auf Bernd Kruppa: Rechtsradikalismus in Berlin 1918–1928, 2. Aufl. Berlin 1988, S. 100ff. u. 189ff.

ständigkeit in der ersten eigenen Wohnung, in Berlin, zum Thema – das unbestimmte Tier, das so geschäftig seine verschiedenen Räume gräbt, einrichtet, schützt und verteidigt, lässt sich tatsächlich mühelos auch so lesen. Die titelgebende „kleine Frau“, habe, so wiederum Dora Diamant, ein reales Vorbild gehabt, die gefürchtete Vermieterin, eine Frau Hermann. Dazu muss man wissen, dass auch Kafkas sehr gefürchteter Vater den deutschen Vornamen Herrmann trug (und in Klammern sei bemerkt, dass sein einziger Sohn Franz nach dem Habsburger-Kaiser Franz Joseph benannt ist, mithin jedes Recht hat, sich in einer Ordnung mit dem Kaiser von Russland und Napoleon zu sehen). So ein Herr und so ein Mann sind in Kafkas (erzählter) Welt ohnehin meist ununterscheidbar bedrohliche und komische Gestalten, denen er selbst sich offensichtlich nicht zurechnet. Viele Tagebuch- und Briefstellen belegen, dass er sich schon wegen seiner mageren Gestalt solch männliche Kraft und Herrschaft nicht zugesprochen hat, wie auch die offenbar männlichen Helden seiner Erzählungen immer mehr einstecken müssen als sie womöglich austeilen könnten, wenn in einem solchen sportlichen Register auch an den Kampf oder Kampfsport unter Männern erinnert werden kann, der oftmals Gegenstand dieser Prosa ist. Dagegen die „Kleine Frau“: Die Germanistik wehrt sich zu Recht gegen solche schlichte Zurechnungen; literarische Texte funktionieren glücklicherweise gerade nicht so, dass wir sie nur mit einer historischen Realität abgleichen müssen, sie sind Konstrukte eigenen Rechts, deren Struktur abseits möglicher Referenzbeziehungen zu analysieren ist. 67 Aber in diesem Fall gewinnt der Text seine ganze Plausibilität aus der historischen Situation, die er, ohne sie zu benennen, einfängt: Sein Thema ist die wirklich existenzielle Abhängigkeit von einer Vermieterin, die das Privileg einer bezahlbaren Wohnung jederzeit entziehen kann – und überhaupt nur bei Wohlverhalten gewährt, wie es im Brief Kafkas an Ottla zu lesen war; ein geradezu tagesaktueller Kommentar zur Berliner Wohnsituation. 68 Im Brief an die Schwester hieß es, womöglich ironisch, Anfang Oktober 1923: „eine entzückende Nachricht: die Hausfrau ist angeblich mit mir zufrieden“ – und die Hausfrau ist hier, unschwer zu erkennen, der weibliche Hausherr, also Frau Herrmann. Nur vier Wochen später schreibt Kafka an Max Brod, der seinen Besuch in Berlin ankündigt, von einem „ungeheure[n] Ereignis“:

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Marcel Krings nennt entsprechend die auf Kafkas Berliner Leben abzielenden Interpretationen des Textes eine „krude Biographik“, die „verkennt, dass Kafka sein Leben lang mit der Niedrigkeit des Hiesigen nichts zu tun haben wollte.“ Marcel Krings: „Aber nichts von Verantwortung“. Schuld, Gesetz und Literatur in Kafkas „Eine kleine Frau“, in: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 28 (2020), Seite 379–406, S. 380. Krings hält dagegen, dass „nirgends im Text ein Mietverhältnis erwähnt [wird]“. Ebd.

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[I]ch werde am 15. November übersiedeln. Ein sehr vorteilhafter Umzug, wie mir scheint. (Ich fürchte mich fast, diese Sache, die meine Hausfrau erst am 15. November erfahren wird, zwischen ihren über meine Schultern mitlesenden Möbeln aufzuschreiben, aber sie halten, wenigstens einzelne, zum Teil auch mit mir.) 69

Die Furcht vor der Vermieterin ist mithin so groß, dass man noch nicht einmal eine Kündigung wagen kann, um ihr zu entkommen, und die witzige Bemerkung über die Möbel-Verbündeten bestärkt noch den Eindruck, dass der hier Behauste, tatsächlich wie das Tier in der Erzählung „Der Bau“, noch im Innersten seiner eigenen Wohnung nicht vor dem Fremden, Bedrohlichen geschützt ist. Nötig war der Umzug aber auch wegen der äußeren Umstände, die Kafka mit vielen weiteren Un-Wörtern beschreibt, ich lese schnell zusammen, was über verschiedene Briefe in diesem Herbst 1923 verteilt ist: die „Ungeheuerlichkeit“, nach Berlin gegangen zu sein, wird demnach durch die „unheimliche Teuerung“, und deren weitere „unermüdliche Steigerung“ womöglich bald beendet sein. Seiner Schwester, die ihn besuchen will, schreibt Kafka mehrfach von drohender Gefahr in der Stadt, an anderer Stelle erfährt man, dass es einen Tag lang kein Brot zu kaufen gab, von entsprechenden „Aufregungen“ ist die Rede, angesichts dieser „Berliner Zustände“, einmal wird explizit gesagt, die „Furcht vor einem Generalstreik“ sei groß und die Lektüre des Steglitzer Anzeigers wird kommentiert mit „Schlimm, Schlimm“ und dem lakonischen Hinweis, das eigene Schicksal sei eben nun mit dem Deutschlands verbunden. 70 Wenn Kafka zudem schreibt, er zittere jeden Tag bei der Lektüre der ausgehängten Zeitungen, 71 so ist offensichtlich die Hyperinflation gemeint, die komplette, existenzbedrohliche Entwertung nicht nur des Geldes, aber aktuell kann sich dieser Schrecken auf diverse Ereignisse im sogenannten deutschen Oktober beziehen, etwa im Aufruf zum Widerstand im Ruhrgebiet, das immer noch französisch besetzt ist, mit verheerenden Folgen für die deutsche Wirtschaft. An verschiedenen Orten werden kommunistische Pläne zu einer Revolution nach russischem Vorbild mit militärischer Gewalt unterbunden, etwa beim Hamburger Aufstand am 23. Oktober oder und auch in Sachsen, das ja zwischen Berlin und Prag liegt – und es sei daran erinnert, dass am 9. November gar in München Adolf Hitler von einem Bierkeller aus die Nationalsozialisten zum ‚Marsch auf Berlin‘ führen will, der an der Feldherrenhalle mit Toten und Verletzten endet. Und in Berlin gab es wegen des fehlenden oder unbezahlbaren Brots tatsächlich mehr als die von Kafka benannten „Aufregungen“, vielmehr 69 70 71

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Franz Kafka an Max Brod, [Berlin-Steglitz, Ankunftsstempel: 2. XI. 1923], Briefe 1902–1924, S. 461. Kafka: Briefe an Ottla und an die Familie, S. 137–151. Kafka, Brief an Ottla, 4. Oktoberwoche 1923, S. 144.

„schwere Tumulte und Ausschreitungen“, plastisch geschildert in der Boulevardzeitung BZ vom 25. Oktober 1923: Brot zu teuer: Berliner plündern Bäckereien. Die Inflation treibt die Preise immer mehr in die Höhe. Ab heute müssen die Berliner 7,5 Milliarden Mark für ein Brot bezahlen. Eine Schrippe kostet 220 Millionen. […] Als diese Nachricht bekannt wurde, kam es zu schweren Tumulten und Ausschreitungen in der Stadt. Die Berliner stürmten Bäckereien und Lebensmittelgeschäfte. Schaufensterscheiben wurden eingeworfen, die Regale in den Läden umgekippt. In über 60 Fällen kam es zu Plünderungen. Bäcker wurden gewaltsam gezwungen Brot kostenlos rauszugeben. Das Überfallkommando der Schutzpolizei musste eingreifen. Über 40 Personen, meist jugendliche Täter, wurden verhaftet. Die Erregung der Bevölkerung, besonders in den Arbeitervierteln, ist groß. 72

„Eine kleine Frau“ handelt, möchte ich behaupten, von eben diesen Ausnahmezuständen, auch wenn nichts davon explizit erwähnt ist, und zeigt uns zudem, sehr subtil, wie Ärger funktioniert, der Ärger zwischen zwei Personen, die in einem Verhältnis stehen, das, wiederum paradox, so ärgerlich ist, dass es nicht einmal gelöst werden kann – und das Psychogramm einer Berliner Vermieterin, die im unruhigen Herbst 1923 an einen ihr womöglich verdächtigen ‚Ausländer‘ vermieten muss, mit dem sie, im Zitat des Brief-Adjektivs „unzufrieden“ ist: Diese kleine Frau nun ist mit mir sehr unzufrieden, immer hat sie etwas an mir auszusetzen, immer geschieht ihr Unrecht von mir, ich ärgere sie auf Schritt und Tritt; wenn man das Leben in allerkleinste Teile teilen und jedes Teilchen gesondert beurteilen könnte, wäre gewiß jedes Teilchen meines Lebens für sie ein Ärgernis. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum ich sie denn so ärgere; mag sein, daß alles an mir ihrem Schönheitssinn, ihrem Gerechtigkeitsgefühl, ihren Gewohnheiten, ihren Überlieferungen, ihren Hoffnungen widerspricht, es gibt derartige einander widersprechende Naturen, aber warum leidet sie so sehr darunter? Es besteht ja gar keine Beziehung zwischen uns, die sie zwingen würde, durch mich zu leiden. Sie müßte sich nur entschließen, mich als völlig Fremden anzusehn, der ich ja auch bin und der ich gegen einen solchen Entschluß mich nicht wehren, sondern ihn sehr begrüßen würde, sie müßte sich nur entschließen, meine Existenz zu vergessen, die ich ihr ja niemals aufgedrängt [17] habe oder aufdrängen würde – und alles Leid wäre offenbar vorüber. Ich sehe hiebei ganz von mir ab und davon, daß ihr Verhalten natürlich auch mir peinlich ist, ich sehe davon ab, weil ich ja wohl erkenne, daß alle diese Peinlichkeit nichts ist im Vergleich mit ihrem Leid. […] Ich habe schon einmal versucht, sie darauf hinzuweisen, wie diesem fortwährenden Ärger am besten ein Ende gemacht werden könnte, doch habe ich

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[N.N:] Brot zu teuer: Berliner plündern Bäckereien, BZ, 25.10.2023, https:// www.bz-berlin.de/archiv-artikel/25-oktober-1923.

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sie gerade dadurch in eine derartige Aufwallung gebracht, daß ich den Versuch nicht mehr wiederholen werde. 73

Alle anderen Deutungen beiseitegelassen, lässt sich diese vermeintlich ziellos mäandernde Passage als metonymische Schilderung der Realien solcher Berliner Mietsverhältnisse lesen, in denen der vermeintlich sichere Rückzugsort der eigenen Wohnung zum Ort ständiger Überwachung und Auseinandersetzung geworden ist. Und wie könnte man nicht im letzten Satz den ‚ungeheuerlichen‘ Versuch sehen, eine solche Wohnung zu kündigen, wenn doch der Vermieterin offenbar so viel „Qual“ daraus entsteht? Dass sie nicht einmal ein „liebendes Leid“ aushalten muss, sondern eines, das zu gar nichts führt, ist eine Bemerkung, die nicht nur die eigene Psycho-Logik solcher Abhängigkeitsverhältnisse im Allgemeinen, sondern ein neues, feindliches Verfolgen des Anderen skizziert – der Text geht entsprechend im selben Ton weiter, um schließlich ohne Pointe zu enden, in dem bemerkenswerten Resümee, das wie ein Kommentar zu Kafkas euphemistischen Briefwarnungen klingt und einmal mehr das bedrohliche Unsagbare sprechend andeutet: Von wo aus also ich es auch ansehe, immer wieder zeigt sich und dabei bleibe ich, daß, wenn ich mit der Hand auch nur ganz leicht diese kleine Sache verdeckt halte, ich noch sehr lange, ungestört von der Welt, mein bisheriges Leben ruhig werde fortsetzen dürfen, trotz allen Tobens der Frau. 74

Besondere Aufmerksamkeit verdient dagegen sein erster Satz, mit dem wir Lesende zugleich in Berlin-Steglitz sind, unter der Fuchtel von Frau Herrmann, und es nicht sind, denn das ist Kafkas Kunst, unnachahmlich: Es ist eine kleine Frau; von Natur aus recht schlank, ist sie doch stark geschnürt; ich sehe sie immer im gleichen Kleid, es ist aus gelblichgrauem, gewissermaßen holzfarbigem Stoff und ist ein wenig mit Troddeln oder knopfartigen Behängen von gleicher Farbe versehen; sie ist immer ohne Hut, ihr stumpf-blondes Haar ist glatt und nicht unordentlich, aber sehr locker gehalten. Trotzdem sie geschnürt ist, ist sie doch leicht beweglich, sie übertreibt freilich diese Beweglichkeit, gern hält sie die Hände in den Hüften und wendet den Oberkörper mit einem Wurf überraschend schnell seitlich. Den Eindruck, den ihre Hand auf mich macht, kann ich 73

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Franz Kafka: Eine kleine Frau, in: Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten, Berlin 1924, S. 16–17. https://de.wikisource.org/wiki/Eine_kleine_Frau, Ersterscheinung in der Zeitung „Prager Tagblatt“, Jg. 49, Nr. 95, Oster-Beilage (20. April 1924). Vgl. Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, hg. v. Jost Schillemeit, Kritische Ausgabe, Frankfurt a.M. 1992, S. 633–647. Ebd., S. 17. Welche „kleine Sache“ hier „mit der Hand […] verdeckt“ das Verhältnis befrieden könnte, lädt zur Spekulation ein; neben körperlichen Merkmalen ‚des Jüdischen‘ ist es naheliegend, die ‚kleine‘ Erzählung selbst / das Schriftgebilde auf dem Tisch metonymisch benannt zu sehen.

nur wiedergeben, wenn ich sage, daß ich noch keine Hand gesehen habe, bei der die einzelnen Finger derart scharf voneinander abgegrenzt wären, wie bei der ihren; [16] doch hat ihre Hand keineswegs irgendeine anatomische Merkwürdigkeit, es ist eine völlig normale Hand. 75

Diese Hand verdient im Hinblick auf die Ununterscheidbarkeit tiermenschlicher Wesen in Kafkas Erzählungen besondere Beachtung, denn diese manifestiert sich typischerweise ebenda, in ihren Händen, hier als zarte Andeutung im Paradox der einmaligen, ungewöhnlichen aber doch zugleich völlig normalen Gestaltung dieses besonderen Körperteils wieder aufgenommen. 76 Eingedenk der Möbel der Frau Herrmann, die Kafka beim Schreiben zusehen, ist jedoch die möblige Gestalt, die die „kleine Frau“ hier annimmt, besonders bemerkenswert, ist sie doch gleichsam bezogen über einem Gestell, mit „holzfarbigem“ Stoff und, als sei sie ein Gründerzeitsofa, behängt mit „Troddeln oder knopfartigen Behängen“, mindestens metonymisch gar nicht zu unterscheiden von den anderen Dingen, die sie, wiederum metonymisch, vertritt. Kafkas Schilderung der misstrauischen und übelwollenden Vermieterin oder ‚Zimmerwirtin‘ weist voraus auf andere, poetische Umkreisungen der Unmöglichkeit glücklicher Liebe in möblierten Zimmern, wie sie Erich Kästners „Sachliche Romanze“ und Mascha Kalékos „Großstadtliebe“ für das Berlin der fortgeschrittenen Weimarer Republik ironisch entfalten werden. Ein nur teilweise überliefertes erstes Fragment beginnt entsprechend mit einem angedeuteten Akt der Vermieter-Spionage: „Die Tür des Zimmers ist einen Spalt weit geöffnet, auf dem Korridor ist finster trotzdem schon heller Tag ist. Nur undeutlich sehe ich dort ein dunkles Gesicht, zwei gelblich leuchtende Hände, die sich an den Türpfosten und die Türklinke halten.“ 77 Zu den bitteren Realien von 1923, die Kafkas Text so leichthin in Erinnerung ruft, gehört jedoch der hier buchstäblich zwischen allen Möbeln lauernde allgegenwärtige Antisemitismus ebenso wie die völkische Propaganda gegen Fremde und Osteuropäer, denen Kafkas auf dem bekannten Wertheim-Photo physiognomisch unschwer zuzurechnen ist – und selbstredend wäre er später von der selben Verfolgung und Vernichtung bedroht worden, die seine drei Schwestern und ungezählte andere ihres Umfelds nicht überlebt haben. Um mit einer anderen Parallelwelt zu enden, sei jedoch noch ein letzter kühner Sprung hinaus aus Berlin gewagt und hinein in eine Kunst, die auch in Kafkas Paris führen kann, in einem Tagebucheintrag, der sogar eine Überschrift hat: 75 76

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Kafka: Eine kleine Frau, S. 17. Vgl. Cornelia Ortlieb: Kafkas Tiere, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft zum Band 126 (2007): Tiere, Texte, Spuren, hg. v. Norbert Otto Eke und Eva Geulen, S. 339–366. Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 633.

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Das gestrichelte Paris: die aus den flachen Kaminen herauswachsenden hohen dünnen Kamine (mit den vielen kleinen blumentopfartigen), die äußerst stummen alten Gaskandelaber, die Querstriche der Jalousien […], die strichweise geteilten Fenster der Geschäftsräume, die Gitter der Balkone, der aus Strichen sich bildende Eifelturm [sic], die größere Strichwirkung der Seiten- und Mittelleisten der Balkontüren gegenüber unsern Fenstern, die Sesselchen im Freien und die Kaffehaustischchen, deren Beine Striche sind, die goldspitzigen Gitter der öffentlichen Gärten. 78

Ununterscheidbar mischen sich hier Stadt-Ansichten und ihre Abbildungen, womöglich auf Postkarten und in neuesten Medien wie dem Film oder seinen etwas älteren Verwandten der modernen Laterna magica- und Panorama-Kunst, wie sie oft auf Jahrmärkten einem breiten Publikum zum Staunen präsentiert wurde. Der Akzent liegt jedoch eindeutig auf dem Machen und dem Gemachtsein der solchermaßen gesehenen Bau-Art der Hauptstadt der Moderne, die hier als kleinteiliges Strichmuster imaginiert ist, mit entsprechend geometrischen Formen, aber auch einem unerwarteten Zug ins Kleine, wenn schon vor den Diminutiven der Boulevard-Möblierung manche Kamine zu Blumentöpfen werden und gar der Eiffelturm nicht wegen seiner schwindelerregenden Höhe benannt ist, sondern als – in den Eisenverstrebungen erkennbare – Konstruktion aus Strichen. Ein passendes Gegenstück, das ‚gestrichelte Berlin‘, ist nicht überliefert, aber anhand der spektakulären neuen Buchausgabe von Kafkas Zeichnungen lässt sich Kafkas Strichwelt in seinen sehr besonderen Tuschezeichnungen und Bleistiftskizzen entdecken. Dazu gehört zuallererst der bekannte Strichmännchen-Körper in verschiedenen Haltungen, in dem man auch ein Porträt des Autors erkennen mag. Den auch obsessiv umkreisten eigenen Körper Kafkas, der mit Diät und Sport geformt wird und doch zumal neben dem übermächtigen Vater-Koloss immer sozusagen programmatisch schmal und zart bleibt, hat man in den so sinnfällig ausgewählten und unerklärt vorangestellten Titelbildern der Fischer Taschenbuchausgabe immer vor Augen gehabt, und es fällt wirklich schwer, nicht Kafka selbst zu sehen, der in einer gitterartig umschlossenen Kanzel steht oder, noch sprechender, auf dem Tisch liegt, womöglich selig schreibend und zugleich erschöpft von diesem Schreiben ausruhend. 79 Auch die „kleine Frau“ lässt sich dort wiederfinden – wenn ein solcher Anachronismus bewusst gewählt wird (vgl. Abb. 1 und Abb. 2, S. 36 im vorliegenden Band). 78 79

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Franz Kafka: Tagebücher, S. 976f. Franz Kafka: Die Zeichnungen, hg. v. Andreas Kilcher, in Zusammenarbeit mit Pavel Schmidt. Mit Essays von Judith Butler und Andreas Kilcher, München 2022, S. 114. Vgl. zu neueren Beispielen für die Cover-Gestaltung mit Kafkas Zeichnungen https://www.fischerverlage.de/buch/reihe/franz-kafka-gesammelte-werke-inder-fassung-der-handschrift-taschenbuchausgabe.

Hier ist auf zwei rechten Seiten hintereinander zwei Mal eine weibliche Figur mit ausladender Frisur und bodenlangem Kleid skizziert, mit vielen gebogenen Linien und fein gestrichelten Gesichtszügen. Auf der zweiten Zeichnung lässt sich das Nest aus Strichen über dem sprechend angedeuteten Gesicht als Haar- und Hut-Gebinde auf dem Kopf so als Reverenz an eine zeitgenössische Mode betrachten, aber man sieht auch zusätzlich die drei kleinen Versuche, von dieser Rundung aus quasi mit einem FederSchnörkel zum Gesicht zu gelangen, drei Mal neu ansetzend. Weiter rechts, weiter oben, ist dagegen so ein winziges Gesicht vom Nasenansatz her begonnen, so dass man von Studien mit dem Stift sprechen könnte(Abb. 1). Und man kann geradezu vergessen, was doch unmittelbar ins Auge fällt, dass die gezeichnete, vielleicht ältere Dame mit womöglich etwas hochmütig oder beleidigt leicht angehobenen Nase und Kinn einen Körper hat, der gestrichen ist, aus lauter Streichungen besteht, nicht nur aus Strichen, in seinem oberen Teil geradezu getilgt (Abb. 2). Gleichsam immer schon gestrichen ist, was nicht stattgefunden hat, in den Parallelwelten des Berliner Jahrs 1923: Kafka hätte unter besseren Umständen ausgehen können, er hätte im August mit Bertolt Brecht die jüdische Schauspielerin Helene Weigel kennenlernen können, nicht weit weg, in Wilmersdorf, wo sie in der Spichernstraße 16 gewohnt hat, oder den jüdischen Philosophen und Schriftsteller Walter Benjamin treffen können, der 1923 seine Übersetzung der Pariser Bilder Baudelaires veröffentlicht hat und ab Dezember wieder bei seinen Eltern einziehen musste, Delbrückstraße 23 in Berlin-Grunewald. Kafka hätte gar am oder im Zoo mit Schklowski über die Nicht-Liebe plaudern können – wäre da nicht eine klare Absage, mit der Kafka hier das letzte Wort behalten soll, indem er erklärt, warum man sich in Berlin von Berlin besser fernhält: Hauptgrund freilich ist, daß ich, wenn ich dort unten etwa am Zoo aussteige, einen großen Teil der Atemfähigkeit verliere, zu husten anfange, noch ängstlicher werde als sonst, alle Drohungen dieser Stadt sich gegen mich vereinigen sehe. 80

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Franz Kafka an Max Brod [Postkarte. Berlin-Steglitz, Stempel: 2. X. 1923], Briefe 1902–1924, S. 448.

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Norbert Aping

1923 – Film in Deutschland vor der ‚Hollywood Invasion‘ Die politischen wie ökonomischen Krisen das Jahres 1923 hinterließen im Alltag der Weimarer Republik tiefe Spuren. Auch das damals sehr populäre Unterhaltungsmedium Film war davon betroffen. Seine Situation im Krisenjahr 1923 hatte eine eigene Vorgeschichte, die unter anderem der Filmpolitik Deutschlands und der USA geschuldet war. Herausragender Exponent des US-Films in der Weimarer Republik war Charlie Chaplin. Er gilt bis heute als einer der bedeutendsten Filmschöpfer. Als Vorreiter des US-Films in der Weimarer Republik war sein Erfolg Initialzünder für den Import von US-Filmgrotesken und eine Kuriosität im Filmgeschäft des Jahres 1923. Zu diesem Zeitpunkt zeichnete sich bereits ab, dass der US-Film auf den deutschen Markt drängen würde. Im Filmjahr 1923 wurde aber auch schon versucht politisch als missliebig empfundene Filme auszuschließen. Das Filmgeschäft in Deutschland seit 1895 In Deutschland entwickelte sich das Kino, das zunächst mit kurzen, simplen Filmen als mobile Jahrmarktsattraktion Popularität gewonnen hatte, schon ab etwa 1900 zu ortsfesten Lichtspieltheatern; 1 bis 1912 waren schon über 1500 Kinos im Reichsgebiet registriert. 2 Bald war die Polizeizensur zur Stelle, die das junge Medium Film nach den Maßstäben der damaligen Theaterzensur behandelte. 3 Weil Filme mittlerweile komplexer wurden und unter anderem von Kriminalität, Moral und Sexualität handelten, wurden sie von vielen Zeitgenossen nicht zuletzt aus pädagogischen Gründen als kulturell schädlich angesehen und bekämpft. Örtlich taten sich z.B. Lehrer und Theologen zusammen, besuchten Kinos und gaben anschließend ihre Be-

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Vgl. Birett, Herbert: Lichtspiele. Das Kino in Deutschland bis 1914, München 1994, S. 71–75. Jason, Alexander: Der Film in Ziffern und Zahlen. Die Statistik der Lichtspielhäuser in Deutschland 1895–1925, Berlin 1925, S. 22. Birett: Lichtspiele, S. 91–94.

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wertungen über Filme ab. Man rief auch nach „freiwilliger Zensur“. 4 Unter solchen und anderen als „Kinohetze“ bezeichneten Aktionen litten die Kinos bis weit in die 1920er Jahre hinein. 5 In der Weimarer Republik kamen schon früh politisch motivierte Attacken hinzu. Unabhängig davon waren Filmproduktion, Verleih- und Kinogewerbe zu einem lukrativen Geschäft geworden. Internationale Konkurrenz kam während des Kaiserreichs aus Großbritannien, Frankreich, Skandinavien und besonders aus den USA auf den deutschen Filmmarkt. 6 Der Erste Weltkrieg hatte für das deutsche Filmgeschäft ab August 1914 handelspolitische Konsequenzen. Aus ihnen resultierten gesetzliche Regelungen des Film-Im- und Exports, die bis in die Frühzeit der Weimarer Republik Bestand hatten. Aus diesem Grund gelangten US-Filme nach dem Ende des Ersten Weltkriegs nur langsam wieder nach Deutschland und entwickelten sich nur schrittweise zu einem bedeutenden wirtschaftlichen und kulturellen Faktor, was durch die verheerende deutsche Inflation von 1923 zunehmend erschwert wurde. Charlie-Chaplin-Film 1915 in deutschen Frontkinos? Früher Exponent des US-Films in der Weimarer Republik war Charlie Chaplin. Schon bald nach dem Beginn seiner Filmkarriere im Jahr 1914 7 avancierte er zu einem international gefeierten Star. Der Erste Weltkrieg verhinderte allerdings seinen Siegeszug im Deutschen Kaiserreich: Seine Filme wurden nicht importiert. Als Chaplin im März 1931 Berlin besuchte, behauptete zwar der Berliner Filmverleiher Fritz Knevels, schon 1915 einen Chaplin-Film in über 100 deutschen Frontkinos vorgeführt und dadurch Lachkrämpfe der Soldaten ausgelöst zu haben. Davon habe es Fotos und begeisterte Berichte gegeben. 8 Knevels Behauptungen haben sich bislang aber nicht verifizieren lassen, weil Berichte und/oder Fotos nicht aufzufinden sind. Die deutschen Film-Branchenblätter erschienen auch während des

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Sturm, Eva: „Von der Zensurfreiheit zum Zensurgesetz“, in: Malte Hagener (Hg.), Geschlecht in Fesseln – Sexualität im Weimarer Kino, München 2000, S. 63–79. v. Zglinicki, Friedrich: Der Weg des Films, Die Geschichte der Kinematographie, Berlin 1956, S. 369–371. Wolffsohn, Karl (Hg.): Jahrbuch der Filmindustrie 1. Jahrgang 1922/23, Berlin 1923, S. 16 und S. 17, hier: „Chronik 1912“. Birett: Lichtspiele, S. 101. Bowden, Liz-Ann (Hg.): Buchers Enzyklopädie des Films, Luzern und Frankfurt/M. 1977, S. 163, hier: „Dänemark“. v. Zglinicki: Der Weg des Films, S. 452–468, hier: „Pioniere des Nordens. Skandinavische Filminvasion“. Sein erster Film „Making a Living“ entstand für die 1912 von Mack Sennett mitgegründete Keystone Film Company und wurde am 2. Februar 1914 veröffentlicht. Ohne Verfasser: „Chaplin in Alt-Berlin“, in: Film-Kurier 61 (13. März 1931), S. 3.

Krieges, und Knevels inserierte darin. Zu keinem Zeitpunkt jedoch erwähnte er in seinen Annoncen Chaplin und die angeblich begeisterten Reaktionen in den deutschen Frontkinos. 9 Auch in Berichten über Filmvorführungen in deutschen Frontkinos, die es seit dem Frühjahr 1915 gab, ist nichts darüber zu lesen. 10 Andererseits hatte es in deutschen Fachzeitschriften noch Ende desselben Jahres geheißen, dass „der Filmmarkt sozusagen neutral geblieben“ sei. 11 Zu dieser Zeit tauchte allerdings Chaplins Name in deutschen FilmBranchenblättern auf. Die Rede war davon, dass der „Chaplin-Rummel“ der Vergangenheit angehöre, weil nun für andere Filmgrößen Reklame gemacht werde. 12 Schon bald darauf meldete die Erste internationale Film-Zeitung Chaplins Vertragsabschluss mit der US-Produktionsfirma Mutual für eine Jahresgage von 2,7 Millionen US Dollar. 13 In den folgenden Jahren und noch bis in das letzte Kriegsjahr 1918 hinein erschienen weitere Artikel über seine Person und seine Art des Filmhumors. 14 Chaplins Filme hingegen wurden bis auf Weiteres nicht importiert, zumal die Einfuhr von ausländischen Filmen nach Deutschland beschränkt wurde. Einfuhrhindernisse 1916 bis 1919 Am 25. Februar 1916 trat die deutsche „Verordnung über das Verbot der Einfuhr entbehrlicher Gegenstände“ in Kraft. 15 Sie reagierte auf die kriegsbedingt krisenhafte wirtschaftliche Situation in Deutschland, die nicht zuletzt dadurch entstanden war, dass der Staat zur Finanzierung des Krieges bei der eigenen Bevölkerung Kriegsanleihen aufgenommen hatte. Zu den „entbehrlichen Gegenständen“, die für den Lebensunterhalt also nicht not-

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Z.B.: Lichtbildbühne 6 (6. Februar 1915), S. 62; ebd. 3 (22. Januar 1916), S. 54f. Z.B.: Ohne Verfasser: „Das Kino beim Heer“, in: Erste internationale Film-Zeitung 16 (17. April 1915), S. 24. Boleke, Richard: „Frontkinos. Ein Feldpostbrief“, in: Erste internationale Film-Zeitung 21 (22. Mai 1915), S. 12. Ohne Verfasser: „Wie die Feldgrauen des Kino lieben!“, in: Lichtbildbühne 9 (4. März 1916), S. 28 und 32. Ohne Verfasser: „Frontkinos“, in: Lichtbildbühne 16 (22. April 1916), S. 60. Ohne Verfasser: „Im Feldkino“, in: Der Kinematograph 493 (7. Juni 1916), S. 6. „Unteroffizier Berghäuser: Im Soldaten-Kino“, in: Der Kinematograph 500 (28. Juli 1916), S. 85. Ohne Verfasser: „Brief aus Amerika. Newyork“, Anfang Dezember 1915, in: Lichtbildbühne 51(18. Dezember 1915), S. 19. Ebd. Ohne Verfasser: „Aus der Kinowelt“, in: Erste internationale Film-Zeitung 16 (15. April 1916), S. 15. Aping, Norbert: Charlie Chaplin in Deutschland 1915–1924. Der Tramp kommt ins Kino, Marburg 2014, S. 23–28, mit zahlreichen Nachweisen. Reichsgesetzblatt 31 (25. Februar 1916), S. 111.

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wendig waren, gehörten Filme. 16 Knapp ein Jahr darauf bestimmte die „Bekanntmachung über die Regelung der Einfuhr vom 16. Januar 1917“, dass sämtliche Produkte aus dem Ausland nur noch mit Bewilligung der „zuständigen Behörde“ ins Reichsgebiet eingeführt werden durften. Diese „zuständige Behörde“ war der Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung in Berlin. 17 Mehrere deutsche Verleiher führten damals USZeichentrickfilme der Serie „Mutt und Jeff“ ein und warben bis Juni 1917 ganz offiziell in deutschen Branchenblättern. 18 Zu diesem Zeitpunkt hatten die USA dem Deutschen Reich bereits den Krieg erklärt (am 6. April 1917). Bald darauf verbot der „Trading With the Enemy Act“ vom 17. Oktober 1917 US-Bürgern den Handel mit Feindstaaten. Darüber wiederum wachte das gleichzeitig gegründete American War Trade Board. US-Filme durften nicht mehr nach Deutschland exportiert werden. 19 Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden die deutschen Importbeschränkungen aus dem Kaiserreich erst durch das Weimarer „Übergangsgesetz vom 4. März 1919“ aufgehoben. 20 Für die USA blieb Deutschland bis zur Unterzeichnung des Versailler Vertrages vom 17. April 1919 am 28. Juni 1919 jedoch weiterhin Feindesland. In Deutschland trat der Vertrag aufgrund des „Gesetzes über den Friedensschluss zwischen Deutschland und den alliierten und assoziierten Mächten vom 16. Juli 1919“ am 12. August 1919 in Kraft. 21 Er beendete allerdings nicht sofort das Exportverbot für US-Filme nach Deutschland, weil Deutschland und Österreich-Ungarn bis auf Weiteres von der Aufhebung der Handelsbeschränkungen ausdrücklich ausgeschlossen blieben. Andererseits durfte Deutschland nach Artikel 264 und 265 des Versailler Vertrages den Vertragsparteien keine größeren Handelsbeschränkungen auferlegen als man es gegenüber Nichtvertragsstaaten getan hatte. 22 Für den Filmsektor hatte Deutschland sich damit verpflichtet, keine weitergehende Einfuhrbeschränkungen aufzustellen, als solche wie sie seit 1917 nach deutschem Recht möglich gewesen waren.

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Ohne Verfasser: „Die Filmeinfuhr verboten!“, in: Lichtbildbühne 9 (4. März 1916), S. 9–10, S. 12, S. 15 und S. 18. Reichsgesetzblatt 8 (16. Januar 1917), S. 41–44. Werbung Scala-Film-Verleih, in: Der Film 49 (30. Dezember 1916), S. 22f. Werbung der Flora-Film „Wir laufen“, in: Lichtbildbühne 21 (26. Mai 1917), S. 17. Ohne Verfasser: „Bemerkenswerte Filmneuheiten“, in: Lichtbildbühne 23 (9. Juni 1917), S. 67. Ohne Verfasser: „Withdraws Enemy Trading List“, in: The Talking Machine World 15.5 (15. Mai 1919), S. 39. Reichsgesetzblatt 55 (7. März 1919), S. 285f. Ebd. 140 (12. August 1919), S. 687–1327. Ebd., S. 1073f.

Die US-Handelsbeschränkungen fielen erst, als das American War Trade Board im Juli 1919 dem Department of State, dem US-Außenministerium, angegliedert wurde. Dieses gab am 14. Juli 1919 den Filmexport nach Deutschland frei. 23 Im Herbst 1919 orakelte die Lichtbildbühne, dass amerikanische Filme bald auch nach Deutschland strömen würden: Man braucht kein Prophet zu sein, um heute schon sagen zu können, dass amerikanische Films [sic; in Deutschland während der ersten gut 20 Jahre der Filmgeschichte der gebräuchliche Plural von „Film“] in großen Quantitäten auf dem Wege nach Deutschland und Österreich sein werden, bevor die Tinte auf dem Friedensvertrag trocken ist. 24

Filmkontingente seit 1921 Mitte 1919 plante das Reichswirtschafts-Ministerium, angesichts der mannigfachen Im- und Exportprobleme unter anderem eine Außenhandelsstelle für die Ein- und Ausfuhr belichteter Filme [damals vorübergehend noch: Films] einzurichten, die einer neu zu gründenden Außenhandelsstelle für Schnitz- und Formerstoffe, einschließlich Zelluloidwaren, angegliedert werden sollte. Offenbar hatte die Vielfalt der Außenhandelsprobleme derart zugenommen, dass eine einzige Stelle mit ihrer Lösung überfordert und somit Spezialisierung gefragt war. Ende Dezember 1919 trat die „Verordnung über die Außenhandelskontrolle“ in Kraft. Eingeführt wurde damit die Funktion des Reichskommissars für die Aus- und Einfuhrbewilligung. Dieser wurde ermächtigt, seine Befugnisse auf Außenhandelsstellen zu übertragen, die seiner Aufsicht und Weisung unterstanden. 25 Die Einrichtung der Außenhandelsstelle für die Ein- und Ausfuhr belichteter Filme zog sich allerdings hin. Ihre Gründungssitzung von Ende August 1920 endete ohne Ergebnis, so dass die Außenhandelsstelle sich erst im Dezember 1920 konstituieren und ihre Arbeit aufnehmen konnte. 26 Regelungen zu Einfuhr-Kontingenten wurden

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Vgl. Moore, Brian M.: „An Overview of the War Trade Board“, in: https://harrisburg2.vmhost.psu.edu/hum/McCormick/vance/essays/wartrade.htm, letzter Zugriff am 15.06.2023. Plischke, Elmer: U.S. Department of State: A Reference History, London 1999, S. 290. Thompson, Kristin: Exporting Entertainment. America in the World Film Market 1907–1934, London 1985, S. 93–95 und S. 106. Sie erwähnt die Integrierung des American War Trade Board in das Department of State nicht. Ohne Verfasser: „Amerikanischer Export“, in: Lichtbildbühne 43 (25. Oktober 1919), S. 16f. Verordnung über die Außenhandelskontrolle vom 20. Dezember 1919, in: Reichsgesetzblatt 247 (23. Dezember 1919), S. 2128f.; § 3 regelt die Ermächtigung. Aus der Fülle der Berichterstattung in der Fachpresse z.B. Ohne Verfasser: „Die Frage der Film-Einfuhr. Tagung der Außenhandelsstelle am 6. Dezember“, in: Film-

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aber bis auf Weiteres nicht festgelegt, so dass die Erwartung, endlich ausländische Filme nach Deutschland einführen zu können, zur „JahresApotheose“ geriet. 27 Nach zähen Verhandlung wurden das FilmeinfuhrKontingent und der Schlüssel zu seiner Verteilung unter deutschen Verleihfirmen erst Anfang März 1921 endgültig festgelegt. 28 Danach wurden in der Weimarer Republik regelmäßig Kontingente bestimmt, so dass solche marktprotektionistischen Maßnahmen im Krisenjahr 1923 erst recht ergriffen wurden. Zuverlässige Übersichten über Filme ausländischer Produktion, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach Deutschland gelangten, lassen sich erst für die Zeit nach dem Inkrafttreten des „Lichtspielgesetzes vom 12. Mai 1920“ 29 gewinnen. Danach mussten sämtliche Filme, die in Deutschland öffentlich vorgeführt werden sollten, durch die Filmzensur geprüft und zugelassen werden. Nicht zugelassene öffentliche Vorführungen waren strafbar. Die Filmzulassung war Aufgabe von Filmprüfstellen, die gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes „nach Bedarf an den Hauptsitzen der Filmindustrie errichtet“ wurden. Die „Ausführungsverordnung zum Lichtspielgesetz vom 16. Juni 1920“ bestimmte Berlin und München als Hauptsitze. Die Filmprüfstelle München war für Bayern, Württemberg, Baden und Hessen zuständig, die Filmprüfstelle Berlin für die übrigen Teile Deutschlands. 30 Die Entscheidungen der beiden Prüfstellen galten reichsweit (§ 8 Abs. 2 Lichtspielgesetz). Die ersten Prüfentscheidungen der Filmprüfstellen Berlin und München datieren vom 23. bzw. 24. Juni 1920. In diesem Jahr wurden bei einem Prüfvolumen von 1.122 Filmen 16 US-Filme zugelassen. 31

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Kurier 261 (25. November 1920), S. 1. Ohne Verfasser: „Reichsbevollmächtigter der Außenhandelsstelle Dr. Kuhnert“, in: Film-Kurier 271 (7. Dezember 1920), S. 1. Ohne Verfasser: „Jahres-Apotheose“, in: Erste internationale Film-Zeitung 44–52 (11. Dezember 1920), S. 10. Aus der Fülle der Berichterstattung in der Fachpresse z.B. Ohne Verfasser: „Die Kontingentierungsfrage gelöst. Eine Unterredung mit dem Reichsbevollmächtigten der Außenhandelsstelle Berlin“, in: Film-Kurier 49 (26. Februar 1921), S. 1. Ohne Verfasser: „Die Einfuhr ausländischer Filme. Die Verhandlungen über den Verteilungsschlüssel beendet“, in: Film-Kurier 58 (9. März 1921), S. 1. Reichsgesetzblatt 107 (15. Mai 1920), S. 953–958. C 1 der Ausführungsverordnung zum Lichtspielgesetz, in: Reichsgesetzblatt 136 (18. Juni 1920), S. 1213–1217, hier S. 1215. Verlag der Lichtbildbühne (Hg.): Die Reichsfilmprüfung. Prüfergebnisse der Filmprüfstellen Berlin und München und der Film-Oberprüfstelle für die Zeit vom 12. Mai 1920 bis zum 31. Dezember 1921, Berlin 1922. Die darin alphabetisch aufgelisteten geprüften Filme wurden vom Autor ausgewertet.

Filmhauptstadt Berlin Den mit Abstand größten Zuständigkeitsbereich hatte die Filmprüfstelle Berlin. Das entsprach der Bedeutung der Reichshauptstadt im deutschen Filmgeschäft. Hier gab es die meisten Filmfirmen und vergleichsweise die meisten Kinos. Deutsche Filmpremieren fanden überwiegend in Berliner Erstaufführungskinos statt. Die Kinodichte war in der deutschen Reichshauptstadt am höchsten. 1913 gab es reichsweit gut 2370 ortsfeste Kinos. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren schon knapp 1000 weitere Kinos dazugekommen. Während des Krieges stieg ihre Zahl noch auf 3130, sank dann aber nominell infolge der Abtrennung besetzter Gebiete. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges betrug die Anzahl gut 2800 Kinos und stieg bis Ende 1921 auf knapp 4000 an. Davon entfielen (im Jahr 1919) 218 Lichtspieltheater auf Berlin. Per Ende 1921 waren es je nach Zählweise schon 328 oder 418. Der Unterschied lag darin, ob das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin vom 27. April 1920“ (Groß-Berlin-Gesetz), beachtet wurde, das am 1. Oktober 1920 in Kraft trat. 32 Wer Ortsteile von Berlin dazuzählte, die nach dem Gesetz nicht zur Reichshauptstadt gehörten, gelangte zu höheren Zahlen. 33 Chaplin-Filme auf dem Weg nach Deutschland Da über Chaplin in Deutschland schon des Öfteren berichtet worden war, war er zu diesem Zeitpunkt durchaus kein Unbekannter. Seine Filme wurden mit Spannung erwartet. Trotz der rechtlichen Hürden waren 1919 schon zahlreiche andere Zeichentrickfilme mit Chaplins Tramp-Figur durch so genannte „Schlupflöcher im Norden und im Osten“ in die deutschen Kinos gelangt. 34 Deshalb hielten manche Chaplin für einen Trickfilmzeichner, 35 der er freilich nie war. Über diesen und andere irreguläre Importe hieß es, sie seien „mit Gestattung von Frankreich und Großbritannien“ möglich geworden, weil diese die

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Reichsgesetzblatt 19 (14. Mai 1920), S. 123. Vgl. Jason: Der Film in Ziffern und Zahlen, S. 22f. und S. 30–33. Anzeige des Berliner Verleihs Cosmopolitan, Joseph Delmont [Josef Pollak], in: Der Film 19 (26. April 1919), vordere Umschlaginnenseite. Anzeige des Verleihs Bayerische Film-Industrie mit 15 „Chaplin-Cartoons“, in: Deutsche Lichtspielzeitung 28/1919 (Sondernummer ohne Datum), S. 29. Die Sondernummer könnte auf den 19. Juli 1919 zu datieren sein, weil Nr. 27 der Zeitschrift am 12. Juli 1919 erschienen ist und Nr. 29 am 26. Juli 1919. Ohne Verfasser: Chaplin über den lustigen Film, in: Film-Kurier Der Film 18 (3. Mai 1919), S 27.

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Grenzen unzureichend kontrollierten. 36 Deutsche Stellen hätten aber auch die rechtliche Möglichkeit gehabt, derartige Schmuggelware zu beschlagnahmen und einzuziehen. Sie wurden indessen offiziell und gegen den Protest der deutschen Filmwirtschaft bis zum 15. Mai 1920 offiziell ausgesetzt.37 Echte Chaplin-Filme hatte der damalige Ufa-Direktor Carl Bratz ab 1919 über den US-Filmkaufmann Ben Blumenthal anzukaufen versucht – und zwar sehenden Auges an den Finanzvorgaben des Ufa-Vorstandes vorbei. Den rechtlichen Gang der Dinge musste aber auch Bratz schließlich abwarten. Erst 1921 konnte die Ufa Chaplin an den Start bringen. 38 Im Frühjahr 1919 hatten sich Blumenthal und der deutsche Verleiher Lothar Stark bereits gemeinsam offiziell auf die Suche nach ChaplinOriginalfilmen begeben. 39 Deutsche Künstler und Intellektuelle, wie z.B. die Dadaisten, verlangten ebenfalls nach den Filmen des US-Stars. Deren „Grußadresse an Chaplin und Aufruf“ war unter anderen von dem Maler und Zeichner George Grosz unterzeichnet worden, von dem Fotomonteur John Heartfield, von dessen Bruder, dem Verleger Wieland Herzfelde (dem Inhaber des Malik-Verlages), von dem Schriftsteller Richard Huelsenbeck und von dem Theatermann Erwin Piscator. 40 Mittlerweile war in Deutschland das erste Buch über Chaplin erschienen, Iwan Golls Kleines Kino der Menschlichkeit. Die Chapliniade mit vier kubistischen Grafiken von Fernand Léger. 41 Goll hatte im Februar 1920 mit seinem Aufsatz „Apologie des Charlot“ in der Zeitschrift Die neue Schaubühne den literarischen Anfang der Chaplin-Bewunderung in Deutschland gemacht. Für Goll war Chaplin nichts weniger als ein Philosoph, und er konnte seine Einschätzung im Gegensatz zu vielen anderen auf eine solide Basis stellen: Er kannte Chaplin-Filme schon aus Paris. Um die Zeit, in der Goll seine „Apologie des Charlot“ verfasste, liefen Chaplin-Filme in nicht weniger als 35 Kinos der französischen Hauptstadt. 42 In Kleines Kino der

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Vgl. Kuhnert, Berthold: Einfuhr belichteter Filme nach Deutschland, in: Alexander Jason: Handbuch der Filmwirtschaft, Jahrgang 1930, Berlin 1930, S. 18. Ders.: „Amerika und der deutsche Filmmarkt“, in: Der Film 42 (19. Oktober 1919), S. 31. rg. [Verfasser unbekannt]: „Die verschärfte Einfuhrkontrolle “, in: Lichtbildbühne 12/13 (27. März 1920), S. 29. Vgl. dazu ausführlich: Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 43–47 und S. 65– 70. Anzeige Ben Blumenthal und Lothar Stark „Wer hat diese Filme?“, in: Lichtbildbühne 18 (3. Mai 1919), S. 52. Grußadresse an Chaplin und Aufruf, in: Der Dada (April 1920), S. 437/1. Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 55–58. Goll, Iwan [Isaac Lang]: Kleines Kino der Menschlichkeit. Die Chapliniade, Dresden 1920. Goll, Iwan: Apologie des Charlot, in: Die Neue Schaubühne 2 (Februar 1920), S. 31–33.

Menschlichkeit lässt Goll den Tramp Charlie, der die Menschen mit „erschütterndem Lachen“ beschenkt, aus einem Plakat heraustreten, zur lebenden Person werden und als Tröster der malträtierten Seelen durch die Welt reisen. In der Weltbühne begann zur selben Zeit der bekennende ChaplinVerehrer Hans Siemsen Artikel über den Künstler und seine Filme zu veröffentlichen, die später in einem Band zusammengefasst wurden. 43 Sie sind Glanzlichter der Chaplin-Interpretation. Auch Siemsen hatte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs Chaplin-Filme im europäischen Ausland gesehen. Am 13. August 1921, mehr als siebeneinhalb Jahre nach dem Beginn von Chaplins kometenhafter Filmkarriere in den USA, ließ die Filmprüfstelle Berlin als ersten Chaplin-Film den turbulenten Mutual-Zweiakter „Chaplin läuft Rollschuh“ („The Rink“, 1916) zur öffentlichen Vorführung zu, allerdings nur für ein erwachsenes Publikum. 44 Kinder und Jugendliche waren nach damaliger Auffassung nicht immer in der Lage, ein groteskes Geschehen vollständig zu erfassen und zu bewerten. Chaplins Kunstfigur Charlie bringt das Restaurant, in dem er als Kellner arbeitet, gehörig durcheinander. Als er in seiner Mittagspause zur Entspannung eine Rollschuhbahn besucht, geht bald alles drunter und drüber. Schon kurz nach der Freigabe fand die deutsche Chaplin-Premiere im glamourösen Berliner Premierenkino Ufa-Palast am Zoo statt. Gezeigt wurde der Film als Vorprogramm des Asta-Nielsen-Films „Die Geliebte Roswolskys“. 45 Schon hier zeichnete sich ein Phänomen ab, das sich später wiederholte: USGrotesken stahlen den Hauptfilmen, die sie begleiten sollten, immer wieder die Schau. Die Premierenkritik des Branchenblattes Lichtbildbühne hob es als besonderes Ereignis hervor, Chaplin zu sehen, der mittlerweile als die „populärste Erscheinung der Filmwelt“ gelte. Kurz fragte Hansa-Film die

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Siemsen, Hans: „Zwei Postkarten und ein Buch“, in: Die Weltbühne 11 (11. März 1920), S. 336–339. Ders.: „Chaplin I“, in: Die Weltbühne 40 (5. Oktober 1922), S. 367f. Ders.: „Chaplin II. Der Komödiendichter“, in: Die Weltbühne 41 (12. Oktober 1922), S. 385–387. Ders.: „Chaplin III. Der Politiker“, in: Die Weltbühne 42 (19. Oktober 1922), S. 415f. Ders.: „Chaplin IV. Der Schauspieler“, in: Die Weltbühne 43 (26. Oktober 1922), S. 447f. Ders.: „Chaplin V. Der Regisseur“ in: Die Weltbühne 44 (2. November 1922), S. 473f. – Die Artikel wurden später zusammengefasst in: Siemsen, Hans: Charlie Chaplin, Leipzig 1924. Prüf-Nr. 3.988. Aus der Fachpresse z.B.: I-s. [Paul Ickes]: Filmkritik. „Die Geliebte Roswolskys“, in: Film-Kurier 202 (30. August 1921), S. 1f. H.W. [Dr. Hans Wollenberg]: „Saisonbeginn im Ufa-Palast. Charlie Chaplin – ‚Die Geliebte Roswolskys‘“, in: Lichtbildbühne 36 (3. September 1921), S. 49.

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Kinobesitzer, ob sie auch schon Chaplin-Filme spielten, und kündigte weitere Chaplin-Filme mit einem eigenen Werbeprospekt an. 46 Chaplin: Superstar im deutschen Kino Tatsächlich ließ die Ufa rasch eine Reihe kurzer Chaplin-Grotesken aus den Jahren 1914 bis 1917 folgen. Deren deutsche Aufführungsrechte konnten von Nachauswertern preisgünstig erworben werden. Allein 1921 waren es weitere 10 echte Chaplin-Comedies, ein Streifen des US-Chaplin-Imitators Ray Hughes („Chaplin auf dem Maskenball“), den weder Verleih noch die Filmprüfstelle Berlin als solchen erkannten, dazu zwei Zeichentrickfilme um Chaplin aus deutscher Produktion. 47 Für die Werbung schuf der deutsche Grafiker Paul Simmel ein viel verwendetes Plakat-Motiv. 48 1922 kamen noch einmal zehn Chaplin-Streifen hinzu. Sie alle lösten eine Welle der Begeisterung aus. Denn sehr schnell wurde offenbar, dass kurze deutsche Filmgrotesken keine ernsthafte Konkurrenz für ChaplinFilme waren. Im November 1921 empfahl das Branchenblatt Der deutsche Film in Wort und Bild: Theaterbesitzer, welche ihrem Publikum etwas wirklich Originelles und von der herkömmlichen, zum Weinen langweiligen Tradition des deutschen ‚Lustspiels‘ Abweichendes bieten wollen, sollten zu diesen Filmen greifen. Ihr Publikum wird sich vor Vergnügen über die urdrolligen Bilder im buchstäblichsten Sinne des Wortes wälzen. 49

In der Bayerischen Staatszeitung stand im Monat darauf: In Charlie Chaplin steht uns Deutschen eine nie gesehene, so ungemein originelle, neuschöpferische Persönlichkeit gegenüber, wie in der deutschen Filmindustrie noch nie auch annähernd etwas Ähnliches geschaffen [wurde]. [...] [A]lle Chaplin-Filme [sind] von solch belustigender Komik, dass wohl jeder so genannte Filmgegner freudig kapitulierte. Chaplin ist eine Quelle der Heiterkeit! 50

Zwei Jahre später, am 6. September 1923, fasste der Film-Kurier Chaplins Siegeszug durch die deutschen Kinos folgendermaßen zusammen:

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Werbeanzeige Hansa-Film für Chaplin-Filme, in: Lichtbildbühne 52 (24. Dezember 1921), S. 78. Vgl. Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 251f, S. 257 und S 259. Vgl. ebd., S. 91. Aubinger, Josef: „Münchner Erstaufführungen. ‚Chaplin läuft Rollschuh‘, ‚Chaplin als Sträfling‘ und ‚Die Chaplin-Quelle‘“, in: Der deutsche Film in Wort und Bild 45 (11. November 1921), S. 15f. Bayerische Staatszeitung 17. Dezember 1921, zit.: „Ohne Verfasser: Tagesbericht. Ein Witz?“, in: Film-Kurier 297 (21. Dezember 1921), S. 2.

Vor zweieinhalb Jahren, als er seine Europareise machte, wurde Chaplin in London auf den Schultern getragen. In Berlin? Kannte ihn noch kein Mensch. Heute? In geradezu wahnwitzigem Tempo hat er sich Deutschland erobert. Erst waren es die Philosophen, die sich seiner bemächtigten und seine Art auf eine Formel zu bringen suchten [...]. Ein expressionistischer Verlag brachte ein ganzes Buch über Chaplin heraus [...]. Dann kam die Imitation bis zur Marotte [...]. 51

Sicherlich wurde der immense Erfolg auch dadurch gefördert, dass in Deutschland nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs die wirtschaftliche Situation für die meisten sehr beengt war. Für zahllose deutsche Kinogänger hatten Grotesk-Filme die Funktion von „Sorgenbrechern in schwerer Zeit“: Man konnte vorübergehend die eigenen Nöte ausblenden und vergessen. Chaplins Name war gleichzeitig ein Markenzeichen, und daher enthielten die deutschen Verleihtitel seiner Filme bis ins Jahr 1925 stets „Chaplin“. 52 Zudem wurden er und seine Kunst quer durch den deutschen Blätterwald zum Gegenstand zahlloser Veröffentlichungen. Deren Umfang ist bis heute ohne Beispiel. In ihrem Gefolge kamen Chaplin-Sammelbilder und Chaplin-Figuren, zum Teil in Form von Seifen, als MerchandisingArtikel auf den Markt. 53 Kurt Tucholsky nannte Chaplin im Juli 1922 im Prager Tageblatt den „berühmtesten Mann der Welt“: Kein Parlamentarier ist der berühmteste Mann der Welt und kein Politiker, weder Wilson noch Poincaré – kein Erfinder ist es, kein Tenor, kein Flugzeugführer. Der berühmteste Mensch ist zweifellos Herr Charlie Chaplin, über den alle einmal gelacht haben: die Pariser und die Londoner, alle Amerikaner und die australischen Matrosen, die Besucher der chinesischen Kinos und neuerdings auch die Deutschen, der alte Kontinent und der neue – und dass der Mars noch nicht über ihn gelacht hat, liegt nur an der mangelhaften Verbindung zu diesem kinolosen Möbel. 54

In Chaplins Fahrwasser wurden in Deutschland seit 1922 außerdem Kurzfilme mit Chaplin-Imitatoren wie Jolly Bill und Sholly von verschiedenen Firmen produziert. Davon brachten verschiedene Verleiher 1923 weitere 13 auf den deutschen Kinomarkt. 55

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Klix [Verfasser unbekannt]: „Die Chaplin-Puppe“, in: Film-Kurier 203 (6. September 1923), S. 1. Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 79. Vgl. ebd., S. 187. Tucholsky, Kurt: „Der berühmteste Mann der Welt“, in: Prager Tageblatt 169 (22. Juli 1922), S. 3. Zu Chaplin-Imitatoren siehe Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 161–169 und S. 258–261.

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Chaplin: Wegbreiter von US-Filmen nach Deutschland Chaplins Erfolg bewies, wie sehr sich die deutschen Kinogänger nach erfrischenden Grotesken sehnten. Er öffnete den Markt für weitere USKomiker mit ihren kurzen Grotesken, deren Uraufführungen in den USA ebenfalls geraume Zeit zurücklagen. Es waren große Namen darunter. Buster Keaton gilt als genialer Filmschöpfer und Gag-Erfinder, den viele auf eine Stufe mit Chaplin stellen. Er begann seine Filmkarriere in Filmen des Komikers Roscoe „Fatty“ Arbuckle, der in den USA mindestens so beliebt war wie Chaplin. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms wurde Arbuckle nach einer feuchtfröhlichen Feier im Herbst 1921 angeklagt, die Schauspielerin Virginia Rappe vergewaltigt und dadurch ihren Tod verursacht zu haben. Obwohl Arbuckles Schuld vor Gericht nie festgestellt und er freigesprochen wurde, vernichtete allein der Skandal seine Karriere: Unmittelbar nach dem Bekanntwerden von Rappes Tod ergoss sich die öffentliche Empörung über Arbuckle. Daraufhin ließ ihn seine Produktionsfirma Paramount aus Sorge vor Geschäftseinbußen sofort wie eine heiße Kartoffel fallen, was für ihn über Jahre Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Niemand wollte sich mit seinem Namen die Finger verbrennen. 56 1922 wurden fünf und 1923 noch einmal sieben dieser gemeinsamen Filme von Arbuckle und Keaton von der Filmprüfstelle Berlin zugelassen. 57 Filme aus Keatons eigener Produktion folgten in Deutschland erst ab 1924. Sein erster in Deutschland gezeigter abendfüllender Film war „Bei mir – Niagara“ („Our Hospitality“), der am 24. Dezember 1924 im Berliner Marmorhaus seine deutsche Premiere hatte 58 und danach Kassenrekorde brechen sollte. Harold Lloyd wurde vom britischen Filmhistoriker Kevin Brownlow als „The Third Genius“ bezeichnet. 59 1922 brachte der deutsche SüdfilmVerleih 13 kurze Grotesken von Harold Lloyd als Antwort auf Chaplin

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Zum Arbuckle-Skandal siehe z.B.: Yallop, David: The Day the Laughter Stopped. The Scandal that Brought Hollywood to Its Knees, London 1991. Auswertungen der Zensurvorgänge der Jahre 1922 und 1923 sowie weiterer in diesem Beitrag genannter Zensurergebnisse und Identifizierung von Filmen durch den Autor. Quellen: Wolffsohn, Karl: „Verzeichnis der zensierten Filme des Jahres 1922 und ersten Semesters 1923“, in: ders. (Hg.), Jahrbuch der Filmindustrie 1. Jahrgang 1922/23, S. 233–344; Wolffsohn, Karl: „Verzeichnis der zensierten Filme zweiten Semesters 1923 und der Jahre 1924 und 1925“, in: ders. (Hg.), Jahrbuch der Filmindustrie 2. Jahrgang 1923/25, Berlin 1926, S. 389–615; regelmäßig im Reichsanzeiger veröffentlichte Film-Zensurlisten; vom Autor gesichtete überlieferte Zensurvorgänge. Z.B.: m. [Verfasser unbekannt]: „‚Bei mir – Niagara‘“, in: Film-Kurier 303 (24. Dezember 1924), S. 5 (Beiblatt S. 1). Titel von Brownlows TV-Dokumentation über Harold Lloyd aus dem Jahr 1989.

nach Deutschland und ließ im Jahr darauf 25 weitere folgen. Spätestens durch die deutsche Erstaufführung von Lloyds erstem abendfüllenden Klassiker „Ausgerechnet Wolkenkratzer“ („Safety Last“) von 1923 am 1. Mai 1924 im Berliner Mozartsaal 60 wurde auch dieser Komiker zum deutschen Publikumsliebling. Unter den 1923 von der Filmprüfstelle Berlin zugelassenen 146 USGrotesken war auch Larry Semon vertreten, der mit seinen Stunt- und Thrill-Comedies in den USA zeitweise Chaplin in der Beliebtheit überholt hatte und gemeinsam mit Grotesken von Jimmy Aubrey vom deutschen Verleiher auch so beworben wurde. Bis 1929 wurden über 50 Grotesken mit Semon und bis 1927 über 20 mit Aubrey in die deutschen Kinos gebracht. Andere US-Grotesk-Komiker, deren Filme 1923 nach Deutschland gelangten, waren Clyde Cook, Lupino Lane, Edgar Kennedy, Baby Peggy, Sid Smith mit Jimmie Adams als Fix und Fax, Harry Sweet und der Wunderhund Brownie. Superstar Chaplins Anteil an den im Jahr 1923 in Deutschland zugelassenen US-Filmen betrug 23 ganz überwiegend kurze Grotesken, die die Ufa sowohl unter ihrem Namen, als auch über ihre Tochterfirma Hansa-Film vermarktete. Die Internationale Film-AG Ifa schloss sich mit dem aktuellen US-Spielfilm „Souls For Sale“ an, in dem Chaplin einen kurzen Gastauftritt als Filmregisseur hat. Und genau mit dem Slogan „Chaplin als Regisseur“ warb dieser deutsche Verleih. 61 „Souls For Sale“ feierte seine deutsche Erstaufführung unter dem Titel „Seelenhandel“ am 8. Dezember 1923 im Berliner Operettenhaus am Nollendorfplatz, das 865 Zuschauern Platz bot. In seiner Premierenkritik schrieb der Film-Kurier unter anderem: Die Träne rinnt (im Zuschauerraum nämlich), die Taschentuchindustrie triumphiert. [...] Das Publikum wird zu einem Film drängen, in dem es Chaplin, wenn auch nur für wenige Sekunden auf dem Regiesessel erblickt. 62

Besondere Bedeutung hatte allerdings Chaplins erster eigener abendfüllender Spielfilm „The Kid“ aus dem Jahr 1920, um den es weiter unten gehen wird.

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Z.B., W.H. [Willy Haas]: „Film-Kritik. ‚Ausgerechnet Wolkenkratzer‘“, in: FilmKurier 104 (2. Mai 1924), S. 2. Anzeige in: B.Z. am Mittag 333 (8. Dezember 1923), S. 11. M.-s. [Verfasser unbekannt]: „Film-Kritik. ‚Seelenhandel‘“, in: Film-Kurier 271 (10. Dezember 1923), S. 1f.

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Deutschland während der Hyperinflation 1923 Die wirtschaftliche Lage Deutschlands war nach dem Ende des Ersten Weltkrieges prekär. Nicht zuletzt musste das Deutsche Reich die Kriegsanleihen der eigenen Bevölkerung begleichen, und bereits zu Beginn des Krieges hatte die deutsche Reichsregierung den Zwang zur Golddeckung der Währung aufgehoben. 63 Aus Art. 231 des Friedensvertrags von Versailles vom 28. Juni 1919 resultierten hohe Reparationszahlungen des deutschen Staates an die Siegermächte, deren Ausmaß gemäß Art. 233 des Vertrages durch einen interalliierten Wiedergutmachungsausschuss bestimmt wurde. Ab 1. Mai 1921 hatte dieser auch die Hilfsmittel und Leistungsfähigkeit Deutschlands zu prüfen. 64 Reparationen mussten nicht nur in Mark, sondern auch in Devisen und Sachgütern geleistet werden. Dadurch verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation weiter und führte bereits kurz darauf zur Inflation, die nur zum Teil durch den internationalen Konjunktureinbruch der Jahre 1921 und 1922 abgemildert werden konnte, den das Deutsche Reich besser als die Siegermächte verkraftete. Der deutsche Binnenmarkt und die Lohnabhängigen litten gleichwohl unter der fortschreitenden Inflation, die Reallöhne sanken drastisch. Im Oktober 1922 war die Mark im Vergleich zum Kriegsbeginn im August 1914 nur noch ein Tausendstel wert, und die umlaufende Geldmenge in Deutschland hatte sich bereits rasch vervielfacht. 65 Frankreich war Hauptempfänger der Reparationen. Nachdem das Nachbarland das deutsche Ersuchen, Leistungen zu stunden, abgelehnt und danach die deutschen Zahlungen nur verspätet erhalten hatte, besetzte es gemeinsam mit Belgien am 11. Januar 1923 das Ruhrgebiet. Dieses Vorgehen konterte das Deutsche Reich mit politischen Aktionen und Streikaufforderungen – und zahlte den Streikenden die Löhne weiter. 66 Um seine

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Vgl. Schröter, Harm/Schröter, Verena/Lambrecht, Lars: „Die wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik“, in: Kunstamt Kreuzberg, Berlin und Institut für Theaterwissenschaft der Universität Köln (Hg.), Weimarer Republik, Berlin (West)/Hamburg 1977, S. 169. Reichsgesetzblatt 140 (12. August 1919), S. 985, S. 987 und S. 989. Vgl. Schröter/Schröter/Lambrecht: „Die wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik“, S. 169 und S. 171. Vgl. Schwabe, Klaus: „Der Weg der Republik vom Kapp-Putsch 1920 bis zum Scheitern des Kabinetts Müller 1930 II: Die Staatskrise des Jahres 1923“, in: Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke, Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Die Weimarer Republik 1918–1933. Politik-Wirtschaft-Gesellschaft, Bonn 1998, S. 105f. Siehe auch die folgenden kritischen Beiträge, in denen zum einen der juristisch rechtswidrige Einmarsch französischer Truppen, der Deutschland wirtschaftlich einen „lebensgefährlichen Schlag“ versetzte, und zum anderen die deutschen Reaktionen darauf angeprangert wird: Morus [Verfasser unbekannt]: „Die große Täuschung“, in: Die Weltbühne 4 (25. Januar 1923), S. 91–94. Lania, L.: „An der Ruhr-Front“, in: Die

Zahlungen fortsetzen zu können, ließ der deutsche Staat immer mehr Geld drucken, ohne dass der erhöhte Geldumlauf durch Goldreserven gedeckt gewesen wäre. Das führte zu einer massiven und sich rasch beschleunigenden Entwertung der deutschen Währung. Zeitgenössische Fotografien zeigen, wie im Alltag Papiergeld schubkarrenweise transportiert wurde. Im Herbst 1923 erhielt mein Großvater seinen Wochenlohn als Bankangestellter nicht mehr in einer Lohntüte, sondern in großen Mengen nahezu wertloser Geldscheine, die er nur noch in seiner Aktentasche verstauen konnte. Innerhalb weniger Stunden reichte der Inhalt nur noch, um einen Laib Brot zu kaufen, der über 230.000.000 Mark kostete. Hier soll ein Beispiel aus der Preisentwicklung der Film-Branchenblätter Der Lichtspieltheater-Besitzer angeführt werden, aus dem Mitte April 1923 das Reichsfilmblatt hervorging. Am 6. Januar kostete das Heft 30 Mark, 14 Tage später 80 Mark, einige Tage darauf 150 Mark, bis in den April 400 Mark, Anfang Juni 600 Mark, eine Woche später 1.200 Mark und Ende des Monats schon 2.000 Mark. Ende Juli betrug die Teuerungsrate 155.000%. Im Filmverleih wurden immer höhere Teuerungszuschläge berechnet. Im August stieg der Verkaufspreis des Branchenblattes von 100.000 auf 150.000 Mark und bald darauf schon von 500.000 Mark Ende September auf 8.000.000 Mark, um in der zweiten Oktoberhälfte auf 300.000.000 Mark zu klettern. 67 Am 15. November 1923 wurde zur Eindämmung der Inflation die Rentenmark eingeführt, die als Übergangswährung von der privatwirtschaftlichen Deutschen Rentenbank ausgegeben wurde, die aufgrund der „Verordnung über die Errichtung der Deutschen Rentenbank vom 15. Oktober 1915“ gegründet worden war. 68 Damit war die Rentenmark zwar kein gesetzliches Zahlungsmittel, sondern juristisch eine Inhaberschuldverschreibung der Deutschen Rentenbank, wurde aber in Deutschland sofort akzeptiert. Die Reichsbank setzte am 20. November den amtlichen Kurs für einen US-Dollar auf 4,2 Billionen Papiermark fest und den Wechselkurs einer Rentenmark auf eine Billion Papiermark. Das entsprach wertmäßig der Goldmarkparität zum Golddollar aus der Zeit vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges. Sehr zügig normalisierte sich das Wirtschaftsleben in Deutschland und bald wurden große Mengen des wertlosen Papiergeldes vernichtet. 69 Jedoch stieg die Arbeitslosenquote fühlbar an. 70

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Weltbühne 4 (25. Januar 1923), S. 94–97. Ohne Verfasser: „Tagebuch der Wirtschaft“, in: Das Tage-Buch 4 (27. Januar 1923), S. 124f. Angaben auf den Titelblättern des vollständig gesichteten Jahrgangs Der Lichtspieltheater-Besitzer von Nr. 1 (6. Januar 1923) bis Nr. 13 (7. April 1923) und Reichsfilmblatt von Nr. 15 (14. April 1923) bis Nr. 52 (29. Dezember 1923). Reichsgesetzblatt I 100 (17. Oktober 1923), S. 963–966. Vgl. Schwabe: Der Weg der Republik, S. 118. Schröter/Schröter/Lambrecht: „Die wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik“, S. 171. Abbildung von ei-

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Schon am 27. Oktober 1923 hatte die Reichsregierung die „Verordnung zur Herabminderung der Personalausgaben des Reichs“ (Personal-AbbauVerordnung) erlassen, durch die unter anderem 25% der Bediensteten des öffentlichen Dienstes entlassen und Pensionsbezüge gekürzt werden sollten. 71 Daraufhin wurden bis Anfang April 1924 400.000 Beamte, Angestellte und Arbeiter des öffentlichen Dienstes, meist weibliche Bedienstete, entlassen, die Bezüge bei stark steigenden Steuern und Abgaben auf 60% des Vorkriegsniveaus reduziert und der Achtstunden-Arbeitstag zunehmend überschritten. 72 Schlüsselfrage blieb nach wie vor, wie Deutschland weiterhin die Reparationen aufbringen sollte. Am 8. April 1924 präsentierte ein Sachverständigenausschuss unter US-Vorsitz und Leitung von Charles Dawes den sogenannten Dawes-Plan. Er legte anhand der aktuellen Lage die von Deutschland jährlich zu leistenden Zahlungen fest, was künftig in Abständen geprüft werden sollte, und stellte demgegenüber Kredite in Aussicht, weil er die deutsche Wirtschaft als stark genug einstufte. 73 Am 30. August 1924 wurde nach dem „Münzgesetz“ als staatliche Währung die Reichsmark eingeführt, 74 die mit einer 40%igen Golddeckung als „Goldkerndeckung“ auch für den internationalen Handel frei einzusetzen 75 war – Voraussetzungen, die nach dem Dawes-Plan zu erfüllen waren. 76 Die Reichsmark blieb bis zur Währungsreform nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Trizone gesetzliches Zahlungsmittel und wurde am 21. Juni 1948 durch die Deutsche Mark abgelöst. Die Reichsbank unterstand auf Veranlassung der Siegermächte nach dem „Gesetz über die Autonomie der Reichsbank vom 26. Mai 1922“ nicht mehr dem Reichskanzler, sondern allein dem Reichsbank-Direktorium; der Reichskanzler behielt jedoch eine Aufsichtsfunktion. 77 Aufgrund des

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ner Vernichtungsaktion im Januar 1924, in: Ohne Verfasser: Haus der Weimarer Republik. Katalog zur Dauerausstellung. Mit einem Grußwort von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Weimar [ohne Jahr], S. 160. Vgl. Schwabe: Der Weg der Republik, S. 118. Reichsgesetzblatt I 108 (30. Oktober 1923), S. 999–1009. Vgl. Geyer, Martin H.: „Die Zeit der Inflation 1929–1923“, in: Nadine Rossol, Benjamin Ziemann (Hg.), Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Bonn 2022, S. 86. Text of the Dawes Commitee Report, in: World Peace Foundation Pamphlet 7.9 (1924), S. 364–385. Vgl. auch: Schröter/Schröter/Lambrecht: „Die wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik“, S. 173. Reichsgesetzblatt II 32 (30. August 1924), S. 254–257. Vgl. Schröter/Schröter/Lambrecht: „Die wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik“, S. 173. Text of the Dawes Commitee Report. Reichsgesetzblatt II 8 (3. Juni 1922), S. 135f., hier § 28 Abs. 4.

„Bankgesetzes vom 30. August 1924“ kontrollierte nun die Reichsbank das Währungsgeschehen, war aber fortan eine von der Reichsregierung unabhängige öffentlich-rechtlich organisierte Anstalt 78 – ebenfalls eine Forderung des Dawes-Plans. Verlierer der Hyperinflation waren die Verbraucher, die irgendwie ihren Lebensunterhalt bestreiten mussten. Gewinner waren hingegen der deutsche Staat sowie Immobilieneigentümer mit Hypothekenbelastungen. Sie konnten während der Inflation ihre in Mark begründeten Schulden mit der nun wertlosen Währung begleichen. Um Verbindlichkeiten in ausländischer Währung zu bedienen, war die wertlose deutsche Währung praktisch kein geeignetes Äquivalent. 79 Für das deutsche Kinogeschäft hatte die Inflation zur Folge, dass dieser Markt wegen der günstigen Valuta von Anlegern aus dem Ausland überschwemmt wurde. Berichten zufolge konnten diese in Großstädten Kinos für lediglich 200 bis 300 US-Dollar erwerben. Unter den inländischen Kinobetreibern befanden sich zunehmend NichtFachleute, die den Anforderungen an eine sachgerechte Geschäftsführung angesichts des sich stündlich verändernden Wertes der Mark nicht gewachsen waren und scheiterten. 80 1923: Einfuhr von US-Filmen nach Deutschland Per Jahresende 1922 wurden rund 3650 Kinos im Deutschen Reich gezählt. Zum Jahresende 1923 war die Zahl auf über 4000 angestiegen, um in der Zeit nach dem Ende der Inflation wieder maßvoll abzunehmen. Auf der Basis des „Groß-Berlin-Gesetzes“ entfielen auf die Reichshauptstadt 1923 insgesamt 307 Kinos mit einem Angebot von rund 124.000 Sitzplätzen. 60 dieser Kinos hatten eine Kapazität von 501 bis 1000 Plätzen, weitere 14 eine Kapazität von über 1000 Plätzen. 81 Die Inflation verteuerte die Filmeinfuhren für inländische Firmen, während die Exporte für Vertragspartner aus dem Ausland günstig waren. Letzteres hatte den Effekt, dass die deutsche Filmproduktion gewährleistet blieb. Der Umfang der deutschen Filmproduktion bildete sich in der Tätigkeit der Filmprüfstellen Berlin und München im Jahr 1923 durchaus ab. 1923 wurden von den beiden Filmprüfstellen Berlin und München zusammen 1311 Filme geprüft. Insgesamt wurden 953 (72,69%) deutsche Filme vorgelegt und 255 US-Streifen (19,45%), darunter die genannten 146 Grotesken. Im Vergleich dazu durchliefen nur acht deutsche und sechs dänische

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Ebd. 32 (30. August 1924), S. 235–246. Vgl. Schröter/Schröter/Lambrecht: „Die wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik“, S. 171f. Jason, Der Film in Ziffern und Zahlen, S. 23. Ebd., S. 33 und S. 35.

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Grotesken die deutsche Filmzensur. Jedenfalls hatte sich der Anteil an geprüften US-Filmen seit der Einführung des „Lichtspielgesetzes vom 12. Mai 1920“ von 16 (1920), über 211 (1921) und 205 (1922) Streifen merklich gesteigert. Anfang März 1922 hatte das Reichswirtschaftsministerium entschieden, dass in jenem Jahr nur 400.000 Meter belichteter Film importiert werden durften. Das Einfuhr-Kontingent schien für 1923 unverändert geblieben zu sein. Das Bild des kaufmännischen Alltags war aber anders. Das Jahrbuch der Filmindustrie 1926 hat den deutschen Filmhandel der Jahre 1923 bis 1925 untersucht. Danach wurden im Inflationsjahr 1923 nach den Angaben des Statistischen Reichsamtes zwar knapp 1,25 Millionen Meter belichteter Film nach Deutschland eingeführt. Davon mussten aber fast 900.000 Meter als Retouren wieder abgezogen werden. Die Nettoeinfuhr von Filmen nach Deutschland 1923 betrug daher nur gut 340.000 Meter. 82 Damit waren US-Filme, zu denen einige Spielfilme wie z.B. David Wark Griffiths „Zwei Waisen im Sturm“ („Orphans of The Storm“) gehörten, 83 längenmäßig keine Import-Spitzenreiter. Vielmehr war ihr Anteil trotz der Anzahl der Filme gering. Dies lag an dem für den deutschen Einfuhrhandel extrem ungünstigen Kurs des US-Dollars im Vergleich zur ständig wertloser werdenden Mark. Mussten im Juni 1923 bereits 100.000 Reichsmark für einen US-Dollar gezahlt werden, kostete dieser in der Hyperinflation schließlich 4,21 Billionen Reichsmark. 84 Tatsächlich kam der Löwenanteil der deutschen Filmimporte des Jahres 1923 aus Österreich, das ebenfalls unter Hyperinflation litt. Von den netto nach Deutschland eingeführten gut 340.000 Metern belichteten Films entfielen auf das Nachbarland Österreich allein knapp 270.000 Meter, die sich auf 17 Dokumentar- und Spielfilme zwischen 1.400 und 2.300 Metern Länge sowie auf drei Zweiakter verteilten. Unter ihnen befanden sich Streifen mit marktwirksamen Titeln wie „Sodom und Gomorrah“, „Samson und Delilah“, „Die Frauen des Harry Bricourt“, „Fluch der Habgier“ und „Hygiene der Ehe“. 85

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Wolffsohn: Jahrbuch der Filmindustrie 2. Jahrgang 1923/25, S. 275. Filmprüfstelle Berlin Prüf-Nr. 7.080 und 7.081, 19. März 1923 (Teil 1 und 2 des Spielfilmes). Schröter/Schröter/Lambrecht: „Die wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik“, S. 171. In zeitlicher Reihenfolge: Filmprüfstelle Berlin Prüf-Nr. 6.961 und 6.962, 5. Februar 1923 (Teil 1 und 2 von „Sodom und Gomorrha“); 7.033, 2. März 1923; 7.277, 26. Mai 1923; 7.317, 11. Juni 1923; 7.432,13. Juli 1923.

Die Ufa erwirbt die deutschen Aufführungsrechte für „The Kid“ Einige der teuren US-Spielfilm-Importe aber waren für die betreffenden deutschen Verleiher ein gutes Geschäft. Das gilt ganz besonders für Chaplins Meisterwerk „The Kid“ von 1920. Mit dem Ankauf der deutschen Verleihrechte ging die Ufa, die den Film über ihre Firma Hansa-Film vertrieb, scheinbar ein hohes Risiko ein. Im krisengeschüttelten Österreich hatte die Wiener Excelsior-Film GmbH schon vorher zugegriffen und „The Kid“ Ende April 1923 in Wien erfolgreich gestartet. 86 Das war der Ufa selbstverständlich nicht verborgen geblieben. Ende Juni 1923 meldete der Film-Kurier, dass die Ufa die deutschen Verleihrechte für den Chaplin-Film erworben habe. 87 Kurt Pinthus ließ Ende Juni 1923 im Tage-Buch die gängige Klage, der Ankauf ausländischer Filme sei für deutsche Verleiher zu teuer, gerade bei Chaplins „The Kid“ nicht gelten und gab dabei einen Einblick in das österreichische Geschäft mit dem Streifen: [...] „The Kid“, in dem die beiden menschlich-hinreißendsten Filmschauspieler der Welt als Vater und Adoptivsohn zusammen auftreten: Charles Chaplin und Jacky Coogan, ist überall der größte künstlerische Erfolg und das größte Geschäft gewesen, in den USA [... und] in Österreich. Dieser zugleich rührendste und lustigste Film ist, so erzählen mir Wiener Freunde, in Wien in Dutzenden von Kinos zugleich wochenlang täglich von 3 Uhr mittags bis 11 Uhr nachts hintereinander ohne jedes Beiprogramm vorgeführt worden. 88

Kurz darauf hieß es auch in Der Kinematograph: Die Ufa will anscheinend ihre führende Stellung für Deutschland auch auf dem Gebiete des Auslandsfilms sichern. Sie erwarb aus diesem Grunde zu einem großen Dollarpreis den großen amerikanischen Film „The Kid“. [...] Das Bild hat in allen Ländern der Welt einen sensationellen Erfolg gehabt und den Ruhm Jackie Coogans begründet. [...] Man kann sich nur international einstellen und wirklich urteilen, wenn man zumindest die Standardwerke anderer Länder studiert. In Deutschland war das bis jetzt nicht möglich. Es ist ein Verdienst der Ufa, dafür gesorgt zu haben, dass das anders wird. 89

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Paimann’s Filmlisten 368 (27. April 1923), S. 2. Die österreichische Zensur hatte für den Film Schulverbot bestimmt. Ohne Verfasser: „‚The Kid‘ in Deutschland“, in: Film-Kurier 149 (29. Juni 1923), S. 3. Pinthus, Kurt: „Film-Elend in Deutschland“, in: Das Tage-Buch 26 (30. Juni 1926), S. 930. Ohne Verfasser: „Kleines Notizbuch. ’The Kid’ bei der Ufa“, in: Der Kinematograph 854 (1. Juli 1923), S. 11.

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Die anderen deutschen Film-Branchenblätter würdigten kurz darauf „The Kid“ als „den größten Geschäftsfilm der Welt“ mit „sensationellen Erfolgen“ überall, der allein im New Yorker Uraufführungstheater „ununterbrochen ein volles Jahr lang gespielt“ wurde und nach Chaplins „humoristischen Filmen“ nun auch das dramatische Können des Künstlers zeige. Seit Anbeginn der Kinematographie habe kein anderer Film annähernd eine solche Zugkraft ausgeübt. Einig war man sich darin, dass nun „das deutsche Kinogeschäft [...] eine neue, große Belebung zu erwarten“ habe, so dass man auf einen baldigen Kinostart in Deutschland hoffte. 90 Nach einer Notiz der Lichtbildbühne vom August 1923 rangierte „The Kid“ einer britischen Umfrage zufolge an dritter Stelle der beliebtesten Filme der Weltproduktion. Anfang 1924 veranstaltete das Londoner Blatt Sunday Pictorial laut einem Bericht des Film-Kuriers eine Volksabstimmung über den populärsten amerikanischen Film des Jahres 1923, und auch da kam „The Kid“ auf den dritten Platz. 91 Die Aufführungsrechte für „The Kid“ erwarb die Ufa von der New Yorker William M. Vogel Productions Inc., die zu der Zeit Inhaberin der weltweiten Vertriebsrechte von Chaplins First-National-Filmen war und den Film auch nach Österreich verkauft hatte. Dort hatte der Verleiher für einen sechsjährigen Lizenz-Zeitraum 8.500 Dollar aufbringen müssen. Die Ufa musste für eine gleichlange Lizenzzeit, die am 8. Oktober 1923 begann, 15.000 Dollar zahlen. 92 Der Preisunterschied dürfte sich daraus erklären, dass das Staatsgebiet Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg gegenüber dem der Monarchie Österreich-Ungarn stark reduziert worden war. Aus deren ehemaligem Gebiet waren die Tschechoslowakei, Polen, Jugoslawien sowie ein verkleinertes Ungarn und ein verkleinertes Österreich hervorgegangen. Teile der alten Donau-Monarchie gehörten nach 1918 zudem zu Italien und zu Rumänien. Das Territorium des Deutschen Reichs war demgegenüber ungleich größer. In Deutschland soll Ufa’s Lizenzpreis trotz 90

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Ohne Verfasser: „Filmallerlei“, in: Reichsfilmblatt 27 (7. Juli 1923), S. 22. Ohne Verfasser: „Film-Mosaik. ‚The Kid‘ bei der Ufa“, in: Der Montag 24 (2. Juli 1923), Sonder-Nummer des Berliner Lokal-Anzeigers, S. 6; Beilage Film-Echo 24, S. 2. Ohne Verfasser: „Allerlei. ‚The Kid‘ in Deutschland“, in: Lichtbildbühne 27 (7. Juli 1923), S. 28. Ohne Verfasser: „The Kid“, in: Der Film 27 (8. Juli 1923), S. 32. Ohne Verfasser: „Die ‚populärsten‘ amerikanischen Filme“, in: Film-Kurier 36 (11. Februar 1924), S. 1. Platz 1 mit rund 476.000 Stimmen belegte erneut David Wark Griffiths romantischer Spielfilm „Way Down East“ von 1920. Chaplins „The Kid“ erhielt gut 446.000 Stimmen. Auf Rang 11 folgte Jackie Coogans „My Boy“ mit circa 287.000 Stimmen. Übersicht der Vogel Productions Inc. per 12. Juni 1924 über den weltweiten Verkauf von „The Kid“ seit Ende Juni 1921, im Bestand des Schriftguts der Chaplin archives, copyright © Roy Export Co Ltd. Digitalisierung der Chaplin Archives durch die Cineteca di Bologna. www.charliechaplinarchive.org. Erster Lizenznehmer außerhalb der USA war danach die Schweizer Firma Mundesfilm.

aller Vorschusslorbeeren anfangs auch „erstauntes Kopfschütteln“ hervorgerufen haben. 93 Chaplin bezeichnet „The Kid“ in den Zwischentiteln am Beginn als „Film mit einem Lächeln – und vielleicht einer Träne“. Es ist ein Film mit leisen Tönen, langsamer Entwicklung der Gefühle, ohne die Übertreibung der Groteske, mit Pathos und Sinngehalt. Bei diesem „Gesamtkunstwerk“ ist es unerheblich zu bestimmen, worin Chaplins größte künstlerische Leistung liegt. Man mag sie erkennen in der Dichtung, in der bildlichen Umsetzung des Stoffes, in der Darstellung des Tramps oder in der Regie und dort ganz besonders in der Führung des kleinen Jackie Coogan, der wie Charlies zweites Ich wirkt. Chaplin scheint all seine traumatischen Kindheitserinnerungen in diesen Film eingebracht zu haben. Unter Chaplins Regie spielt Jackie seine Rolle nicht nur, sondern er lebt sie förmlich. Kein Kinderstar vor oder nach ihm hat je die Wahrhaftigkeit und die Vielfalt seiner Gefühlsdarstellungen übertroffen. Nach der Premiere von „The Kid“ in New York bejubelte die New York Times in ihrer Kritik vom 7. Februar 1921 den Film als „das wichtigste Filmereignis der Woche“ und als ein „kinematographisches Werk mit universeller Filmsprache“, in dem Jackie Coogan sich als kleiner Chaplin erweise, ein geborener Pantomime wie Chaplin selbst. 94 „The Kid“ vor der deutschen Filmzensur Man sollte meinen, dass ein solcher Film bei der deutschen Filmzensur keine Schwierigkeiten hatte. Zur Verhandlung über seine Zulassung vom 7. Dezember 1923 hatte die Filmprüfstelle Berlin als Sachverständigen Pastor Wartmann geladen. Und dieser erhob religiöse Bedenken „gegen die Erscheinung des kreuztragenden Heilands und gegen die aufflammende Gloriole hinter dem Haupt der unehelichen Mutter.“ Unehelichkeit war damals ein gesellschaftlicher, religiöser und juristischer Makel. 95 Den Einwendungen des Sachverständigen schloss sich die Filmprüfstelle Berlin an wegen des kreuztragenden Heilands und monierte außerdem, dass „einzelne Raufszenen die Fantasie der Jugendlichen überreizen könnten.“ Die Folge war, dass „The Kid“ nur zur Vorführung vor einem erwachsenen Publikum zugelassen wurde. 96 Auf die Beschwerde der Ufa

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Brachvogel, Heinz Udo: „Die Edellizenz“, in: Lichtbildbühne 48 (1. Dezember 1923), S. 13. The New York Times Film Reviews (1913–1931), New York 1970, S. 89. In der Bundesrepublik Deutschland wurden „uneheliche“ Kinder erst durch das „Gesetz über die rechtliche Stellung der nichtehelichen Kinder vom 19. August 1969“, das sogenannte Nichtehelichengesetz, mit Wirkung zum 1. Juli 1970 „nichtehelich“; siehe: Bundesgesetzblatt I 80 (22. August 1969), S. 1.243–1.269. Heute sind eheliche und nichteheliche Kinder gleichgestellt. Prüf-Nr. 7.864 (7. November 1923).

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rückte die Oberprüfstelle die Maßstäbe wieder gerade und ließ den Film auch für Jugendliche zu: Der Film [...] schildert die schlichte und rührende Liebe eines Taugenichts zu einem Findelkinde. Es ist das Bemühen und die Wirkung des Films, [mit] über hundert drolligen Einfällen und unbeschadet zahlreicher Derbheiten mit Zartheit und Gutherzigkeit ein Bild reiner Menschenliebe zu geben. [... E]s war nach Meinung der Kammer jugendlichen Menschen die Erkenntnis nicht vorzuenthalten, dass der Zartheit und der Gutherzigkeit die Weltordnung Grobheit und Niedertracht dicht an die Seite gestellt hat.

Die Oberprüfstelle teilte auch nicht den religiösen Einwand: Es ist zwar zutreffend, dass die Mehrzahl der Bilder des Films grotesken Inhalts sind. Doch sind diese Grotesken Ausdruck einer ehrlichen sittlichen Weltanschauung, die aus guten Gründen der Kunst in Humor verkleidet ist. 97

Über das Zensurverfahren berichtete nur das Reichsfilmblatt, und das auch erst Monate später und nur in einem Rückblick des Leiters der Filmprüfstelle München auf die bisherige Zensurpraxis seit Mitte 1920. 98 „The Kid“: ein sagenhafter Erfolg Die Ufa hatte mit dem Ankauf der Verleihrechte für „The Kid“ Weitsicht bewiesen. Nachdem am 15. Oktober 1923 die Deutsche Rentenbank gegründet worden war und sich eine Stabilisierung der Währung abzuzeichnen begann, plante die Ufa die deutsche Erstaufführung des „Weltfilms“ für den 9. November 1923 parallel in den Berliner Lichtspielhäusern Ufa Lichtspiele Tauentzien-Palast und U.T. Nollendorfplatz und begann eine groß angelegte Werbekampagne in der Presse. 99 Manche dieser Anzeigen bezogen sich nur auf eines dieser Kinos, 100 andere auf beide. 101 Die sich durch die Inflation ständig verändernden Kino-Eintrittspreise blieben auch zu dieser Zeit noch ein ständiges Thema. 102 Per 31. Oktober

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Prüf-Nr. B.90 (8. November 1923). Regierungsrat Dr. Leibig, Leiter der Filmprüfstelle München: „Die Filmzensur. Ein Rückblick“, in: Reichsfilmblatt 36 (6. September 1924), S. 37f. Vgl. Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 201–204. Z.B.: Der Film 43–44 (4. November 1923), S. 40 (Ufa Lichtspiele TauentzienPalast). Z.B.: Film-Kurier 251 (7. November 1923), S. 2 (beide Premierenkinos). Ohne Verfasser: „Goldmark-Eintrittspreise im Kino-Gewerbe“, in: Film-Kurier 249 (5. November 1923), S. 1.

1923 hatten sie in Berliner Kinos gestaffelt nach Sitzplatz-Kategorien z.B. 5, 8, 10 und 15 Milliarden Mark betragen. 103 Die deutsche Erstaufführung von „The Kid“ fand wie geplant und in der Presse angekündigt am 9. November 1923 statt. 104 Bizarrerweise putschten Adolf Hitler und General Erich Friedrich Wilhelm Ludendorff am selben Tag in München: Gemeinsam wollten sie nach dem Vorbild des italienischen Diktators Benito Mussolini die ihnen verhasste parlamentarische Demokratie gewaltsam abschaffen und stattdessen eine faschistische Diktatur errichten. Der Putsch scheiterte zwar, 105 hatte aber Auswirkungen auf die politische Lage der Weimarer Republik. Deshalb gilt der 9. November, zugleich im Hinblick auf andere gravierende politische Ereignisse an diesem Tag in den Jahren 1848, 1918, 1938 und 1989, als Schicksalstag der Deutschen. 106 Berührungspunkte zwischen dem Humanisten Chaplin und dem Nationalsozialisten Hitler gab es nicht. Chaplins unterprivilegiert und ohne Besitz durch die Welt streifender Tramp Charlie, der trotz aller Niederlagen nie den Lebensmut verliert, hilfsbereit ist und sich auch noch der Vermassung widersetzt, vertrug sich mit seiner Menschlichkeit und Individualität absolut nicht mit Hitlers nationalsozialistischem Gedankengut. Dieses kreiste um den arischen Herrenmenschen, der sich gegen andere stets mit Kadavergehorsam durchsetzt, in Massenaufmärschen auftritt und die persönliche Freiheit des Einzelnen zu beschränken trachtet. Weniger als zwanzig Jahre später versuchte Chaplin mit seinem berühmten Film „The Great Dictator“ (1940), in dem er einen namenlosen jüdischen Friseur und zugleich den tomanischen Diktator Adenoid Hynkel spielt, der mit dem bakterischen Diktator Napaloni um Machteinflüsse streitet, den beiden Diktatoren Hitler und Mussolini satirisch einen Spiegel vorzuhalten und ihnen ins Gesicht zu lachen. Chaplin nannte seinen Film

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Ohne Verfasser: „Kino-Eintrittspreise in Berlin und im Reiche“, in: Film-Kurier 251 (7. November 1923), S. 1. Obwohl der Nachweis des Premierendatum im genannten Buch des Autors aus dem Jahr 2014 mit Belegen geführt worden ist, behauptet das Deutsche Historische Institut in seiner Jahreschronik 1923 auf der Website https://dhm.de/lemo/ jahreschronik/1923 ohne Beleg, dass die deutsche Erstaufführung von „The Kid“ am 16. November 1923 stattgefunden habe. Letzter Zugriff am 15.06.2023. Z.B.: Ohne Verfasser: „Hitler-Umsturz in München. Das neue NovemberVerbrechen“, in: Vossische Zeitung 531 (Morgen-Ausgabe, 9. November 1923), S. 1. Ohne Verfasser: „Zusammenbruch des Ludendorff-Putsches. Die Säuberung Münchens in Gang“, in: Vossische Zeitung 532 (Abend-Ausgabe, 9. November 1923), S. 1. Vgl. Goll, Thomas: Der 9. November. Schicksalstag der Deutschen, Berlin 2011, S. 107–135.

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trotz der aktuellen politischen Bezüge zeitlos und war überzeugt, dass „man nur überleben kann, wenn man über schwierige Verhältnisse lacht“. 107 1923 überschlugen sich Tages- und Filmpresse sowie Kulturblätter nach der deutschen Premiere von „The Kid“ mit Lob. 108 Die deutschen Kinogänger strömten in die Lichtspieltheater, so dass der Film in Deutschland zu einem einzigartigen Geschäft wurde. 109 Selbstverständlich wurde dies nur wenige Tage nach der deutschen Premiere durch die Einführung der Rentenmark am 15. November 1923 begünstigt, die die Inflation brach. Fortan konnte die Ufa die sprudelnden Einnahmen in der deutschen Mark realisieren, die sich nach und nach erholte. Die Verleih-Bilanzen von „The Kid“ sind zwar nicht überliefert. Am 1. Dezember 1923 berichtete die Lichtbildbühne aber schon über „die Edellizenz“ für „The Kid“, dessen Auswertung für die Ufa eine Goldgrube bedeutete: Binnen kürzester Frist war die Ufa mit dem Film in die Gewinnzone gekommen: „The Kid“ [läuft] seit 9. November in zwei großen Theatern des Westens, dem U.T. Tauentzien-Palast und dem U.T Nollendorfplatz, dazu seit dem 16. November im Zentrum in den Kammerlichtspielen, und seit 23. November im Norden im großen U.T. Alexanderplatz. Diese [...] Theater liegen alle weit genug voneinander entfernt, um sich keine Konkurrenz zu machen. Sie haben zusammengenommen rund 175.000 Plätze zu vergeben gehabt. Die Preise lagen im Anfang, da der Film im Westen anlief, noch zwischen 1 und 4 Goldmark, heute bereits zwischen 1, 5 und 6 Goldmark. Es unterliegt keinem Zweifel und muss durchaus nicht erst ausführlich an Hand der bekannten Berechnungen (Platz mal Eintrittspreis abzüglich Steuer – dividiert durch 4) vorgerechnet werden, dass 101 Vorführungen, welche „The Kid“ im November in Berlin erlebt hat, dem Verleih der Ufa nicht nur die teure Lizenz, sondern noch ein beträchtliches Mehr ausgeschüttet haben. 110

Obwohl der Kurs der Inflations-Papiermark zur privatwirtschaftlichen Rentenmark ab 15. November 1923 eins zu einer Billion betrug, hat Brachvogel mit Recht über Goldmarkpreise gesprochen. Denn z.B. ab Ende September 1923 berechnete das Berliner Innenstadtkino Alhambra seine Eintrittspreise in Goldmark und setzte diese ins Verhältnisse zum jeweils

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Parsons, Louella: „Louella Parsons in Hollywood“, in: The Scrantonian (Scranton, Pennsylvania) 22 (1. September 1940), S. 12. Aus der Vielzahl der Premierenbesprechungen z.B.: Ohne Verfasser: „Der ChaplinGroßfilm. Zur heutigen ‘Kid’-Premiere im Tauentzien-Palast“, in: Film-Kurier 253 (9. November 1923), S. 2. Vgl. dazu: Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 205–211. Vgl. Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 211–214. Brachvogel, Heinz Udo: „Die Edellizenz“, in: Lichtbildbühne 48 (1. Dezember 1923), S. 13.

aktuellen Wert der Inflations-Papiermark. So kostete in dem Kino per 20. September 1923 eine Eintrittskarte der untersten Preiskategorie 0,20 Goldmark, was 7.165.000 Papiermark entsprach, und in der teuersten Kategorie 0,70 Goldmark gleich 26.900.00 Papiermark. 111 Das war durchaus umstritten, 112 wurde aber praktiziert. Goldmark-Münzen und InflationsPapiermark waren schließlich im täglichen Umlauf ohne Weiteres voneinander zu unterscheiden. Dem folgte der Film-Kurier nach der Ausgabe der Rentenmark im November 1923. In diesem Monat kostete das Branchenblatt bis zum 24. November 1923 pro Ausgabe 60 Milliarden InflationsPapiermark und ab dem 26. November 1923 dann 10 Goldpfennige, was ab 1. Dezember 1923 dauerhaft auf 15 Goldpfennige erhöht wurde. 113 Hingegen blieb es nach dem Willen der deutschen Filmverleiher bei der Berechnung der Verleih-Mieten, die die Kinobesitzer zu zahlen hatten, gegen deren Widerstand bis zur Einführung der Reichsmark bei der Berechnung nach der Inflations-Papiermark, 114 und dies auch noch nachdem sich eine Studienkommission für den Standpunkt der Kinobesitzer ausgesprochen hatte. 115 Deshalb veröffentlichte der Film-Kurier vom 31. August 1923 bis zum 2. Juli 1924 täglich auf jeder seiner Titelseiten das sich ständig verändernde Zahlenmaterial „Der Multiplikator im Filmverleih“ 116 und stellte dies erst am 3. Juli 1924 ein, als sich die Verleih-Mieten stabilisierten. 117 Wie auch immer: „The Kid“ lief in ganz Deutschland bis weit in das Jahr 1924 hinein und wurde in den Jahren 1927 und 1928 wieder aufgeführt. 118

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Ohne Verfasser: „Goldmarkpreise in der Alhambra“, in: Film-Kurier 212 (20. September 1923), S. 1. Ohne Verfasser: „Für und gegen die Goldmarkberechnung“, in: Film-Kurier 221 (1. Oktober 1923), S. 1. Vgl.: Film-Kurier 258 (24. November 1923), S. 1; ebd. 259 (26. November 1923), S. 1; ebd. 264 (1. Dezember 1923), S. 1; ebd. 155 (2. Juli 1924), S. 1. Z.B.: Ohne Ohne Verfasser: „Der Kampf der Theaterbesitzer um die GoldmarkFilmmieten“, in: Film-Kurier 75 (27. März 1924), S. 1. Ohne Verfasser: „Eine Studienkommission für die Goldmark-Mieten“, in: FilmKurier 27 (31. Januar 1924), S. 1. Die Rubrik erschien im Film-Kurier von Nr. 198 (30. August 1923) bis Nr. 154 (2. Juli 1924). Ohne Verfasser: „Der Multiplikator im Filmverleih“, in: Film-Kurier 155 (3. Juli 1924), S. 1. Vgl. Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 211–214.

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„The Kid“ : Motiv einer politischen Karikatur Weil Chaplins Film in aller Munde war, verwendete Erich Schilling in der satirischen Zeitschrift Simplicissimus die Beliebtheit von „The Kid“ für eine politische Karikatur. Sie bezog sich auf den Bündnis- und Freundschaftsvertrag, der sich zwischen Frankreich und der Tschechoslowakei abzeichnete und dadurch die so genannte „Kleine Entente“, bestehend aus der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien, zum gemeinsamen außenpolitischen Schutz gegen deutschen Einfluss ergänzen sollte. Für die Ausgabe der Zeitschrift vom 21. Januar 1924 gestaltete Schilling aus dem Motiv des deutschen Kinoplakates für „The Kid“, das Chaplin mit Jackie Coogan zeigt, seine Karikatur „‘The Kid’ oder das Französisch-Tschechoslowakische Bündnis“. 119 Chaplin gab er das Gesicht des französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré, während er Jackie Coogans Kopf mit dem Konterfei des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš Garrigue Masaryk versah. Die Unterschrift war eine Anspielung auf die Passage des Films, in der Chaplin Jackie Fensterscheiben einwerfen lässt, die er anschließend gegen Bezahlung wieder ersetzt. Poincaré sagt zu seinem kleinen Zögling: „Wirf nur den Deutschen die Fensterscheiben hübsch ein, dann sollst du auch immer tüchtig Geld kriegen.“ Der Französisch-Tschechoslowakische Bündnis- und Freundschaftsvertrag wurde am 25. Januar 1924 geschlossen. 120 Jackie Coogans „My Boy“ in Deutschland vor „The Kid“ aufgeführt Genauso wie die Ufa hatte auch der deutsche Terra-Verleih während der Inflation des Jahres 1923 die Zeichen der Zeit erkannt, so dass er mit einigen US-Spielfilmen ebenfalls ein ausgezeichnetes Geschäft realisieren konnte. Das Ergebnis war allerdings durchaus eine Vermarktungskuriosität. Chaplins Kinderstar Jackie Coogan war durch „The Kid“ berühmt geworden. Weil es für das Gespann Charlie und Jackie nach diesem Film keine Steigerung mehr geben konnte, machte Chaplin von der Option, einen weiteren Film mit Coogan zu drehen, keinen Gebrauch. Daraufhin gründete der US-Filmproduzent Sol Lesser mit Coogans Vater die Jackie Coogan Productions, 121 die von 1921 bis 1923 fünf rührselige, aber enorm erfolgreiche Spielfilme mit dem Kinderstar drehte. Sie setzten alle auf Coogans Image aus „The Kid“, erreichten aber nicht die emotionale Tiefe von

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Simplicissimus 43 (21. Januar 1924), S. 535 (vgl. Abb. S. 91). https://www.herder-institut.de/digitale-angebote/dokumente-und-materialien/the menmodule/quelle/525/details.html, letzter Zugriff am 15.06.2023. Vgl. Serra Cary, Diana: Jackie Coogan. The World’s Boy King, Lanham/ Maryland/Oxford 2003, S. 60–62.

Chaplins Film: „Peck’s Bad Boy“, „My Boy“, „Trouble“, „Oliver Twist“ und „Circus Days“. Als sich zeigte, dass der Film in Österreich erfolgreich war und der Ankauf der deutschen Verleihrechte für „The Kid“ überlegt wurde, ergriff der Terra-Verleih die Gelegenheit, Coogans Film „My Boy“ so rasch wie möglich und in jedem Falle vor „The Kid“ in die deutschen Kinos zu bringen. Nach dem Erwerb der deutschen Verleihrechte für „My Boy“ legte der Verleih den Streifen umgehend der Filmprüfstelle Berlin vor, die ihn am 11. Juli 1923 auch für Jugendliche zuließ. 122 Daraufhin wurde am 3. September 1923 im Berliner Mozartsaal „My Boy“ zum ersten Mal in Deutschland aufgeführt. 123 In dem Film sieht Coogan, wie schon in „Peck’s Bad Boy“, nicht nur häufig wie Jackie in „The Kid“ aus, er singt und tanzt auch, wie er es in dem kurzen Film aus dem Jahr 1920 vor Gästen im Studio mit Chaplin tat. 124 Die deutsche Kritik verglich „My Boy“ mit „The Kid“ und sprach von „Abklatsch“ und „geistigem Diebstahl“. 125 Coogans auch in „My Boy“ natürlich wirkende Auftritte beeindruckten gleichwohl diejenigen Zuschauer, die gern ein Rührstück sehen wollten. Sein Film erzielte Rekordeinnahmen und man sagte, dass in Deutschland die Jackie-Coogan122 123 124

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Prüf-Nr. 7.437. J-s. [Paul Ickes]: Film-Kritik. „My Boy“, in: Film-Kurier 201 (4. September 1923), S. 1. Enthalten als Bonusmaterial auf der zweiten DVD der Chaplin-Doppel-DVD „The Kid“, MK2-DVD, Warner Brothers Home Entertainment GmbH, Bestellnr. 3764595, deutsche Veröffentlichung: 6. November 2003. Homunculus [Ernst H.W. Fischer?]: „Filmkritik. Berliner Uraufführungen. ‘The Kid’“, in: Reichsfilmblatt 45/46/47 (24. November 1923), S. 21.

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Gemeinde ständig wachse. Der Film lief weit bis ins Jahr 1924 in den deutschen Kinos. 126 Der Terra-Verleih schmiedete das Eisen weiter und legte Coogans jüngsten Film „Zirkuskind“ („Circus Days“) am 6. November 1923 im Berliner Mozartsaal nach, also ebenfalls noch vor der deutschen Premiere von „The Kid“. Coogans weitere Herz-Schmerz-Geschichte kam ebenfalls ausgezeichnet an. Die deutsche Presse apostrophierte ihn als „Welterfolg“, und auch er hielt sich geraume Zeit in den deutschen Kinos. 127 Schon der Erfolg von „My Boy“ hatte die Ufa nicht ruhen lassen. Nach „Zirkuskind“ zog sie das künftige deutsche Coogan-Geschäft an sich. Sie erreichte für „Jackie, der tapfre kleine Held“ („Trouble“) aus dem Jahr 1922 am 20. Oktober 1923 bei der Filmprüfstelle Berlin die Zulassung auch für Jugendliche 128 und veranstaltete dessen deutsche Erstaufführung am 11. Januar 1924 im Berliner U.T. Nollendorfplatz. 129 Coogan avancierte zum Liebling des Kinos der Weimarer Republik. Bis 1928 vermarktete die Ufa insgesamt neun Streifen mit dem Kinderstar in Deutschland, „The Kid“ nicht eingerechnet. Coogans internationale Karriere bescherte ihm einen mit 100.000 Dollar dotierten Vertrag für eine Europareise, während derer für Ende Oktober 1924 auch ein Deutschlandbesuch geplant war. 130 Zu diesem kam es aber erst im Dezember 1928. 131 Seinen Star-Nimbus konnte Coogan 1931 noch mit „Tom Sawyer“ aufrechterhalten, der nach Mark Twains Klassiker entstanden war. Dann schwand jedoch sein Filmruhm. Er fand sich in BMovies wieder, erlangte aber noch einmal einige Bekanntheit als Onkel Fester in der TV-Grusel-Comedy-Serie „Die Addams Family“ aus den 1960er Jahren.

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Werbung des Terra-Verleihs unter Verwendung eines Telegramms aus Waldenburg, in: Der Film 47 (25. November 1923), S. 3. Ohne Verfasser: „Filmkritische Rundschau: ‚My Boy‘“, in: Kinematograph 864 (9. September 1923), S. 9f. Vgl. weiter: Aping: Charlie Chaplin in Deutschland, S. 200. Z.B.: Ohne Verfasser: Ein Welterfolg, in: Lichtbildbühne Tagesdienst 44a (6. November 1923), S. 1. Il Zo [Verfasser unbekannt]: „Die Filmwoche. ‚Zirkuskind‘“, in: Berliner Börsen-Zeitung 528 (Morgenausgabe, 18. November 1923), S. 10. Prüf-Nr. 7.797. W.H. [Willy Haas]: Filmkritik. „Jackie, der tapfre kleine Held“, in: Film-Kurier 11 (12. Januar 1924), S. 2. Rubrik, ohne Verfasser: „Was das Ausland meldet“, in: Lichtbildbühne 12 (18. März 1922), S. 45; ebd. 13 (25. März 1922), S. 44; ebd. 17 (22. April 1922), S. 46. Aus dem großen Presse-Echo auf diesen Besuch z.B.: Ohne Verfasser: „Vom Tage. Jackie im Varieté“, in: Film-Kurier 300 (18. Dezember 1928), S. 3.

Filmstörungen In der aufgeheizten deutschen innenpolitischen Situation taten sich 1923 in München die Nationalsozialisten mit ihrem antisemitisch motivierten Kampf gegen angeblich „jüdische Machwerke“ hervor. Filmstörungen waren in der bisherigen Filmgeschichte an sich nichts Neues. Ihre Ursachen konnten völlig unterschiedlich sein. Durchgefallene Filme wurden ähnlich wie im Theater ausgebuht. Manchmal wurden auch schon einmal Claqueure angeheuert, um einem Film durch lautstarkes Beklatschen auf die Sprünge zu helfen, 132 was in Besprechungen als unehrlicher Applaus, dem jede Spontaneität fehlte, getadelt wurde. Eine andere Unsitte in der Stummfilmzeit war, dass Zuschauer die Zwischentitel laut vorlasen und damit anderen Besuchern auf die Nerven fielen. In der Tonfilmzeit wurde sie vom Mitsummen der Filmmelodien abgelöst. Als Gegenmittel empfahl der Film-Kurier „reichlich Insektenpulver“. 133 Wohl fast alle Kinobesitzer kannten auch Besucher, die durch ihr schlechtes Benehmen Filmvorführungen störten oder manchmal sogar die Einrichtung beschädigten. 134 Dann wieder waren Kinos die Schauplätze von Liebeskummer, Eifersuchtsszenen oder Neid-Exzessen. 135 Hinzu kam die schon genannte kulturelle „Kinohetze“. 136 Für Zündstoff sorgte zudem, wenn in Kinos politische Veranstaltungen stattfanden oder Kinogänger auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise Anfang der 1930er Jahre versuchten, preisreduzierte oder kostenlose Eintrittskarten zu ergattern. Erste antisemitisch motivierte tumultartige Filmstörungen lassen sich für 1919 nachweisen, als der deutsch-jüdische Regisseur Richard Oswald 132

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Ohne Verfasser: „Musste es soweit kommen?“, in: Film-Kurier 60 (11. März 1926), S. 2. Como [Verfasser unbekannt]: „Wiedergeburt der Claque!“, in: Film-Kurier 237 (5. Oktober 1929), S. 4 (1. Beiblatt, S. 1). Ohne Verfasser: „Tod einer Kinounsitte“, in: Film-Kurier 259 (4. November 1931), S. 2. Rannow, Artur: „Radauszenen in einem Kino“, in: Der Lichtspieltheater-Besitzer 7 (17. Februar 1923), S. 11. Z.B.: C.W. [Verfasser unbekannt]: „Eifersuchtsexzesse im Dorfkino“, in: FilmKurier 243 (15. Oktober 1925), S. 3. Ohne Verfasser: „Ein Mord im Kino“, in: FilmKurier 1 (1. Januar 1927), S. 34 (8. Beiblatt, S. 2). Ohne Verfasser: „Eifersuchtsdrama im Kino“, in: Film-Kurier 263 (7. November 1927), S. 2. st.: „Mordversuch im Lichtspielhaus“. Reichsfilmblatt Nr. 16, 21. April 1928, S. 27. Aus der Zeit von 1919–1928 z.B.: Eg. [Verfasser unbekannt]: „Die Frau im Käfig“, in: Film-Kurier 38 (19. Juli 1919), S. 1f. Frank: „Die Maske“, in: Film-Kurier 74 (31. August 1919), S. 2. Ejott [Ernst Jäger]: „Filmgegner und Kinofeinde...“, in: Film-Kurier 288 (6. Dezember 1924), S. 1. Ohne Verfasser: „Mord wie im Film“, in: Film-Kurier 79 (31. März 1928), S. 7. Lachmann, Dr. Fritz R.: „Es gibt noch KinoFeinde!“, in: Film-Kurier [Sondernummer] (2. Juli 1927), S. 19. Herzberg, Georg: „Ratschläge für den Kino-Nörgler“, in: ebd. Ohne Verfasser: „Filmhetze in Düsseldorf“, in: Film-Kurier 136 (8. Juni 1928), S. 2.

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zum Thema der männlichen Homosexualität seinen Spielfilm „Anders als die andern. § 175. Sozialhygienisches Filmwerk“ in die Kinos brachte. Conrad Veidt spielt darin einen Geigen-Virtuosen, der sich in einen Schüler verliebt. „Anders als die andern“ bezog erstmals in der Filmgeschichte offen Stellung gegen die Strafbarkeit homosexueller Handlungen zwischen Männern. Erst 1969 bestimmte das „Erste Gesetz zur Änderung des Strafrechts (1. StrRG)“ in der Bundesrepublik Deutschland die Straflosigkeit solcher Handlungen für Männer ab 21 Jahren. 137 Danach dauerte es noch ein weiteres Vierteljahrhundert, bis § 175 StGB am 31. Mai 1994 durch das „Neunundzwanzigste Strafrechtsänderungsgesetz“ vollständig aufgehoben wurde. 138 Oswald hatte den Film 1919 in Zusammenarbeit mit dem deutschjüdischen Sexualforscher Magnus Hirschfeld gedreht, der 1918 das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft in Berlin gegründet hatte 139. Nach Hitlers Machtergreifung am 6. Mai 1933 wurde es durch die Nationalsozialisten geschlossen, geplündert und verwüstet. 140 Nationalsozialisten contra „Nathan der Weise“ 1922 inszenierte der deutsch-jüdische Regisseur Manfred Noa für den Münchner Emelka-Konzern seinen Spielfilm „Nathan der Weise“ nach Gotthold Ephraim Lessings dramatischem Gedicht aus dem Jahr 1779, das vom Humanismus getragen ist. Die Titelrolle spielt Werner Krauß, der 1940 in Veit Harlans berüchtigtem antisemitischen Hetzfilm „Jud Süss“ gleich in mehreren jüdischen Rollen zu sehen war. In Noas Film sagt sich der Weltbürger Nathan vom orthodoxen Judentum los und lebt religiöse Toleranz gegenüber Christen, Juden und Muslimen. Der Film wurde zum frühesten Beispiel des nationalsozialistischen Filmkampfes, mit dem Zwang auf die Spielplangestaltung von Kinos ausgeübt wurde. 141 Im Februar 1923 drohten Münchner „Hakenkreuzler“ dem Besitzer der örtlichen Regina-Lichtspiele, „den Laden zu zertrümmern“, sollte er „Nathan der Weise“ nicht vom Spielplan nehmen. Bis auf Weiteres gab der Kinobetreiber dem Druck nach. Der Emelka-Chef bot Hitler an, sich in einer Sondervorführung davon zu überzeugen, dass der Film keinen Anlass

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Bundesgesetzblatt I 52 (30. Juni 1969), S. 645–682, hier S. 653f. Ebd. I 33 (10. Juni 1994), S. 1168f. Vgl. Aping, Norbert: Liberty Shtunk! Charlie Chaplin und die Nationalsozialisten, Marburg 2011, S. 158–161. Grau, Günter: Lexikon zur Homosexuellenverfolgung 1933–1945, Berlin 2011, S. 160. Vgl.: Ohne Verfasser: „‚Potemkin‘-Skandal in München“, in: Süddeutsche Filmzeitung 15 (8. April 1927), S. 4.

für nationalsozialistische Angriffe biete. 142 Hitler schickte als seinen Vertreter Hermann Esser, den späteren Verfasser des antisemitischen Hetzbuches Die jüdische Weltpest. 143 Neben Hitler galt er als das einzige demagogische Talent der frühen NSDAP, „ein Lärmmacher, der dieses Geschäft fast besser kann als Hitler [...], ein Dämon der Rede, wenn auch aus einer niederen Hölle“. 144 Nach der internen Vorführung schrieb Esser im Völkischen Beobachter, „Nathan der Weise“ sei ein übler jüdischer Tendenzfilm, der „von verlogener und geheuchelter Humanität trieft“. Zugleich drohte Esser Gewalt für den Fall an, dass der Film doch wieder gespielt werden sollte: [Wir ... hegen] ernste Befürchtungen für große Ausschreitungen [...], deren Folgen allein auf die Veranstalter der provozierenden Filmpropaganda zurückfiele, die unbedingt wissen müssen, dass in dem antisemitischnationalchristlichen München für jüdische Anmaßung und Überhebung kein Boden mehr ist. 145

Der Direktor der Regina-Lichtspiele setzte „Nathan der Weise“ nun endgültig ab, woraufhin die Emelka schleunigst eine weitere Sondervorführung des Films für die gesamte Münchner Tages- und Fachpresse am 21. Februar 1923 in ihrem Vorführungsraum ansetzte. Vertreter des Völkischen Beobachters blieben dieser Vorführung fern. Bald danach wurde Noas Film regulär dem allgemeinen Publikum vorgeführt. Dass diese von gewalttätigen Nationalsozialisten gestört worden wären, ist nicht bekannt. „Deutschfeindliche“ Filme Ein anderes Thema waren Filme, die in Deutschland als „deutschfeindlich“ angesehen wurden und an denen sich die Gemüter erhitzten. Mit Sicherheit kam kein deutscher Verleiher ernsthaft auf die Idee, den 1923 in Paris gezeigten französischen Film „Weshalb wir das Ruhrgebiet besetzt halten!“ importieren zu wollen. Schon im Dezember 1922 hatten aber deutsche Diplomaten gegen die kommende Aufführung von Rex Ingrams „Die vier apokalyptischen Reiter“ („The Four Horsemen of the Apocalypse“) von 1921 im europäischen Ausland protestiert. Dieser Anti-Kriegsfilm, der Rudolph Valentino zum Star machte, enthielt Szenen, in denen deutsche Soldaten Gräueltaten begehen. Über die Jahre sollte es noch eine Reihe

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Ohne Verfasser: „Antisemitische Pöbeleien – Herr Hitler, Nathan und der Völkische Beobachter“, in: Lichtbildbühne 9 (3. März 1923), S. 23f. Esser, Hans: Die jüdische Weltpest, München 1927, 21939. Fest, Joachim: Hitler. Eine Biographie, Hamburg 2006/2007, S. 229. H.E. [= Esser, Hermann]: „Nathan der Weise“, Völkischer Beobachter 18 (16. Februar 1923).

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weiterer deutscher Proteste gegen „deutschfeindliche“ Filme geben. 146 Zum wohl prominentesten Beispiel wurde Lewis Milestones Oscar-prämierter Anti-Kriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ („All Quiet on the Western Front“) nach Erich Maria Remarques gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1929. Von ihrem Propaganda-Agitator Joseph Goebbels inszeniert, bekämpften die Nationalsozialisten den Film ab Anfang Dezember 1930 besonders öffentlichkeitswirksam. 147 Einige Filmschlaglichter 1923 Was geschah 1923 sonst noch auf dem Filmsektor? Noch vor Beginn der Inflation verkaufte der abgedankte deutsche Kaiser Wilhelm II. die Rechte an seinem Bild für 10.000 US-Dollar an eine Filmgesellschaft. 148 Im April 1923 wurde der erste abendfüllende Spielfilm des dänischen Komiker-Duos Pat und Patachon in Deutschland gestartet, die rasch danach ebenfalls zu Superstars im Weimarer Kino wurden: „Er, sie und Hamlet“ („Han, hun og Hamlet“). Diese Premiere fand allerdings nicht in Berlin, sondern nach einer Pressevorführung im März (Frankfurt am Main) im April in der Provinz statt, 149 für die dann schon ein Teuerungszuschlag von 6.000% auf die ursprünglich vereinbarte Leihmiete gezahlt werden musste. 150 Des Weiteren kursierten Vorwürfe gegen Ernst Lubitsch. Er sollte als deutscher Frontsoldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen und sich dadurch unamerikanisch verhalten haben. 151 Lubitsch hatte 1921 und 1922 seine letzten beiden deutschen Filme „Das Weib des Pharao“ 152 und „Die Flamme“ 153 gedreht und war danach in die USA übersiedelt. Außerdem liefen gleich mehrere in Deutschland produzierte Filme um den beliebten Leinwandhelden Maciste, 154 der eigentlich eine Schöpfung des italienischen Sandalen-Films war.

146 147 148 149 150 151 152 153 154

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Vgl. Aping: Liberty Shtunk!, S. 167f. Vgl. ausführlich ebd. S. 176–186. Ohne Verfasser: „Kaiser Wilhelm verkauft sein Bild an eine Filmgesellschaft“, in: Film-Kurier 1 (2. Januar 1923), S. 1. Sein Preis betrug 10.000 US-Dollar. Werbung Südfilm für „Er, sie und Hamlet“, in: Reichsfilmblatt 24 (10. Juni 1923), S. 3. Werbung Südfilm AG für „Er, sie und Hamlet“, in: ebd. 23 (9. Juni 1923), S. 1. Ohne Verfasser: „War Lubitsch Frontsoldat?“, in: Film-Kurier 22 (26. Januar 1923), S. 2f. Filmprüfstelle Berlin Prüf-Nr. 4.872 (6. Dezember 1921). Filmprüfstelle Berlin Prüf-Nr. 6.570 (27. September 1922). Z.B.: „Maciste und der Sträfling Nr. 51“, Oberfilmprüfstelle Berlin Prüf-Nr. O 6.786 (28. September 1923).

Dämme brechen Nicht nur US-Grotesken drängten auf den deutschen Filmmarkt, sondern generell US-Filme. Nach dem Ende der Hyperinflation standen die Tore für den US-Film offen. 1924 wurden 846 US-amerikanische Streifen von den beiden deutschen Filmprüfstellen geprüft. Das entsprach einem Anteil von knapp 30% des Prüf-Volumens im gesamten Jahr und bedeutete der Anzahl nach gegenüber 1923 eine Steigerung um rund 330%. Künftig nahm der US-Film in der Weimarer Republik eine herausragende wirtschaftliche und kulturelle Stellung ein. Bis Ende Januar 1933 wurden den Filmprüfstellen seit der Einführung des „Lichtspielgesetzes“ um die 6000 US-Filme vorgelegt. Im Dritten Reich waren es bis August 1940 nur noch rund 1500 Streifen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verschwanden sie ganz aus den Kinos des nationalsozialistischen Deutschlands – mit der einzigen Ausnahme eines kurzen Industriefilms im Jahr 1941. Damit schloss sich in Deutschland zum zweiten Male ein Kreis. Der US-Film war hier schon früh zu einem bedeutenden Konkurrenten der deutschen Filmwirtschaft geworden. Sein weiteres Vordringen auf den deutschen Markt war vor allem durch die prekäre Wirtschaftslage Deutschlands während des Ersten Weltkrieges und nachfolgende USHandelsbeschränkungen nahezu zum Stillstand gebracht worden. Nach dem Ende dieses Krieges hatte es vor allem aus wirtschafts-protektionistischen Gründen einige Jahre gedauert, ehe US-Filme in einem nennenswerten Umfang nach Deutschland eingeführt werden konnten. Obwohl die deutsche Filmproduktion nach Hitlers Machtergreifung durch die nationalsozialistische Filmpolitik vorangetrieben wurde und der deutsche Film Vorrang vor ausländischen Produktionen hatte, wurden US-Filme bis auf Weiteres auch im Dritten Reich offiziell wertgeschätzt. Das änderte sich erneut im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges. Ein Jahr nach dessen Beginn gab es in deutschen Kinos keine US-amerikanischen Filme mehr zu sehen.

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Swati Acharya

Berliner Straßen als Topos des Verführerischen in der Großstadtästhetik der Moderne Karl Grunes Film „Die Straße“ (1923) Das Motiv der nächtlichen Stadt ist eng mit der urbanen Moderne verbunden, wo die Großstadt selbst, um mit Georg Simmel zu sprechen, zum Sujet der „Vergesellschaftungsprozesse“ wird. 1 Karl Grune, der Regisseur des am 29. November des Krisenjahres 1923 am Ufa-Theater Kurfürstendamm in Berlin uraufgeführten Films Die Straße, Film einer Nacht verteidigt die Wahl der Straße als Handlungsort, indem er erzählt, wie ihm das großstädtische Straßenmilieu vorschwebte noch bevor er an die Handlung denken konnte. Seine Selbstaussage in der Neuen Berliner Zeitung zwei Jahre später lautet, [Die Handlung] muß aber nicht Voraussetzung sein. Ich gehe den umgekehrten Weg – ich sehe zuerst Milieu und komme dann zum dramatischen Motiv. Von meinem letzten Film Die Strasse sah ich – jawohl, sah ich! – zuerst nur den optischen Lärm einer Weltstadtstraße, ihr Gleißen, Glitzern, ihr Fieber. Dann erst erschien in meiner Vorstellung der kleine Bankclerk, dem diese Straße Schicksal wird. 2

Diese Vorstellung von einer glitzernden und fiebernden Weltstadtstraße war symptomatisch für die Zeit der Weimarer Republik beziehungsweise der Moderne. Die Kulturgeschichte der Weimarer Zeit ist die Geschichte der soziopolitisch-wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands. Die engmaschige Verflechtung der ästhetischen Komposition und der soziopolitischen Komplexitäten der Moderne spiegelt sich am besten in den visuellen und literarischen Kunstwerken der damaligen Zeit wider. Neben visuell arbeitenden Künstlern wie Georg Grosz und Otto Dix, gestalten Schriftsteller wie Bertolt Brecht, Erich Kästner und Walter Mehring besonders in ihrem lyrischen Werk das Motiv der Großstadt als Chiffre der Moderne, wobei das 1

2

Georg Simmel benutzt diesen Begriff besonders im Zusammenhang der gesellschaftlichen Interaktionen der Menschen in urbanen Räumen. Vgl. dazu: Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908 (wieder in: ders., Gesammelte Werke. Band 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Frankfurt am Main 2006). Zitiert nach Vogt, Guntram: Die Stadt im Kino. Deutsche Spielfilme 1900–2000). Marburg 2001, S. 110.

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Dämonische, das Verfremdende und das Weibliche in den Vordergrund gerückt werden. Die Großstadt vermittelt eine ambivalente Erfahrung, eine Kombination von Faszination und Schrecken, und wird damit zu einem ubiquitären Thema in Literatur, Malerei und Film. Gedichte wie „Die Städte aber wollen nur das Ihre“ (1903) von Rainer Maria Rilke erklären, was Lothar Müller mit dem Begriff „polare Spannung von Kulturkritik und Apologie der Großstadt“ zu erfassen sucht: 3 Und ihre Menschen dienen in Kulturen und fallen tief aus Gleichgewicht und Maß, und nennen Fortschritt ihre Schneckenspuren und fahren rascher, wo sie langsam fuhren, und fühlen sich und funkeln wie die Huren und lärmen lauter mit Metall und Glas. 4

Der Zeitgeist ließ die Kunst offen und ehrlich in ihrem Ausdruck sein. Damit offenbarte sie aber auch die dunkle Seite der urbanen Moderne. Es ging um die Darstellung nicht nur des äußeren Getümmels im Alltagsleben der Menschen in der Großstadt, sondern auch um die daraus resultierende innere Aufgewühltheit. Die dystopischen Bilder der expressionistischen Künstler waren einerseits Ausdruck einer durch die urbane Lebenswelt erzeugten Angst. Andererseits riefen sie auch ein zuvor unbekanntes Verlangen und eine nicht mehr unterdrückbare Aufregung hervor. Die Titel einiger wissenschaftlicher Beiträge über diese Zeit im Allgemeinen und über die Straßenfilme im Besonderen bestärken diese These. Anton Kaes beschreibt zum Beispiel die Topographie der Straßen als „Schauplätze des Verlangens“, 5 und für Barbara Kosta ist die Straße ein Ort „unordentlicher Beziehungen.“ 6 Was machte den verlockenden Reiz von Großstädten wie Berlin aus? Wie findet die Unruhe der Zeit ihren Ausdruck in der Kunst? Die historischen Umstände bedingen, dass das Berlin der 1920er Jahre heute als Archetyp der Moderne wahrgenommen wird. Berlin war die Hauptstadt des Kaiserreichs, die bevölkerungsreichste und am weitesten industrialisierte Stadt Deutschlands. Nach der Kapitulation Deutschlands im Ersten Weltkrieg und dem niedergeschlagenen Hitler-Putsch am 9. November 1923 ließ sich die Straße als Schauplatz der öffentlichen Gefühlspa3

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Vgl. Müller, Lothar: Die Großstadt als Ort der Moderne. In: Klaus Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek 1988, S. 14–36. Rilke, Rainer Maria: Das Stundenbuch, Leipzig 1918, S. 100. Kaes, Anton: „Schauplätze des Verlangens: Zum Straßenfilm in der Weimarer Republik“. In: Dietrich Neumann (Hg.) Filmarchitektur. Von Metropolis bis Bladerunner, München, New York 2002, S. 26–32. Kosta, Barbara: „Die Straße als Ort unordentlicher Beziehungen: Joe Mays Asphalt“. In: Sigrid Lange (Hg.) Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film, Bielefeld 2001, S. 227–239.

lette schildern. Gewalttätige Straßendemonstrationen, Protestmärsche, Kriminalität und Prostitution waren einige der Gefahren der Straße. Die Straßenfilme der 1920er Jahre ziehen nicht explizit die Fahne eines politischen Protestzeichens hoch, sie geben vielmehr individuelle Angstbilder wieder. Berlin in den 1920er Jahren war auch das Zentrum der kulturellen Massenunterhaltung, zugleich Ausgangspunkt aller avantgardistischer experimenteller Bewegungen in den visuellen Künsten, insbesondere im Film. Der expressionistische Film ist wahrscheinlich das größte Geschenk der Weimarer Zeit. Er ist eine Fundgrube verschiedenster filmwissenschaftlicher Begriffe wie „Straßenfilm“, „Stadtfilm“, „Film Noir“, „die Ohnmacht vor der Stadt“, 7 „Flaneur als unscheinbare(r) Passant mit der Priesterwürde und dem Spürsinn eines Detektivs“, 8 um nur einige zu nennen. Guntram Vogt unterstreicht die Zentralität Berlins in seinem bedeutenden Werk Die Stadt im Film 9 „Die Anfänge der filmischen Stadt in Deutschland liegen meist im dunkel verschwundener Kintopps und heutiger Archive. Berlin war schon früh ihr Zentrum,“ 10 konstatieren auch Friedrich Knilli und Michael Nerlich. Das Wort Kintopp ist eine Berliner Sprachschöpfung. Es setzt sich zusammen aus Ki(e)n, einer Abkürzung für Kinematographie, und Topp. Letzteres bezeichnete um 1900 einen Krug oder ein Glas (z.B. „en Topp Bier“), wurde aber auch für die oberste Sitzreihe im Theater verwendet („uf ’n Topp“). Der volkstümliche Ausdruck Kintopp stand für ein Kino, das von einfachen Leuten besucht wurde; das Rauchen und Trinken waren während der Vorstellung in der Regel erlaubt. In Frankreich benutzt man heute noch den Begriff cinoche. 11 Steven Jacobs hebt in seiner Analyse der nächtlichen Straße das Chiaroscuro hervor, das künstlerische Spiel zwischen Hell und Dunkel, das die moderne Metropole in eine Landschaft expressionistischer Angst oder Noir-Paranoia verwandelt. 12 Es akzentuiert die Diskontinuitäten und labyrinthischen Qualitäten der Stadtlandschaft. Während das nächtliche Stadtbild ein Ort des Mysteriums, des Enigmatischen und der Verwirrung ist, machen es seine Schatten 7 8 9 10 11 12

Vgl. Benjamin, Walter: Berliner Chronik. Mit einem Nachwort herausgegeben von Gershom Scholem. Frankfurt am Main 1980, S. 11. Benjamin, Walter: Stadt des Flaneurs. Berliner Orte, Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Mathias Zimmermann, Berlin 2015, S. 129. Vogt, Guntram: Die Stadt im Film. Deutsche Spielfilme 1900–2000, Marburg 2001. Vgl. Knilli, Friedrich, Michael Nerlich (Hg.): Medium Metropole. Berlin, Paris, New York. Heidelberg 1986, S. 33. Vgl. Lenk, Sabine: Kintopp. https://filmlexikon.uni-kiel.de/doku.php/k:kintopp6694 (letzter Zugriff am 1. Mai 2023). Vgl. Jacobs, Steven: “Panoptic Paranoia and Phantasmagoria. Fritz Lang’s Nocturnal City”. In: Jaimy Fisher and Barbara Mennel (Hg.): Spatial Turns. Space, Place and Mobility in German Literary and Visual Culture. Amsterdam, New York 2010, pp. 381–395.

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und Lichter paradoxerweise zu einem idealen Topos für panoptische Kontrolle. Die Schatten lösen die Eskapaden aus und die Lichter sorgen für die Überwachung. Die Großstadtästhetik der Moderne findet ihre verschiedensten Ausdrucksschattierungen in diversen Kunstformen: Literatur, Malerei, Theater, Film, Tanz und Musik, um nur einige zu nennen. Bei allen künstlerischen Empfindungen bietet die Stadt die wesentlichen Anregungen, auch wenn sie meistens dunkle Gefühlslandschaften darstellen. Steven Jacobs ordnet die Anregungspalette in vier Kategorien ein: 1. 2. 3.

4.

Die moderne Stadt als schrecklicher Ort. Ein Ort moderner Ängste, die sich aus der Urbanisierung, ihrer Anonymität, ihrer Entfremdung und ihren vielen neuen Gefahren ergeben. Die Stadtkultur(en) als ein fragmentiertes Phänomen, sowohl räumlich als auch sozial. Es präsentiert sich als Biotop für urbane Subkulturen und Gegenkulturen wie die Unterwelt. 13 Die städtischen Räume als idealer Topos für panoptische Kontrolle. Trotz der Assoziationen der Stadt mit Frivolität, Flucht und Befreiung spürt man eine erstickende Kontrolle. Es gibt auch ein lauerndes Gefühl der Bedrohung. Die nächtlichen Straßen sind der Lebensraum von Ausgestoßenen wie Obdachlosen, Prostituierten und Kriminellen, die sich strenger Regulierung zu entziehen scheinen. Die Anwesenheit von Polizisten und Polizeiwachen als Kontroll- und Regulierungsinstanz ist Teil der panoptischen Kontrollmechanismen. Die moderne Stadt als Projektionsfläche für das grandiose Schauspiel aus Dunkelheit und Beleuchtung. Es löst eine „Steigerung des Nervenlebens“ 14 in Georg Simmels berühmten Worten aus, und macht die Stadt zu einer doppelten Topografie, in der Angst mit Aufregung und Rausch einhergeht. Die Elektrifizierung der Straßen der Städte verstärkt die phantasmagorische Erfahrung des modernen urbanen Raums und der Kultur.

Walter Benjamin bezeichnet die unzähligen wirtschaftlichen und technologischen Neuheiten wie Weltausstellungen, Panoramen, große Kaufhäuser, Einkaufspassagen und vor allem das Schaufenster als das zentrale Instrument, um die Verbindung zwischen Elektrifizierung, Werbung und verfüh-

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Viele Kritiker und Schriftsteller wie Charles Baudelaire, Georg Simmel, Walter Benjamin, Franz Hessel haben die Sub- und Gegenkulturen sowie die Unterwelt in ihren Werken konzeptualisiert. Vgl. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. Über einige Motive bei Baudelaire. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann. Berlin, 1974. Hessel, Franz: Ein Flaneur in Berlin, Berlin 2011. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt a.M. 2006, S. 4.

rerischem Konsum zu verdeutlichen. 15 Die Schaufenster wurden zur primären Mise-en-scène der Gestalt und des Verlangens der modernen Konsumkultur und verschafften sich einen festen Platz besonders in der Literatur sowie in den visuellen Künsten. 16 Die Straßenfilme der Moderne machten von den Schaufenstern vieldimensionalen Gebrauch. Die Glasvitrinen dienten als perfekte Spiegelungsfläche, wo der Straßenverkehr neben den zur Schau gestellten Waren das Fiebern des städtischen Charms dramatisch erhöhte. 17 Der Straßenfilm als Genre Mit der urbanen Moderne wurde die Straße zu einem vieldeutigen Raum. Hier entstand der Straßenfilm als Subgenre des Stummfilms in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik. Im Straßenfilm steht die Straße als visuell hoch stilisierter Ort metaphorisch für die Verlockungen der Großstadt. Der expressionistische Stil der Kinobauten wurde zur perfekten Experimentierschule für die Verknüpfung zwischen den beiden „Raumkünsten“, nämlich Architektur und Film. 18 Der Begriff der Raumkünste stammt von Anthony Vidler. Die Straße war die „Welt da draußen“ und bot dem Kleinbürger außerhalb seines sicheren Heims eine Parallelwelt der triebhaften Versuchung und Gefahr. Das Milieu der Straße symbolisiert die Chancen, aber auch die Abwege der Moderne, denen der bürgerlich geprägte Mensch mit Faszination, aber auch mit Furcht begegnet. Anders als im Kammerspielfilm, der auf nahe und halbnahe Einstellungen setzt, ist für den Straßenfilm die Halbtotale kennzeichnend, durch die die Figuren mit ihrer sozialen Umgebung in Zusammenhang gebracht werden. Fast in allen Straßenfilmen dieser Zeit sieht man Innenräume wie die Stube, die Küche, einen vollgestopften Wohnraum; als Zuschauer fühlt man die Enge, ja die Klaustrophobie der Filmfiguren und man fängt schon bald gierig an nach dem abwechslungsreichen, hektischen und den häuslichen Rahmen sprengenden Leben zu lechzen. Oft spielen die Szenen nachts, und erstmals werden Laden- und Schaufensterdekorationen als erzählende Elemente im Film eingesetzt. Die Straße werde, so Lotte Eisner, „mit ihren abrupt tief erscheinenden dunklen Ecken, ihrem aufgleißenden Betrieb, den Lichtnebel ergießenden Straßenla15 16 17

18

Vgl. Benjamin: Stadt des Flaneurs. Vgl. auch Jacobs, S. 381. Vgl. Bilder von Jeanne Mammen, Gedichte von Mascha Kaleko In: Kaleko, Mascha: Bewölkt, mit leichten Niederschlägen, Frankfurt a.M. 2020. “The store window, in particular, as the primary mise-en-scène of the designs and desires of Weimar consumerism, was host to the daily (and especially nightly) acts of seduction that occurred on the city street.“ Vgl. Janet Ward: Weimar Surfaces: Urban Visual Culture in 1920s Germany, Berkeley 2001, S. 191. Vgl. auch Anthony Vidler: Die Explosion des Raums: Architektur und das filmische Imaginäre. In: Dietrich Neumann (Hg.) Filmarchitektur. Von Metropolis bis Blade Runner, München/New York 1996, S. 13.

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ternen, Scheinwerfern von Autos, mit dem von Regen oder Abnutzung glänzend gewordenen Asphalt, den beleuchteten Fenstern geheimnisvoller Häuser, dem Lächeln geschminkter Dirnen“ 19 zur Verkörperung des Schicksals an sich und damit zu einer mit Leben erfüllten Hauptfigur der Filme. Es gibt ein sehr enges Verhältnis zwischen der filmischen Stadt innerhalb der westlichen Filmgeschichte im Allgemeinen und der deutschen Filmgeschichte. Durch die von Walter Panofsky eingeführten Begriffe wie „Dynamisierung des Raums“ und „Verräumlichung der Zeit“ wurde die filmische Stadt zu einem sehr dynamischen Wahrnehmungsdispositiv der Filmgeschichte weltweit. 20 Guntram Vogt erklärt den Unterschied zwischen den Begriffen Stadt im Film / Stadtfilm / filmische Stadt. Filmische Stadt als Ausdruck gewinnt an definitorischer Relevanz, wenn die Stadt bewusst mitinszeniert wird, wenn sie nicht nur als Schauplatz oder Kulisse fungiert, sondern als dramatische und dramaturgisch wichtige Figur in Erscheinung tritt, wenn sie über ihre zahllosen Funktionen als Mitakteur das Geschehen bestimmt. 21 Vogt argumentiert, dass die Rede von der ‚filmischen‘ oder der ‚kinematographischen Stadt‘ am Besten geeignet ist, nicht nur jene erwähnte dramaturgische Funktion zu benennen, mit der die Stadt ins filmische Geschehen ‚handelnd‘ eingreift, sondern auch die ästhetische Konstruktion und ihre auf das Publikum bezogene Wirkungsabsicht ins Bewusstsein zu bringen. 22

Zur Entstehungsgeschichte des Films Karl Grune wurde 1890 in Wien als Berthold Grünwald in eine jüdische Familie geboren und begann seine Showbusiness-Karriere als relativ erfolgreicher Theaterschauspieler. Als Veteran des Ersten Weltkriegs, der an der Ostfront kämpfte und verwundet wurde, kam Grune 1918 nach Berlin, wo er am Deutschen Theater und am Residenztheater spielte. Mit Hilfe seines Schwagers Max Schach gelang ihm der Einstieg in die Filmindustrie. Die Produktionsfirma Stern Film, die den Film Die Straße produzierte, war im Besitz von Grune und Max Schach. 1933 emigrierte Grune nach England. 1936 kam sein letzter Film heraus, A Clown must laugh. Nach Kriegsende entschied er sich nicht nach Deutschland zurückzukehren und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1962 in England. 19 20

21 22

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Vgl. Lotte H. Eisner: Die dämonische Leinwand. Frankfurt am Main 1980, S. 253. Panofsky Walter: Die Geburt des Films. Ein Stück Kulturgeschichte. Versuch einer zeitgeschichtlichen Darstellung des Lichtspiels in seinen Anfangsjahren, Würzburg 1940. Vgl. auch Prümm, Karl: „Empfindsame Reisen in die Filmstadt – Dimensionen des Scheins“. In: Wolfgang Jacobsen (Hg.), In: Babelsberg. Berlin 1992, S. 117–134. Zitiert bei Vogt, S. 26–27.

Die im Film gezeigten Straßenbauten wurden auf dem Gelände der 1921 gegründeten efa (europäische Film Allianz) errichtet. Die Straße selbst war 75 m lang, obwohl sie einen viel längeren Eindruck macht. Karl Görge war zusammen mit dem expressionistischen Maler Ludwig Meidner für die Bauten zuständig. Der Erfolg dieser Errichtung wurde überall gefeiert. Der Filmkritiker Willy Haas kommentierte ausführlich nicht nur die außerordentliche Form der Studio-Straße, sondern auch ihre sehr innovative Funktion als eine eigenständige Filmfigur, ja als Hauptperson. Er schreibt, wie beeindruckend es war „die nächtliche Großstadtstraße, dieses Meer von Lichtern, Trunkenheit, Ausschweifung, Verbrechen und Elend zum ersten Mal nicht bloß als dekoratives Element, sondern als aktiven Mitspieler als eine Art synthetisch aufgefaßte Hauptperson gesehen“ 23 zu haben. Der Untertitel von Grunes Die Straße, „Film einer Nacht“, rückte die besondere Atmosphäre des Films in den Fokus und markierte das Genre. Der Film ist in die Stimmung der Zeit mit ihren großstadtzentrierten Motiven gut eingebettet. In der technischen Handhabung aber war der Film seiner Zeit weit voraus. Grune setzt den narrativen Pfad von Georg Kaisers gleichnamigem Theaterstück Von morgens bis mitternachts (1912) fort, das Karl Heinz Martin 1920 in expressionistischer Manier verfilmt hatte. Dieser Film kann auf mehreren Ebenen als Vorgänger für Grunes Film betrachtet werden. Die Protagonisten beider Filme sind als Bankkassierer tätig, führen ein ziemlich eintöniges Leben, hegen Pflichtgefühle dem „trauten Heim“ gegenüber (das ist ein wiederholt vorkommender Ausdruck in dem Film Von morgens bis mitternachts). Gleichzeitig sehnen sie sich nach einem lustvollen, freien Leben. Nach dem Kriegstrauma war es wahrscheinlich praktisch und ästhetisch überzeugend einen Protagonisten zu wählen, der ein stabiles Leben als Bankkassierer führt. Kriegskrüppel als Hauptdarsteller in einem Straßenfilm zu zeigen, der nervös auf physische Bewegung und sexuelle Verführung reagiert, hätte nicht zur Großstadtästhetik gepasst. Die engen Wohnräume werden für den Filmstoff zum Stützfaktor, um ihnen die schillernde Verlockung der Welt „da draußen“ gegenüberzustellen. Für die Mehrheit der Zuschauer der damaligen Zeit barg das kleinbürgerliche Setting und die Rastlosigkeit der Protagonisten Identifikationspotenzial. Die nächtliche Straße auf der Leinwand wurde zu einer kleinen Flucht aus ihrer eigenen Unruhe und der Eintönigkeit des Alltags. Das Motiv des Totenkopfs taucht in beiden Filmen auf. In dem Film Von morgens bis mitternachts kommt der Totenkopf sehr häufig vor – und das als Spiegelbild mehrerer Gefühlsschattierungen wie Todesangst, fast wie ein „Memento mori“, aber auch für Schuldgefühle und Reue. In dem Film Die Straße kommt diese Todessymbolik nur einmal vor als der Protagonist eine charmante Prostitu23

Haas, Willy: „Nächtliche Großstadtstraße im Film“. In: Film-Kurier Nr. 7 vom 8. Januar 1924. Zitiert bei Vogt, S. 107–108.

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ierte verfolgt. Dieses expressionistische Motiv dient nicht nur als ein Warnzeichen für den Protagonisten, sondern auch für die Zuschauer: Die nächtliche Straße lockt einen fahrlässigen Mann in das Netz der weiblichen Prostitution. Es kann nicht gut enden, d.h. die „unsittlichen“ Absichten des Nachtschwärmers werden entsprechende Konsequenzen haben. Die Prostituierte als eine öffentliche Frau der Straße war ein oft gebrauchtes und nützliches Gegenstück zu der anderen Frau im geschützten Raum als verzeihende, mütterliche, fürsorgliche Vertreterin der regulierten Familie, kurz des trauten Heimes. Grunes Film, der eine komplexe, zweischichtige Handlung aufweist, trägt zwar auch gewisse expressionistische Züge, im wesentlichen aber definierte er das „Urbane“. Die kürzeste Zusammenfassung seines Inhalts wäre der Versuch eines Kleinbürgers aus seiner alltäglichen Enge in die moderne Straße der Großstadt auszubrechen, wobei die Straße und die Stadt ineinander übergehen und ein „imaginierter Inbegriff von Lebendigkeit und unbekannter Lusterfüllung“ werden. 24 Die zum ersten Mal für eine Filmproduktion in Deutschland gebaute „Atelier-Straße“ war die Hauptattraktion von Grunes Film und filmarchitektonisch gesehen ein gigantischer Fortschritt im Vergleich zu früheren Straßenfilmen wie Von morgens bis mitternachts. Obwohl Die Straße keine fragmentierten und eckigen bzw. einstürzenden Filmbauten hatte, erhielt der Film seine expressionistische Signatur durch die animierten Stadtlichter, das Licht-Schattenspiel an den Wänden des kleinbürgerlichen Wohnzimmers und die abwechslungsreiche Inszenierung der Stadt-Straße. Der Film beginnt mit dem Blick in den kleinbürgerlichen Wohnraum eines Bankkassierers. Man sieht ihn noch in seiner Arbeitskleidung vollständig bekleidet samt Mantel auf dem Sofa liegen und an der Decke die Schatten der Bewegungen auf der Straße vor der Wohnung verfolgen. Er wird sichtlich immer rastloser in seinem Begehren, an dem pulsierenden Leben da draußen teilzunehmen. Im Vergleich mit den verlockenden und dynamischen Bewegungen von Menschen und Fahrzeugen auf der Straße wirkt das Leben im Wohnungsinneren wie stillgestellt. Für eine Weile begleiten die Zuschauenden die traditionell gekleidete und mit jedem Atemzug ihre Hausfrauenrolle lebende Ehefrau des Protagonisten. Sie bereitet ohne jedwede kommunikative Geste das Abendessen vor und deckt den Tisch in der Erwartung familiärer Harmonie beim gemeinsamen Abendessen mit dem Ehemann. Der Mann aber tritt wie gebannt von den Schattenbildern ans Fenster. Der innere Drang aus der Langeweile und der Enge des Alltags auszubrechen, nimmt überhand, zieht ihn weg aus der Wohnung auf die Straße. Plötzlich ergreift er seinen Stockschirm und verschwindet blitzschnell aus der Wohnung. Die zurückgelassene Frau nimmt das Abendessen 24

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Vogt, S. 104.

emotionslos allein zu sich, hebt aber die Suppenportion des Mannes in einer Schüssel auf und hält sie im Kachelofen warm. Das Flanieren des Protagonisten beginnt mit einem kindlich-aufgeregten Gesichtsausdruck. Auf die verschiedenen Verlockungen der Straße reagiert der Mann wie überwältigt. Er verweilt einige Zeit vor den einladenden Schaufenstern, in denen er den Straßenverkehr widergespiegelt sieht. Dann trifft er eine junge, attraktive Frau, die eine erotisch aufgeladene Abenteuerlust in ihm erweckt. Gleich am Anfang findet sich eine stilisiert-expressionistische Szene, als sich das Gesicht der jungen Frau für kurze Zeit in einen Totenschädel verwandelt.

Diese Aufnahme erzeugt mit dem Motiv des Totenschädels einen Kontinuitätsstrom zu früheren Filmen. Karl Heinz Martins Film Von morgens bis mitternachts verwendet dieses Motiv dreimal in seinem Film, wo sich die Gesichter junger Damen in einen Totenschädel verwandeln. Das erfüllt mehrere Funktionen: erstens als Mahnung vor dem Tod, dem absoluten Ende als Ergebnis der unsittlichen Lust und dem Abenteuer auf der Straße, zweitens als Ausdruck der eigenen Gewissensbisse, das „traute Heim“ mit einer sehr temporären Lusterfüllung zu vertauschen, und drittens als metaphorische Sinnstiftung der Stadt-Straße selbst, als das sinnlich-erotischverführerische Emblem der Moderne. Die Abenteuer des Protagonisten führen die Zuschauenden in die Nacht-Cafés und Tanzlokale Berlins. Man sieht die für die damalige Zeit typischen Logen mit Vorhängen. Die Filmfiguren lassen sich in das Hell-

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Dunkel-Muster einteilen: es gibt den erfahrungshungrigen Protagonisten, der den dunklen Gefahren der Abenteuer draußen auf der Straße noch nicht gewachsen ist; es gibt den reichen Provinzler, der schließlich ermordet wird; und dann gibt es in einer Parallelhandlung noch den blinden Vater, dessen Sohn als Zuhälter arbeitet. Dazu die Ganoven-Freunde des Zuhälters, die Prostituierte und als disziplinierend-überwachende Instanz des StraßeStadt-Universums die Polizisten. Die Ganoven versuchen den reichen und leichtsinnigen Provinzler auszurauben; er wird in der Wohnung der Prostituierten ermordet. Der Kassierer ist ebenfalls der Frau gefolgt und befindet sich zum Zeitpunkt des Mordes im Zimmer nebenan. Wie zur Strafe für seine nächtlichen „Schritte vom Wege“ 25 wird der Kassierer von der Polizei als Verdächtigter festgenommen. Er denkt in der Polizeizelle sogar an Selbstmord, aber dank einer Bemerkung der kleinen Tochter des Zuhälters wird er wieder freigelassen. Die Ehefrau des Protagonisten wirkt schließlich wie eine stumme Zeugin der Geschehnisse. Sie nimmt die reumütige Rückkehr des kurz verlorengegangenen Mannes wie selbstverständlich hin und wärmt ihm auf dem für die heutige Zeit fast absurd wirkenden Höhepunkt des Films die aufbewahrte Suppe am frühen Morgen wieder auf. Die Straße als ein außerordentlicher Schauplatz Warum war die Straße als Ort und auch als vielschichtiger Raum für die Moderne so wichtig? In Großstädten wie Berlin war die Straße ein Schwellenraum, der die Opposition zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten aufhob. Die oft zitierten Faktoren wie Berlins Überbevölkerung in den 1920er Jahren, das Nachkriegstrauma, die technologischen Innovationen und die Zuwanderung nach Berlin 26 bildeten den explosiven Boden, auf dem bisherige Vorstellungen der Subjektivität erschüttert werden konnten. Georg Simmel verfasste schon vor Anbruch der ‚goldenen Zwanziger Jahre‘ der Weimarer Republik zwei Texte, die als Prognose der kommenden Zeit dienen sollten. Es handelt sich dabei um Die Großstädte und das Geistesleben (1903) und Philosophie des Geldes (1900). Diese Texte waren Anfang des 20. Jahrhunderts Pioniertexte im Bereich der urbanen Soziologie. Georg Simmels größter Beitrag ist die Verbindung des äußeren technischzivilisatorischen Gerüsts der Großstadt mit dem Geistesleben der Menschen, die sich direkt oder indirekt den Einflüssen der Großstadt unterwerfen. Die Großstadt steht metaphorisch für alles, was man mit der Moderne assoziiert. Wenn man sich eine Gestalt vorstellen möchte, die die Moderne verkörpert, dann ist es die Großstadt mit allen Merkmalen, die „im Körper 25 26

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Anspielung auf den Film Der Schritt vom Wege (1939) als Literaturverfilmung von Theodor Fontanes Klassiker Effie Briest in der Regie von Gustav Gründgens. Kästner, Erich: „Berlin in Zahlen.“ In: Berlin ist ein Gedicht. Lyrische Grüße aus der Hauptstadt. Hg. von Peter Geißler, Frankfurt a.M. 2. Auflage 2002, S. 31.

der Stadt die Feinstrukturen der immateriellen Vergesellschaftungsprozesse als seine Seele“ 27 beherbergt. Was sind diese Merkmale? Es sind die technisch-zivilisatorischen Entdeckungen bzw. Erfindungen wie Elektrizität, die Lokomotive, Telefon, moderne Verkehrsmittel wie die U-Bahn und dergleichen. Diese modernen Leichtigkeiten haben die Vergesellschaftungsprozesse entscheidend beeinflusst. Die diversen Unterhaltungsmöglichkeiten in einer Großstadt haben dem Geld mehrfache Dimensionen verliehen. Simmel nennt es den Generalnenner. In diesem Sinne sagt Lothar Müller, dass die Großstadt die Mythologie der Moderne und die Topographie der Mythologie ist. Jede Mythologie hat einen örtlichen Rahmen. 28 Die Stadt-Straße als Weiblichkeitsbild Vergleichbar mit Michel Foucaults „Heterotopien“ 29 weigert sich Doreen Massey allen Räumen Homogenität zu gewähren und diese in Anpassung an ein Telos zu definieren. Sie betont stattdessen die Komplexität der Orte, um Vielseitigkeit der Stimmen, der Physiognomien, der Erfahrungen, ihre gleichzeitige Existenz zu ermöglichen. 30 Barbara Kostas Behauptung, dass „der Raum […] ein Ergebnis von Praktiken und Konstruktionen [ist]“ 31 lässt sich im Kontext des Straßenfilms genau belegen. Insbesondere mit Bezug auf die „Vergeschlechtlichung (Gendering) des Raums/Orts“ 32 gibt es inzwischen sehr viel Forschung über den Genderaspekt und dessen Einsatz bei der kulturellen Kodierung bestimmter Räume. Für viele Bürger der Weimarer Republik rief die erhöhte Sichtbarkeit der Frauen in den Straßen ein Gefühl der Unbehaglichkeit hervor und löste große Besorgnis in Bezug auf den Untergang der Familie und die Beschmutzung des traditionellen Weiblichkeitsbildes aus. Denn der Eintritt der Frau in die öffentliche Sphäre sexualisiert die Straße auf unheilverheißende Weise. Daher wurde die Straße als Bühne der städtischen Moderne und die Frau als ihre grenzüberschreitende Energie dargestellt. 33

Die Überblendung des verführerischen Gesichts einer Frau in der Straße mit einem Totenkopf in den Filmen von Karl Grune und Karl Heinz Martin 27 28

29 30 31 32 33

Vgl. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt a.M. 2006. Vgl. Müller, Lothar: „Die Großstadt als Ort der Moderne“. In: Klaus Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek 1988, S. 14–36. Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Übersetzt aus dem Französischen von Michael Bischoff, Frankfurt am Main 2013. Massey, Doreen: „Space, Place and Gender“. Zitiert bei Kosta, S. 227. Kosta, S. 227. Ebd. Kosta, S. 228.

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beruht auf der Prämisse, dass Annäherungsversuche an die „öffentlich verfügbaren“ Frauen Unheil bringen. Ein Gemälde von Jeanne Mammen evoziert im kritischen Sinne die zu dieser Zeit gängige Vorstellung von Frauen mit einem Absinthglas in der Öffentlichkeit. 34 Die Straßenfilme der 1920er Jahre bestätigten die Binarität der Frauenbilder innerhalb des Kodex der Sittsamkeit. Filme wie Von morgens bis Mitternachts, Sunrise (Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen) von Murnau und Die Straße reproduzieren eine bekannte Typologie von Frauenfiguren hin: Die Frau da draußen auf der Straße vs. die Frau daheim. Das Aussehen und die Kleidung beider Typen unterscheiden sich grundsätzlich; auf die interpretativen Konnotationen zwischen dem „Sittlich-Häuslich-Privaten“ und dem „Unsittlich-Verführerisch-Öffentlichen“ kann ich hier nur hinweisen. Die Bilder der neuen Frau, die als Angestellte nicht nur ihr eigenes Geld verdiente, sondern die auch ihre Bewegungsfreiheit und ihre Freiheit das frei verfügbare Einkommen selbst auszugeben zelebrieren konnte, gingen noch nicht in den zeitgenössischen Film ein. Deshalb ist der Film Die Straße sowohl historisch wie für die Entwicklungsgeschichte des Films ein wichtiger Moment in der Geschichte des deutschen Films. Die Straße wirkt in erster Linie als heterosexueller Raum und wird zum Versuchsfeld für eine Gesellschaft im Grenzzustand, d.h. in einer Zeit, in der sich die Kultur sowohl verunsichert als auch unsicher, im Übergang und im Prozess des Neu-Definiert-Werdens befindet. Die Straße steht stellvertretend für einen Übergangsraum, der im Kontext der Weimarer Republik auch als Ort unordentlicher Beziehungen galt. Die Grenzen von Klasse und Gender werden hier verwischt, und das Verlangen wird hinter dem Schleier der Anonymität ausgelebt. 35

Die Straßenfilme weisen in Stil und Technik avantgardistische Elemente auf, bleiben aber in der Konvention gefangen. Aus feministischer Sicht bieten die Straßenabenteuer nur eine leichte Ablenkung und Abwechslung aus der Alltagsmisere der männlichen Nachtschwärmer. Für die häuslichen Frauen im geschützten Raum gibt es keine Alternative derselben Alltagsmisere zu entfliehen. Die öffentlichen Frauen auf der Straße dienen als Vehikel der Ablenkung bzw. Abwechslung und erscheinen selten aus der Perspektive ihrer eigenen Subjektivität. Die Straße bzw. die Stadt galten metonymisch für das Mysteriöse, das Enigmatische und eigneten sich perfekt für eine Darstellung des Weiblichen im Zeichen des Verführerischen. Zahlreiche Studien befassen sich mit der Überlappung des städtischen Raumes und dem Gefährlichen, im Schreckli-

34 35

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Mammen, Jeanne: „Frau mit Absinthglas (Moulin Rouge)“ um 1908–1914, Jeanne Mammen Stiftung, Berlin. Kosta, S. 232.

chen endenden Weiblichen. Die Symbolik der Hure Babylon unterstreicht die Verbindung zwischen Körper und Konsum. Patrice Petro weist in diesem Zusammenhang auf einen sehr wichtigen Punkt hin, nämlich dass die metonymische Bezeichnung Berlins als begehrenswerte Frau in vielen Werken der Literatur und der visuellen Künste nicht ohne weiteres als repräsentativer Kommentar zur Situation der Frauen in der Weimarer Zeit zu verstehen ist. Dort kommt die Frau meistens als Objekt der Verführung und als Warnsignal für Gefahr aus männlicher Perspektive vor. 36 Auch für Siegfried Kracauer bleiben die in den Straßenfilmen angedeuteten Alltagsfluchten und rebellischen Akte gegen die Spießigkeit autoritäre Strukturen: „Die Straßenfilme propagieren zwar die Flucht vor der Häuslichkeit, dies aber immer noch im Namen des autoritären Verhaltens.“ 37 Dieses Motiv sei allen Straßenfilmen gleich: „In allen bricht die Person mit den sozialen Konventionen, um ein Stück Leben zu ergattern, aber die Konventionen erweisen sich als stärker als der Rebell und zwingen ihn entweder zur Unterwerfung oder zum Selbstmord.“ 38 Die diversen Kunstformen der goldenen Zwanziger Jahre waren nicht viel anders als die Wissenschaft und die Technik dieser Zeit – man feierte nur das Materielle und nuancierten Genderaspekten schenkte niemand Aufmerksamkeit. Schlimmer noch war, dass den Frauen beider Kategorien, gleich ob öffentlich sichtbare, die Straße respräsentierende Frau oder die Frau am heimischem Herd, keinerlei Dynamik bzw. Mobilität gewährt wurde. Barbara Kosta formuliert treffend: [f]olglich wird das berauschende Zusammentreffen mit der Moderne am Ende gegen den Stillstand des Heimes eingetauscht. Günstigerweise verschwinden die schlechten Frauen, sie dienen nur als Requisiten im Test der Männlichkeit, die den Begriff von sozialer Ordnung und im Einverständnis mit der Hegemonie des Bestehenden prägt. 39

Flaneurbilder und Moderne in den Straßenfilmen Eine andere Gestalt, die ihre Existenz und Anerkennung in der Metropole der Moderne zelebrieren konnte, ist die des Flaneurs. Es war durch den Blick eines Flaneurs, dass die öffentliche Sphäre, der städtische Raum, die unbegrenzte Freiheit besonders bei Nacht die Stadt zu erkunden, die Erhö36

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Petro, Patrice: “Modernity and mass culture in Weimar: Contours of a discourse on sexuality in early theories of perception and representation”. New German Critique, Winter 1987, No. 40, Special Issue on Weimar Film Theory pp. 115–146, 117. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Frankfurt am Main 1984, S. 169. Ebd., S. 133–134. Kosta, S. 233.

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hung angeblich unauffälliger Objekte in feinsinniges Bewusstsein eine neue Subjektivität gewinnen konnten. Eine Fülle von Schriften namhafter Kritiker und Schriftsteller wie Franz Hessel, Walter Benjamin, Charles Baudelaire, um nur die wichtigsten zu nennen, sind ausschließlich von dem männlichen Blick ausgegangen. Die Flaneurstudien sind für ein näheres Verständnis der Erkundung und Erprobung des städtischen Raums sehr wichtig. Aber genauso wichtig sind kritische Auseinandersetzungen mit der männlichen Flanerie aus der Genderperspektive. Elisabeth Wilson befasst sich mit der Behaglichkeit in den Schriften von Walter Benjamin bei der Überschreitung der Grenzen zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre und stellt fest, dass dieses feinsinnig/erhöhte städtische Bewusstsein in Essenz ein männliches Bewusstsein [war]. Sexuelle Unbehaglichkeit und Streben nach Sexualität außerhalb der Fesseln der Familie war eine ihrer Hauptbeschäftigungen. Schon das ließ die Anwesenheit der Frauen in den Städten zum Problem werden. 40

Schluss In seinem Aufsatz „Schauplätze des Verlangens“ geht Anton Kaes auf das futuristische Gemälde Der Lärm der Straße dringt ins Haus von Umberto Boccioni ein. 41 Dort beschreibt Kaes die Verlockungskraft der Straße und ihre berauschende Wirkung auf das Individuum. Ich möchte hier im filmsprachlichen Sinne einen ‚Jump Cut‘ wagen und vom Krisenjahr 1923 ins Krisenjahr 2023 springen. Bei Boccioni überwältigt die Öffentlichkeit auf der Straße das Privatleben des Individuums. Gegenwärtig braucht das Individuum sich aber gar nicht nach der Welt da draußen zu sehnen. Die ubiquitären sozialen Medien und unzählige Apps kontrollieren die private Welt eines Menschen fast in allen Bereichen: Essen, Kleidung, Beruf, Freizeit bis hin zum Erotischen. Dadurch verwischen sich rasch die Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Die digitalen Innovationen führen oftmals zu sozialer Isolation im realen Leben. Menschen überall auf der Welt finden sich mit einer Art Simulation des Lebens auf ihren Bildschirmen ab und empfinden gar kein Verlangen mehr nach einer Stimulation für ein ‚waschechtes‘ Leben. Liebespaare schauen mehr auf ihre jeweiligen Handys als einander in die Augen. Im Zeichen der künstlichen Intelligenz ändern sich die Konnotationen fast jeden Begriffes im Titel meines Beitrags. Die Algorithmen der digitalen Überwachung suchen die für einen bestimmten User passenden Angebote aus; damit verblasst der Charme der Schau40 41

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Zitiert bei Kosta, S. 231. https://libmma.contentdm.oclc.org/iiif/info/p15324coll10/63590/manifest.json (letzter Zugriff am 5. Mai 2023)

fenster. Der menschliche Körper spielte eine Rolle, als es in den 1920er Jahren um Sexualität ging. Jetzt gibt es technisch reproduzierbare Möglichkeiten auf Bildschirmen jeglicher Art und Größe. Die damaligen Filme ließen das Frauenantlitz in einen Totenschädel verwandeln, um vor den lauernden Gefahren zu warnen. Jetzt konkurriert man mit dem eigenen Spiegelbild, wenn man den Schädel von dem Kopf unterscheiden möchte.

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Jutta Müller-Tamm

Albert Einsteins Berliner Jahre Albert Einstein ist der bekannteste Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, eine Kultfigur, ein Medienstar, ein Mythos. Mit Blick auf Berlin im Krisenjahr 1923 und auf die Parallelwelten in Kunst, Literatur und Wissenschaft soll im Folgenden Einstein nicht als Physiker, sondern als öffentliche Figur vorgestellt und insbesondere die literarische Rezeptionsgeschichte der Relativitätstheorie betrachtet werden. Interessanterweise lässt sich an Einstein selbst das im Zusammenhang dieser Vorlesung interessierende Phänomen der Parallelwelten exponieren, und das auf zweierlei Weise: Zum einen erscheint die Relativitätstheorie in der öffentlichen Wahrnehmung der Zeit selber als eine Art Parallelweltentheorie. Sie wird nämlich dadurch so prominent und wirkt so attraktiv, weil sie als Ausdruck einer in Bewegung geratenen, pluralen, in verschiedene Welten zerfallenden Welt wahrgenommen wird. Und zum anderen erzeugt diese öffentliche Wahrnehmung ihrerseits wiederum parallele Welten, in denen ein und derselbe Mensch und ein und dieselbe Theorie höchst unterschiedlich beurteilt werden: So wird die Relativitätstheorie seinerzeit zugleich als globale Wissenschaftsrevolution, als Erfolg eines deutschen Forschers, als jüdische Weltverschwörung, als philosophische Grundlegung der eigenen Zeit oder als wissenschaftlicher Nonsens angesehen; es handelt sich gewissermaßen auch um parallele Welten, in denen die Relativitätstheorie ganz Unterschiedliches, ja Entgegengesetztes bedeutete. 1. Einstein in Berlin: Stationen seines Lebenswegs 1 Albert Einstein wurde im Juli 1913 als ordentliches Mitglied in die Akademie der Wissenschaften zu Berlin gewählt und auf eine Professur an der Friedrich-Wilhelm-Universität berufen. Diese Professur war mit 12.000 Mark Jahresgehalt plus 900 Mark Ehrensold ausgestattet. Es war das höchste Gehalt, das seinerzeit überhaupt für eine Professur gezahlt wurde, wobei 1

Zu Einsteins Leben und insbesondere seinen Berliner Jahren vgl. Renn, Jürgen (Hg.): Albert Einstein. Ingenieur des Universums, 3. Bde., Berlin 2005; Grundmann, Siegfried: Einsteins Akte. Wissenschaft und Politik – Einsteins Berliner Zeit, Berlin, Heidelberg 22004; Hoffmann, Dieter: Einsteins Berlin. Auf den Spuren eines Genies, Weinheim 2006.

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Einstein auf seinem neuen Posten in Berlin keine Lehrveranstaltungen abhalten musste; die einzige Verpflichtung bestand darin, an den wöchentlichen Sitzungen der Akademie teilzunehmen. Weiterhin war zugesagt, für ihn ein Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Forschung zu gründen. „Ostern gehe ich nämlich nach Berlin als Akademie-Mensch ohne irgendwelche Verpflichtung, quasi als lebendige Mumie. Ich freue mich auf diesen schwierigen Beruf!“ 2 so Einstein in einem Brief an seinen Freund Jakob Laub. Bei der Entscheidung für Berlin spielten neben der herausragenden Bedeutung von Berlin als wissenschaftlichem Standort, der Freiheit von Lehrverpflichtungen und der üppigen Ausstattung und Entlohnung auch private Umstände eine Rolle; Einstein hatte 1912 ein Liebesverhältnis mit seiner Cousine Elsa, die in Berlin lebte, begonnen. Natürlich erging ein solch außergewöhnlicher Ruf nicht an einen Unbekannten. Einstein hatte sich bereits mit bahnbrechenden Veröffentlichungen einen Namen gemacht. Seit 1895 lebte der gebürtige Ulmer in der Schweiz; in Zürich hatte er Physik studiert und besaß seit 1901 die Schweizer Staatsbürgerschaft. Seit 1902 arbeitete er beim Berner Patentamt – der „berühmteste Patentbeamte aller Zeiten“, wie er hinterher genannt wurde; immerhin blieb er sieben Jahre auf diesem Posten. 1905 ist dann als das annus mirabilis in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen, insofern Einstein im Verlauf von nur wenigen Monaten mehrere wegweisende Arbeiten veröffentlichte: zur sogenannten Lichtquanten-Hypothese (hierfür bekam er später den Nobelpreis, weil die Relativitätstheorie zu umstritten war), über Eine neue Bestimmung der Moleküldimensionen, zur Elektrodynamik bewegter Körper und zum Verhältnis von Energie und Masse; allesamt in den Annalen der Physik veröffentlicht, Publikationen, die seinen Ruhm in der scientific community begründeten. 1909 trat Einstein eine Professur an der Universität Zürich an, 1911 folgte er einem Ruf an die deutsche Universität in Prag, 1912 an die ETH Zürich. Und dann also Berlin. Nach einer kurzen Zwischenphase, in der seine Frau Milena mit den beiden Söhnen nach Berlin kam, kehrten diese nach Zürich zurück und Einstein blieb mit Elsa in Berlin, die er einige Jahre später, 1919, kurz nach der Scheidung von seiner ersten Frau, heiratete. Nur vier Monate nach Einsteins Ankunft in Berlin, am 1. August 1914, begann mit der „kaiserlichen Mobilmachung“ der Erste Weltkrieg. „Unglaubliches hat nun in Europa in seinem Wahn begonnen. In solcher Zeit sieht man, welch trauriger Viehgattung man angehört“, 3 schrieb Einstein an seinen Freund und Kollegen Paul Ehrenfest. Anders als viele seiner kriegs2 3

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Einstein, Albert: Brief an Jakob Laub, 22. Juli 1913, in: The Collected Papers of Albert Einstein, ed. J. Stachel u.a., Princeton 1987–2004, Vol. 5, S. 538. Einstein Albert: Brief an Paul Ehrenfest, ca. August 1914, in: The Collected Papers of Albert Einstein, ed. J. Stachel u.a., Princeton 1987–2004, Vol. 8A, S. 56.

befürwortenden Kollegen – unter anderem auch Max Planck, der Einstein nach Berlin geholt hatte –, anders auch als viele Künstler und Intellektuelle wie Gerhart Hauptmann und Max Reinhardt, unterschrieb Einstein nicht den militaristischen „Aufruf an die Kulturwelt“, der der geistigen Mobilmachung dienen sollte, sondern vielmehr das Gegenmanifest „An die Europäer!“, in dem für Völkerverständigung und eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges geworben wurde. Bald trat Einstein auch dem im November 1914 gegründeten Bund Neues Vaterland bei, der sich für den Frieden und eine parlamentarische Demokratie engagierte; der Bund wurde allerdings 1916 verboten, 1918 wiedergegründet und 1922 in die Nachfolgeorganisation, die Liga für Menschenrechte, überführt, in der sich Einstein kontinuierlich engagierte und auch verschiedene Ämter innehatte. In der Kriegszeit hatte Einstein auch die langwierige Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie abgeschlossen. Diese stellt eine Erweiterung der Speziellen Relativitätstheorie auf beliebig gegeneinander bewegte Bezugssysteme dar, wodurch die Gravitationskraft in die Theorie einbezogen werden konnte. Ebenfalls zu Kriegszeiten veröffentlichte Einstein seine „gemeinverständliche“ Darstellung der Relativitätstheorie, auf die ich unten noch eingehen werde. Nach Kriegsende, im Jahr 1919, begann dann das, was man bald den „Relativitätsrummel“ nannte. Grund dafür war die experimentelle Bestätigung der allgemeinen Relativitätstheorie durch zwei britische Expeditionen: Während einer totalen Sonnenfinsternis zeigten astronomische Beobachtungen, dass die von Einstein vorher theoretisch berechnete Lichtablenkung in Gravitationsfeldern zutraf. Eine Schlussfolgerung aus dem allgemeinen Relativitätsprinzip besagte, „daß sich Lichtstrahlen in Gravitationsfeldern im allgemeinen krummlinig fortpflanzen“; 4 ebendies wurde durch die Messungen im Rahmen der Sonnenfinsternis 1919 bewiesen. Die Nachricht löste weltweit ein enormes mediales Echo aus, die Entdeckung wurde als die wissenschaftliche Revolution, als Umsturz des gesamten physikalischen Weltbildes aufgefasst; und auch in Deutschland schlugen die Wellen hoch. Der Wissenschaftshistoriker Carsten Könneker hat in einem Aufsatz zur „Vulgarisierung der Relativitätstheorie“ in der Weimarer Republik über 150 deutschsprachige Periodika aufgelistet, in denen allein 1920/21 über Einstein und seine Theorie von der Relativität des Raumes und der Zeit berichtet wurde. 5

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Einstein, Albert: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. (Gemeinverständlich), Braunschweig 1917, S. 51 (im Original gesperrt). Könneker, Carsten: „Ungereimtheiten und Abstrusitäten“. Zur Vulgarisierung der Relativitätstheorie im 2. und 3. Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, in: Christine Maillard, Michael Titzmann (Hg.), Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935, Stuttgart 2002, S. 51–72.

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Die Allgegenwart Einsteins als Thema des öffentlichen Gesprächs und geselliger Runden hat seinerzeit der Publizist Alexander Moszkowski festgehalten. Moszkowski gehörte zu Einsteins Berliner Bekanntenkreis. Als Einstein nach Berlin kam, suchte Moszkowski Kontakt zu ihm und lud ihn zu den zwanglosen Treffen der „Literarischen Gesellschaft“ im Hotel Bristol ein. 1922 veröffentlichte er ein Gesprächsbuch mit Einstein, das er im Vorwort mit Eckermanns Gesprächen mit Goethe vergleicht: Kein Name wurde in dieser Zeit so viel genannt, wie der dieses Mannes. Alles verschwand vor dem Universalthema, das sich der Menschheit bemächtigt hatte. Die Unterhaltungen der Gebildeten kreisten um diesen Pol, kamen nicht davon los, kehrten […] immer wieder zum Thema zurück. Die Zeitungen machten Jagd auf Federn, die ihnen Längeres oder Kürzeres, Fachliches oder nur sonst irgend etwas über Einstein zu liefern vermöchten. An allen Ecken und Enden tauchten gesellschaftliche Unterrichtskurse auf, fliegende Universitäten mit Wanderdozenten, welche die Leute aus der dreidimensionalen Misere des täglichen Lebens in die freundlicheren Gefilde der Vierdimensionalität führten. Die Damen vergaßen ihre häuslichen Sorgen und unterhielten sich über Koordinatensysteme, über das Prinzip der Gleichzeitigkeit und negativ geladene Elektronen. Alle zeitgenössischen Fragen hatten einen festen Kern gewonnen, von dem sich zu all und jedem Fäden spinnen ließen: die Relativität war das beherrschende und erlösende Wort geworden. 6

Es liegt in dieser Darstellung natürlich eine gewisse Ironie: Ausgerechnet die Relativität sollte die einzige verlässliche Wahrheit sein; daran, dass es nichts Absolutes gebe, sollte man sich festhalten können. Tatsächlich wurde eben diese Relativität zum Signum der eigenen Zeit erklärt, die neue physikalische Theorie entsprach in der allgemeinen Wahrnehmung offenbar der schwierigen, politisch aggressiven Anfangszeit der Weimarer Republik, eine Umbruchszeit, die vom Gefühl der Unsicherheit und einer Krisenstimmung, die sich in den kommenden Jahren noch verstärken sollte, beherrscht war. Im Positiven wie im Negativen wurde die Relativitätstheorie als wissenschaftlich beglaubigte Diagnose eines moralischen, religiösen, kulturellen Pluralismus und Relativismus aufgefasst. Dabei führte die starke Publizität der Relativitätstheorie auch dazu, dass Einstein ins Visier der politisch Rechten geriet und Ziel antisemitischer Angriffe wurde. Im Sommer 1920 formierte sich die „Arbeitsgemeinschaft deutscher Naturforscher zur Erhaltung reiner Wissenschaft e.V.“ Sie begann eine Hetzkampagne gegen die Relativitätstheorie, unter anderem mit einer Vortragsveranstaltung, die am 24. August 1920 im Großen Saal der Berliner Philharmonie stattfand. Initiator Paul Weyland, in die Geschichte als 6

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Moszkowski, Alexander: Einstein. Einblicke in seine Gedankenwelt. Gemeinverständliche Betrachtungen über die Relativitätstheorie und ein neues Weltsystem. Entwickelt aus Gesprächen mit Einstein, Berlin 1922, S. 26.

„Berliner Einstein-Töter“ eingegangen, 7 beschuldigte Einstein, der wissenschaftlichen Öffentlichkeit physikalische Fiktionen zu präsentieren; die Relativitätstheorie sei das Produkt einer geistig verwirrten Zeit und „wissenschaftlicher Dadaismus“, ihre Berühmtheit verdanke sich allein der „Reklamesucht“ ihres Erfinders. 8 Einstein reagierte auf die Angriffe mit einem Artikel im Berliner Tageblatt „über die anti-relativitätstheoretische G.m.b.H.“, in der er zutreffend davon sprach, dass wohl „andere Motive als das Streben nach Wahrheit diesem Unternehmen zugrunde liegen“, dass er nicht als Wissenschaftler kritisiert, sondern als „Jude von freiheitlicher, internationaler Gesinnung“ diffamiert werden sollte. 9 Das Berliner Tageblatt sprang ihm bei und schaltete in derselben Ausgabe unter der Überschrift „Albert Einstein will Berlin verlassen!“ folgende Notiz: Die persönlichen Angriffe, die gegen Dr. Albert Einstein in der an dieser Stelle bereits gekennzeichneten Versammlung der ‚Arbeitsgemeinschaft deutscher Naturforscher‘ vorgebracht wurden, haben einen Erfolg gehabt, der für Berlin tief beschämend ist: Albert Einstein, angewidert von den alldeutschen Anrempelungen und den pseudowissenschaftlichen Methoden seiner Gegner will der Reichshauptstadt den Rücken kehren. So also steht es im Jahre 1920 um die geistige Kultur Berlins! Ein deutscher Gelehrter von Weltruf […] wird aus der Stadt, die sich für das Zentrum deutscher Geistesbildung hält, herausgeekelt. Eine Schande! Wir können es noch nicht glauben, daß in dieser Angelegenheit, die nicht nur für die Welt der Wissenschaft von Bedeutung ist, das letzte Wort gesprochen sein soll. Die Berliner Universität hat die Pflicht, alles zu tun, um diesen hervorragenden Lehrer und Gelehrten sich und Berlin zu erhalten. Und Albert Einstein, der über niedrigen Anwürfen steht, wird hoffentlich nach ruhigerer Ueberlegung seinen Feinden nicht den Gefallen erweisen, vor ihrem sinnlosen Geschrei den Platz zu räumen. Wer die

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Vgl. Kleinert, Andreas: „Paul Weyland, der Berliner Einstein-Töter“, in: Helmut Albrecht (Hg.), Naturwissenschaft und Technik in der Geschichte, Stuttgart 1993, S. 199–232. Weyland, Paul: „Wissenschaftlicher Dadaismus“. Manuskript von Paul Weyland (1920), in: Jürgen Renn (Hg.), Albert Einstein. Ingenieur des Universums, Dokumente eines Lebensweges, Berlin 2005, S. 337–348, hier S. 338. Das Stichwort der „Reklamesucht“ wird zitiert im Bericht des Berliner Tageblatts: E.V.: Die Offensive gegen Einstein. – Berliner Tageblatt, 25. August 1920. Vgl. auch Anke te Heesen: DADA/EINSTEIN. Ein Physiker in Papier, in: Michael Hagner (Hg.), Einstein on the Beach. Der Physiker als Phänomen, Frankfurt am Main 2005, S. 40–56, 294–297. Einstein, Albert: „Meine Antwort. Ueber die anti-relativitätstheoretische G.m.b.H.“, in: Berliner Tageblatt, 27. August 1920, S.1.

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Ehre deutscher Wissenschaft auch in Zukunft hochhalten will, muß jetzt zu diesem Manne stehen. 10

Auch wenn Einstein sich tatsächlich zunächst einmal nicht entschloss, ins Ausland zu gehen – und er hatte ehrenvolle Angebote, zum Beispiel von der Universität Leiden – verbrachte er in den Folgejahren viel Zeit unterwegs. 1921 unternahm er Vortragsreisen, unter anderem erstmals in die USA, nach Palästina und Frankreich, 1922 erneut nach Frankreich. 1922 wurde ihm der Physik-Nobelpreis für das Jahr 1921 verliehen. Einstein erfuhr davon auf einer Japanreise Ende 1922. 11 1923 reiste er nach England, Spanien, in die Tschechoslowakei, nach Japan und Palästina. Nähern wir uns mit Einstein dem Jahr 1923 an, dann entfernen wir uns also von Berlin. Und das nicht ohne Grund, denn Einstein hatte die berechtigte Sorge, dass er in Lebensgefahr war. Seit Außenminister Walter Rathenau am 24. Juni 1922 auf offener Straße von zwei antisemitischen Nationalisten ermordet worden war, hatte sich die Lage in Deutschland drastisch zugespitzt. Konkret eskalierte für Einstein die Situation aus Anlass eines geplanten Vortrags, den er in Leipzig auf der Jahrhundertfeier der renommierten Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte halten sollte. Im Vorfeld hatten Gegner Einsteins eine Protesterklärung in den Leipziger Neuesten Nachrichten veröffentlicht, in der sie betonen, dass durch Einsteins Vortrag der Eindruck erweckt würde, „als stelle die Relativitätstheorie einen Höhepunkt der modernen wissenschaftlichen Forschung dar“: Hiergegen legen die unterzeichneten Physiker, Mathematiker und Philosophen entschiedene Verwahrung ein. Sie beklagen aufs tiefste die Irreführung der öffentlichen Meinung, welcher die Relativitätstheorie als Lösung des Welträtsels angepriesen wird, und welche man über die Tatsache im Unklaren hält, daß viele und auch sehr angesehene Gelehrte der drei genannten Forschungsgebiete die Relativitätstheorie nicht nur als eine unbewiesene Hypothese ansehen, sondern sie sogar als eine im Grunde verfehlte und logisch unhaltbare Fiktion ablehnen. Die Unterzeichneten betrachten es als unvereinbar mit dem Ernst und der Würde deutscher Wissenschaft, wenn eine im höchsten Maße anfechtbare Theorie voreilig und marktschreierisch in die Laienwelt getragen wird, und wenn die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte benutzt wird, um solche Bestrebungen zu unterstützen. 12

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Anonym: „Albert Einstein will Berlin verlassen!“, Berliner Tageblatt, 27. August 1920, S. 3. Vgl. dazu auch den Beitrag von Michiko Mae im vorliegenden Band. Die Protesterklärung ist abgebildet in Wazeck, Milena: „‚Einstein auf der Mordliste!‘ Die Angriffe auf Einstein und die Relativitätstheorie 1922“, in: Jürgen Renn (Hg.), Albert Einstein. Ingenieur des Universums. Hundert Autoren für Einstein, Berlin 2005, S. 222–225, hier S. 222.

Das, was hier als wissenschaftliche Vorsichtsmaßnahme daherkommt, war de facto nichts anderes als ein politisches Statement. Zu den Unterzeichnern gehörte der Physiker Philipp Lenard, der 1905 den Nobelpreis für Physik erhalten hatte, der aber bereits zur Zeit des Ersten Weltkriegs zu den Gegnern der Relativitätstheorie gehörte und der sich im Lauf der 1920er Jahre zum Fürsprecher und Verfechter einer „Deutschen Physik“ und zum treuen Befürworter Hitlers entwickelte. Lenard zufolge ist „die Wissenschaft, wie alles was Menschen hervorbringen, rassisch, blutmäßig bedingt“; 13 nur von Ariern sei gute Wissenschaft zu erwarten. Auch der Experimentalphysiker Ernst Gehrke gehörte zu den Initiatoren der Protesterklärung; er hatte bereits auf der Vortragsveranstaltung in der Berliner Philharmonie 1920 eine unrühmliche Rolle als giftsprühender Redner gespielt. Einstein sah sich genötigt – und Freunde rieten ihm dringend dazu –, diese Ansage als Drohung ernst zu nehmen. Was er schließlich auch tat und einen Freund bat, seinen Vortrag zu verlesen. An Max Planck, seinerzeit Vorsitzender der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und verantwortlich für die Organisation der Feier, schrieb er: Kiel, 6. Juli 22. Lieber Kollege! Dieser Brief fällt mir nicht leicht; aber es muss doch sein. Ich muss Ihnen mitteilen, dass ich den versprochenen Vortrag an der NaturforscherVersammlung nicht halten kann, trotz meiner früheren festen Zusage. Ich bin nämlich von Seiten durchaus ernst zu nehmender Menschen (von mehreren unabhängig) davor gewarnt worden, mich in der nächsten Zeit in Berlin aufzuhalten und insbesondere davor, irgendwie in Deutschland öffentlich aufzutreten. Denn ich soll zu der Gruppe derjenigen Personen gehören, gegen die von völkischer Seite Attentate geplant sind. Einen sicheren Beweis dafür habe ich natürlich nicht; aber die gegenwärtig herrschende Situation lässt es als durchaus glaubhaft erscheinen. […] Die ganze Schwierigkeit kommt daher, dass die Zeitungen meinen Namen zu oft genannt und dadurch das Gesindel gegen mich mobil gemacht haben. Nun hilft nichts als Geduld und – Verreisen. Eines bitte ich Sie: Nehmen Sie dies kleine Vorkommnis mit Humor hin, wie ich es auch thue.

Mit freundlichen Grüßen Ihr A. Einstein 14

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Lenard, Philipp: Deutsche Physik in vier Bänden, München 1936, Bd. I, Vorwort S. IX. Einstein, Albert: Brief an Max Planck vom 6. Juli 1922, in: Diana Kormos Buchwald (Hg.), The Collected Papers of Albert Einstein, Vol. 13: The Berlin Years: Writings & Correspondence January 1922 – March 1923, Princeton 2012, S. 392.

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Wie schon 1920, zieht sich Einstein auch in dieser Situation nicht aus Berlin zurück. Tatsächlich wird er bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten hier bleiben; er engagiert sich weiterhin gegen allgemeine Wehrpflicht, für Völkerverständigung, Pazifismus und Demokratie. Noch Ende 1932 erklärte Einstein im Zusammenhang mit einer Reise in die USA – wo ihm in Princeton eine Stelle in einem neu zu gründenden Institute for Advanced Studies angetragen worden war –, sein ständiger Wohnsitz werde weiterhin Berlin sein. Wenige Wochen später übernahmen die Nationalsozialisten die Macht und noch einmal einige Wochen danach verkündete Einstein, dass er nicht nach Deutschland zurückkehren werde. Einstein blieb in den USA, 1941 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Er lebte bis zu seinem Tod 1955 in Princeton. 2. Relativitätstheorie (gemeinverständlich) Im Folgenden soll ein knapper Einblick weniger in Einsteins Relativitätstheorie – der Anspruch wäre vermessen –, als vielmehr in seine „gemeinverständliche“ Publikation zur Relativitätstheorie gegeben werden. In welcher Form hat Einstein selbst die Relativitätstheorie einer nicht-wissenschaftlichen Öffentlichkeit nahegebracht? Im Vorwort hat er dargelegt, welche Idee er mit dieser Publikation verband: Das vorliegende Büchlein soll solchen eine möglichst exakte Einsicht in die Relativitätstheorie vermitteln, die sich vom allgemein wissenschaftlichen, philosophischen Standpunkt für die Theorie interessieren, ohne den mathematischen Apparat […] der theoretischen Physik zu beherrschen. Die Lektüre setzt etwa Maturitätsbildung und – trotz der Kürze des Büchleins – ziemlich viel Geduld und Willenskraft beim Leser voraus. 15

Letzteres stimmt – und wie weit es mit der Allgemeinverständlichkeit her war und ist, darf man offenlassen. Der populärwissenschaftliche Anspruch wurde von Einstein selbst im Nachhinein relativiert. So ist überliefert, dass er später einsah, sein Buch hätte auch statt „gemeinverständlich“ den Untertitel „gemein unverständlich“ führen können; und Max Planck kommentierte: „Einstein glaubt, seine Bücher werden dadurch leichter verständlich, daß er von Zeit zu Zeit die Worte ‚Lieber Leser‘ einstreut.“ 16 Die Lizenz zum Nichtverstehen vermittelt auch eine Anekdote, die, wenn sie nicht stimmt, dann jedenfalls gut erfunden ist. 1931 lernten sich Einstein und Charlie Chaplin bei einer Filmpremiere kennen und angeblich entspann sich

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Einstein, Albert: Über die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. (Gemeinverständlich), Braunschweig 1917, S. III. Zitiert nach Fölsing, Albrecht: Albert Einstein. Eine Biographie, Frankfurt am Main 1995, S. 425.

ein Dialog, dessen Wortlaut in etwas voneinander abweichenden Variationen überliefert ist; eine davon lautet folgendermaßen: Einstein: „Was ich an Ihrer Kunst am meisten bewundere, ist ihre Universalität. Sie sagen kein Wort, aber die ganze Welt versteht Sie!“ Chaplin: „Stimmt. Aber Ihre Kunst ist noch größer! Die ganze Welt bewundert Sie, auch wenn keiner ein Wort davon versteht, was Sie sagen.“ 17

Die Schwierigkeit einer „gemeinverständlichen“ Darstellung der Relativitätstheorie tat dem Erfolg der Publikation allerdings keinen Abbruch: Auf die erste Auflage von 2000 Stück folgte im selben Jahr die zweite Auflage mit 1500 Exemplaren; die dritte, ergänzte Auflage umfasste 3000 Stück, 1919 kam ein vierte. Nach Bestätigung der Allgemeinen Relativitätstheorie 1919 gingen die Verkaufszahlen steil nach oben, fast monatlich wurde nachgedruckt, allein 1920 druckte der Vieweg Verlag 45.500 Exemplare. Nur der Papiermangel machte Probleme und begrenzte die Zahl der Druckexemplare. Die Monographie ist in drei Teile gegliedert: Der erste Abschnitt behandelt die Spezielle, der zweite die Allgemeine Relativitätstheorie; schließlich folgen „Betrachtungen über die Welt als Ganzes“. Einstein rekapituliert zunächst die Prinzipien der klassischen Mechanik und das als Trägheitsgesetz bekannte Grundgesetz der Galilei-Newtonschen Mechanik. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts herrschte weithin die Annahme, dass das Universum nach den Prinzipien der Newtonschen Mechanik funktioniert. Im 17. Jahrhundert war es Newton gelungen, die Schwerkraft und die Gravitationskraft – zwei zuvor als unterschiedlich betrachtete Phänomene – auf dieselben mechanischen Prinzipien zurückzuführen. Dabei ging Newton von einem absoluten Raum aus, in dem alle Bewegungen beschrieben werden können, sowie von einer universellen, überall im Universum synchron verlaufenden Zeit. Ebenso ging er von einer absoluten Zeit aus, so dass der zeitliche Abstand zwischen zwei Ereignissen exakt bestimmt werden könnte und diese Zeit immer gleich bliebe, egal wo oder von wem sie gemessen würde. Zusätzlich nahm er an, dass sich Änderungen von Kräften sofort im gesamten Universum auswirken, anstatt sich mit endlicher Geschwindigkeit von der Kraftquelle zu verbreiten. Die Grundlage der Newtonschen Mechanik liegt somit in der Vorstellung von festen Körpern, deren Bewegungen relativ zu anderen Körpern oder absolut in Bezug auf den mit Äther erfüllten leeren Raum gemessen werden können. Raum und Zeit wurden von Newton als absolut betrachtet, ohne jegliche Beziehung zueinander oder zum physikalischen Geschehen. Einstein nun weist darauf hin, dass von Beobachtern, die sich in unterschiedlichen Systemen gegeneinander bewegen, das zeitliche Verhältnis 17

https://www.dpma.de/dpma/veroeffentlichungen/meilensteine/besondereerfinderin nen/alberteinstein/index.html, letzter Zugriff: 31.07.2023.

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zweier Ereignisse unterschiedlich beurteilt wird. Zur Veranschaulichung greift er immer wieder auf das Beispiel der Eisenbahnfahrt zurück. Folgendes Gedankenexperiment bildet den Ausgangspunkt seiner speziellen Relativitätstheorie; es dient dazu, die Relativität der Gleichzeitigkeit zu erläutern (und wird im Folgenden nach Karl Simonyis Kulturgeschichte der Physik wiedergegeben): Angenommen ein Zug fährt mit konstanter Geschwindigkeit an einem neben den Schienen stehenden Beobachter vorbei. Ein zweiter Beobachter befindet sich genau in der Mitte des vorbeifahrenden Zuges. Gerade zu dem Zeitpunkt, zu dem der im Zug sitzende Beobachter an dem draußen stehenden vorbeifährt, beobachten beide das gleichzeitige Eintreffen zweier Lichtsignale, die vom Anfang und vom Ende des Zuges ausgegangen sind. Welche Schlussfolgerungen ziehen nun beide Beobachter hinsichtlich der Zeitpunkte, zu denen die Lichtsignale am Anfang und Ende des Zuges ausgesandt worden sind? 18

Der fahrende Beobachter berücksichtigt, dass er in der Mitte des Zuges steht und dass die Lichtgeschwindigkeit unabhängig vom Bewegungszustand ist. Daraus schließt er, dass die von ihm als gleichzeitig wahrgenommenen Lichtsignale auch gleichzeitig von den beiden Enden des Zuges gesendet wurden. Auch der neben den Gleisen stehende Beobachter weiß, dass die Lichtgeschwindigkeit konstant ist und dass ein Lichtsignal zum Zurücklegen eines endlichen Weges endliche Zeit benötigt. Aus der Gleichzeitigkeit des Eintreffens beider Lichtsignale schlußfolgert er jedoch, dass das Signal am Zugende eher gegeben worden sein muß, da das Zugende zum Zeitpunkt des Aufleuchtens weiter von ihm entfernt gewesen ist als der Zuganfang. Der vom Zuganfang ausgehende und sich mit konstanter Geschwindigkeit ausbreitende Lichtimpuls kann nur dann zugleich mit dem vom Zugende ausgehenden ankommen, wenn er später erzeugt worden ist. Der ruhende Betrachter folgert somit, dass beide Ereignisse zu unterschiedlichen Zeiten stattgefunden haben.“ 19

Das Eisenbahn-Szenario hat Einstein in seiner „gemeinverständlichen“ Darstellung in unterschiedlichen Varianten zur Erläuterung von Aspekten der Relativitätstheorie durchgespielt. Der Bahndamm mit dem vorbeifahrenden Zug wurde gewissermaßen zur Chiffre für die vieldiskutierte Theorie – wie in folgendem Beispiel aus der Berliner Illustrirten Zeitung vom 19. Juni 1921, das dem interessierten Laien Aufschluss über die Relativitätstheorie gibt. Dort heißt es:

18 19

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Simonyi, Károly: Kulturgeschichte der Physik. Aus dem Ungarischen von Klara Christoph, Frankfurt am Main 1990, S. 410. Ebd.

Sag mal, kannst Du mir erklären, was Einstein mit seiner Relati …“ „Aber selbstverständlich. Es ist blitzeinfach: Denk Dir, am Bahndamm steht ein Mann, und oben fährt ein zehn Kilometer langer Zug. Nun schickst Du einen Lichtstrahl durch den Zug. Durch die Belichtung wird der Mann am Bahndamm jünger. Das ist die Relativitätstheorie. 20

Erkennbar wird hier der Dilettantismus eines allgemeinen pseudophysikalischen Unsinns-Diskurses verspottet; denn das war natürlich mit dem zitierten Eisenbahn-Beispiel nicht gemeint. Vielmehr ging es Einstein darum zu zeigen, dass die beiden Beobachter das Ereignis verschieden einordnen, weil sie sich relativ zu dem beobachteten Ereignis mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen bzw. hier der eine Beobachter sich gar nicht bewegt. Dabei gibt es keine Möglichkeit zu bestimmen, welches Bezugssystem ruht und welches sich bewegt bzw. welche Zeitordnung die maßgebliche ist; es gibt nur den Befund, dass in jedem Bezugssystem abhängig von seiner Bewegung im Verhältnis zu anderen Bezugssystemen ein eigenes Zeitmaß herrscht. Die Uhren in unterschiedlichen Systemen laufen nicht synchron. Diese Relativität gilt nicht nur für die Zeitmessung, sondern auch für die Längenmessung; so haben beispielsweise zwei Messlatten, die unterschiedlich schnell bewegt (in unterschiedlichen Bezugssystemen) werden, nicht die gleiche Länge, die sie im Ruhezustand (im selben Bezugssystem) hätten. In den von Alexander Moszkowski kolportierten Worten Einsteins: Der Grundgedanke der Relativität […] ist der, daß es physikalisch keinen ‚ausgezeichneten‘ (bevorzugten) Bewegungszustand gibt. Oder noch genauer: es gibt unter allen Bewegungszuständen keinen in dem Sinne bevorzugten, daß man ihn zum Unterschied von anderen als den Zustand der Ruhe bezeichnen kann. Ruhe und Bewegung sind nicht nur nach formaler anschaulicher Definition, sondern auch in ihrer tiefsten physikalischen Bedeutung relative Begriffe. 21

Folgt man der Relativitätstheorie, dann hängt die Bestimmung von Gleichzeitigkeit oder des räumlichem Abstands zweier Punkte vom jeweiligen Bezugssystem ab; sie ist relativ zum Beobachter und seinem Bezugsystem. Es ist eben dieser Grundgedanke der Beobachterabhängigkeit und der grundsätzlichen Bewegtheit, der in der öffentlichen Wahrnehmung als Ausdruck von Zeitumständen, moralischer Ungebundenheit, Auflösung religiöser Gewissheiten oder als Analogie avantgardistischer Kunstverfahren aufgefasst wurde.

20 21

Roda-Roda: „Die Belehrung“, Berliner Illustrierte Zeitung, 19. Juli 1921. Moszkowski, Alexander: Einstein. Einblicke in seine Gedankenwelt. Gemeinverständliche Betrachtungen über die Relativitätstheorie und ein neues Weltsystem. Entwickelt aus Gesprächen mit Einstein, Hamburg und Berlin 1921, S. 101.

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3. Literatur und Relativitätstheorie Bereits die Zeitgenossen bemerkten, dass die neue Physik nicht aufgrund ihrer wissenschaftlichen Inhalte und Bedeutung so intensiv rezipiert wurde, sondern weil sie Ausdruck der eigenen Zeit zu sein schien. Einer, der das deutlich gemacht hat, war der Journalist Willy Haas, der in dieser Ringvorlesung bereits als Filmkritiker erwähnt wurde. 22 Im Jahr 1924 verfasste er für die Neue Rundschau eine feuilletonistische Überblicksdarstellung aktueller geistiger Tendenzen in Europa. In diesem Zusammenhang charakterisiert er Einstein als gegenwärtig bedeutendsten Europäer, der weit über die Grenzen von Deutschland hinaus eine enorme Wirkung auf das intellektuelle und künstlerische Leben ausübe: Natürlich ist es nicht die nicht-euklidische Geometrie oder die komplizierte Anwendung der Zeitfunktion oder die Ablenkung eines kosmischen Lichtstrahls, was [ ... ] alle so aufregt. Sondern die Tatsache, daß seine [Einsteins] Lehre strukturell einfach die seelische Situation Europas symbolisiert, den Abbruch der Kausalität, ihre Ersetzung durch die Relation, die Durchdringung des kausalitätslosen, urschaffenden kosmischen Spieles mit mathematischer Meßbarkeit. 23

Die moderne theoretische Physik wird als ein Phänomen mit kultureller Signal- und Breitenwirkung wahrgenommen, Einsteins Theorie wird als Entsprechung zum neuen Bewusstsein der Vermitteltheit von Wirklichkeit und insofern einer grundsätzlichen Perspektivität und Pluralität der Wirklichkeit aufgefasst. Dabei korrespondierte in der öffentlichen Debatte die Haltung gegenüber der Relativitätstheorie häufig mit der politischen Ausrichtung; insbesondere die Zeitungen und Zeitschriften teilten sich in bürgerlich-liberale Blätter, die Einstein verteidigten und feierten, und völkischnationale Blätter, die ihn verdammten. Im Folgenden soll ein spezifischer Ausschnitt aus dieser öffentlichen Wahrnehmung vorgestellt werden, die Aufnahme und Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie auf Seiten der Literaten – und wir werden sehen, dass es hier gar nicht so einfach ist, nach politischen oder weltanschaulichen Voraussetzungen zu sortieren. Paul Hatvani (1892–1975) Die ersten beiden Beispiele stammen aus dem Jahr 1917 – insofern ist es wichtig festzuhalten, dass die literarische Rezeption Einsteins nicht erst einsetzte, als er landauf, landab und weltweit diskutiert wurde, also 1920/21, sondern bereits mit der Veröffentlichung der „gemeinverständlichen“ Schrift 1917. 22 23

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Vgl. den Beitrag von Swati Acharya im vorliegenden Band. Haas, Willy: „Europäische Rundschau“, Neue Rundschau 35 (1924), S. 87–94, hier S. 87–88.

Der erste Text stammt von dem österreichischen Schriftsteller und Chemiker Paul Hatvani, der sich vor allem als Theoretiker des Expressionismus einen Namen gemacht hat, unter anderem mit seinem „Versuch über den Expressionismus“, der im 7. Heft der Aktion 1917 erschien. In freier Adaption fasst Hatvani die neue Physik Einsteins als generelles Prinzip der Bewegung auf, die sich zwanglos in einen kultur- und kunsttheoretischen Kontext einfügen lässt: Ein beachtenswertes Zusammentreffen geistiger Erlebnisse: gleichzeitig fast mit der Geburt der neuen expressionistischen Kunst begann sich die neue Relativitätstheorie (vor Allem Einstein) der Naturwissenschaften zu bemächtigen. Ich will hier auf diese größte Abstraktion, die menschlichem Denken außerhalb der Kunst bisher gelungen ist, nur kurz hingewiesen haben. Auch die Relativitätstheorie hebt jedes Ding und jedes Ereignis aus der Starrheit der Statik und löst es in eine kosmische Dynamik auf. Alles ist Bewegung. Ich will nur anführen, daß es zum Beispiel dem Professor Einstein gelungen ist, die Newtonsche Gravitationsanschauung durch eine neue zu ersetzen, die ich „psychozentrisch orientiert“ nennen möchte: sie hebt alle Voraussetzungen der ultra- und intraphysikalischen Trägheit des Denkens auf und löst das denkende Ich selbst in den Bewußtseinsinhalt „Gravitation“ auf. … Und tut das nicht auch jedes expressionistische Kunstwerk? 24

Hatvani parallelisiert den neuen Umgang mit der physikalischen Welt der Phänomene mit dem Expressionismus, insofern beide die Statik des Raumes auflösen und stattdessen den Raum dynamisieren. „Die ungeheure Trägheit der Welt“ erscheint aufgehoben, ebenso – das ist Hatvanis Übertragung – die mitgedachte Trägheit des Menschen und seines Bewusstseins. Die Neudefinition des Raums durch die Relativitätstheorie begreift er auf diese Weise als umfassende kulturelle Revolution, die alle ästhetischen und normativen Gewissheiten mit weggenommen hat. Es gibt, um in dieser räumlich-lokalen Metaphorik zu bleiben, keine festen, gültigen Standpunkte mehr. Auch wenn Einstein nicht auf die Idee gekommen wäre, die Relativitätstheorie „psychozentrisch orientiert“ zu nennen, lässt sich doch in der erkenntniskritischen Wende der expressionistischen Programmatik und der „psychozentrisch orientierten“ Literatur eine Analogie in der Abkehr von bestimmten Raumvorstellungen und Wirklichkeitsmodellen feststellen; sowohl in der Physik wie auch in der Ästhetik geht es um eine Verkehrung der überkommenen Vorstellung vom Verhältnis zwischen Körper und 24

Hatvani, Paul: „Versuch über den Expressionismus“, Die Aktion 7, 1917, Sp. 146– 150, hier Sp. 149.

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Raum, von Betrachter und Wirklichkeit. Die Gravitationslehre der klassischen Physik war von einem homogenen Raum ausgegangen, der ursächlich die Trägheitseigenschaften von Körpern bestimmt, während die Einsteinsche Definition den Raum an jedem Punkt in Abhängigkeit von Masse und Energie des Körpers berechnet. Auch die Prosa im Expressionismus kennt nicht mehr die für sich bestehende, homogene Welt, den homogenen Raum, der – als Natur oder als Milieu – die in ihm auftretenden Menschen (mit-) bestimmt und der sich durch eine unabhängige Erzählinstanz vermitteln ließe. Vielmehr experimentieren expressionistische Prosaautoren mit subjektabhängigen Zeit- und Raumformen in der Literatur; vor allem in der Prosa dominiert das Prinzip der Projektion, der Setzung von Wirklichkeit: „Im Expressionismus überflutet das Ich die Welt. So gibt es auch kein Außen mehr: der Expressionist verwirklicht die Kunst auf eine bisher unerwartete Weise“, 25 lautet ein repräsentatives und vielzitiertes Diktum Hatvanis aus dem angeführten Essay. Insofern bot die populär rezipierte Physik Einsteins poetologisches Potential und ermöglichte es, literarische Prinzipien und Verfahren im Austausch mit der Relativitätstheorie zu entwickeln. 26 Robert Müller (1887–1924) Ähnlich wie Hatvani hat Robert Müller explizit und immer wieder die jüngste künstlerische Entwicklung mit der zeitgenössischen Physik zusammengedacht. Auch Müller war Österreicher, vor allem aber war er ein umtriebiger Kulturmanager, Verlagsgründer und Schriftsteller, einer der interessantesten, aber auch problematischsten Prosaautoren der Zeit. In einem Vortrag von 1917, der den Titel „Die Zeitrasse“ trägt, beschreibt Müller eine neue Menschenart, die er in der jungen Generation seiner Zeit findet. Zur Verdeutlichung dieser neuen „Zeitrasse“ verweist er auf Einstein – offenbar hat er Einsteins allgemeinverständliche Darstellung kurz zuvor gelesen und machte sie nun direkt produktiv. Immerhin hat er etwas gründlicher gelesen als sein Kollege Hatvani und sich aus Einsteins Darlegung der allgemeinen Relativitätstheorie das Stichwort der „Bezugsmolluske“ geborgt:

25 26

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Ebd., Sp. 146. Vgl. hierzu auch das Kapitel „Prolog im Kaiserreich. Carl Einsteins Bebuquin und die Relativitätstheorie“ in Könneker, Carsten: „Auflösung der Natur – Auflösung der Geschichte“. Moderner Roman und NS-„Weltanschauung“ im Zeichen der theoretischen Physik, Stuttgart/Weimar 2001, S. 9–27; zur expressionistischen Programmatik im Zeichen der Projektion vgl. Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg im Breisgau 2005, bes. S. 287– 345.

Eine neue Menschenart drängt vor. […] Wohin Sie blicken, auf allen Gebieten begegnen Sie einem forcierten intellektuellen oder emotionellen Typus. Dieser ist das neue Subjekt, dessen objektives Resultat in einem fertigen, gespannt weicheren, universellen System zu sehen ist. Wenn ich auf etwas Konkretes hindeuten soll, so würde ich nicht einmal auf unsere Dichter zeigen, sondern auf die Wissenschaft. Der Schweizer Physiker Einstein hat Gedanken zu Ende gedacht, die fruchtbar zu Deutungszwecken herangezogen werden können. Einstein sagt nämlich: Die Zeit ist keine selbständige Funktion, wie sie etwa Kant oder Schopenhauer verstanden haben. Die Zeit ist vierte Dimension, ist die alte klassische raumkörperliche Funktion in einer neuen Bewegtheit, Zeit ist, wie ich es ausdrücken will, ein Nebeneinander von Raumgegenwarten. So weit Einstein. Einsteins Tat ist Revolution auf dem Gebiete der Wissenschaft, mehr, der Welterklärung. Durch empirische Tatsachen aus der Geschwindigkeit des Lichtes gelangt Einstein zu einer Kritik des Messens, ferner zu einer Kritik der alten galileischen Bezugsmethoden. Durch Einführung des schon bekannten Gauß’schen Koordinationssystems erhält er einen neuen Erkenntniswert und Erkenntnismesser, die ‚Bezugsmolluske‘. […] Dieser Begriff der Bezugsmolluske ist der Schlüssel zu allem Neuen. 27

Auf diese Weise verwirklicht sich für Robert Müller in der Literatur, der Kunst und in der Physik ein neues Weltbild und eine neue Menschenart – der „Relativitätsmensch“, 28 der „vegetative Zeitmensch“ 29 als ein in vielen Welten lebender Möglichkeitsmensch. Diesen neuen intellektuellen Typus parallelisiert Müller mit der Physik Einsteins; die Relativitätstheorie wird dabei in einer stark verallgemeinernden Lesart als Auflösung aller festen Dinge, Zustände und Begriffe in relative, beobachtungs- und standortabhängige Größen und als Übergang von starren zu beweglichen Bezugssystemen des Denkens und Handelns betrachtet. Mit der physikalischen Gesetzmäßigkeit wandelt sich für Müller auch das philosophische Weltbild und die kulturelle Grundeinstellung. Der Einsteinsche Begriff der Bezugsmolluske, der den dynamisch veränderlichen Bezugsrahmen aller Maßstäbe und Messungen benennt, gilt Müller als zentraler Begriff auch der kulturellen Neuorientierung seiner Zeit; die Neudefinition des Raums, wie sie Einstein vornimmt, erscheint ihm als fundamentaler kultureller Paradigmenwechsel, als kompletter Austausch der Leitwerte und Handlungsregularitäten. Das Prinzip der „elastischen Beziehungen“ 30 schlägt sich Müller zufolge nicht 27 28 29 30

Müller, Robert: „Die Zeitrasse“ (1917), in: ders., Kritische Schriften II, hg. Ernst Fischer, Paderborn 1995, S. 21–23, hier S. 23. Ebd., S. 23. Müller, Robert: „Abbau der Sozialwelt“ (1919), in: ders., Kritische Schriften II, hg. Ernst Fischer, Paderborn 1995, S. 356–362, hier S. 359. Müller, Robert: „Die Zeitrasse“, S. 24.

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nur in der Wissenschaft, sondern auch in der sozialen Praxis, in ökonomischen und politischen Zusammenhängen und, vor allem, als Vorschein auf zukünftige Daseinsformen, in der Kunst nieder. Immer wieder bezieht sich Robert Müller im Kontext eines solchen politisch-aktivistischen Selbstverständnisses auf Einstein. Von Müller stammt auch die merkwürdigste, nämlich explizit antisemitische Verteidigung Einsteins. Leider kann ich die ideologischen Voraussetzungen des Essayisten Robert Müller hier nicht in der eigentlich notwendigen Ausführlichkeit diskutieren; in der Forschung wurde Müllers Rassenbegriff unterschiedlich gelesen, mal als Biologismus, der vorausweist auf den Faschismus, mal als das nicht biologistisch gedachte Instrument einer Bewusstseinstypologie. Wenn Müller von Rasse spricht, geht es ihm dieser zweiten Lesart nach um Mentalitäten. 31 1920 veröffentlichte Müller in der Zeitschrift Das Tage-Buch einen Essay mit dem Titel „Einstein – Hirschfeld“; gemeint ist der ebenfalls jüdische Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der für die Legitimierung der Homosexualität eintrat und der, ebenso wie Einstein, massiven Anfeindungen ausgesetzt war. Robert Müller vertritt in diesem Aufsatz eine offenkundig von Nietzsches Machttheorie inspirierte Auffassung des grundsätzlich legitimen Kampfes gesellschaftlicher Gruppen – der Juden und der Arier – gegeneinander und um die Macht. Antisemitismus ist dieser Auffassung nach nicht etwa per se schlecht, sondern der legitime Kampf der Arier um die Macht – so wie umgekehrt die Juden ebenso legitim Macht beanspruchen und Macht verkörpern. Davon unterscheidet Müller die privatistischen, individuellen Interessen sowohl auf arischer wie auf jüdischer Seite, die für ihn nicht akzeptabel sind. Die Anfeindungen gegen Einstein sind für Müller nun nicht „berechtigter“ Antisemitismus, sondern „privatarisches“ 32 Konkurrenzdenken von ehrgeizigen und neidischen, aber unterlegenen Professoren, die Skandale vom Zaun brechen. So lauten die abschließenden Sätze dieses merkwürdigen Artikels:

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Für eine dominant ideologiekritische Lesart vgl. Schwarz, Thomas: Robert Müllers Tropen. Ein Reiseführer in den imperialen Exotismus, Heidelberg 2006; Gess, Nicola: Primitives Denken. Wilde, Kinder und Wahnsinnige in der literarischen Moderne (Müller, Musil, Benn, Benjamin), München 2013; für eine Deutung von Müllers Rasse-Begriff als das nicht biologistisch gedachte Instrument einer Bewußtseinstypologie vgl. Heckner, Stefanie: Die Tropen als Tropus. Zur Dichtungstheorie Robert Müllers, Wien und Köln 1991, bes. S. 84–89; für eine Lesart, die die Ambivalenz Müllers betont, vgl. Köster, Thomas: Bilderschrift Großstadt. Studien zum Werk Robert Müllers, Paderborn 1995; Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung, bes. S. 346–379. Müller, Robert: „Einstein, Hirschfeld“ (1920), in: ders., Kritische Schriften II, hg. Ernst Fischer, Paderborn 1955, S. 477–479, hier S. 479.

Wo aber der Jude als öffentlicher Nützling auftritt, wie in der Wissenschaft […], da begeht der Antisemitismus allerdings eine Kulturschmach, wenn er seine Grenzen nicht einsieht, es nicht kann, noch mehr, es nicht will. Es kann sich niemals darum handeln, den Juden überhaupt, sondern nur, das rigoros vertretene kleinlich jüdische Interesse zu bekämpfen. […] Wenn mir jemand in der Relativitätstheorie etwas Jüdisches – es sei denn die aparte jüdisch-sarazenische Begabung für Mathematik – nachweist, so bin ich bereit den ersten Stein zu werfen. 33

Diese Wortwahl ist höchst problematisch und Müllers Position offensichtlich antisemitisch. Nicht ohne Grund sind seine Essays, in denen sich imperialistische Tendenzen mit rassistischen bzw. antisemitischen Argumentationsfiguren verbinden, umstritten. Gleichwohl kann man darüber diskutiediskutieren, ob Müller, der ein hochreflektierter, ironischer und urbaner Zeitdiagnostiker war, tatsächlich als präfaschistischer Denker eingeordnet werden muss. In der geschilderten Weise hat er jedenfalls das Kunststück einer antisemitischen Verteidigung Einsteins gegen seine völkischen Kritiker vollbracht. Alfred Döblin (1877–1957) Ich komme damit zu meinem vorletzten Beispiel aus den vielen Zeugnissen der Rezeption Einsteins im Bereich der Literatur, zu Alfred Döblin. Und ich möchte noch einmal an den Auftakt zu dieser Ringvorlesung erinnern. In ihrer Einführung hat Christine Frank mit einem historischen Dreisprung eingesetzt. Sie hat von heute, 2023, aus an das Vorwort erinnert, das Alfred Döblin 1923 zu einer Neuausgabe von Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen. Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. verfasst hat. Döblin beschwört darin die Aktualität von Heines politischer Dichtung mit folgenden Worten: Parteikämpfe, Haß der Klassen, Hochmut der Industrie, wüste verwirrte Ideologien, die Geistigen klein vor den anmaßenden Industrierittern, Börsenhyänen. Die Geistigen Beschützer des Schwachsinns der Imperialisten und ihrer Freßsucht. Groß im Land die Beschäftigung mit nebulösen Dingen. […] Wo lacht man? Versteht man mit der Achsel zu zucken und weiterzugehen? Wo achtet sich der Geist und zeigt sich als Macht? Wo schätzt man Klugheit, Leichtigkeit, Skepsis? Wo versteht man zu spielen, in sich zu ruhen, bewegt sich frei herum, liebt Bäume, Himmel, Land? Wo ein Hauch, ein Blick Heine?

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Ebd.

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Berlin, 18. Mai 1923 34 Döblin appelliert an seine Zeitgenossen, sich mit Heinescher Souveränität und Heineschem Witz über die Misere der politischen Krise in Deutschland zu erheben. Nun: Bei Einstein wäre er fündig geworden – wenn er es denn hätte sehen wollen! Man muss sogar fürchten, dass Döblin mit der Invektive gegen „die Beschäftigung mit nebulösen Dingen“ geradewegs auf Einstein zielte. Döblin zählte nämlich zu den entschiedenen Gegnern der Einsteinschen Physik und scheute sich nicht, emphatische Schmähartikel gegen ihn zu verfassen. Im selben Jahr 1923, in dem er an Heines Leichtigkeit, seine Klugheit und Skepsis, sein Lachen und seinen Blick erinnert, veröffentlicht Döblin im Berliner Tageblatt einen Beitrag mit dem Titel „Über die abscheuliche Relativitätstheorie“. Er beschreibt, wie er 1917, im Krieg, direkt nach Erscheinen des Buchs, sich Einsteins populäre Darstellung besorgt habe, wie er das Werk mit sich herumgetragen und mehrfach, in Teilen und im Ganzen gelesen habe, wie er sich mit anderen darüber ausgetauscht habe – alles vergeblich: Ich blieb dumm wie zuvor. Dieses kleine Buch hat mir keine Anregung, aber viel Verwirrung und Aerger gebracht. Es begann scheinbar populär; nach einigen Seiten brachen die Formeln los, die infamen kabbalistischen Zeichen der Mathematik. Man glaubt, ich scherze? Ich scherze ganz und gar nicht. Ich hörte von allen Seiten, hier würden Dinge verhandelt, die zu den allerwichtigsten für einen denkenden Menschen gehören. Vorstellungen würden hier evident gemacht, die eine Umwälzung des gesamten Weltbildes nach sich zögen. Sagte man. 35

Döblin wendet sich gegen die Relativitätstheorie aufgrund ihrer Unanschaulichkeit und der starken Mathematisierung. Der eigentliche Gegner ist das Formelwesen, die Abstraktheit des wissenschaftlichen Naturbezugs. Bei Döblin findet sich also eine Form von Rationalitätskritik und eine Verherrlichung unmittelbarer Naturnähe, die bei anderen Einstein-Gegnern mit antisemitischen und nationalistischen Positionen einherging. Nicht so bei Döblin. Durch die theoretisch-mathematische Behandlungsweise würden die Naturdinge „einseitig angegangen, verarmt und entwürdigt“, wie er sagt: Man wird nicht über mich lachen, wenn ich sage, daß diese tölpelige, ungeistige und äußerliche, beckmesserliche Behandlung der Naturwissenschaften es dahin gebracht hat, daß von der Schulbank ab die Erkenntnis der großen einfachen Natur, unserer aller Natur, in Mißkredit gekommen 34

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Döblin, Alfred: „Einleitung“, in: Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen. Atta Troll. Ein Sommernachtstraum. Hamburg und Berlin 1923, S. VII– XVI. Zitiert nach: Alfred Döblin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Kleine Schriften Bd. II. Olten und Freiburg i.Br. 1990, S. 246–252, hier S. 253. Döblin, Alfred: „Die abscheuliche Relativitätslehre“, in: Berliner Tageblatt, 24. November 1923, Nr. 543, S. 3.

ist, und daß sie ganz in Schatten liegt. Wir werden durch die Scheinweisheiten, den Papierfortschritt der Mathematiker von den wichtigsten Quellen des Lebens abgedrängt. Die Relativitätslehre etwa wird von Millionen Gebildeter teils nicht begriffen, teils wissen sie nicht, was sie damit anfangen sollen. Wer aber ist es, der sie dazu drängt, die Lehre so überaus ernst und wichtig zu nehmen? Die Hierarchie der Wissenschaftler, der Geheimbund, die Verschwörung und Freimaurerei der Mathematiker. Ach Gott, liebe Kinder, laßt die Damen und Herren ihre Verschwörung machen. Mögen sie ihre Bücher und Formeln allein lesen. Es gibt andere bessere, tiefere, reichere Wege sich der Natur zu nähern. Wir wollen uns unsere einfachen Gedanken und unseren graden Gang von niemandem nehmen lassen. Die Natur ist wirklich unsere Mutter: wie sollte nicht jedes, jedes Kind seine Mutter erkennen. 36

Was Döblin hier vorbringt, erinnert an die Art und Weise, in der Oswald Spengler kurz zuvor den Untergang des Abendlandes beschworen und die Einsteinsche Physik als Zeichen eines grundsätzlichen wissenschaftlichen und kulturellen Niedergangs gedeutet hatte; es erinnert an die Weise, in der zeitgleich in der rechten Presse Einsteins Theorie als Zersetzung eines einfachen, anschaulichen, bodenständigen Naturbezugs verdammt wurde. 37 Nur finden sich hier keine antisemitischen und deutschnationalen Töne. Dennoch verurteilt der avancierte Autor Döblin die Relativitätstheorie aufgrund ihrer Entfernung von der menschlichen Erfahrungswelt, aufgrund ihrer mathematischen Abstraktheit und ihrer Auflösung konkreter Anschaulichkeit. Und er nimmt dies als Anzeichen eines generellen historischen Prozesses, der Tendenz moderner Wissenschaften zu Formalismus und Unanschaulichkeit, der er das einfache, wahre, unmittelbare Verhältnis zur Natur als Mutter Erde entgegensetzt. Dabei interpretiert er diese Tendenz nicht als Effekt einer Entwicklung der Naturwissenschaften, sondern als Verschwörung elitärer und machtbewusster Forscher. Während also Robert Müller seine Verteidigung Einsteins mit antisemitischen Argumentationsfiguren verband – indem er nämlich betonte, dass die Relativitätstheorie darum gut sei, weil sie nichts „Jüdisches“ an sich habe –, kritisierte der jüdische Autor Döblin Einstein mit Argumenten, wie sie auch von völkischer Seite gegen Einstein vorgebracht wurden, er jedoch ohne antisemitische Tendenz. Offenbar gab es in dieser Debatte so etwas wie einen Pool von Argumenten und ideologischen Versatzstücken, die zwar nicht frei kombinierbar waren, aber doch seltsame Allianzen eingehen konnten.

36 37

Ebd., S. 3. Vgl. Könneker, Carsten: „Auflösung der Natur – Auflösung der Geschichte“. Moderner Roman und NS-Weltanschauung im Zeichen der theoretischen Physik, Stuttgart und Weimar 2001, S. 145–153.

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Gottfried Benn (1886–1956) Diesem Befund ließe sich mit Blick auf die wechselhafte und ambivalente Haltung Gottfried Benns gegenüber Einstein und der modernen Physik eine weitere Wendung hinzufügen. 38 Allerdings hat sich Benn erst in der zweiten Hälfte der 20er Jahre – und also jenseits des hier interessierenden Zeitraums – verstärkt mit der zeitgenössischen Physik auseinandergesetzt. Den einen Pol markiert dabei eine Wissenschaftskritik, die von den Schriften des dezidierten Einstein-Gegners und nachmaligen Vertreters der „Deutschen Physik“ Hugo Dingler angeregt wurde und die analoge Denkmuster zu Döblins Position aufweist. Am anderen Pol steht die 1933 publizierte Verteidigung des Expressionismus im gleichnamigen Essay, in dem Benn den Expressionismus als künstlerischen Wegbereiter des Nationalsozialismus darstellt und ihn zugleich durch dessen Parallelisierung mit der zeitgenössischen Physik legitimieren möchte; paradoxerweise vollzieht er diese Volte, um sich (und seine künstlerische Vergangenheit) den Nationalsozialisten anzudienen. Zur Zeit des aufflammenden „Relativitätsrummels“ nach dem Ersten Weltkrieg ist es hingegen vor allem die Medienpräsenz und die öffentliche Glorifizierung Einsteins, die Benn thematisiert. In seinem zeitdiagnostischen Essay „Das moderne Ich“ von 1920 entwirft er das entsprechende Bild einer Wissenschaft, die zum belanglosen Gegenstand bürgerlicher Unterhaltungskultur geworden ist und vom Personenkult lebt: Ran an die Fotografen, rechts rüber die Herren Abendblattsalbader bitte links die Galerie, der neueste Start betreffend Geistesgut, physikalisches Geschwöge, Formelfick mit Kosmikappretur: Relativitätstheorie: Der Bürger will seinen großen Mann haben – Blende auf, eine Seite Großoktav. 39

Einstein wird hier nicht als Physiker betrachtet, sondern als medial erzeugte Figur, die die Titelseiten der Magazine füllt. 4. Einstein in der Weinstube Von den ideologischen Windungen und Wendungen um Einsteins Relativitätstheorie kann einem schwindelig werden – ein Effekt, als sei man mit Einstein in der Weinstube (vgl. Abb. S. 135). 38

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Für eine differenzierte Analyse von Benns Auffassung der modernen Physik vgl. Rot, Avraham: „Expressionism and Deutsche Physik: Gottfried Benn, Hugo Dingler and ‚The Collapse of Science‘“, 1927–1933, in: Scientia Poetica 26, H.1, (2022), S. 83–124. Benn, Gottfried: „Das letzte Ich“ (1920), in: ders., Sämtliche Werke, Stuttgarter Ausgabe, hg. Gerhard Schuster, Bd. III: Prosa 1, Stuttgart 1987, S. 120–126, hier S. 123.

Abb. 1: Zeitbilder. Beilage zur Vossischen Zeitung Nr. 18, 1. Mai 1921, unpag.

Die Karikatur aus der Vossischen Zeitung veranschaulicht die Revolution des mechanistischen Weltbildes als maximalen Eingriff in die alltägliche Erfahrungswelt, als Aufhebung der Schwerkraft. Sie signalisiert damit auch den Verlust vertrauter lebensweltlicher Gewissheiten und die Umwertung der Werte, wie sie mit der Einsteinschen Physik verbunden wurden. Nach 1919 wurde die Relativitätstheorie öffentlich intensiv wahrgenommen und dabei vom physikalischen Prinzip zu einem ethischen und philosophischen Relativismus uminterpretiert, häufig negativ als eine alle Werte und Traditionen zersetzende, zerstörerische, oft eben auch: undeutsche, jüdische Theorie. Ob man die Umwertung aller Werte als positiv oder negativ erachtete, hing an der Einstellung: Das, was für die einen den ultimativen sittlichen Verfall bedeutete, war für die anderen die zukunftsweisende Diagnose der eigenen Zeit und maßstabsetzendes Programm für das künstlerische Schaffen. Ob nun zustimmend oder ablehnend: Die Relativitätstheorie wurde in Zeiten des Ersten Weltkriegs und in den Jahren danach als Ausdruck einer aus den Fugen geratenen, einer chaotischen, einer pluralen, aber auch einer zukunftsoffenen, bewegten, in Veränderung begriffenen Welt gelesen. Die Übertragung der Relativitätstheorie auf moralische, gesellschaftliche, politische, kulturelle und künstlerische Bereiche wurde begünstigt durch die Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie: So hat man darauf hingewiesen, dass es der Begriff der Allgemeinen Relativitätstheorie

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war, der Missverständnissen und Vulgarisierungen Vorschub leistete. 40 Unter dem begrifflichen Dach allgemeiner Relativität konnten Physik, Philosophie, Moral und Weltanschauung zusammengedacht werden. Hinzu kam die sich selbst bestätigende und verstärkende mediale Aufmerksamkeit für die Person Einsteins. Dabei bildeten seine politischen Aktivitäten, sein Einsatz für pazifistische, internationalistische und jüdische Interessen und Positionen, auch einen Angriffspunkt für die Agitation und Negativpropaganda vonseiten der radikalen Rechten. Die mediale Präsenz machte es zudem leicht, die Relativitätstheorie als Irrweg eines geltungssüchtigen Einzelnen zu kennzeichnen. Auf diese Weise wurde Einstein nach dem Ersten Weltkrieg zum „Phänomen“, 41 verfügbar für affektive Besetzungen der unterschiedlichsten Art, eine Figur, an der sich die Gemengelage der Befindlichkeiten und der politisch-ideologischen Überzeugungen in den krisenhaften Jahren der frühen Weimarer Republik kristallisieren konnte.

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„Der Grund für den flächendeckenden Transfer der physikalischen ‚Relativität‘ auf außerphysikalische Gebiete wie Moral, Religion, staatliche Autorität usw. ist zunächst einmal in der gleich doppelt unglücklichen Namengebung von Einsteins erweiterter Theorie, der allgemeinen (!) Relativitäts(!)–Theorie zu erblicken. Die theoretische Physik wurde auf das rein Sprachliche reduziert, und reihenweise fielen die Menschen dem Wortkurzschluß zum Opfer.“ Könneker, Carsten: „Auflösung der Natur – Auflösung der Geschichte“. Moderner Roman und NS-„Weltanschauung“ im Zeichen der theoretischen Physik, Stuttgart und Weimar 2001, S. 158. Vgl. Hagner, Michael: „Zur Einführung“, in: ders. (Hg.), Einstein on the Beach. Der Physiker als Phänomen, Frankfurt am Main 2005, S. 7–13.

Michiko Mae

Hoshi Hajime: Retter der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft 1 Ein Beitrag zu den deutsch-japanischen Beziehungen in den 1920er Jahren Am 1. September 1923 erschütterte ein großes Erdbeben der Stärke 7,9 das Zentrum Japans, vor allem Tokyo, Yokohama und weite Teile der Region Kantō; es ist bekannt als das Große Kantō-Erdbeben. Zusätzlich verursachte ein Taifun eine dreitägige Brandkatastrophe. 90 % der 105.000 Todesopfer starben an den Folgen der Brände; 1,9 Millionen Menschen waren vom Erdbeben betroffen, 109.000 Gebäude wurden zerstört und 212.000 Gebäude verbrannten. 2 Tokyo war damals wie heute das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum Japans, in dem sich alle wichtigen Institutionen und Einrichtungen konzentrierten. Zeitungen wie Asahi und Yomiuri verloren ihren Hauptsitz in Tokyo. Die einzige verbliebene Zeitung, Tokyo Nichinichi, berichtete am 2.September: Ganz Tokyo habe sich in ein Feuermeer verwandelt. Telefon, Telegrafie, Straßenbahn, alles war zusammengebrochen. Andererseits war diese Krisensituation in vielen Bereichen eine treibende Kraft für die Entwicklung moderner Technik und Medien. Nach dem Erdbeben wurde der Bedarf an Rundfunksendungen akut, was eineinhalb Jahre später zur Eröffnung des ersten Rundfunksenders in Japan, NHK, im Jahr 1925 führte. Der Zusammenbruch des Straßenbahnnetzes förderte die rasche Motorisierung durch den massiven Einsatz von Bussen und Lastkraftwagen und begünstigte deren erweiterte Nutzung und Verwendung, was zu einer allgemeinen Motorisierung in Japan führte.

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Die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die Vorgängerorganisation der heutigen Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), wurde in der großen Notsituation der Wissenschaft in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg am 30. Oktober 1920 gegründet. Zur Geschichte der Notgemeinschaft siehe auch: DFG Magazin: https://www.dfg.de/dfg_magazin/aus_der_dfg/geschichte/notgemeinschaft/ index.html, letzter Zugriff: 30.07.2023. Die Zahlen stammen aus dem Bericht des Cabinet Office der japanischen Regierung: https://www.bousai.go.jp/kyoiku/kyokun/kyoukunnokeishou/rep/1923_kan to_daishinsai/pdf/1923--kantoDAISHINSAI-1_04_chap1.pdf, letzter Zugriff: 30.07.2023.

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Der damalige französische Botschafter in Japan, der Dichter Paul Claudel (1868-1955), berichtete, dass er in einem Feldlager während der mehrtägigen Evakuierung keine einzige Klage gehört und auch keine Gewaltausbrüche oder Gefühlsausbrüche seitens der Japaner erlebt habe. 3 Dennoch es gab auch eine dunkle Seite: Mitten in der Katastrophe kam es aufgrund falscher Gerüchte, Koreaner und Kommunisten hätten Brunnen vergiftet, zu Ausschreitungen, die sich vor allem gegen Koreaner und Chinesen richteten. Wie die Menschen eine solche Katastrophe überlebten und Tokyo wieder zu einer, diesmal internationalen, Metropole aufbauten, erscheint im Rückblick wie ein Wunder. Kurz nach dem Erdbeben wurde der bedeutende Politiker und damalige Innenminister Gotō Shinpei 4 (1857–1929), der von 1920 bis 1923 auch Bürgermeister von Tokyo war, mit dem Wiederaufbau der Stadt beauftragt. Er leistete einen großen Beitrag dazu. 5 Er übernahm als Vorsitzender der Wiederaufbaukommission die Leitung des Wiederaufbaus und hatte den Plan, mit einer gewaltigen Summe, die fast einem Jahreshaushalt Japans entsprach, aus dem noch halb vormodernen Tokyo eine internationale Metropole der Zukunft mit moderner Infrastruktur wie breiten Straßen, zahlreichen Parks und Fußgängerzonen, einem modernen UBahnsystem usw. zu machen. Gotōs Pläne mussten allerdings durch den kurz darauf folgenden Regierungswechsel mit einer Teilrealisierung aufgegeben werden und konnten nicht in vollem Umfang realisiert werden. Gotō Shinpei war ursprünglich Arzt, der von 1890 bis 1892 in Berlin und München Medizin studiert hatte. Er wollte jedoch ein Arzt werden, der nicht einzelne Patienten, sondern – wie er es ausdrückte – den Staat heilt, und wurde so zu einem außergewöhnlichen Politiker in Japan. 6 Dieser visionäre Politiker Gotō Shinpei war ein wichtiger Mentor für Hoshi Hajime, mit dem er bis zu seinem frühen Tod in engem Kontakt stand. Er spielte eine wichtige Rolle dabei, den Unternehmer Hoshi dazu zu motivieren, in den 1920er Jahren die deutsche Wissenschaft in ihrer schwierigen Situation zu unterstützen. Wer war Hoshi Hajime? In Deutschland ist er nahezu unbekannt und auch in Japan ist sein Name kaum mehr geläufig. Man kennt heute eher den 3

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Vgl. dazu Claudel, Paul: Asahi no naka no kuroi tori (L’Oiseau noir dans le Soleil levant, 1927) (Übersetzung von Naitō Takashi), Tokyo 1988 (in der Übersetzung von Naitō Takashi), S. 53. Alle japanischen Namen werden in japanischer Reihenfolge geschrieben: zuerst der Familienname und dann der Vorname. Über Gotō Shinpei und seinen Plan zum Wiederaufbau Tokyos siehe: Schwentker, Wolfgang: Die moderne Metropole als Vision: Tōkyō und Gotō Shinpei, 1920–1924, in: Hilaria Gössmann, Andreas Mrugalla (Hg.), 11. Deutschsprachiger Japanologentag in Trier 1999, Band 1, S. 63–74. Gotō baute die Infrastruktur in Taiwan auf und leitete den Eisenbahnbau in Mandschukuo.

Namen Hoshi Shin’ichi (1926–1997), ein SF-Schriftsteller und Autor von Kurzgeschichten. Hoshi Shin’ichi war der ältere Sohn von Hoshi Hajime. Er veröffentlichte drei Bücher über seinen Vater und dessen Umfeld in der historisch bedeutsamen Gründerzeit Japans. 7 Ihm verdanken wir einen tiefen Einblick in die Persönlichkeit von Hoshi, seinen lebhaften Geist, gepaart mit Weitsicht und einem großzügigen, freundlichen Wesen. Zu seiner Zeit – er wurde 1873 in der Präfektur Fukushima geboren und starb 1951 – war Hoshi bereits in den 1910er Jahren als ein in ganz Asien erfolgreicher Pharmaindustrieller berühmt; er galt als „der Pharmakönig Asiens“. Er war auch als Politiker aktiv und wurde in den Jahren 1908, 1937, 1946 und 1947 wiederholt als Abgeordneter ins Parlament gewählt; heute ist er eher als Gründer der Hoshi Pharmaceutical University in Tokyo bekannt. Hoshi war eine bemerkenswerte Persönlichkeit und vor allem aus heutiger Sicht ein außergewöhnlicher Japaner mit seinem Erfindergeist, seiner Originalität und seinen immer wieder überraschenden neuen Ideen, innovativen Projekten und Visionen. Durch seinen langjährigen Amerika-Aufenthalt in jungen Jahren war er im positiven Sinne ‚amerikanisch‘ geprägt, jedenfalls was seine rationale Denkweise und seinen Optimismus betraf. Vielleicht war er aber auch eher ein Kind der Meiji-Zeit (1868–1912), denn zu Beginn des Modernisierungsprozesses in Japan gab es viele außergewöhnliche Menschen, die innovative Ideen entwickelten. Und er war ein Brückenbauer zwischen Japan und Deutschland, der in der Krisenzeit nach dem Ersten Weltkrieg die deutsche Wissenschaft in den 1920er Jahren tatkräftig unterstützte. Deutschland und Japan in den 1920er Jahren: eine Parallelentwicklung In Deutschland schrieb am 5. Januar 1924 die Gewerkschaftszeitung in einem Rückblick auf das Jahr 1923, dieses werde „als eines der schwärzesten Jahre im Buche deutscher Geschichte verzeichnet werden müssen“. 8 Die Inflation, die mit der Schuldenfinanzierung des Ersten Weltkriegs begonnen hatte, steigerte sich zur Hyperinflation und geriet im Herbst 1923 völlig außer Kontrolle. Die fast totale Geldentwertung war, wie man sagte, ein Sturz ins Bodenlose. Wie in Japan das Große Kantō-Erdbeben, so wirkt auch die traumatische Erfahrung der Inflationskatastrophe in Deutschland bis heute nach. Aber als das Land im Herbst 1923 „buchstäblich am Abgrund [stand]“, wie Volker Ullrich in seinem Buch über Deutschland 1923 7

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Hoshi, Shin’ichi: Jinmin wa yowashi, kanri wa tsuyoshi. (Das Volk ist schwach, die Obrigkeit ist stark). Tokyo, 2021a [1967]; Hoshi, Shin’ichi: Meiji no jinbutsushi. (Geschichte von Persönlichkeiten der Meiji-Zeit). Tokyo, 2021b [1978]; Hoshi, Shin’ichi: Meiji, chichi, Amerika. (Meiji, mein Vater, Amerika). Tokyo, 2022 [1975]. Zitiert nach Ullrich, Volker: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2023, S. 274.

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schreibt, ermöglichte die Einführung der Rentenmark eine Währungsreform und es zeigte sich, dass die „doppelte Entwertung“ – des Geldes und der Moral – auch eine Kehrseite hatte: „Wirtschaftliche Misere, gesellschaftliches Chaos und politische Instabilität gingen Hand in Hand mit einem bemerkenswerten kulturellen Aufbruch“. 9 Die Weimarer Kultur wurde – so Ullrich – „zu einem Laboratorium der Moderne“. Auch in Japan waren die 1920er Jahre nach dem Erdbeben eine Zeit der rasanten Entwicklung der Industrialisierung, der kapitalistischen Konsumund Massenkultur, der Mediengesellschaft, der Urbanisierung und der experimentellen Kunst- und Architekturbewegung, was die japanische Gesellschaft rasch veränderte. Die „Goldenen Zwanziger Jahre“ in Deutschland und die Zwanziger Jahre in Japan waren durchaus eine vergleichbare kulturelle Blütezeit der Moderne; sie waren in gewissem Sinne Parallelwelten. Politisch ist die Taishō-Periode (1912-1926) durch die Taishō-Demokratie gekennzeichnet, in der die allgemeine Wahlrechtsbewegung, die Frauenwahlrechtsbewegung, die Arbeiterbewegung etc. an Bedeutung gewannen. Und mit dem Typus des „modern girl“ (die „neue Frau“ in Deutschland, modan gāru in Japan), war ein fast weltweit zeitgleiches Phänomen zu beobachten. Dass dann aber bald die düsteren 1930er Jahre folgten, war ebenfalls eine Gemeinsamkeit zwischen Japan und Deutschland. Kurzer historischer Rückblick auf die deutsch-japanischen Beziehungen Wenn man heute nach dem Stand der deutsch-japanischen Beziehungen fragt, so erhält man in beiden Ländern in der Regel die Antwort, dass Deutschland und Japan historisch immer sehr gute und enge Beziehungen hatten, 10 die vielleicht in den letzten Jahrzehnten durch das Übergewicht Chinas für beide Länder etwas an Intensität verloren haben; insgesamt könne man aber auf ein durchweg positives und freundschaftliches Verhältnis zurückblicken. 11 Diese Einschätzung geht sogar so weit, dass man die freundschaftlichen Beziehungen und die Sympathie füreinander oft in vermeintlich ähnlichen Charaktereigenschaften oder Mentalitäten wie Fleiß, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit etc. sieht. Wie haben sich die deutschjapanischen Beziehungen historisch entwickelt? 9 10

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Siehe Ullrich 2023, S. 274. Zu den deutsch-japanischen Beziehungen in der Meiji-Zeit vgl. auch Takenaka, Tōru: ‘Chikashii kuni doitsu’ no shinwa: Meijiki nichidokukankei no saikō ni mukete (Das vertraute Land Deutschland: Die deutsch-japanischen Beziehungen während der Meiji-Zeit neu betrachten, in: Osaka Daigaku Daigakuin Bungakukenkyūka Kiyō, 2014, Nr. 54, S. 1-23. Zum Besuch von Bundeskanzler Scholz in Japan im März 2023 bemerkte die Süddeutsche Zeitung ironisch: „Zwischen Berlin und Tokyo herrschte lange Zeit freundliches Desinteresse. Jetzt besinnen sich beide Regierungen auf den Wert ihrer Freundschaft“. In: SZ vom 18.03.2023.

Die ersten deutschen Japanforscher waren Ärzte: Engelbert Kaempfer (1651–1716) besuchte Japan zwischen 1690 und 1692, danach Philipp Franz von Siebold (1796–1866) zwischen 1823 und 1829 sowie zwischen 1859 und 1862. Beide waren als Holländer getarnt, die damals während der Abschottung Japans die einzigen offiziell zugelassenen westlichen Ausländer waren. Mitte des 19. Jahrhunderts musste Japan auf Druck einiger westlicher Länder seine 250 Jahre währende Selbstisolation beenden und sich nach außen öffnen. So kam es zum Abschluss des so genannten „Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages“, zunächst 1861 zwischen Japan und Preußen, nach 1871 dann zwischen Japan und dem Deutschen Reich. Dieser Vertrag war jedoch kein Freundschaftsvertrag, sondern ein sogenannter „ungleicher Vertrag“, der einseitige Vorteile zu Gunsten des westlichen Vertragspartners vorsah. Japan war bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein in der westlichen Welt kaum bekanntes fernöstliches Land, und so war es möglich, solche ungleichen Verträge unter fast kolonialen Bedingungen mit Japan abzuschließen, obwohl es neben Thailand als einziges Land in Asien nie eine Kolonie gewesen war. Das erste und wichtigste Ziel der Regierung der Meiji-Zeit (1868–1912) war es, diese ungleichen Verträge zwischen Japan und den westlichen Ländern aufzuheben. Die koloniale westliche Wahrnehmung Japans änderte sich grundlegend nach dem Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg (1894–1895), vor allem aber nach dem Russisch-Japanischen Krieg (1904–1905). Japan wurde nun als ‚gleichwertige‘ imperialistische Macht in der westlichen Welt anerkannt. Der berühmte Kunst- und Kulturkritiker Okakura Tenshin (1862– 1913) kritisierte dies in seinem Buch The Book of Tea (1906) mit den Worten: Wir wollen gern Barbaren bleiben, wenn unser Anspruch, als zivilisiert zu gelten, nur auf dem schrecklichen Ruhm des Krieges beruht. Gern warten wir auf die Zeit, in der unsere Kunst und unsere Ideale die gebührende Achtung finden. 12

Der Sieg im Sino-Japanischen Krieg war in Japan selbst jedoch mit großer Enttäuschung und Verärgerung über die Forderung Russlands, Frankreichs und Deutschlands verbunden: Nach deren so genannter Triple-Intervention sollte Japan die Liaodong-Halbinsel, die es in den Nachkriegsverhandlungen von China erhalten hatte, an China zurückgeben. Dies wurde von der japanischen Bevölkerung trotz des Sieges als große Niederlage und Demütigung empfunden. Darüber hinaus wurde die Besetzung von Kiautschou/ Jiaozhou Bay durch Deutschland im Jahre 1898 (Pacht für 99 Jahre) als Kolonialisierungsabsicht in Asien negativ aufgenommen. Seit den 1890er 12

Okakura, Kakuzō (Tenshin): Das Buch vom Tee, Frankfurt am Main / Leipzig, 1979. (Übertragen und mit einem Nachwort versehen von Horst Hammitzsch), S. 12.

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Jahren erschwerte zudem die feindselige und rassistische Behauptung einer „gelben Gefahr“ durch Kaiser Wilhelm II. die deutsch-japanischen Beziehungen. Obwohl Japan nicht direkt vom Ersten Weltkrieg betroffen war, trat es auf der Seite Russlands, Englands und Frankreichs, später auch der USA, in den Krieg ein, da es seit 1902 mit England eine Anglo-Japanische Allianz unterhielt, und erklärte im August 1914 dem Deutschen Reich den Krieg. Nach Kriegsende eroberte Japan Kiautschou/Jiaozhou Bay und Tsingtao von Deutschland zurück. Ca. 5000 Deutsche wurden nach Japan gebracht und dort bis 1919 interniert. Zwischen diesen Kriegsgefangenen und der japanischen Bevölkerung entwickelten sich rege kulturelle Austauschbeziehungen, die nachhaltige Wirkungen hatten wie die Tradition der Aufführung der Neunten Symphonie von Beethoven in ganz Japan am Silvesterabend. Deutsch-japanische Wissenschaftsbeziehungen Die machtpolitische Seite der Beziehungen zwischen Japan und Deutschland war also belastet und keineswegs positiv und freundschaftlich. Von dieser machtpolitischen Seite der Beziehungen zu unterscheiden sind die deutsch-japanischen Austauschbeziehungen im Verlauf des Modernisierungsprozesses. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts hat Japan in vielen wichtigen Bereichen wie Medizin, Recht, Bildungssystem, Militär, Industrie und Technik, Philosophie, Kunst und Ingenieurwissenschaften von Deutschland gelernt. 13 Deutsche Wissenschaftler und Ingenieure waren in Japan und viele Japaner in Deutschland, um hier zu studieren, zu lernen und zu forschen. In den 1880er Jahren studierten mehr Japaner in Deutschland als in anderen westlichen Ländern, nicht nur das Fach Medizin, sondern auch Naturwissenschaften und Rechts- und Staatswissenschaften. Deutsch wurde in Japan zur Sprache der Gebildeten, denn auch Geistes- und Sozialwissenschaften und Philosophie studierten viele Japaner in Deutschland. 14 Alle angehenden japanischen Mediziner mussten Deutsch lernen und auch viele

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Zur Rolle Deutschlands im japanischen Modernisierungsprozess vgl. auch Martin, Bernd: „The German Role in the Modernization of Japan – The Pitfall of Blind Acculturation“, in: Oriens Extremus, Vol. 33, Nr. 1, 100 Jahre Meiji-Verfassung: Staat, Gesellschaft und Kultur im Japan der Meiji-Zeit, 1990, S. 77–88. Viele Studierende, die offiziell mit einem Stipendium des Kultusministeriums entsandt wurden, gingen nach Deutschland; die meisten von ihnen studierten Medizin. Aber die große Mehrheit der Japaner, die im Ausland studierten, viele von ihnen ohne Stipendium, gingen in die USA. Zu japanischen Studierenden an der Berliner Universität vgl. auch Hartmann, Rudolf: Japanische Studenten an der Berliner Universität 1920–1945. Kleine Reihe 22, hg. von der Mori-Ōgai-Gedenkstätte der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2003.

Offiziere sprachen Deutsch. Die verbreitetste Fremdsprache war allerdings damals wie heute Englisch. Die Kodifizierung der Verfassung hat in Japan sehr lange gedauert, bis man sich schließlich für die preußisch/deutsche Verfassung als Vorbild entschied. Dabei spielten deutsche Verfassungsrechtler wie Lorenz von Stein und Hermann Roesler eine wichtige Rolle. Besonders intensiv aber waren die Beziehungen auf dem Gebiet der Medizin, wo der deutsche Einfluss überragend war. In verschiedenen Bereichen der Medizin gab es intensive und produktive Beziehungen zwischen Deutschland und Japan, besonders in und rund um Berlin, denn Berlin war damals eines der führenden medizinischen Zentren der Welt. Viele neue Entdeckungen und Errungenschaften gingen aus der deutsch-japanischen Zusammenarbeit hervor: – – – –

Paul Ehrlich und Hata Sahachirō: erste Anti-Syphilis-Therapie mit Salvarsan (1909) Robert Koch, Emil von Behring und Kitasato Shibasaburō: TetanusImpfstoff Julius Karl Scriba und Tashiro Yoshinori: Wegbereiter der Chirurgie Erwin von Baelz (1849–1913) hat während seines 30-jährigen Aufenthaltes in Japan die medizinische Fakultät der Universität Tokyo mitbegründet und zahlreiche führende japanische Ärzte ausgebildet.

Allerdings ist zu beachten, dass bei Preisverleihungen oft nur die deutschen Forscher geehrt wurden, ohne die japanischen Forschungspartner zu nennen, wie im Falle von Emil von Behring und Kitasato Shibasaburō. Da Frauen in der deutsch-japanischen Wissenschaftsgeschichte kaum in Erscheinung treten, soll an dieser Stelle kurz die Augenärztin Urata Tada (1873–1936) vorgestellt werden, die 1905 an der Universität Marburg nach nur zweijährigem Medizinstudium promovierte; auch an dieser Universität waren damals, ebenso wie in Berlin, Frauen nicht zum Studium zugelassen, mit Ausnahme ausländischer Studierender, die bereits ein Studium abgeschlossen hatten. Nach ihrer Rückkehr nach Japan ging sie 1907 mit ihrem Mann nach Tianjin (China), gründete mit ihm ein Krankenhaus und blieb dort bis 1933, um den Bedürftigsten zu helfen. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem damit verbundenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Machtverlust, galten in Deutschland Kultur und vor allem die Wissenschaften als wichtige Mittel, um Deutschlands Stellung in der Welt aufrechtzuerhalten und seinen Machtverlust auszugleichen. Aber die Wissenschaft war durch den Krieg und die Inflation geschwächt; sie hatte viel weniger Geld als vor dem Krieg zur Verfügung und ihr internationales Ansehen war geschädigt. Deutsch als Wissenschaftssprache verlor seine Bedeutung.

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Aber als 1920 auf einem Internationalen Gelehrtenkongress in Paris beschlossen wurde, Deutschland aus der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft auszuschließen, stimmte die Japanische Wissenschaftliche Gesellschaft dagegen. Die „Deutsche Tageszeitung“ vom 24. April 1921 druckte ein Telegramm der Japanischen Medizinischen Gesellschaft ab: Nachdem durch den Friedensschluss glücklicherweise der normale Zustand zwischen Deutschland und Japan wiederhergestellt ist, sprechen die japanischen Ärzte den dringenden Wunsch aus, mit den deutschen und österreichischen Ärzten zur Förderung der Wissenschaft und zur Pflege von Kultur und Zivilisation wie vor dem Kriege in freundschaftliche Verbindung zu treten und dafür zu sorgen, dass der geistige Verkehr zu beiderseitigem Nutzen immer lebhafter und inniger wird. 15

Die deutsche Wissenschaft in der ökonomischen Krise und die japanische Unterstützung Im Jahr 1923 war die deutsche Wissenschaft immer noch in einer schwierigen Situation. Neben den nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg ergangenen Boykottbeschlüssen internationaler Wissenschaftsorganisationen gegen die deutsche Wissenschaft hatte diese nicht nur unter internationaler Diskriminierung zu leiden, sondern vor allem auch unter der Hyperinflation. In der Extremsituation des totalen Wertverlusts der eigenen Währung gewann die Möglichkeit des Zugangs zu ausländischen Devisen besondere Bedeutung. Nicht nur der Dollar, sondern auch der Wert des Yen war in den Inflationsjahren extrem hoch. Und deshalb ist die Geschichte, die im Folgenden behandelt wird, so wichtig: Es geht um die ungewöhnliche finanzielle Hilfeleistung eines japanischen Mäzens für die deutsche Wissenschaft, die nach dem Ersten Weltkrieg in die beschriebene doppelte Notsituation geraten war. Diese Hilfeleistung war deshalb ungewöhnlich, weil sie aus einem Land kam, das zu den Kriegsgegnern Deutschlands gehörte und dessen Akademie der Wissenschaften der Internationalen Akademie-Union beigetreten war, die – wie andere internationale Wissenschaftsorganisationen – zum Boykott der deutschen Wissenschaft aufgerufen hatte. Japan gehörte zu den Siegermächten und hatte Reparationsforderungen an Deutschland gestellt, auf die es erst 1926 verzichtete. Aber gleichzeitig haben japanische Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer den Boykott unterlaufen und deutschen Wissenschaftlern und Wissenschaftsorganisationen konkrete Hilfe geleistet. Es kam hier also sozusagen zu einer Umkehrung im deutsch-japanischen Verhältnis: Jetzt waren es Japaner, die ihren deutschen Kollegen halfen. Der Historiker Eberhardt Friese sieht darin nicht nur einen Ausdruck konfuzianischer Gesinnung, dass der frühere Schüler seinem in Not geratenen Leh15

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Zit. nach Käser, Frank: „Die Ära Solf in den deutsch-japanischen Beziehungen“, in: OAG Notizen. Reihe II. 2012, Nr. 10, S. 19–39, hier S. 22.

rer als Zeichen des Dankes hilft, sondern er erkennt in der Hilfsbereitschaft, „dass der japanische Wissenschaftler jetzt selbstbewusst inter pares seinem deutschen Kollegen gegenübertritt“. 16 Es waren nicht nur einzelne Personen, die Hilfe leisteten, sondern auch Gruppen; sie gründeten Stiftungen und überwiesen Spendengelder nach Deutschland. Der Historiker Frank Käser berichtet, dass beispielsweise der Abgeordnete und Kaufmann Mochizuki Gunshirō (1879–1940) auf Initiative des japanischen Medizinprofessors und ehemaligen Assistenten von Erwin Bälz (1849–1913), Irisawa Tatsukichi, eine Stiftung ins Leben rief, die bei der japanischen Ärzteschaft Geld sammelte. Die Mittel in Höhe von etwa einer halben Million Yen wurden 1921 nach Deutschland geschickt. Den größten Beitrag unter diesen Initiativen leistete jedoch die HoshiStiftung, eine Schenkung des japanischen Pharmaindustriellen Hoshi Hajime (1873–1951) an die deutsche Wissenschaft. Hoshi Hajime und seine Stiftung Interessanterweise hatte Hoshi selbst nicht direkt mit Deutschland zu tun. 17 Er gehörte nicht zu den Japanern, die mit staatlichen Mitteln nach Deutschland geschickt wurden und sich finanziell abgesichert ihrem Studium widmen konnten. Stattdessen war Hoshi 1894 fast mittellos in die USA gegangen und hatte dort unter großen finanziellen Schwierigkeiten studiert, wobei er sich mit vielen kleinen Jobs seinen Lebensunterhalt verdiente und sein Studium selbst finanzierte. Er studierte Wirtschaftswissenschaften an der Columbia University und gründete später ein kleines japanischamerikanisches Zeitungsunternehmen. 1905, nach 11 Jahren in Amerika, kehrte er nach Japan zurück und gründete ein pharmazeutisches Unternehmen. Wie kam es nun, dass dieser Hoshi, der bis dahin keinen direkten Kontakt zu Deutschland hatte, der deutschen Wissenschaft in ihrer Notsituation helfen wollte? Nach der sechsjährigen Unterbrechung der deutsch-japanischen Beziehungen durch den Ersten Weltkrieg zwischen 1914 und 1920 war Wilhelm Solf (1862–1936) 1920 zum deutschen Botschafter in Japan ernannt worden. Solf war promovierter Indologe und Jurist und lange Jahre in der deutschen Kolonialpolitik in Afrika tätig gewesen. Es war ein Glücksfall, 16

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Friese, Eberhard: „Kontinuität und Wandel. Deutsch-japanische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg“, in: Rudolf Vierhaus/Bernhard vom Brocke (Hg.), Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft. Aus Anlaß ihres 75jährigen Bestehens, Stuttgart 1990, S. 801–834, hier S. 812. Über Hoshi Hajime vgl. auch Friese, Eberhard: „Japanisches Mäzenatentum nach dem Ersten Weltkrieg: Hajime Hoshi und seine Stiftungen für die deutsche Wissenschaft“, in: Referate des V. Deutschen Japanologentages vom 8. bis 9. April 1981 in Berlin, 1983, S. 102–109.

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dass für die Wiederaufnahme der deutsch-japanischen Beziehungen jemand wie Solf ausgewählt wurde, der ein tiefes Verständnis für fremde Kulturen besaß. In einem Interview mit der Vossischen Zeitung sieht Solf seine Aufgabe in Japan darin, „das durch den Krieg zerstörte Vertrauen wiederherstellen zu helfen“ und sagt, er habe nicht nur „deutsche Wirtschaftsinteressen zu vertreten“. Vielmehr gelte es, „die geistigen Bande, die zwischen zwei geistig so hochstehenden Völkern wie Japan und Deutschland bestehen, so gut wie möglich zu pflegen“. Japan sei, obwohl es vieles von der westlichen Zivilisation übernommen habe, das einzige Land, „das nicht unter die Herrschaft dieser Zivilisation gekommen ist“. Japan habe versucht, „aus alten Traditionen einerseits und den Erfordernissen der Neuzeit andererseits eine neue, eigene, japanische Kultur zu schaffen“. 18 In seinen Worten kommt eine respektvolle Haltung gegenüber Japan ebenso zum Ausdruck wie sein Verständnis dafür, dass Kultur in den internationalen Beziehungen eine sehr wichtige Rolle spielt, ja sogar deren Grundlage bildet. Solf entwickelte eine freundschaftliche Beziehung zu dem Politiker Gotō Shinpei, der bereits erwähnt wurde. Gotō, der bei einer Europareise auf die Not der Wissenschaftler in Deutschland aufmerksam geworden war, sprach, auch auf Bitten von Solf, darüber mit Hoshi – und bat ihn um Hilfe. Hoshi hatte zu dieser Zeit bereits sein in Asien erfolgreiches Pharmaunternehmen aufgebaut. Er entschloss sich sofort, den Wissenschaftlern in Deutschland nach Massgabe seiner Möglichkeiten zu helfen, weil er wusste, dass „die japanische Wissenschaft der deutschen Wissenschaft seit Jahren viel verdankt“ und weil „Aufstieg und Niedergang der deutschen Wissenschaft mit der Weltkultur aufs innigste verbunden sind“. Deshalb wolle er – so Hoshi – „nur bescheiden unsere Dankbarkeit zum Ausdruck bringen“, wie er in einem Brief an Schmidt-Ott formulierte, den Präsidenten der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, die nach dem Krieg als Maßnahme gegen den Niedergang der Wissenschaft gegründet worden war. 19 Die Spenden japanischer Mäzene wie Hoshi waren aber nicht nur Ausdruck des Dankes für den Beitrag deutscher Wissenschaftler und Experten zur Modernisierung Japans, sondern auch des gestiegenen japanischen Selbstbewusstseins und des Anspruchs auf Gleichrangigkeit, wie der Histo-

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Interview mit Solf in der Vossischen Zeitung Juni 1920, zitiert nach Käser 2012, S. 20. Hoshis Brief an Schmitt-Ott vom 20. Dezember 1924, zitiert nach Oshio, Takashi: Hoshi Hajime. Japanische Schenkungen an die deutsche Wissenschaft, in: Japanisches Kulturinstitut Köln (Hg.), Kulturmittler zwischen Japan und Deutschland. Biographische Skizzen aus vier Jahrhunderten. Frankfurt/New York 1990, S. 194– 204, hier S. 197–198.

riker Hans-Joachim Bieber betont. 20 Nach Botschafter Solf konnte nicht nur Japan von Deutschland lernen, sondern auch Deutschland von Japan. Die Wiederbelebung der wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen nach dem Ersten Weltkrieg geschah also auf der Grundlage der Gleichberechtigung beider Länder. Hoshis Spenden bildeten den Grundstock für den „Hoshi-Fonds“, aus dessen Mitteln vor allem die Grundlagenforschung in Chemie und Atomphysik gefördert wurden. Durch ein „Japan-Komitee“ unter Vorsitz des Chemie-Nobelpreisträgers Fritz Haber, der zusammen mit anderen Wissenschaftlern die „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ 21 (der Vorgänger der heutigen Deutschen Forschungsgemeinschaft) ins Leben gerufen hatte, wurden viele vielversprechende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gefördert. Neben Nobelpreisträgern wie Fritz Haber, Max Planck, Otto Hahn und Lise Meitner kamen ab 1924 über 100 junge Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen in den Genuss dieser Förderung. Nach Angaben der Tätigkeitsberichte der Notgemeinschaft und der Hoshi Universität zeichnete Hoshi 1920 eine Spende von 80.000 Yen in Gold, 1922 eine zweite von 2 Millionen Reichsmark und die dritte Stiftung in Form einer monatlichen Spende von 2.000 Gold-Yen für die Dauer von drei Jahren (1923–1925). 22 Die Hoshi Universität gibt als Gesamtsumme umgerechnet ca. 2 Milliarden Yen (etwa 13 Mio. Euro) an. Das Besondere war, dass Hoshi diese Unterstützung bis 1925 fortsetzte, schließlich sogar 20

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Vgl. Bieber, Hans-Joachim: SS und Samurai. Deutsch-japanische Kulturbeziehungen 1933–1945, München 2014, Monographien aus dem Deutschen Institut für Japanstudien, Bd. 55, S. 85. Die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (NDW), die spätere DFG, wurde 1920 auf Anregung der fünf deutschen Wissenschaftsakademien unter Beteiligung des Nobelpreisträgers Fritz Haber sowie des Juristen und früheren preußischen Kultusministers Friedrich Schmidt-Ott gegründet. Dieser wurde ihr erster Präsident und Haber, der Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie, wurde dessen Vertreter. Siehe DFG Magazin: Die Geschichte der Notgemeinschaft – Forschungsförderung in den 1920er Jahren. https://www.dfg.de/dfg_magazin/aus_der_dfg/geschichte/notgemeinschaft/index.h tml, letzter Zugriff: 30.07.2023; siehe auch Fußnote 1 in diesem Artikel. Vgl. Bericht der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft über ihre Tätigkeit bis zum 31. März 1922; Zweiter Bericht vom 1. April 1922 bis zum 31. März 1923; Dritter Bericht vom 1. April 1923 bis zum 31. März 1924. Druck von Emil Wolff & Söhne, Halle (Saale); Hoshi University: Sōritsusha Hoshi Hajime (Der Gründer Hoshi Hajime). https://www.hoshi.ac.jp/gaiyou/hoshihajime/, letzter Zugriff 31.07.2023; Yoshida, Kuniomi: „Hoshi Hajime shi no kōken ni yoru doitsujin no kagaku ni kansuru gakujutsuteki kenkyū ni tsuite“ (Über die wissenschaftliche Forschung im Bereich Chemie in Deutschland, die mit der Unterstützung von Hoshi Hajime durchgeführt wurde), in: Hoshi Yakka Daigaku Ippankyōiku Ronshū, 1991, Nr. 9, S. 1–8.

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aus seinen eigenen privaten Mitteln, nachdem seine Firma durch politische Intrigen fast alles verloren hatte. Im Jahr 1922 machte Hoshi eine Weltreise und besuchte im Herbst Fritz Haber in dessen Haus in Berlin-Dahlem. Im Jahr 1924 war Haber in Japan und überbrachte als offizieller Repräsentant der deutschen Wissenschaft Hoshi ein Dankschreiben des Reichspräsidenten Friedrich Ebert und der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft. Bei dieser Gelegenheit überreichte der Botschafter Solf Hoshi die Ehrenkette der Technischen Universität Berlin verbunden mit der Ehrenbürgerwürde dieser Universität. Zu seiner Reise nach Japan wurde Haber auch von Albert Einstein angeregt. Zu der Zeit, als Hoshi in Berlin war, im Herbst 1922, hatte Einstein Japan besucht. Auf seiner Reise dorthin erfuhr er von der Verleihung des Nobelpreises. Sein Besuch war ein entsprechend großer Erfolg; er sprach vor tausenden Menschen darüber, dass die moderne Wissenschaft einen Weg zur Schaffung einer Weltkultur öffnen könnte, durch die der Nationalismus der einzelnen Länder überwunden werden könnte. Institutionalisierung der deutsch-japanischen Wissenschaftsbeziehungen Als Beispiel für die Institutionalisierung der deutsch-japanischen Wissenschaftsbeziehungen könnte man die Gründung von zwei Kulturinstituten, des Japan-Instituts 23 in Berlin und des Deutschen Wissenschaftsinstituts in Tokyo betrachten; beide Institute sollten als „Parallelkonstruktion“, wie es Friese nennt, wechselseitig aufeinander bezogen sein. 24 Die Idee dazu war in Gesprächen zwischen Haber, dem Botschafter Solf, Gotō, Hoshi und anderen entstanden. 25 Nach seiner Rückkehr nach Deutschland schuf Haber Anfang 1925 innerhalb weniger Wochen die Voraussetzungen für die Gründung des Japan-Instituts in Berlin. So fand bereits am 15. Juni 1925 eine Planungskonferenz in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft statt, am 18. Mai 1926 wurde das Japan-Institut in einer internen Veranstaltung gegründet und am 4. Dezember desselben Jahres im Festsaal der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft feierlich eröffnet. Ein Teil der Spendenmittel von Hoshi ging in dieses Japan-Institut ein, das als so genanntes „freischwebendes Institut“ in den Räumen der Kaiser-

23

24 25

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Über das Japan-Institut vgl. auch Friese, Eberhard: Das Japaninstitut in Berlin (1926–1945). Bemerkungen zu seiner Struktur und Tätigkeit, in: Du verstehst unsere Herzen gut. Fritz Rumpf (1888–1949) im Spannungsfeld der deutschjapanischen Kulturbeziehungen. Weinheim 1989, S. 73–88. Friese 1990, S. 818. Friese nennt als Personen, die an diesen Gesprächen beteiligt waren: Solf, Gotō, Hoshi, den Buddhologen Takakusu Junjirō und Habers Karlsruher Schüler und Freund Tamaru Setsurō, siehe Friese 1990, S. 820.

Wilhelm-Gesellschaft im Berliner Stadtschloss untergebracht war. Friese schreibt, dass Hoshi noch zweimal beträchtliche Summen stiftete, die der Ausstattung der Räume [...] zugute kamen und den Grundstock einer Japanbibliothek ermöglichten, die bald eine der bedeutendsten außerhalb Japans war und im Hinblick auf den umfassenden Bestand an aktueller Information [über Japan] von keiner Bibliothek in Europa übertroffen worden sein dürfte.“ 26

Damit entstand „der Welt erste Forschungsstätte, die sich die Erarbeitung von Kenntnissen über Japan und deren Weitervermittlung an die Bevölkerung zum Ziele setzte“, wie Friese schreibt, und er ergänzt, dass dieses Institut in der Mitte der 1920er Jahre in der Stadt entstanden sei, „der man nachsagt, die kulturelle Welthauptstadt jenes ‚goldenen‘ Jahrzehnts gewesen zu sein“. 27 Das Parallelinstitut in Tokyo hingegen wurde erst mit Verzögerung am 18. Juni 1927 eröffnet. Es trug nicht den Namen Deutschland-Institut – entsprechend zum Japan-Institut in Berlin –, sondern hieß Japanisch-Deutsches Kulturinstitut. Nach dem Historiker Bieber sollte es aus japanischer Sicht weniger um die Repräsentanz und Förderung der Kenntnis deutscher Kultur in Japan gehen als vielmehr um „japanologische Forschung unter dem Gesichtspunkt ihrer Vermittlung nach Deutschland“. 28 Ein Grund könnte sein, dass auch noch in den 1920er Jahren die deutsche Kultur in Japan weit stärker präsent war als die japanische Kultur in Deutschland. Es gab also immer noch eine starke Asymmetrie in den kulturellen Beziehungen. Während dem Kuratorium des Berliner Instituts neben den drei finanzierenden Ministerien Vertreter der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, des Instituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht und der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angehörten, konnte das Tokyoter Institut nicht die Unterstützung der Japanischen Akademie der Wissenschaften gewinnen. Friese vermutet, dass wegen des noch anhaltenden internationalen Boykotts der deutschen Wissenschaft die Vorsicht der Japaner eine Rolle gespielt haben könnte; man wollte die Zusammenarbeit mit Wissenschaftsorganisationen in den angloamerikanischen Ländern und in Frankreich nicht gefährden. 29 Beide Parallelinstitute hatten nach dem Prinzip der Gleichberechtigung und der kulturellen Gleichrangigkeit jeweils zwei Leiter: einen deutschen und einen japanischen. Was haben nun die beiden Institute erreicht? Das 26 27 28 29

Friese 1990, S. 821. Friese 1989, S. 73. Siehe Bieber 2014, S. 114. Siehe Friese 1990, S. 825.

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Japanisch-Deutsche Kulturinstitut (Nichi-Doku Bunka Kyōkai) in Tokyo, das ja ursprünglich „Deutschland-Institut“ heißen sollte, und das Japanische Institut in Berlin (Berurin Nihon Kenkyūjo, d.h.: Japan-Forschungsinstitut Berlin, später meist Berurin Nihon Gakkai, d.h.: Gesellschaft für Japanwissenschaft Berlin, genannt) arbeiteten in wechselseitiger Abstimmung vor allem im wissenschaftlichen Bereich zusammen. Beide Institute hatten darüber hinaus Anfragen zum jeweils anderen Land zu beantworten, reisende Personen zu betreuen, Kontakte zu vermitteln. Sie führten zahlreiche Vortragsveranstaltungen durch, veröffentlichten Publikationen und versuchten, durch begleitende Pressearbeit eine positive Wirkung auf die öffentliche Meinung im jeweiligen Partnerland auszuüben. Damals hatte Japan als fernöstliches Land noch mit vielen Vorurteilen in westlichen Ländern zu kämpfen; 30 nicht nur unter Intellektuellen gab es ein stärkeres Interesse und mehr Anerkennung für China. Japan galt hingegen eher als Emporkömmling und, wie Friese Oswald Spengler zitiert, als „Mondlichtzivilisation“; 31 Spengler benutzt diesen Begriff in seinem berühmt-berüchtigten Buch Der Untergang des Abendlandes. 32 Und Hitler hat in seinem Buch Mein Kampf, das er nach dem Putschversuch der Nazis im Herbst 1923 im Gefängnis geschrieben hat, die Japaner nicht zu den „kulturschöpferischen“, sondern zu den „kulturtragenden“ Völkern gezählt: 33 „Fremder Einfluss und fremder Geist“ seien „der Erwecker der damaligen japanischen Kultur gewesen“. 34 Trotzdem soll Hitler bereits 1924 Japan als „unseren natürlichen Partner im Kampf mit dem bolschewistischen Moskowitertum“ bezeichnet haben. 35 Unter der damals vorherrschenden eurozentrischen Perspektive hat das Japanbild in dem Sinn gelitten, dass Japan nicht als gleichwertig angesehen wurde. Um dies zu ändern, wurde 1929 in Berlin mit Unterstützung 30

31 32 33 34 35

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Dies haben auch einzelne japanische Intellektuelle und Wissenschaftler zu spüren bekommen. Ein Beispiel ist der spätere Militärarzt und bedeutende Schriftsteller Mori Ōgai (1862–1922), der zwischen 1884 und 1888 in Leipzig, München und Berlin Medizin studierte. Er führte 1886 gegen einen mit Vorurteilen behafteten Artikel über Japan des Geologen Edmund Naumann die so genannte Naumann-Debatte in der Münchener Allgemeinen Zeitung. Vgl. dazu Mae, Michiko: „Düsseldorf: ein japanisches Zentrum in Europa“, in: Helmut Brall-Tuchel (Hg.), Mit anderen Augen. Düsseldorf aus Sicht der Welt, Düsseldorf 2020, S. 39–54, hier S. 44–46. Später, um 1900, setzte er sich kritisch mit der Behauptung einer „Gelben Gefahr“ auseinander. Vgl. dazu Mae, Michiko: „Mori Ōgais Umgang mit den Differenzsetzungen der Moderne“, in: Klaus Kracht (Hg.), „Ōgai“ – Mori Rintarō. Begegnungen mit dem japanischen homme de lettres, Wiesbaden 2014, S. 122–134, hier S. 125–129. Siehe Friese 1990, S. 827. Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, München 1923, hier S. 685. Zitiert nach Friese 1990, S. 828–829. Zitiert nach Bieber 2014, S. 153. Zitiert nach Bieber 2014, S. 154.

der japanischen Regierung die Deutsch-Japanische Arbeitsgemeinschaft (seit 1930 Deutsch-Japanische Gesellschaft 36) gegründet, die neben den beiden Instituten einen Teil der kulturellen Aktivitäten übernahm. 37 Die Bemühungen um eine enge Zusammenarbeit zwischen Japan und Deutschland in den 1920er Jahren waren also durchaus erfolgreich und hätten eine intensive Kooperation in Wissenschaft und Kultur hervorbringen können. Aber leider hat sich diese Entwicklung in den 1930er Jahren nicht fortgesetzt. Zwar haben Haber und Solf, der 1929 die Nachfolge Habers als Vorsitzender des Kuratoriums des Berliner Instituts angetreten hatte, sich gegen die rassistischen Diskriminierungen und Berufsverbote, die ihre Kollegen und Mitarbeiter betrafen, zu wehren versucht. Sie konnten aber die weitere unheilvolle Entwicklung nicht verhindern – Haber starb bereits 1934, Solf, ein Gegner des Nationalsozialismus, zwei Jahre später. Nicht nur Wissenschaftler jüdischer Herkunft, sondern auch deutsche Staatsbürger japanisch-deutscher Abstammung wurden mit Berufsverboten belegt und zur Emigration gezwungen. Diese Vorgänge führten in Japan zu empörten Reaktionen, und der japanische Botschafter in Berlin sagte, die japanische Nation sei „in keinem Punkt so empfindlich“ wie bei „Diskriminierung in der Rassenfrage“. 38 Derselbe japanische Botschafter erklärte aber bereits im April 1933, die nationalsozialistische Bewegung werde „auf der ganzen Erde kaum je so gut verstanden wie gerade in Japan“. 39 Und der japanische Delegierte beim Völkerbund sagte ebenfalls im April 1933, Deutschland sei das einzige Land, dessen Geschichte viele Parallelen mit derjenigen Japans ausweise und das wie Japan für Anerkennung und für seinen Platz in der Welt kämpfe. 40 Es ist also nicht überraschend, dass beide Länder, Deutschland und Japan, 1933 aus dem Völkerbund austraten, und damit – 10 Jahre nach dem Jahr 1923 – beginnt ein neuer Abschnitt in den deutsch-japanischen Beziehungen, der für beide 1945 mit dem völligen Zusammenbruch – auch der wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen – endet. Die sich in den 1920er Jahren so hoffnungsvoll entwickelnden deutsch-japanischen Wissenschafts- und Kulturbeziehungen konnten mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus nicht weitergeführt werden bzw. haben ihren Charakter bis zum Neubeginn nach 1945 verändert. Die zukunftsweisenden Ansätze aus den 1920er Jahren, die Friese in seinem Resümee formuliert, gingen verloren. Er schreibt:

36 37 38 39 40

Über die deutsch-japanische Gesellschaft vgl. auch Haasch, Günther: Die DeutschJapanischen Gesellschaften von 1888–1996, Berlin 1996. Siehe Friese 1990, S. 827. Siehe Bieber 2014, S. 160. Ebd., S. 152. Ebd.

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Damals hatten zahlreiche der beteiligten Persönlichkeiten den Wunsch, an der Sicherung des Weltfriedens mitzuarbeiten. [...] Man verstand die gesellschaftspolitische Aufgabe der Wissenschaft in der Zukunft als einen Beitrag zur Schaffung einer Weltkultur, die, auf Rationalität und freiem geistigen Austausch basierend, die spezifischen Züge einzelner nationaler Kulturen nicht auslöschen, sondern im neuen Licht der friedlichen Verständigung vor dem Hintergrund eines von allen legitimierten Weltrechts aufleuchten lassen sollte. 41

Dies drückt den Geist und die Intentionen der Personen aus, die damals die deutsch-japanischen Wissenschaftsbeziehungen aufbauten, und im Besonderen den Geist von Hoshi Hajime, der an eine positive Entwicklung der Menschheitsträume durch die Wissenschaft glaubte und deshalb auch in schwierigen Situationen seinen Entscheidungen treu blieb, ohne eigene Vorteile zu suchen. Es ist eine Ironie der Geschichte – darauf möchte ich mit Friese noch hinweisen –, dass die Grundlagenforschung in Deutschland, die von japanischen Mäzenen in den 1920er Jahren unterstützt wurde, wenig später zur Entdeckung der Kernspaltung führte, was schließlich den Bau der Atombombe ermöglichte, deren erste Opfer Hiroshima und Nagasaki waren. Zum Schluss Abschließend möchte ich noch kurz auf die Lebensgeschichte von Hoshi Hajime zurückkommen. Er hielt sich an sein Versprechen, die deutsche Wissenschaft zu unterstützen, geriet aber durch politische Intrigen schon bald in eine sehr schwierige Situation. 1924 war mit Katō Takaaki (1860– 1926) ein politischer Gegner von Gotō Shinpei an die Macht gekommen; Hoshi, der Gotō sehr nahe stand, galt als dessen finanzieller Unterstützer und wurde wegen eines genehmigten Handels mit Kokain für medizinische Zwecke immer wieder mit fadenscheinigen Anschuldigungen vor Gericht gestellt, bis der Prozess schließlich 1926 mit der Einstellung des Verfahrens endete. Trotz dieses erwartbaren Ergebnisses war sein Unternehmen ruiniert. Hoshi setzte auch in dieser für ihn äußerst schwierigen Zeit seine Unterstützung der deutschen Wissenschaft fort und nahm sogar eine Hypothek auf sein Haus auf, um 1925 die letzte versprochene Rate zu bezahlen. Da er durch die Schikanen der Obrigkeit geschäftlich in den Ruin getrieben wurde und nichts gegen diese Ungerechtigkeit unternehmen konnte, musste er einsehen: „Die Obrigkeit ist stark und das Volk ist schwach“ – so seine resignierenden Worte auf einer Aktionärsversammlung seiner Firma; dies ist auch der Titel eines der Bücher, die Hoshis Sohn Shin’ichi über ihn geschrieben hat.

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Siehe Friese 1990, S. 832.

Aber Hoshi wäre nicht Hoshi gewesen, wenn er resigniert hätte. Er entwickelte weiterhin viele Geschäftsideen, wie zum Beispiel eine Investition in die Tiefkühlindustrie. Aber der Zweite Weltkrieg zerstörte seine Hauptfabrik und die ausländischen Niederlassungen. Nach dem Krieg, 1946 und 1947, wurde Hoshi mit Stimmenmehrheit ins Oberhaus des japanischen Parlaments gewählt. Als er 1951 im Alter von 77 Jahren in Los Angeles starb, hatte er noch viel vor. Bis zu seinem Lebensende blieb er Optimist und Visionär. Hoshi Hajime glaubte immer an die Weiterentwicklung der Menschheit, „sowohl durch Wissenschaft und Technologie als auch durch Ethik und Ratio (Vernunft)“. 42 Deshalb hat er in seinen Unternehmen seine Mitarbeiter stets zur Weiterbildung motiviert. Diese Haltung wurde zur Grundlage der späteren Hoshi University. Hoshi hat immer an das Gute im Menschen geglaubt, auch wenn er mit dieser Einstellung den politischen Intrigen nicht standhalten konnte. Dennoch ließ er sich nie entmutigen und versuchte trotz Intrigen, trotz des Kantō-Erdbebens und trotz des Zweiten Weltkrieges mit neuen Ideen zur Entwicklung der Menschheit beizutragen. Seine Lebensweise gibt uns auch in unserer heutigen schwierigen Zeit Mut und Zuversicht, immer an dem festzuhalten, was wir für wichtig und richtig halten. Im Jahr 2010 wurde in Hoshis Geburtsort Iwaki (in der Präfektur Fukushima) mit Mitteln aus Deutschland eine zweisprachige Gedenktafel errichtet: Er [Hoshi] schlug [...] über Grenzen und Meere hinweg eine Brücke der Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Japan und Deutschland, die unvergessen ist. 43

In einem SF-Roman mit dem Titel Dreißig Jahre später (Sanjūnen go, 1918) 44 hat Hoshi – nicht sein Sohn, sondern er selbst – eine weiterentwickelte friedliche Welt entworfen, in der nicht nur Krankheiten, sondern auch Alter, Verbrechen und sogar aggressive Gedanken und Kriegführung mit Medikamenten geheilt werden können. Leider ist seine Utopie bis heute nicht Wirklichkeit geworden.

42 43 44

Siehe Oshio 1990, S. 195–196. Aus: „Neues aus Japan“ Nr. 87 der Japanischen Botschaft (Februar 2012). http:// de.emb-japan.go.jp/NaJ/NaJ1202/filesD/Dhoshi.pdf, letzter Zugriff: 23.02.2023. Hoshi, Hajime: Sanjūnen go. Gōhonban. (Dreißig Jahre später), Tokyo, 2016 [1918].

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Stephan Braese

Diktatur der Vernunft? Heinrich Mann im Krisenjahr 1923 Wer am 11. Oktober 1923 in Mitteleuropa – zum Beispiel in Berlin – den Blick auf die erste Seite der Vossischen Zeitung warf – am Frühstückstisch, in U- oder S-Bahn, im Kaffeehaus oder am Kiosk –, sah dort links oben, gleich neben dem tagespolitischen Aufmacher, die Titelzeile „Diktatur der Vernunft“, in kleinerer Type ergänzt um den Hinweis „Von Heinrich Mann“. 1 Seit unmittelbar nach Ende des Krieges der Roman Der Untertan zu einem Sensationserfolg geworden war, 2 hatte der Name seines Verfassers „ganz erhebliche Zugkraft“ 3 entwickelt. Der Text war als offener Brief an den amtierenden Reichskanzler, Gustav Stresemann, adressiert. Heutige vorschnelle Annahmen darüber, was einem liberal-bürgerlichen Publikum wie dem der Vossischen Zeitung damals zumutbar erschienen sein mochte, werden drastisch korrigiert. Über die Deutschen etwa heißt es: Dieses Volk ist immer dort, wo nichts zu holen ist als Wahnsinn, wo nichts zu finden ist als Nacht. – Jeder schäbige Gauner kann dieses Volk,

1

2

3

Siehe Faksimile-Wiedergabe https://dfg-viewer.de/show/?set%5Bmets%5D=htt ps://content.staatsbibliothek-berlin.de/zefys/SNP27112366-19231011-1-0-0-0.xml, letzter Zugriff am 14.03.2023; vgl. auch Mann, Heinrich: Essays und Publizistik, Bd. 3: November 1918 bis 1925, Teil 2: Anhang. Hg. Bernhard Veitenheimer mit Vorarbeiten von Barbara Voigt, Bielefeld 2015, S. 798. Aus diesem Band wird künftig unter der Kurzform „Veitenheimer 2015“ zitiert. Der Offene Brief erschien ebenfalls am 11. Oktober 1923 im Prager Tagblatt. Zu den Verkaufszahlen vgl. den Brief Heinrich Manns an Félix Bertaux, 19. Oktober 1922, in Mann Heinrich/Bertaux, Félix: Briefwechsel 1922–1948. Mit einer Einleitung von Pierre Bertaux, Frankfurt/M. 2002, S. 38–40, hier S. 38. Vgl. auch die emphatische Rezension Kurt Tucholskys in der Weltbühne 13 (1919): „Dieses Buch Heinrich Manns, heute, gottseidank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes“, hier zitiert nach Werner, Renate (Hg.): Heinrich Mann – Texte zu seiner Wirkungsgeschichte in Deutschland, Tübingen 1977, S. 108–113, hier S. 109. Berle, Waltraud: Heinrich Mann und die Weimarer Republik – Zur Entwicklung eines politischen Schriftstellers in Deutschland, Bonn 1983, S. 80.

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mit vorgemachten großen Worten, auf seine Seite bringen, der ehrliche Mann im Guten nie. (8 4)

Daraus wird umstandslos die Funktion der „Denkenden“ abgeleitet: Das einzige wirkliche Daseinsrecht Denkender ist, die Menge der Menschen vor den wenigen, die sie ausbeuten und verderben, zu warnen. Das höchste Ziel eines Politikers kann nur sein, sie vor ihnen zu retten. Handeln Sie, Herr Reichskanzler! (9)

Geprägt sei die Lage von „eine[r] Gierigstenherrschaft, so gierig, daß sie auch noch den Namen der Demokratie stiehlt“ (15). Diese Bestandsaufnahme mündet in den Schluß: „Ich fordere Diktatur der Vernunft. […] Brechen Sie Bestechungen und Lügen, die Geldzufuhr des Verrates an seine Banden, die Presse, die er aushält! Ergreifen Sie Personen und Besitz, rächen Sie die bis in den Tod beleidigte Nation!“ (16) Bereits am nächsten Tag, dem 12. Oktober, wurde im Berliner Tageblatt ein Band unter dem Titel Diktatur der Vernunft angekündigt, der, Anfang Januar 1924 ausgeliefert, 5 den offenen Brief an Stresemann enthielt sowie vier weitere Schriften Heinrich Manns, die ebenfalls im Jahr 1923 erschienen waren und prägnant seine Beurteilung der gesellschaftlichen und politischen Lage der Gegenwart artikulieren. Dabei handelt es sich um eine Charakterisierung der Lage der „geistigen Schicht“ 6 unter dem Titel „Ihr müßt wollen“, erschienen im April; um einen Abriss der ökonomischen Situation Deutschlands unter dem Titel „Europa, Reich über den Reichen“, publiziert im Juli, ein Aufsatz, der zugleich eine Einigung Europas unter Führung von Deutschland und Frankreich vorschlägt; eine Antwort an den französischen Kollegen Jacques Rivière unter dem Titel „Deutschland und Frankreich“, die Bedingungen der Annäherung beider Länder mustert, erschienen im September; sowie die Rede zur Feier der Verfassung, die Mann am 11. August in der Dresdner Semperoper gehalten hatte. Wer hundert Jahre später diese Positionsbestimmungen des großen Romanciers und profilierten Kämpfers für eine republikanische und demokratische Entwicklung in seinem Heimatland, aus dem er zehn Jahre später flüchten musste, studiert, wird unweigerlich auf manche Feststellungen und Kommentare treffen, die – wie man so sagt – ‚unverändert aktuell‘ erscheinen. Etwa, wenn vom Glauben einer älteren Generation die Rede ist, dass „die Zivilisation gesichert [sei], das Leben besänftigt, die Luft zu atmen gut. Sie war […] nicht weit entfernt, zu meinen, so werde es bleiben, die ganze Spanne ihres Daseins.“ (22) Hierin mögen manche Leserinnen und Leser 4 5 6

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Mann, Heinrich: Diktatur der Vernunft, Berlin 1923, S. 8. Die im fortlaufenden Text in Klammern eingefügten Ziffern verweisen auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe. Vgl. Veitenheimer 2015, S. 430. Diese Formel ist ein Bestandteil des späteren Titels dieses Aufsatzes; vgl. Veitenheimer 2015, S. 704.

von heute eine Parallele zu dem Schock erkennen, den sie in der Folge des jüngsten russischen Angriffs auf die Ukraine empfunden haben. Andere Formulierungen gemahnen an eine bis kürzlich im Schwang gewesene neoliberale Weltanschauung, wenn die Überzeugung referiert wird, dass „[b]is ans Ende aller Zeiten […] alle Menschen, die geboren werden, […] den Mehrwert ihrer Arbeit“ an „die Reichsten“ „abliefern [sollen]: ohne Grund und höhere Berechtigung, einfach nur, weil es heute so ist.“ (31) Auch Manns Beobachtung von 1923, dass, „[a]nstatt daß Besitz des Reichsten dem Staat zugeführt ward, […] noch Staatsbesitz in sein Eigentum überging“ (58), ist auch deutschen Bürgerinnen und Bürgern von 2023 nicht fremd. Einen Vorläufer des Bewusstseins von der Ausbeutung des globalen Südens mag man in Manns Bemerkung erkennen, dass sich „[d]ie Bürgerklasse […] nicht verantwortlich [fühlt] für die Völker, die sie ausbeutet und als Futter ihrer Machtgier benutzt.“ (30) Aber auch seine Antwort auf die Frage „Welche größte, ständige, dabei ungreifbare Gefahr bedroht jede ernstgemeinte Demokratie?“ – „Die Reichsten.“ (20) – mögen manche Zeitgenossinnen und -genossen von heute – und nicht nur mit Blick etwa auf die Krise der Demokratie in den USA – unterschreiben. So berechtigt solche Parallelisierungen sein mögen, so ignorieren sie doch nicht nur die spezifische gesellschaftliche, politische, ökonomische und soziale Situation von 1923, sondern nicht weniger auch die Besonderheiten von Heinrich Manns Positionierung im Krisenjahr. Erst der Blick auf diese Besonderheiten und eine kursorische Einbettung von Manns Stellungnahmen in den jeweiligen Kontext mögen einen tatsächlichen Zugewinn an Einsichten darüber ermöglichen, was die im Jahr 2023 allenthalben empfundene Krisenhaftigkeit mit dem Krisenjahr 1923 teilt und was nicht. Im Folgenden werden daher zunächst in einem ersten Schritt Heinrich Manns Stellung zu Revolution und Republik in den Jahren 1918/19 bis 1923 betrachtet; in einem zweiten Schritt werden Manns Thesen und Kommentare zu den zentralen Gegenständen des Bandes Diktatur der Vernunft zusammengefasst, um in einem dritten Schritt die zwei herausragenden Sprechakte – die Dresdner Verfassungsrede, die einigermaßen tumultuös endete, sowie der offene Brief an Stresemann – im tagespolitischen Umfeld genauer zu betrachten. Wenige Bemerkungen beenden diese Ausführungen. I. Heinrich Mann war ein – wie Hans Wißkirchen einmal formuliert hat – „von Kant und Rousseau herkommende[r] Aufklärer“, 7 dem die Französische Revolution als ein „vorweggenommene[r] und entflogene[r] Augen7

Wißkirchen, Hans: „Vom Vernunfttraum zur Diktatur der Vernunft. Zur politischen Entwicklung Heinrich Manns zwischen 1910 und 1925“, in: Heinrich-MannJahrbuch 6 (1988), S. 31–51, hier S. 31.

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blick“ galt, dem die Geschichte der Menschheit fortan einzig „nach[zu]drängen, ihn wieder ein[zu]holen“ 8 habe. Die „Meister“ seiner Generation, so Mann, „wirkten erweiternd, befreiend; Nietzsche gegen die Vaterländer, für Europa, Zola für Dreyfus und von jeher für die Wahrheit, Ibsen für geistige Befreiungen, Tolstoi gegen Krieg.“ (22) Nach der Ausbildung dieser Position, die etwa den Essay „Geist und Tat“ von 1910 grundierte, wurde mit dem Ausbruch der Revolution im November 1918 ein Wendepunkt erreicht insofern, als „es [Mann] nicht mehr möglich [war], das demokratische Ideal als zukünftige Wahrheit der wilhelminischen Wirklichkeit entgegenzuhalten, sondern“ – so formuliert noch einmal Wißkirchen – „es muß zwischen der verwirklichten Demokratie, die natürlich ihre Mängel hat und dem Ideal der Demokratie, das weiterhin etwas ganz anderes als die geschichtliche Wirklichkeit ist, unterschieden werden.“ 9 Tatsächlich jedoch boten die revolutionären Vorgänge in München die Gelegenheit für Mann, dieses Ideal zu überprüfen und zu differenzieren. Die in Berlin und München gegründeten „Räte geistiger Arbeiter“ bildeten den „Versuch Intellektueller, realpolitisch einzugreifen“. 10 Waltraud Berle hat in ihrer bis heute äußerst lesenswerten Untersuchung zur Entwicklung Heinrich Manns während der Weimarer Republik rekonstruiert, wie sich „[d]ie vernunftrepublikanischen Grundsätze Heinrich Manns und die basisdemokratischen Ansprüche der Rätebewegung ergänzten“. 11 Während die Berliner Aktivisten um Kurt Hiller einen logokratischen Anspruch verfochten, lehnte Mann im Münchner Rat die Vorstellung, „den Menschen einer Idee unterzuordnen – und sei es die vom Primat des Geistes –“ 12 ab und warb dafür, „geduldig daran zu arbeiten, daß die Einsicht der Mehrzahl sich erweitere, und daß die vorwärtsdrängende Minderzahl nicht weniger Weisheit betätige als Kraft.“ 13 Ziel war, „[i]n der Richtung zu wirken, daß durch die Revolution die Voraussetzungen für eine Bewußtseinsveränderung, einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozeß, geschaffen würden“. 14

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9 10 11 12 13

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Mann, Heinrich: Geist und Tat [ersterschienen 1910], hier zit. ders., Essays. Erster Band (= Heinrich Mann. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, Band XI. Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin von Prof. Dr. Alfred Kantorowicz), Berlin (DDR) 1954, S. 7–14, hier S. 8. Wißkirchen 1988, S. 39. Berle 1983, S. 67. Ebd., S. 72. Ebd., S. 81. Mann, Heinrich: „Rede bei der Gedächtnisfeier für Kurt Eisner am 16. März im Odeon“, in: ders., Essays und Publizistik. Bd. 3: November 1918 bis 1925, Teil 1: Texte. Hg. Bernhard Veitenheimer mit Vorarbeiten von Barbara Voigt, Bielefeld 2015, S. 28–31, hier S. 30; vgl. auch Berle 1983, S. 81. Berle 1983, S. 84.

Im Gegensatz zur Berliner Situation, wo „keiner der Revolutionsführer von den Bestrebungen des ‚Rats geistiger Arbeiter‘ ernsthaft Notiz nahm“ 15 und diesen rasch zur „Randerscheinung“ 16 degradierte, bot in München die Person Kurt Eisners, des Ministerpräsidenten und Mitglieds der bayerischen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USP), weitaus mehr Anschlussmöglichkeiten. Heinrich Mann und Eisner teilten eine Auffassung, die sie sowohl vom Bolschewismus als auch von der Mehrheitssozialdemokratie und von Hillers Logokratismus unterschied: „die Bedeutung des Individuums für die geschichtliche Evolution.“ 17 Beiden galt das Individuum als „gestaltende Kraft der Geschichte“; 18 über eine „Veränderung des menschlichen Bewußtseins“ sollte eine „libertäre sozialistische“, 19 eine „dezentralisierte, basisdemokratisch organisierte Gesellschaft“ – im Unterschied zur „repräsentative[n] Demokratie“ – erreicht werden, „die sich aber von innen her entwickeln mußte.“ 20 Eisner verband in seiner Person „politische[s] Handwerkszeug“ 21 und die Absicht, die Intellektuellen in diesen revolutionären Prozess einzubeziehen. 22 Es sind diese Übereinstimmungen mit Eisners Anschauungen, die Manns Bekenntnis zur Politik Eisners ermöglichte – denn, so in Manns Worten, „ein Rätesystem, sofern es alle irgend Arbeitenden umschlösse, würde, indem es sie von Grund auf politisierte, jedem vernunftwidrigen Äußersten, ob Imperialismus oder Kommunismus, den Zugang sperren.“ 23 Flankiert wird diese Positionierung durch eine unmissverständliche Absage an die Diktatur: „Diktatur selbst der am weitesten Vorgeschrittenen bleibt Diktatur und endet in Katastrophen. Der Mißbrauch der Macht zeigt überall das gleiche Todesgesicht“ 24 – so Mann im November 1918 in einer Ansprache im Politischen Rat geistiger Arbeiter in München. Die katastrophale Niederlage der USP bei der Landtagswahl im Januar 1919 und der Mord an Eisner am 21. Februar desselben Jahres begruben alle 15 16 17 18 19 20 21 22 23

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Ebd., S. 99. Ebd., S. 82. Ebd., S. 85. Ebd., S. 89. Ebd., S. 88. Ebd., S. 87. Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 99. Mann, Heinrich: „Kaiserreich und Republik“ [Mai 1919], in: ders., Essays und Publizistik. Bd. 3: November 1918 bis 1925, Teil 1: Texte. Hg. Bernhard Veitenheimer mit Vorarbeiten von Barbara Voigt, Bielefeld 2015, S. 34–74, hier S. 70; vgl. auch Berle 1983, S. 101. Mann, Heinrich: „Sinn und Idee der Revolution“, in: ders., Essays und Publizistik. Bd. 3: November 1918 bis 1925, Teil 1: Texte. Hg. Bernhard Veitenheimer mit Vorarbeiten von Barbara Voigt, Bielefeld 2015, S. 18–20, hier S. 19; vgl. auch Wißkirchen 1988, S. 41; und Berle 1983, S. 105.

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Hoffnungen, die Mann und andere in das bayerische Projekt investiert haben mochten. Fortan stand Mann in einer „beständige[n] Spannung von Kritik am realexistierenden Staat und der Loyalität zum republikanischen Prinzip“ 25 nach einer Revolution, „die zwar die Verfassung geändert, jedoch vom Wirtschaftssystem bis zum Beamtenapparat alles beim Alten gelassen hatte“. 26 Als besonders fatal sollte sich das Stinnes-Legien-Abkommen erweisen, in dem sich das Kapital durch die Anerkennung der Gewerkschaften als Vertretungen der Arbeiterschaft und die Einführung des Achtstundentags über „die Zeit des revolutionären Umbruchs“, da „gerade im Ruhrgebiet […] die Bewegung für eine Sozialisierung der Schlüsselindustrien […] außerordentlich stark“ 27 war, hinüberrettete. Noch im April 1923 erkennt Mann in diesem Abkommen eine Ursache der Katastrophe: Warum haben die Sozialisten, als sie die Macht hatten, nicht für das Reich ‚die Sachwerte erfaßt‘? Weil sie es vorsichtiger und ihnen dienlicher fanden, wenn ihre Gewerkschaften sich von gleich zu gleich mit den Unternehmerverbänden schlugen und vertrugen – auf unseren Rücken. (18) 28

Nach dem Scheitern der Münchner Revolution versuchte Mann fortan, mit den Mitteln des Schriftstellers „auf die politische Gestalt der Republik einzuwirken, die er im Gegensatz zur Monarchie für veränderbar, für entwicklungsfähig hielt“; 29 dabei boten die Foren der Presse noch am ehesten die Möglichkeit, „die Kluft zwischen Politik, Kultur und Öffentlichkeit zu überbrücken.“ 30 Waltraud Berle hat diese Bemühungen treffend charakterisiert als Versuche, „demokratisierend ein[zu]greifen“, 31 als „ein[en] individuelle[n] Werbezug für die Republik“; 32 Manns Vertrauen in die „normative Kraft des ‚Geistigen‘“ erachtet sie dabei als „im Prinzip ungebrochen“. 33 II. Kaum eine der öffentlichen Äußerungen Heinrich Manns im Jahr 1923 nimmt nicht direkt oder indirekt Bezug auf die katastrophale ökonomische Situation Deutschlands. Sie war geprägt zum einen durch die ausgebliebene Verstaatlichung der Schlüsselindustrien, zum andern durch den enormen Abgabendruck, den die Reparationen des Versailler Vertrages auf die deutschen Regierungen ausübten, schließlich durch den galoppierenden Wert25 26 27 28 29 30 31 32 33

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Berle 1983, S. 112. Ebd., S. 115. Ullrich, Volker: Deutschland 1923 – Das Jahr am Abgrund, München 2023, S. 85. Vgl. auch Veitenheimer 2015, S. 706. Berle 1983, S. 123. Ebd., S. 124. Ebd., S. 131. Ebd., S. 130. Ebd., S. 129.

verfall der Reichsmark. Noch im Oktober 1922 hatte Mann mit vergleichsweiser Gelassenheit auf diese ökonomische Situation zu reagieren versucht, als er dem französischen Germanisten Félix Bertaux schrieb: Vorläufig kann man den Leuten nicht mit einer verwirklichten – auch wirtschaftlich verwirklichten – Demokratie kommen. Man reicht gerade an sie heran, wenn man sie für eine nur politische, wenn auch hochkapitalistische Republik zu gewinnen versucht. […] Wir müssen […] die Epoche der rein kapitalistischen Demokratie überstehen. Hoffentlich dauert sie bei uns weniger lange; die Maßlosigkeit des heutigen Kapitalismus scheint dies zu versprechen. Aber vorläufig schläft die Sozialisierung der Bergwerke in den Sätzen der Weimarer Verfassung. 34

Kurz darauf verschärfte sich die Situation jedoch spürbar. Als infolge ausgebliebener Reparationszahlungen französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten und die Reichsregierung unter Reichskanzler Cuno die Bevölkerung und die Behörden der besetzten Gebiete zum passiven Widerstand aufrief, kam dies „einem staatlich finanzierten Streik gleich“, der „nur mit der Notenpresse finanziert werden [konnte]. Dies“ – so Bernhard Veitenheimer in einer prägnanten Zusammenfassung der katastrophalen Folgen des sogenannten „Ruhrkampfes“ – „war ein Hauptfaktor der Hyperinflation und ihrer Folgen: Nahrungsmittelknappheit und Hunger, zunehmende Arbeitslosigkeit, politische Radikalisierung, blutige Zusammenstöße und bürgerkriegsähnliche Zustände“. 35 Die Hyperinflation bedeutete eine faktische Vernichtung von Sparguthaben und stürzte damit weite Teile auch des einstigen Mittelstandes ins materielle Elend. Während die Reichswehrführung „Möglichkeiten eines Militärputsches [sondierte]“, 36 „wurde die Möglichkeit eines Bürgerkrieges von einer breiten Öffentlichkeit in Betracht gezogen und von interessierten Kreisen forciert“ 37 – solche Forcierung war umstandslos möglich durch die inzwischen erfolgte Pressekonzentration unter Hugo Stinnes und Alfred Hugenberg. 38 Im ersten Abschnitt seines Aufsatzes „Europa, Reich unter den Reichen“, den er in einer späteren Sammlung seiner Essays 1927 auch mit dem knappen Titel „Wirtschaft 1923“ überschreiben wird, 39 skizziert Mann die historische Verschlingung der geistigen Entwicklung des Bürgertums mit der Entfaltung des Kapitalismus. Einstmals seien dem Bürger „geschäftliche Ehrlichkeit“ und „geistige Reinlichkeit“ (23) noch nicht fremd gewesen,

34 35 36 37 38 39

Heinrich Mann an Félix Bertaux, 19. Oktober 1922, in: Mann/ Bertaux 2002, S. 38– 40, hier S. 39. Veitenheimer 2015, S. 705. Ebd., S. 747. Ebd. Vgl. ebd., S. 748. Vgl. ebd., S. 740.

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wenn auch von früh an Frömmigkeit und Gewinnstreben keinen Gegensatz gebildet hätten: Väterlicher Gefährte seiner Arbeiter, […] aß er mit ihnen, betete mit ihnen und strich den Mehrwert der gemeinsamen Arbeit ein wie einen Tribut an die göttliche Weltordnung. Er war wohl noch redlich fromm, nur daß er von Anfang an das Interesse Gottes von seinem eigenen nicht reinlich unterscheiden lernte. (26f.)

Zwar hätten Forderungen nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ „fühlbar das Erwerbsleben [behindert]“ (25f.); und 1848 war „die unangenehme Überraschung, die unter den Namen des Sozialismus bekannt geworden ist“ (27), aufgetreten. Die „heillose Angst“ (28) vor ihm sei – in den 1870er Jahren – historisch zusammengefallen mit „d[er] Entgleisung der Klasse“ (27). Von nun an habe sie „nach keiner sittlichen Begründung des eigenen Daseins und Wirkens mehr gefragt“. (30) Die Frage „Woher kommt das Recht der Bürgerklasse?“ sei fortan so beantwortet worden: Sie leugnet die lebendige Wirkung von Ideen. Die ‚Wirtschaft‘, jener automatische Vorgang, der die Reichsten immer reicher, die Armen vollends arm macht, ist alles, worauf sie sich beruft. Was bis zu ihr gedacht wurde, ist Zierat, was nach ihr und gegen sie, Verbrechen. […] Bis ans Ende aller Zeiten sollen alle Menschen, die geboren werden, an sie den Mehrwert ihrer Arbeit abliefern: ohne Grund und höhere Berechtigung, einfach nur, weil es heute so ist. (30f.)

Im Rückblick werde deutlich, dass „der Krieg […] das sicherste Mittel für eine Auslese der Gierigsten“ (31) gewesen sei; „[m]illionenfaches Todesopfer des Volkes“ sei „dargebracht [worden] für Bergwerke“. (34) Die gegenwärtige Situation fasst Mann in folgenden Worten zusammen: Nichts weiter zählt mehr im Lande, nur ‚Wirtschaft‘, soll heißen: die großen Vermögen. ‚Nicht an sie rühren!‘ Steuern fast allein aus den Besitzlosen gepreßt, alle sozialen Forderungen vertagt und vergessen, alle kulturellen Werte vertan, ihre Pfleger zu den Lohnsklaven geschoben – aber ‚Wirtschaft‘! […] Die Gierigstenherrschaft hat ihre Presse und ihre Gerichte. Für die meisten Gerichte sind nicht jene die Hochverräter, die dem Land an der Schlagader sitzen; der ist’s, der sie nennt. Die Pressefreiheit hingegen besteht, nach wie vor, gleich stark für alle. Denn wie der Reichste die ganze Presse ungestraft aufkaufen darf, um allein und ohne Widerspruch die Stimme zu erheben, so hat dasselbe unverbrüchliche Recht auch der Ärmste. Nur seine Schuld, wenn er es nicht ausübt: wenn im Land düstere Einmütigkeit entsteht, wie nicht einmal unter dem Absolutismus. (33f.)

Dieses Regime habe „den Mittelstand aufgefressen“ (31), die „nationale Sache“ ist nur mehr „ihr Geschäft“ (36), das Parlament ihr „Spielzeug“ (35).

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Der Name, den Mann diesen Zuständen gibt, lautet: „Diktatur der ‚Wirtschaft‘“ (36). III. Noch vor diesem Abriss der ökonomischen Situation in Deutschland, im April 1923, hatte Mann im Berliner Tageblatt unter der Überschrift „Ihr müßt wollen“ die Situation der Intellektuellen skizziert. Jürgen Haupt bezeichnet den Heinrich Mann dieses Jahres als „selber verarmt und verzweiflungsvoll“. 40 Die Hinwendung zur Tagespresse und zur politischen Publizistik – deren Arbeiten Mann bei Gelegenheit als „Gewissensverpflichtungen“ 41 bezeichnete – war ohne Zweifel dem Motiv öffentlicher Wirksamkeit geschuldet, 42 doch spielte auch der „aktuelle Zwang zum sofortigen Geldverdienen“ 43 eine nicht zu unterschätzende Rolle. Im Mai 1923 teilt Mann Félix Bertaux mit: Jetzt mit 52 Jahren muß ich in Amerika, Tschechoslowakei und jedem Land, das besser zahlt als Deutschland, mein Brot verdienen; dann erst kommt meine wirkliche Arbeit. So stehen wir heute, – indeß ‚die Industrie‘ alles aufkauft. 44

Manns Beitrag „Ihr müßt wollen“ markiert als „[d]as große Mittel“ zur Lösung der Misere „Ordnung des Wirtschaftlichen vom Geistig-Sittlichen aus“ (17), erkennt jedoch im erfolgten „Untergang der geistigen Schicht“ (19) sowohl ein äußerstes Zeichen dieser Misere als auch das Hindernis zum Einsatz des bezeichneten Mittels. Er hält fest: Wirtschaft ist nicht Selbstzweck, und sie führt zu nichts. Man dreht sich mit ihr im Kreise. Sie erlöst von keinem Übel, sondern schafft neue, da der Glaube, sie sei alles, ein ganzes Volk geistig und sittlich abstumpfen kann. (18)

Als zentralen Quellpunkt dieser Entwicklung bezeichnet er einmal mehr die vor allem durch das Stinnes-Legien-Abkommen versäumte Vergesellschaftung der großen Vermögen. Ein Opponieren gegen diese Zustände seitens

40

41

42 43 44

Haupt, Jürgen: „Die Entwertung des Geldes und der Gefühle. Heinrich Manns ‚Inflationsnovellen‘ zur Gesellschaftskrise der zwanziger Jahre“, in: HeinrichMann-Jahrbuch 6 (1988), S. 52–69, hier S. 52. Heinrich Mann an Arthur Schnitzler, 4. Oktober 1923, in: Anger, Sigrid (Hg.): Heinrich Mann 1871–1950. Werk und Leben in Dokumenten und Bildern. Mit unveröffentlichten Manuskripten aus dem Nachlaß, Berlin/Weimar 1977, S. 197f., hier S. 197. Siehe oben. Haupt 1988, S. 53. Heinrich Mann an Félix Bertaux, 10. Mai 1923, in: Mann/ Bertaux 2002, S. 57–59, hier S. 58.

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der von Mann sogenannten „geistigen Schicht“ formuliert er nur noch im Konjunktiv: Wir Zugrundegerichteten hätten das Recht, laut und deutlich zu sprechen, selbst wenn wir nichts weiter verträten als unser armes Leben. Aber wir vertreten, kurz und stark gesagt, Werte, die wichtiger und unersetzlicher sind als Bergwerke und Fabriken. Eine Wirtschaft, die nie erlebte, märchenhafte Vermögen und gleich daneben unseren Tod zuläßt, ist nur noch ein Skandal (18).

Doch nicht nur bleibt diese Stimme aus; vielmehr droht aus dieser Richtung nun auch eine zusätzliche Gefahr: „Aus geistigen Arbeitern und Kulturträgern, die ihr Leben Gott weiß wie fristen, nur nicht mehr oft mit dem, was ihr Beruf wäre, werden die gefährlichsten Feinde der Republik: unvergleichlich gefährlichere als entlassene Offiziere.“ (19) Die Formel gegen Ende des Beitrags „Politik ist die Angelegenheit des Geistes“ wirkt nach alldem nur mehr wie eine resigniert ausgesprochene Beteuerung. Der Titel vom April 1923 – „Ihr müßt wollen“ – mochte noch als eine Art Aufruf zu Besinnung und Selbstdisziplin wirken; die Überschrift, die Mann für diesen Text in einer späteren Sammlung wählte – „Das Sterben der geistigen Schicht“ – war durchaus treffender. 45 IV. Heinrich Manns lebenslanger Einsatz für eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich gründete in der für seine kulturelle und ideologische Sozialisation elementaren Schulung an französischsprachiger Literatur und Intellektualität, erhielt aber zusätzliches Gewicht dadurch, dass im Gefolge der Reparationsabkommen und einer Regierung unter Raymond Poincaré, die – besonders im Verhältnis zu London – auf einer weitgehend kompromisslosen Erfüllung der Reparationszusagen beharrte, das Verhältnis der deutschen Republik zu Frankreich über Jahre im Mittelpunkt deutscher Außenpolitik stand. Manns Aufsatz „Europa, Reich über den Reichen“, dessen erster Teil vor allem die Geschichte von Bürgertum und kapitalistischer Wirtschaftsweise in Deutschland nachzuzeichnen versucht, zielt in ihrem zweiten Abschnitt auf eine Zusammenstellung all jener Faktoren, die für eine Annäherung zwischen Feindstaaten von gestern sprechen. Als ein zentrales Argument führt Mann an, dass nur mehr „der geeinte Kontinent“ noch „eine selbstständige Geschichte haben“ könne, da ein „zerrissene[s] Europa“ „vom Willen der angelsächsischen Reiche und des russischen“, bald auch „des mongolischen Reiches“ „erdrückt“ (44) zu werden drohe. Doch dieses machtpolitischen Aspekts – der auch hundert Jahre später äußerst vertraut klingt – ungeachtet, führt Mann ferner an, 45

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Vgl. Veitenheimer 2015, S. 704.

„daß die nationale Idee geliefert hat, was irgend drin steckte und nicht das geringste mehr verspricht“ (41), dass es „heute […] vorgeschrittene Geistigkeit, kaum noch Willen und Bekenntnis zur Wahrheit ohne einen gewissen Internationalismus“ (41) gebe und dass „[d]ie Idee Europa […] in den Zustand des wissenschaftlich Erwiesenen getreten“ (50) sei. Dieser Überlegungen eingedenk – die, im Mai 1923, durchaus in Richtung Deutschland und Frankreich gerichtet waren –, kommt Mann auf konkrete Maßnahmen zur Beförderung solcher Annäherung zu sprechen. Den Kommunismus verwirft er unter Hinweis darauf, dass er in seinem Versuch, „die geistige Erneuerung der menschlichen Gesellschaft mit der wirtschaftlichen“ zu erwirken, bei der er „jene abhängig von dieser“ mache, „[m]enschliche Eigenschaften“ (46) nicht angemessen berücksichtige. Als zukunftsträchtiger erscheint Mann dagegen die katholische Kirche, sei sie doch „der einzige organisierte Versuch der abendländischen Gesellschaft“ gewesen, „zur Herrschaft ihren Geist zu führen, ihn höher einzusetzen als alle stoffliche Gewalt. Geist, unmittelbare Macht über jeden Europäer: das kam nie wieder.“ (47) Manns anschließende Ausführungen gehen aber durchaus in einige Distanz zur herrschenden Amtskirche, wenn er ausdrücklich formuliert: „Wir müssen unsere eigene Kirche gründen. […] Der Glaube ist Europa, die Heilslehre seine Einheit.“ (48f.) Die Initiative zu dieser Neugründung traut Mann „eine[r] Partei der Denkenden aus beiden Hauptländern“ (51) zu, die – „oder die Nächsten nach uns“ – „gehalten sein“ würden, sich „über alle bisherigen Führer hinweg, selbst mit den Massen zu verständigen“ (52). Eine solche Bewegung könne „das seit langem immer wiederkehrende Zukunftsbild so vieler Erkennenden aufrichten, die Regierung einer Akademie, Weisheit als Macht“. (53) Das Rätekonzept Eisnerscher Provenienz scheint hier kaum übersehbar verabschiedet, eine Annäherung etwa an Hillers Logokratismus vollzogen. Eine deutlich eigentümlichere Differenz zu seinen Überzeugungen von 1918/19 offenbaren jedoch Manns Schlusszeilen dieses Aufsatzes – hier heißt es: „Großes Erlebnis, die Wiederkehr der Idee! […] So brachen Europäer, den Schein des Himmels auf erhobenen Stirnen, zur Eroberung des Heiligen Grabes auf. So war 1789.“ (53) An der Unvereinbarkeit der Kreuzzugsidee des Mittelalters mit den emanzipatorischen Impulsen der Französischen Revolution mag der Druck auf eine Kompromissbildung, den Mann hier zu spüren schien, erkennbar werden. Dem Sohn des protestantischen Lübeck schien es offenkundig alternativlos, dem avisierten Bündnispartner jenseits des Rheins einen Topos anzubieten, der mit aller Entschiedenheit nicht die republikanische, sondern die katholische Tradition des Nachbarlandes aufzurufen versprach. Es sind Wendungen wie diese, die auf das Maß der subjektiv empfundenen Not deuten, in der sich täglich beschleunigenden Katastrophe Perspektiven auf einen Ausweg zu gewinnen.

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Dass Mann in der Lage war, insbesondere für das Projekt einer Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland stilistisch durchaus verschiedene Register zu ziehen, legt seine Antwort an Jacques Rivière offen. Rivière, ein französischer Schriftsteller, der mit Blick auf den Vertrag von Versailles „eine Abkehr von der Ideologie von Schuld und Vergeltung“ gefordert und „die politische Begründung für den militärischen Schritt der Ruhrbesetzung“ verurteilt hatte, „sah jedoch im Faktum der Besetzung strukturell die Chance für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit, die – wenn auch von französischer Seite zunächst diktiert – Grundlage des Friedens zwischen beiden Staaten sein werde.“ 46 Mann – erkennbar bemüht, jenseits der Antizipation einer ‚neuen Kirche‘ auf realpolitische Konstellationen konkret einzugehen – würdigt Rivières Vorschlag ausdrücklich als „eine[n] der ersten französischen Vorschläge […] für eine wirkliche Verständigung mit Deutschland, wenn auch nur für eine praktische“ (55), plädiert jedoch dafür, diese praktische Verständigung dadurch zu verwirklichen, „indem [Frankreich] eine menschliche erstrebt.“ (64) Ursprünglich adressiert an eine französische Leserschaft, 47 gibt Mann eine erneute, pointierte Skizze der ökonomischen Verhältnisse und ihrer Folgen in Deutschland, nun in Form eines Abrisses der Aktivitäten von Hugo Stinnes, ohne dass sein Name fällt: Er kaufte schnell nacheinander alles auf, was dank der Not des Landes zu haben war, Industrien, Verkehrsmittel, Bauten. Er kaufte mit geliehenem Gelde, das er zurückzahlte, wenn es entwertet war. […] Man entging ihm nicht. Die meisten lernten im Sinne seiner Bedürfnisse denken. Nur noch in seiner Bereicherung sahen sie ihr Heil. Kaum noch kämpfende Arbeiter. Keine freie Presse mehr, er hatte sie gekauft. Die Volksvertretung unterlag seiner Kontrolle, der Staat formte sich, in Finanzgebarung, innerer und auswärtiger Politik, nach seinen alleinigen Bedürfnissen. (58)

Auch das bereits an anderer Stelle thematisierte „Sterben der geistigen Schicht“ 48 wird erneut pointiert angeführt: „Anwälte und Ärzte meldeten sich zur Arbeit in Kohlengruben, ertrugen sie nicht und begingen Selbstmord. Literaten gab es nicht mehr; Veröffentlichungen, die keinem Nutzen, nur der Pflege der Humanität gedient hatten, verschwanden.“ (59) Auch die Ermordung jener Politiker, von denen einer „Steuergesetze, die den Reichsten bedrohten“, initiiert, der andere „Miene [gemacht]“ habe, „die Wirtschaft vor dem Staatsinteresse auf die Knie zu zwingen“ (59) – Matthias Erzberger und Walther Rathenau 49– wird erwähnt: „Die Mörder waren bezahlt, das Geld kam wer weiß woher.“ (59) Solcher brutalen Faktizität 46 47 48 49

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Veitenheimer 2015, S. 778. Vgl. ebd., S. 777ff. Siehe oben. Vgl. Veitenheimer 2015, S. 783f.

und Konkretheit gegenüber verharrt Manns Lösungsperspektive allerdings erneut im Abstrakten: Er weist auf die „Wiederbelebung des Freiheitssinnes“ in beiden Ländern hin, als Bestandteil des „historischen Weg[s] des Europäers, der von Erkenntnissen zu Befreiungen geht“. (60) Hinsichtlich der Institutionalisierung politischer Macht schwebt Mann erneut – wie schon im Aufsatz „Europa, Reich über den Reichen“ – eine logokratische Lösung vor: Die Wirtschaft stehe unter der Aufsicht einer geistigen Auslese beider Demokratien. Politik ist Angelegenheit des Geistes. Damit ist sie bestimmt, sittliche Angelegenheit zu werden. Statt der Interessenvertreter, die jetzt in beiden Ländern an der Macht sind, Denkende. – Wenn Idee erst wieder den Stoff meistert, ist es nicht zweifelhaft, wie sie heißen wird. Sie heißt ‚Europa‘: Einigung der Länder Europas, zuerst Deutschlands und Frankreichs, und ein übernationales Reich. (64)

V. All diese Ausführungen aus dem Jahr 1923 verdeutlichen, dass die politischen Konzepte aus der kurzen Münchner Phase zumindest auf irgend absehbare Zeit undurchführbar geworden waren. Eine „geduldige Arbeit“ daran, „daß die Einsicht der Mehrzahl sich erweitere“, 50 „alle irgend Arbeitenden […] von Grund auf politisiert“ 51 würden und die Entwicklung einer dezentralisierten, basisdemokratischen Gesellschaft „von innen her“ 52 erfolgen könne, war aussichtslos geworden. Die katastrophische „Diktatur der ‚Wirtschaft‘“ (36), deren skrupelloses Anheizen des Nationalismus und die Vernichtung der „geistigen Schicht“ (19) hatten die Voraussetzungen einer solchen Entwicklung beseitigt. Die Bevölkerung, dramatischer materieller Not und der Presse unter dem Dirigat der „Gierigstenherrschaft“ (33) schutzlos ausgeliefert, war für die erforderliche Bewusstseinsveränderung nicht ansprechbar; die Schicht jener Intellektuellen, die in diesem Prozess eine maßgebliche Rolle hätten einnehmen sollen, existierte in Manns Wahrnehmung nicht mehr; und nicht zuletzt fehlte die Zeit für eine solche Entwicklung, da nahezu täglich ein Putsch auch auf Reichsebene und damit das Ende der Republik drohte. Es ist diese Situation, die Heinrich Mann zu deutlichen Abstrichen an den 1918/19 formulierten Vorstellungen bewogen hatte – besonders deut50 51

52

Mann, Heinrich: Rede bei der Gedächtnisfeier für Kurt Eisner am 16. März im Odeon, S. 30; vgl. auch Berle 1983, S. 81; siehe auch oben. Mann, Heinrich: „Kaiserreich und Republik“ [Mai 1919], in ders., Essays und Publizistik. Bd. 3: November 1918 bis 1925, Teil 1: Texte. Hg. Bernhard Veitenheimer mit Vorarbeiten von Barbara Voigt, Bielefeld 2015, S. 34–74, hier S. 70; vgl. auch Berle 1983, S. 101; siehe auch oben. Berle 1983, S. 87.

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lich ablesbar in der Absage an die Beteiligung „aller irgend Arbeitenden“, der Neigung zur „Aufsicht einer geistigen Auslese“ (64), der „Regierung einer Akademie“ (53). In wie akuter Gefahr Mann den Bestand der Republik sah, verdeutlichen aber vor allem jene zwei Texte des Diktatur der Vernunft-Bandes, die auf unmittelbare politische Wirkung zu zielen versuchten: seine Dresdner Rede zur „Feier der Verfassung“ und sein offener Brief an Stresemann. In Sachsen amtierte eine von den Kommunisten parlamentarisch gestützte SPD-Regierung unter Erich Zeigner, einem Angehörigen des linken Flügels der Mehrheits-SPD. Nicht nur wurde diese Kooperation mit der KPD im SPD-Parteivorstand als „gefährlich“ 53 erachtet; sondern darüber hinaus hatte Zeigners entschiedene öffentliche Kritik an der „illegale[n] Zusammenarbeit zwischen Militärs und rechtsradikalen Wehrverbänden“ 54 und seine „wohlwollende Duldung, wenn nicht gar direkte Förderung“ der meist unter Leitung der KPD stehenden „sogenannten ‚proletarischen Hundertschaften‘“ 55 die Reichswehr gegen Zeigners Regierung aufgebracht. Erst Anfang August hatte Zeigner in einer öffentlichen Rede seine Reichswehr-kritische Position bekräftigt und die von bürgerlichen Parteien gestützte Reichregierung unter Wilhelm Cuno als „‚bankrott‘“ 56 bezeichnet. Auf die am 28. Juli erfolgte Bitte Zeigners an Mann, die Rede zur Feier der Verfassung in der sächsischen Staatsoper zu halten, hatte Mann am 31. Juli mit einer Zusage geantwortet. 57 Der Journalist Wilhelm Herzog notierte nach einem Besuch Manns am 6. August: „Seine Rede […] wird seine Ablehnung und Negation dieser Art von Demokratie zeigen.“ 58 Victor Klemperer, der die Feierstunde in der Dresdner Semperoper vom dritten Rang aus verfolgte, beobachtete „Erbitterung u(nd) Verbitterung“ 59 des Redners; und auch Zeigner gestand in der späteren erregten öffentlichen Auseinandersetzung über Manns Rede dessen „tiefe Bitterkeit“ und „Zorn“ 60 ein. Manns Bilanz der Verfassungswirklichkeit ist – vier Jahre nach der Verabschiedung des Dokuments in Weimar – illusionslos: Der Geist der Verfassung ist inzwischen verkannt, verleugnet, entstellt, er ist ihr fast ausgetrieben worden. […] Das Kapital ist erst jetzt wahrhaft überwältigend geworden. Seine Herrschsucht vergreift sich erst jetzt ganz offen an jedem einzelnen von uns, wie am Staate selbst. Wir feiern darum 53 54 55 56 57 58 59 60

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Ullrich 2023, S. 143. Ebd. Ebd., S. 144. Ebd. Vgl. Veitenheimer 2015, S. 764. Zit. ebd., S. 761. Zit. Ullrich 2023, S. 145. Zit. Veitenheimer 2015, S. 764.

erst recht die Verfassung, die dies alles nicht mehr kennen wollte, die befreien und Menschlichkeit verbreiten wollte. Sie hat es noch nicht gekonnt. Aber sie soll es einst können. (67)

Die Macht der „größten Industriellen“ erstrecke sich nicht mehr nur auf „die gesamte Wirtschaft“ und „den Staat selbst“, sondern „darüber hinaus [auf] die Denkgewohnheiten der meisten“ (68). Das Schlagwort dieser Monate und Wochen greift Mann unmittelbar auf, wenn er ausruft: „Liebe Freunde, die Diktatur, von der man spricht, muß nicht erst kommen, und käme der Name, er müßte uns keinen Eindruck mehr machen, denn sie selbst ist schon da, es ist die Diktatur der Gierigsten.“ Daran trüge ein von Mann an dieser Stelle nicht weiter präzisiertes ‚wir‘ die Verantwortung, wenn er formuliert, dass diese Verhältnisse „[u]nsere Schuld, unsere sehr große Schuld“ (69) seien. Einmal mehr erinnert er an das Versäumnis der ausgebliebenen Enteignungen: 1919 schrieben wir in die Verfassung etwas über Vergesellschaftung privater wirtschaftlicher Unternehmungen, über Beteiligung des Reiches an diesen Unternehmungen, und daß allermindestens die Bodenschätze unter die Aufsicht des Staates kommen sollten. Steht das 1923 nicht mehr in der Verfassung? (70)

Und auch den exzessiven Nationalismus gibt er als „das Geschöpf unserer Schwäche“ aus, „die zuerst auf den Ausgleich des Besitzes verzichtet hat.“ (72) Dagegen stehe jedoch „[d]er bessere Geist jedes Volkes“, der „Freiheit“ wolle, „und das bedeutet sowohl inneren Ausgleich wie internationale Gerechtigkeit. Aus der Weimarer Verfassung spricht der bessere Geist Deutschlands. Wir müssen ihn wieder hören lernen.“ (72) Als direkte Solidarisierung mit der sächsischen Regierung und als Positionierung gegen ein etwaiges Eingreifen durch die Reichswehr sind die folgenden Sätze zu verstehen: Sollen als verfassungsmäßige Regierungen gelten, die die Macht, das Volksvermögen, den Staat selbst in die Hände einiger Weniger hinüberspielen und sehenden Auges das Chaos begünstigen? Und soll die Reichsexekutive vielleicht vorbereitet werden, gegen solche Regierungen, die den Staat als freien Volksstaat verstehen möchten? Es wird doch täglich deutlicher, daß einzig als freier Volksstaat das Reich noch fortbestehen kann. (73)

Dem sarkastischen Abriss der letzten Auftritte der Regierung Cuno im Reichstag, denen Mann beigewohnt hatte, 61 hält er den Appell entgegen:

61

Vgl. Veitenheimer 2015, S. 775.

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Folgt Führern, ihr Freunde, die in menschlichen Werten denken und in euch das sittliche Wesen sehen, dem sie verpflichtet sind, nicht nur den zu ernährenden Leib. Euer bester Freund, arbeitende Menschen, ist der denkende Mensch! (75)

Auf dem bevorstehenden „dunklen Weg“ sei die Weimarer Verfassung eine „Fackel […]. Wir wollen sie hochhalten.“ (75) Manns Rede wird wiederholt durch Gelächter, Unruhe, zunehmende Unruhe, „Unerhört!“-Rufe und krachend zugeschlagene Türen quittiert, am Ende setzen Zischen wie starkes Händeklatschen ein. 62 Die bürgerliche Presse reagiert einhellig ablehnend: Während die Dresdner Neuesten Nachrichten den „Stil eines Leitartikels der ‚Roten Fahne‘“ 63 erkannten, forderten weltanschaulich benachbarte Blätter auf zu prüfen, ob gegen Mann, aber auch gegen die sächsische Regierung Verfahren aufgrund des RepublikSchutzgesetzes eingeleitet werden müssten. 64 Die Rote Fahne hingegen stellte zutreffend fest: „Heinrich Mann hat […] eine Festrede gehalten, die nicht in den Rahmen der Stinnesrepublik passt.“ 65 Wenige Tage später bekannte Mann Bertaux gegenüber: Bei dem Zustand der Dinge war es überaus schwer, festlich zu sprechen. Ich war das Gegentheil davon, so habe ich nur die sozialistische sächsische Regierung befriedigt – was auch der Zweck war, denn ich wollte sie stützen. 66

Tatsächlich konnte sich die Regierung Zeigner noch wenige Monate behaupten, bevor sie Ende Oktober auf der Grundlage des von der Reichsregierung verhängten Ausnahmezustands abgesetzt und Zeigner selbst wenig später verhaftet und vor Gericht gestellt wurde. 67 In mancher Hinsicht noch dramatischer mochte die Situation am 11. Oktober anmuten, dem Tag des Erscheinens von Manns offenem Brief an den Reichskanzler, da hier nicht weniger als die Existenz der Republik auf dem Spiel zu stehen schien. Am 14. August hatte Stresemann eine große Koalition aus SPD, Zentrum, DDP und DVP bilden können; letzterer gehörte nicht nur Stresemann, sondern auch Hugo Stinnes an. Stresemann, aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, hatte im Weltkrieg „zu den eifrigsten Befürwortern weitreichender Kriegsziele in West und Ost“ gehört und einen „schrankenlosen Annexionismus“ mit „sein[em] unbedingte[n] Eintreten 62 63 64 65 66 67

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Diese Angaben folgen dem im Leipziger Tageblatt abgedruckten Referat der Veranstaltung, wiedergegeben in Veitenheimer 2015, S. 761. Zit. Veitenheimer 2015, S. 762. Vgl. ebd. Zit. ebd. Heinrich Mann an Félix Bertaux, 16. August 1923, in: Mann/ Bertaux 2002, S. 68. Vgl. Ullrich 2023, S. 149–164.

für den unbeschränkten U-Bootkrieg“ 68 flankiert. Als Reichskanzler der Republik stand er einer Fülle kaum lösbar scheinender Probleme gegenüber: Neben der offenen Frage der Reparationen waren dies separatistische Bestrebungen im Rheinland und in der Pfalz, 69 Überlegungen innerhalb der Reichswehrführung, den Reichstag auszuschalten und ein Direktorium einzusetzen, 70 sowie ein offener Konflikt mit Bayern nach dem am 26. September von der Regierung Stresemann verkündeten Abbruch des passiven Widerstandes im Ruhrgebiet. Diesen elementaren Schritt für eine Neuordnung der Staatsfinanzen und für erste effektive Maßnahmen in Richtung einer Bekämpfung der Inflation beantwortete Bayern mit einer Verhängung des Ausnahmezustands und setzte einen sogenannten „‚Generalstaatskommissar‘ mit quasi diktatorischen Vollmachten“ 71 in München ein. Berlin reagierte sofort mit der Verhängung des Ausnahmezustands im Reich per Notverordnung, der sich die neue bayerische Führung jedoch nicht beugte; 72 auch das durch den Reichswehrminister verfügte Verbot des Völkischen Beobachters, in dem Stresemann und der Chef der Heeresleitung als Diktatoren bezeichnet und „scharf angegriffen [wurden], wobei auch der Hinweis, dass sie mit Frauen jüdischer Abstammung verheiratet waren, nicht fehlte“, 73 wurde ignoriert. Gleichzeitig drangen rechte Kräfte um Stinnes in der Reichsregierung darauf, den Achtstundentag auszuhebeln – im Stinnes-Blatt Deutsche Allgemeine Zeitung hieß es unumwunden: „Wir stehen nun einmal vor der Entscheidung, entweder mehr zu arbeiten oder zu verhungern.“ 74 Als im Streit um diese Maßnahme am 3. Oktober die SPD aus der Regierung austrat, war, wie Bernhard Veitenheimer in seiner Zusammenfassung der Lage formuliert, die „Gefahr einer ‚Diktatur der Gewalt‘ durch eine ‚Regierung der Rechten‘ […] gegeben“. 75 Doch bereits am 6. Oktober schien diese Gefahr durch Stresemanns Neuauflage der großen Koalition für den Moment abgewendet. Gleichzeitig forderte Stresemann vom Reichstag, „angesichts der Lage die Regierung“ mit einer – dies die Worte Stresemanns: – „‚Ermächtigung für die Lösung der finanziellen und wirtschaftlichen Fragen‘“ 76 auszustatten. Bernhard Veitenheimer verdanken wir nicht nur den mustergültigen Kommentarband zu Heinrich Manns Publizistik der Jahre 1918 bis 1925 im

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Ebd., S. 107. Vgl. Ullrich 2023, S. 217–241; sowie Veitenheimer 2015, S. 802. Vgl. Veitenheimer 2015, S. 793. Ullrich 2023, S. 120. Vgl. ebd., S. 121. Ebd., S. 122. Zit. Ullrich 2023, S. 124; vgl. zum selben Konflikt auch Veitenheimer 2015, S. 792. Veitenheimer 2015, S. 791. Ebd., S. 792.

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Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe, sondern auch den nachdrücklichen Hinweis darauf, dass schon zuvor [a]uch auf liberaler bürgerlicher Seite […] die Notwendigkeit eines Direktoriums mit diktatorischer Vollmacht diskutiert [wurde]. Dieses Mittel erschien geeignet, eine von nationalistischen Kräften erstrebte ‚nationale Diktatur‘ sowie die drohende Abspaltung Bayerns und des Rheinlandes und damit den Zerfall des Deutschen Reiches zu verhindern. 77

Tatsächlich waren in diesen Tagen des Oktober in großen deutschen Tageszeitungen Überlegungen zu einer „Verfassungsdiktatur“ (Ernst Feder im Berliner Tageblatt vom 4. Oktober), einer „parlamentarischen Diktatur“ (Georg Jahn in der Vossischen Zeitung am 7. Oktober) und – zeitgleich mit Manns Artikel am 11. Oktober – eine „Diktatur der – Vernunft“ (Veit Valentin im Berliner Börsen-Courier) 78 erörtert worden. Am 11. Oktober sollte die entscheidende dritte Lesung zum Ermächtigungsgesetz der Regierung Stresemann im Reichstag stattfinden. 79 Am Morgen dieses Tages erscheint Manns offener Brief an den Reichskanzler in der Vossischen Zeitung. Mann setzt ein mit den Worten: „Herr Reichskanzler! Sie – und wir mit Ihnen – sind haarscharf vorbeigelangt an der Diktatur der Gewalt, dem notwendigen Ergebnis einer Regierung der Rechten.“ (7) Nach dieser Anspielung auf die Situation nach dem 3. Oktober fordert er den Kanzler nun – ganz im Einklang mit den Wortmeldungen in der liberalen Öffentlichkeit in diesen Tagen – auf: „Beugen Sie doch vor! Statt der drohenden Diktatur der Gewalt die Diktatur des Rechtes! – Lassen Sie sich von der bürgerlichen Mitte des Reichstags die Vollmacht erteilen!“ und fügt an: „Ohne diktatorischen Druck wird nichts geleistet werden.“ (7) Im Tonfall der Ungläubigkeit formuliert Mann: „Hoffen Sie im Ernst, ohne Diktatur mit den mächtigen Enteignern des Nationalvermögens fertig zu werden?“ und weist flankierend auf die von den „reichen Empörer[n]!“ bezahlten „Banden und Neben-Reichswehren“ (8) hin. Die Forderungen, die Mann an diese Diktatur der Vernunft knüpft, lauten: „‚Schluß mit uneingeschränktem, unbeaufsichtigtem Hochkapitalismus in einem besiegten, der Not verfallenen Lande!‘“ (13) – „Revidieren Sie die sogenannte Pressefreiheit!“ (9) – „Sprechen Sie selbst mit [Poincaré]!“ (12) Dem von Mann in den zurückliegenden Monaten beobachteten Zögern und Lavieren Stresemanns hält er entgegen: „Wahnsinn ist nicht relativ falsch, Vernunft nicht relativ berechtigt. Ver77 78

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Veitenheimer 2015, S. 793. Vgl. ebd., S. 794 – Die Texte sind dokumentiert im Anhang von Veitenheimer, Bernhard: „Heinrich Manns ‚Diktatur der Vernunft‘ im historischen Kontext. Mit einem Anhang: Drei Texte aus der zeitgenössischen Publizistik (Oktober 1923)“, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 28 (2010), S. 139–164. Vgl. Ullrich 2015, S. 130.

nunft soll nicht rücksichtsvoll sich einschleichen wollen, wo Wahnsinn zu allem fähig ist. […] Behaupten Sie laut und frei die Vernunft!“ (13) Die Effekte einer solchen Diktatur antizipiert Mann nicht ohne auch „furchtbare“ Züge: Sie werden damit all jene abstoßen, deren Zweideutigkeit Sie und das Reich schwächt, heimliche und offene Verschwörer, die Abfallsüchtigen, den patriotisch maskierten Hochverrat. Alle werden aus dem Zwielicht gejagt, Rechenschaft geben oder versinken müssen. Das wahre Deutschland wird endlich ein vielleicht furchtbares, aber reines Gesicht haben. (13)

Am Ende stehe Kapitalismus unter Staatskontrolle, Menschenrechte begrenzt von Klassengarantien: es ist unwahrscheinlich, daß unsere neue Demokratie viel anders aussehen wird, so ist sie schon vorbereitet. […] Das Ziel ist erfüllte Demokratie, lebendes Gebilde aus allen unseren wohl verwendeten Kräften, wie sie sind, wie sie wachsen. (15)

Und gegen Ende seines Briefes versäumt Mann nicht, seine und Stresemanns Herkunft in der politischen Herausforderung dieses Tages zu reflektieren: Ihre eigene Vergangenheit, Herr Reichskanzler, hat Sie nicht darauf vorbereitet, Geschäftemachern in den Weg zu treten, den Besitz unter Staatsnotwendigkeiten zu beugen. Sie waren nicht darauf gefaßt, eine Revolution der Vergiftung durch reiche Verräter entziehen zu müssen, damit der Staat ihr Inbegriff sei. So ist es aber gekommen. Auch ich hätte nie gedacht, ich würde Diktatur fordern. – Ich fordere Diktatur der Vernunft. (15f.)

VI. Tatsächlich erhielt das Ermächtigungsgesetz – wenn auch nicht am 11., sondern erst am 13. Oktober – die erforderliche Mehrheit – „‚Bravo, Reichstag!‘“, schrieb die Vossische Zeitung; 80 eine Reaktion Stresemanns auf Manns Brief ist nicht überliefert. 81 Es ist dies nicht der Ort zu rekonstruieren, ob und in welchem Maß die Regierung Stresemann Manns Forderungen in der Folge entsprochen hat, noch die weitere politische Entwicklung Manns bis zum Ende der Republik und im antifaschistischen Exil zu reflektieren. Die Diktatur der Vernunft, Manns Essay-Sammlung von 1923, zeigt einen deutschsprachigen Schriftsteller in der – vor der Machtübergabe an den Nationalsozialismus – tiefgreifendsten Krise der deutschen Republik. 80 81

Zit. Ullrich 2015, S. 130. Vgl. Veitenheimer 2015, S. 797f.

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Sie zeigt ihn in einer äußersten Anspannung sowohl seiner analytischen Kapazität als auch der ihm zur Verfügung stehenden professionellen Mittel des Schriftstellers und Autors. Dabei zählt es zu den unhintergehbaren Komponenten unserer Post-Shoah-Existenz von heute, dass wir die Katastrophe, die nach Ablauf des katastrophalen Jahres 1923 noch bevorstand, von der auch Mann noch Kenntnis erhielt, unmöglich auszublenden in der Lage sind – und uns so daran hindert, die Zeit nach 1923 als potentiell offene Zukunft, wie sie den Zeitgenossen hat erscheinen müssen, zu denken. Darüber hinaus verleitet das Nachtragswissen der Nachgeborenen ohnehin dazu, Schwächen und Defizite der Vorgänger in besonderer Schärfe wahrzunehmen. So auch hier: Heinrich Manns Konzept eines Primats des Geistigen, sein womöglich allzu leichtfertig erscheinendes Einschwenken auf logokratische Vorstellungen zulasten einer angemessenen Partizipation der „Massen“ (52), und erst recht das zuletzt emphatische Bekenntnis zu einer „Diktatur der Vernunft“ widersprechen durchaus dem Idealbild eines Demokraten, wie es eine bundesrepublikanische Populärkultur unter erheblich veränderten Bedingungen zu verbreiten verstanden hat. Doch zugleich erinnert Manns Beispiel mit einigem Nachdruck daran, dass es keineswegs nur einen Modus verwirklichbarer Demokratie gibt – eine Anmutung, die in vielen gegenwärtigen Debatten antreffbar ist, so etwa in der weithin unmittelbar affektgeleiteten Ablehnung von „Gesellschaftsräten“ 82 –, aber auch an die eklatanten Unterschiede zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Mann bildet das Beispiel eines „geistigen Arbeiters“ – heute würde man wohl von einem Intellektuellen sprechen –, der die Herausforderungen, die sich aus diesen Diskrepanzen ergaben, angenommen hat. Zählt Mann zu jenen, die – wie kürzlich formuliert worden ist – „im Krisenjahr 1923 Freiheit und Würde des Menschen durch geistige und künstlerische Leistungen als unanfechtbar unter Beweis“ 83 gestellt haben? Heinrich Mann zumindest bekannte gegenüber Kurt Tucholsky, der „Zweifel an der Wirksamkeit“ von Manns Arbeit geäußert hatte, dass er sie vor allem zu seiner „Selbstbehauptung“ verrichtet habe: „Was vernünftig wäre, muss man doch wenigstens gewusst haben, sonst ginge man gar zu nichtswürdig mit unter.“ 84

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Vgl. https://letztegeneration.de/gesellschaftsrat/, letzter Zugriff: 08.05.2023. So Christine Frank im Exposé zur Vorlesungsreihe „Berlin im Krisenjahr 1923: Parallelwelten in Kunst, Literatur und Wissenschaft“ an der Freien Universität Berlin. Heinrich Mann an Kurt Tucholsky, 17. Oktober 1923, zit. Stark, Michael: „‚Ihre Briefe sind selten…‘ – Neuigkeiten zum Briefwechsel zwischen Heinrich Mann und Kurt Tucholsky“, in: Peter Paul Schneider in Zusammenarbeit mit dem Senat der Hansestadt Lübeck Amt für Kultur: Arbeitskreis Heinrich Mann – Mitteilungsblatt Nr. 17/1982, Lübeck 1982, S. 64–87, hier S. 74; vgl. auch Veitenheimer 2015, S. 797.

Lara Tarbuk

„Ich bitte um mildernde Umstände für ein Gespenst: Hier sitzt die Zeit der Inflation.“1 Das Jahr 1923 in Ödön von Horváths Sladek oder: Die schwarze Armee (1928) Die nachfolgenden Überlegungen widmen sich der Dramatisierung des Jahres 1923 in Ödön von Horváths Sladek oder: Die schwarze Armee und legen dar, wie dieses Stück der unmittelbaren Bedrohung der Weimarer Republik, die es in unterschiedlichen Ausprägungen aufzeigt, mit einer Reflexion dieser Republik und ihrer Grundsätze im Medium der theatralen Aufführung begegnet. Dabei setzt sich Horváths im Jahr 1927 begonnene und bis 1928 fertiggestellte Historie in drei Akten, wie er sein Drama im Untertitel nennt, nicht nur dezidiert mit den Entwicklungen, Diskursen und Zuständen von 1923, sondern auch mit deren gerichtlicher, politischer und gesellschaftlicher Aufarbeitung im Jahr 1925 auseinander; in ihrer zeitlichen Ausdehnung fokussiert die dramatische Handlung des Stückes entsprechend auch die tiefgreifenden Folgen und Fortwirkungen der ausgemachten Bedrohungslage der frühen Republik im Jahr 1923. Die Entstehungsgeschichte des Stückes, deren unterschiedliche Stationen Aufschluss über seine diskursiven Kontexte und Voraussetzungen versprechen, beginnt im Frühjahr 1927 in Berlin. Zu dieser Zeit hatte sich Horváth, wie aus einem Hinweis in der Ossietzky-Biografie von Kurt R. Grossmann hervorgeht, 2 für einige Wochen im Büro der Deutschen Liga für Menschenrechte e.V. aufgehalten. Die Liga, eine demokratische, antimilitaristisch ausgerichtete Organisation, war am 28. Mai 1922 aus dem noch 1914 gegründeten, pazifistischen Bund Neues Vaterland hervorgegangen, der sich dem Aufbau der deutschen sozialistischen Republik auf demokratischer

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Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, in: ders., Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 2, hg. v. Nicole Streitler-Kastberger, Berlin und Boston 2016, S. 113–160, hier S. 155. Den Primärtext zitiere ich im Folgenden aus dieser Ausgabe. Vgl. dazu Grossmann, Kurt R.: Ossietzky. Ein deutscher Patriot, München 1963, S. 162f. Vgl. dazu auch die Ausführungen von Traugott Krischke in: Krischke, Traugott: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit, München 1980, S. 57–59.

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Grundlage sowie dem Ziel der Völkerverständigung verschrieben hatte. 3 Ihrem Anliegen nach stand die Deutsche Liga für Menschenrechte damit, wie Werner Fritsch im Lexikon zur Parteiengeschichte ausführt, oft in einer Reihe mit der KPD, von deren Programm sie jedoch deutlich abzugrenzen ist: „Während diese aber den Kampf um die Demokratie als Klassenkampf gegen die Monopolbourgeoisie führte und sich stets der Grenzen der bürgerlichen Demokratie und der Notwendigkeit ihrer Ablösung durch die sozialistische Demokratie bewußt war, beschränkte sich die Liga auf die Sicherung der in der Weimarer Verfassung enthaltenen demokratischen Rechte und auf den Kampf gegen einzelne reaktionäre Erscheinungen und Institutionen.“ 4 Innerhalb der Biografie Carl von Ossietzkys berichtet Kurt R. Grossmann, der von 1926 bis 1933 Generalsekretär der Liga war, von einer Tagung, welche diese im Dezember 1926 in Berlin unter dem Titel Vertrauenskrise der Justiz ausgerichtet hatte. Daraufhin fährt er unmittelbar mit einer Beschreibung der Aktivitäten der Organisation zu Jahresbeginn 1927 fort: In den Räumen der Liga in der Wilhelmstraße setzte eine rege Tätigkeit ein. Ein Bruder des Ministerialdirektors Carl Falck (des späteren Oberpräsidenten der Provinz Sachsen), Bürgermeister a.d. Falck aus Freienwalde, und der Schriftsteller Ödön von Horváth zogen in unser Büro ein, um die umfangreichen Unterlagen zu sichten. Ende Mai war die Arbeit abgeschlossen. Die Liga übergab die Denkschrift „Acht Jahre politische Justiz“, die gleichzeitig als Buch unter dem Titel „Das Zuchthaus – Die politische Waffe“ erschien, der Öffentlichkeit. 5

Um welche Unterlagen es sich handelt und in welcher Funktion Horváth sie gesichtet hat, geht aus Grossmanns Schilderung nicht hervor; auch über sein Verhältnis zur Liga ist nichts Genaueres bekannt. 6 Allein die Tatsache aber, dass die Erwähnung seiner Tätigkeit bei Grossmann innerhalb eines Absatzes erfolgt, der ganz der Zusammenstellung und Herausgabe dieser

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Zur Geschichte der Liga bis 1927 vgl. Lehmann-Russbüldt, Otto: Der Kampf der Deutschen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Weltfrieden. 1914–1927, Berlin 1927. Fritsch, Werner: „Deutsche Liga für Menschenrechte“, in: Fricke, Dieter (Hg.): Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789–1945), Bd. 1, Köln 1983, S. 747–759, hier S. 751. Grossmann, Kurt R.: Ossietzky. Ein deutscher Patriot, S. 162f. Lediglich für das Jahr 1929 lässt sich seine Teilnahme an einer Diskussionsveranstaltung der Liga mit dem Titel „Gegen die Zensur, für die Geistesfreiheit“ belegen. Vgl. dazu: Schnitzler, Christian: Der politische Horváth. Untersuchungen zu Leben und Werk, Frankfurt/M. 1990, S. 60.

Denkschrift gewidmet ist, legt nahe, dass Horváth sich an ihrer Entstehung beteiligt haben mag. 7 Die im Mai 1927 unter dem Titel Acht Jahre politische Justiz erschienene Schrift beinhaltet eine umfangreiche Sammlung unterschiedlicher Dokumente, die die politische Befangenheit der Justiz nach der Ausrufung der Republik belegen sollen. 8 Neben Justizstatistiken, Urteilssprüchen und Beschlüssen finden sich darin auch Zeitungsartikel, Kommentare und Stellungnahmen wieder, die die öffentliche Debatte um die jeweils besprochenen Gerichtsfälle abbilden. Grossmann preist die Veröffentlichung in seiner Rezension als „Kampfmittel für die Gerechtigkeit“ und beschreibt sie als Versuch, „Rechenschaft abzulegen über Zustände, die der Republik nicht zur Ehre gereichen.“ 9 Den Ausgangpunkt der auf die Materialsammlung folgenden Denkschrift, als deren Verfasserin lediglich die Liga angeführt wird, bildet die Vertrauenskrise der Justiz, die bereits weite Kreise der Bevölkerung erfasst habe und auf die unmittelbare Erfahrung richterlicher Befangenheit zurückzuführen sei: „Es handelt sich um die ganz unverkennbare charakteristische Tatsache, daß ein erheblicher Teil unserer heutigen Justiz in sogenannten politischen Prozessen und in Prozessen mit politischen und sozialen Hintergründen nicht gleichmäßig Recht für und gegen Rechts und Links spricht.“ 10 Insbesondere im Fall kommunistischer Gesinnungen werde das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie die Gleichheit vor dem Gesetz von Richtern missachtet und dies, wie die Verfasser wiederholt betonen, „in einem Rechtsstaate, der sich ‚die freieste Republik der Welt‘ nennen lässt, und dessen Grundlage die Weimarer Verfassung ist.“ 11

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Auch der anschließende Satz, der konstatiert, dass die Arbeit Ende Mai abgeschlossen war, erscheint erst verständlich, wenn man ihn auf die vorangegangene Durchsicht der Unterlagen bezieht. Noch auf der Tagung im Dezember war die Gründung eines Arbeitsausschusses beschlossen worden, „dessen erste Aufgabe es sein soll, das einschlägige Material unter Benutzung aller zugänglichen Stellen zu sammeln“, wie einer knappen Pressenotiz zu entnehmen ist. In: Deutsche Liga für Menschenrechte e.V. (Hg.): Die Menschenrechte. Organ der Deutschen Liga für Menschenrechte, 1. Januar 1927, Nr. 1/2, S. 19. Deutsche Liga für Menschenrechte e.V. (Hg.): Acht Jahre politische Justiz. Das Zuchthaus – Die politische Waffe, Berlin 1927. Grossmann, Kurt R.: Rez. Acht Jahre politische Justiz, in: Deutsche Liga für Menschrechte e.V. (Hg.): Die Menschenrechte. Organ der Deutschen Liga für Menschenrechte, 31. Mai 1927, S. 1–4, hier S. 1. Deutsche Liga für Menschenrechte e.V.: Acht Jahre politische Justiz, S. 214. Die 1966 erschienene umfangreiche Studie Politische Justiz 1918–1933 von Heinrich Hannover und Elisabeth Hannover-Drück bestätigt in ihrer Aufarbeitung exemplarischer Fälle das Gesamturteil der politischen Befangenheit weiter Teile der Weimarer Rechtsprechung: Hannover, Heinrich, Hannover-Drück, Elisabeth: Politische Justiz. 1918–1933, Mit einem Vorwort von Joachim Perels, Bornheim 1987. Deutsche Liga für Menschenrechte e.V.: Acht Jahre politische Justiz, S. 222.

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Dass sich im Rahmen dieser Justizkritik auch ein längerer Abschnitt zur Schwarzen Reichswehr und den mit ihr in Verbindung stehenden Fememorden findet, bekräftigt die Annahme, dass Horváth an der Entstehung dieser Schrift beteiligt war und ausgehend von dieser Arbeit auch sein Stück entworfen hat. Diese Feststellung unterstreicht eine spezifische Rahmung seiner Beschäftigung mit diesem Thema, welches bereits im Herbst 1925 mit den Enthüllungen von Carl Mertens in der Weimarer Öffentlichkeit für Aufsehen gesorgt hatte. Als ehemaliges Mitglied der Schwarzen Reichswehr berichtete Mertens in seinen sog. Drei-Sterne-Aufsätzen in Siegfried Jacobsons Weltbühne anonym von seinen Erfahrungen als Adjutant des militärischen Leiters der Organisation. 12 In der Denkschrift der Liga steht allerdings nicht die Schwarze Reichswehr im Mittelpunkt, sondern ihre gerichtliche und politische Aufarbeitung – und zwar als Teil der zeitgenössischen Debatte um die Vertrauenskrise der Justiz. Auch mit Blick auf Horváths Stück lässt sich festhalten: Die Darstellung der Schwarzen Armee und ihrer Fememorde ist eingebettet in eine Darstellung der Weimarer Justiz und ihrer Missstände. 13 Sowohl Sladek, der im Laufe der Handlung in die Schwarze Armee eintritt und einen Mord an seiner Lebensgefährtin Anna begeht, als auch der pazifistische Journalist Franz, der diese Zusammenhänge in einem Artikel aufdeckt, stehen im dritten Akt des Stückes vor Gericht. Dass die vorangegangene Dramenhandlung in den beiden Gerichtsszenen ein zweites und drittes Mal besprochen und beurteilt wird, unterstreicht ihre herausgehobene Stellung innerhalb des Stückes, welches sich innerhalb dieser Szenen auch selbst einer spezifischen Deutung unterzieht. Mit der Darstellung einer politisch befangenen Justiz geht in Horváths Sladek oder: Die schwarze Armee, wie schon in der Argumentationslinie der Liga, schließlich auch eine Reflexion der Republik und ihrer demokratischen Grundsätze einher. Ihren Ausgangspunkt nimmt diese Reflexion in der dramatischen Darstellung der gesellschaftlichen Zustände und Diskurse des Jahres 1923. Deren tiefgreifende Folgen bildet Horváths Stück sowohl auf der Ebene der geführten ideologischen Auseinandersetzungen als auch in der Charakterisierung und Konzeption seiner Figuren ab.

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[Mertens, Carl]: „Vaterländische Verbände. Erlebnisse und Erfahrungen“, in: Die Weltbühne. Wochenschrift für Politik, Kunst, Wirtschaft, 21. Jahrgang, zweites Halbjahr, hg. v. Siegfried Jacobsohn, Charlottenburg 1925, S. 239–258. In der wissenschaftlichen Beschäftigung wurde dieser Rahmung bisher nur vereinzelt Aufmerksamkeit geschenkt. Eine Ausnahme stellt die Beschreibung von Klaus Petersen dar, der betont, dass Horváth „das Versagen der politischen Justiz in den Vordergrund“ rücke und der das Stück entsprechend in seine breit angelegte Studie aufnimmt. Petersen, Klaus: Literatur und Justiz in der Weimarer Republik, Stuttgart 1988, S. 157.

Im Laufe des Jahres 1929 unterzog Horváth die im Vorjahr fertiggestellte Erstfassung des Stückes einer grundlegenden Überarbeitung. Er straffte die dramatische Handlung und verringerte die Anzahl der Figuren und Schauplatzwechsel. 14 Unter dem Titel Sladek, der schwarze Reichswehrmann 15 wurde diese Fassung am 13. Oktober 1929 am Lessing-Theater in Berlin unter Regie von Erich Fisch uraufgeführt. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die ausführlichere und in größerer zeitlicher Nähe zur Arbeit der Liga stehende Erstfassung des Stückes, die den Titel Sladek: Oder die schwarze Armee trägt. „Das Ende einer Diskussion“ als Anfang eines Stückes Mit der als Das Ende einer Diskussion betitelten Eingangsszene stellt Horváth der um Sladek angeordneten Handlung eine Dramatisierung der zeitgeschichtlichen Umstände von 1923 voran. Die Szene spielt auf der Straße, vor dem Eingang in einen Saal, in dem laut Szenenanweisung eine „rechtsradikale Versammlung“ 16 stattfindet. Sie beginnt mit Musik: Ein nicht näher bezeichneter „Präsentiermarsch“ 17 dringt von der Versammlung im Saal raus auf die Straße. In Horváths einige Jahre später entstandenem Volksstück Italienische Nacht spielen die Faschisten anlässlich ihres Deutschen Tages den bayerischen Präsentiermarsch. 18 Am 28. Januar 1923 hatte auch Adolf Hitler mit diesem Präsentiermarsch die neue Fahne seiner Partei auf deren erstem Parteitag in München von zwei Kapellen feierlich einweihen lassen. 19 Im weiteren Verlauf der Szene wechselt sich die Diskussion im Vordergrund der Bühne wiederholt mit Musik und Gesang aus dem Saal im Hintergrund ab. Dialog und musikalische Darbietung kommentieren sich wechselseitig, wie dies auch für Horváths spätere Volksstücke, darunter neben der Italienischen Nacht auch prominent die Geschichten aus dem Wie-

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Durch diese Raffung ergeben sich jedoch inhaltliche Unstimmigkeiten im Handlungsverlauf der zweiten Fassung. Vgl. dazu: Bartsch, Kurt: Ödön von Horváth, Stuttgart und Weimar 2000, S. 61. Ödön von Horváth: „Sladek, der schwarze Reichswehrmann“, in: ders., Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 2, hg. v. Nicole Streitler-Kastberger, Berlin und Boston 2016, S. 161–189. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S.115. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S.115. Ödön von Horváth: „Italienische Nacht“, in: ders., Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 2, hg. v. Nicole Streitler-Kastberger, Berlin und Boston 2016, S. 495–530, hier S. 508. Vgl. Jones, Mark: 1923. Ein deutsches Trauma, Berlin 2022, S. 114.

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nerwald, charakteristisch ist. 20 Den Ausgangspunkt der titelgebenden Diskussion stellen die unterschiedlichen Deutungen des Kriegsausgangs dar: DIE BUNDESSCHWESTER (erscheint im Tor.) Was hat der gesagt? Wir hätten den Krieg verloren? Solche Subjekte haben uns Sieger erdolcht und das Vaterland der niederen Lust perverser Sadisten ausgeliefert! Am Rhein schänden syphilitische N[…] deutsche Frauen, jawohl, das deutsche Volk hat seine Ehre verloren! Wir müssen, müssen, müssen sie wieder erringen, und sollten zehn Millionen deutscher Männer auf dem Felde der Ehre fallen! 21

Mit der Dolchstoßlegende, der Schmähung der Novemberrevolutionäre sowie der sich daran anschließenden Auseinandersetzung um den Vertrag von Versailles bietet das Gespräch charakteristische Versatzstücke der zeitgenössischen politischen Diskussion über den Verlauf und die Folgen des Ersten Weltkrieges; gleich zu Beginn skizziert die Szene in der vorgeführten Auseinandersetzung exemplarisch auch einen breiteren gesellschaftlichen Diskurs. Die Besetzung des Ruhrgebietes zu Beginn des Jahres 1923 hatte in der deutschen Öffentlichkeit für eine starke Welle nationalistischer Erregung und antifranzösischen Furor gesorgt. Volker Ullrich führt zahlreiche Berichte von Zeitgenossen an, die sich an die Stimmung aus dem August 1914 erinnert fühlten. 22 Am 11. Januar 1923 waren französische und belgische Truppen ins Ruhrgebiet einmarschiert, nachdem Deutschland den im Versailler Vertrag festgelegten Reparationsforderungen nicht nachgekommen war. Die Regierung unter Wilhelm Cuno, der erst Ende November 1922 von Ebert ins Amt berufen worden war, antwortete mit einer Strategie des passiven Widerstandes, deren Finanzierung durch die Notenpresse die ohnehin schon grassierende Inflation weiter vorantrieb. Knorke, ein weiterer Besucher der Versammlung, der sich in dieser Szene mit dem Journalisten Franz über die Ruhrbesatzung streitet, verschmäht diese Strategie als „Ausgeburt jüdischer Niedertracht!“ und „rote Feigheit“; 23 dem passiven Widerstand setzt er unter dem Motto „Krieg ist Krieg!“ 24 den Wunsch nach aktivem Widerstand entgegen: „Bald marschiert die nationale Armee und rottet das pazifistische Gesindel aus!“. 25 Tatsächlich wurden im Verlauf der Ruhrkrise schließlich auch jene Strukturen eines aktiven Widerstandes ge-

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Vgl. dazu: Baumgartner, Wilhelm Martin: Lied und Musik in den Volksstücken Ödön von Horváths, in: Krischke, Traugott (Hg.): Horváths Stücke, Frankfurt/M. 1988, S. 154–180. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 115, Auslassungen LT. Vgl. Ulrich, Volker: Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2022, S. 30–32. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 116. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 116. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 116.

schaffen, die den Aufbau der Schwarzen Reichswehr im Laufe des Jahres 1923 ermöglichen sollten. 26 Die rassistisch motivierte Sorge der Bundesschwester um die Schändung deutscher Frauen am Rhein rekurriert derweil auf die seit 1920 geführte Propagandakampagne gegen die sog. „Schwarze Schmach“, die 1923 einen weiteren traurigen Höhepunkt erreichte. 27 Die sowohl von privaten als auch von staatlichen Akteuren geführte Kampagne richtete sich gegen den Einsatz französischer Kolonialsoldaten, die beschuldigt wurden, deutsche Frauen und Kinder zu vergewaltigen. Schlagzeilen, Flugblätter, Plakate und Titelseiten reproduzierten entmenschlichende Bilder schwarzer Soldaten. Mark Jones kommentiert in 1923: Ein deutsches Trauma: „Die Anwesenheit von Kolonialsoldaten auf dem Gebiet eines Landes, das sich noch immer als Großmacht betrachtete, demütigte die Deutschen und bestätigte die Behauptungen deutscher Politiker und Meinungsmacher, die siegreichen Alliierten würden Deutschland wie eine Kolonie behandeln.“ 28 Mit dem Gespräch zwischen Franz und den Veranstaltungsteilnehmenden stellt Horváth, so ließe sich zusammenfassen, der um Sladek angeordneten Handlung eine Dramatisierung der öffentlichen Diskussion von 1923 voran; der Zeit der Inflation, in welcher er den ersten Teil seines Stückes verortet, 29 spürt er im Wortlaut ihrer Diskussionen nach. Unterbrochen wird das Streitgespräch auf der Straße wiederholt von Gesängen aus dem Saal, darunter auch eine aktualisierte Fassung des Liedes der Brigade Ehrhardt, deren Zeilen der Dramentext entsprechend wiedergibt. 30 Zeitungsberichten zufolge war auch dieses Musikstück schon auf dem ersten Parteitag der NSDAP im Februar 1923 gesungen worden. 31 Auffällig erscheint die räumliche Anordnung dieser zwischen Diskussion und Gesang iterierenden Szene: Während die Bühne das Geschehen auf der Straße zeigt, bleibt der Veranstaltungssaal – und mit ihm die angedeutete Bühne jener musikalischen Darbietungen – szenisch ausgespart und dringt folglich nur als Geräuschkulisse aus dem Hintergrund in den Theatersaal. Darin lässt sich eine spiegelverkehrte Anordnung des Theaters erkennen, welche die Bühne des Stückes auch szenisch als Gegenentwurf zur Bühne 26

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Für eine umfassende Darstellung der Aktivitäten, Zielsetzungen und Strukturen der Schwarzen Reichswehr vgl.: Sauer, Bernhard: Schwarze Reichswehr und Fememorde. Eine Milieustudie zum Rechtsradikalismus in der Weimarer Republik, Berlin 2004. Zu Verlauf und Ausrichtung der Kampagne vgl. dazu Wigger, Iris: Die „Schwarze Schmach am Rhein“. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse, Münster 2007. Jones, Mark: 1923. Ein deutsches Trauma, S. 133. „Zeit: Die Inflation und Tage der Wiedererstarkung“, heißt es in der vorangestellten Zeitangabe: Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 114. Vgl. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 116–117. Vgl. dazu Jones, Mark: 1923. Ein deutsches Trauma, S. 117.

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jener rechtsradikalen Versammlung kenntlich macht. Dass der Journalist Franz, der zuvor von einer Gruppe von Hakenkreuzlern aus dem Versammlungssaal geprügelt worden war, blutspuckend an der Wand lehnt, während drinnen das Lied der Brigade Ehrhardt gesungen wird, bringt – anstelle dieser rechtsradikalen musikalischen Darbietung – die ihr inhärente Gewalt auf die Bühne des Stückes; der zusammengeschlagene Journalist verkörpert in dieser Bühnenanordnung umso deutlicher die gewaltverherrlichenden wie gewaltvollen Zeilen des Liedes und wird damit zum Kontrapunkt jener ausgesparten Aufführung hinter den Kulissen. Nicht zuletzt findet in diesem Schlag auch das titelgebende „Ende einer Diskussion“ eine weitere, unheilvolle Entsprechung. Die Figur als Seismograf ihrer Zeit: Die Bedeutung der Generation Für Horváths Figuren erweisen sich der Krieg und seine Folgen sowie die anschließende Inflation und Hyperinflation als bestimmende Ereignisse ihrer Kindheit und Jugend. Wiederholt finden sich die Protagonisten seiner Prosa- und Dramentexte auf diese Ereignisse zurückgeworfen. Für die titelgebende Figur des Stückes, den 21-jährigen Sladek, gilt dies in besonderem Maße. Anna, von der sich der arbeitslose Sladek finanziell aushalten lässt, charakterisiert ihren jüngeren Geliebten wie folgt: [Anna] Sladek ist ja noch ein Junge, der sich an nichts erinnern kann, als an Krieg. Er kann sich den Frieden gar nicht vorstellen, so misstrauisch ist er. Er ist in der großen Zeit groß geworden, das merkt man. 32

In ihrer Gleichsetzung der „großen Zeit“ des Krieges mit dem „groß geworden[en]“ Sladek, lässt sich eine Infragestellung der im Wortgebrauch angelegten Charakterisierung dieser Zeit feststellen; 33 gemessen an ihrem Vertreter nimmt sich diese Zeit in Horváths Stück nicht all zu groß aus. „Sladek ist als Figur ein völlig aus unserer Zeit herausgeborener und nur durch sie erklärbarer Typ“, 34 beschreibt Horváth den Protagonisten seines Stückes in einem Interview aus dem Jahr 1929 und lässt ihn damit, gleichsam mit Haut und Haar, zur Personifikation jener ‚großen Zeit‘ werden, die er in dieser Äußerung entsprechend auch selbst in Anführungszeichen setzt. Sowohl Horváth als auch seine Figur Anna rücken die generationelle Prägung Sladeks in den Mittelpunkt; entsprechend weist ihn auch das Stück ausdrücklich als Angehörigen des Jahrgangs 1902 aus.

32 33

34

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Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 122. „In dieser großen Zeit [,] die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war“, heißt es ganz ähnlich schon in Karl Kraus berühmten Aufsatz: Kraus, Karl: In dieser großen Zeit, in: Die Fackel, 5. Dezember 1914, Nr. 404, S. 1–20, hier S. 1. O., W. E.: „Typ 1902. Gespräch mit Ödön Horvath“, in: Tempo (Berlin), 13.10.1929. Zitiert nach: Horváth, Ödön von: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 2, S. 16.

Der Begriff der Generation erfreute sich im Diskurs der Zeit besonderer Beliebtheit, worin sich nicht zuletzt die große Tragweite jener gesellschaftlichen und politischen Umstände zeigt, welche als prägende Kräfte der sich unter ihnen formenden Generationsbegriffe fungieren. Im Herbst 1928 begann Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues als Vorabdruck in der Vossischen Zeitung zu erscheinen, welcher seinen Protagonisten zur Stimme der sogenannten ‚Verlorenen Generation‘ macht: „[M]it mir sehen das alle Menschen meines Alters hier und drüben, in der ganzen Welt, mit mir erlebt das meine Generation“, 35 hält Paul Bäumer über die Grausamkeit des Krieges an der Front fest. Im gleichen Jahr hatte bereits Ernst Glaeser seinen Roman Jahrgang 1902 veröffentlicht, 36 der sich, anders als Remarque, jenem Jahrgang widmet, der den Krieg in jugendlichem Alter nicht an der Front, sondern hinter den Frontlinien verbracht hatte; in seiner Charakterisierung des Sladek bezieht sich auch Horváth in seinem späteren Interview ausdrücklich auf diesen Roman. 37 Ebenfalls im Jahr 1928 veröffentlichte Karl Mannheim in den Kölner Vierteljahresheften für Soziologie einen Aufsatz mit dem Titel Problem der Generationen, in welchem er eine soziologische Bestimmung des Begriffes vornahm. 38 Als Ziel seiner Beschäftigung mit dem Phänomen formuliert Mannheim „das Verständnis der beschleunigten Umwälzungserscheinungen der unmittelbaren Gegenwart“, 39 welche auf die Rolle der Generationen in der Fortbildung des Kulturgutes zurückzuführen seien. In seiner anlässlich der Hamburger Uraufführung von Revolte auf Côte 3018 veröffentlichten Autobiographischen Notiz betont Horváth, geboren im Jahr 1901, auch die eigene generationelle Prägung. 40 In Horváths Stück bringt Sladeks Verteidiger die gesellschaftlichen und politischen Umstände der Jugend seines Mandanten derweil vor Gericht als Schuldminderungsgrund vor:

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Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues, Berlin 1929, S. 260. Glaeser, Ernst: Jahrgang 1902, Potsdam 1928. Vgl. O., W.E.: Typ 1902. Gespräch mit Ödön Horvath. Mannheim, Karl: „Das Problem der Generationen“, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157–185 und S. 309–330. Mannheim, Karl: Das Problem der Generationen, S. 168. Ödön von Horváth: „Autobiographische Notiz“, in: ders.: Wiener Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 1, hg. v. Nicole Streitler-Kastberger, Berlin und Boston 2019, S. 163. Zu Horváths Auseinandersetzung mit dem Begriff der Generation vgl. auch: Müller, Karl: „‘Mein Leben beginnt mit der Kriegserklärung.‘ Krieg und Kriegsfolgen im Werk Ödön von Horváths“, in: Karlavaris-Bremer, Ute/Müller, Karl/Schulenburg, Ulrich N. (Hg.): Geboren in Fiume. Ödön von Horváth. 1901-1938. Lebensbilder eines Humanisten, Wien 2001, S. 43–61, bes. S. 47–54.

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RECHTSANWALT Der Angeklagte ist das Geschöpf einer kranken Zeit. Ein Mensch, der sich an unsere stolze Vergangenheit nicht erinnert, der in der großen Zeit die Stimme wechselte, und der anfing zu denken, als wir den Krieg verloren haben, das spricht Bände. Ohne Sinn für Moral negiert er alles Allgemeinmenschlich-Gefühlsmäßige und grübelt über lauter Selbstverständlichkeiten: Er beschäftigt sich nur mit sich selbst, aber ohne jede Kultur. Ich bitte um mildernde Umstände für ein Gespenst: Hier sitzt die Zeit der Inflation. SLADEK Ich bitte, mich als Menschen zu betrachten und nicht als Zeit. 41

Getränkt in nationalistischem Pathos – die Größe jener ‚großen Zeit‘ findet sich in seinen Worten gerade nicht in Frage gestellt – betont der Anwalt die generationelle Prägung Sladeks, für die er sich nicht nur auf die Zeit des Krieges, sondern auch auf die anschließende Zeit der Inflation beruft. Dass er letztere mit dem Attribut der Krankheit versieht, impliziert die Gesundheit der Gegenwart von 1925, in welcher er diese Beurteilung vornimmt. Ein solches Selbstverständnis findet sich in der vorangestellten Zeitangabe des Stückes karikiert, welche die Gegenwart von 1925 lakonisch als „Tage der Wiedererstarkung“ 42 beschreibt; auch die Gerichtsverhandlung findet sich in einer der Szenenüberschriften dementsprechend einer „Justiz der Wiedererstarkung“ 43 zugeordnet und damit gänzlich vom Stand der Währung her bestimmt. Die unmittelbar anschließende Bitte des Verteidigers, „den Angeklagten auf seinen Geisteszustand hin untersuchen zu lassen“, 44 fügt sich in die diagnostische Metaphorik seiner Rede ein und macht Sladek, seinem vehementen Widerspruch zum Trotz, ganz zur Verkörperung seiner Lebensumstände. An seinem Körper – der innerhalb eines dramatischen Textes immer auch auf einer theatralen Bühne vorzustellen ist – gilt es die Vitalparameter jener Zeit zu messen und auszuwerten. Mit seinem Einspruch gegen eine solche Deutung bezieht sich Sladek ausdrücklich auf die zentrale Auseinandersetzung des Stückes – die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv, wie sie die ideologische Auseinandersetzung um den Stellenwert der Republik innerhalb des Stückes bestimmt. Vor deren Hintergrund muss auch die Gleichsetzung Sladeks mit den Umständen seiner Zeit zumindest fragwürdig erscheinen. Als Beobachterin der historischen Femeprozesse im Jahr 1927 kommt Gabriele Tergit, die in den 1920er Jahren Gerichtsreportagen für den Berliner Börsen-Courier, das Berliner Tageblatt und die Weltbühne schrieb, 45 in Anbetracht der verhandelten Gerichtsfälle zu einem auffällig ähnlichen 41 42 43 44 45

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Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 155. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 114. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 146. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 155. Zu Tergits Tätigkeit als Gerichtsreporterin vgl. einführend: Wagener, Hans: Gabriele Tergit. Gestohlene Jahre, Göttingen 2013, S. 19–26.

Urteil. Ihren am 25. März 1927 unter dem Titel „Gestalten aus dem Femeprozess. Gespenster“ im Berliner Tageblatt veröffentlichten Artikel beginnt sie wie folgt: Moabit ist seit einigen Jahren Quelle für die Erkenntnis der Zeit. Nicht mehr um die individuelle Tat des Einzelnen, die Sensation einer saturierten Gesellschaft, um zeitlos menschliche Triebe, wie im Prozess Hau, Tarnowska, Kwilecki, um die Erbschaft, die Geliebte, das Kind handelt es sich, sondern das typische Geschehen selber, die Epoche, res gestae steht vor Gericht. Willkür fast, so scheint es, dass wirkliche Menschen auf der Anklagebank sitzen. Musterbeispiele gleichsam. In zwei Schwurgerichtssälen macht sich die Historie breit. 46

Die bei Horváth wie bei Tergit wiederkehrende Metapher des Gespenstes setzt dem geflügelten Wort vom ‚Gespenst des Kommunismus‘, 47 dasjenige einer militarisierten Rechten entgegen. „Die Gespenster des Jahres 1923 gehen um“, 48 heißt es in Tergits Reportage auch an späterer Stelle. Der Gebrauch dieser Metapher macht in beiden Texten deutlich, wie die Gefahren von 1923 in der Gegenwart von 1927 zwar unwirklich anmuten müssen, sie aber dennoch, erschreckend lebhaft, einzuholen wissen. Die charakteristische Gegenüberstellung der „individuelle[n] Tat des Einzelnen“ und der Umstände seiner Zeit, die Horváths Stück bis in seinen Titel hin prägt, stellt auch den Schwerpunkt von Tergits Reportage dar. In ihrer abschließenden Bewertung hält sie diesbezüglich fest: Er [der Landgerichtsdirektor] hat jetzt zu richten über eine Tat, die Mord ist und Mord bleibt, mag man sie auch aus Milieu und Zeit erklären wollen, mag man noch so sehr mit Fingern deuten auf die Rolle des Reichswehrministeriums, das am Anfang des Prozesses von Angestellten und Arbeitern redete – fast Zufall, dass keine Invalidenmarken geklebt wurden – und am Ende des Prozesses von den Arbeitern als Soldaten des Regiments Westhavelland spricht. 49

Gegenüber Tergits ausgewogener Einschätzung am Ende ihrer Reportage, fällt das Urteil über Sladeks Prozess in Horváths Stück deutlich polemischer aus. Bis zum Schluss betrachtet der zuständige Richter den Mord an Anna ausschließlich als eine individuelle Tat und damit losgelöst vom Kon-

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Tergit, Gabriele: „Gestalten aus dem Femeprozess. Gespenster“, in: Berliner Tageblatt, 25. März 1927, Nr. 142, S. 5f., hier S. 5. Zu Marx’ und Engels’ Metapher als prägender Diskursfigur des Gespenstes vgl.: Baßler, Moritz/Gruber, Betina/ Wagner-Egelhaaf, Martina: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Gespenster. Erscheinungen – Medien – Theorie, Würzburg 2005, S. 9–24. Tergit, Gabriele: Gestalten aus dem Femeprozess. Gespenster, S. 5. Tergit, Gabriele: Gestalten aus dem Femeprozess. Gespenster, S. 6, Anmerkung LT.

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text der Schwarzen Armee. 50 Bereits der Untersuchungsrichter in Franz’ Prozess sieht darin einen „nachgewiesenermaßen ganz gewöhnlichen Mord“. 51 Sladek selbst erkennt darin den „Fehler“, dass er „nun als einzelner für etwas, was [er] als Teil tat“, 52 belangt werde. Führung der Schwarzen Armee, Aufführungen der Republik Der ausgewiesenen Unzulänglichkeit der gerichtlichen Aufarbeitung der Ereignisse im Umfeld der Schwarzen Armee stellt der dramatische Text seine eigene Darstellung dieser Geschehnisse gegenüber – eine Darstellung, wie jene im Zeitungsartikel des Journalisten Franz, der dafür innerhalb der Dramenhandlung des Landesverrats beschuldigt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Schon aufgrund dieser Gegenüberstellung drängt sich nicht zuletzt die Frage nach der Rolle des Theaters und seiner Aufführung innerhalb des skizzierten diskursiven Umfelds des Stückes auf. Bereits in der räumlichen Struktur der Eingangsszene, welche die Aufführung der rechtsradikalen Versammlung mit derjenigen des Stückes kontrastiert und den blutenden Journalisten als deren Kontrapunkt auf die Bühne bringt, deutet sich in Horváths Stück eine entsprechende Reflexion der eigenen Bühne und Aufführung an. Noch deutlicher wird diese Reflexion in der dramatischen Darstellung der Schwarzen Armee. Die Verbindungen dieser geheimen Gruppierung mit der regulären Reichswehr und den Institutionen des Staates personalisiert das Stück in der Figur des Bundessekretärs, der dem Hauptmann als Abgesandter einer „maßgebenden Stelle“ aus Berlin Weisungen erteilt: [Der Bundessekretär] Sie sind ein Mensch, dem man ab und zu seine Lage klar machen muß. Sie samt Ihren Soldaten unterstehen einer maßgebenden Stelle, die die geheime, gegen alle außenpolitischen Verpflichtungen erfolgte Aufstellung ihrer Armee vor der Republik mit dem Schutze vor äußeren Feinden begründet, in Wahrheit aber die nationale Diktatur erstrebt. Offiziell muß die maßgebende Stelle republikanisch tun, um inoffiziell die Republik unterhöhlen zu können. Offiziell tragen Sie die Verantwortung, inoffiziell befiehlt die maßgebende Stelle. Sie können praktisch nur bestehen, weil und solange Sie offiziell nicht bestehen. Vorerst existieren Sie überhaupt nicht. 53

Im Gespräch zwischen Hauptmann und Bundessekretär wird die Obstruktion des Staates durch einzelne Mitglieder der staatstragenden Eliten – so50

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Axel Fritz spricht in an dieser Stelle treffend von einer „Tendenz zur Entpolitisierung der Fememorde“ durch den Richter. Axel Fritz: Ödön von Horváth als Kritiker seiner Zeit, München 1973, S. 83. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 147. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 155. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 113–114.

wie seine daraus resultierende Bedrohung – offengelegt. 54 Dabei zeigt sich, dass nicht nur die Schwarze Armee im Geheimen agiert, sondern auch „die maßgebende Stelle“, die innerhalb des staatlichen Gefüges der Republik zwar „republikanisch“ tut, insgeheim aber den geplanten Putsch der Schwarzen Armee anführt. Das derart charakterisierte Handeln der ominösen „maßgebenden Stelle“ und ihrer Vertreter sowie der daraus resultierende Status der Schwarzen Armee und ihrer Mitglieder lässt sich mit dem fiktionalen ‚Als ob‘ einer theatralen Aufführung vergleichen – nach Ansicht der „maßgebenden Stelle“ wäre die Republik wohl ohnehin nur als Aufführung zu vollziehen. Stützen lässt sich dieser Vergleich anhand der Darstellung der beiden Gerichtsverhandlungen im dritten Akt. In Sladeks Verhandlung fällt zunächst der in den Szenenanweisungen mehrfach vermerkte – und durchaus befremdlich anmutende – Applaus der Öffentlichkeit auf, 55 der die Worte des Richters begleitet und die der Gerichtsszene inhärente Theatralität betont. Noch deutlicher lässt sich diese jedoch an der Figur des Richters ablesen: Wie im vorangestellten Figurenverzeichnis des Stückes festgehalten, soll der Richter in Sladeks Prozess vom gleichen Schauspieler gespielt werden wie der Bundessekretär der maßgebenden Stelle, der Untersuchungsrichter in Franz’ Prozess, der Kriminalkommissar, der Sladek im dritten Akt verhaftet, sowie der Polizist, der in der letzten Szene seinen Pass kontrolliert. Die dadurch evozierte Identität von Bundessekretär und Richter hebt die politische Befangenheit der Justiz noch einmal gesondert hervor; auch die Unterstützung der Schwarzen Armee durch die Behörden des Staates wird durch die Verbindung dieser Figuren vollständig sichtbar – dies umso mehr, als es sich bei allen fünf Figuren um Vertreter des Staates handelt. Wie Stefan Krammer herausstellt, erzeugt diese Konzentration auf eine Person eine „monolothische Vorstellung von einem Staat, dem nicht zu entkommen ist.“ 56 Dass der Staat in Horváths Stück – im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne – nur ein Gesicht hat, verweist auch zurück auf die Herrschaft des Einzelnen, wie sie der Hauptmann der Schwarzen Armee als nationale Diktatur propagiert. Der dargestellte Staat unterstützt somit nicht nur die illegale Aufrüstung innerhalb der Schwarzen Armee, sondern erscheint – infolge der Unterwanderung der Republik – innerhalb seiner 54

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Zu den politischen Einstellungen innerhalb der staatstragenden Eliten sowie ihrer Rolle im Zersetzungsprozess der politischen Kultur der Weimarer Republik vgl. Peukert, Detlev J.K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. 1987, S. 219–226. Vgl. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 154. Krammer, Stefan: Pars pro toto. Synekdochische Staatsfiktionen bei Ödön von Horváth, in: Krammer, Stefan/Straub, Wolfgang/Zelger, Sabine (Hg.): Tropen des Staates. Literatur – Film – Staatstheorie 1918–1938, Stuttgart 2012, S. 109–122, hier S. 115.

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Institutionen bereits in Teilen nach deren ideologischen Vorstellungen gestaltet. Mit Blick auf ihre Verkörperung durch den wiederkehrenden Schauspieler, der sich mal als Bundessekretär, mal als Richter und mal als Polizist kostümiert, ließe sich, ganz im Sinne der „maßgebenden Stelle“, die zwar „republikanisch“ tut, insgeheim aber den geplanten Putsch der Schwarzen Armee anführt, von einer Aufführung der republikanischen Staatsform und ihrer Institutionen sprechen. Die damit evozierte Täuschung, die grundsätzlich von der Fiktionalität einer Aufführung zu unterscheiden ist, wird aufgrund des in unterschiedlichen Rollen des Staates auftretenden Schauspielers mit dem Theater und seinem Rollenspiel in Verbindung gebracht. Enttarnt wird diese Inszenierung jedoch ebenfalls ausdrücklich mit den Mitteln des Theaters, insofern als erst der Körper des jeweiligen Schauspielers auf der Bühne die unterschiedlichen Verbindungen zwischen den Figuren offenlegt. „Das ist noch keine Republik, das wird erst eine!“, 57 muss schließlich sogar der Journalist Franz eingestehen, der sich in den ideologischen Auseinandersetzungen des Stückes unermüdlich auf die Grundsätze dieser Republik beruft. „Ist es nicht grotesk, dass mich nun die Justiz dieser Republik, für deren Leben ich fast fiel, verurteilen will, weil ich sie vor ihren falschen Freunden warne?“, 58 beklagt er während seiner Verhandlung im Gerichtssaal. Dass er in dieser Verhandlung vom Richter gleich mehrfach nach seiner politischen Gesinnung gefragt wird, unterstreicht die auch von der Liga bemängelte Befangenheit einer mehrheitlich konservativ bis reaktionär eingestellten Richterschaft. Die fortlaufende Bedrohung durch die Putschpläne und Putschversuche der Schwarzen Armee, die verheerenden Folgen der Inflation sowie die politische Befangenheit der Justiz lassen Franz das Bestehen der Republik offen in Zweifel ziehen. „Es ist keine billige pessimistische Attitüde, sondern eine recht zwangsläufige Erkenntnis, wenn man es einmal offen sagt: es gibt keine Republik in Deutschland!“, hält Carl von Ossietzky 1924 ganz ähnlich in einem Artikel in der Wochenschrift Das Tage-Buch fest und fährt fort: „Man spricht häufig von der Republik ohne Republikaner. Es liegt leider umgekehrt: die Republikaner sind ohne Republik.“ 59 Dieser „zwangläufige[n] Erkenntnis“ folgt auch Franz’ im Stück gleich mehrfach wiederholter Ausspruch. Neben der düsteren Diagnose seiner Gegenwart beinhaltet dieser jedoch, in seinem zweiten Teil,

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Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 137. Ödön von Horváth: Sladek oder: Die schwarze Armee, S. 147. Ossietzky, Carl von: Deutsche Linke, in: Das Tage-Buch, 20. September 1924, Heft 38.

auch die von Zuversicht getragene Aussicht auf eine Zukunft der Republik; „das wird erst eine!“, gibt Franz, entsprechend optimistisch, zu verstehen. 60 In der Zweiteilung dieses Ausspruches lässt sich auch der poetische wie politische Anspruch von Horváths Stückes erkennen. In Einklang mit Franz’ Diagnose zeigt es in der Offenlegung der politischen Justiz, der illegalen Aufrüstung der Reichswehr und der versagten Möglichkeit journalistischer Darstellung die drohende Aushöhlung der Republik auf, die es dabei jedoch in der eigenen theatralen Aufführung dieser Ereignisse einzuholen sucht. Gerade dort also, wo ihre Bedrohung im Stück am deutlichsten in Erscheinung tritt – darunter prominent die Ereignisse und Diskurse des Jahres 1923 – wird die Republik in Horváths Stück innerhalb der theatralen Aufführung vollzogen; dann jedoch gerade nicht im Sinne jener „maßgebenden Stelle“. Der Leugnung des sichtlich befangenen Richters zum Trotz, bringt das Stück Taten und Absichten der Schwarzen Armee, einschließlich des Fememords an Anna, auf die Bühne und bezieht damit auch im zeitgenössischen Diskurs um die Schwarze Reichswehr, die gerichtliche Aufarbeitung der Fememorde und die politische Justiz, eindeutig Stellung. Einer Republik, die von Seiten der „maßgebenden Stelle“ lediglich als Rollenspiel zu inszenieren wäre, setzt Sladek oder: Die schwarze Armee seine eigene theatrale Aufführung entgegen.

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Zu den Zukunftsentwürfen der Weimarer Republik vgl. insb. Graf, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008.

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Olga Voronina

Death, Reimagined: Nabokov’s Berlin Tragedies and the Art of Redemption I. Safe Harbor or a “Kingdom of Shadows”? Russian Berlin in 1922–23 The peak of hyperinflation notwithstanding, 1923 and the preceding two years held real promise for Russian émigrés in Berlin. Just recently, many of them had to endure a variety of privations on their way out of Bolshevik Russia. Although some relied on wealth accumulated in advance and could rent apartments in the capital’s most fashionable districts as well as fund new businesses, 1 others arrived fully destitute. Collectively, they left behind arrested friends and graves of executed relatives; abandoned the bulk of their property to expropriators; fought for a seat on an overcrowded ship or experienced forced exile on the “Philosopher’s Steamboat”; made their way through the territories taken over by two clashing armies or rebel militants; and negotiated nightmarish check-points. 2 These hardships, a shared literary and artistic heritage, and the common language cemented the community of three to six hundred thousand citizens of the former Russian Empire which German capital had absorbed. 3 The refugees flooded Berlin boarding

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2

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Alekseeva E.V., Gerasimova N.P., Demina L.I., et al., eds. Russkie bez Otechestva: ocherki antibol’shevistskoi emigratsii 20–40-kh godov. Moscow: RGGU, 2000. Pp. 14–28. Kotel’nikov, Konstantin. Russkii Berlin 1919–1933. Moscow: DPK-Press, 2022. Pp. 99–129. Gessen, Iosif. Gody izgnaniia: Zhiznennyi otchet. Paris: YMCA PRESS, 1979. Pp. 4– 20; 46–47; Bakuntsev, Anton. “‘Ekhat’ nam ne minovat’…’: I. A. Bunin nakanune emigratsii iz Rossii (1919–1920)”, in: Vestnik Moskovskogo universiteta. Seriia 10. No. 3. 2017. Pp. 151–167; Chamberlain, Lesley. The Philosophy Steamer: Lenin and the Exile of the Intelligentsia. London: Atlantic Books, 2006; Gul’, Roman. Ia unes Rossiiu: Apologiia emigratsii. Vol. 1. Rossiia v Germanii. Moscow: B.S.G. Press, 2001. The data of the American Red Cross, as cited by Volkmann, brings the number of Russians in Germany in 1920 to 560,000. However, Fridjof Nansen, then Chief Comissar for the Refigee Affairs at the League of Nations, cited 350,000 refugees from Russia residing in Germany in 1921. Volkmann H.E. Die russische Emigration in Deutschland. 1919–1929. Wurzburg, 1966. Pp. 5–6. One source establishes that Germany absorbed more than one quarter of all Russian refugees and that Berlin took in 360,000 of them. Gatrell, Peter. The Making of the Modern Refugee. Oxford: Oxford University Press, 2013. P. 55.

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houses, where, as one aspiring writer recollected, “everyone spoke Russian but with the most diverse accents – Jewish, Caucasian, German, Ukrainian, and God knows what others.” 4 Feeling that life was acquiring the semblance of normalcy by getting jobs or taking advantage of the money providentially transferred or fortuitously brought from home, they hoped to beat the economic crisis – in part, by engaging in rampant cultural production. 5 As the émigré journal The Firebird [Zhar-Ptitsa] asserted in 1922, the influx of writers, painters, actors, and scholars to Berlin implied that “the entirety of the artistic world would soon gather here, abroad.” 6 This impression was not groundless. Writers of great repute, such as Ivan Bunin, Andrei Belyi, Vladislav Khodasevich, Marina Tsvetaeva, Dmitrii Merezhkovskii, Zinaida Gippius, Georgii Ivanov, Victor Shklovskii, Sasha Chornyi, Alexei Remizov, Mark Aldanov, and Ilia Ehrenburg, along with philosophers and scholars (Semen Frank, Nikolai Berdyaev, Fedor Stepun, Iurii Aikhenvald) and artists (Ivan Puni, El Lissitskii, Vasilii Kandinskii, Aleksandr Archipenko, and others) saturated the Berlin artistic milieu with their ideas and talent. By the end of 1923, in addition to three daily and five weekly Russian newspapers, 7 the city hosted eighty-six Russian-language publishing houses. 8 There were also Russian cabarets and theaters, Russian4

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This pronouncement by Vadim Andreev is cited in Utkin, Roman. Charlottengrad: Russian Culture in Weimar Berlin. Madison and London: University of Wisconsin Press, 2023. P. 5. Such as the money belonging to Joseph Hessen, who started a number of publishing ventures in Germany; Avgust Kaminka, who supported The Rudder; Abram Vishniak, who ran publishing house “Gelikon” with his and Iu. B. Shteinberg’s money; Georgii Leichtenbergskii, who funded the publishing house “Mednyi vsadnik,” and G. A. Goldberg, who provided support for the publishing house “Mysl.” Gessen. Gody izgnaniia. Pp. 22–23, 30–45, 148–149; Bazanov P. N. and I. A. Shomrakov. “Russkie izdatel’stva v Berline, 1920–1924 gg.” In Vestnik SPbGUKI. No. 4 (33). December 2017. Pp. 8–10. Zhar-Ptitsa. No. 3. 1921. P. 2. Ehrenburg Ilia. “Liudi, gody, zhizn’.” In Sobranie Sochinenii. Vol. 8. Moscow: Khudozhestvennaia literatura, 2000. P. 407. Boyd, Brian. Vladimir Nabokov: The Russian Years. Princeton, NJ: Princeton University Press, 1990. P. 198. Joseph Hessen, the former colleague of V.D. Nabokov in the Constitutional Democratic Party and, in Berlin, his co-editor of The Rudder, alludes to 72 publishing houses. Gessen. Gody izgnaniia. P. 106. Nabokov wrote about the Berlin publishing boom in his autobiography: “ there was among émigrés a sufficient number of good readers to warrant the publication, in Berlin, Paris, and other towns, of Russian books and periodicals on a comparatively large scale; but since none of those writings could circulate within the Soviet Union, the whole thing acquired a certain air of fragile unreality. The number of titles was more impressive than the number of copies any given work sold, and the names of the publishing houses – Orion, Cosmos, Logos, and so forth – had the hectic, unstable and slightly illegal appearance that firms issuing astrological or facts-of-life literature have. In serene retrospect, however, and judged by artistic and scholarly stand-

language schools, and numerous bookstores, restaurants, and literary clubs. Some of the latter, such as the “Russian Club,” also called “The Arts House [Dom Iskusstv],” functioned publicly – first in Café Landgraf (Kurfüstenstrasse 75) and then in Café Leon in Nollendorfplatz, 9 – while others operated in the privacy of people’s homes. “The Brotherhood of the Round Table [Bratstvo Kruglogo Stola],” for example, was founded in 1922 in the apartment of Gleb Struve in Bayerische Strasse 9, where such a table actually existed. 10 Partaking of fruits of the cultural activity and contributing to its vibrancy, exiles from Russia believed that Berlin was a safe place to wait out the political turmoil until their return became feasible. The relative porousness of borders still allowed for intelligentsia to visit from Moscow and Petrograd (as Boris Pasternak and Vladimir Maiakovskii did in 1922), while the possibility of selling Berlin-published books in Soviet Russia kept publishers’ profits relatively high. 11 Some of the funds, including 2,500,000 German marks of operating assets for Zinovii Grzhebin’s publishing house, the German contractor of the Soviet publisher “World Literature [Vsemirnaia Literatura],” were issued by Lenin’s government in the hope of establishing a Soviet book production outpost in Europe. 12 Although this undertaking ended up in Grzhebin’s financial ruin, the impression of a porous city – the city through which both money and people percolated – lasted for a while. This is probably why Remizov, usually a pessimist, sanguinely labeled “the inflation-era Berlin, connected to the living Russia both through the fresh memories of those who relocated abroad and the communication with visitors from home” the capital of Russia in exile. 13

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ards alone, the books produced in vacuo by émigré writers seem today, whatever their individual faults, more permanent and more suitable for human consumption than the slavish, singularly provincial and conventional streams of political consciousness that came during those same years from the pens of young Soviet authors whom a fatherly state provided with ink, pipes and pullovers.” Nabokov, Vladimir. Speak, Memory: An Autobiography Revisited. New York: Vintage International, 1989. P. 280. Berberova, Nina. Kursiv moi: Avtobiografiia. Moscow: Soglasie, 1996. P. 205. Babikov, Andrei. Prochtenie Nabokova: Izyskaniia i materialy. St. Petersburg: Izdatel’stvo Ivana Limbakha, 2019. P. 421; Struve G.P. “K smerti V.V. Nabokova.” In Novoe russkoe slovo. August 17, 1977. Victor Shklovskii. Gamburgskii schet: Stat’i, vospominaniia, esse (1914–1933). Moscow: Sovetskii Pisatel’, 1990. P. 189. Due to political skirmishes within the party bureaucracy, the funding for that undertaking ended, while the 1922 ban on Soviet purchases of books published abroad led to Grzhebin’s bankruptcy. “World Literature” closed in 1924. Gessen. Gody izgnaniia. P. 108. Remizov, Alexei. Uchitel muzyki: Katorzhnaia idilliia. In Sobranie sochinenii. Vol. 9. Moscow: Russkaia kniga, 2002. P. 314.

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Not every Russian was feeling comfortable or safe in Berlin, though, with the end of 1923 becoming particularly trying. Tsvetaeva, whose vision was affected by her tragic exodus from Moscow and a lack of prospects in Germany, wrote of the “barracks” which “took mercy / on the most magical of all orphanhoods,” 14 while Vladislav Khodasevich bluntly called Berlin the “stepmother of Russian cities.” 15 A preeminent poet of the Russian emigration, Khodasevich felt Berlin’s severity and foreignness especially acutely after the Russian publishing business in Germany had begun to collapse. The eventual stabilization of German mark and the ban on buying Russianlanguage books from abroad by the General Administration for the Affairs of Literature and Publishing Houses [Glavlit], established in Moscow in June of 1922, 16 led to abrupt closings of Russian-German publishing businesses and journals and thus, to the reduction or annihilation of writers’ incomes. Khodasevich documented this crisis in a letter to Ivanov of January 21, 1925. He described the plight of Conversation [Beseda], the émigré magazine founded in Berlin in 1923 on the initiative of Shklovskii, Maxim Gorky, and himself: “ either The Conversation will be able to sneak into Russia in normal quantities, or it will end its existence. In case of the former, the honorarium will, naturally, increase. Now the magazine’s affairs are so poor that I have not personally received a cent since October, 1923.”17 The bitterness of Russian émigré writers translated in their depictions of Berlin as a city of death. Shklovskii mentioned thousands of Russians wandering among the “cracks of a dying city.” 18 Aldanov, writing to Bunin about the demise of Russian publishing business and getting ready to move to Paris, compared Berlin to a quickly sinking vessel: This winter is going to be very hard. I am afraid I will have to run away from here. I do not wish to be either the first or the last rat leaving this ship, which is not exactly going to the bottom, but which has, to say the least, found itself in a tragic situation. 19

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“Berlinu” (1922). In Tsvetaeva, Marina. Sobranie sochinenii v 7-mi tomakh. Vol. 2. Moscow: Ellis Lak, 1994. P. 135. “Vsio kamennoe. V kamennyi prolet…” (1923). In Khodasevich, Vladislav. Tiazhelaia lira: [Stikhotvoreniia]. Moscow: NeksMedia, 2013. P. 186. Nikoliukin A. N., ed. Literaturnaia entsiklopediia russkogo zarubezh’ia. Vol. 2, Part 1. Moscow: RGNF, 1996. Pp. 56–57. Letter to Georgii Ivanov of January 21, 1925. Khodasevich V. F. Sobranie sochinenii v 4-kh tomakh. Vol. 4. Nekropol’. Vospominaniia. Pis’ma. M.: Soglasie, 1997. P. 484. Shklovskii. Gamburgskii schet. P. 184. M. Aldanov’s letter to I. Bunin, August 5, 1923. Cited in: “Pis’ma M.A. Aldanova k I.A. i V.N. Buninym.” In Novyi Zhurnal. No 80–81. New York, 1965. Pp. 265–256. Translation is mine – OV.

A description of the city by Belyi, who left Berlin for Moscow in the same month when Khodasevich’s honoraria plummeted, was no less tragic. In his essay, “An Abode of the Shadow Kingdom [Odna iz obitelei tsarstva tenei]” (1925), Belyi spoke of Berlin in terms of darkness, demise, and bereavement: It wasn’t just once that in the lit, luxuriously furnished Berlin restaurants I witnessed the saddest dimming of consciousness, which was overloaded with the well-being of one’s sluggishness and falling apart, upon exiting the restaurant into the street – the street accosting a bourgeois with all its brutal shadows; I felt the dimming of light, which, in Russia, would have otherwise shined upon me; I was surrounded by the phenomena of a paralyzed mind which was narrowed down and falling into the embrace of our animal nature; at that time, the entire Berlin appeared before me as if an ‘abode of the kingdom of ghosts.’” 20

This strange reality – a safe harbor for some Russian artists and intellectuals, but also a place where, for others, death reigned supreme – is where Vladimir Nabokov settled down after his graduation from Cambridge University in June of 1922. Frequently viewed as the most un-Russian writer of the Russian emigration, 21 he nonetheless fully benefited from the spike in cultural activity of his compatriots in the inflation-era Germany and the familial and collegial networks they established in its capital. Writing under the pen-name of V. Sirin, Nabokov had his early poetry published in The Rudder [Rul’], the Berlin Russian-language newspaper co-founded and coedited by his father, formerly a Constitutional Democratic (Kadet) Party member and a member of the State Duma. The first émigré volume of Sirin’s poetry, The Cluster [Grozd’] (1922), and his translation of Lewis Carroll’s Alice’s Adventures in Wonderland [Ania v strane Chudes] (1923), were issued by the Russian-funded Berlin publishing house Gamaiun. The second poetic volume Sirin produced in emigration, The Empyrean Path [Gornii put’] (1923), was co-edited by V.D. Nabokov and Chornyi, a close friend of the family. 22 Nabokov’s translation of Romain Rolland’s Colas Breugnon [Nikolka Persik] (1923) came out from Slovo, the Russian-language branch of the Ullstein publishing house, which was led by two prominent Kadets and, again, family friends, Joseph Hessen and Avgust Kaminka. 23 Throughout the 1920s, Slovo would also publish the first three of his novels (Mary [Mashen’ka] (1926), King, Queen, Knave [Korol’, dama, valet] (1928), and 20 21 22 23

Belyi, Andrei. Odna iz obitelei tsarstva tenei. Leningrad: Gosudarstvennoe izdatel’stvo, 1925. P. 6. Translation is mine – OV. Naumann, Marina T. “Nabokov as Viewed by Fellow Émigrés.” In The Russian Language Journal / Russkii iazyk. Vol. 28, No. 99 (Winter, 1974). Pp. 18–26. Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. P. 189. Hessen’s reminiscences include a lengthy and loving passage about his relationship with “Sirin”: Gessen. Gody izgnaniia. Pp. 89–105.

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The Luzhin Defense [Zashchita Luzhina] (1930), along with a collection of short stories and poems, The Return of Chorb [Vozvrashchenie Chorba] (1929). Having established a foothold in the Russian diaspora’s book market in 1922–23, Nabokov went on to become one of the most celebrated novelists and short story writers of his generation in exile. His extraordinary talent, spirit of artistic independence, and unwavering conviction that “art is the only thing that matters in life” 24 were, beyond dispute, the warp and weft of this success. Nevertheless, the young writer’s most formative creative period not only overlapped with the political and economic turmoil of 1922–23, but also ran counter to its direction. Like Khodasevich and Aldanov, seriously afflicted by the folding of the Russian publishing market, or Belyi, for whom the failure to fit in spelled a disastrous life-choice, Nabokov struggled with privations while also battling two grievous circumstances of his artistic coming-of age: a premature and violent death of his father and a broken-off engagement. Unlike his senior colleagues, though, he stayed in Berlin and used his first year in the city to reimagine the darkest of tropes they used to describe it and, thus, to carve an upwards creative trajectory for himself. II. Loving and Mourning in Berlin: A Case Study (“I Saw Your Death…”) Describing his “unripe rhymes” in an obituary for Joseph Hessen, Nabokov listed their main components: Blue evenings in Berlin, the corner chestnut in flower, lightheadedness, poverty, love, the tangerine tinge of premature shoplights, and an animal aching for the still fresh reek of Russia . 25

Considering all of Sirin’s literary output for 1923, including over 70 lyrical poems, 7 poetic translations, 2 long narrative poems (“A Sun Dream [Solnechnyi son]”; “Youth [Iunost’]), 3 short plays (“Death [Smert’]”; “Granddad [Dedushka]”; “The Pole [Polius]”), 4 short stories (“Russian Spoken Here [Govoriat po-russki]”; “Wingstroke [Udar kryla]”; “Sounds [Zvuki],” and “Gods [Bogi]”), and his most mature and ambitious literary work of that period, The Tragedy of Mr. Morn [Tragediia gospodina Morna], the inventory is definitely incomplete. This year of remarkable artistic productivity was dedicated to mourning V.D. Nabokov, assassinated on

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Letter to Vera Nabokov of January 24, 1924. Nabokov, Vladimir. Letters to Vera. Ed. by Olga Voronina and Brian Boyd. New York: Knopf, 2015. P. 30. Nabokov, Vladimir. “Pamiati I. V. Gessena.” In Novoe russkoe slovo. March 31, 1943. P. 2. Cited in Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. P. 205.

March 28, 1922, on stage of the Berlin Philharmonic by a radical monarchist aiming at another lecturer. 26 Also, between January 9, when his engagement to a 17-year-old Svetlana Siewert was terminated, 27 and June, when he started composing verse for Véra Slonim met at a charity ball on May 8, Nabokov bemoaned the loss of his beloved, depicting the “grief of human love [gor chelovecheskoi liubvi]” he felt so intensely. 28 Curiously, but not irreconcilably, the two woes fused into a cluster of poetic, dramatic, and prosaic works build around the image of death and all of its incarnations: betrayal and violence; crossing over the threshold between dream and nonexistence; death-like sleep; the portents and battles of the Apocalypse; the Otherworld as a stereotypical paradise or a strange, reverie-like “extension” of life; and deathlessness as a prerogative of a supremely gifted artist, both destined for fame and doomed to eternally wander the earth. Other Nabokovian themes, including nostalgia for Russia and the celebration of his sudden, and very rewarding, intimacy with Véra, seem to be magnetically drawn to this – main – subject. There is a rich tradition behind Nabokov’s reliance on death as a lens through which to explore his loss and relationships of that time. While drawing parallels between splitting up with his fiancée and coming to terms with his father’s demise, Nabokov chooses tropes that reflect Romantic poets’ tendency to accentuate extreme emotions by underlining love’s proximity to death. As he was well aware, such figures as “death caused by love, or the death of love, or love that survives or transcends death” were on the menu of Blake, Scott, Keats, Coleridge, Goethe, de Musset, and many others. 29 Symbolism, and especially the works of its Russian disciple Alexander Blok, also left a deep mark on Nabokov’s early poetry, to the point where he had to fight their influence. 30 He alluded to Blok’s plays, The Rose and the Cross [Roza i krest] (1913) and The Puppet Booth [Balaganchik] (1906),

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The intended victim was Pavel Miliukov, historian and former head of the Kadet party. V.D. Nabokov perished when trying to disarm one of his assassins. Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. P. 190. Ibid. Pp. 202–203. “V Kastal’skom pereulke est’ lavchonka…” In Nabokov, Vladimir. Stikhi. Ann Arbor: Ardis, 1979. P. 81. Michael Ferber. The Cambridge Introduction to British Romantic Poetry. Cambridge and New York: Cambridge University Press, 2012. P. 135. In a letter to Edmund Wilson of January 4, 1949, Nabokov claimed Russian Modernism of 1905–1917 as his crucible: “I am a product of that period. I was bred in that atmosphere.” Dear Bunny, Dear Volodya: The Nabokov–Wilson Letters, 1940–1971. Ed. by Simon Karlinsky. Berkeley and Los Angeles: University of California Press, 2001. P. 246. Nabokov’s indebtedness to Blok is discussed in Bethea, David. “Nabokov and Blok,” in The Garland Companion to Vladimir Nabokov. Ed. by Vladimir Alexandrov. New York: Routledge, 1995. Pp. 374–381.

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with their eternal drama of love, death, and resurrection, 31 in Mary [Mashen’ka] (1926) 32 and Invitation to a Beheading (1938), 33 and also translated Blok’s poetry, of which he was “passionately fond.” 34 Even so, Nabokov’s approach to the theme of love and death was unique in the specificity and interconnection of its real-life antecedents. Svetlana’s consent to the engagement, three months after his father’s death, was given because she found him “so pitifully and uncharacteristically sad.” 35 When that consolation was withdrawn, grief hit him again, full-force. Nabokov’s handwritten album of 1923 – one of several in the Henry W. and Albert A. Berg Collection at the New York Public Library 36 – deserves to be studied as a diary in verse carefully arranged by the author in a near-perfect chronological order as well as a document which manifests similarities between his representations of the two tragic experiences. Known to scholars as “Album 8,” the calico-bound notebook provides a record of the young poet’s letting go of the old attachment (42 original poems and 4 translations or poetic responses written between January 10 and May 7) and celebrating the new relationship (15 poems and 3 translations, only a few of which were done earlier, composed between August 19 and October 23). 37 In most of these works, the poet’s imagination is urged on by longing and stirred by tenderness. But no matter who or what inspires Nabokov in 1923, his inner eye continues to revert to the day when, driven to the Philharmonic Hall to learn first-hand about father’s death and see his body, he experienced the “night journey as something outside

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Kedrov, Konstantin. Poeticheskii kosmos. Moscow: Sovetskii pisatel’, 1989. P. 51. Senderovich, Savelii and Elena Schwarz. “Nabokov’s Mary as a Tragicomedy of Errors and Homage to Blok [‘Kust kubicheskikh roz.’ Zametki o ‘Mashen’ke’ V. Nabokova]. In The Slavic and East European Journal. Vol. 57, No. 3 (Fall 2013). Pp. 424–449. Bethea. “Nabokov and Blok.” P. 380 Nabokov, Vladimir. Verses and Versions: Three Centuries of Russian Poetry. Ed. by Stanislav Shvabrin and Brian Boyd. New York: Harcourt Books, 2008. Pp. 320–335. Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. P. 196. Nabokov, Vladimir. Stikhi 1923. Holograph notebook, described as Album 8, signed “Vl. Sirin.” In Russian. Berg Collection. New York Public Library. From here on, cited as “Album 8, NYPL.” Album 8, NYPL. The gap between entries of May 7 and August 19 was caused by Nabokov’s absence from Berlin, where, presumably, the album was kept. Nabokov worked on a farm in Provence between mid-May and mid-August. (Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. Pp. 208–211). For example, “The Encounter [Vstrecha],” written after Nabokov met Véra and dated June 1, is not included in Album 8 (Ibid. Pp. 207–208). Correspondence with Véra, which began that summer, features two poems written in Domaine-Beaulieu specifically for her: “Evening [Vecher]” and “Znoi [Swelter].” These works are also missing from this “Berlin” album. See Nabokov. Letters to Vera. Pp. 4–6.

life, monstrously slow, like those mathematical puzzles that torment us in feverish half-sleep.” 38 The album literally begins on the note of mourning and longing. In its first entry, “I saw your death… [Ia videl smert’ tvoiu…],” Nabokov reimagines the end of his relationship with Svetlana as the death of the beloved. The poem rushes headlong into an affirmation of the heroine’s nonexistence: I saw your death, but with an idle plea I did not hurt the gift by you bestowed – blue-breasted birds that even now sing in memory… I saw it. I saw you in a silver coffin soar where stars above you hovered, and frigidly your hands, dead airy brow wet stems of deathly lilies covered.

Я видел смерть твою, но праздною мольбой в час невозможный не обидел голубогрудых птиц дарованных , тобой поющих в памяти… Я видел. Я видел: ты плыла в серебряном гробу, где над тобою звезды плыли, и стыли на руках, на мертвом легком лбу концы сырые мертвых лилий… 39

“Soaring” in the silver coffin, the poem’s addressee embodies the archetype of death as deep slumber, which Nabokov borrows from the European and Slavic folklores and their literary renderings, such as Grimm’s “Snow White and Seven Dwarves” and Pushkin’s Tale of the Dead Tsarina and the Seven Knights [Skazka o mertvoi tsarevna i o semi bogatyriakh] (1833). Like Sleeping Beauty, Pushkin’s heroine is laid out “in a coffin made of crystal,” 40 while the Snow White reposes in a coffin made of silver. 41 Although the maidens’ ornate tombs can withstand time, they will eventually come apart from the force of their lovers’ passion. Nabokov chooses to expound the fairy-tale plot in “I saw your death…” further. He spins the folkloric proto-image into an enigmatic story, the gist of which is the ambiguity of the girl’s demise. Just as the Snow

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From Nabokov’s diary record, preserved in a copy made by his mother, Elena Nabokov. Cited in Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. P. 192. Nabokov. Stikhi. P. 74. Originally in Album 8, NYPL. P. 1, where the first and the last stanzas are crossed out. All translations the poems in this paper are mine – OV. I am grateful to the Vladimir Nabokov Literary Foundation and the Wylie Agency for the permission to publish Nabokov’s works from this little-known archival source and to Brian Boyd for his helpful suggestions regarding the translations. Pushkin, Alexander. The Tale of the Dead Princess and Seven Knights. Transl. by Peter Tempest. Moscow: Progress Publishers, 1973. P. 44. Zipes, Jack, ed. The Original Folk and Fairy Tales of the Brothers Grimm: The Complete first edition. Princeton, NJ: Princeton UP, 2014. Pp. 177, 495.

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White or Sleeping Beauty, his heroine is both dead and alive, sublimely unattainable and deeply desirable. Mysterious rumors about the deceased, which the poet quotes verbatim, reinforce this vision. Moreover, as the poem’s third stanza reveals, she is dead only to himself, while other people consider her thriving: I know: you are no more. Why hearsay, so vile Я знаю: нет тебя. Зачем-же мне молва denies my knowledge in this matter? необычайная перечит? “Come on,” it says, “she is alive, alive, «Да полно, – говорит, – она жива, жива, she dances, as before, and prattles...” все так же пляшет и лепечет…» 42

The fourth and final stanza refutes the gossip, but also rephrases lovers’ parting in metaphysical terms. By calling godlike his ability to tell whether the girl he longs for is among the living, the poet names the time and place for their next rendezvous. They will meet not on this life, but in the realm beyond: I don’t believe it… People like to lie. My God and I – we know better… In heaven now shine your eyes, your eyes. By heaven only are we separated…

Не верю… Мало-ли что люди говорят? Мой Бог и я, мы лучше знаем… Глаза твои, глаза – в раю теперь горят: Разлучены мы только раем… 43

Dated January 10, the day after Nabokov’s hopes for happiness with Svetlana were dashed, this artistically immature lyrical parcel is remarkable not only for its raw and unforgiving anguish, but also for the likeness between its description of the heroine’s funereal rites and the later, incomparably more masterful, Nabokovian representation of his father’s funeral at the end of Chapter 1 of Conclusive Evidence (Speak, Memory) (1951). Thе passage in the autobiography begins with a description of a peculiar custom: the tossing of an estate’s master up in the air by grateful peasants. Sitting in a dining-room with his mother and siblings and seeing how the father soars outside, above the edge of the open window, the narrator considers it a “marvelous case of levitation.” 44 A few lines below, another kind of soaring begins: and then there he would be, on his last and loftiest flight, reclining, as if for good, against the cobalt blue of the summer noon, like one of those paradisiac personages who comfortably soar, with such a wealth of 42 43 44

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Nabokov. Stikhi. P. 74. Originally in Album 8, NYPL. P. 1. Ibid. Nabokov, Vladimir. Speak, Memory: An Autobiography Revisited. New York: Vintage International, 1989. P. 31.

folds in their garments, on the vaulted ceiling of a church while below, one by one, the wax tapers in mortal hands light up to make a swarm of minute flames in the mist of incense, and the priest chants of eternal repose, and funeral lilies conceal the face of whoever lies there, among the swimming lights, in the open coffin. 45

The autobiography’s open coffin and funeral lilies reiterate the imagery of death from “I saw your death…” while also darkening the mood of the scene. 46 Whereas any “Sleeping Beauty” is destined to abandon her silver coffin and rejoin the world of the living, for the father there will be no descent from the soaring heights, no stepping back indoors to rejoin a family meal. That said, the correspondence between the early poem to Svetlana and the later reminiscences about father goes beyond the few overlapping motifs. Whereas Nabokov’s lyrical tribute suggests that his beloved’s hovering on the brink of life and death proceeds from her status of a fairy-tale princess, his depiction of father’s “levitation” negates death by means of intricately interwoven poetic elements. The narrative structure of the passage is dynamic: it is formed around a juxtaposition of light and darkness, of one’s being celebrated and being mourned, of the indoors and the outdoors. Besides, in the autobiography, Nabokov compares the man who is being buried to saints on the frescoed church ceiling and thus, to immortal beings dwelling in paradise. Being the first of many works in Album 8 with a deep religious subcurrent, “I saw your death…” ends with a line that can fittingly conclude both texts: “By heaven only are we separated…” III. The Ambiguity of Lyrical Addressee in Nabokov’s Poetic “Diary” As Jane Grayson established, in January of 1923, Nabokov wrote at least 20 poems which bore “witness to his recent trauma”; he later published 15 of them. 47 Album 8 confirms this estimate. It also demonstrates that in at least two other poems of that month – “The torments of a desert and a fairytale… [Pustynnye i skazochnye muki…],” dated January 10, and “You keep on looking down from the dark-gray cloud… [Ty vsio gliadish’ iz tuchi temno-sinei…],” dated January 27, he translates his romantic loss into a memory of death. Nevertheless, the study of these and other love lyrics in the album in chronological order reveal that with each new approach to the theme, Nabokov divests his heroine of recognizable features: lightheartedness, pleasure-seeking, and worldliness. Gradually, the addressee of 45 46 47

Ibid. Pp. 31–32. For an insightful analysis of this episode and its thematic parallels, see Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. Pp. 7–8. Grayson, Jane, “The French Connection: Nabokov and Alfred de Musset. Ideas and Practices of Translation Author(s).” In The Slavonic and East European Review. Oct. 1995. Vol. 73, No. 4. P. 624.

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his love poetry gets doubled or concealed, thus making possible a peculiar confluence of the unattainable lover and the deceased parent: the female and the male incarnations of his anguish. Because in the Russian language, gender can be conveyed through verbs in past tense, Nabokov begins to eschew the elegiac mode in some of the poems composed later in January and into the spring. The sense of timelessness that he attains by adhering to the present and future tenses correlates with his evolving artistic identity – that of a master wordsmith whose gift portends immortality. In the first stanza of “The torments of a desert and a fairy-tale… [Pustynnye i skazochnye muki…],” the narrator does not question his lover’s demise. Nevertheless, the epithets he chooses for describing his own suffering imply that it takes place in a fabled, mirage-like dimension: The torments of a desert and a fairy-tale. You died. What could I offer you? Just sounds twisting through the dale, their murmur of sun and destiny…

Пустынные и сказочные муки. Ты отошла. Что мог я дать тебе? Одни, одни излучистые звуки, журчащие о солнце и судьбе… 48

The haziness of narrator’s torments gets clarified in the second stanza. Nabokov ends the poem on a note of regret, but the sincerity of this apology is compromised by the contrast between the narrator’s ability to convey sublime visions to his lover and her attachment to mundanity: Что было в них? Лишь тени изумленных of your eyelashes, rainbows, and God… твоих ресниц, и радуги, и Бог… To give you wingless dreams, banal and tedious, Прости-же мне, что снов неокрыленных, forgive me: I could not. житейских снов я дать тебе не мог… 49

What was in them? Just startled shadows,

Here we see that the girl’s attachment to “banal and tedious” things is the reason why she is no more. Her death, again, is purely metaphorical: a pretext for the narrator to forget, rather than seek forgiveness. It is because of the transparency of the poem’s real-life connotations that Nabokov crosses out “The torments of a desert…” in his album, marking it unfit for publication. After all, Svetlana’s parents considered the “jobless” poet an unsuitable husband for their teenage daughter, and she went along with their decision. 50

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Date and place of original publication is unknown or previously unpublished. Album 8, NYPL. P. 2. Ibid. Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. P. 202.

As the album progresses, the image of the beloved emerging from under Nabokov’s pen becomes stranger, more elusive. She is still desirable, but in a more abstract and nebulous way: You keep on looking down from a dark-gray cloud, and there’s a lily in your shining hand, while I, in dreams, beg for a petal strand, and search in folds of your obscure shroud for a lively curve of a shoulder or a knee. I cannot make your likeness come to be in music or in stone … From beneath your brow two rays of anguish penetrate my dream.

Ты все глядишь из тучи темносизой и лилия – в светящейся руке; а я сквозь сон молю о лепестке и все ищу в изгибах смутной ризы изгиб живой колена иль плеча. Мне твоего не выразить подобья ни в музыке, ни в камне… Исподлобья глядят в мой сон два горестных луча. 51

As in the previous works, the ambiguity of the female addressee’s death is obvious in “You keep on looking down…”, except now Nabokov readjusts both the temporal and the spatial vector of his poem, shifting it from the reality of here and now towards the never-ending transcendental time and an undefinable dream-space. Like a saint whose existence goes on in eternity, his heroine is clad in a shroud. Arrested in her divine torpitude, she silently subjects herself to the narrator’s mourning and veneration. Nabokov reinforces the ambivalence of his lover’s image in “Live on, ring on, and pay no heed to wonders … [Zhivi, zvuchi, ne pomyshliai o chude…],” written on March 20. Because the gender of its addressee is left undisclosed, “Live on, ring on…” invites two kinds of readings. The first of them allows us to perceive the poem as a euphoric promise of future happiness directed at a woman, whom the narrator, empowered and “bewinged” by his gift, will one day sweep off her feet. The second reading suggests that the poem is a contemplation of death conquered or overturned by a greater power – a combination of the narrator’s great artistic prowess and great love:

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Nabokov. Stikhi. P. 89. Originally in Album 8, NYPL. P. 22.

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Live on, ring on, and pay no heed to wonders, – but the day will come: I will enter your modest home, – your laughter stops, you rise, the walls, the others, all fade away and we will be alone…

My rustling cloak around your shoulders I will throw, and through the sky, its starry dew, like through a meadow, fog-steaming, yet unmown, in my eternity I will ascend with you.

Живи, звучи, не помышляй о чуде, – но будет день, войду в твой скромный дом, – твой смех замрет, ты встанешь: стены, люди – все поплывет, – и будем мы вдвоем.

Твои плеча закутав в плащ шумящий, я по небу, сквозь звездную росу, как через луг некошеный, дымящий тебя в свое бессмертье унесу… 52

Several motifs in this poem suggest that its “you” belongs to the cohort of Nabokov’s lyrical heroines who, like the unnamed “Sleeping Beauty” in “I saw your death…”, “die” in order to carry on their mundane existence; meanwhile, their admirer prepares for his heroic return. For example, in a subtle twist of the archetype of the magic princess encased in a silver or crystal coffin, she sheds her “blown-glass” armor – “the springs / and winters lived without me [zimy / i vesny, prozhitye bez menia]” – upon encountering the narrator-savior. 53 Additionally, the epithets for describing her “submissive and winged [pokorny i krylaty]” gaze directed at the winged visitor are consonant with Nabokov’s other valuations of desirable women (cf. Vasilii Ivanovich’s words addressed to a mysterious beloved in “Cloud, Castle, Lake”: “ my obedient one [pokornaia moia]!”). 54 The poem’s last stanza, with its image of a figure wrapped in a “rustling cloak” soaring skywards, however, references the Assumption of Mary whose being taken to heaven in body and soul confirmed Christ’s promise of paradise to believers. 55 The subtext, with its figures of the saintly mother and son, suggests that Nabokov composes “Live on, ring on…” both for 52

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Published with such misreading as “ne pominai” instead of “ne pomyshliai” in the first line and under a wrong date in Nabokov, Vladimir. Stikhotvoreniia. Ed. by Maria Malikova. St. Petersburg: Akademicheskii proekt, 2002. Pp. 263–264. Originally in Album 8, NYPL. P. 39. Ibid. “Cloud, Castle, Lake.” In Nabokov, Vladimir. The Stories of Vladimir Nabokov. P. 435. In the long narrative poem “A Sun Dream [Solnechnyi son],” written in February, 1923, Nabokov describes caresses of his heroine Nimphana as “obedient and mute” (“Sladostno laskala, / poslulivo laskala, besslovesno ”). Nabokov, Vladimir. Poemy. Ed. Andrei Babikov. Moscow: Corpus, 2022. P. 105. Pelikan, Jaroslav. Christian Tradition. A History of the Development of the Doctrine. Chicago and London: The University of Chicago Press, 1978. P. 172. Nabokov’s poetic indebtedness to the Christian tradition is discussed, among other works, in Schuman, Samuel. “Beautiful Gate: Vladimir Nabokov and Orthodox Iconography.” In Religion and Literature. Vol. 32, No. 1 (Spring, 2000). Pp. 47–66.

Svetlana and his father – the parent he would describe in his autobiography as “soar” among the saints. Corroborating this reading further is the imagery on which Nabokov relies in The Gift (1938), where Fyodor Godunov-Cherdyntsev dreams about the return of his allegedly dead father, and in the yet unpublished 1951 diary, where his own dream about a meeting with V. D. Nabokov is recorded. The line “your laughter dies” re-emerges in the description of father’s laughing eyes and the “rapturous laughter” of Fyodor’s mother in the novel, 56 while the image of a “modest home,” which the narrator imagines re-entering in the poem, and the mention of “springs and winters lived without me,” is echoed in the diary entry about Vladimir Nabokov’s dream encounter with V.D. Nabokov: Dream: am passing by door from behind which hear slow laborious soft unsteady music. Open door. Recognize room in our St. Petersburg home . My father turns sadly towards me, large limp hand on keys, other in lap. “ I explain brightly I am now almost fifty-two.” Still looks puzzled, sad, benevolent and puzzled. He was my age when he was killed. 57

Due to the concealment of the addressee in “Live on, ring on…”, Nabokov’s grief appears greater than the sum total of the tragedies that caused it, but it is the grief ’s magnitude and uplifting power that sustains his artistic gift. By ending this work with an affirmation of his own immortality, Nabokov brings “Live on, ring on…” closer to other poems in Album 8, where he – the artist – is depicted as a winged seraph or an immortal messenger of heavens. Among them are “Here are the lamps, the twilight, the metropolis… [Vot fonari, vot sumrak, vot stolitsa]” of January 11; 58 “How can I hide my wanderings eternal… [Kak zataiu, chto iskoni kochuiu…]” of January 13; 59 “When on the diamond staircase… [Kogda ia po lestnitse almaznoi…] of April 21; 60 and “O how you long for a winged journey… [O, kak ty rveshsia v put’ krylatyi…]” of May 2. 61 Furthermore, “Live on, ring on…” is likely a precursor of the plot of Nabokov’s long narrative poem he composed in February, when the wound left by the break-up was still fresh. In this work, “A Sun Dream,” the master 56 57

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Nabokov, Vladimir. The Gift. New York: Vintage International, 2011. P. 354. Entry of January 25, 1951 in Nabokov’s 1951 diary. Cited in Barabtarlo, Gennady. Insomniac Dreams: Experiments with time by Vladimir Nabokov. Princeton, NJ: Princeton University Press, 2018. P. 99. Date and place of original publication is unknown or previously unpublished. Album 8, NYPL. P. 4. Nabokov. Stikhi. P. 75. Originally in Album 8, NYPL. P. 5. Nabokov. Stikhi. P. 101. Album 8, NYPL. P. 45. Nabokov. Stikhi. P. 103. Album 8, NYPL. P. 49.

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chess player and great visionary Yvain (a hero named after Chrétien de Troyes’s character, Le Chevalier au lion) invites his young wife to a distant land, where, leading a hermit-like existence he alone can hear what goes on in the sublime “City of the Sun.” After Nymphana confesses that she is oblivious to the sounds from the fantastic realm and goes back to the comforts of her home, Yvain collapses into the steppe’s tall grass. His death, however, is far from tragic. A new, paradisiacal existence awaits him where others only see a wasteland and hear solitude: And suddenly the world of grass and flowers plunged down, choking on the glow: the earthly things receded in a haste, and what remained hitherto undetected emerged, as if the very air gained some color: trees reared up with clarity, resembling green fountains, and walls ascended like waves that mount up, around gleaming immaculate white houses, while people, the light and splashing throng of them, walked down the shining streets. They played the lutes

И вдруг в сияньи захлебнулся мир цветов и трав – отхлынуло земное, и выступило то, что прежде было незримо глазу: самый воздух словно окрасился. Яснели, поднимались деревья, как зеленые фонтаны, ограды, как всплывающие волны, светящиеся белые дома, – и и люди легкой плещущей толпою по улицам блестящим шли, играя на лютнях и цветы бросая в воздух. 62

and scattered blossoms. Like the heroine of “Live on, dream on…,” the adored and mainly innocent Nymphana is unable to notice “wonders.” Nabokov, however, does not oust her from existence. Instead, he lets her “live on” in this world, while making Yvain continue his life in the next one. Thus, not only Nabokov’s poetic addressee gets reimagined in 1923 as composite image of a grievously absent Other, but also the settings of his love dramas. As is signaled by the plot of “A Sun Dream,” the very fabric of his artistic reality – especially where there is a world no longer shared with the missing individual – can come apart. Either the grieving character in it moves to a realm of dreams (possibly an afterlife), or the authorial alter ego relocates to a sublime space beyond the walls of mundanity. IV. Tropes of Redemption and Visions of Authorship The concealment of a lyrical addressee is manifest in other love poems in Album 8. By applying this device, Nabokov endows his works about loving and mourning with psychological as well as metaphysical gravity. On the one hand, when read as romantic lamentations, poems from this cluster evoke the idea of redemption as an artist’s revenge: the narrator’s current inability to keep hold of the woman he loves will be atoned by the force and magnitude of his gift. Awoken from her death-like slumber, she will “regain 62

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“Solnechnyi son.” In Nabokov. Poemy. P. 117. Translation is mine – OV.

eyesight” [“Prozreesh ty v tot mig nevyrazimyi”], 63 whereas her previous disloyalty and lack of understanding will be dissolved in the “flame” of his “insomnias” [“Ia plamenem moikh bessonits pril’nu”]. 64 On the other hand, redemption in a more pronounced religious key comes to the fore when the poems are read as homages to Nabokov’s father. Just as in “You keep on looking…,” where imagery referencing the Assumption of Mary points both toward the finality of Nabokov’s loss and spiritual hope, in the eulogies to father, allusions to Christ’s passions suggest an otherworldly anticipation. This thematic fusion is evident in “I dream of you less often…” [“Ty snishsia mne smutnee, rezhe…”] (January 31) – the poem, where the addressee is also indistinct: I dream of you less often, dimly, – behold my anguish, standing all agaze in a chapel, fresh and glimmering, where the inimitable blaze of twelve dark-visaged halos regarding holy rays of Christ have been corroded thoroughly by poisonous times. Well, no matter, dark or lonely – the airy wine keeps pouring in through a narrow oriel from magnolias’ tipped rims. Heaving a sigh, the doors carved sprightly with my shoulder I will slowly spread to reappear in the blue daylight without regret.

Ты снишься мне смутнее, реже, – и вот стоит моя тоска в капелле сумерочно-свежей, где ядовитые века разъели в сумерках округлых неповторимые цвета двенадцати сияний смуглых внимающих лучам Христа… Что-ж! Одиноко-ль здесь, темно-ли, – все льется в узкое окно из наклоненных чаш магнолий как-бы воздушное вино! Вздохну во тьме, и дверь резную раздвинув медленно плечом, вернусь я в синеву дневную, не сожалея ни о чем. 65

The mood of “I dream of you less often…” is somber, apparently emanating from death that is tangible and real. The chapel with its frescoes of the Apostles evokes the Christian ritual of mourning the dead through a contemplation of the Redeemer’s passions, whereas the “blue daylight” that greets the mourner upon his exit emphasizes the contrast between watchful grief within and unburdened existence without – possibly beyond the threshold of life. 66 The religious subtext of the poem does not cancel the 63 64 65 66

“Zhivi, zvuchi, ne pomyshliai o chude…” Nabokov. Stikhotvoreniia. Pp. 263–264; Album 8, NYPL. P. 39. Ibid. Date and place of original publication is unknown or previously unpublished. Album 8, NYPL. P. 28. The latter is suggested by Nabokov’s use of the word “blueness [sineva].” In the vocabulary of Russian Symbolists, whose diligent student Nabokov was in the 1910–20s, this word was associated with the sublime, the heavenly, and the otherworldly. Vocally averse to color symbolism, Nabokov nevertheless embraces the heavenly meaning of the blue color in some of his works, such as in the final chapter

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possibility of its being addressed to a woman, but it seems closer thematically and in tone to Nabokov’s other eulogies to his father, such as “Easter [Paskha]” (April 16, 1922), 67 “Gates of the cemetery, and somber / the carved Redeemer on the cross ... [Vorota kladbishcha, i strogii / reznoi Spasitel’ na kreste]” (August 19, 1923), 68 “Hexameters [Gekzametry]” ([March 30], 1923), 69 and “The Master abandoned his granite house… [Khoziain pokinul svoi dom granitnyi…]” (October 3, 1923). 70 One of the poem’s most striking images is the “airy wine” dispensed from magnolias’ cup-like blossoms. It conjures up the holy communion. In the Russian Orthodox church, to which Nabokov belonged, it denotes an affirmation of faith in life everlasting. Written two months after “I dream of you less often…”, “Hexameters” are similarly steeped in Christian imagery. In that poem, Nabokov portrays the deceased father as both eternally present and ever-awake. The benevolent ghost is wandering among the living, represented as a collective body submerged in slumber; he is omnipresent, omnipotent, and liberated. The father’s salvation transpires in the analogy between death and a “springtime awakening,” which cogently evokes Easter: Смерть – это утренний луч, пробужденье весеннее. Верю, ты, погруженный в могилу, пробужденный, свободный,

ходишь, сияя незримо, здесь, между нами – до срока, спящими...

О, наклонись надо мной, сон мой подслушай – снятся мне слезы, снятся напевы, снятся молитвы... Сплю я, раскинув руки, лицом обращенный к звездам: в сон мой втекает мерцающий свет, оттого-то прозрачны даже и скорби мои... Я чую: ты ходишь так близко, смотришь на спящих; ветер твой нежный целует мне веки, что-то во сне я шепчу; наклонись надо мной и услышишь смутное имя одно, – что звучнее рыданий, и слаще песен земных, и глубже молитвы – имя отчизны.

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of Camera Obscura (translated by the author under the title Laughter in the Dark), where the death of Kretschmar is couched in blue: “I must keep quiet for a little space and then walk very slowly along that bright sand of pain, toward that blue, blue wave. What bliss there is in blueness.” Nabokov, Vladimir. Laughter in the Dark. New York: Vintage International, 1989. P. 291. Nabokov. Stikhi. P. 66. Date and place of original publication is unknown or previously unpublished. Album 8, NYPL. P. 53. Nabokov. Stikhotvoreniia. P. 262. Dated by M. Malikova. This poem was not included in Album 8. It also wasn’t chosen for inclusion in Nabokov’s volume of poetry (Stikhi), published posthumously in 1979. Date and place of original publication is unknown or previously unpublished. Album 8, NYPL. P. 61.

Death is a morning ray, the spring-time awakening. Lowered, into your grave, but now free and awoken, shining invisibly, you, I believe, are here, amongst us – those who sleep, until our time is due. Bend over me, contemplating the dreams I am having: melodies, tears, and prayers… I sleep, arms spread out, facing the shimmering stars: their light floods my dream, and my grief, therefore, is transparent… I feel it: you walk so near, you are looking at us, who are sleeping, and the breeze of your tenderness kisses my eyelids. I whisper when dreaming. Bend over me, and one name you will hear: obscure, but sonorous, louder than sobs, sweeter than songs of the earth, and deeper than prayer – the name of my fatherland. 71

Although the identity of V. D. Nabokov remains concealed, his son dedicates the poem to him. Also, the last word of “Hexameters,” “otchizna [fatherland],” deriving from “otets” [father], reinforces the dedication. By projecting the self-sacrifice of Christ for the sake of the humanity’s salvation onto his slain parent, Nabokov translates the sensation of existing “outside life” he developed on the night of his father’s assassination and later described in a diary entry into the metaphor of dream as a medium for communicating with the Otherworld. Ever conscious of the trauma of March 28, 1922, Nabokov continues to expand and fine-tune the trope of the benevolent dead watching over “the quick” in his oeuvre. 72 Gennady Barabtarlo, whose work on the role of dreams in the writer’s metaphysical thinking is seminal, separates dreams about father into a category of their own and suggests that “seeing one’s dead father in a dream is a particularly poignant theme in Nabokov’s fiction.” 73 Barabtarlo cites “Details of a Sunset,” written in 1924, as an example of such poignancy. 74 The protagonist of the short story, Mark Standfuss, dreams of his late father on the eve of his own calamitous accident (Mark dies under a bus). By turning the father’s “visit” into an ominous event, Nabokov elaborates the figure of the benevolent paternal spirit from “Hexameters,” endowing it with prophetic agency. 75 In his novels Bend Sinister (1947), Lolita (1955), Pale Fire (1962) and Ada or Ardor: A Family Chronicle (1969), protagonists’ loved ones appear in dreams to deliver warnings or promise happier times – depending on what the dreamers morally deserve.

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Nabokov. Stikhotvoreniia. P. 262. Not in Album 8. “The souls of the dead, perhaps, formed committees, and these, in continuous session, attended to the destinies of the quick.” Nabokov, Vladimir. Pnin. New York: Vintage International, 1989. P. 136 Barabtarlo. Insomniac dreams. P. 153. Ibid. “Details of a Sunset.” In The Stories of Vladimir Nabokov. P. 81.

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In Bend Sinister, the Nabokovian correlation between love, fatherhood, death, and redemption acquires yet another – metatextual – dimension. Having lost his wife and son in a totalitarian nightmare of abductions, tortures, and executions, the novel’s Adam Krug dreams of a realm beyond death. Shortly after that, he dies while making an insane dash for freedom – only to re-emerge in the safety of his author’s study. 76 In his 1963 “Introduction” to the novel, Nabokov alludes to this miraculous salvation as the character’s return “into the bosom of his maker.” 77 This statement draws a parallel between Krug’s demise and the idea of death as a relocation to “Abraham’s bosom,” “the place or state of the souls of men after death” open to the righteous, which is central to Judaism and other Abrahamic religions. 78 It also grants the author a status of a divine– as a creator whose power of salvation extends towards characters suffering for their high ethical stance within the created “universe.” No doubt, it was a more mature and more confident writer who endorsed this vision of authorship. Even so, some the poems from 1923, addressed here, suggest that Nabokov’s later representations of the afterlife as another fictional dimension owe their originality to his earlier attempts to contend with his tragic losses during the year when the awareness of his growing artistic power gradually superseded his grief. V. From Nabokov’s Poetic “Diary” of 1923 to The Tragedy of Mr. Morn Nabokov considered many of the poems written in 1923 unpublishable. In spite of that, he collected them all under one cover, possibly as a testimony of his giving verbal body and artistic form to that year’s inner turmoils. The poetic “diary” thus provides rare insights into the moods and experiments of the 24-year-old author. It offers a day-by-day chronicle of Nabokov’s mourning and longing, of his devastating losses and rewarding selfdiscoveries. It also prompts an understanding of the evolution of some key themes in the Nabokov oeuvre – such as death, dreams, and the Otherworld, – and narrative devices which will become the cornerstones of his fiction. The latter includes the power given to characters to cross the boundary between life and death within the text and the metatextual and metaphysical multi-dimensionality of novels and short stories.

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Nabokov, Vladimir. Bend Sinister. New York: Vintage International, 2011. Pp. 240– 241. Ibid. P. xix. The Judaic definition of “Abraham’s Bosom” stands in opposition to “hades,” the dark realm of spiritual existence. Roe, William M. Bible vs. Materialism. Cincinnati, OH: H. S. Bosworth, 1859. P. 66.

Studying “Album 8” from the perspective of Nabokov’s creative advancement, one notes that the trope of death of the loved one, which he borrowed from Romantic and Symbolist poetry, and the figure of a concealed addressee, which he tested in his poems for Svetlana and his father, seeped into the young writer’s crowning achievement of that year, the Tragedy of Mr. Morn. The five-act play in verse Nabokov began in November in Berlin and brought to near-completion in December, 1923, and January, 1924, in Prague, where his mother and younger siblings had relocated, centers around the mystery of a king’s identity. Known to his friends as Mr. Morn, the king initially chooses elopement over an honorable suicide, and the “earthly” happiness with beautiful Midia to enduring the burden of his true name – and his constantly challenged rule. The character’s assumed moniker, which alludes to the mourning of his true self and the ambiguity of his death, echoes Nabokov’s 1923 portrayal of his beloved’s demise, her identity gradually merging with that of another addressee, his father. Morn’s antagonist in the play is Tremens – a visionary turned revolutionary tyrant. His philosophy of death (“Everything is destruction. And / the faster it is, the sweeter, the sweeter, the sweeter…”) 79 embodies the horrors and chaos of the Bolshevik Russia the Nabokovs left behind in 1919. Tremens’ unquenchable thirst for the eradication of life and happiness spurns on dreams about total annihilation (“Did you see, / one windy night, by moonlight, the shadows / of ruins? That is the ultimate beauty – and towards it I lead the world”). 80 Tellingly, his name is either an anagram of the Russian word “smerten [mortal],” as Andrei Babikov suggests, 81 or of the less usable coinage, “non-death [ne-smert’],” which coincides with the Nabokovian philosophy of death as a first step towards transcendence, already apparent in “A Sun Dream.” Accordingly, murder, mortality and mourning are the key themes of the play as well as the linchpins of its plot. It is important to note that, before writing the scenes of violence unleashed by Tremens’s dictatorial orders or depicting Morn’s suicide in the final act 82 – a creative struggle that took some time, 83 – Nabokov penned three plays about tragic or violent deaths and two lyrical poems which center around acts of self-destruction. 79 80 81 82 83

Nabokov, Vladimir. The Tragedy of Mr. Morn. Transl. by Anastasia Tolstoy and Thomas Karshan. New York: Alfred A. Knopf, 2013. P. 18. Ibid. P. 17. Nabokov, Vladimir. Tragediya Gospodina Morna. P’esy. Lektsii o drame. Ed. by Andrei Babikov. St. Petersburg: Azbuka-klassika, 2008. P. 570. “No one must see how / my King presents to the heavens / the death of Mister morn.” Nabokov. The Tragedy of Mr. Morn. P. 144. “Only one thing makes me happy: the day after tomorrow, Morn will shoot himself: I have some fifty pr sixty lines left, in the last – eighths – scene. I will certainly have to keep sanding and polishing the whole thing, but the essential will be done.” Letter to Vera Nabokov of 24 January, 1924. Nabokov. Letters to Vera. P. 29.

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In “Death,” the play Nabokov wrote in March, a Faustian scholar, Gonvil, tricks his student Edmond into taking poison. The young man, thinking that he is already a ghost, earnestly speaks of love for Gonvi’s wife, who also seems to be deceased. After dissipating the jealous husband’s anxiety, Edmond is told that the drink was harmless. The sense of suspense continues, however. Although Gonvil claims to have spared the student, his life is obviously in the hands of the teacher. Since Nabokov does not rule out the possibility of the poison’s efficiency, it may be the inertia of living after death that enables Edmond’s conversation with Gonvil in the second act of the play. The audience has to decide whether what happens in the play is murder. 84 Next – in June – comes “Granddad.” In this play, a feeble old man taken in by kind-hearted country folk turns out to be a former executioner. When his dim memory awakens upon the sight of a wanderer, he starts looking around for a tool of his trade, discovers an axe, and dies after confronting his former victim – the survivor who recognized him. 85 Finally, in “The Pole,” composed in July, the arctic explorer Captain Scott and his companions Fleming, Kingsley, and Johnson realize that their mission is doomed. The men attempt to live their last days nobly. Is the trip to the pole a heroic accomplishment, a sacrificial undertaking, or an act of collective suicide? Scott writes in his diary, “This is, perhaps, the best of ends,” but Nabokov’s depiction of the suffering and demise of his comrades problematizes this statement. 86 Again, the audience needs to decide whether Scott’s ambition is innocent or murderous. The theme of violent death sneaks into the verse addressed to Véra and recorded in Album 8. In one of the poems, dated September 1, Nabokov portrays his new love as an owner of a weapon, which he calls the “black stone: seven deaths.” Shifting from the first person-perspective (“I know: coldly, but also wisely [Ia znaiu kholodno i mudro ]”) to the second (“The day will come: you will forget [...] [I den’ pridet: ty vse zabudesh’]”) and then to the third (“ the one whose death is stored in the oblate-shaped muzzle / steps outside, buttoning up [ pal’to zastegivaia, tot, / ch’iu smert’ – pripliusnutoe dulo / berezhet”), he imagines a heroine who destroys her lover. The dramatic vignette of avenged jealousy ensues:

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“Smert’.” In Nabokov. Tragediya Gospodina Morna. Pp. 73–96. Boyd presents this challenge as a failure of an immature playwright: “Nabokov has tried to devise a plot that both transgresses and remains within the bourne of earthly life: a difficult task, and he fails.” Boyd. Vladimir Nabokov: The Russian Years. P. 204. “Dedushka.” In Nabokov. Tragediya Gospodina Morna. Pp. 117–120. “Polius.” Ibid. Pp. 134.

The squinted heart will soar skywards, your icy shot will flick and slash, – like a car door above the rustling boulevard closing shut with a crash.

Взмахнет сощуренное сердце, хлестнет холодный выстрел твой, – как стук автомобильной дверцы над шелестящей мостовой. 87

In another poem to the future Mrs. Nabokov, “On the Phone [Po telefonu],” the narrator’s conversation with the heroine is broken off when she shoots herself: “What’s wrong with you! Hold on! This isn’t…” But again your words are flashing past: “I am squeezing, I’m squeezing, I’m squeezing…” “Wait!” – And an ear-splitting blast…

– «Да что с тобой! Постой-же! Это даже...» Но вновь слова твои скользят: – «Я нажимаю, нажимаю, нажи…» – – «Стой!» — Оглушительный раскат… 88

In the late 1920s and throughout the rest of Nabokov’s artistic career, murder and suicide become an essential substance of his intricate, psychologically riveting plots: Martha and Franz try to drown Martha’s husband, Dreyer, in King, Queen, Knave; Luzhin rushes head-down out of a bathroom window; Hermann shoots Felix in Otchaianie; while Magda discharges a gun into Albinus in Laughter in the Dark; Cincinnatus C. has his head cut off on an executioner’s chopping block in Invitation to a Beheading; Humbert Humbert takes Clare Quilty’s life in Lolita; John Shade dies of an assassin’s bullet in Pale Fire; Lucette plunges into an ice-cold ocean in Ada or Ardour: A Family Chronicle; and Hugh Person perishes in a hotel fire in Transparent Things. In 1923, however, when Nabokov begins to represent violent death in his works, he puts murder and suicide in opposition to each other. In The Tragedy of Mr. Morn, specifically, these two types of death visibly clash. One of them, forced from without, is associated with what the author considers revolutionaries’ predilection for violence and destruction. Another – a matter of torturous choice, – is dictated by the hero’s need to atone for his moral transgressions, such as the abandonment of his people and violations of the honor code. Finally, some features of Nabokov’s poetic representation of mourning and loss in 1923 Berlin match intimations of another, no less tragic, world behind Morn’s disintegrating country. A guest at Midia’s ball, who calls himself a Foreigner, keeps saying that the city he is visiting has a “ghostly

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Album 8, NYPL. P. 59. The first stanza of the poem is cited in Schiff, Stacy. Véra: (Mrs. Vladimir Nabokov). New York: Modern Library, 2000. Pp. 56, 388. “Po telefonu.” October 11, 1923. Date and place of original publication is unknown or previously unpublished. Album 8, NYPL. P. 63.

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resemblance to the distant / city of [his] birth / – that likeness which exists / between truth and high fantasy…” 89 Eventually, a possibility arises that the guest perceives the capital of Morn’s kingdom in his sleep (“So be it, I believe / in your city. Tomorrow I shall call it / a dream…”), while the land where he unfailingly wakes up is the play’s “true” reality. 90 This ontological ambiguity – what appears so real is, essentially, a phantom or a dream – has little to do with Belyi’s description of Berlin as an “abode of the kingdom of ghosts,” or, rather, his considering himself only person alive in a realm of people with “consciousness, which was falling apart” from overconsumption and the lack of intellectual stimulation. It does, however, match Nabokov’s reference to the city of his youth as “an absolute void,” which helped him produce literary works with “a certain air of fragile unreality.” 91 In the autobiography, where this confession was made, Nabokov also asserted that he lived in Berlin as a “discarnate captive,” constantly fantasizing of the abandoned home. No wonder he neither extensively described Berlin in his poetry nor gave it credit for nourishing his poetic gift. And yet, in his works of 1923 and those that followed, the “porous” city populated by “shadows” of émigré Russians did play a role. It begot worlds split into the tragic mundane reality and something beyond: visions of dramatic tension, enormous passions, strangeness, and beauty that only Nabokov could express.

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Nabokov. The Tragedy of Mr. Morn. P. 24. Ibid. Pp. 22–23. Nabokov. Speak, Memory. Pp. 280, 276.

Vivian Liska

Krise, Entscheidung und Aufschub: Walter Benjamin und Carl Schmitt oder Die Abwehr des Dezisionismus aus dem Geiste des Judentums Als ich mich entschloss über Walter Benjamin und Carl Schmitt zu sprechen, war ich mir der Bedeutung des Jahrs 1923 in dieser Konstellation noch nicht wirklich bewusst. Ich wusste lediglich, dass Benjamin 1923 Carl Schmitt zum ersten Mal erwähnte, doch was ich damals noch nicht ahnte, war, wie sehr dieser Zeitpunkt nicht nur für die Divergenzen der beiden Denker bedeutungsvoll ist, sondern auch für jene Nähe, die diesen Divergenzen erst ihr ganzes Gewicht verleiht. 1923 erscheint, ein Jahr nach seiner bekanntesten Schrift, Politische Theologie, Carl Schmitts Die Krise des Parlamentarismus, später auch Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus genannt. 1 Es ist das Buch, in dem Schmitt angesichts der Schwäche der Weimarer Republik seiner Kritik an der repräsentativen Demokratie, die für ihn eine lähmende politische Konstellation darstellt, vollen Ausdruck verleiht und in dem er seine Überzeugung entwickelt, dass die gegenwärtige Krise nur durch die Entscheidungsbereitschaft einer starken Führerpersönlichkeit überwunden werden kann. In seinem Tagebucheintrag vom 15. August 1923 beklagt Schmitt „[d]ie Unfähigkeit des Menschen, sich eine Katastrophe zu denken: ‚alles halb so schlimm‘. Es wird immer überlebend gedacht. Im tiefsten Grunde des modernen Weltgefühls lebt die dumpfe Gewissheit, dass die Welt ewig so weitergeht,“ dass sie also „ins Unendliche weiter“ überleben wird; „sie hat kein Ende […] Ist dumm im Vergleich zu der Erwartung des Jüngsten Gerichts.“ 2 1923 entsteht Benjamins „Kaiserpanorama“, ein Text, der ursprünglich „Gedanken über den Zustand von Mitteleuropa“ und danach „Reise durch 1 2

Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 2017 (1. Auflage 1923). Schmitt, Carl: Der Schatten Gottes. Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924, hg. Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler, Berlin 2014, S. 473.

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die deutsche Inflation“ hieß und den moralischen, politischen und kulturellen Bankrott Deutschlands darstellt. Die Unfähigkeit oder Weigerung der Bevölkerung, die Lage wahrzunehmen ist für Benjamin Bestandteil dieses Verfalls. Der Anfang seiner Aufzeichnungen ist den Sätzen Schmitts nicht unähnlich: In dem Schatze der Redewendungen, mit welchen die aus Dummheit und Feigheit zusammengeschweißte Lebensart des deutschen Bürgers sich alltäglich verrät, ist die von der [von diesem nicht wahrgenommenen] bevorstehenden Katastrophe – indem es ja ‚nicht mehr so weitergehen‘ könne, besonders denkwürdig.

„Denkwürdig“ ist für Benjamin der naive Glaube, dass alles schon besser werden, dass es überleben wird. Für Benjamin könnte nur „das Außerordentliche“ noch retten. „Dahingegen“, so Benjamin weiter, wird die Erwartung, dass es nicht mehr so weitergehen könne, eines Tages sich darüber belehrt finden, dass es für das Leiden des Einzelnen wie der Gemeinschaft nur eine Grenze, über die hinaus es nicht mehr weiter geht, gibt: die Vernichtung. 3

Für Benjamin wie für Schmitt geht 1923 die Lage der endgültigen, katastrophalen Vernichtung entgegen. Für beide sind Dummheit und Blindheit gegenüber der bevorstehenden Katastrophe an ihr mitschuldig. Für beide ist die Tatsache, dass es – bis zum bitteren Ende – so weitergehen wird, fast unausweichlich. Beide klagen die Notwendigkeit eines Außerordentlichen ein, das allein noch retten könnte. In ihrer Klage über die Lage Deutschlands im Jahr 1923 verwenden Benjamin und Schmitt wiederholt das gleiche Vokabular, doch die Unterschiede sind beachtlich. Am 24. Februar 1923 schreibt Walter Benjamin an seinen Freund Christian Rang: „Diese letzten Reisetage durch Deutschland haben mich wieder an den Rand von Hoffnungslosigkeit geführt und mich den Abgrund sehen lassen.“ 4 In „Reise durch die deutsche Inflation“ beklagt Benjamin, dass die Habgier der Deutschen nur die Wahl lässt, „als armer Schlucker oder Schieber zu erscheinen.“ 5 In einem Brief an Theodor Däubler vom 31. Mai 1923 schreibt Schmitt: „In Deutschland sieht es grauenhaft aus. […] O dieses arme, von Schiebern, Schulmeistern, Juden und Schuldenmachern geknebelte Deutschland, und doch die Heimat Hölder-

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4 5

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Benjamin, Walter: „Kaiserpanorama. Reise durch die deutsche Inflation“, in: Gesammelte Schriften Bd. IV.1, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 94–101, hier S. 94. Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe Bd. II 1919–1924, hg. Christoph Gödde und Heinz Lonitz, Frankfurt/M. 1996, S. 317. Benjamin, Walter: Kaiserpanorama, S. 100.

lins.“ 6 Für Benjamin und Schmitt sind die Schuldigen die habgierigen Bürger, Industriellen und Kapitalisten, doch welcher Rasse und Religion die „Schieber“ angehören, ist offensichtlich nur für Schmitt ausgemacht. Die Juden sind für Schmitt nicht nur „Schieber“ sondern auch unfähig zur souveränen, heroischen Entscheidung und metaphysisch blind. Am 24. August 1923 heißt es in Schmitts Tagebuch: „Die eigentümliche Fadheit und Schalheit des jüdischen Denkens erklärt sich daraus, dass es keine Beziehung zum Tode hat; nicht einmal Angst vor dem Tode. Die Diesseitigkeit dieses Volks ist grauenhaft.“ Am 26. November 1923 schreibt Benjamin an Rang hellsichtig: Mir ist das alles, was Du von den Völkern schreibst, aus der Seele gesagt. Die Liebe zu Völkern, Sprachen und Ideen gehört für mich zusammen, was nicht hindert, daß zu Zeiten eine Flucht mir Not tun kann, um diese Liebe zu retten. Die mir freilich was Deutschland betrifft, durch so entscheidende Lebenserfahrungen gesichert ist, daß ich sie nicht verlieren kann. Doch will ich auch nicht ihr Opfer werden. 7

Diese Weigerung, zum Opfer zu werden, bringt Benjamin unmittelbar darauf in Zusammenhang mit einer früheren Diskussion mit Rang über Judentum und Christentum. So fährt Benjamin fort: [W]ir sind mit dieser Fragestellung [über Gottesnähe im Leben und Gottesferne im Tod] in ein echtes Auseinandersetzungsgebiet zwischen Juden und Christen gekommen. Mir erscheint es als unwahrscheinlich, daß von irgendeinem jüdischen Standort aus die Thora sich eher als ein Sterbensmysterium denn als eine Lebensbürgschaft fassen ließe. 8

Benjamins Worte an Rang bestätigen Schmitts Aussage über die mangelnde Beziehung (oder Bereitschaft) der Juden zum Tod. Doch Schmitts und Benjamins gegensätzliche Beurteilung des jüdischen Lebenswillens ist bemerkenswert. Der keineswegs offensichtliche Zusammenhang zwischen Benjamins und Schmitts Reaktion auf die Krise von 1923 und dem Unterschied zwischen jüdischer und christlicher Haltung zu Leben und Tod, Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, soll im Folgenden im Licht des Dezisionismus erörtert werden.

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Schmitt, Carl: Der Schatten Gottes, Introspektionen, Tagebücher und Briefe 1921 bis 1924, hg. Gerd Giesler, Ernst Hüsmert und Wolfgang H. Spindler, Berlin 2014, S. 471. Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe Bd. II 1919–1924, hg. Christoph Gödde und Heinz Lonitz, Frankfurt/M. 1996, S. 378. Ebd.

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Krise und Entscheidung Der Ausdruck „Krise“ leitet sich etymologisch und begrifflich aus dem griechischen Wort κρίνω (krino) ab, das „unterscheiden“, „trennen“ oder, in diesem Kontext am signifikantesten, „entscheiden“ bedeutet. Es ist bemerkenswert, dass das Wort, welches die Situation eines drängenden Problems bezeichnet, scheinbar gleichzeitig dessen Lösung beinhaltet. Diese paradoxe Verfassung des Worts zeigt sich deutlich im französischen Wort für „entscheiden“, „trancher“, das angesichts einer Situation verwendet wird, in der reflektierendes Denken nicht die Lösung bringen kann. Etymologisch ist dieser Ursprung im englischen Adjektiv „trenchant“ und semantisch im Synonym „incisive“ bewahrt, die beide wörtlich übersetzt „einschneidend“ bedeuten. Es erinnert an das Durchschneiden des sprichwörtlichen Gordischen Knotens, das Alexander dem Großen als Zeichen seiner kurzentschlossenen Souveränität zugeschrieben wird. Was das französische Wort und seine englischen Formen erfassen, ist das Moment von Vehemenz und Gewalt, das der Entscheidung inhärent ist und es von einer Wahl abgrenzt, die einem Prozess von Überlegung und Abwägung folgt. Die Möglichkeit einer plötzlichen und gewaltsamen Lösung einer Krise, ausgeführt von einem – oder im Geiste eines – Souveräns liegt im Herzen des „Dezisionismus“, ein Ausdruck von Carl Schmitt, dem anti-liberalen politischen Theoretiker und sogenannten „Kronjuristen“ Hitlers, der jüngstens zu erneuter Beachtung gelangt ist. Schmitts Dezisionismus war ein wesentlicher Aspekt seines Ruhms bei seinen Zeitgenossen. Auch zahlreiche deutsch-jüdische Intellektuelle des frühen 20. Jahrhunderts, darunter Martin Buber, Karl Löwith, Leo Strauss und Walter Benjamin, aber auch spätere wie Hans Blumenberg und Jacob Taubes, waren von ihm gleichzeitig fasziniert und abgestoßen. Diese Denker betrachteten, auf die eine oder andere Weise, die Moderne als Übergangszeit zwischen einem „Nicht mehr“ und einem „Noch nicht“, als eine Situation, die von der Unzufriedenheit mit dem Status quo, von Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und Zweifel gekennzeichnet war und Lösungen verlangte, für die die Grundlagen fehlten. Ein zentrales Merkmal ihrer Betrachtungen über den Zustand dieses „Dazwischen“ ist die Spannung zwischen einer Temporalität der Plötzlichkeit und Unmittelbarkeit einerseits, und einer Zeit des Wartens, des Zögerns und Verzögerns, des Aufschubs andererseits. Im Folgenden soll diese Spannung gegen den Hintergrund von Schmitts Dezisionismus reflektiert werden. Dabei werden Denkbilder in den Schriften von jüdischen Zeitgenossen Schmitts – Franz Kafka, Gershom Scholem und vor allem Walter Benjamin 9 – herangezogen, die diese 9

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Alle drei hier behandelten Autoren assoziiert Stephane Mosès, der französischisraelische Pionier deutsch-jüdischen Denkens, mit einer „kritischen“ in Abgrenzung zu einer „normativen“ jüdischen Moderne. In: Mosès, Stéphane: Modernité

Spannung im Licht der jüdischen Tradition konfigurieren und zeigen, wie deren respektive Ansätze als Kritik an den Voraussetzungen des Schmittschen Dezisionismus gelesen werden können. Entscheidung und Aufschub Schmitt beschreibt in Politische Theologie bekanntlich seine Vorstellung von Dezisionismus unter dem Gesichtspunkt des Souveräns, der „über den Ausnahmezustand entscheidet“, sich also zu einer Entscheidung ermächtigt wähnt, welche die Gesetzesmacht transzendiert. Schmitt charakterisiert diese Geste als eine „reine, nicht räsonnierende und nicht diskutierende, sich nicht rechtfertigende, also aus dem Nichts geschaffene, absolute Entscheidung“. 10 Schmitt erläutert den Ursprung der „Reinheit“ und „Absolutheit“ dieser Geste als Unabhängigkeit vom Inhalt der Entscheidung: Worauf es für die Wirklichkeit des rechtlichen Lebens ankommt, ist für Schmitt nicht worüber, sondern wie und wer entscheidet. Im Gegensatz zum ewigen Gespräch oder der „endlosen Diskussion“, die, Schmitt zufolge, Parlamentsdebatten lähmen, 11 gehört die Entscheidung des Souveräns zur von Schmitt selbst so bezeichneten „großen Rhetorik“. 12 Sie beruht auf unerschütterlicher Entschlossenheit und reiner Unmittelbarkeit. Ausgeführt wird sie ohne Zögern und ohne Rechenschaft des Souveräns, der, an der Schwelle der Legalität, die Rechtsordnung außer Kraft setzt. Für Schmitt entscheidet der Souverän nicht nur in einem Ausnahmezustand, sondern eben auch über ihn: Er ist es, der ihn ausruft. So impliziert schon die Ausrufung einer Situation als Krise eine Dringlichkeit, die nach Entscheidung verlangt. Schmitt entwickelte seinen Dezisionismus als Antwort auf die von ihm ausgemachte Schwäche des Parlamentarismus der Weimarer Republik und der Moderne im Allgemeinen. Sein Dezisionismus wurde ein zentrales Element seiner autoritären politischen Theorie, die auf einer politischen Theologie fußt. Im Kern von Schmitts Begriff der Säkularisierung liegt die abgeleitete oder strukturelle Identifizierung des Souveräns mit einer göttlichen Autorität, die aus dem Nichts schafft, sich nicht zu rechtfertigen hat und im Wunder die Gesetze der Natur – beim Souverän die staatlichen Gesetze – außer Kraft zu setzen vermag. Diese Vorstellung impliziert eine Vergöttlichung des Menschen, die aus jüdischer Sicht der Idolatrie gleichkommt und

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normative et modernité critique, Figures philosophiques de la modernité juive, Paris 2011, S. 22–23. Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2004 (1. Auflage 1922), S. 69. Vgl. Schmitt, Carl: Politische Theologie, S. 67–68 und Schmitt, Carl: Die geistesgeschichtliche Lage, S. 45–46, 58–61. Schmitt, Carl: Römischer Katholizismus und politische Form, München 1925, S. 38.

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auf der Auffassung einer ursündigen Menschheit beruht, die eines solchen Souveräns, eines quasi heiligen Führers bedarf. Es umfasst zudem die Idee einer notwendigen Reinigung der Welt von der unreinen Vielfalt, in der Entscheidungen, sollen sie „rein“ und „absolut“ sein, nur zum Preis diktatorischer Macht möglich sind. Diesen Preis zu zahlen, war Schmitt bereit. Auch die Denkbilder der deutsch-jüdischen Autoren, die hier herangezogenen werden sollen, zeichnen die Moderne als Krise, und Dezisionismus liegt durchaus innerhalb ihres Vorstellungsbereichs. Im Bewusstsein der Gefahren dieser Lösung, so meine These, wehren sie diese jedoch in Formen des Aufschubs oder der Verzögerung ab. Wenn bei diesen Denkern die Abwehr der Entscheidung häufig auch als Konsequenz der Schwierigkeit zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen oder lediglich als ein Warten auf den rechten Augenblick erscheinen mag, so erweist sich der Aufschub in seinen textuellen Ausführungen zumeist als grundlegendere Haltung: eben als strukturelle Inversion der Prämissen von Schmitts souveränem Dezisionismus. Wie dieser sind die Darstellungen des Aufschubs bei diesen deutsch-jüdischen Denkern fast unabhängig von ihrem Inhalt und Kontext. Der Aufschub erweist sich, wie bei Schmitt die Entscheidung, als bedeutsamer Gestus an sich, der sich der quasi-göttlichen Ermächtigung des Souveräns widersetzt. Auffallend sind dabei wiederholte Verweise auf die jüdische Tradition. Kafkas Aufschub Kafkas Werk kann, in großen Teilen, als gleichzeitiger Ausdruck von Sehnsucht nach Unterbrechung und kleinteilige Übung in Aufschub, Vertagung und Verzögerung beschrieben werden. Von der Hartnäckigkeit des Manns vom Lande in „Vor dem Gesetz“, der vor dem Tor verharrt, in das er einzutreten wünscht, und dabei fortwährend mit dem Türhüter verhandelt, bis zu den endlosen Grübeleien des Tiers in „Der Bau“, sehen sich Kafkas Protagonisten mit einer Lage konfrontiert, die einen entscheidenden Entschluss verlangt, während sie warten, zögern und vor einer Geste zurückschrecken, die ihre Situation einer ultimativen Lösung zuführen würde. Diese Dynamik, eine Entscheidung durch Aufschub und Verzögerungstaktik zu vermeiden, durchzieht Kafkas gesamtes Werk. Paradigmatisch ausgeführt findet es sich in Kafkas Neuschreibung der biblischen Szene der „Opferung Isaaks“. „Ich könnte mir einen andern Abraham denken.“ 13 Dieser erste Satz eines Texts, den Kafka im Juni 1921 14 in einem Brief an Robert Klopstock 13 14

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Brief von Franz Kafka an Robert Klopstock, Juni 1921, in: Brod, Max (Hg.): Kafka, Briefe, 1902–1924, Frankfurt/M. 1958, S. 333–334. Für eine richtungsweisende Analyse dieses Textes, siehe Alter, Robert: Necessary Angels. Tradition and Modernity in Kafka, Benjamin, and Scholem, Cambridge/ Mass. 1991, S. 73–74.

schreibt, ist eine implizite Antwort auf Kafkas Lektüre von Kierkegaards Überlegungen zu Abraham und der Opferung Isaaks in „Furcht und Zittern“. Kafka denkt sich einen anderen Abraham, einen Abraham, der nicht auf den Berg Moria geht, um seinen geliebten Sohn zu opfern. Wie der biblische Patriarch ist Kafkas „anderer Abraham“ ein frommer Mann, der „die Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu erfüllen bereit wäre“; im Gegensatz zum biblischen – und Kierkegaardschen – Abraham ist Kafkas Abraham jedoch einer, „der das Opfer doch nicht zustandebrächte.“ 15 Kafka beschreibt daraufhin verschiedene Szenen, die unterschiedliche Gründe anführen, die Abraham davon abhalten, den göttlichen Befehl auszuführen. In der ersten Szene argumentiert Abraham in einer imaginären Antwort an Gott, dass „er von zuhause nicht fortkann, er ist unentbehrlich, die Wirtschaft benötigt ihn, immerfort ist noch etwas anzuordnen, das Haus ist nicht fertig“. 16 Kafka entwickelt diese Phantasmagorie weiter und führt Abrahams Ausflüchte dafür, dass er zögert, anstatt Gottes Gebot zu gehorchen, näher aus. Sein „anderer Abraham“ steht jetzt im Plural, er ist ein Typus geworden, eine existentielle Haltung: Die „oberen Abrahame, die stehn auf ihrem Bauplatz und sollen nun plötzlich auf den Berg Moria“. 17 In Kafkas Vorstellung werden diese Abrahame von Gott gerufen, während sie sich um ihr Haus kümmern: Die göttliche Verfügung erreicht sie inmitten ihrer Sorge um dieses Haus, um ihre Wirtschaft, ihre diesseitige Lebenswelt. So sehr Kafkas „andere Abrahame“ auch willens gewesen wären, sich zu fügen, sie sind zu sehr in die Tätigkeit an ihrem „Bauplatz“ vertieft, um Gottes Ruf zu folgen. 1923, also zwei Jahre, nachdem Kafka diesen Brief schreibt, verfasst er die Erzählung „Der Bau“, 18 eine „unendliche“ Erzählung par excellence. Sie besteht aus einem langen Monolog eines maulwurfartigen Tiers, das sich wie besessen um seinen Bau kümmert. Das Tier stellt fortwährend Beobachtungen an, trifft Entschlüsse und bestätigt Fakten, nur um sie sofort mit einem „aber“ oder einem „jedoch“ zu verwerfen und sich einer Vielzahl von Alternativen zuzuwenden, die kurz darauf das gleiche Schicksal erfahren. Die ununterbrochenen Überlegungen und Berechnungen kreisen mit übermäßiger Aufmerksamkeit um jedes kleinste Detail. Die Aufgabe ist endlos. Der Bau, der weder zu vervollkommnen noch zu vollenden ist, der weder verlassen noch wirklich bewohnt werden kann, ist das perfekte Bild und die Verkörperung von Kafkas Schreiben, das sich ebenfalls in einer ständigen Bewegung selbst aufhebt.

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Brod, Max (Hg.): Kafka, Briefe, 1902–1924, Frankfurt/M. 1958, S. 333. Ebd. Ebd. Kafka, Franz: „Der Bau“, in: Franz Kafka: Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hg. Roger Hermes, Frankfurt/M. 1997, S. 465–597.

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Ein Auszug aus „Der Bau“ zeigt Kafkas intensive Beschäftigung mit Entscheidungen. Unzufrieden mit der Absicherung seines Baus, fragt sich das Tier etwa: „Soll ich diesen Teil deshalb umbauen? Ich zögere die Entscheidung hinaus und es wird wohl schon so bleiben wie es ist.“ 19 An einem Punkt erwägt das Tier die Möglichkeit, seine Behausung endgültig aufzugeben: Ich bin nicht ganz fern von dem Entschluß, in die Ferne zu gehen, das alte trostlose Leben wieder aufzunehmen […] Gewiß, ein solcher Entschluß wäre eine völlige Narrheit, hervorgerufen nur durch allzu langes Leben in der sinnlosen Freiheit; noch gehört der Bau mir, ich habe nur einen Schritt zu tun und bin gesichert. Und ich reiße mich los von allen Zweifeln und laufe geradewegs bei hellem Tag auf die Tür zu, um sie nun ganz gewiß zu heben, aber ich kann es doch nicht […] Ich werde nun meine Methode ändern. Ich werde in der Richtung zum Geräusch hin einen regelrechten großen Graben bauen […] bis ich unabhängig von allen Theorien die wirkliche Ursache des Geräusches finde. Dann werde ich sie beseitigen, wenn es in meiner Kraft ist, wenn aber nicht, werde ich wenigstens Gewißheit haben. Diese Gewißheit wird mir entweder Beruhigung oder Verzweiflung bringen, aber wie es auch sein wird, dieses oder jenes; es wird zweifellos und berechtigt sein. Dieser Entschluß tut mir wohl. 20

Die einzige Entscheidung, die der Kreatur Trost bringt, ist es, die Entscheidung zu vertagen. Aber selbst diese Entscheidung und das damit einhergehende gute Gefühl dauern nicht an. Schon zwei Sätze später grübelt die Kreatur weiter über die Bedingungen nach, die die Entscheidung, nicht zu entscheiden, ermöglichen, nur um diese Bedingungen für gleichzeitig widersprüchlich und unergründlich zu befinden. „Der entscheidende Augenblick“, schreibt Kafka in einem Aphorismus, „ist immerwährend.“ 21 Der Aufschub der Entscheidung ist folglich ewig und unendlich. Auf den letzten Seiten der Erzählung hört der Maulwurf, eine Unterbrechung sowohl fürchtend als auch erhoffend, ein Geräusch und stellt sich vor, dass „mich jemand zu sich rufen wird, dessen Einladung ich nicht werde widerstehen können.“ 22 Der Maulwurf vermutet, dass das Geräusch, das es im Bau hört, nicht, wie er zunächst meinte, von vielen kleinen Tieren stammt, „sondern von einem einzigen großen.“ 23 Etwa einem göttlichen? Wie dem auch sei: sogleich geht der Maulwurf weiter seinen Geschäften nach, und nach sechzehn eng beschriebenen Manuskriptseiten und einem

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Ebd., S. 473. Ebd., S. 479. Hervorhebung von der Autorin. Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. Malcom Pasley, Frankfurt/M. 2002, S. 114. Kafka, Franz: Der Bau, S. 476. Ebd., S. 500.

weiteren „aber“ bricht die Geschichte mitten im Satz ab. Sie könnte, so scheint es, endlos weitergehen. Der letzte Satz von Kafkas erster Szene in seiner Vorstellung eines „anderen Abrahams“ bietet eine Erklärung für diese Endlosigkeit. Sich auf seine „anderen Abrahame“ beziehend, die der Einladung des Rufs zur Opferung widerstehen, weil sie sich um ihr Haus kümmern müssen, spekuliert Kafka: „Bleibt also nur der Verdacht, dass diese Männer absichtlich mit ihrem Haus nicht fertig werden […] um den Blick nicht heben zu müssen und den Berg zu sehn, der in der Ferne steht.“ 24 Der Berg ist der Berg Moria, wo Abrahams Opferung seines Sohnes stattfinden sollte. In der anhaltenden Beschäftigung mit dem Hausbau verweigert Abraham die Gewalt dieser Opferlogik. In beiden Texten, dem Brief und der Erzählung, läuft die Abwehr des „entscheidenden Augenblicks“ darauf hinaus, sich zur Fürsorge des Bauplatzes bzw. des Baus zu bekennen, also zur diesseitigen Welt. Es offenbart in einem das Drängen zur Entscheidung und das Bewusstsein um die mit ihr verbundene Gefahr. In der bis zur Parodie gesteigerten Verzögerung, die Kafka vorführt, überwiegt das Bewusstsein der Gefahr. In beiden Fällen lässt sich die Verzögerungstaktik nicht auf Untätigkeit reduzieren – im Gegenteil: beides, Abrahams Hausbau, der keine Unterbrechung duldet, und Kafkas hyperaktiver Maulwurf, der unaufhörlich (und wortwörtlich) alle Möglichkeiten durchläuft, ist alles außer Passivität oder Abkehr von weltlichen Dingen zugunsten einer gleichgültigen Gelassenheit. Was in beiden Erzählungen vorgeführt wird, ist handelnder Aufschub. Kafkas Darstellung weicht offensichtlich vom biblischen Text ab, aber Abrahams Verhandlungen mit Gott werden bereits in der Bibel selbst dargelegt. Das Verhandeln des Patriarchen mit Gott – wie im Kontext des göttlichen Plans, Sodom zu zerstören – kennzeichnet auch andere biblische Figuren, allen voran Moses, wie auch etliche Propheten, die mit der göttlichen Autorität ringen, Gott beschwören, die Ausführung seines Urteils zu vertagen. Indem Abraham der Versuch zugeschrieben wird, Gottes Befehl zu verschieben, folgt die Bibel dem Modell der Gerechtigkeit, wie es der talmudischen Mischna Sanhedrin 25 im Zusammenhang mit der Todesstrafe zugrunde liegt: Wenn der Beschuldigte für unschuldig befunden wird, muss er sofort befreit werden, wird er aber schuldig gesprochen, sollte der Richter „die Nacht absitzen“ und die Hinrichtung hat erst am nächsten Tag zu erfolgen. 26 Die Verzögerung gibt Zeit, die Strafe zu überdenken, und erlaubt 24 25

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Brod, Max (Hg.): Kafka, Briefe, 1902–1924, Frankfurt/M. 1958, S. 333. Hervorhebung von der Autorin. ָ‫ מַ ﬠֲבִ ִירין ִדּינוֹ לְ מָ ח‬,‫ וְ ִאם לָאו‬.‫ פְּ טָ רוּהוּ‬,‫ ִאם מָ צְ אוּ לוֹ זְכוּת‬Mishnah Sanhedrin 5.5, https://www.sefaria.org/Mishnah_Sanhedrin.5.5?lang=bi, letzter Zugriff am 15.7.2023. Ebd.

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es jemandem, zugunsten des Verurteilten einzugreifen. Der Aufschub der Gewalt der Hinrichtung gestattet Einspruch angesichts möglicher Rechtswidrigkeit, verbürgt Gerechtigkeit. Scholems Vertagung Ein früher Text von Gershom Scholem, „Über Jonah und den Begriff der Gerechtigkeit“, 27 bringt diese Verzögerung zwischen Urteil und Hinrichtung in direkten Zusammenhang mit Lebensbejahung und Gerechtigkeit. So heißt es dort lapidar: „Im Aufschub handeln errettet vom Tod.“ 28 Scholem illustriert seine Definition von Gerechtigkeit anhand eines Verses aus dem Buch Jonah, in dem Gottes Verzicht, die Stadt Niniveh zu bestrafen, beschrieben wird: „Und er [Gott] überdachte das Urteil, das er gefällt hat und verkündete, er würde es ausführen, und führte es nicht aus.“ 29 Der Aufschub, an den Scholem denkt, ist keinesfalls passiv: „Der zur Handlung gewordene Aufschub“, betont Scholem, „ist Gerechtigkeit als Tat.“ 30 Auf ähnliche Weise, wenn auch noch ausdrücklicher als Kafka, verbindet Scholem Aufschub mit Handlung: Weit von einer passiven Weigerung zu handeln entfernt, sei es als Gleichgültigkeit oder Gelassenheit, bestimmt er ihn als Tat. Darüber hinaus betrachtet er Aufschub als einen Akt, der keine plötzliche, souveräne Entscheidung, sondern – nicht nur, aber ganz besonders im Rechtszusammenhang – einen Ablauf, einen Prozess sowie Zeitlichkeit benötigt. Scholem scheint beinahe Schmitt vorzugreifen, wenn er schreibt, dass „Gerechtigkeit nie in der eindeutigen Entscheidung einer exekutiven Macht“ 31 liegt. Für Scholem ist es also nicht die souveräne Entscheidung, die das Gesetz suspendiert, sondern der souveräne Aufschub der Hinrichtung. In Scholems Essay von 1959, „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“, 32 lässt sich die Spannung zwischen plötzlicher Unterbrechung und Zeit des Aufschubs fassen. Bekanntlich charakterisiert Scholem die jüdische Existenz im Lichte des Messianismus als „Leben im Aufschub“. 33 Ob das als Kritik an mangelnder Teilnahme von Juden am geschichtlichen Geschehen oder als Bekräftigung ihres Bewusstseins einer unerlösten Menschheit gedacht ist, ist umstritten. Aller Wahrscheinlichkeit 27 28 29 30 31 32 33

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Scholem, Gershom: Tagebücher, 1917–1923, hg. Karlfried Gründer, Herbert KoppOsterbrink und Friedrich Niewöhner, Frankfurt/M. 2000, S. 522–32. Ebd., S. 534. Jonah 3,10, zit. Scholem, Gershom: Tagebücher, 1917–1923, hg. Karlfried Gründer, Herbert Kopp-Osterbrink und Friedrich Niewöhner, Frankfurt/M. 2000, S. 528. Scholem, Gershom: Tagebücher, 1917–1923, S. 533. Ebd. Scholem, Gershom: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In: ders., Über einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt/M. 1970, S. 121–167. Ebd., S. 130.

nach ist die Ambivalenz der Aussage ein Ausdruck der Spannung zwischen der Erwartung einer radikalen, apokalyptischen Unterbrechung und dessen Abwehr durch Aufschub. Scholem sagt nie ausdrücklich, was Erlösung beinhaltet: Messianische Zeit wird hier weniger von ihrem Inhalt her bestimmt als von der Struktur des Aufschubs als Gerechtigkeit selbst. Benjamins Verzögerung Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht. 34

Schmitt, Benjamin und die Entscheidung des Souveräns wurden in der einschlägigen Literatur breit diskutiert. 35 Anders als Kafka und Scholem, hatte Benjamin direkten Kontakt mit Schmitt. Benjamins Verhältnis zu dem deutschen Juristen – explizit handelt es sich um einige Querverweise zwischen den beiden sowie einen fast unterwürfigen Brief von Benjamin an Schmitt – stellt ein besonders kontroversielles Phänomen dar, das von heutigen linken „Schmittianern“ immer wieder herangezogen wird. 1939 fasste Walter Benjamin eine Diskussion, die er mit Bertolt Brecht über seine Haltung zu Carl Schmitt geführt hatte, kurz zusammen: „Einverständnis/Hass/Verdächtigung.“ 36 Zwei Einsichten – eine affektiv, die andere methodologisch – können aus dieser kurzen Bemerkung abgeleitet werden. Benjamins Haltung zu Schmitt ist nicht einfach ambivalent, sondern in seiner Gegensätzlichkeit so radikal und extrem wie in seiner Dialektik. Benjamin kommt Schmitts Dezisionismus zuweilen gefährlich nahe, doch stiehlt er ihm, wie im Hegel-Motto, nur seine Waffen, um ihn und das, wofür er steht, gerichteter zu bekämpfen. Zahlreiche Stellen in Benjamins Schriften erscheinen als Bejahung einer spontanen, unvermittelten Entscheidung: Er spricht von der Revolution als dringendes „Ziehen der Notbremse der Geschichte“, vom Imperativ einer Unterbrechung der „leeren, homogenen Zeit“, vom „Augenblick des Stillstands“, von einem Schock des Erwachens. In seinem Essay über Goethes Wahlverwandtschaften erscheint der spontane, unüberlegte Sprung ins Wasser des Nachbarjungens, um das Mädchen vor dem Ertrinken zu bewahren, als einzig rettendes Ereignis des Romans. Doch zeichnet Benjamin die von ihm befürwortete Entscheidung im Gegensatz zu Schmitt als halbbewusste 34 35

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Hegel, G.W.F.: Werke, Bd. 6, Frankfurt/M. 1979, S. 249. Die Ausführungen zu Benjamins Verhältnis zu Schmitt entsprechen stellenweise meinem Artikel Liska, Vivian. „Contra Schmitt: Walter Benjamin, Leo Strauss and Carl Schmitt“, in: Naharaim, 2023. https://doi.org/10.1515/naha-2022-0017. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften II, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1980, S. 1372.

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„leibhafte Geistesgegenwart“, 37 die, gerade nicht souverän und voluntaristisch, in Krisensituationen erforderlich ist. In einem Brief an Scholem spricht Benjamin von seinem Wunsch, „die rein theoretische Sphäre durch religiöses oder politisches Handeln [zu verlassen]“ und erklärt sein Zögern, der kommunistischen Partei beizutreten, überwinden zu müssen: eine „Aufgabe […] nicht ein für alle Mal, sondern jeden Augenblick sich zu entscheiden. Aber zu entscheiden“ und „immer radikal, niemals konsequent in den wichtigsten Dingen zu verfahren.“ 38 Doch selbst wo Benjamin sich, wie hier, Schmitts Dezisionismus anzunähern scheint, veräußert er dessen Endgültigkeit und Entschlossenheit, indem er die Notwendigkeit eines neuen Beginns angesichts sich jeweils verändernder Umstände betont. Auch Benjamins Messianismus steht dem Schmittschen Dezisionismus entgegen. Indem er den Messias anruft, bekennt sich Benjamin zu einer Kraft, die von außen kommen muss, aber eben auch von einer verinnerlichten, nicht-rationalen Wachsamkeit für die Gefahr der konkreten Situation, die, wie die „leibhafte Geistesgegenwart“, nicht spontan gewollt, sondern eingeübt werden kann. Der bekannteste direkte Austausch zwischen Schmitt und Benjamin findet sich in Querverweisen zwischen Schmitts Politischer Theologie und Benjamins Studie über das Barocke Trauerspiel. In seinem Brief an Schmitt sowie in seinem Trauerspiel-Buch unterstreicht Benjamin, wieviel er dessen Begriff von Souveränität verdankt. Wie häufig bemerkt wurde, distanziert sich Benjamin allerdings deutlich von Schmitt. Vor allem besteht Benjamin, im Gegensatz zu Schmitts Idee von der göttlich abgeleiteten Macht des Souveräns, auf der kreatürlichen Verhaftung des Herrschers. Im Unterschied zu Schmitt, stattet Benjamin, in Übereinstimmung mit der jüdischen Tradition, den Souverän nicht mit göttlichen Kräften aus. Ebenso weist Benjamin Schmitts Definition der Entscheidung aus dem Nichts bzw. der reinen Autorität des Souveräns zurück. Für Schmitt ist der göttliche Ursprung der Herrschermacht und ihre Parallele zum gesetzesentkräftenden Wunder quasi willkürlich: Im Judentum sind biblische Wunder niemals willkürlich, sondern Teil der göttlichen Übereinkunft mit dem Menschen, des Bundes mit seinem Volk: Gott ist demnach selbst an seinen „Vertrag“ gebunden. Zudem erweist sich, so Benjamin, „in der erstbesten Situation“,

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Benjamin, Gesammelte Schriften IV.1, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1991, S. 142. Zu Schmitts Kritik einer „problemlosen Leibhaftigkeit“ siehe Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2004, S. 68. Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe Bd. III, hg. Christoph Gödde und Heinz Lonitz, Frankfurt/M. 1997, S. 158–159. Hervorhebung der Autorin.

dass, weil der Fürst Mensch bleibt, „eine Entscheidung ihm fast unmöglich ist.“ 39 Auch in Benjamins „Zur Kritik der Gewalt“ (1921) geht es um den Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Entscheidungsmacht. Benjamin unterscheidet in diesem häufig (unter anderem von Jacques Derrida) kritisierten Aufsatz eine staatliche rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt, die er von der legitimen „göttlichen Gewalt“ abgrenzt. Benjamin besteht dabei darauf, dass der Mensch nicht entscheiden kann, wann eine konkrete Situation „göttlicher Gewalt“ bedarf: „Nicht gleich möglich noch auch gleich dringend ist aber für Menschen die Entscheidung, wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle“ legitim ist. „Denn nur die mythische, nicht die göttliche, wird sich als solche mit Gewißheit erkennen lassen.“ 40 Es ist deshalb unmöglich, Gewalt im Namen Gottes auszuüben. Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Benjamins Warnung, über „göttliche Gewalt“ zu entscheiden, und sein Verhältnis zu Schmitts Dezisionismus. Benjamin war zweifellos von dessen Spontaneität angezogen, die nicht aus der Vernunft abgeleitet wird (im Unterschied zu langsamer, schrittweiser Veränderung oder zu Kants „unendlicher Aufgabe“) – aber für Benjamin darf Entscheidung nicht von oben kommen, sondern allenfalls von einem messianischen Außen oder aus einer revolutionären Bewegung, von unten. Eine prägnante Formulierung, die Schmitt und Benjamin gleichermaßen verwenden, wirft ein scharfes Licht auf ihre Beziehung. Sie betrifft den „Augenblick der Gefahr“, die den Ausnahmezustand erfordert. Dieser Ausdruck, der in Benjamins kurz vor seinem Tod 1940, also inmitten der Erfahrung des nationalsozialistischen Schreckens, verfassten „Über den Begriff der Geschichte“ eine zentrale Rolle spielt, wird im Allgemeinen ihm als ersten Autor zugeschrieben. 41 Er kann allerdings als direkte, abwehrende Antwort auf Schmitt gelesen werden, der ihn in höchst problematischem Zusammenhang verwendet. In einem am 1. August 1934 veröffentlichten Artikel, der den Titel „Der Führer schützt das Recht“ trägt, schreibt Schmitt: „Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch,

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Benjamin, Walter: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, Gesammelte Schriften I.1, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, FrankfurtM. 1974, S. 250. Benjamin, Walter: „Zur Kritik der Gewalt“, Gesammelte Schriften II.1, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977, S. 202. In „Gefährliche Beziehungen: Walter Benjamin und Carl Schmitt“ (Stuttgart 1996, S. 10), einem Buch über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Benjamin und Schmitt, schreibt Susanne Heil: „The two thinkers shared the critique of a liberalism lacking in seriousness, extremity and depth“, einer normativen Moral als Ausdruck des „Ernstes des Lebens“, und sie begreift den letzteren – in Nähe zu und Distanz von Schmitt – als „Augenblick der Gefahr“ im Angesicht einer außergewöhnlichen Situation, die Schmitt „Ernstfall“ nennt.

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wenn er im Augenblick der Gefahr als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft.“ 42 In seiner sechsten These „Über den Begriff der Geschichte“ verwendet Benjamin diesen Ausdruck und kehrt ihn radikal um: Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. 43

Wo Schmitt die diktatorische Geste Hitlers begrüßt, der sich als souveräner Führer selbst ermächtigt, indem er sich über das Gesetz stellt, ruft Benjamin das „historische Subjekt“ an, in einem verzweifelten Versuch ein „Bild der Vergangenheit“ zu ergreifen, das plötzlich „aufblitzt“. Doch es geht Benjamin darum, dieses Bild zu bewahren, es aus dem Trümmerhaufen zu retten, zu dem die menschliche Geschichte reduziert wurde, nicht zuletzt, kann hinzugefügt werden, von Schmitt und jenen, die damals und heute seinen Versuchungen unterliegen. Der Engel der Geschichte, der den Trümmerhaufen gewahrt, verharrt im Wunsch, das Vernichtete wiederherzustellen, die Toten zu wecken, die Rettung herbeizuführen, wartend auf einen messianischen Einbruch von außen, der noch ausbleibt. Am explizitesten im gegenwärtigen Kontext wird Benjamins Befürwortung des Aufschubs in seinen im Licht der jüdischen, genauer der talmudischen Tradition stehenden Ausführungen über Kafka. In seinem großen Kafka-Essay vergleicht Benjamin dessen Prosa mit der Haggada, dem narrativen Element des Talmud. Diese Ähnlichkeit, so Benjamin, könne „beim Leser den Eindruck der Verstocktheit hervorrufen.“ Benjamin erklärt den Vergleich: Man hat hier an die Form der Haggadah zu erinnern; so heißen bei den Juden Geschichten und Anekdoten des rabbinischen Schrifttums, die der Erklärung und Bestätigung der Lehre – der Halacha dienen. Wie die haggadischen Teile des Talmuds, so sind auch [Kafkas] Bücher Erzählungen, eine Haggada, die immerfort innehält, in den ausführlichsten Beschreibungen verweilt, immer in der Hoffnung und Angst zugleich, die halachische Order und Formel, die Lehre könnte ihr unterwegs zustoßen. Ja, die

42 43

228

Schmitt, Carl: „Der Führer schützt das Recht“. Deutsche Juristen-Zeitung 1. August 1934, S. 945–950. Hervorhebung von der Autorin. Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, Gesammelte Schriften I.2, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1974, S. 695. Hervorhebung der Autorin.

Verzögerung ist der eigentliche Sinn jener merkwürdigen, oft so frappanten Ausführlichkeit. 44

Wie in diesen Haggadot, setzt Benjamin fort, zeigen Kafkas Parabeln „das eigentliche Walten der Gnade“ darin, „dass das Gesetz als solches bei Kafka – wie in diesen Haggadot – sich nirgends ausspricht.“ Die Verzögerung wird derart zur Struktur, die die richtende Entscheidung vertagt. Benjamin nennt den Prozess des Zögerns bei Kafka seine charakteristischste „Geste“. Von Kafkas Gebärden sagt Benjamin, dass es keine gibt, die nicht von der „Zweideutigkeit vor der Entscheidung“ betroffen ist. Sie ist, so Benjamin weiter, selbst „das Entscheidende“, denn sie eröffnet „die Mitte des Geschehens.“ 45 Wie bei Kafka ist diese Geste – Werner Hamacher hat darauf hingewiesen – , die „vor jeder Bedeutung und jeder Lehre zögert und nichts als solches Zögern, Hinhalten, Aufschieben ist“, selbst „eine Entscheidung, aber nicht indem sie über oder für etwas entscheidet, nicht indem sie Urteile fällt, ein Gesetz aufrichtet oder ein Exempel statuiert – dann gehörte sie zum Bereich der prädikativen Sprache […] und setzte bereits voraus, was erst in ihr erschlossen werden kann.“ 46 Was sich hingegen in Benjamins Geste des Zögerns erschließt, ist ein Raum, der von „fremden Sachverhalten“ und Voraussetzungen befreit ist und in dem anderes als das Gegebene denkbar wird. Hannah Arendt kommt der Bedeutung dieses Raums nahe, wenn sie über Benjamins Zaudern schreibt, Europa angesichts der nationalsozialistischen Gefahr zu verlassen: Was in den Briefen wie Unentschlossenheit wirkt, dürfte in Wahrheit die Folge der bitteren Einsicht sein, dass alle Lösungen nicht nur objektiv falsch, der Wirklichkeit unangemessen waren, sondern dass sie ihn persönlich in eine Erlösungslüge führen würden. […] Er würde sich damit gerade um die positiven Erkenntnischancen seiner eigenen Position bringen […] Er hatte sich in den verzweifelten Umständen, die der Wirklichkeit entsprachen, angesiedelt; in ihnen wollte er verharren, um die eigenen Schriften zu ‚denaturieren’ wie Spiritus […] auf die Gefahr hin, dass sie ungenießbar für jeden der jetzt Lebenden werden und desto verlässlicher in eine unbekannte Zukunft gerettet werden können. 47

44

45 46 47

Benjamin, Walter: „Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer,“ Gesammelte Schriften II.2, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977, S. 679. Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe Bd. II 1919–1924, hg. Christoph Gödde und Heinz Lonitz, Frankfurt/M. 1976, S. 419. Hamacher, Werner: Entferntes Verstehen: Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt/M. 1998, S. 316. Arendt, Hannah: „Walter Benjamin, Menschen in finsteren Zeiten“, München 2001, S. 179–236, hier S. 221.

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Ungenießbar für seine Zeitgenossen ist Benjamins Zögern, weil diese ein ideologisches Bekenntnis von ihm erwarten und weil die Lage zwingend, eine Entscheidung notwendig ist. Sie können daher kein Verständnis für den Wert jener ebenso philosophischen wie politischen Einsicht aufbringen, die nicht nur „in eine unbekannte Zukunft gerettet werden soll“, sondern die gerade darin besteht, das Zukünftige als Unbekanntes, also nicht Ableitbares, nicht Berechenbares zu retten. Die „Zweideutigkeit vor der Entscheidung“ ist allerdings nicht nur, wie in Arendts Kommentar, Zufluchtsort oder Erkenntnisraum, und ist nicht nur negativ zu bestimmen – als Ort, der „den verzweifelten Umständen der Wirklichkeit“ entspricht, sondern auch als Ort, an dem, jenseits von Notwendigkeit und Unvollziehbarkeit, die Möglichkeit der Rettung aufblitzt. Schluss Auch wenn die hier behandelten Beispiele nach Art, Kontext und Form variieren, teilen sie alle eine Wertschätzung des Aufschubs im Bewusstsein der potentiellen Gewalt der Entscheidung. Zugleich weist deren Beharren auf dem Aufschub auf die Wichtigkeit, alternative Möglichkeiten zu erwägen: Gegen die Unausweichlichkeit des Laufs der Geschichte oder des Schicksals bestehen sie, wie Josef Vogel in seinem Buch „Über das Zaudern“ 48 ausführt, auf einem Maß an Kontingenz und damit an freiem Willen. Weit entfernt allerdings von Heideggerscher „Gelassenheit“, begreifen sie Aufschub als aktiven, zuweilen sogar als hochintensiven Modus. Noch über das zaudernde Abwägen verschiedener Möglichkeiten als Grundlage des freien Willens hinaus, bejaht die jüdische Tradition, sei es in der messianischen Temporalität des Wartens, sei es in den talmudischen potentiell endlosen Erwägungen, den Aufschub der Entscheidung als Grundlage der Gerechtigkeit. In den angeführten Beispielen jüdischer Autoren widersetzt sich der Aufschub der Gewalt der Entscheidung. Nirgends wird diese Gewalt expliziter als in Kafkas „Der Prozess“. Der Roman endet mit der Ermordung des Protagonisten: Josef K. wird von zwei anonymen Männern brutal hingerichtet, die, wie der vorletzte Satz des Romans beschreibt, den Mann ansehen, den sie gerade getötet haben. Was sie da sehen, wurde selten bemerkt: Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. 49

Die Entscheidung ist hier nicht nur der Tod, sie ist Mord. 48 49

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Vogl, Joseph: Über das Zaudern, Zürich-Berlin 2018, vor allem S. 133–144. Kafka, Franz: Der Prozess, hg. Malcom Pasley, Frankfurt/M 1990, S. 312.

Coda: Warum Schmitt heute? In den 1980er Jahren, als die Ächtung Schmitts von einer enttäuschten und orientierungslosen Linken auf der Suche nach neuer anti-liberaler Inspiration aufgehoben wurde, beriefen sich jene, die seinen Ruf wiederbelebten, noch schlechten Gewissens auf ihn. Zwei Jahrzehnte später ist weder vom Unbehagen noch von der Provokation viel übrig. Schmitt galt nicht mehr als umstrittener Denker der Vergangenheit, sondern als Inspiration für das Verständnis der Gegenwart. Carl Schmitts gegenwärtige und zunehmende Anziehungskraft für rechte, linke und in letzter Zeit auch zentristische Intellektuelle ist erstaunlich. Zu den wichtigsten zählen Chantal Mouffe, Susan Buck-Morss und Slavoj Žižek, um nur einige zu nennen. Motiviert werden sie von einem politischen Programm, das ein Gefühl allgegenwärtiger Krise und Dringlichkeit kennzeichnet und radikale Maßnahmen einfordert. Ein häufiges Element ihrer Gegenwartsdiagnosen stellt der Versuch dar, aus dem aufzuwachen, was sie als liberale Lethargie wahrnehmen, die Giorgio Agamben in seiner Auseinandersetzung mit Jaques Derridas Lektüre von Kafkas „Vor dem Gesetz“ einen „gelähmten Messianismus“ nennt. 50 Wie kommt es, dass Schmitt, seiner offensichtlichen rechten Neigungen ungeachtet, einige der prominentesten linken Denker der Gegenwart anzieht? Es scheint, dass Schmitt diesen Intellektuellen nicht nur einen AntiLiberalismus, sondern einen Radikalismus bietet, der von anderen politischen Quellen nicht mehr verfügbar ist, seit der Marxismus seine Glaubwürdigkeit verloren hat. Einige schreiben die Gründe für Schmitts gegenwärtige Relevanz der Schwäche heutiger Demokratien zu. Wieder einmal erweise sich deren Schwäche und Mangelhaftigkeit. Sie argumentieren, dass der Liberalismus, was seine Auffassung der menschlichen Natur betrifft, übertrieben optimistisch sei und das antagonistische Wesen der Politik verkenne. Sie betrachten die aktuelle Schwäche parlamentarischer Demokratie, mit ihren angeblichen end- und fruchtlosen Verhandlungen als Beweis dafür. Für andere dient Schmitt als Inspiration für eine anarchistische Rebellion gegen ein als dysfunktional erklärtes Rechtssystem und gegen parlamentarische Regierungen überhaupt. 51 Die derzeit stattfindende intellektuelle Hinwendung zu Schmitt kann auch aus intellektuellen Entwicklungen erklärt werden. Die Unbestimmbarkeit als Prinzip des Poststrukturalismus, das Unterwandern binärer Gegensätze, die Aporien und ästhetischen Verrenkungen der Dekonstruktion haben womöglich die Kritik an Autorität und Entschlossenheit zu ent50 51

Agamben, Giorgio: Potentialities, Collected Essays in Philosophy, Stanford 1999, S. 171. Zu Schmitts Haltung zum Anarchismus, siehe Schmitt, Carl: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2004, S. 68.

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schlossen etabliert. Der Backlash gegen den Dekonstruktivismus ist ein erneuter Ruf nach politischer Eigentlichkeit, Authentizität, Intensität, heroischer Stärke und politischer Tat. Angesichts der Konsequenzen des Endes der Dekonstruktion und, wichtiger, als Antwort auf das Ende der PostKalter-Krieg-Weltordnung, die wir derzeit beobachten, bedürfen wir eines neuen Bewusstseins für die Gefahren von Schmitts totalitärem Dezisionismus. Die hier aus dem Geist des Judentums genährten Gegengifte deutschjüdischer Denker können dabei als Inspirationsquelle dienen. Wobei allerdings nicht vergessen werden soll, dass Benjamin an seiner Liebe zu Deutschland und dem Aufschub seiner Entscheidung, es rechtzeitig zu verlassen, starb, während nicht nur Schmitt die mörderischen Konsequenzen seines Dezisionismus überlebte, sondern auch sein Denken, und das bis zum heutigen Tag.

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Arata Takeda

Wider das katastrophische Verständnis der Tragödie Ludwig Marcuses Die Welt der Tragödie (1923) 1. Während meiner Beschäftigung mit der Geschichte der Tragödie und der Tragödientheorie hat aus der Fülle der in der Zeit der klassischen Moderne geleisteten Beiträge zum Tragödiendiskurs aller Art – in der Literaturwissenschaft, Literaturkritik, Philosophie, Soziologie, Psychologie – besonders ein Buch meine Aufmerksamkeit erregt, das 1923 in Berlin erschien: Die Welt der Tragödie von Ludwig Marcuse. 1 Dem Buch liegt offenbar eine Auffassung der Tragödie und des Tragischen zugrunde, die sich von den herrschenden Tendenzen des Tragödiendiskures der Zeit so auffallend abhebt. Es ist ein ganz merkwürdiges Buch: sowohl was die Typologie der Tragödie betrifft, die im ersten Kapitel entfaltet wird, als auch was die Auswahl der Dichter und ihrer Stücke betrifft, die in den weiteren Kapiteln behandelt werden. Man könnte sagen: Wenn schon die Beschäftigung mit der Tragödie im Jahre 1923 eine Versenkung in eine Parallelwelt bedeutete – was sie wohl tat –, dann befinden wir uns hier in einer Art mise en abyme, in einer Parallelwelt zu einer Parallelwelt. Bevor ich aber näher auf das Buch eingehe, möchte ich den Autor zumindest kurz vorstellen. Wer war Ludwig Marcuse? 1894 in einer wohlhabenden, assimilierten jüdischen Familie in Berlin geboren – sein Vater war Direktor einer Hutfabrik –, verbrachte Marcuse eine gutbürgerliche, unbeschwerte Berliner Kindheit um 1900, umstellt von Büchern, die in der stattlichen Bibliothek seines Vaters standen. Von 1913 an studiert er Philosophie in Berlin und Freiburg – er hört unter anderem bei Georg Simmel, Adolf Lasson und Heinrich Rickert –; nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldet sich der 20-Jährige, euphorisch und kaisertreu, wie es dem damaligen Zeitgeist entsprach, als Kriegsfreiwilliger, wird aber bald wegen Herzschwäche zur Disposition gestellt. Die weiteren Lebensstationen sind

1

Vgl. Ludwig Marcuse: Die Welt der Tragödie. Mit 12 Porträts: Shakespeare, Schiller, Kleist, Büchner, Grabbe, Hebbel, Ibsen, Gerhart Hauptmann, Schnitzler, Wedekind, Shaw und Kaiser, Berlin/Leipzig/Wien/Bern 1923.

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schnell aufgezählt: 1917 promoviert er in Berlin bei Ernst Troeltsch mit einer Arbeit über Die Individualität als Wert und die Philosophie Friedrich Nietzsches (1917), 1933 emigriert er nach Frankreich, über Cros de Cagnes nach Sanary-sur-Mer an der Côte d’Azur, der „Hauptstadt der deutschen Literatur“ im Exil. Marcuse, der aus Prinzip immer mit dem Schlimmsten rechnet, verlässt Berlin noch in der Nacht des Reichstagsbrandes – er zögert keine Sekunde, um auf Vivian Liskas Ausführungen in ihrem Beitrag „Krise, Entscheidung, Aufschub“ in diesem Band anzuspielen –; nur wenige Stunden später werden Carl von Ossietzky, Erich Mühsam und viele andere Freunde verhaftet. 2 1939 gelingt ihm, inzwischen von den Nationalsozialisten ausgebürgert, die Flucht in die USA. 1944 erwirbt er die USamerikanische Staatsbürgerschaft, 1945 wird er Associate Professor, 1947 dann Professor für Philosophie und Deutsch an der University of Southern California in Los Angeles. Nach seiner Emeritierung 1961 übersiedelt er im Jahr darauf wieder nach Deutschland, wo er 1971 in Bad Wiessee am Tegernsee verstirbt. Hervorgetreten ist Marcuse vor allem als Lebensbeschreiber: Er verfasste Biographien von August Strindberg (1922), Ludwig Börne (1929), Heinrich Heine (1932), Ignatius von Loyola (1935), Richard Wagner (1963), dazu noch eine Selbstbiographie (1960) und einen Selbstnachruf (1969); er schrieb aber auch philosophisch-essayistische Bücher, darunter Die Philosophie des Glücks (1949) und Pessimismus (1953). Das zuletzt genannte erhielt in einer aktualisierten Ausgabe von 1981 den zusätzlichen Titel Philosophie des Un-Glücks. An dieser Spannweite seines Interesses, die diametral entgegengesetzte Fragestellungen umfasst, erkennt man den, wie es so häufig in biographischen Notizen zu ihm heißt, unabhängigen Denker Marcuse, der sich keiner bestimmten Schule oder Denkrichtung zuordnen lässt, den streitbaren Kritiker, der zwischen allen Stühlen sitzt, den radikalen Skeptiker gegen jede Art von normiertem Denken. Heinrich Böll nannte ihn den „gläubige[n] Ungläubige[n]“, 3 Marcel Reich-Ranicki nannte ihn, in Anspielung auf eine Selbstbezeichnung von Robert Musil, den „konservative[n] Anarchist[en]“. 4 Er war undogmatisch und unsystematisch aus Überzeugung. „Nur Menschen, nicht Ideen haben mich beeinflußt“, 5 sagt Marcuse in seiner Autobiographie Mein Zwanzigstes Jahrhundert (1960): Die Menschheit als Idee galt ihm wenig, der Mensch als konkretes Individuum war ihm

2 3 4 5

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Vgl. Ludwig Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie, Zürich 1975, S. 159. Dieter Lamping (Hg.): Ludwig Marcuse. Werk und Wirkung, Bonn 1987, S. 18. Marcel Reich-Ranicki: Ein konservativer Anarchist. Abschied von Ludwig Marcuse, Die Zeit, 20. August 1971. Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert , S. 25.

alles. Daher auch seine konsequente Absage an jede strenge politische Ideologie: Der Mensch Karl Marx hatte ihm viel zu sagen, nicht aber der Marxismus und schon gar nicht die Marxisten. Umso grotesker war die häufige Verwechselung mit Herbert Marcuse, mit dem er weder familiär noch geistig verwandt war. Dass man die beiden Marcuses nicht ungestraft verwechselt, das hat einmal Rolf Hochhuth eindringlich zu denken gegeben. Bei einer Diskussion mit den Berliner Studierenden 1967 erklärte Hochhuth, „die Unsachlichkeit, der Fortschrittsfimmel der Jungen komme nur daher, daß sie den falschen Marcuse lesen“. 6 Dem ‚richtigen‘ Marcuse hat Reiner Kunze in Die wunderbaren Jahre (1976) ein kleines literarisches Denkmal gesetzt. Der Prosatext ist überschrieben: „Revolte“. Kunzes 16-jährige Tochter macht offenbar im Bücherregal ihres Vaters einen interessanten Fund: „Marcuse? Du hast ein Buch von Marcuse? Leihst du mir das mal?“ Ich sagte, in diesem Buch sichte Marcuse die Philosophie von sechshundert vor Christi bis zur Gegenwart. [Gemeint ist Marcuses Buch Aus den Papieren eines bejahrten Philosophie-Studenten (1964)] „Macht doch nichts.“ Zweieinhalb Jahrtausende Philosophie, das sei schon etwas, sagte ich. Da könne einem mit sechzehn der Durchblick schon noch fehlen. „Trotzdem. Ich muß das unbedingt lesen.“ Ich gab ihr das Buch. Mir täte es nur leid, sagte ich, wenn sie es nach den ersten Seiten weglege, um es nie wieder in die Hand zu nehmen. „Ach, bestimmt nicht. Wenn’s von dem ist.“ Ich sagte, sie wisse, daß es zwei Marcuse gibt. „So? Aber der hier, das ist doch der, der die Studentenrevolten gemacht hat?“ Sie meine Herbert Marcuse, sagte ich. Das hier sei Ludwig Marcuse. In diesem Buch gehe es darum, was den Menschen zum Menschen macht. „Ach so.“ Ihr Blick streifte den Buchrücken. „Dann brauche ich’s nicht.“ 7

Das Jahr 1923 war auch für Marcuse ein persönliches Krisenjahr, ein persönliches ‚Jahr am Abgrund‘. Im Jahre zuvor war sein Vater verstorben, darauf war er immerhin vorbereitet: Der ordnungsliebende und pflichtbewusste Vater hatte den Sohn schon zehn Jahre zuvor in den Stand des beträchtlichen Familienvermögens eingeweiht; Marcuse konnte sicher sein, für seine Mutter, seine Schwestern und ihn sei ausreichend gesorgt. Doch es kam – aus uns allen bekannten Gründen – ganz anders. Die „Gold-Million“, die sein Vater 1922 hinterließ, war ein Jahr später „kaum noch 10.000

6

7

Harold von Hofe: Ludwig Marcuse, in: Deutsche Exilliteratur seit 1933. Bd. 1. Kalifornien. Teil 1. Hg. von John M. Spalek und Joseph Strelka, Bern/München 1976, S. 527–541, hier S. 527, Hervorhebung im Original. Lamping (Hg.): Ludwig Marcuse, S. 17.

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Mark“ wert. 8 Im Februar 1923 starb sein unverwüstlich geglaubter Doktorvater Ernst Troeltsch im besten Mannesalter von 58 Jahren, dahingerafft von seiner ersten Krankheit. Troeltsch hatte angeboten, Marcuse in Berlin zu habilitieren; nun stand er ohne seinen akademischen Mentor und Förderer da, der über die notwendigen Beziehungen verfügte, und musste alle Hoffnung auf eine Universitätskarriere fahren lassen. „Alles“, so fasst Marcuse in seiner Autobiographie zusammen, „geschah im Jahre 1923. Es brach meine Zelte gründlich ab.“ „Zuerst war das Geld zu Ende; die anderen Bestandteile, die zu meiner Lebensform gehörten, folgten nach“. 9 In welch einer verkehrten Welt er sich damals befand, in der kollektiven Wahrnehmung seiner Generation, darüber gibt er in einer längeren Passage eindrücklich Auskunft: Abgesehen davon, daß wir Expressionisten waren, lebten wir auch noch in der Inflation. Es war zwischen beiden kein ursächlicher Zusammenhang. Als die Mark zusammenbrach, war der Expressionismus schon zehn Jahre alt; und andererseits ist nicht anzunehmen, daß Georg Kaiser in der Flut seiner Stücke das deutsche Geld ertränkt hatte. Aber beide Abwertungen waren vom Krieg mächtig gefördert worden und machten offenbar, daß Gott am sechsten Tage weder die Gute Stube noch die Gute Mark geschaffen hatte. Expressionismus und Inflation zerstörten die uns bekannte Welt: auf den Brettern, welche die Welt nur bedeuten, und in der Welt, welche zur expressionistischen Szene wurde. 10

Und nun kommt es zu einer eigentümlichen Wechselwirkung zwischen dem, was in der Welt um ihn herum vor sich geht, und dem, was in seiner persönlichen Welt passiert: Mein Vater starb 1922. Die Gold-Million, die er hinterließ, starb ihm in den nächsten Monaten nach. Ich hatte nie gewußt, was Armut ist – über das hinaus, was die Naturalisten mich gelehrt hatten. Jetzt war ich ohne Geld und wurde von völlig unbekannten Mächten durchs Leben gemogelt. 11

Es scheint mir wichtig, auf diese Wechselwirkung hinzuweisen; sie leitet nämlich nicht nur direkt über zu dem hier zu diskutierenden Buch, sondern sie offenbart auch die banalen Umstände von dessen wenn nicht geistiger, so doch materieller Entstehung. Marcuse schreibt weiter: Zunächst besorgte es eine der freundlicheren Konsequenzen der Inflation. Sie machte, was ich schrieb, zum Sach-Wert. Nicht gerade, was ich schrieb, aber doch die Kleidung, die mein Berliner Verleger Franz Schnei8 9 10 11

236

Vgl. Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert), S. 23. Ebd., S. 65. Vgl. Marcuse: Mein zwanzigstes Jahrhundert, S. 75. Ebd.

der meinen Manuskripten anlegte. Er brachte mich heraus: als einen Geist, der in saftigstes, duftigstes, blaues Glanzleder gehüllt war; so kam mein Buch ‚Welt der Tragödie‘ unter die Leute. 12

Das war im Frühsommer 1923. Genau um die gleiche Zeit erschien auch Else Lasker-Schülers Gedichtband Theben (1923) in einer bibliophilen Luxusausgabe (vgl. dazu den Beitrag von Valentina Di Rosa in diesem Band). Die Hyperinflation sorgte für einen regelrechten Boom solcher Luxusausgaben. Man suchte sein Heil in einer Flucht in die Sachwerte, und Bücher galten damals für viele als eine sichere Wertanlage. Marcuse vermittelt eine bildhafte Vorstellung von der Luxusausgabe von Die Welt der Tragödie: Die Mottos, die ich damals meinen schmucken Schriften voranstellte, lauteten: „Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen“ (Else Lasker-Schüler) [das Motto seiner Strindberg-Biographie] und „Die Natur hat vergessen, daß sie Chaos war, und doch kann ihr das auch wieder einfallen“ (Søren Kierkegaard) [das Motto seines Tragödienbuchs]. Den Büchern sah man das nicht an. Sie waren auf handgeschöpftem Bütten abgezogen, mit der Hand gebunden, mit Originalradierungen von Gulbransson, Jakob Steinhardt, Arno Nadel geschmückt – und sahen überhaupt aus, als würden sie im nächsten Mittelalter in Klosterbibliotheken hinter Glas eine gute Figur machen. […] So geschah es, daß, was ich nur hingekritzelt hatte, einen ganz beträchtlichen Haufen Geld wert war. Die Mark-Flucht trieb allerhand Käufer auch zu mir. Und wenn ich heute [1960] mein Gedrucktes chronologisch nebeneinander stelle, so zeigt sich mir der Wandel der Zeiten: vom Truhen-Buch zum Taschen-Buch. 13

Auf der ersten Umschlagseite des Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel vom 19. Juni 1923 wurde das Buch Die Welt der Tragödie ganzseitig und bildkräftig im besten Sinne des Wortes beworben. Die limitierte Luxusausgabe konnte dementsprechend zum Preis von netto 300.000 Mark erworben werden; allerdings enthält die Angabe den Zusatz, der wohl in Zeiten der Hyperinflation unerlässlich ist: „freibleibend“. Die Werbesprache ergeht sich in Superlativen über das, was Marcuse „nur hingekritzelt“ haben will: „Die führende literarische und Tagespresse“, so heißt es da, „dazu zahlreiche Dichter und Schriftsteller von Rang begrüßen dieses Werk Marcuses als eine wertvolle Fortsetzung seiner Strindberg-Biographie und als ein Buch voll größten Scharfsinns und […] höchsten ästhetischen Genusses.“ 14

12 13 14

Ebd., S. 75–76. Ebd., S. 76. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 90/140 (1923), 19. Juni 1923.

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2. Walter Benjamins Diktum über den Unterschied zwischen Kritik und Kommentar ist bekannt: „Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt.“ 15 So steht es in Benjamins Abhandlung über Goethes Wahlverwandtschaften, die 1924/1925 in den von Hugo von Hofmannsthal herausgegebenen Neuen Deutschen Beiträgen erschienen ist. Weniger bekannt ist, dass Marcuse 1923, im Vorwort zu der Welt der Tragödie, eine ähnlich programmatische Unterscheidung vornimmt zwischen dem Philosophen und dem Kommentator: Wer einen Dichter und sein Werk in den Begriff transponiert, wer sich also an der reinen Wirkung von Mensch und Kunst nicht genügen läßt, wird zum Kommentator oder zum Philosophen. Der Philosoph geht von der Persönlichkeit und ihrer Dichtung aus, setzt sie als bekannt und verstanden voraus und sucht nun die allgemeinsten Ideen, die letzten umfassendsten Erlebnisse, die sich hier einmalig konkretisiert haben. Er stilisiert Schöpfer und Schöpfung auf ihr Wesenhaftes, auf ihre tiefsten abstrakten Voraussetzungen. Er läßt die Nuancen, die Farbigkeiten, die unableitbaren Schattierungen als Oberflächenphänomene beiseite. Das wissenschaftliche Einordnen von Problemstellung und Stil in die Abhängigkeit der Tradition oder in die Reaktion auf Aktualität [– das könnte man unter Sachgehalt zusammenfassen –] schiebt er dem Aufgabenkreis des Kommentators zu. […] Der Kommentator geht nicht vom Gedicht aus, sondern will zu ihm hin. Sein Weg ist Annäherung, sein Ziel: restlose Sichtbarmachung mit Hilfe des Begriffs. So bleibt er immer innerhalb der Grenzen der Gestalt, die ihm ein nicht weiter zu enträtselndes Gegebenes, nicht aber ein Paradigma ungestalteter Kräfte ist. Aufhellung der künstlerischen Eigenart und des seelischen Gehalts durch Analyse des Werks und Heraushebung seiner historischen Verknüpfungen ist Beruf des Kommentators. 16

Auf eine knappe Formel gebracht lautet der Unterschied: Dem Philosophen sei es „mehr um die Idee der Wirklichkeiten“ zu tun, dem Kommentator mehr „um die Wirklichkeiten der Idee“. 17 Marcuse versteht sich als philosophischer Schriftsteller, und was er hier vorlegt, in Form von fünfzehn Kapiteln, konzipiert er als eine Sammlung von Essais. „Der Essai“ – Marcuse schreibt das Wort auf Französisch – ist für ihn „menschliche Schöpfung zweiten Grades“, 18 er befasst sich mit menschlicher Schöpfung, mit künstlerischen Hervorbringungen aller Art,

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Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. 1/1, Frankfurt/M. 1974, S. 125. Marcuse: Die Welt der Tragödie, S. 9–10. Ebd., S. 9, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 10.

und sofern der Essai sich mit Dichtung befasst, ist er philosophische Dichtung. In diesem Sinne hat der Essai wiederum zwei Pole: den Dichter auf der einen und den Philosophen auf der anderen Seite. 19 Der Philosoph ist beseelt von der „absolute[n] Leidenschaft der Abstraktion“: 20 Er sucht Formeln, Gesetze, Begriffe, logische Fixierungen. Der Dichter dagegen „bleibt im Sinnlichen“: Er „entblößt“ seinen Gegenstand „nicht bis zum Gerippe“, sondern „hat Ehrfurcht vor dem Fleisch.“ 21 Zwischen diesen beiden Ausrichtungen, zwischen philosophischer Systematisierung und dichterischer Resonanzgebung, sucht der „Essaiist“ Marcuse seine Möglichkeiten, an seinen Gegenstand heranzugehen: die „Welt der Tragödie“. Wie stellt sich diese Welt dar? Ich habe eingangs darauf hingewiesen, wie merkwürdig dieses Buch sich vor dem mit dem Titel gegebenen thematischen Erwartungshorizont ausnimmt. Um dies greifbar zu machen, genügt ein Blick ins Inhaltsverzeichnis. Abgesehen von Kapitel 1, das eine einleitende Gesamtschau gibt, und Kapitel 3, in dessen Zentrum das mittelalterliche Passionsspiel steht – schon das nach gängiger Tragödienauffassung ein thematischer Fremdkörper –, lauten die Namen der Dramatiker, denen die restlichen dreizehn Kapitel gewidmet sind: Aischylos, Shakespeare, Schiller, Kleist, Büchner, Grabbe, Hebbel, Ibsen, Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler, Frank Wedekind, George Bernard Shaw, Georg Kaiser. Einer Ankündigung in Marcuses ein Jahr zuvor erschienener StrindbergBiographie zufolge sollte das Buch noch ein weiteres Kapitel mit der Überschrift „Die Zukunft der Tragödie“ haben; 22 wir können nur bedauern, dass diese Zukunftsdiagnose aus der Perspektive des Jahres 1923 von Marcuse nicht mehr niedergeschrieben worden ist. Als menschliche Schöpfer der „Welt der Tragödie“ repräsentativ porträtiert werden also: ein Grieche, ein Engländer, ein Norweger, ein Österreicher, ein Ire und acht Deutsche. Was hier erstaunt, ist aber nicht so sehr die Liebeserklärung an die deutsche Tragödiendichtung, auf der unübersehbar der Schwerpunkt der Darstellung liegt – auch Peter Szondi hat vier der acht Dramen, die er im zweiten Teil seines Versuchs über das Tragische (1961) exemplarisch analysiert, der deutschen Literatur entnommen – als vielmehr das Übergehen von Tragikern und Tragödien, die man in einer repräsentativ zusammengestellten Darstellung der ‚Welt der Tragödie‘ wie selbstverständlich erwarten würde: Es gibt kein Kapitel über Sophokles; sein König Ödipus 19

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Vgl. ebd. Dementsprechend ist in der Forschungsliteratur treffend festgestellt worden: Für Marcuse bilden „Literatur und Philosophie […] die beiden Seiten derselben Medaille.“ (Karl-Heinz Hense: Glück und Skepsis. Ludwig Marcuses Philosophie des Humanismus, Würzburg 2000, S. 31) Marcuse: Die Welt der Tragödie, S. 11. Ebd. Vgl. Ludwig Marcuse: Strindberg. Das Leben der tragischen Seele, Berlin/Leipzig/ Wien/Bern 1922, S. 148.

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(um 429 v.Chr.), der von Aristoteles in der Poetik (um 335 v.Chr.) wiederholt als Mustertragödie gepriesen und von Freud just im Jahrzehnt zuvor als Referenztext des Ödipuskomplexes aktualisiert worden war (in den Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 1916–1917), 23 kommt nicht vor, und Antigone (442 v.Chr.) nach Hegel „das vortrefflichste, befriedigendste Kunstwerk“, 24 wird nur in einer einzigen Nebenbemerkung erwähnt. 25 Die Tragödie der französischen Klassik kommt ebenso wenig vor; Kapitel über Corneille oder Racine sucht man vergeblich. Immerhin gibt es ein Kapitel über Shakespeare. Aber welches Shakespeare-Stück steht in dessen Zentrum? Nicht die Tragödie von Hamlet (1603/1604/1623), nicht die Tragödie von Othello (1622), nicht die Tragödie von König Lear (1608/1623), nicht die Tragödie von Macbeth (1623), sondern eine, zumindest konventionell so verstandene, Komödie: Der Kaufmann von Venedig (1600). Und das ist, zusammen mit der Inklusion der Gattung des Mysterienspiels, erst der Anfang. Das Schauspiel Die Räuber (1781) von Schiller als Tragödie zu behandeln, dafür mag es noch gute Gründe geben; zumindest erklärungsbedürftig scheint die Einbeziehung der Schauspiele Das Käthchen von Heilbronn (1810) und Prinz Friedrich von Homburg (1821) von Kleist, und geradezu problematisch wirkt die eingehende Behandlung von Büchners Lustspiel Leonce und Lena (1836), Schnitzlers Tragikomödie Das weite Land (1910) und George Bernard Shaws Komödie, „A Pleasant Play“, Candida (1898). Tatsächlich steckt hinter dieser Unbekümmertheit um die traditionelle Gattungszuordnung oder die explizite Gattungsbezeichnung System. Ich habe eingangs darauf hingewiesen, dass dem Buch Marcuses offenbar eine Auffassung der Tragödie und des Tragischen zugrunde liegt, die sich von den herrschenden Tendenzen des Tragödiendiskures der Zeit so auffallend abhebt. Was waren diese herrschenden Tendenzen? Um es ganz vereinfacht zu sagen: Es herrschte das katastrophische Verständnis der Tragödie – ein Verständnis, das im Übrigen noch heute den Tragödienbegriff weitgehend bestimmt. Die Tragödie stellte – nach diesem Verständnis – herausragende Menschen dar, die im Kampf gegen übergeordnete Mächte – das Schicksal, die Umwelt, die Verhältnisse – notwendig unterliegen. Diesen obligatori-

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Vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Leipzig/Wien/Zürich 1924, S. 342–345. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe. Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Bd. 15. Vorlesungen über die Ästhetik III, Frankfurt/M. 1977, S. 550. Vgl. Marcuse: Die Welt der Tragödie, S. 41. An einer früheren Stelle spricht Marcuse von der „Opferung“ von Klytämnestras „Tochter Antigone“ (ebd., S. 31), meint aber offensichtlich die Opferung Iphigenies.

schen Untergang des Helden nannte man tragisch – und verstand man als tragisch. Dementsprechend wurde um 1900 viel über die Notwendigkeit des ‚tragischen Todes‘ theoretisiert. Für Theodor Lipps war „der Tod, der physische Untergang, nichts weniger, als dasjenige, was den eigentlichen Sinn der Tragödie macht“ – „ein […] um des Zweckes willen notwendiges Moment.“ 26 Für Leopold Ziegler bedeutete „der tragische Tod die unbewusste Endabsicht des tragischen Schicksals“: 27 „Sobald wir die Gewissheit der Unmöglichkeit einer immanenten Lösung haben ist der Tod tragisches Postulat“. 28 Georg Lukács schrieb 1911: „Für die Tragödie ist der Tod – die Grenze an sich – eine immer immanente Wirklichkeit, die mit jedem ihrer Geschehnisse unlösbar verbunden ist.“ 29 Ernst Bloch sprach 1918 – im Geist der Utopie (1918/1923) – vom „Sterbenmüssen der echten Tragödie“, womit er meinte: „[…] der Held muß sterben, er zerschellt am Ausgang seines Kampfes und seiner Anspannung und erleidet den Tod.“ 30 Diese Idee des notwendigen Untergangs, des notwendigen Todes in der Tragödie war damals offenbar so allgegenwärtig, dass Walter Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) ohne weiteres erklären konnte: „[…] die Elemente der griechischen Tragödie – die tragische Fabel, der tragische Held und der tragische Tod“. 31 Dabei entspricht es gar nicht den philologischen Fakten, dass der Untergang des Helden, der Tod des Helden, kurz: der unglückliche Ausgang für die griechische Tragödie elementar gewesen sei. Ganz im Gegenteil: Aischylos’ Eumeniden, Sophokles’ Philoktet und eine ganze Reihe von Euripides’ Tragödien – Alkestis, Andromache, Ion, die beiden Iphigenien, Helena, Orestes – gehen glücklich aus. So schrieb der Altphilologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff 1923, im Nachwort zu seiner vierbändigen Übersetzung der Griechischen Tragödien (1899–1923), über die Behandlung der Stoffe durch die griechischen Tragiker: Ob die Geschichte mit dem Untergange des Helden oder mit seiner Errettung aus Not und Gefahr endete, verschlug nichts; es sind erst späte urteilslose Kritiker, die einen glücklichen Ausgang beanstanden. 32

26 27 28 29 30 31 32

Theodor Lipps: Der Streit über die Tragödie, Hamburg/Leipzig 1891, S. 78. Leopold Ziegler: Zur Metaphysik des Tragischen. Eine philosophische Studie, Leipzig 1902, S. 47; 48. Ebd., S. 53. Georg Lukács: Metaphysik der Tragödie, in: Logos 2/1 (1911/1912), S. 79–91, hier S. 88–89. Ernst Bloch: Geist der Utopie, München/Leipzig 1918, S. 68; 75. Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 1/1, S. 279. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Griechische Tragödien. XIV. Die griechische Tragödie und ihre drei Dichter, Berlin 1923, S. 45.

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Drei Jahre später legte er in seinem Kommentar zu Euripides’ Ion nach: Das Drama führt zu einem alle handelnden Personen beglückenden Ende; da müssen ihm manche modernen ästhetischen Theorien den Namen Tragödie aberkennen; aber von diesen Theorien haben die Griechen nichts gewußt, da darf man sie beiseite lassen. Aristoteles war an die Praxis seiner Zeit so gewöhnt, daß er den ἀναγνωρισμός [= die Wiedererkennung, in diesem Fall eine Wiedererkennung zwischen Mutter und Sohn, wodurch gerade noch rechtzeitig verhindert wird, dass die Mutter unwissentlich den Sohn tötet] als Ausgang einer Tragödie ebenso anerkannte wie einen, der im modernen Sinne ‚tragisch‘ ist. Aristoteles konnte auch mit dem Ion zufrieden sein, denn ἔλεος und φόβος [= Mitleid und Furcht] wird genug erregt. 33

Marcuse gehört mit Sicherheit nicht zu den modernen ästhetischen Theoretikern, an die Wilamowitz hier denkt. Ich zitiere noch einmal aus dem Geist der Utopie, und zwar die Frage, mit der Ernst Bloch den Abschnitt „Zur Theorie des Dramas“ eröffnet und die er gleich mit Entschiedenheit beantwortet: Aber, so könnte man fragen, wird denn der ernste Held jedesmal zerrissen? Oder, anders gesprochen, ist es denn wesentlich zum Ernstwerden, daß er sichtbar zerrissen wird? Ja, es ist wesentlich. Einige sagen zwar nein. Sie leugnen das Blutenmüssen. […] Wir stehen anders, uns ist der Held der Blutende und erst in ganz anderem Sinn der Vollendete, der bedingt Vollendete. Es ist ein bitteres Spiel, das Tragische. 34

Ich kann mir einen schärferen und zugleich subtileren Protest gegen diese Postulierung des tragischen Blutenmüssens gar nicht denken, als dass man ein Buch über die ‚Welt der Tragödie‘ schreibt und in einem zentralen Kapitel, im Shakespeare-Kapitel, ein Drama zum Hauptgegenstand wählt, in dem am Ende buchstäblich kein Tropfen Blut fließt. Im Kaufmann von Venedig kommt die als Mann verkleidete Portia in den Gerichtssaal und eröffnet in ihrem Monolog die Lösung: Dem Juden Shylock stehe vertragsgemäß ein Pfund Fleisch von Antonio zu, aber kein Tropfen von dessen Blut; werde beim Herausschneiden des Fleisches ein einziger Tropfen Christenblut vergossen, dann falle sein Land und Gut nach dem Gesetz Venedigs dem Staat Venedig zu. In Marcuses „Essai“ bekommt dieses Geschehen folgende philosophische Deutung: Die Welt ist die Stätte, wo Mensch und Mensch ringt um den Preis, das All im Chaos seiner Leidenschaft vernichten zu dürfen … Ein Glanz fällt ins düstere Inferno tobender Leidenschaften: das Evangelium Porzia. 33 34

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Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Euripides Ion. Berlin 1926, S. 16–17. Bloch: Geist der Utopie, S. 67.

Shakespeare hat einen neuen Glauben gestiftet; die Religion des Verheißenen weicht der Religion des Erlösenden. Von dieser Welt und doch ihr Besieger, von irdischem Blut und doch in seinen roten Dünsten nicht erstickend, greift Porzia in diese Welt ein mit den Mitteln dieser Welt und opfert sich nicht, sondern opfert den Schaden. 35

Marcuse vergleicht die Figur der Portia mit zwei Dramenheldinnen von George Bernard Shaw, Lady Cecily Waynflete aus Captain Brassbound’s Conversion (1900) und Candida aus dem gleichnamigen Stück, beides im herkömmlichen Sinne Komödien: Fast ein halbes Jahrtausend später fällt Lady Cecily Waynflete vor einem Forum schicksalverstrickter Menschen ähnlichen Spruch. Und Candida, die lieblichste Schwester im Bunde, ist die Wiedergeburt von Porzias heller, überlegener, inniger, unromantischer Herzensklugheit. Aber welchen Feind mußten Shaws Heldinnen niederringen? Selbstgerechte, maniakalische Lyriker; verlogene Lüstlinge! Shylock ist die Hölle; die Lady Cecily sprengte ein Gesellschaftsgefüge; Porzia dringt in die Unterwelt ein: täglich entreißt sie uns heißen Höllendämpfen, die aus uns schlagen, und ihre Seele löst den Höllenlärm in Symphonie auf, so daß wir leben können. 36

Was hat eine solche lebensermöglichende Auflösung in der ‚Welt der Tragödie‘ zu suchen? Um das verstehen zu können, müssen wir uns dem Einleitungskapitel des Buches zuwenden, das überschrieben ist: „Wandel der tragischen Welt“. Und tatsächlich ist es das einzige Kapitel, das im begrenzten Raum dieses Beitrages sinnvoll auseinandergesetzt werden kann; alle anderen Kapitel sind zu voraussetzungsreich für eine notwendig kursorische Behandlung. Das haben schon die gerade angeführten Zitate aus dem Shakespeare-Kapitel gezeigt: Da wird nichts Inhaltliches erklärt, man muss wissen, wer Lady Cecily ist, wer Candida ist, von Portia ganz zu schweigen. Wie Marcuse im Vorwort sagte, werden Dichter und Werke „als bekannt und verstanden“ vorausgesetzt. So kann ich außerhalb des Einleitungskapitels nur punktuelle Schlaglichter auf das eine oder das andere Kapitel werfen. 3. Das Einleitungskapitel in die ‚Welt der Tragödie‘ beginnt auffallend poetisch, und zwar mit einer bildreichen Beschwörung unzähliger paralleler Welten:

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Marcuse: Die Welt der Tragödie, S. 53–54, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 54.

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Immer neue Welten entstehen. Die weiße Spitze des zackigen Berges; Schneebäume; ein Fetzen grüngrauer Himmel; ein kalter See im tiefsten Blaugelb; betäubende, vom Schlag der Holzfäller monoton rhythmisierte Stille: eine Welt. Unter novembrigem Sprühregen vermummte, jagende Menschen zwischen mattbrennenden Laternenspalieren, zwischen schreienden Lichtkurven, zwischen wahnsinnig kreischenden Verkehrssignalen: wieder eine Welt. Die Summe aller tausend Welten ist jene eine einzige Welt, jenes Universum, von dem wir nichts wissen, als daß es die Coincidentia oppositorum [= der Zusammenfall der Gegensätze], das ἓν καὶ πὰν [= das Eins und Alles] ist; das Bunte und das Eintönige, die Freude und der Schmerz, die Vernunft und der Unsinn in eins. Wenn der schöpferische Mensch sich dieser Welt bemächtigt, wenn er ihr antwortet auf die Urtatsache ihrer Existenz, dann engt er sie ein, ob er sie als Maler zu einer Landschaft, als Philosoph zu einem Begriffszusammenhang oder als Politiker zu einer Zweckreihe verengt. Jeder universale Schöpfer setzt eine Welttatsache als Zentrum und ordnet die übrige Weltmasse als Kreis um diesen Mittelpunkt. Eine Welt entsteht durch Vergewaltigung oder Ignorierung der Weltfülle. 37

Die ‚Welt der Tragödie‘ ist keine Ausnahme. Und was haben die menschlichen Schöpfer dieser ‚Welt der Tragödie‘ über zwei Jahrtausende, von Aischylos bis Georg Kaiser, immer wieder und auf verschiedenste Art und Weise zum Zentrum ihrer Weltdarstellung und Weltdeutung gemacht? Marcuse meint, das sei „[d]as tragische Erlebnis“, „das menschliche Leid“. 38 Dabei hat er noch gar nicht definiert, was er unter ‚tragisch‘ versteht, welchen Begriff des Tragischen er seinen „Essais“ zugrunde legt. Die Definition folgt gleich, und sie bleibt tautologisch: Das Tragische ist das Leiderlebnis. Nicht der Schmerz, nicht das Unangenehme, nicht das Erlebnis des Widerstandes ist tragisch. Erst wenn Schmerz und Widerstand mehr als flüchtige, überwindbare Affektationen sind; erst wenn Schmerz und Widerstand Konstituentien der Definition Mensch sind, werden sie Leid. Ohne Leid ist die Kreatur nicht Kreatur; ohne Leid ist der Mensch nicht Mensch: das ist das tragische Kernerlebnis, das eine Tragische hinter den bunten Sprachen der Zeiten. 39

Daraus wiederum ergibt sich die Definition der Tragödie: Die Tragödie ist die Objektivierung des tragischen Erlebnisses im Drama. Die Tragödie sagt: so sieht eine Welt aus, die den Menschen als Leidwesen schaffen konnte.

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Ebd., S. 13, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 14. Ebd., Hervorhebung im Original.

Die Aussage der Tragödien wandelt sich: äußerlich, je nach dem konkreten Leid, das der Tragiker sieht; wesentlich, je nach der Deutung, die er dem Leid gibt. 40

Man könnte auch sagen: je nach der Deutung, die der Tragiker dem Tragischen gibt, sofern das Tragische als das Leiderlebnis definiert ist. Gleichzeitig ist damit klar, wie nichtssagend diese Definition ist – wenn sie überhaupt als eine Definition intendiert ist. Mir scheint vielmehr, dass Marcuse gar keine Definition des Tragischen sucht. Das Tragische, verstanden als das Leiderlebnis, ist hier ein Mittel zur Weltdeutung; es ist nicht etwas wesenhaft zu Definierendes, sondern ein Interpretament. Nicht von ungefähr erinnert Marcuses Beschreibung des Tragischen an eine Notiz Nietzsches vom Sommer 1875: „Die Welt vom Leiden aus zu verstehen ist das Tragische in der Tragödie.“ 41 Das Tragische ist eine Verstehenstätigkeit, ein Weg zum Weltverständnis, der vom Leiden ausgeht. Als solcher muss es sich jedem wesenhaften Definitionszugriff entziehen. Man könnte sogar behaupten, dass Marcuses – und im Grunde schon Nietzsches – Beschreibung des Tragischen eine grundlegende Erkenntnis vorwegnimmt, die Peter Szondi 1961, nach einem Durchgang durch die Definitionsversuche von Schelling bis Max Scheler, ein für alle Mal aussprechen wird: „daß es nämlich das Tragische nicht gibt, nicht zumindest als Wesenheit. Sondern das Tragische ist ein Modus“. 42 Nur bleibt Szondi hier nicht stehen, sondern er geht weiter: „eine bestimmte Weise drohender oder vollzogener Vernichtung, und zwar die dialektische.“ 43 Auffallend ist hier zunächst die disjunktive Formulierung, das Tragische als eine Modalität „drohender oder vollzogener Vernichtung“: Bedeutet das, dass eine nur drohende Vernichtung, die am Ende ausbleibt, unter bestimmten Umständen tragisch sein kann? Das berührt eine schwierige Kontroverse in der Tragödienpoetik, auf die ich aus Zeitgründen nicht eingehen kann. Für Szondis weiteren Argumentgang bleibt das unerheblich: Nur der Untergang ist tragisch, der aus der Einheit der Gegensätze, aus dem Umschlag des einen in sein Gegenteil, aus der Selbstentzweiung erfolgt. [Nicht droht, sondern erfolgt: Die drohende Alternative wird fallen gelassen.] Aber tragisch ist auch nur der Untergang von etwas, das nicht untergehen darf, nach dessen Entfernen die Wunde sich nicht schließt. 40 41

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Ebd. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 8. Nachgelassene Fragmente 1875–1879, Berlin/New York 21988, S. 106, Hervorhebung im Original. Peter Szondi: Schriften. Hg. von Jean Bollack mit Henriette Beese, Wolfgang Fietkau, Hans-Hagen Hildebrandt, Gert Mattenklott, Senta Metz und Helen Stierlin. Mit einem Nachwort von Christoph König. Bd. 1, Berlin 2011, S. 209, Hervorhebung im Original. Ebd.

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Denn der tragische Widerspruch darf nicht aufgehoben sein in einer übergeordneten – sei’s immanenten, sei’s transzendenten – Sphäre. Ist dies der Fall, so hat die Vernichtung entweder ein Belangloses zum Gegenstand, das als solches sich der Tragik entzieht und der Komik darbietet, oder die Tragik ist bereits überwunden im Humor, überspielt in der Ironie, überhöht im Glauben. 44

Eine Überwindung des Tragischen in der Tragödie kann es also nach Szondi, oder besser gesagt: nach der Auffassung des Tragischen, die sich aus dem Umfeld des deutschen Idealismus heraus entwickelt, nicht geben. Das katastrophische Tragödienverständnis wird bestätigt. Dagegen wird Einspruch erhoben in einer Rezension der Zeit vom Oktober 1961. Der Rezensent fragt, ob „es ratsam [sei]“, versöhnlich endende Dramen „von der Bezeichnung ‚Tragödie‘ implicite auszuschließen“. 45 Der Verfasser ist kein anderer als Ludwig Marcuse. Er attestiert Szondis Versuch eine „schematisierende[] Tendenz“ 46 und gibt der Rezension die leicht spöttische Überschrift: „Das Tragische, wieder befragt. Dialektik als Sesamöffne-dich“. „Der eindeutigere Titel“ von Szondis Buch wäre gewesen: „Die dialektische Auffassung des Tragischen“ 47 Hingegen Marcuses Beschreibung des Tragischen 1923: „Das Tragische ist das Leiderlebnis.“ Was hier und an der weiteren Ausführung auffällt, ist, dass dieses Leiderlebnis teleologisch in keiner Richtung festgelegt ist. Ob dieses Erlebnis – und damit auch die Tragödie, die es dramatisch ‚objektiviert‘ – glücklich ausgeht mit der Aufhebung des Leids, Befreiung vom Leid, Erlösung vom Leid, oder ob es unglücklich ausgeht mit der Vollendung des Leids, mit dem Untergang des Leidenden, das ist nicht von Belang; nicht wie sich das Leid entfaltet, dass sich das Leid entfaltet, darauf kommt es an. Das Tragische so zu verstehen, ganz unabhängig vom Ausgang, ist – wenn wir uns an die Klarstellung von Wilamowitz erinnern – eigentlich ‚griechischer‘. So ist für Marcuse der exemplarische griechische Tragiker Aischylos, und die exemplarische griechische Tragödie die Orestie (458 v.Chr.) – eigentlich eine Trilogie –, an deren Ende der Muttermörder Orest, nach einer leidvollen Verfolgung durch die Erinyen, vor dem Areopag freigesprochen wird und daraufhin die Erinyen, die hasserfüllt nach Rache trachteten, in wohlgesinnte Eumeniden verwandelt werden. Die Tragödie endet versöhnlich. Marcuse stellt sich vor, wie „die Griechen aus der Orestie-Premiere in harmonischer Aufgewühltheit nach Hause [gingen]“. 48 Das hätte er mit Bezug auf König Ödipus oder Antigone so nicht 44 45 46 47 48

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Ebd., Hervorhebung im Original. Ludwig Marcuse: Das Tragische, wieder befragt. Dialektik als Sesam-öffne-dich, Die Zeit, 27. Oktober 1961. Ebd. Ebd. Marcuse: Die Welt der Tragödie, S. 18.

formulieren können. Insofern, so könnte man sagen, schematisiert auch Marcuse – aber nicht so, dass alles auf einen Modus zurückgeführt würde, sondern so, dass im Wandel der Zeiten unterschiedliche Modi, unterschiedliche Deutungsmuster identifizierbar werden. Dieser historische Wandel der Tragödie verläuft nach Marcuse in drei Schritten – das ist aus meiner Sicht der interessanteste und auch originellste Teil seines Buches –: Die Antike deutet das Leid, indem sie es kosmisch ableitet, indem sie durch eine Spaltung der Gottheit das Leid im leidlosen Gott ausbrechen läßt. Mit gewaltigem Pathos bildet sie den leidenden Menschen. Aber der ist nicht ein Faktum brutum, eine Kuriosität des Daseins, sondern ein notwendiges, motiviertes Lebensgebilde innerhalb eines notwendig tragischen Universums. 49

Ein ‚notwendig tragisches Universum‘, das heißt hier nichts anderes als: ein notwendig leidvolles Universum. Das Leid innerhalb dieses Universums lässt sich deuten; es hat einen Sinn. Später im Aischylos-Kapitel expliziert Marcuse: „Über dem Menschen lastet eine sinnvolle Notwendigkeit. Sinnvoll: das heißt der Seele des Menschen nacherlebbar.“ 50 In diesem Sinne kann er festhalten: „Ohnmächtiger und doch glücklicher Mensch: denn noch ist es nicht der zufällig herabfallende Ziegelstein, dem er unterworfen ist, sondern ein Weltwille“, 51 ein Schicksal. Weiter in unserem Zitat: Das christliche Mittelalter, das bis zu Schillers, Goethes und Hegels Tod wirksam ist [– eine bemerkenswerte Periodisierung –], ordnet das Leid einem leidbefreiten Kosmos ein; im Paradies war der Mensch ohne Leid; am Jüngsten Tag wird der Mensch ohne Leid sein. Shakespeare und die nachgoethesche Moderne [– das ist Marcuses ‚philosophische‘ Chronologie: Shakespeare kommt nach Schiller, Goethe und Hegel, die noch dem Mittelalter zugeordnet werden –] sprechen das Leid nur aus. Sie deuten nicht und erlangen so keine Überwindung des Leids; sie stellen den leidenden Menschen nur noch isoliert, nicht mehr als Glied des Universums dar. Sie schreiben nicht mehr eine Tragödie des Weltalls wie Aeschylus und Schiller; nur noch eine Tragödie des Menschen. 52

Wie schon gesagt, wird sich Marcuse im Shakespeare-Kapitel eines Besseren besinnen. An seiner dreistufigen Entwicklungsgeschichte der Tragödie ändert sich dadurch nichts:

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Ebd., S. 14. Ebd., S. 35. Ebd., S. 34. Ebd., S. 14–15.

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Die Tragödie des Aeschylus hebt das Lastende des menschlichen Leids auf durch die Einsicht in das göttliche Schicksal. Die Passion Christi, der Heldentod im klassischen deutschen Drama [– Marcuse nennt es später „[d]ie christlich-humanistische Tragödie“ 53 –] hebt das Lastende des menschlichen Leids auf durch die Gewißheit der Erlösung: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir sen.“ [Marcuse zitiert aus Goethes Faust (1790/1808/1832), der Tragödie zweitem Teil, der allerdings alles andere als einen Heldentod beinhaltet, sondern eine Errettung] […] Diese Tragödie ist eine frohe Tragödie. Im Gegensatz zur tragischen Tragödie der Moderne und zur kosmischen Tragödie der Antike. 54

Eine „frohe Tragödie“ ist für Marcuse keine contradictio in adiecto; sie ist eine historisch gegebene Erscheinungsform einer sich historisch wandelnden Dichtungsgattung. Zugleich ist die Rede von der „tragischen Tragödie der Moderne“, ein Zugeständnis an den herrschenden Begriff des Tragischen. Das Tragische als das Leiderlebnis kann sowohl in der antiken als auch in der christlich-humanistischen Tragödie sinnvoll gedeutet und damit auch überwunden werden: Nach Marcuse gibt es eine Überwindung des Tragischen in der Tragödie. Nur in der modernen Tragödie ist das nicht mehr möglich: Die absolute Tragik der tragischen Tragödie ist das Leid ohne Sinn. Leid ohne Sinn ist gesteigertes Leid. Erst die Moderne – seit Kleist [– und wir können ergänzen: Grabbe und Büchner] – versagt dem Leid seinen Sinn. 55

Dementsprechend lautet Marcuses Erklärung der seit der Renaissance viel diskutierten aristotelischen Katharsis: Dem Aristoteles war die Tragödie Befreiung vom Leid. Das ausgesprochene, dargestellte Leid konnte den Druck des erlebten Leids mildern, da es als berechtigt, als sinnvoll erfaßt wurde. 56

Denselben Vorgang findet Marcuse mit anderen Worten auch in Hegels Vorlesungen über Aesthetik (1920–1929) erläutert: Hegel schrieb: „Nur dann ist nicht das Unglück und Leiden, sondern die Befreiung des Geistes (Katharsis) das letzte, insofern am Ende die Notwendigkeit dessen, was dem Individuum geschieht, als absolute Vernünftigkeit erscheinen kann und das Gemüt wahrhaft sittlich beruhigt ist: erschüttert durch das Los der Helden, versöhnt in der Seele.“ 57

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Ebd., S. 20. Ebd., S. 15. Ebd., S. 17–18. Ebd., S. 18. Ebd.

Hier zitiert Marcuse inkorrekt: Es heißt bei Hegel nicht: „versöhnt in der Seele“, sondern „versöhnt in der Sache“; 58 es handelt sich um eine ganz nüchterne Zustandsbeschreibung. Und dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass Marcuse, hätte es zu seinen Lebzeiten eine Neuauflage des Buches gegeben, dieses Fehlzitat genau so hätte stehen lassen, wie es in der Erstausgabe stand. Die Seele ist nämlich ein zentraler Begriff in seinem Buch. Schon Marcuses Strindberg-Biographie trug den Untertitel Das Leben der tragischen Seele; in der Welt der Tragödie sollen dann, wie es im Vorwort heißt, „[d]ie einzelnen Landschaften der tragischen Seele“ 59 geschildert werden. Der tragischen Seele, die gleichsam als Kollektivsingular die Tragödie hervorbringt, gilt Marcuses eigentliches Interesse, mehr noch als den einzelnen Texten; das wird vor allem in den Kapiteln über Kleist, Büchner, Grabbe und Hebbel deutlich. Ihm aus der Seele spricht Kleist, der am 25. April 1811 an Friedrich de la Motte Fouqué schrieb – der Satz wird im Buch zwei Mal zitiert –: Die Erscheinung, die am meisten bei der Betrachtung eines Kunstwerks rührt, ist, dünkt mich, nicht das Werk selbst, sondern die Eigentümlichkeit des Geistes, der es hervorbrachte, und der sich in unbewußter Freiheit und Lieblichkeit darin entfaltet. 60

So rekapituliert Marcuse am Ende des Einleitungskapitels seine historische Typologie der Tragödie als eine Bewegungsgeschichte der tragischen Seele: Im Verlauf der Orestie wird der Atridenfluch getilgt. Im Leben der ‚Jungfrau von Orleans‘ wird der Abfall von der göttlichen Mission gesühnt. Dantons Tod, Hetmanns Selbstmord, des Kassierers Flucht in die Welt von morgens bis Mitternacht ist Beginn und Ende zugleich. Die tragische Seele singt sich aus: innerhalb einer Welt, die nur die von ihr reflektierte Welt ist, die keine Sonderexistenz hat. Moderne Tragiker, die in ihren Tragödien Welt darstellen, ohne sie auf die tragische Seele zu beziehen, haben leere Stellen. Kleist, Grabbe, Wedekind haben leere Stellen in ihren Werken. Georg Büchner schuf die vollkommenste moderne Tragödie, weil er die tragische Seele am weitesten ausgespannt hat. Die moderne Tragödie kennt kein Weltall; nur Weltfragmente. Aber sie kennt die eine Seele, die sich in allen Fragmenten als ewig dieselbe spiegelt und ihnen so eine Einheit verleiht, die sie von sich aus nicht haben. 61

Das ist Platons Idee der Weltseele, die den Kosmos bewegt und beseelt, angewandt auf die ‚Welt der Tragödie‘. 58 59 60 61

Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Bd. 15, S. 547. Marcuse: Die Welt der Tragödie, S. 11. Ebd., 69; 135–136. Vgl. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner. Bd. 2, München 91993, S. 861. Marcuse: Die Welt der Tragödie, S. 20, Hervorhebung im Original.

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Erst gegen Ende des Buches, nach eingehenden Schilderungen der „einzelnen Landschaften der tragischen Seele“, wird bei George Bernard Shaw und Georg Kaiser wieder verstärkt die Tendenz registriert, „die Seele als eine weltengebärende und weltenstürzende Kraft [zu erleben]“. 62 Darin erblickt Marcuse „erste Ansätze zur Überwindung der Tragödie der Leerheit.“ 63 Zugleich steht noch ein wichtiger Schritt aus: Aber erst wenn die Seele sich beruhigt dem Universum einfügen kann, ist die Tragödie überwunden. Wir leben in der Welt der Tragödie. 64

Dieser letzte Satz, mit dem das Buch endet, besagt also alles andere als das, was wir ihm vom Kontext isoliert entnehmen würden: Wir seien dem Untergang geweiht, wir gingen dem sicheren Untergang entgegen. Nein: Die Überwindung der Tragödie steht bevor. Tatsächlich spricht Marcuse nicht mehr von der „Überwindung des Leids“ oder der „Überwindung des Tragischen“ 65 wie zu Beginn des Buches; er spricht von der „Überwindung der Tragödie“, womit eigentlich nur der Tragödientypus gemeint sein kann, den er als ‚die tragische Tragödie‘ spezifiziert hat. Darin liegt ein weiteres Zugeständnis, dieses Mal an das katastrophische Verständnis der Tragödie. Marcuses so vielseitige und vieldeutige Sicht auf die Tragödie und das Tragische, mit der er begann, wird im Verlauf des Buches nicht konsequent aufrechterhalten. Stellenweise scheint Marcuse sogar dem katastrophischen Verständnis der Tragödie offen nachzugeben: So werden am Ende des Mysterienspiele-Kapitels sowohl die Passion Christi als auch Goethes Faust II, im eklatanten Widerspruch zu der im Einleitungskapitel so klar gegebenen Darstellung der christlich-humanistischen Tragödie, auf einmal von der Kategorie der Tragödie ausgeschlossen. 66 Die mangelnde Konsequenz, die Marcuse bei der konkreten Durchsetzung seiner tragödientheoretischen Ideen an den Tag legt, ist ohne Zweifel eine Schwäche dieses Buches. Im Rückblick ist Marcuse diese Schwäche möglicherweise bewusst geworden. In seinem Buch Pessimismus von 1953, in dem er seine tragödientheoretischen Ideen modifiziert wieder aufgreift, 67 in seinem Aufsatz über Die Marxistische Auslegung des Tragischen von 1954, in dem er explizit gegen Georg Lukács Stellung bezieht, 68 und in seiner Rezension zu Peter Szondis Versuch

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Ebd., S. 180. Ebd. Ebd., Hervorhebung im Original. Ebd., S. 15; 20; 54; 147. Vgl. ebd., S. 51. Ludwig Marcuse: Pessimismus. Ein Stadium der Reife. Hamburg 1953. Ludwig Marcuse: Die Marxistische Auslegung des Tragischen, in: Monatshefte 46/5 (1954), S. 241–248.

über das Tragische von 1961 erwähnt Marcuse das eigene Buch von 1923 mit keinem Wort. So bleibt aus meiner Sicht die Feststellung unvermeidbar: Der Kampf gegen die herrschenden Tendenzen des Tragödiendiskurses der Zeit wird schon im Verlauf dieses Buches weitgehend verloren. Aber diesen Kampf überhaupt aufgenommen zu haben, gegen das katastrophische Verständnis der Tragödie, darin wiederum besteht für mich der einzigartige Wert von Marcuses Tragödienbuch aus dem Krisenjahr 1923.

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Yasumasa Oguro

„Das dritte Reich“ vor der NS-Zeit in Ost und West Von Berlin 1923 über Tokio 1913 bis nach Berlin 1900 Der hier präsentierte Beitrag entstand im Zusammenhang meines von der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS) geförderten Forschungsprojekts „Über das Konzept des ‚dritten Reichs‘ in Deutschland und Japan vor der NS Zeit“ 1 Er beginnt mit dem Thema Berlin im Krisenjahr 1923, reist dann zurück in die Zeit nach Tokio im Jahr 1913 und schließlich wieder nach Berlin im Jahr 1900. Dementsprechend besteht er aus den folgenden vier Abschnitten: 1. Neo-Joachimismus in der apokalyptischen Kultur 2. „Das dritte Reich“ in Japan und Deutschland vor der NS-Zeit 3. „Friedrich Pauli“ in Ost und West 4. Kampf um ein drittes Reich

1. Neo-Joachimismus in der apokalyptischen Kultur Die Apokalypse, die Offenbarung des Johannes, durchzieht wie ein konventioneller Gemeinplatz die europäische Kultur in ständig wiederkehrender Intensität, wobei sie sich in verschiedenen historischen Kontexten als variabel erweist. Sie hat der europäischen Kultur vielfältigen Stoff geliefert und vor allem das europäische Geschichtsbewusstsein stark geprägt. Im Laufe der Zeit ist sie ins europäische Bewusstsein und Unterbewusstsein eingedrungen als ein Mittel zur Bewältigung von Ängsten und Hoffnungen der Menschen in Krisenzeiten. Ihre biblisch-textlichen Stoffe und Motive erscheinen in modifizierter Form immer wieder in Untergangszeiten. Thomas Mann stellt in seinem Roman Doktor Faustus dementsprechend fest: „Tatsächlich gibt es eine apokalyptische Kultur“, „eine überaus dichte, von wiederkehrenden Motiven erfüllte Überlieferungssphäre“. 2 Einen wichtigen Beitrag zur neueren Geschichte der Entwicklung der apokalyptischen Kultur lieferte Joachim von Fiore, ein süditalienischer Abt des späten zwölften Jahrhunderts, der zum ersten Mal die Heilsgeschichte 1 2

Die Referenznummer der JSPS-Förderung ist 21H00516. Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hg. von Heinrich Detering u.a. Frankfurt/M. 2002ff., Bd. 10.1, S. 518–519.

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trinitarisch auslegt. Wir sehen in ihm den ersten modernen Theologen, weil er zum ersten Mal die Heilsgeschichte trinitarisch ausgelegt und einen auf die Zukunft hin offenen Geschichtsverlauf für die Selbstentfaltung der Menschen entworfen hat. 3 Nach seiner Exegese zerfällt der irdische Zeitablauf in drei Weltzeitalter, status genannt, von denen das des Vaters in der alten, das des Sohnes in der neuen und das des Heiligen Geistes in der kommenden Zeit der Liebe und Freiheit liegt. Seine Ideen hatten große Auswirkungen im Westen auf die spirituellen Franziskaner im 13. Jahrhundert, und im Osten auf die Idee von Moskau als dem dritten Rom nach der Eroberung des zweiten Roms, nämlich Konstantinopels im Jahre 1453 durch die osmanischen Türken. Die Einflüsse von Joachims apokalyptischer Denkfigur vom dritten status sind somit nicht nur bei den religiösen Heilslehren, sondern auch beim sozialen Chiliasmus als revolutionärer Protestbewegung zu erkennen, der sich einen sozialen Wandel zum Ziel gesetzt hatte, wie sich dies zum Beispiel in der Konzeption des tausendjährigen Reiches der Wiedertäufer zu Münster 1534–1535 niederschlug. Seine Auslegung wirkte auch stark auf die eschatologischen Strömungen der europäischen Geistesgeschichte. Nach Jacob Taubes rückt damit für den apokalyptischen Geschichtstheoretiker „das Wesen der Neuzeit in den Blick und [er] tauft [es] zum Jahrtausend der Revolution“ 4. Zu unterscheiden sei aber zwischen der Lehre von Joachim von Fiore, dem Joachimismus 5 als ihrem älteren, geistlichen Einfluss und dem sogenannten Neo-Joachimismus als ihrer neueren, geistigen Ausprägung. Die Einflüsse neo-joachimistischer Denkformen vom dritten status finden sich auch in Denkansätzen der Geschichtsphilosophie und in Kulturentwürfen der Moderne, freilich in unterschiedlichen Ausprägungen, beispielsweise in der Erwartungshaltung auf ein drittes Zeitalter bei Gotthold Ephraim Lessing 6, in der Bezeichnung der Synthese zwischen Heidentum und Christentum als ‚drittes Reich‘ im Theaterstück Kaiser und Galiläer von Henrik Ibsen, in der synthetischen Idee des dritten Reiches bei Dmitri Mereschkowski, in der Schrift Der Übermensch in der modernen Literatur (1897) von Leo Berg, der Ibsen den Messias des dritten Reiches 3 4 5

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Vgl. Alfons Rosenberg (Hg.): Joachim von Fiore. Das Zeitalter des Heiligen Geistes, Bietigheim 1977, S. 1–5, bes. S. 2. Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie, München 1991, S. 81. Der Begriff „Joachimismus“ wird in Anlehnung an Mircea Eliades Geschichte der religiösen Ideen. Band III verwendet. Vgl. Mircea Eliade: Geschichte der religiösen Ideen. Band III, ins Japanische übers. von Yoshio Tsuruoka, Tokio 1991, S. 132–133. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Arni Schilson und Axel Schmitt. Frankfurt/M. 2001, Bd. 10, S. 97 u. 877–878; Marcus Conrad: Teleologie und Systemdenken. Geschichtsauffassungen der Spätaufklärung und die Wechselbeziehungen zwischen Geschichtstheorie und Literatur, in: Neue Beiträge zur Germanistik, Bd. 15 / H. 2., hg. von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. München 2016, S. 40–62.

und Mereschkowski einen Vorläufer eines neuen dritten Reiches nennt, im Berliner Roman Das dritte Reich (1900) von Johannes Schlaf, der unter dem Einfluss von Darwin und Nietzsche um ein neues Menschenbild ringt, in der entschlossenen Ablehnung des dritten Reiches in Otto Weiningers Geschlecht und Charakter (1903), in Paul Friedrichs Theaterstück Das dritte Reich. Die Tragödie des Individualismus (1910), in dem er den „Mythos Nietzsche“ begründet, in der Einteilung der Geschichte in drei Epochen bei Wassily Kandinsky 7, in Oswald Spenglers Bemerkungen zu „allen törichten Versuchen, das Geheimnis der historischen Form durch ein Programm [ein drittes Reich, Y.O.] zu enträtseln“ 8, im dritten Reich in den Grundlagen der Physiognomik (1922) von Rudolf Kassner 9, im Kampf um „das Dritte Reich der religiösen Humanität“ bei Thomas Mann 10, im Magischen Theater als drittem Reich in Hermann Hesses Steppenwolf 11, sowie in Ernst Blochs sozialrevolutionärem Versuch, den ursprünglichen Sinn des dritten Reichs von den Nazis zurückzuerobern 12. Das von mir geleitete, durch einen JSPS-Forschungszuschuss „Scientific Research (B)“ geförderte und am germanistischen Seminar an der Universität Kyushu in Fukuoka angesiedelte Forschungsprojekt „Das dritte Reich“ in der modernen deutschspra7

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In München entwickelte Kandinsky in der Zeit von 1908 bis 1910 seine Theorie einer abstrakten Kunst. Er feierte das Anzeichen, das auf den Triumph von Abstraktion und Geistigkeit über Gegenständlichkeit und Materialismus hinweist, enthusiastisch aus einer apokalyptischen Perspektive heraus. Vgl. Yasumasa Oguro: NeoJoachmismus auf der „geistigen Insel“ in München. Kandinsky, Mereschkowski und Thomas Mann, in: Publikationen der internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG). Akten des XII. internationalen Germanistenkongresses Warschau 2010. Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit, hg. von Franciszek Grucza. Bd. 14. Frankfurt/M. 2012, S. 451–457. Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Erster Band. Gestalt und Wirklichkeit. München 1927, S. 461. Vgl. Yasumasa Oguro: Das dritte Reich im physiognomischen Weltbild bei Rudolf Kassner, in: Einheit in der Vielfalt? Germanistik zwischen Divergenz und Konvergenz. Asiatische Germanistentagung 2019 in Sapporo, hg. von Yoshiyuki Muroi im Auftrag der Japanischen Gesellschaft für Germanistik e.V. und in Zusammenarbeit mit dem Redaktionskomitee des Dokumentationsbandes der Asiatischen Germanistentagung 2019, München: Iudicium 2020, S. 487–494. Vgl. Yasumasa Oguro: Der Zauberberg und Doktor Faustus als apokalyptische Zwillinge. Thomas Manns Kampf um ein drittes Reich, in: Neue Beiträge zur Germanistik. Bd. 15 / H. 1., hg. von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik, München 2016, S. 78–96. Vgl. Theodore Ziolkowski, „Hermann Hesse’s Chiliastic Vision“, in: Monatshefte, Vol. 53, No. 4 (1961), S. 199–210. Vgl. Haruyo Yoshida: Apokalypse, Utopie, Erbschaft. Ernst Blochs Diskurse über das „(Dritte) Reich“ [黙示録、ユートピア、遺産—ブロッホにおける「〈第三の〉ライ ヒ」論—], in: Neue Beiträge zur Germanistik. Bd. 15 / H. 2., hg. von der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. München 2016, S. 82–102. (Deutsche Zusammenfassung, S. 100–102).

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chigen Literatur und Philosophie. Entstehung, Entwicklung, Transformation (Laufzeit April 2021 bis März 2026), sucht die Entwicklung der Formel ‚das dritte Reich‘ vor der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland und in Japan interdisziplinär zu erforschen. Dabei widmen sich die beteiligten ForscherInnen hauptsächlich den drei folgenden Fragen: 1. 2. 3.

Wie entstand die geistliche, joachimistische Denkform vom dritten status in der Zeit der Aufklärung als geistige, neo-joachimistische? Wie entwickelte sie sich von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur Zeit des Ersten Weltkrieges international? Wie transformierte sie sich während der Weimarer Zeit in die nationalsozialistische Propaganda?

Die neo-joachimistische Denkart vom dritten status weicht von dem nationalsozialistischen Propaganda-Schlagwort deutlich ab, obwohl beide Versionen sich von der Verzeitlichung der Dreieinigkeit bei Joachim von Fiore ableiten. Das Forschungsprojekt setzt sich daher nicht direkt mit dem nationalsozialistischen Kampfbegriff „das Dritte Reich“ in Deutschland – „D“ von „Drittes Reich“ großgeschrieben – auseinander, sondern erforscht die bislang eher wenig beachtete Reichsidee „das dritte Reich“ – „d“ von „drittes Reich“ kleingeschrieben – vor der NS-Zeit, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in Japan. Es versteht sich von selbst, dass der neo-joachimistische Begriff „das dritte Reich“ in einem anderen Sinne als im nationalsozialistischen Vokabular verwendet wurde. Bis zur Zeit des Ersten Weltkrieges hatte er, was wir dokumentieren wollen, einen großen Einfluss auch in Russland und in Japan. Um diesen Einfluss zu veranschaulichen, lohnt es sich die Rezeption der Schriften von Dmitri Mereschkowski in Japan und in Deutschland vor der NS-Zeit zu untersuchen. Der berühmte russische Symbolist war ein apokalyptischer Neo-Joachimist. Er erwartete „das dritte und letzte Moment der religiösen Evolution“ 13, nämlich ‚das dritte Reich‘. Seine Werke, vor allem seine historische Trilogie Julian Apostata von 1896, Leonardo da Vinci von 1901 und Peter und Alexej von 1905, sind geprägt von einem geschichtsphilosophischen Widerstreit zwischen Christ und Antichrist, Geist und Fleisch, Ost und West, dessen zukünftige Synthese durch das „dritte, letzte russische Rom“ oder das „Dritte Testament“ erreicht werden soll. 14 Die Mereschkowski-Rezeption verknüpft Moeller van den Brucks Das dritte Reich, ein im Krisenjahr 1923 in Berlin erschienenes Buch, dessen 13

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Sixten Ringbom: Kandinsky und das Okkulte, in: Kandinsky und München. Begegnungen und Wandlungen 1896–1914, hg. von Armin Zweite, München 1982, S. 85– 105, hier S. 101. Vgl. Christoph Garstka: Arthur Moeller van den Bruck und die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906–1919, Frankfurt/M. 1998, S. 109–117, bes. S. 115.

Titel ursprünglich Die dritte Partei lauten sollte, mit der Zeitschrift Das dritte Reich, die um den Ersten Weltkrieg herum in Japan erschien. Um mein Forschungsprojekt mit der hiesigen Ringvorlesung zu verbinden, vergleiche ich die drei Reiche in der japanischen Zeitschrift mit den drei Reichen in Moeller van den Brucks Buch. Durch diesen Vergleich kann ich auch aus der Perspektive eines japanischen Germanisten zum Thema der Ringvorlesung beitragen. 15 2. „Das dritte Reich“ in Japan und Deutschland vor der NS-Zeit Hören wir zunächst eine merkwürdige Behauptung aus Japan: „Auch bei uns wird der Aufruf zum dritten Reich laut.“ So schrieb Minoru Nishio (1889–1979) in der japanischen Zeitschrift Erziehung in Shinano im März 1914, das heißt, lange bevor sich das propagandistische Schlagwort in Deutschland ausgebreitet hatte. Damit meinte der Japanologe die Abkehr vom christlichen Hebraismus im Mittelalter und die Abkehr vom griechischen Hellenismus in der Neuzeit. In Japan setzte nach der MeijiRestauration von 1868 eine Aufklärungsbewegung ein, deren Ziel die gesellschaftliche Modernisierung nach westlichem Vorbild war. Sie mutete der japanischen Gesellschaft eine allzu schnelle Veränderung zu und mündete bald darauf in Verwerfungen auf verschiedenen Gebieten, so dass sich schon in den 1910er Jahren die Idee des dritten Reiches im Sinne der Überwindung der typisch europäischen Opposition verbreitete. Es ist allgemein bekannt, dass der in München entwickelte Nationalsozialismus die Idee des dritten Reiches als Propaganda für seine „Neue Ordnung“ übernahm. Aber schon vorher spielte diese Idee auch in der während der Weimarer Republik sich mehr und mehr artikulierenden konservativen Revolution eine große Rolle. Ihr Haupttheoretiker Moeller van den Bruck hat 1923 sein letztes Werk veröffentlicht, dessen Titel Das dritte Reich dem Nationalsozialismus als propagandistisches Schlagwort diente. Erst danach ist der heikle Kampfbegriff in Deutschland populär geworden, obwohl Dietrich Eckart (1868–1923) ihn schon 1919 als Mitbegründer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) prägte. Wie oben geschrieben, hatten die Einflüsse Joachim von Fiores nicht nur in Europa, sondern auch in Russland große Auswirkungen. Die beiden Strömungen kamen bei Moeller van den Bruck zusammen, weil er mit Dmitri Mereschkowski die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostojewskijs im Piper-Verlag 1906–1919 herausgegeben und unter dem Einfluss dieses russi15

1923 war nicht nur für die Menschen in Berlin, sondern wegen einer Naturkatastrophe auch für die Menschen in Tokio von einschneidender Bedeutung. Das Große Kanto-Erdbeben, das am 1. September 1923 das Gebiet um Tokio erschütterte, erreichte eine Stärke von 7,9 auf der Richterskala und zählt mit mehr als 140.000 Toten zu den opferreichsten Naturkatastrophen in den vergangenen Jahrhunderten.

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schen Schriftstellers sein Hauptwerk Das dritte Reich genannt hat. In diesem Knotenpunkt von 1923 kulminiert der Diskurs über „das dritte Reich“ vor der NS-Zeit. Mit Moeller van den Brucks Buch wird die Formel „das dritte Reich“ zum politischen Propaganda-Schlagwort. Diesen Wendepunkt finde ich in Japan bereits früher als in Deutschland, weil „der Aufruf zum dritten Reich“ schon im März 1914 in Japan hörbar war. Hier richten wir unsere Aufmerksamkeit auf einen Kritiker und Journalisten in der Phase der Taisho-Demokratie, in der liberale Ideen ungefähr zwischen dem Ende des Japanisch-Russischen Krieges 1905 und der Erlassung des Gesetzes zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit 1925 die vorher herrschende Meiji-Oligarchie veränderten, nämlich auf Kazan Kayahara (1870–1952). Er war nicht nur einer der Wegbereiter der Demokratie, sondern auch Mitbegründer der Redaktionsgemeinschaft, die die Zeitschrift Das dritte Reich vom Oktober 1913 bis zum Dezember 1915 veröffentlicht hat. Während Moeller van den Bruck als radikaler Kritiker des Liberalismus und der Parteiherrschaft nach dem Ersten Weltkrieg unter dem ersten Reich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, unter dem zweiten das Deutsche Kaiserreich und unter dem dritten und zukünftigen die großdeutsche Einigung fasste, verstand Kayahara schon vor dem Ersten Weltkrieg unter dem ersten Reich den Feudalismus vor der MeijiRestauration von 1868, unter dem zweiten die Meiji-Oligarchie und unter dem dritten die Demokratie für die Nation im Kaiserreich (jap. Minponshugi). Moeller van den Bruck befürwortete das Grossdeutschtum wie folgt: Das zweite Reich war ein unvollkommenes Reich. Es bezog Oesterreich nicht ein, das noch vom ersten Reiche her neben diesem zweiten Reiche dahin lebte. Es war ein kleindeutsches Reich, das wir nur wieder als einen Umweg verstehen können, um zu einem großdeutschen Reiche zu gelangen. 16

Im Sinne der parlamentarischen Monarchie vertrat Kayahara hingegen in der Zeitschrift Das dritte Reich den „Kleinjapanismus“ (jap. Sho-nihonshugi), der im Gegensatz zum „Grossjapanismus“ (jap. Dai-nihon-shugi) die koloniale Expansion Japans ablehnte. In dieser Zeitschrift standen die Begriffe Demokratie und drittes Reich einander nicht antagonistisch gegenüber. Weder in der japanischen Zeitschrift von 1913 noch im deutschen Buch von 1923 wird Joachim von Fiore erwähnt, obwohl beide den Titel Das dritte Reich tragen. Aber sie haben denkbar unterschiedliche politische Orientierungen. Zusammenfassend gesagt, argumentiert erstere liberal, pro Demokratie und gegen den Grossjapanismus, letzteres hingegen antiliberal, kontra Demokratie und für das Grossdeutschtum.

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Moeller van den Bruck: Das dritte Reich, Berlin 1923, S. 257.

Die japanische Zeitschrift von 1913 war eine liberale Illustrierte. Auf der ersten Seite der ersten Nummer sehen wir oben den Titel Das dritte Reich in chinesischen Schriftzeichen, auf der linken Seite eine Säule in der ionischen Ordnung und auf der rechten einen jungen Mann, der mit dem Finger auf die Sonne zeigt. Wer ist dieser Mann? Woran haben Japaner damals den antiken Griechen oder Römer erkannt? Wie kann man ihn eigentlich mit dem Titel Das dritte Reich in Zusammenhang bringen? Dass er auf die Sonne

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zeigt, weist auf Julian den Apostaten hin, der von 360 bis 363 römischer Kaiser war. Er hat wegen seiner Sonnenverehrung den christlichen Glauben aufgegeben und eine neuplatonische Theologie vertreten. Dabei müssen wir auch auf das Inhaltsverzeichnis unter dem Titel achten. Aus ihm geht hervor, dass nicht nur Denker und Politiker, sondern auch Dramatiker und Schriftsteller zur Zeitschrift beitrugen. Diese japanische Zeitschrift von 1913 ist daher im Gegensatz zum deutschen hochpolitischen Buch von 1923 sowohl politisch als auch literarisch-künstlerisch orientiert. Auffällig ist darunter ein Beitrag des bekannten Literaturkritikers und Vorreiters des „Neuen Theaters“ (jap. Shingeki) Hogetsu Shimamura (1871–1918), weil er den Titel Das dritte Reich in Ibsens Werk trägt. Am Anfang des Vorworts unter dem Inhaltsverzeichnis heißt es: „Der Titel der Zeitschrift Das dritte Reich stammt aus Henrik Ibsens sowie Friedrich Paulis Dramen.“ In der zweiten Nummer der Zeitschrift zieht ein Aufsatz des japanischen Slawisten Shobu Akebono (1878–1958) mit dem Titel Der Gedanke der Einheit von Leib und Seele in Mereschkowskis Werken unsere Aufmerksamkeit auf sich. Sowohl in der ersten wie in der zweiten Nummer spielen Henrik Ibsen (1828–1906) und Dmitri Mereschkowski (1865–1941) eine große Rolle. Sie teilen die Erwartung des dritten Reichs. Der norwegische Dramatiker hatte 1873 das zehnaktige Doppeldrama Kaiser und Galiläer vollendet, das im Römischen Reich während des 4. Jahrhunderts spielt und von Julian Apostata handelt. Das Theaterstück, das von Ibsen als sein Hauptwerk angesehen wurde, ist ein religionsphilosophisches Lesedrama, in dem der Neuplatoniker Maximus von Ephesos (um 310–372) dem Kaiser den Begriff „das dritte Reich“ im Sinne der Synthese von Heidentum und Christentum nahebringt. Die Verwendung des Begriffs in Deutschland geht auf die 1888 erschienene Übersetzung dieses Stückes zurück. Auch der russische Schriftsteller erwartete, wie oben erwähnt, durch seine historische Trilogie das „dritte, letzte russische Rom“ oder das „Dritte Testament“. Daran kann man erkennen, wie der Begriff „das dritte Reich“ in Japan hauptsächlich durch die Ibsen- und Mereschkowski-Rezeption aufgenommen wurde. Der norwegische Dramatiker wurde in Japan schon 1889 durch den renommierten Schriftsteller Ogai Mori bekannt gemacht; aber erst 1893 waren Ibsen-Übersetzungen in der Zeitschrift Doshisha Literatur (jap. Doshisha Bungaku) zu lesen, nämlich Takayasu Gekkos Übersetzung von Nora oder Ein Puppenhaus und von einem weiteren Theaterstück. 1907, ein Jahr nach dem Tod Ibsens, hat der Literaturkritiker Shinsaku Saito sein Buch Kunst und Leben veröffentlicht, das den Aufsatz Das dritte Reich von Ibsen über das Drama Kaiser und Galiläer enthält. In den 1910er Jahren erschienen zwei Übersetzungen von Mereschkowskis Julian Apostata: eine von Morisuke Shimamura (1910) und eine von Unshu Matsumoto (1911). Im August 1911 hat der Übersetzer und Literaturkritiker Magane Koizumi

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einen Aufsatz in der berühmten Zeitschrift Die Birke (jap. Shirakaba) veröffentlicht, dessen Titel Das dritte Reich. Zum fünfzigjährigen Geburtstag von Ludwig von Hofmann lautet. Er lobte den deutschen Maler und Grafiker (1861–1945), der damals als Professor an der Großherzoglichen Kunstschule in Weimar tätig und in Japan als Vertreter des Jugendstils sowie Neuidealismus relativ bekannt war, als Begründer des dritten Reichs im Sinne des ästhetischen Idealismus. Im Rahmen derselben Zeitströmung hat Kazan Kayahara, wie oben erwähnt, im Oktober 1913 die Zeitschrift Das dritte Reich gegründet und im Februar 1914 mit Tomoharu Ishida ein Buch mit dem Titel Der Gedanke des dritten Reiches herausgegeben, in dem fast alle wichtigen Gedanken zum dritten Reich hauptsächlich aus den Werken von Ibsen und Mereschkowski enthalten sind, so dass Minoru Nishio, wie oben auch erwähnt, im März 1914 schreiben konnte: „Auch bei uns wird der Aufruf zum dritten Reich laut.“ 17 Dieses Magazin von 1913 gehört, wie Moeller van den Brucks Buch von 1923, zum Neo-Joachimismus, in dem die Zahl 3 immer noch eine große Rolle spielt. Der dialektisch-trinitarischen Denkfigur zufolge kann es ein viertes Reich nicht geben, weil das dritte Reich sowohl bei Joachim von Fiore als auch bei den Neo-Joachimisten das letzte ist. Kazan Kayahara machte uns im Vorwort des Buches Der Gedanke des dritten Reiches nicht nur auf die Grundidee des Begriffs, sondern auch auf dessen japanische Entfaltung aufmerksam: Wir können heute weder ein viertes noch ein fünftes Reich konzipieren. Im dritten Reich haben wir unser Ideal erreicht. Wir können das Ideal nicht steigern und brauchen auch keine Konzeption, die über das dritte Reich hinausgeht. […] Die Lektüre von Das dritte Reich macht verständlich, dass das dritte Reich in meinem Sinne nicht immer das dritte Reich des Abendlandes meint, sondern ein japanisiertes. 18

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Dieser Aufruf klang noch ein paar Jahre nach, obwohl jene Zeitschrift im Dezember 1915 einging. Im November 1914 wurde Kaiser und Galiläer von Senkyo Nakajima ein zweites Mal ins Japanische übersetzt. Im selben Monat erschien die erste japanische Ibsen-Biographie von Kichizo Nakamura, in der der Begriff des dritten Reiches wieder erwähnt wurde. In der Zeitschrift Neuidealismus (jap. Shinrisoshugi) von Januar und Februar 1916 veröffentlichte Yuzo Murayama eine neue Übersetzung des Lesedramas Ibsens, aber nicht mit dem Titel Kaiser und Galiläer, sondern Das historische Drama. Das dritte Reich. Kaiser oder Galiläer. Mereschkowski wurde 1914 und 1915 für den Literatur-Nobelpreis nominiert, sodass seine Werke damals auch in Japan relativ intensiv übertragen wurden: – Julian Apostata (1910 von Morisuke Shimamura, 1911 von Unshu Matshumoto, 1921 von Masao Yonekawa, 1924 von Kyoji Funada), – Tolstoi (1914 von Matajiro Kasai), – Tolstoi und Dostojewski (1914 von Sohei Morita und Yoshishige Abe) und – Der Pionier (1915 von Shukotshu Togawa, 1916 von Seiji Tanizaki) Tomoharu Ishida (Hg.): Der Gedanke des dritten Reiches, Tokio 1914, S. 3.

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Man erkennt zwar die Japanisierung auf drei politischen Ebenen: dem alten Feudalismus vor der Meiji-Restauration, der jetzigen Meiji-Oligarchie und der kommenden Demokratie für die Nation im Kaiserreich, aber der Gedanke als solcher verschränkte sich untrennbar mit der Ibsen- und der Mereschkowski-Rezeption. Aus dieser Verschränkung entstand vor dem Ersten Weltkrieg in Japan eine merkwürdige Verbindung aus propagandistischem Kampfbegriff und liberalem „Kleinjapanismus“. 19 3. „Friedrich Pauli“ in Ost und West Die Figur Julians des Abtrünnigen beeinflusste die japanische Zeitschrift Das dritte Reich durch die Ibsen- und der Mereschkowski-Rezeption. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass der Titel der Zeitschrift nicht nur aus Henrik Ibsens, sondern auch aus Friedrich Paulis Dramen stammt. Daher müssen wir uns fragen, wer denn dieser „Friedrich Pauli“ ist. Die Erwähnung dieser Person findet sich lediglich in jenem Vorwort und im Beitrag Das dritte Reich in der modernen Literatur von dem oben genannten IbsenÜbersetzer Gekko Takayasu in der ersten Ausgabe der Zeitschrift. Takayasu, der wegweisend für die Einführung Ibsens in Japan wurde, stellte kurz dessen Theaterstück Kaiser und Galiläer sowie Mereschkowskis Romans Julian Apostat vor, bezeichnete Nietzsches „Übermensch“-Idee, die einen großen Einfluss auf den russischen Schriftsteller hatte, als das „Ideal der Zukunft“ und zitierte die Worte des „Philosophen“ aus Paul Friedrichs, nicht Friedrich Paulis, Theaterstück Das dritte Reich (1910): Schon seh’ ich sie aus Finsternissen steigen, die neue Erde, ach, das dritte Reich! Drin sich die Wahrheit mit der Schönheit eint zum Hymenäenruf auf Menschenkraft. Die Sonne scheint in ewigem Mittagsglanz, krönt all die Scheitel der bewußten Freien mit ihrer Liebe goldnem Diadem! Bräutlich, sehnsüchtig stehen Wald und Feld … sie dehnen sich dem Göttlichen entgegen. In allen Dingen keimt wie Frucht der Segen der neuen, einig großen Wunderwelt. Alles ist tief, Geheimnis, Brunnenfülle … die Hülle glänzt perlenhellem Tau … es glänzt die Flur … es lachen Tal und Au und über allem schwebt’s wie Geisterstille … Vergangenheit ward Traum … Sie sank hinab in tiefe Teiche, in ein gähnend Grab. Nur Zukunft noch und ewige Gegenwart … ewiges Werden der Erfüllung harrt … doch grenzenlos liegt vor dem Blick das Meer der Zeit: sie seh’n in’s Auge dir, Unendlichkeit! 20 19

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Sie fand bei Thomas Mann um die Zeit des Ersten Weltkriegs herum eine bedeutende Parallele. Vgl. Yasumasa Oguro: Der Kampf um das Dritte Reich vor dem Ersten Weltkrieg. Die Dmitri Mereschkowski-Rezeption in Deutschland und Japan. In: Tagungsband der «Asiatische Germanistentagung 2016 in Seoul» – Bd. 1. Peter Lang: Bern 2022, S. 113–122. Paul Friedrich: Das dritte Reich. Die Tragödie des Individualismus, Leipzig: XenienVerlag 1910, S. 94–95.

Takayasu zitierte diese Passage so ausführlich auf Japanisch, weil er das Theaterstück für „das Bemerkenswerteste in der modernen Literatur“ 21 hielt. Trotz dieser Einschätzung erklären weder er noch die Zeitschrift, wer „Friedrich Pauli“ ist und worum es in dem Stück geht. Soweit ich weiß, gab es vor der Veröffentlichung meiner Übersetzung im Jahr 2021 22 keine japanische Übersetzung des Werkes. 23 Paul Otto Friedrich, 1877 in Weimar geboren und 1947 in Berlin gestorben, war ein deutscher Schriftsteller, Literaturhistoriker und Übersetzer, der Werke über Otto Weininger (1905), Nietzsche (1906), Hebbel (1908), Schiller (1909), Paul de Lagarde (1912, 1916), Thomas Mann (1913) und Leopold von Ranke (1928) veröffentlichte und im Jahr 1923 die gesammelten Werke von Christian Dietrich Grabbe herausgab. Das 1910 von ihm veröffentlichte Theaterstück Das dritte Reich. Die Tragödie des Individualismus besteht laut Vorwort aus dem sogenannten „Mythos Nietzsche“ 24. Es handelt sich dabei um ein Bild von Nietzsche als Zeitkritiker und Prophet eines neuen Lebens. Richard Wagner, der seit 1866 und für sechs Jahre lang in Tribschen am Ufer des Vierwaldstättersees in der Schweiz lebte, erhielt am 17. Mai 1869 Besuch vom jungen Friedrich Nietzsche. Das Stück stellt hauptsächlich den historischen Dialog zwischen Meister Wagner und dem Philosophen Nietzsche wieder her. Der erste Akt spielt im schweizerischen Tribschen, der zweite in Bayreuth, der dritte im Bayerischen Wald, der vierte in Sils Maria und an der Bernina, und der fünfte in Turin/Italien. Friedrichs Stück zeigt zunächst die Bewunderung des Philosophen für Wagner und dann Nietzsches Desillusionierung gegenüber dem Meister bei den ersten Bayreuther Festspielen 1876. Am Ende sieht Nietzsche, wie Takayasu zitiert, in einer Vision die Entstehung einer „neuen Erde“, auf der sich Wahrheit und Schönheit vereinen. Aus der Perspektive des Neuidealismus betrachtete Paul Friedrich „Nietzsches Tragödie“ im Vorwort als „den inneren Entwicklungsgang dieser stärksten Kulturtragö-

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Kazan Kayahara (Hg.): Daisanteikoku [The Third Empire], 10 Bde., Tokio 1983f., Bd. 1, S. 9. Paul Friedrich: Das dritte Reich. Die Tragödie des Individualismus. Ins Japanische übers. von Yasumasa Oguro u. Kana Hashimoto. In: Forschungsberichte zur Germanistik in Kyushu. Verein für Germanistik – Kyushu (Universität Kyushu). Bd. 35 (2021), S. 1–81. In den einschlägigen Lexika gibt es zu Paul Friedrich keine Einträge. Ausnahmen sind das ab 1968 erschienene Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch, Kindlers Literatur Lexikon (KLL) von 1965, Killy Literaturlexikon von 1992 und die Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE) von 1965e. Vgl. Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begründet von Wilhelm Kosch. Bd. 5, Bern 1977, S. 718–719. Friedrich: Das dritte Reich, S. XI.

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die“ 25. Diese stützt sich auf Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, um am Ende zur Idee des dritten Reiches zu gelangen. ZARATHUSTRA lächelnd: Heute wardst du reif. Nun bin ich da. Das dritte Reich ruft seinen Gott, komm’ in dein Reich! (Geht einige Schritte nach vorn. Lockend): Komm! 26

Um diese letzte Vision mit dem im Vorwort erwähnten „Mythos Nietzsche“ zu verbinden, muss hier auch „mein unvergeßlicher Freund und Berater L e o B e r g“ erwähnt werden, wie er im Vorwort genannt wird. Diese Person ist in der Nietzsche-Forschung als deutscher Literaturkritiker bekannt, der 1889 das erste Material zur Nietzsche-Rezeption hinterließ. Besonders zu erwähnen ist hier Bergs 1897 erschienenes Buch Der Übermensch in der modernen Literatur. Ein Kapitel zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, wo es heißt: „Das ist das dritte Reich, das die Mystiker einst verkündeten, und von dem heute die prophetischen Dichter träumen. Die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts — in ihrem tiefsten Kern — ist ein neues Mysterium.“ 27 Leo Berg setzte sich nicht nur mit dem zehnaktigen Doppeldrama Kaiser und Galiläer auseinander, wobei er Ibsen als „Messias des dritten Reiches“ 28 sah, sondern auch mit einem russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts: „Dostojewski ragt am meisten hinein in das neue dritte Reich des Menschengeschlechtes. [...] Nicht als Schaffender und Handelnder, aber als Seiender und Denkender ist er in Wahrheit ein Übermensch.“ 29 Leo Berg hatte einen so entscheidenden Einfluss auf Paul Friedrich, dass dieser in seinem Theaterstück Das dritte Reich den damaligen Neuidealismus und den „Mythos Nietzsche“ verknüpfte. 4. Kampf um ein drittes Reich Abschließend widmen wir uns auch einem weiteren Text, der zehn Jahre vor Friedrichs Stück veröffentlicht wurde: Johannes Schlafs Werk Das dritte Reich. Ein Berliner Roman. Dieser Roman ist sowohl für die Germanistik in Berlin als auch für mein Forschungsprojekt wichtig, denn er wurde bereits im Jahre 1900 nicht nur in Berlin veröffentlicht, sondern er spielt auch in Berlin. Johannes Schlaf, 1862 in Querfurt geboren und 1941 ebenda gestorben, war ein bekannter deutscher Dramatiker, Erzähler und Übersetzer und gehörte zu den literarischen Naturalisten. Seine in Zusammenarbeit mit 25 26 27 28 29

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Ebd., S. X. Ebd., S. 99. Leo Berg: Der Übermensch in der modernen Literatur. Ein Kapitel zur Geistesgeschichte der modernen Literatur, Paris, Leipzig und München 1897, S. 74. Ebd., S. 120. Ebd., S. 111.

Arno Holz entstandene Sammlung Papa Hamlet (1889) zählt zu den wichtigsten Arbeiten des deutschen Naturalismus. Die Partnerschaft mit Holz zerbrach im Jahre 1898 in einem Jahre andauernden Streit, den Schlaf in den Romanen um die Jahrhundertwendezeit reflektierte, u.a. im Roman Das dritte Reich, der aufgrund genauer Schilderungen des Berliner Milieus von zeitdokumentarischer Bedeutung ist und auch „ein neues Mysterium“ des 19. Jahrhunderts zeigt. Im Berliner Roman hat der 28jährige Philosoph Emanuel Liesegang wegen der mythischen Idee vom tausendjährigen Reich eine besondere Vorliebe für die Lektüre der Apokalypse und des Johannesevangeliums und ringt unter dem Einfluss von Max Stirner, Charles Robert Darwin, Ernst Haeckel, Friedrich Nietzsche und anderen um ein neues Menschenbild. Das ist „Der Sinn des dritten Testaments“, „Der spukende Übermensch“, „eine Metastase und Neugeburt des Individuums“, „Das neue Individuum! Die neue Individualität! — Der neue Mann und das neue Weib! …“ 30. Es geht um den Kontrast zwischen der Mitte Berlins und dem Bezirk Kreuzberg. Liesegang entflieht der monolithischen Atmosphäre der Innenstadt und macht sich auf den Weg zum Viktoriapark im Bezirk Kreuzberg, wo er sich angesichts des neugotischen Denkmals beruhigt: Er atmete auf, als er den Wasserfall des Viktoria=Parkes sah und obenauf dem Gipfel des Berges das schlanke, schwarze Denkmal mit seinem gothischen Zierwerk. Hier war Berlin zu Ende. — Das Weichbild der riesigen Stadt. — Und mit beruhigteren Nerven schritt er die sonnige Straße hinauf, in der sich der übermäßige Tumult des Lebenstromes stillte, der Körper dieses Riesenwesens, das er nun hinter sich hatte. 31

Liesegang liest die Legende vom Turmbau zu Babel vor dem atmosphärischen Hintergrund der Industriestadt Berlin und ist von deren „gewaltige[r] Katastrophe“ überzeugt, gleichzeitig ahnt er aber auch „Anfänge! Neue Anfänge“ 32. Für das dritte Reich steht sinnbildlich im Berliner Roman der Viktoriapark, dessen dem Sieg gegen Napoleon gewidmetes neugotisches Kriegerdenkmal der Baumeister Karl Friedrich Schinkel 1818 entworfen hatte. Johannes Schlaf träumte schon im Jahre 1900, mit den Worten Leo Bergs, von einem Mysterium oder einem dritten Reich und glaubte in seinen späteren Jahren, dass sein Roman die nationalsozialistische Ideologie vorhergesagt hätte. 33

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Johannes Schlaf: Das dritte Reich. Ein Berliner Roman, Berlin 1900, S. 14–15. Ebd., S. 90. Ebd., S. 88. Vgl. Walther Killy u. Rudolf Vierhaus (Hg.): Deutsche biographische Enzyklopädie. Bd. 8., München 2001 (19981), S. 652; Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Nachdruck der Ausgabe 1998. Berlin, New York 2000, S. 156.

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Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass sich einige Schriftsteller diesen Vorhersagen auch widersetzten. Thomas Mann, der bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus konservativer Sicht die Idee des dritten Reichs unterstützte, setzte sich 1922 und sogar 1932 in einem ganz anderen Kontext ebenfalls dafür ein, wenn auch nicht für das nationalsozialistische Dritte Reich. Dieser ideologische Übergang muss sorgfältig untersucht werden. Ein langjähriger Unterstützer der Idee des dritten Reiches ist nicht nur der 1875 in Lübeck geborene Schriftsteller, sondern auch Rudolf Kassner, der 1873 in Mähren geborene Kulturphilosoph und Physiognomiker. Der deutsche Schriftsteller, der österreichische Physiognomiker und auch Ernst Bloch versuchten in den 1930er Jahren, so etwas wie den ‚ursprünglichen Sinn‘ des dritten Reichs von den Nazis zurückzuerobern. Während des Kampfes um das dritte Reich äußerte Julius Petersen, Direktor des Germanistischen Seminars an der Universität Berlin, „die Sehnsucht nach dem Dritten Reich“ und gab 1934 eine Erklärung ab: Das neue Reich ist gepflanzt. Der ersehnte und geweissagte Führer ist erschienen. Seine Worte sagen, daß das Dritte Reich erst ein werdendes ist, kein Traum der Sehnsucht mehr, aber noch keine vollendete Tat, sondern eine Aufgabe, die dem sich erneuernden deutschen Menschen gestellt ist. 34

Vier Jahre später versuchte Herbert Schack, ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler, in seinem Buch Denker und Deuter. Männer vor der deutschen Wende (1938), „eine direkte und konsequente geistesgeschichtliche Entwicklung von Richard Wagner und Friedrich Nietzsche über Paul de Lagarde, Rudolf Eucken, Arthur Moeller van den Bruck, Oswald Spengler, Houston Stewart Chamberlain und Stefan George in die nationalsozialistische „deutsche Wende“ von 1933 nachzuzeichnen.“ 35 Im Jahre 1964 enthüllte George L. Mosses Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus die Genealogie des völkischen Denkens in Deutschland umfassend. 36 Im 16. Kapitel „Deutsche Revolution“ sieht der amerikanische Historiker deutsch-jüdischer Herkunft Möller van den Bruck als Propheten des „Dritten Weges“ und stellt fest, dass sich Deutschlands eigene Entwicklungen mit der internationalen Bewegung für den „Dritten Weg“ überschneiden. Diese „internationale“ Bewegung bezieht sich jedoch nur auf die in Europa, ganz zu schweigen von Japan, und schließt die in Russland nicht ein. Darüber hinaus lässt sein Buch die Be34 35 36

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Julius Petersen: Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung, Stuttgart 1934, S. 61. Barbara Beßlich: Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin 2002, S. 12. George Lachmann Mosse: The Crisis of German Ideology. Intellectual Origins of the Third Reich, New York 1964; Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus, Meisenheim 1991.

trachtung des „dritten Reiches“ außer Acht, das zwischen dem Ende des Jahrhunderts und der Zeit des Ersten Weltkriegs existierte. Auch der Viktoriapark, der im Berliner Roman von 1900 eine große Rolle spielte, wird von Mosse überhaupt nicht berücksichtigt. Die erste umfassende Forschung zur geistigen Vorgeschichte des nationalsozialistischen Deutschlands war Jean F. Neurohrs Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, das 1957 in Deutschland veröffentlicht wurde. Als Pionier in der Erforschung von Möller van den Brucks Werk beschäftigte sich Neurohr nicht nur mit dem Buch Das dritte Reich (1923), sondern auch mit seinem 1918 erschienenen Artikel Rechte der jungen Völker. Als Fortsetzung dieser Arbeit hat Mosse in seinem Buch The Nationalization of the Masses 37 Möller van den Brucks Artikel Der preußische Stil (1916) besprochen. Der konservative Revolutionär verurteilte die Romantik als verweichlicht und pries den preußischen Baustil Berlins des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts als einen Stil, der griechische Ideale bewahrte habe. Es geht besonders um Schinkels Schlossbrücke und das Berliner Alte Museum, aber nicht um das neugotische Kriegerdenkmal im Viktoriapark. Sowohl Neurohr als auch Mosse befassten sich mit der Kontinuität des soziologischen Denkens in Deutschland, die Kontinuität dieses Diskurses über das dritte Reich ist jedoch noch nicht vollständig geklärt. Die Formel des dritten Reiches verbreitete sich vor der NS-Zeit, ja sogar schon vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland und Japan. Dies ist in Deutschland, von Japan ganz zu schweigen, noch kaum wissenschaftlich untersucht. Mein Forschungsprojekt gilt der Formel vom dritten Reich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem vor und nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit dem sich bisherige Studien sehr wenig beschäftigt haben. Es geht darum, unerschlossene Bereiche zu beleuchten und zu neuen wissenschaftlichen Beiträgen aus internationaler Perspektive zu ermutigen.

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George Lachmann Mosse: The Nationalization of the Masses. Political Symbolism and Mass Movements in Germany from the Napoleonic Wars through the Third Reich, New York 1975.

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Kurzbiographien der BeiträgerInnen Swati Acharya Professorin für Germanistik und Institutsleiterin am Department of Foreign Languages der Universität Pune. Publikationen u.a. IDT 2013. Beiträge der XV. Internationalen Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer. Vol. 3.1 – Kultur, Literatur, Landeskunde: Sections E1, E2, E3, E4. Bozen University Press, 2016 (Mithg.); Sa’adat Hasan Manto. Chronist des ungeteilten Irrsinns der Teilung Indiens, Heidelberg 2015 (Hg.); Mahatma Gandhi and Martin Buber on the Jewish Question: Revisiting a Controversy, Pune 2008. Norbert Aping Amtsgerichtsdirektor i.R. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des Films, u.a. Das Dick-und-Doof-Buch. Die Geschichte von Laurel und Hardy in Deutschland. Marburg 2004 (2. Auflage 2007; aktualisierte Neuausgabe 2022); Laurel und Hardy auf dem Atoll. Auf den Spuren von Laurel und Hardys letztem Spielfilm. Marburg 2007 (amer. Fassung 2008); Liberty Shtunk! Charlie Chaplin und die Nationalsozialisten. Marburg 2011 (amer. Fassung 2023); Charlie Chaplin in Deutschland: 1915–1924. Der Tramp kommt ins Kino. Marburg 2014; Es darf gelacht werden. Von Männern ohne Nerven und Vätern der Klamotte. Lexikon der deutschen TV-Slapstickserien Ost und West. Marburg 2020. Stephan Braese Ludwig Strauss-Professor für Europäisch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte an der RWTH Aachen University. Publikationen u.a. Die andere Erinnerung – Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur, Berlin/Wien 2001, München ³2010; Eine europäische Sprache – Deutsche Sprachkultur von Juden 1780–1930, Göttingen 2010; Jenseits der Pässe – Wolfgang Hildesheimer. Eine Biographie, Göttingen 2016, ²2017. Valentina Di Rosa Professorin für Neuere Deutsche Literatur sowie für Theorie und Praxis der literarischen Übersetzung an der Universität L’Orientale Neapel. Forschungsschwerpunkte: Deutschsprachiges Judentum und Exilliteratur; Literaturen im geteilten Deutschland; Prosa und Lyrik seit 2000; Theorie und Praxis der literarischen Übersetzung. Publikationen (Auswahl): „Begraben sind die Bibeljahre längst“. Diaspora und Identitätssuche im poetischen

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Entwurf Else Lasker-Schülers, Paderborn 2006; Im Hier und Jetzt. Konstellationen der Gegenwart in der deutschsprachigen Literatur seit 2000, Köln Weimar Wien 2019 (Mithg.); Durs Grünbein. Le parole non dormono, Milano 2023 (Hg.). Christine Frank vertritt derzeit die Professur von Peter-André Alt für neuere deutsche Literatur an der FU Berlin; Publikationen u.a. Konstellationen österreichischer Literatur. Ilse Aichinger, Wien 2023 (Mithg. mit Sugi Shindo); Das grüne Märchenbuch aus Linz. Ilse Aichinger 1921–2016, Linz 2022; Lifelines. Paul Celan’s Poetry And Poetics After 100/50 Years, Würzburg 2022 (Mithg. mit Klaus Weissenberger); Schnittstelle Japan. Kontakte. Konstruktionen. Transformationen, München 2020 (Mithg. mit Ina Hein); Darstellung als Umweg. Essays und Materialien zu (Krieg und Welt) von Peter Waterhouse, Wien 2020 (Hg.). Vivian Liska Professorin für deutsche Literatur und Direktorin des Instituts für jüdische Studien an der Universität Antwerpen, Belgien. Distinguished Visiting Professor an der Hebrew University, Jerusalem. Publikationen u.a.: Fremde Gemeinschaft. Deutsch-jüdische Literatur der Moderne, Göttingen 2011; Giorgio Agambens leerer Messianismus, Wien 2011; Prekäres Erbe. Deutschjüdisches Denken und sein Fortleben, Göttingen 2021. Michiko Mae Kultur- und Literaturwissenschaftlerin. Zwischen 1993 und 2016 war sie Inhaberin des Lehrstuhls für Modernes Japan I (Kulturwissenschaften) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: japanische moderne und Gegenwartsliteratur; Transkulturalität in Literatur und populärkulturellen Medien; Nation, Kultur und Gender im japanischen Modernisierungsprozess; Frauenbewegung und Partizipationsgesellschaft. Michiko Mae war mehrmals Research Fellow sowie Gastprofessorin an verschiedenen Universitäten wie der Universität Tokyo, der Keiô-Universität Tokyo, der Cornell University in Ithaca, N.Y., und der Universität Venedig. Sie ist Mitglied des Stiftungsrats des „JapanischDeutschen Zentrums Berlin“ und seit 1995 Mitherausgeberin der Reihe „Geschlecht und Gesellschaft“ (Springer VS). Neuere Publikationen u.a.: Frauenbewegung in Japan: Gleichheit, Differenz, Partizipation. Quellentexte und Analysen, Wiesbaden 2024 (Mithg.); „Transkulturalität: ein neues Paradigma in den Kulturwissenschaften, der Geschlechterforschung und darüber hinaus“. In: Kortendiek, Beate; Riegraf, Birgit; Sabisch, Katja (Hg.): Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Bd. 1 (2021), S. 313– 322.

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Jutta Müller-Tamm Professorin für Deutsche Philologie (Neuere Deutsche Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart) an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Wissenschaftsgeschichte, Ästhetik und Poetik im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Gegenwartsliteratur; Begriff und Geschichte der Kritik; das literarische Berlin. Publikationen: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne, Freiburg 2005; Poetic Critique. Encounters with Art and Literature, Berlin, Boston 2021 (Mithg.); Berliner Weltliteraturen. Internationale literarische Beziehungen in Ost und West nach dem Mauerbau, Berlin, Boston 2021 (Hg.); DDR-Literatur und die Avantgarden. Bielefeld 2023 (Mithg.); Der Wert der literarischen Zirkulation/The Value of Literary Circulation, Stuttgart 2023 (Mithg.). Yasumasa Oguro Professor für Germanistik an der Universität Kyushu, seit 2023 Präsident der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. Monographien in japanischer Sprache: Apokalyptische Träume. Thomas Mann und die Allegorie, 2001; Die Wasserfrau. Eine Schiffreise nach Topos, 2012; zahlreiche Aufsätze in deutscher Sprache über Thomas Mann, Fouqué, Bachmann u.a. Übersetzungen ins Japanische u.a.: Wieland, Geschichte des Prinzen Biribinker; Fouqué, Die Geschichten vom Kaiser Julianus und seinen Rittern; Rudolf Kassner, Motive; Herta Müller, Herztier; Heute wär ich mir lieber nicht begegnet. Cornelia Ortlieb Professorin für Neuere deutsche Literatur mit einem Schwerpunkt in der Klassischen Moderne an der FU Berlin; Publikationen u.a. , (hg. m. Annette Gilbert, Andreas Bülhoff, Susanne Klimroth u. Timo Sestu), Darmstadt 2023; „Pariser Köpfe, Pariser Bilder. Walter Benjamins mehrsprachige Rundfunkvision“, in: Zeitschrift für Germanistik, NF XXXIII (2023), H. 3, S. 543–565; „Produzieren um jeden Preis, Autor:innenschaft am eigenen Leib“, in Paul Wolff (Hg.): Digitale Autor:innenschaft. Praktiken und Politiken schriftstellerischer Selbstinszenierung, Bielefeld 2023, S. 37–56; „Flaschen, Züge und verborgene Kriege oder Rimbauds Hölle in Stuttgart“, in: apropos [Perspektiven auf die Romania] 10/2023, S. 72–93. doi: https://doi.org/10.15460/ apropos.10.1976 https://journals.sub.uni-hamburg.de/apropos/issue/view/ 105; Weiße Pfauen, Flügelschrift. Stéphane Mallarmés poetische Papierkunst und die Vers de circonstance Verse unter Umständen. Dresden: Sandstein 2020.

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Arata Takeda derzeit Max Kade Distinguished Visiting Professor am Department of Modern and Classical Languages and Literatures der University of Rhode Island. Publikationen (u.a.): Wir sind wie Baumstämme im Schnee. Ein Plädoyer für transkulturelle Erziehung, Münster / New York / München / Berlin 2012; Ästhetik der Selbstzerstörung. Selbstmordattentäter in der abendländischen Literatur, München 2010; Die Erfindung des Anderen. Zur Genese des fiktionalen Herausgebers im Briefroman des 18. Jahrhunderts, Würzburg 2008. Lara Tarbuk Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Sie promoviert zu dramatischen Entwürfen der Aufführung in Stücken von Ödön von Horváth und Bertolt Brecht aus der Zeit der Weimarer Republik. Im Brecht-Jahrbuch 48 ist von ihr ein Aufsatz zur Bedeutung der Möbelstücke in Trommeln in der Nacht und Die Hochzeit erschienen. Olga Voronina is an Associate Professor of Russian Bard College. In 1999–2001, she was Deputy Director of the Nabokov Museum in St. Petersburg and is currently a member of the board of trustees of the Vladimir Nabokov Literary Foundation. Voronina co-edited and co-translated, with Brian Boyd, Nabokov’s Letters to Véra (US: Knopf/ UK: Penguin, 2014; Rowohlt, 2017; Adelphi, 2015; RBA Libros, 2016; Shanghai 99, 2017; Azbooka, 2017; 2nd ed.: Corpus, 2023) and published a monograph on Nabokov’s archives and the deciphering of the writer’s enigmatic textological codes: Tainopis’: Nabokov. Arkhiv. Podtext [Secret Writing: Nabokov’s Archive of Subtexts] (Ivan Limbakh Press, 2023). The editor and contributor to The Brill Companion to Soviet Children’s Literature and Film (Leiden and Boston, 2019), Voronina is also the author of papers and articles on Soviet literature of the Cold War and the Post-Soviet cultural memory.

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